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German Pages [209] Year 2021
Helena Ganor
Vier Briefe an die Zeugen meiner Kindheit Übersetzt und herausgegeben von Eva Spambalg-Berend
Böhlau Verlag Wien Köln
Gedruckt mit Unterstützung der Ursula Lachnit-Fixson Stiftung, Berlin und des Zukunftsfonds der Republik Österreich
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2021 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Helena Ganor, Four Letters to the Witnesses of My Childhood. Originally published by Syracuse University Press, Syracuse, N.Y. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer,Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21416-8
Meinen Enkeln Jonathan, Michael, David und John
Helena Ganor wurde in Lwów in Südostpolen (jetzt Lwiw, Ukraine) geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte sie in Warschau. Dort studierte sie Medizin und arbeitete als Internistin, bis sie sich im Zuge der Massenausbürgerungen jüdischer Einwohner im Jahr 1968 genötigt sah, mit ihrem Ehemann und ihren beiden Töchtern aus Polen zu emigrieren. Seither lebt sie in Südkalifornien, wo sie bis zu ihrem Ruhestand als Ärztin praktizierte.
Inhalt
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Vorwort der Herausgeberin
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Historische Daten
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Brief an meine Mutter
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Brief an meine Schwester
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Brief an meinen Vater
161 Kommentar 165
Brief an meine Stiefmutter
205 Epilog 207 Literatur 208 Abbildungsnachweis
Vorwort der Herausgeberin
E
in Mädchen von elf Jahren – jäh getrennt von seiner Familie und allen vertrauten Personen, ausgesetzt und ganz auf sich gestellt – schafft es unter unvorstellbar harten Umständen, trotz Angst, Verfolgung und Gewalt, sich allein in einer Großstadt durchzuschlagen. Es gelingt ihr nicht nur zu überleben, sondern nach den traumatischen Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges das Leben neu zu lernen und ihm Freude und Erfüllung zu geben. Die überwältigende Schönheit und Kraft der Natur, Literatur, Bildende Kunst und Musik, die Leidenschaft für den Beruf als Ärztin, in dem das Leben selbst und die Hinwendung zum Mitmenschen im Zentrum stehen, die Neugier und die Liebe zur Wissenschaft werden in ihrem Fühlen und Denken zu bestimmenden und prägenden Größen. Nach dem Krieg arbeitet sie als Internistin in Warschau, emigriert 1969 mit ihrer Familie in die USA, wo sie noch lange praktiziert, bevor sie sich in den 2000er Jahren zur Ruhe setzt und sich mit Blick auf ihre Enkel dazu entschließt, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. In ihrem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe berichtet Helena Ganor davon, wie sie gelesen, beobachtet, Wissen richtiggehend „aufgesogen“ hat, um uns Menschen zu begreifen – „zu verstehen, wie wir gemacht sind“ –, und dass sie dadurch schließlich zu einer „optimistischen Fatalistin“ geworden sei. In der Hoffnung, dass das Verständnis der Menschheit über die Menschen wachsen wird, und in der Überzeugung, dass wir unserem Leben in eigener Verant-
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wortung einen Sinn geben müssen, beschreibt sie diesen für sich selbst als eine fortwährende Aufgabe: allen Kreaturen Mitgefühl entgegenzubringen; niemals indifferent gegenüber Leiden zu sein; Vernunft und Wissen zu fördern und dem Dunkel aller Dogmen und Doktrinen, aus dem Furcht und Hass entstehen können, entgegenzusetzen; die Schönheit unseres Planeten wie auch die Schönheit in den Werken der Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Sprache zu würdigen und, schließlich, aus unseren Fehlern zu lernen – aus denen unserer gemeinsamen Geschichte wie aus denen, die wir selber machen. Helena Ganors Vater wird kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert geboren; damals ist Lemberg Hauptstadt von Galizien und gehört zu den österreichischen Kronlanden; in der Schule lernt er selbstverständlich Deutsch, nach seinem Medizinstudium geht er nach Wien, um sich am Wirkungsort Freuds in der Psychiatrie weiterzubilden. Von dort bringt er die Leidenschaft für dieses Fach und die Begeisterung für den Wiener Walzer mit, die beide in den Erinnerungen Ganors an ihn lebendig werden – dadurch, dass diese nun in einem österreichischen Verlag erscheinen, schließt sich gewissermaßen ein Kreis. Lemberg, die ehemals österreichische Metropole, das Lwów aus Helena Ganors Kinderzeit, mag einem unendlich weit entfernt scheinen, untergegangen in den Gräueln der Nazizeit. Dabei liegt der Ort nur gut acht Stunden Autofahrt von Wien entfernt (auch von Berlin oder München ist er in einem Tag zu erreichen), und seine wechselvolle Geschichte ist mit der unsrigen auf vielfältige Weise verbunden. Zufällig fiel mir während der Arbeit an dieser Übersetzung eine Broschüre über das heutige Lwiw in die Hand – darin ein modernes Foto des Opernhauses, das mir aus der Beschreibung der Autorin vertraut war. Die plötzliche Erkenntnis,
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dass der Ort dieser Geschichte sehr wohl ganz real existiert und wir ihm näher sind, als mir scheinen wollte, hat meine Arbeit und meine Absicht, die Erinnerungen Helena Ganors auf Deutsch zu veröffentlichen, beflügelt. Das Buch kam an mich durch einen Zufall: Eine jüngere Kollegin Helena Ganors, meine ältere Schwester, mit der ich sehr verbunden bin, ebenfalls Internistin, ebenfalls aus Europa nach Kalifornien gegangen, aber nicht aus Polen, sondern aus Deutschland und erst viel später, hat mir von diesem Buch erzählt. Dieser Bericht war mir eindrücklich und hat mich nicht losgelassen, auch nachdem einige Zeit vergangen war. Bei einem unserer Telefonate habe ich deshalb nach dem Titel gefragt und erhielt etwas später das Buch als Geschenk. Die vier „Briefe“ haben mich sehr bewegt, und es hat mich berührt, dass die Erzählerin uns Leser dem kleinen Mädchen, das sie einmal war, so nahe kommen lässt. Unsere Geschichte – wie auch die unserer Nachbarn – ist eine gemeinsame, genauso wie unsere Gegenwart und unsere Zukunft, die wir gestalten können. Wenn wir uns heute neuen Herausforderungen und Bedrohungen gegenübersehen, die das Erstarken nationaler Einzelinteressen und populistischer Tendenzen begünstigen und das Ringen um unsere europäische und weltweite Solidarität erschweren, kann uns die Begegnung mit einer so persönlichen Erzählung auf das Verbindende verweisen und auf die Verantwortung, die uns aus der Geschichte für die Gegenwart erwächst. Die zutiefst humanistische Überzeugung, die aus Helena Ganors Erinnerungen spricht, wie auch ihre heitere Lebenszugewandtheit, ermutigen dazu, „hier und jetzt unser Bestes zu tun“. Als ich die Autorin im Herbst 2019 persönlich kennenlernen konnte, traf ich auf eine überaus zugewandte, herzliche Person voller Humor, die mir so unmittelbar, direkt und vorbehaltlos begegnet ist, dass die Befangenheit, die aus
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dem Erbe unserer Geschichte erwächst, vom ersten Moment an aufgehoben schien in dem, was uns als Menschen gemeinsam ist und uns – jenseits von allem Schrecklichen und Trennenden – verbinden kann.
Man schreibt nur das halbe Buch; die andere Hälfte liegt beim Leser. Joseph Conrad in einem Brief an Cunningham Graham
Man muss nicht an eine übernatürliche Quelle des Bösen glauben; die Menschen selbst sind durchaus fähig zu jeder Schlechtigkeit. Joseph Conrad, Mit den Augen des Westens
Dank
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ch danke meinem Mann Jan, der meine „Briefe“ als Erster gelesen und an meinen Emotionen mit so großem Mitgefühl Anteil genommen hat und der darauf bestand, dass ich meine Erinnerungen vor dem Vergessen bewahre. Meiner talentierten und klugen Freundin Merrill Joan Gerber möchte ich für ihre Ermutigung und ihren Rat danken, für ihre freundliche Kritik und ihre Unterstützung dabei, dieses Buch zur Veröffentlichung zu bringen. Mein Dank geht auch an Ellen Goodman und das Team von Syracuse University Press für ihre Beratung bei der Fertigstellung meines Buchs für den Druck.
Historische Daten
23. August 1939 Unterzeichnung des Nichtangriffspakts zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion, der den Boden für den Zweiten Weltkrieg bereitet, weil er für Deutschland das Risiko eines Zweifrontenkriegs aufhebt. September 1939 Am ersten September marschiert Deutschland in Polen ein. Am 29. September teilen Deutschland und Russland Polen entlang der Flüsse Bug und San auf. Der Westen wird von Deutschland besetzt, der Osten von Russland. Juni 1941 Deutschland greift Russland an; die russische Armee zieht sich schnell aus Ostpolen zurück. November 1941 Deutsche Besatzungsbehörden errichten ein Jüdisches Ghetto in der polnischen Stadt Lwów (Lemberg, heute Lwiw in der Ukraine). 1941–1943 Vom Dezember 1941 an deportieren oder töten Deutsche systematisch alle bis auf 300 der 120.000 Juden, die im Ghetto von Lwów lebten. Februar 1945 Auf der Konferenz von Jalta legen Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin neue Grenzen für Polen fest, wodurch Ostpolen (inklusive Lwów) Teil der ukrainischen Sowjetrepublik wird.
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Historische Daten
Mai 1945
Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Truppen beendet den Krieg in Europa.
Brief an meine Mutter
Liebe Mama, du warst die erste Zeugin meines Lebens – du hast mir das Leben geschenkt. Du hast nie damit rechnen können, dass unser gemeinsames Leben nur elf Jahre dauern sollte. Wie auch? Wie hättest du wissen können, was geschehen würde? Aber lass mich von vorn anfangen mit dem, was ich von dir in Erinnerung behalten habe und sorgsam in meinem Gedächtnis bewahre. Meine Erinnerungen reichen zurück bis in die Zeit, als ich ungefähr drei oder vier Jahre alt war. Sie sind nicht zeitlich geordnet, es sind eher Bilder. Ich erinnere mich an dein Aussehen und an deine Worte, aber es vermischt sich mit dem, was du mir erzählt hast, als ich ein wenig älter war. Die Chronologie ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, was ich von dir weiß und liebe, nachdem mehr als 60 Jahre vergangen sind. Ich erinnere mich an die kleine Stadt namens Waręż (auch Warjasch oder Varenzh), mit ihrem viereckigen Platz im Zentrum; an allen Seiten war er von kleinen Läden umgeben, die meist Juden gehörten. Es gab einen Eisenwarenladen, in dem ein alter, bärtiger Jude Nägel und Hufeisen verkaufte. Das weiß ich noch, weil er mir einmal ein blitzblankes Hufeisen als Glücksbringer schenkte. Auch andere rätselhafte Gerätschaften verkaufte er an die Bauern, die in der Gegend lebten. Es gab einen Eisladen, wo sich Kinder an heißen Sommertagen für ein paar „Groszy“ ihre Leckereien kauften – ein Groschen war so viel wie ein Cent, hundert von ihnen ergaben einen Zloty. Der gleiche Laden verkauf-
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Brief an meine Mutter
te auch Briefmarken, Bonbons und Spielzeug. Ich war vielleicht sechs, als ich dort Kunde war. Ein anderes Geschäft, an das ich mich erinnere, gehörte entfernten Verwandten von dir, die Stoffe verkauften – wir besuchten sie oft, obwohl ich das Gefühl hatte, dass dich die Frauen dort nicht mochten. Einige Jahre später sollte sich unser Schicksal, das der Verwandten und meines, tragisch verketten, aber davon will ich dir später erzählen. Damals habe ich sie gern besucht, auch wenn sie goyka zu mir sagten, ein Wort, das orthodoxe Juden abfällig für ein nichtjüdisches Mädchen gebrauchten. Viel später erst habe ich begriffen, dass diese Verwandten eigentlich mit dir nicht einverstanden waren und nicht mich meinten. Du hieltest dich nicht an die Regeln: Du warst gebildet, du warst eine Atheistin und, noch schlimmer, du hattest auch noch einen Atheisten geheiratet. In dieser kleinen Stadt gab es zwei Kirchen, eine katholische, wo die polnischen Bauern zur Messe gingen, und eine russisch-orthodoxe, in der alle ukrainischen Bauern beteten. Und es gab auch eine Synagoge für die jüdischen Einwohner. Mit meinen verschiedenen Freundinnen besuchte ich alle diese Gebetshäuser – es waren geheimnisvolle Orte, an denen Menschen geheimnisvolle Dinge taten, rätselhafte Gesten vollführten und Lieder sangen in Sprachen, die ich nicht verstand: Latein, Ukrainisch und Hebräisch. Sie knieten unter gewölbten Bögen, vor Kreuzen, Kelchen und Gemälden von düsteren Gestalten. Mir ist in Erinnerung geblieben, dass all diese Menschen nie gelächelt haben, deshalb dachte ich, dass sie dort wohl nicht sehr glücklich waren; und für mich war es auch kein Vergnügen, dort zu sein. Als ich klein war, vielleicht drei Jahre alt oder noch jünger, wohnten wir zur Miete in einem Haus, das einem Mann gehörte, der nebenan ein Schlachthaus betrieb. Auf der anderen Seite unseres Hauses war eine Apotheke, und
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der Apotheker und seine Frau nannten dich immer „Frau Doktor“. Das klang komisch für mich – ich dachte, sie sollten „mamusia“ zu dir sagen, Mami, so wie ich dich nannte. In unserem Haus gab es ein Esszimmer, in dem ein großer runder Tisch stand. Darüber hing eine Petroleumlampe mit einem schönen grünen Lampenschirm, den wir abat-jour nannten – Elektrizität gab es in der Stadt nicht. Außerdem hatten wir ein Schlafzimmer für Vater und dich, ein kleines Zimmer für mich, eine Küche, und der größte Raum war die Arztpraxis, wo Vater bis spät nachts Patienten behandelte. Meine Schwester Janka war zehn Jahre älter als ich und lebte in einer großen Stadt, wo sie zur Schule ging. Du hast mir Geschichten erzählt und unter der grünen Lampe Märchen vorgelesen. Das war für mich immer die beste Zeit des Tages. Du hast mir auch erzählt, wie sehr du dir Janka und mich gewünscht hast und wie aufgeregt du warst und es fast nicht erwarten konntest, uns aus dem Krankenhaus in der großen Stadt Lwów nach Hause zu bringen. In dieser Stadt – auch unter dem Namen Lvov auf Russisch und Lwiw auf Ukrainisch bekannt1 – habe ich später erfahren, dass du es sehr schwer hattest, mich auf die Welt zu bringen, und beinahe gestorben wärst. Weil ich als kleines Mädchen noch wenig von diesem Vorgang wusste, fragte ich mich immer, wie schwer kann das denn sein? Warum hatte ich dir denn nicht geholfen und war einfach aus deinem Bauch spaziert und war dann da – bereit für das Leben und deine Liebe? Ich kann mich nicht erinnern, wann genau du und Vater begonnen hattet, ein neues Haus für uns zu bauen, aber 1 Den deutschen Namen Lemberg trug die Stadt in der Zeit von 1772 bis 1918, als sie Teil der österreichischen Monarchie war, und unter der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs von 1941 bis 1944 (Anmerkung der Übersetzerin; das gilt auch für alle folgenden).
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Brief an meine Mutter
ich weiß noch, dass ich deine vertraute Hand hielt und an einem warmen Sommerabend mit dir auf ein großes Gebäude zuging, das aus allen Fenstern leuchtete. Das war das erste Mal, dass ich elektrisches Licht sah; es erhellte sogar ein großes Feld vor dem Haus. Die Sterne am dunklen Himmel waren nur ganz schwach zu sehen in diesem Glanz. Da sagtest du mir, das sei unser neues Haus und hier würden wir von nun an leben. Das Haus hatte zwei Stockwerke und drei Eingänge, große Fenster und schöne Eingangstüren aus Holz und Bleiglas. Es besaß einen elektrischen Motor, von dem man mir sagte, er heiße Dynamo. Im linken Flügel des Hauses lag ein großes Wartezimmer für Vaters Patienten, sein Sprechzimmer, zwei Untersuchungsräume, ein Raum zum Durchleuchten (in dem ich nie sein durfte) und ein besonders dunkler Raum für die Entwicklung der Bilder. In diesem hintersten Raum hast du gearbeitet. Du hast mir erzählt, dass du weit weggefahren bist, nach Warschau, in die Hauptstadt, und dort eine besondere Schule besucht hast, um Röntgenassistentin zu werden. Wilhelm Konrad Röntgen war ein deutscher Physiker, nach dem die Röntgentechnik benannt wurde. Er entdeckte die Röntgenstrahlung und wurde dafür im Jahr 1901 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Was für eine ungewöhnliche Frau du in der damaligen Zeit gewesen sein musst! Du hast mit der orthodoxen Tradition deiner Familie gebrochen, du warst gebildet, du hast gearbeitet und hattest Kinder – du warst einer dieser außerordentlichen Menschen, die ihrer Zeit weit voraus waren. Ich weiß, wie selten das war in dem Land, in dem wir lebten. In der Mitte des Hauses war ein riesiges Esszimmer – zumindest kam es mir aus meiner Kinderperspektive riesig vor. Von unserem Hauseingang kam man in eine große Diele und von dort ging es nach rechts zur Küche und zur Speisekammer. Von der Küche aus öffneten sich die Türen zu
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Abb. 1: Meine Mutter und meine Schwester Janka vor dem ersten Haus in Waręż, etwa 1928.
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Brief an meine Mutter
einem endlosen Garten mit Apfelbäumen, Pflaumenbäumen, Kirschbäumen und Brombeerbüschen. Das war mein Spielplatz und Paradies. Endlos hüpften und zwitscherten dort die Vögel in den Bäumen, und die Frösche quakten im Teich. Hin und wieder besuchte mich ein Hase. Ich lernte von der Welt um mich herum und lief zu dir, wenn ich Fragen hatte über diese Welt. Du hast mir immer geantwortet. Du konntest Geschichten erzählen, und meine deutlichste Erinnerung aus dieser Zeit ist, dass du die Güte in Person warst. Deine Hände waren sanft, wenn du mich streicheltest, und deine Augen waren so blau wie der Ozean, in den ich versank, wenn ich auf deinem Schoß einschlief. Du hast mir zweimal das Leben geschenkt – aber das ist eine andere Geschichte, die ich später erzählen will. Lass uns zurückgehen in das neue Haus! Im Oberstock gab es drei Schlafzimmer, meines, das meiner Schwester und eures, dazu einen großen „Salon“ – heute würde ich sagen, ein Wohnzimmer. Im Salon stand ein Flügel, auf dem Vater manchmal spielte; dann sah ich ein Lächeln auf deinem Gesicht, manchmal auch Tränen in deinen Augen. Ich verstand damals nicht, warum – inzwischen kann ich es verstehen: diese Gabe, intensive Gefühle zu teilen, habe ich auch von dir. Alle Zimmer hatten einen großen Kachelofen bis zur Decke, jeder in einer anderen Farbe, und an den Winterabenden hat unser Hausmädchen Handzia in diesen herrlichen Öfen die Kohlen angezündet, um unsere Schlafzimmer zu heizen. Der Salon öffnete sich auf eine breite Terrasse, auf der du in großen Holztrögen rosarote und weiße Oleander gepflanzt hattest, die im Hochsommer blühten. Stell dir vor, jetzt habe ich große Oleanderbüsche in meinem Garten in Kalifornien; man kennt sie hier als ganz gewöhnliche Pflanzen, aber für mich sind sie noch immer genauso exotisch
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Abb. 2: Das neue Haus in Waręż, das 1936 gebaut wurde; Oktober 1938
wie damals, als du sie gehegt und gepflegt und während der strengen, schneereichen Winter ins Haus gestellt hast. Ich erinnere mich an ein farbiges Spektakel, das im heißen Sommer in unsere Stadt kam – die Zigeuner!2 Sie kamen in bunten Pferdewagen, die aussahen wie kleine Häuser mit Fenstern und Türen und Schornsteinen obendrauf. Ich habe mir immer gewünscht, so etwas zu haben und darin zu wohnen. Sie waren bemalt mit Bildern von grünen Tälern, in denen Blumen blühten und Tiere sprangen. Der Himmel 2 Die Autorin gebraucht – wie in der Zeit ihrer Kindheit üblich – die Bezeichnung „Zigeuner“ (engl. „gypsies“) – ohne negative Konnotation. Im heutigen Sprachgebrauch hat sich im Bestreben, Diskriminierung zu vermeiden, weitgehend die Bezeichnung „Sinti und Roma“ durchgesetzt, in vielen Bereichen, vor allem in Bezug auf musikalische Traditionen, existiert der Begriff „Zigeuner“ jedoch weiter.
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darüber war dunkelblau mit einzelnen weißen Wolken – es war wie ein Wunder für mich, und ich weiß, dass ich dich gefragt habe, warum unser Haus nicht so herrlich angemalt sein konnte. Ich weiß nicht mehr, was du geantwortet hast, aber mir blieb nur übrig, mich damit zufriedenzugeben, dass unser Haus in der Sonne „glitzerte“. Der Anstrich enthielt eine Art Glimmer, und so hatte es auch ein klein wenig vom Wunderbaren an sich. Ich beneidete die Zigeunerkinder, weil sie den ganzen Tag lang tun konnten, was sie wollten; sie mussten sich nicht jeden Tag waschen, und sie aßen nur, wenn sie hungrig waren. Ich habe mich mit den Buben und Mädchen angefreundet, und wir rannten zusammen zum Fluss weit draußen vor der Stadt und planschten im Wasser. Ich blieb immer nahe am Ufer, weil ich nicht schwimmen konnte, aber die Zigeunerkinder schwammen gut, manche verschwanden sogar sekundenlang unter Wasser und schüttelten beim Auftauchen ihr schwarzes Haar, so dass die Tropfen um ihre Köpfe funkelten wie ein silberner Glorienschein. Eines Tages kam eine Frau zu dir und sagte, ich sollte mit „diesen tzygans“ (das war die polnische Bezeichnung für sie) nicht spielen, sie seien bekannt dafür, dass sie Kinder stehlen und mitnehmen würden. Als ich dich fragte, ob das stimmte, hast du mich beruhigt, ich müsse keine Angst haben, sie hätten doch eigene Kinder genug und würden nicht noch mehr brauchen. Du hast mir erlaubt, mit ihnen zu spielen. Ich glaubte dir und fand, dass du die beste Mama aller Zeiten bist, weil du mir solche herrlichen Freuden erlaubtest. Es gab noch ein Abenteuer, das mir die Zigeunerkinder eröffneten. In unserem Garten wuchs ein riesiger Maulbeerbaum (morva auf Polnisch), gerade auf der Grenze zur ukrainischen Kirche. Die Zweige dieses Baums reichten vom Stamm bis fast auf den Boden, und es war einfach hinaufzuklettern. Ich machte es meinen Sommerfreunden nach und kletterte
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mit ihnen hoch in den Baum – so hoch, dass wir durch die Fenster ins Innere der Kirche sehen konnten, die an unseren Garten stieß. Die Maulbeeren, die wir pflückten, waren gelblich mit flaumigen Härchen und zuckersüß. Wir aßen so lange, bis unsere Bäuche voll waren, und ich brachte dir ein paar Stücke meiner Beute von den obersten Ästen nach Hause. Wahrscheinlich hast du nur so getan, als ob du sie mochtest, aber ich war sehr stolz auf die Früchte meines Abenteuers. Ich schreibe dir von diesen Sommerfreuden nicht nur wegen der glücklichen Erinnerungen mit meinen fahrenden Freunden, sondern auch, weil wir und sie später die gleiche Welt des Hasses miteinander teilen mussten, die wir alle nicht verdient hatten. Ich war ungefähr sechs, als du und Papa beschlossen, dass ich nach dem Sommer in die Schule gehen sollte. Ich konnte meine Bücher schon lesen und einfache Wörter schreiben. Und ich konnte auch bis tausend zählen. An einem Tag in diesem Herbst hast du mich fein gemacht und mir die Festtagskleider angezogen: Das war ein marineblauer Faltenrock, der mir bis unters Knie reichte, und ein ebenso blaues Oberteil mit einem großen viereckigen Kragen, der über die Schultern ging und vorn einen kleinen V-Ausschnitt mit einer kurzen, dreieckigen Krawatte bildete. Kragen und Krawatte hatten zwei bestickte weiße Borten an den Kanten. Es sah aus wie die Miniaturausgabe einer Marineuniform – ich nehme an, das war damals Mode. Die Schneiderin in der Stadt hatte sie für mich gemacht. Ich wusste, dass das ein Aufzug für besondere Gelegenheiten war, denn als wir einige Zeit zuvor in diesem Jahr in die große Stadt Lwów gefahren waren, um meine Schwester Janka zu besuchen, die dort zur Schule ging, hatte man mich auch damit herausgeputzt. Ich erinnere mich so gut an diesen Sonntagsstaat, weil uns Papa während unseres Aufenthalts in dieser schönen Stadt
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zum bekanntesten Fotografen dort brachte, der viele Bilder von uns allen machte. Eines dieser Bilder, das dich und mich zusammen zeigte, hat uns der Fotograf später als großes gerahmtes Porträt zugeschickt, von einem Dankschreiben begleitet. Es stellte sich heraus, dass es bei einer Fotografieausstellung in der großen Stadt Lwów einen Preis gewonnen hatte. Ich erzähle dir das jetzt, weil sich mir dieses Bild von dir und mir für immer ins Gedächtnis gegraben hat – drei Jahre später hat es mein Leben gerettet. Wie das passiert ist, erzähle ich dir später; das ist eine eigene Geschichte und ein Beispiel dafür, wie zunächst harmlose und zufällige Ereignisse genauso zufällig einschneidende Folgen in der Zukunft haben können. Ich bin sicher, das passiert vielen Leuten hin und wieder; mir ist es in meinem Leben oft so gegangen. Lass mich nicht vergessen, Mama, dass ich dir die Geschichte von unserem Porträt erzähle. Aber zurück zu den ersten und letzten paar Tagen in der Schule von Waręż. Das Schulhaus stieß direkt an die katholische Kirche. Tatsächlich musste man sogar durch die Apsis der Kirche gehen, um ins Klassenzimmer zu gelangen. Nachdem ich ein paar Tage in die Schule gegangen war, kam ich zu dir nach Hause und erklärte, der Lehrer bringe uns nur Dinge bei, die ich schon wisse. Das einzig Neue für mich war das Paternoster, das zu Beginn des Unterrichts dem Lehrer nachgebetet werden musste. Wir sagten das Gebet auf Polnisch. Es begann mit den Worten Ojcze nasz ktory jestes w niebie, „Unser Vater, der du bist im Himmel ...“ Ich weiß noch, dass du dir nach meinem schlichten Report über den Unterricht den Lehrplan der nächsten Klasse, also der zweiten dieser Schule, angesehen hast und darauf beschlossen hast, mich zuhause zu unterrichten; wenn es Zeit dafür wäre, würdest du mich so wie meine Schwester auf eine bessere Schule in der großen Stadt schicken.
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Abb. 3: Meine Schwester, meine Mutter und ich, Lwów, 1938
Also war ich frei und konnte die fröhliche Welt meiner Kindheit durchstromern; du warst dabei die beste Lehrerin, die ich je hatte. Ich bin sicher, dass ich meine anhaltende Neugierde dir verdanke. Ich weiß noch, wie ich beim Spiel mit Zahlen selber „entdeckte“, dass, wenn sich die Quersumme einer großen Zahl, wie zum Beispiel 123, durch drei teilen lässt, auch die ganze Zahl durch drei teilbar ist. Als mein Vater nach Frankreich fuhr, um die Weltausstellung in Paris zu besuchen, habe ich dich gefragt: „Was ist Frankreich?“ Du erklärtest mir, dass es viele Länder auf der Welt gibt, dass Polen nur eines von ihnen ist und Frankreich ein anderes, weit entferntes. Dann fragte ich, wer wohnt dort, sind das die gleichen Menschen wie hier? Nicht ah-
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nend, was in der Vorstellung eines Kinds entstehen kann, sagtest du ja. „Oh!“ sagte ich, „dann leben in Frankreich also Polen, Ukrainer und Juden.“ Das waren die einzigen Menschen, die ich kannte. Ich kann mich nicht an deinen Gesichtsausdruck erinnern oder an deine Reaktion auf solche „Entdeckungen“ von mir, aber nachdem ich als Mutter selbst das Lernen meiner Kinder beobachtet habe, kann ich mir vorstellen, wie erstaunt und gleichzeitig stolz du warst – wegen meiner Naivität und meiner Logik. Du hast mir erlaubt, dass ich mit allen Kindern, die ich mochte, spielen und mich anfreunden durfte. Ich erinnere mich, dass ich manchmal bei meiner ukrainischen Freundin Ivoushka und ihrem Bruder Sascha übernachtet habe. Sie und ihre ganze Familie kamen oft als Patienten zu Papa, und wenn sie im Wartezimmer oder in ihrem Pferdewagen warteten, spielte ich mit ihnen. Ich schlief in ihrer Kate (khatas nannte man ihre Bauernhäuser) auf einem großen Bett unter Daunen- und Federdecken mit schönen handgestickten Blumen auf den gestärkten Leintüchern. Die Handtücher, mit denen wir uns abtrockneten, waren auch bestickt, mit alten roten und schwarzen Ornamenten. Das Essen dort war köstlich, und die Eltern meiner Freunde gaben mir immer Geschenke für euch mit nachhause: Äpfel, Birnen oder Beeren. Wir spielten zwischen den Tieren des Bauernhofs, jagten Gänse und Hühner und kleine „Babypferde“ und „Babykühe“, wie ich sie nannte. Ich konnte mir nie vorstellen und habe auch nie eine Erklärung dafür gefunden, dass die gleichen Leute nur ein paar Jahre später dich und mich umbringen wollten, nur weil wir „jüdisch“ genannt wurden. Damals wusste ich nicht einmal, was jüdisch bedeutet. Ich wusste nur, dass Juden Leute waren, die sich anders anzogen als wir: Die Männer trugen lange schwarze Kleider, schwarze Hüte und lange Bärte, und
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an jedem „Sabbat“-Abend, also freitags, hatten sie pelzbesetzte Hüte auf und gingen in ihre Kirchen, die Synagogen hießen, um dort zu beten. Wenn die Frauen verheiratet waren, trugen sie Perücken und schwarze Taschentücher auf dem Kopf. Meine Freundin Àmele war genauso angezogen wie ich, aber ihr Kleid war ein bisschen länger als meines; ich fand, sie sah besonders hübsch aus, wie eine Prinzessin. Einmal hat sie mich zu sich nachhause eingeladen zu einem besonderen Festtagsessen. Das Abendessen wurde in einer Art Zelt serviert, das ich damals unter seinem polnischen Namen altanka kannte; ein Raum im Freien. Ihr Vater hatte es aus Ästen und Zweigen gebaut, an denen noch ihr grünes Laub hing. Das Dach war nach oben hin offen, damit die Worte direkt in den Himmel gingen, wenn die Familie zu ihrem Gott betete. Ich konnte nicht lange bleiben, weil ich einen großen Fehler gemacht hatte, ohne es zu wissen: Ich hatte meinen geliebten Begleiter Bambi mitgebracht. Er aß immer mit uns zusammen zu Abend, deshalb dachte ich, die Einladung gelte auch für ihn. Bambi war mein Freund, ein Terrier mit weichem Fell, etwa dreißig Zentimeter hoch, ganz weiß mit braunen Ohren und Pfoten und einem dunklen Fleck über dem einen Auge. Er hatte einen vielleicht fünf Zentimeter langen Schwanz, der unablässig wedelte, wenn er sich freute und mit mir spielte, und der still hielt, wenn er wegen Ungehorsams ausgeschimpft wurde. Meine Schwester und ich hatten ihm den Namen Bambi gegeben, nach der Geschichte von dem kleinen Reh, die ich in einem meiner Bücher gelesen hatte. Wie gesagt, war Bambi daran schuld, dass ich bei dem einzigen ganz besonderen Festtagsessen, zu dem ich je eingeladen war, nicht dabei sein konnte. Er wollte nicht draußen bleiben, vor dieser sorgfältig aufgebauten Laube, und so mussten wir heimgehen, nachdem ich erst ein paar Bissen von dem wunderbaren Essen gekostet
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hatte. Àmele weinte, als ich ging, und ich verstand nicht, warum drei Freunde, Àmele, Bambi und ich, dieses Essen nicht zusammen essen durften. Ich weiß nicht mehr, wie du, meine Beschützerin, mir das erklärt hast, aber ich weiß, dass es etwas Tröstliches war, was du sagtest, und dass die Sache vermutlich mit ein paar Leckereien und deinen liebevollen Umarmungen endete. Das sind ein paar der lebendigen Bilder aus meiner Erinnerung, bei denen du mit dabei warst in dieser fast vollkommenen Idylle meiner Kindheit. Über andere Episoden, die du kennst, werde ich in meinen Briefen an Papa und Janka schreiben, weil du in ihnen nur Zuschauer warst – aber trotzdem wichtig und mir nah. Ich will dir erzählen, was ich, fast zwanzig Jahre nachdem ich dich aus meinem Leben verloren hatte, über dich erfahren habe. Ich erfuhr, dass dein Mädchenname Machla Clara Lorberbaum war; dass deine Wurzeln auf die Aschkenasim zurückgingen, also auf die semitischen Stämme, die nach der Diaspora aus Israel nach Nord- und Osteuropa kamen; und dass meine Großmutter Balaban hieß, ein Name aus dem Türkischen. Als deine Mutter, deine Schwester und dein Bruder im Jahr 1922 nach Palästina auswanderten, nahmen sie den Familiennamen Daphne an; damit übersetzten sie das deutsche „Lorberbaum“ wörtlich und brachten den Namen so wieder zurück an seinen griechischen und hebräischen Ursprung. Aus dieser Zeit vor mehr als einem halben Jahrhundert tauchen manchmal bestimmte Farben oder Gerüche in meinem Gedächtnis auf, die einzelne Erlebnisse klar und lebendig zurückbringen. Ich sehe mich an einem Sommertag durch ein reifes Weizenfeld rennen, dessen Farbe kaum von der meines Haars zu unterscheiden ist. Die geflochtenen Zöpfe reichen mir halb bis zur Taille. Ich wusste genau, wo-
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Abb. 4: Meine Mutter, 1935
hin ich laufen musste, denn wenn ich mich streckte, konnte ich auf Zehenspitzen ein unvergessliches Zusammenspiel von Farben erspähen: strahlend hellroten Mohn (maki auf Polnisch) und ganze Nester von kräftig blauen Kornblumen (blawatki), die im Wind schaukelten und in einem Meer von Gold versanken. Meine Freundinnen und ich pflückten diese Blumen und flochten sie zu Kränzen, die wir uns als Blütenkronen auf den Kopf setzten. Immer wenn ich diese Szene vor meinem inneren Auge sehe, kommt sie mir vor wie aus einem Märchen. Wenn die roten Blüten des Mohns später verwelkten, zeigten sich seine Früchte: harte hellbrau-
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ne Knollen von vier oder fünf Zentimetern im Durchmesser, auf deren Spitze ein gezackter rauer Knopf saß. Schüttelte man diese Mohnkapseln, machten sie ein Geräusch wie spanische Kastagnetten oder mexikanische Maracas. Wir brachen den Knopf ab und schütteten uns die Mohnsamen direkt in den Mund – das mochten wir gern. Gerüche bringen andere Erinnerungen hervor: den Duft von brennenden Kerzen mitten in einem schneereichen kalten Winter, als wir in unserem Haus eine geschmückte Tanne hatten, die choinka genannt wurde. Eigentlich war das ein Weihnachtsbaum, aber damals hatte er für mich nichts mit einem besonderen Feiertag oder religiösen Anlass zu tun. Ich dachte, er sei da, um den Winter zu feiern, genauso wie die Mohnblumenkränze den Sommer feierten und riesige Fliedersträuße den Frühling. Ich kann mich nicht erinnern, wann genau an unserem Baum die Kerzen angezündet wurden, aber ich weiß, dass es bei meinen polnischen und ukrainischen Freundinnen die gleichen Lichterbäume gab, nur zu unterschiedlichen Zeiten, fast zwei Wochen nacheinander. Der Geruch nach Essen war in dieser Zeit meines Lebens nie anregend oder verlockend für mich. Ich aß nicht gern und war ein sehr mageres Kind. Ich weiß, dass dir das Sorgen machte. Die einzigen Dinge, die ich mochte, waren Eier in jeder Form, Tomatensuppe, die frischen Brötchen mit knuspriger Kruste, die Handzia buk, die auch für uns kochte; außerdem mochte ich frische Früchte und Beeren, am liebsten selbstgepflückt. Du hast viel Überzeugungsarbeit, Ermunterung und Überredungskunst aufgewendet, um mich zum Essen zu bewegen – behutsam und auch anders. Manchmal hast du mich noch lange am Tisch sitzen lassen, nachdem alle anderen schon mit dem Essen fertig waren, und hast gehofft, dass das Strafe genug für mich wäre und ich meinen Teller schon leeressen würde. Aber meistens habe
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ich gewonnen. – Was ich nicht mochte, habe ich nicht gegessen, und du hast aufgegeben und dich meinem Geschmack gefügt. Bei solchen Gelegenheiten sagte Papa dann, du würdest mich verwöhnen, aber ich habe dich dafür geliebt. Ich war auch ein sehr schüchternes Mädchen und versteckte mich, wenn Gäste oder Verwandtschaft zu Besuch kamen – es dauerte seine Zeit, bis ich mit ihnen warm wurde oder mit ihnen sprach. So komisch es klingt, ich war am geselligsten und umgänglichsten, wenn sie an der Tür waren, um sich zu verabschieden. Wenn ich noch ein bisschen länger in meiner Erinnerung graben würde, könnte ich vielleicht noch mehr berichten über meine ersten sieben Lebensjahre, die du miterlebt hast. Aber an dem Bild voller Heiterkeit, das ich von diesen Jahren behalten habe, würde das nichts ändern; einer Heiterkeit, die – wenn auch unbewusst – während der dunklen Zeiten meine Gedanken aufrechterhalten und mich in der Hoffnung gestärkt hat, eines Tages an diesen friedvollen Ort zurückkehren zu können. * Bald nach meinem siebten Geburtstag kam die Gefahr in unser Leben. Am ersten September 1939 griff ein Feind unser Land an, rückte ohne große Mühe vor, marschierte in Warschau ein und drang rasch weiter vor nach Osten, auf uns zu: die Deutschen. Natürlich weiß ich inzwischen viel über das historische und politische Klima dieser Zeit. Aber damals kannte ich nur das Wort Krieg. Ich wusste, dass es etwas war, wovor man Angst haben musste. In einer Nacht änderte sich plötzlich alles für mich, für uns, für alle. Du hast mich im Dunkeln geweckt, mich warm angezogen und mich nach draußen vors Haus getragen; es war eine mondlose Nacht und in der Dunkelheit stand ein vollgeladener Heuwagen. Ein Bauer saß auf dem schmalen hölzernen Kutschbock und
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hielt die Zügel der Pferde in der Hand, bereit, mich wegzubringen. Mein Onkel, Papas ältester Bruder, stand da und wartete auf mich. Ich kannte ihn nur von unseren gelegentlichen Besuchen in der großen Stadt Lwów, wo er lebte. Er war ein großer, schlaksiger Mann mit eingefallenen Wangen und großen Augen. Haare und Schnurrbart waren grau meliert, und er hatte ganz lange dünne Arme. Als Junggeselle lebte er alleine in einer düsteren Stadtwohnung und unterrichtete an einem Gymnasium. Er war nie herzlich und verströmte nicht viel Wärme, wie ich von den seltenen Besuchen bei Papas Familie in Lwów wusste. Du hast mich hastig geküsst und umarmt, du sagtest, ich solle keine Angst haben, bei meinem Onkel sei ich in Sicherheit; ich dürfe nicht weinen oder laut sprechen; und vor allem hast du immer wiederholt, dass wir in ein paar Tagen wieder zusammen wären. Im Heuhaufen war eine Art Nest für uns vorbereitet, das mit einem Leintuch ausgeschlagen war. Dort ließen mein Onkel und ich uns nieder. Die „Heuhöhle“ war groß genug, dass ich mich hinlegen konnte, aber Onkel Kazik (das ist die Koseform von Kazimierz, einem polnischen Königsnamen) musste seine Knie anziehen, damit seine Füße nicht aus unserem Nest hinausragten. Über unseren Köpfen waren vier Holzbretter wie ein umgedrehtes V gegeneinander gelehnt und mit einer dünnen Schicht Stroh zugedeckt. Zu jeder anderen Zeit wäre das ein traumhaftes Abenteuer gewesen, aber in dieser schlimmen Nacht war es auf unheimliche Weise bedrohlich, und ein immer stärker werdendes Gespür sagte mir, dass dies kein Kinderspiel war. Ich hörte den Kutscher die Pferde antreiben: Veeio! Die Pferde setzten den Wagen mit einem Ruck in Bewegung, und in einem gleichmäßigen Trott fuhren wir auf einer holp-
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rigen Straße dahin. Onkel Kazik hielt meine linke Hand in seiner rechten, mit der anderen streichelte er meine Stirn und meine Wangen und flüsterte mir beruhigend zu. In diesem Moment war er wie eine Verlängerung deiner Liebe und Zärtlichkeit, und ich fühlte mich sicher und geborgen, sogar unter diesen beklemmenden und sonderbaren Umständen. Nach kurzer Zeit ging die holprige Straße in eine geteerte über und die Fahrt wurde ruhiger, man hörte nur das leise Rollen der Räder, ermüdend gleichförmig. Meine Augen waren auf den Himmel gerichtet, den ich durch die Lücken im Heu und Stroh sehen konnte. Er war schwarz, und die Sterne überzogen ihn mit einem unregelmäßigen Punktemuster. Wozu all diese Heimlichkeit? Warum die Flucht? Die Angst? Ich war erstaunt, dass mir die Fahrt nach einiger Zeit sogar Spaß machte; sie war geheimnisvoll und unheimlich, und in meiner kindlichen Vorstellung dachte ich, dass du vielleicht alles extra arrangiert hattest, zu meinem Vergnügen; also durfte ich deine Erwartungen doch nicht enttäuschen. Dann hielt der Wagen plötzlich an, und wir hörten die lauten Stimmen von mehreren Männern, die unseren Fahrer auf Ukrainisch fragten, was er in seinem Wagen transportiere. Er antwortete ihnen, er fahre nach Sokal – das war eine kleine Stadt ungefähr auf halbem Weg nach Lwów – und bringe eine Ladung Heu und Stroh zu Verwandten dort. Die Männer kannten ihn und nannten ihn beim Vornamen. Sie sagten ihm, er könne fahren, sie suchten nach Juden, die auf die andere Seite des Bug wollten, um über die „Grenze“ zu fliehen, die zwischen unserer kleinen Stadt Waręż und Sokal verlief, der ersten Etappe unserer Reise nach Lwów. Ihre Stimmen waren hektisch aufgeregt, manchmal fielen sie in ein scharfes Tuscheln. Sie flüsterten ihm zu, wie sie den Deutschen helfen wollten, alle Juden zu erledigen und dabei reich zu werden. Der Fahrer behielt sein Geheimnis für sich
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und sagte ihnen nichts von seiner Ladung. Er hatte schon viel Geld für seinen Dienst bekommen, und vielleicht rechnete er schlau darauf, nach der Rückkehr von seiner Mission doppelten Gewinn zu machen, wenn er sich ihnen und ihren von finsterem Ehrgeiz getriebenen Plänen anschloss. Liebste Mama, das hätten die gleichen Leute sein können, um die du dich gekümmert hast, wenn Papa ihre Kinder zur Welt brachte und du nach den Frauen sahst; Leute, deren von der Tuberkulose zerfressene Lungen du geröntgt hast, denen du geholfen hast, indem du das eitrige Sekret aus ihrem Brustkorb absaugtest, damit sie wieder atmen konnten und ihre Lungen heilten; die gleichen Leute, denen du zu essen gegeben hast, wenn sie nach der langen Fahrt zum Arzt hungrig waren; die gleichen Leute, die mit allem möglichen bezahlten, wenn sie das Geld für die Behandlung nicht hatten: mit Hühnern, Eiern, Kartoffeln – oder auch gar nicht; die gleichen Leute, die sich in tiefer Dankbarkeit vor euch beiden verneigten mit ihrem schlichten „Bosche tebja chrani“ – „Gott schütze dich“; die gleichen Leute, deren Kinder meine Freunde waren, die ich zum Spielen in ihren Häusern besuchte und unter deren Dach ich geschlafen habe; die gleichen Leute, die dicht gedrängt am Straßenrand standen, als Papa nach einer langen Abwesenheit zurückkam, und die freudestrahlend Blumen warfen, weil „ihr Doktor“ wieder da war; die gleichen Leute, die sonntagmorgens, bevor sie nebenan in die Kirche gingen, zu dir kamen um zu plaudern – über ihre Kinder, ihre Freuden und Sorgen, immer darum bemüht, dein gutes Herz zu gewinnen; die gleichen Leute, die im Vollrausch ihre Frauen und Kinder schlugen und sie danach zu Trost und Behandlung in unser Haus brachten; die gleichen Leute, von denen ich das Gefühl hatte, dass wir, du und ich, zu ihnen gehörten, ja ein Teil von ihnen waren. Ich lernte allerdings bald, dass ich anders war, obwohl ich
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lange nicht verstehen konnte, warum. Es hat ein ganzes Leben lang gedauert, bis ich die Verbindung herstellen konnte zwischen der Erbärmlichkeit böser Menschen und jähem grundlosem Hass, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und hemmungsloser Machtgier, zwischen der Dummheit der Gewalt und ihrer Lust, und bis mir klar wurde, wie unschätzbar die Vernunft ist und alles, was dem Vorgenannten entgegensteht. Der Morgen fing an zu dämmern und tauchte alles in ein schwach rosiges Grau, als wir vor einem kleinen Haus anhielten. Der Fahrer half uns aus unserer Heuhöhle, murmelte etwas, kehrte um und fuhr wieder zurück, woher er gekommen war. Wir schliefen in diesem Haus bis zum nächsten Abend und stiegen dann in einen Zug, ohne Gepäck, ohne Koffer. Nach ein paar Stationen kamen wir in Lwów an, der großen Stadt, die ich vage kannte. Dort brachte uns mein anderer Onkel, Papas jüngerer Bruder Youzek (eine Verkleinerungsform von Youseph oder Josef – diesmal ein biblischer Name), in sein Haus. Er war groß und ein bisschen dicklich, mit hellblondem Haar und blauen Augen. Er war Architekt von Beruf, hatte eine Frau und – so wie du auch – zwei Töchter: Halinka (von Halina), die ältere, und Evunia (von Eva), die ein bisschen jünger war als ich. Ich blieb ein paar Tage dort – wie viele, weiß ich nicht mehr genau; aber nach dieser Trennung von dir, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, kamst du endlich und sagtest, „wir gehen heim“, aber nicht in das Haus, das ich kannte. Das Gedächtnis ist eine seltsame Sache. Manchmal sind die Einzelheiten ausgelöscht, als hätte jemand mit einem nassen Schwamm über die Schiefertafel gewischt, und man erinnert sich nur noch an ein Hauptereignis; manchmal dagegen kann man sich an alle kleinen, scheinbar unwichtigen
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Details erinnern, die sich zu einem großen Bild verbinden. Diesmal war es das Hauptereignis, dein halb lächelndes Gesicht zu sehen und deine sanfte Hand zu spüren, die meine hielt, als du die Tür zu unserem neuen Heim öffnetest. Wie wir dorthin gekommen waren, ist ausgelöscht. Unser neues Zuhause war eine Wohnung in einem achtstöckigen dunkelgrauen Gebäude; die ersten zwei Etagen nahm ein großes Restaurant ein. Das war sehr chic und elegant und hieß Europejska – „Europäisch“. Unsere Wohnung lag im sechsten Stock. Sie hatte drei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Badezimmer, einen dunklen Korridor, der zu all diesen Räumen führte, und ein Zimmer, das vermutlich für eine Hausangestellte gedacht war, das dunkelste von allen. Die Wohnung lag an der Ecke des Hauses; die Fenster der einen Seite gingen zur Straße, an der das Haus stand; sie hieß Ulica 3go Maja, Straße des dritten Mai, und war nach dem Tag benannt, an dem die Nation, zu der wir zu gehören meinten, sich ihre Verfassung gegeben hatte. Auf der anderen Seite öffnete sich vor den Fenstern der Blick auf eine Grünfläche, die sich ausdehnte, so weit man sehen konnte. Es war ein Park, der etwa einen halben Häuserblock entfernt lag und der den Namen eines polnischen Helden trug, Tadeusz Kosciuszko.3 Ob du wohl wusstest, dass er auch in der Amerikanischen Revolution eine Rolle gespielt hatte? 3 Polnischer Militäringenieur und Freiheitskämpfer (1746–1817), der als hochrangiger Offizier im Russisch-Polnischen Krieg von 1792 und als Anführer des nach ihm benannten Aufstandes gegen die Teilungsmächte Russland und Preußen im Jahr 1794 zum polnischen Nationalhelden wurde. Zuvor hatte Kościuszko von 1777 bis 1783 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf der Seite der Truppen um George Washington gekämpft. Siehe „Tadeusz Kościuszko“. In: Encyclopaedia Britannica. https://www.britannica. com/biography/Tadeusz-Kosciuszko [05.03.2021].
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Dieser Ort sollte mein Lebensmittelpunkt für die nächsten eineinhalb Jahre werden. Warum all diese Veränderung? Warum ein neues Zuhause? Warum die Flucht vom Ort meiner unbeschwerten Kindheit? Die Erklärung ist sehr einfach und zugleich sehr kompliziert. – Zwei der infamsten Personen des 20. Jahrhunderts, Konkurrenten gigantischen Ausmaßes, sowohl in ihrem Streben nach ungeteilter Macht wie auch in ihrer degenerierten Philosophie der Gewalt, kamen zusammen und unterzeichneten ein Abkommen. Das geschah am 23. August 19394, genau eine Woche bevor die Deutschen die polnische Grenze überschritten. Es war der sogenannte Nichtangriffspakt zwischen dem deutschen Reichskanzler Adolf Hitler und Josef Stalin, dem Führer der Sowjetunion. Ihre Ziele und Zwecke waren verschieden, aber ihre politische Niedertracht passte perfekt zusammen. Das Ergebnis war, dass unser Land willkürlich zwischen diesen beiden „Nachbarn“ aufgeteilt wurde, wodurch sich unser Leben für immer und unwiederbringlich veränderte. Die Einzelheiten dieser Zeit sind in unzähligen Geschichtsbüchern aufgeführt; für diesen Brief soll es genug davon sein, denn es geht um meine Geschichte und um eine Geschichte über dich, die unersetzbare Zeugin meines Lebens. Ich erinnere mich an einen Satz, den ich einmal in einem Buch gelesen habe – ich glaube, er war von Raymond Chandler, vielleicht auch von André Gide. Als seine Frau starb, die er sehr geliebt hatte, schrieb er: „Ich habe einen Zeugen für mein Leben verloren; wenn jemand stirbt, verbrennt eine Bibliothek.“ Ich würde mir wünschen, dass die Bibliothek nicht verbrennt, sondern meine Kinder und En4 Der Vertrag ist auf den 23. August datiert, unterzeichnet wurde er am 24. von den beiden Außenministern; Stalin war anwesend, Hitler aber nicht.
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kel sie mit Zuneigung besuchen; und dass ich sie – wenn in dieser Bibliothek eine Träne oder ein Lächeln entsteht – nachdenklicher oder reicher machen kann und zu einem wichtigen Zeugen ihres Lebens werde, während ich unter Schatten am anderen Ufer des Styx wandere. Weißt du, liebe Mama, in der unheimlichen Nacht meiner Flucht wusste ich nur, dass wir in die „große Stadt Lwów“, jenseits der Grenze auf der Ostseite des Flusses Bug fuhren. Jetzt, viele, viele Jahre nach dieser Nacht auf dem Bauernwagen, habe ich eine Karte zur Hand genommen und die Orte in diesem kleinen Teil der Erde nachgeschlagen, der für mich die nächsten fünf Jahre meines Lebens – und vier Jahre deines Lebens – zur ganzen Welt wurde. Damit ich es mir besser in Erinnerung rufen kann, habe ich eine vereinfachte Skizze von diesem Gebiet angefertigt, in dem wir den Albtraum dieser Jahre durchmessen sollten, der für dich an einem Ort ohne Wiederkehr endete. Hier ist sie: Ich habe mittelalterliche Gemälde gesehen, die die Vorstellungen ihrer Maler vom Hades darstellten, dem mythologischen Reich der Toten. Sie zeigten eine Hölle, in der sich die Körper der Sünder von ewigem Schmerz verzerrt auf Stapeln häuften, bewacht von bärtigen, gehörnten Fratzen auf menschenähnlichen Körpern. Diese Kreaturen hatten lange Schwänze und krumm gebogene Fingernägel und hielten in ihren Händen Mistgabeln mit dreizackigen Zinken. Das geographische Schaubild, das ich dir zeigen wollte, wurde plötzlich zu einem Symbol, und wie durch eine Taschenspielerei meines Geistes hat es in mir diese Mistgabeln der Unterwelt heraufbeschworen, die ich vor langer Zeit einmal gesehen hatte. Einstweilen beruhigte sich mein Leben und wurde vorübergehend wieder sicher. Es war neu und anders als das, was ich bisher kannte, aber sicher und sogar spannend. Während
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Skizze zur örtlichen Lage von Lwów nach 1939
Papa und du im Krankenhaus arbeiteten, ging ich zur Schule, wo ich zum ersten Mal Sprachen lernte, die mir fremd waren: Ukrainisch und Hebräisch. Beide hatten verschiedene Buchstaben. Der ukrainische Buchstabe, den ich als B kannte, sah aus wie eine verzerrte Ziffer 6; auf Hebräisch sah der Buchstabe A besonders hübsch aus, und sein Name war Alef. In dieser Schule gab es keinen Unterricht in polnischer Sprache. Ich bin sicher, du wusstest, warum Papa mich dorthin geschickt hat. Ich wusste es nicht, aber ich hatte zumindest zwei stichhaltige Vermutungen: zum einen, dass er seit seiner Kindheit Hebräisch konnte und es für eine Sprache hielt, die sich zu lernen lohnt, zum anderen aber ganz bestimmt deshalb (so wie ich es heute sehe), weil es das erste Mal in seinem Leben war, dass Hebräisch als Sprache von den Behörden offiziell zugelassen wurde und an öffentlichen Schulen unterrichtet werden durfte. Ich brachte die besten Noten nach Hause – glatte Fünfen (eine Fünf ent-
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sprach einem A im amerikanischen System5), obwohl ich mich erinnere, dass ich Schwierigkeiten hatte, von rechts nach links zu lesen, wie es das Hebräische verlangt. In dieser Zeit erlebte ich viele Dinge zum ersten Mal. Im Winter habe ich von dir meine ersten Skier geschenkt bekommen, und sonntags bist du mit mir in den Park gegangen, wo ich im Schnee mehr fiel und purzelte, als tatsächlich Ski zu fahren. Mit anderen Jungen und Mädchen zusammen zu versuchen, die schneebedeckten Hügel des Parks zu erobern, machte mir viel Spaß. Janeczka, meine große Schwester, bescherte mir auch ein „erstes Mal“, als sie mich ins Kino mitnahm. Es lag gerade gegenüber unserer Wohnung auf der anderen Straßenseite und hieß Globus. Ich erinnere mich an den Namen, weil davor eine große, runde Lampe stand mit bunten Bildern von allen Erdteilen darauf. Der Film, den ich an diesem Abend sah, war schwarz-weiß. An den genauen Titel kann ich mich nicht mehr erinnern, aber so etwas wie Wiener Wald klingt mir im Kopf. Die Frau und der Mann in diesem Film waren verliebt und fuhren die meiste Zeit in einem Einspänner und sangen schöne Wiener Walzer. Manche davon erkannte ich wieder, ich hatte die Melodien oft gehört, wenn Papa auf dem Klavier spielte. Aber der Film war längst nicht so wichtig wie die Tatsache, dass meine große Schwester, die inzwischen eine von mir bewunderte Medizinstudentin war, mich an diesem Abend zu einem Mädchen der „großen Stadt“ machte. Es war ein fast ritueller Schritt, mit dem ich von dem kleinen Mädchen, das mit den Zigeuner-Kindern umherrannte, zu einer Beinah-Erwachsenen wurde. Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich die Uhr nicht zu beschleunigen brauchte, um völlig erwachsen zu werden. Nach dem 5 Eins auf der deutschen Notenskala.
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Film bummelten wir zusammen durch die Stadt, und Janeczka sang für mich ein paar Melodien aus dem Film. Sie hatte eine schöne Stimme und ein Ohr für Musik; ihre Stimme war seidenweich, der Klang warm und beruhigend mit so viel Schwingung darin, dass ich mich geliebt fühlte. Sie hat diese Gabe von dir geerbt – ich leider nicht. Ein anderes Ereignis erlebte ich nicht nur zum ersten, sondern auch zum einzigen Mal. Ich war eingeschrieben in der Ballettschule im städtischen Opernhaus und ging dreimal in der Woche dorthin. Das Gebäude, das fast genau der Pariser Oper nachgebaut war, stand am Ende eines breiten, baumbestandenen Boulevards und hatte für mich etwas Königliches. Die Schule wurde hauptsächlich von Mädchen besucht. Wir benutzten einen Seiteneingang am Ende des Gebäudes. Die Stunden fanden am Abend statt und die Lehrerin war eine russische Ballerina, deren glorreiche Tage im Leningrader Ballett schon viele Jahre zurücklagen. Sie hieß Alexandra, aber wir nannten sie Madame Sascha. Wir lernten die klassischen Fuß- und Armpositionen des Balletts und verschiedene Schritte, Pirouetten und Figuren. Ich liebte es! Es kam mir vor, als sei ich in eine Märchenwelt versetzt, die mit dem täglichen Leben nichts zu tun hatte und in der eine andere Sprache herrschte. Die rosafarbenen Tutus und Schuhe machten aus uns etwas Besonderes, einmalig und völlig verschieden von der Welt draußen. Am Ende des Jahres wählte Madame Sascha zehn Mädchen aus, denn die besten der Klasse durften auf der richtigen Opernbühne in einer Aufführung des Balletts Don Quixote auftreten. Und wie stolz und beflügelt vor Freude war ich – ich war eines dieser Mädchen! Wir sollten als Blumen auf einem Feld tanzen, auf dem mächtige Windmühlen standen und auf dem sich das Drama zwischen Don Quixote und seiner geliebten Dulcinea abspielte. Der Abend war zauberhaft! Der Zauber
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wurde noch verstärkt dadurch, dass du und Papa und Janka mir von dem riesigen dunklen Raum aus zuschautet, dessen Reihen dicht gefüllt mit Menschen waren. Natürlich konnte ich dich nicht sehen, aber mehr denn je habe ich deine ständige Gegenwart gespürt, in jedem Ballettschritt, wie in jedem Schritt meines Lebens. Ich wusste, dass du da warst, weil ich zu dir gehörte und du zu mir. Im Mai 1941 hörte aller Unterricht auf – der reale in der Schule und der magische im Ballett. Die Stadt wimmelte von russischen Soldaten und Offizieren. Die Farbe ihrer Uniformen hatte einen anderen Ton als die polnischen, soweit ich mich daran erinnern kann. Sie trugen Stiefel aus weichem Leder, die sich knautschten und Falten schlugen wie ein Akkordeon, während die Stiefel der polnischen Offiziere steif und glänzend waren und bis zum Knie reichten. Die Mützen waren rund und hatten ein rotes oder blaues Band rundum, und direkt über dem blanken schwarzen Schild, der ihre russischen Augen beschirmte, prangte ein glänzend roter fünfzackiger Stern. Manchmal hielten sie mich auf der Straße auf und redeten mit mir und tätschelten meine Wangen oder strichen mir übers Haar. Ich erinnere mich an einen russischen Offizier, der im gleichen Haus mit uns wohnte – immer, wenn er mir im Treppenhaus begegnete, küsste er mich auf die Stirn. Er hat als Erster meinen Namen ins Russische übersetzt und mich Lenotschka genannt. Vielleicht erinnerte ich ihn an seine Tochter und füllte eine Lücke seiner Sehnsucht. Was ich dir bis jetzt erzählt habe, liebe Mama, war alles, was ich damals von Soldaten und vom Krieg wusste. Wie hätte ich mehr wissen sollen? Ich war noch nicht einmal neun Jahre alt. Krieg ist ein abstraktes Wort für ein Kind, und das Einzige, was es im Denken eines Kindes gibt, ist Wirklichkeit. Wenn ein Kind ein Märchen liest oder hört, glaubt es, es sei wirklich.
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Wenn aber die Extreme der Wirklichkeit – die schönsten und die schrecklichsten Ereignisse – in unvorhergesehener Folge auf einen einstürzen, kann man nur im Schutz der eigenen geheimen Orte überleben. Man muss lernen, sie aufzusuchen, als sei die Dunkelheit nur ein vorübergehender Moment und das Licht am Ende der Straße wie glänzendes Wasser, das scheinbar ohne Zweck seiner Bestimmung zum unendlichen Ozean entgegenfließt. Eine unbestimmte Nervosität lag in der Luft in diesem Mai 1941: dein Flüstern, das Ausweichen deines Blicks, wenn ich dich anschaute; das Schweigen am Esstisch, euer Kommen und Gehen, ohne mir zu sagen, woher und wohin, und die stummen Tränen von Clara, die eine Zeit lang bei uns wohnte. Erinnerst du dich an das merkwürdige Essen in Waręż mit meiner Freundin Àmele und meinem geliebten Bambi? Also, Clara war Àmeles ältere Schwester und die Tochter des alten bärtigen Juden, der mir das glänzende Hufeisen geschenkt hatte, als Glücksbringer. Clara war ungefähr so alt wie Janka, du hast sie „adoptiert“ und in unsere Familie aufgenommen; sie war die Einzige aus ihrer großen Familie, die von Waręż nach Osten geflohen war, und sie kannte nicht eine Menschenseele auf dieser Seite des Flusses. Später erzähle ich dir ihre Geschichte; weil ich denke, dass du sie mit ihrem seltenen glücklichen Ausgang herzerwärmend finden könntest. Eines Tages hast du mir eröffnet, du hättest für mich einen Ferienaufenthalt in einer kleinen Stadt organisiert. Sie sei so ähnlich wie die, in der wir früher gelebt hatten, und ich würde bei Verwandten von dir wohnen – einem entfernten Onkel und einer Tante, den gleichen, die immer goyka zu mir gesagt hatten. Du hast mir versichert, es sei nicht weit weg, sie würden für mich sorgen, und mein Sommer würde wieder bunt und schön werden, mit Blumen in den Feldern
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und sonnenüberglänztem Wasser in den Bächen. Du hast mir eingeschärft, höflich zu sein und „Onkel“ und „Tante“ zu sagen; rechtzeitig vor dem Schulanfang würdest du mich dann wieder abholen. Der Name der Stadt, in der ich den Sommer verbringen sollte, war Radechow6 (Radziechów) – es ist der östlichste Punkt auf der Teufels-Forke, die ich vorher für dich gezeichnet habe. Sobald ich dort angekommen war, wusste ich, dass ich von da an die merkwürdigsten Dinge zu sehen bekommen sollte. Es gab in dieser Familie drei Männer – einen alten, den „Onkel“, und zwei jüngere, vier Frauen – eine alte, die „Tante“, und drei jüngere, dazu zwei Kinder – einen Jungen und ein Mädchen. Es ist traurig und eigentlich unverzeihlich, dass ich ihre Namen nicht mehr weiß. Meine einzige Entschuldigung dafür ist, dass die Ereignisse, die bald eintreten sollten, ihre Namen aus meinem Gedächtnis ausradiert haben. Sie lebten in beengten Verhältnissen – drei Zimmer, eine winzige Küche und ein winziger Hof, in dem die Hühner herumliefen und scharrten. In der Küche gab es einen eisernen Herd und zwei große Tische, die ich mir im Kopf als „Milchtisch“ und „Fleischtisch“ einprägen musste. Man schärfte mir mit strengen Worten ein, sie niemals durcheinanderzubringen, weil das eine Sünde war und gegen das Gesetz des hebräischen Gottes. Weder das Wort Sünde noch das Wort Gott hatte für mich irgendeine Bedeutung. Nie hatte jemand zu mir gesagt, ich sei ein Sünder, davon wusste ich nichts. Das Einzige, was mir dort gefiel, waren die Lieder, die die Frauen sangen, wenn wir zusammen in einem Zimmer waren und uns zum Schlafen fertigmachten. Die Melodien waren wie eine Mischung aus Trotz und Unterwerfung, aus Traurigkeit und Furcht, Sehnsucht und Enttäuschung, aus Hoffnung und dem Scheitern 6 Heute ukrainisch: Radechiw; Radechow ist der russische, Radziechów der polnische Ortsname.
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ihrer Erwartungen. Später, viel später in meinem Leben habe ich begriffen, wie diese Lieder die Erfahrung der Isolation und Entfremdung widerspiegelten. Wenn die Traurigkeit sich bis zum Äußersten verdichtet hatte, folgte ein kurzer Ausbruch der Freude im Lied, das danach meist abrupt endete. Die gleiche rhythmische Abfolge ist mir später auch in anderen Volksliedern begegnet. Bevor die Kerzen heruntergebrannt waren, saßen wir in unseren Betten, und die Frauen fragten mich aus über das Leben in unserer Familie. Auf meine Antworten reagierten sie unverhohlen mit einer Art übertriebenem Entsetzen, aber es kam mir so vor, als sei in den Augen der jüngeren etwas von neugieriger Eifersucht. Aber vielleicht ist das auch nur mein nachträgliches Wunschdenken. Sie trugen alle traditionelle orthodoxe Kleidung mit wenig Farbe darin – meistens Schwarz, Braun und Dunkelblau –, aber zu besonderen Gelegenheiten schmückten sich die Frauen mit feinen Spitzen. Damit man an Samstagen den Herd heizen konnte, hatten sie eine christliche Frau oder „Heidin“, die kam, um das Streichholz anzuzünden und das Feuer zu entfachen. Wenn ich da war und die Frau nicht rechtzeitig kam, wurde ich wieder zur goyka – zur Nichtjüdin – und dazu bestimmt, die Aufgabe zu übernehmen. Wahrscheinlich dachten sie, dass ich schon so weit jenseits jeder Rettung vor der Rache ihres Gottes war, dass diese kleine Sünde, die sie mich begehen hießen, nicht das Zünglein an der Waage sein würde, die ohnehin schon völlig aus dem Gleichgewicht war. Die Stadt Radechow war ein bisschen größer als das Waręż meiner Kindheit. Es gab dort den gleichen typischen Platz in der Ortsmitte mit ein- oder zweistöckigen Häusern an allen vier Seiten. Es gab einen Apotheker, der ein paar Arzneimittel gegen allerlei kleinere Beschwerden, aber auch
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Eiskrem, Süßigkeiten und Spielsachen verkaufte; es gab ein Postamt und, wie man mir sagte, ein paar Häuser von reichen Leuten. Nur wenige Einwohner der Stadt waren keine Juden, obwohl gleich an der Stadtgrenze die Häuser und Höfe der ukrainischen und polnischen Bauern lagen. Die meisten jüdischen Häuser hatten eine Mesusa an den Rahmen ihrer Eingangstüren, kleine Rollen mit einem Abschnitt aus der Hebräischen Schrift darauf. Im Glauben, eine Mesusa halte ihr Heim sicher und geheiligt, behandelten orthodoxe Juden sie mit Ehrerbietung und küssten sie, wenn sie das Haus betraten oder verließen. Ich wanderte auf eigene Faust alleine durch die Stadt, weil ich keine Freunde dort hatte, und der einzige Ort, den ich außerhalb kannte, war ein Bauernhof. Der Mann, der dort lebte, brachte immer das Holz für den Herd und den Ofen und hackte es in passende Scheite. Ich kannte seinen Namen nicht, aber ich weiß, dass er meine neugierigen Besuche duldete und mich jedes Mal mit Namen grüßte, wenn ich vorbeikam. Das war mein müßiges und nicht unangenehmes Sommerleben an diesem Ort. Es passierte kurz vor zwölf Uhr – mitten an einem stillen Mittag. Wir hörten den rasch anschwellenden Lärm von großen Lastwagen, die auf den Dorfplatz fuhren. Wir schauten durch die Fenster. Die Lastwagen hielten an. Eine Menge schwarz gekleideter Soldaten sprangen ab; sie sahen aus wie riesige schwarze Ameisen, die sich ordneten und mit ihren Armen nach allen vier Seiten des Platzes zeigten. Wir standen noch immer am Fenster und beobachteten diese unwirkliche Szene, als die Soldaten plötzlich auseinanderstoben und sich in kleine Gruppen aufteilten, die alle zu den Türen der Häuser rannten und mit wilden Stimmen schrien: „Jude heraus!“ Die Türen, die sie ausließen, waren die, die keine Mesusa trugen.
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Die Männer in den schwarzen Uniformen mit einem doppelten Blitz auf dem Kragenspiegel, die ich bald als SS-Männer zu erkennen lernte, stürmten die Tür unseres Hauses mit bedrohlichen und furchterregenden Schreien. Sie schleiften deinen Onkel an seinem Bart aus dem Haus, traten und schlugen ihn auf den Kopf, bevor sie ihn vor der Mesusa auf der Schwelle seines Hauses erschossen. Sie schnitten seinen Bart ab und warfen ihn in die Luft, und einen Moment lang schwebte er über dem Kopf deiner Tante, die sich mit schrecklich gellenden Schreien zu ihrem Mann durchzukämpfen versuchte. Sie schleiften sie an den Haaren in die entgegengesetzte Richtung, warfen sie in dem kleinen Hof auf den Boden, und ihr blutender Körper sackte dort zusammen mitten im lauten Gezeter der verängstigten Hühner, die sie dort aufgezogen hatte. Diese Szene dauerte nur kurz, aber vor meinem inneren Auge dehnte sie sich ins Endlose, während ich eng an die Wand gedrückt in der Ecke stand. Ich fühlte plötzlich einen scharfen Ruck an meinem Arm, und die Tochter deiner Tante zog mich in eine kleine Vorratskammer auf der Seite des Hauses. Sie schlug dort das kleine Fenster ein, bevor sie mich aufforderte, durchzuspringen. Sie drückte mir ein Bündel Geldscheine in die Hand, und mit einem Flüstern, das mir wie ein Schrei klang, befahl sie mir zu rennen, schnell zu „ihm“ zu rennen, so schnell zu rennen, wie ich nur konnte, „ihm“ das Geld zu geben und ihn zu bitten, mich zu euch zu bringen. „Er“ war der Mann, der ihnen so viele Jahre das Holz gebracht hatte. Von meinen vorherigen Streifzügen wusste ich, wo er wohnte. Ich rannte, so schnell ich konnte, bis die fürchterlichen Schreie der Mörder und die Schreie der Ermordeten immer leiser wurden und verschwanden; wenn ich genau horche, höre ich sie noch immer. Später haben wir von einem Entkommenen erfahren, dass die ganze jüdische Gemeinde getötet und in flachen
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Gräbern auf den Feldern verscharrt worden war. Rachsüchtige Bauern – sowohl Ukrainer als auch Polen – leisteten Hilfe bei diesen Morden, plünderten anschließend die Häuser oder nahmen sie in Besitz. In den Zeitungen der großen Stadt Lwów schworen die Ukrainer, einen „Triumphbogen aus bärtigen Judenköpfen“ zu errichten, um die deutschen „Befreier“ zu begrüßen. Ich zitiere diese Sätze, weil ich sie noch fast wörtlich im Kopf habe – selbst ein Kind kann Bilder nicht vergessen, die Worte wie diese heraufbeschwören; sie sind mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Ich erreichte den Hof des Holzhackers – so werde ich ihn nennen, weil ich seinen Namen nicht mehr weiß – und bat ihn, mich zu meiner Mutter zu bringen, die ihn gut dafür bezahlen werde. Genau in dem Augenblick, als ich das sagte, verwandelte ich mich von dem kleinen Mädchen, das du immer umsorgt hast, in eine schlaue kleine Person mit einem besonderen Instinkt oder Scharfsinn und hatte gelernt, wie man sich einen Schutzpanzer zulegt und wie man Mitleid erwecken und gleichzeitig dreist sein kann. Wie ging das so schnell? Vielleicht war der Instinkt schon immer da, im Gehirn angelegt durch den uralten Code „Angst, Flucht und Überleben“. Der Holzhacker wies mich an, mich in einem der Schuppen auf seinem Hof zu verstecken und bis zum Einbruch der Nacht dort zu bleiben. Dann, wenn die Dunkelheit käme, würde er Pferd und Wagen fertig machen und mich in die Stadt bringen. Sonnenlicht drang durch die Ritzen in den hölzernen Wänden. Der Geruch von Dung hing schwer und mächtig in der Luft, und summende Fliegen attackierten meine Beine, Hände und mein Gesicht. Nach einiger Zeit kam der Mann herein, brachte mir eine Tasse Milch, ein Stück Brot und eine Decke und sagte mir, wir würden in ein paar Stunden aufbrechen. Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen. Ich schlief ein.
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Mit einem leisen Quietschen ging die Tür des Schuppens auf. Der Holzhacker hieß mich aufstehen, die Decke nehmen und auf den Wagen klettern. Er setzte mich mitten hinein, zwischen lauter Reisigbündeln – auf Polnisch nannte man das chrust – und gab mir ein Kopftuch, das ich unter dem Kinn binden sollte, damit meine Haare verdeckt waren und ich wie „ein richtiges Bauernmädchen“ aussah. Er bedeutete mir, wenn ich irgendwelche Stimmen hören sollte, solle ich eines der Reisigbündel über mich ziehen und tiefer in den Wagen kriechen. Ich tat, was er mir sagte und versicherte mich, dass das Bündel Geldscheine tief in meiner Tasche lag. Der Wagen war bald unterwegs, begleitet vom gleichmäßigen Rhythmus und dem Klappern der Pferdehufe auf der ungeteerten Straße. Es schien, als seien solche Reisen mein Los, nur war ich diesmal alleine und hatte Angst; die Nacht war sternenlos, und es gab keinen, der mich tröstete. Meine Wangen und mein Hals waren nass; aber aus den dichten Wolken am Himmel über mir kam kein Regen, es waren meine salzigen Tränen. Ich wischte sie nicht ab; sie waren mir willkommen als friedfertige, sanfte Freunde, die mir halfen, das Grauen der Bilder dieses Tages verschwimmen zu lassen: der abgetrennte Kopf des alten Mannes; der blutüberströmte Körper der alten Frau mit dem grotesken Tanz der Hühner und das hartnäckige Bild von einer weißen Hand in einem schwarzen Uniformärmel, die das lange, silbrige Haar vom Bart eines enthaupteten Mannes hält. * Es war noch dunkel, als wir anhielten. Der Bauer half mir aus dem Wagen und setzte mich vor dem Haus in Lwów, in dem wir wohnten, auf dem Gehweg ab. Er befahl mir, meine Mutter zu holen, die ihn für seine Fahrt und meine Anlieferung bezahlen sollte. Ohne etwas zu sagen, zog ich
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mein Bündel Geldscheine aus der Tasche und gab es ihm. In jeder anderen Situation hätte ich ein „Danke“ oder eine Verbeugung zur Antwort bekommen – aber nicht in dieser Nacht. Er war wütend, sehr wütend sogar, und fing an, mich mit vulgären Flüchen zu beschimpfen. Er wusste, dass dieses kleine Gör ihn hereingelegt hatte; er hätte das Geld auch haben können, ohne die Reise zu unternehmen, aber jetzt war es zu spät. Ich rannte von ihm weg, und so schnell ich konnte, lief ich die Treppen hinauf bis zum sechsten Stock. Du hast die Tür aufgemacht und ich fiel in deine Arme und ließ dich nicht mehr los, bis ich einschlief. * Liebste Mama, vierzig Jahre später, im Oktober 1981, habe ich dieses Gedicht geschrieben. Ich will es dir vorlesen: When I was five The flame of war was close And tremor grew. When I was seven it touched my doors. Doors of my childhood, burned forever and let me go My memories remained: A child lost in time of suddenly unwanted races. It’s time to gather memories, It’s time to write the words. Words … sailors returning home from places known to nights. Nights jealous of its horrors, Horrors where gods do not exist.
Brief an meine Mutter
Hot summer, and the year is forty-one A child of enlightenment Between medieval roots of tribe, Estranged, in rituals of god called omnipotent. Curiosity prevailed, and girl was listening to tales of the past. While drinking tribal milk and eating tribal meat, She used to break the rules of the “game” that bearded men imposed. It was this girl’s first lesson, a class in tolerance. A wonder of symbolic Sabbath candles, And sadness of the songs belonging to the lost land. Vacation with blood relatives she didn’t know, With strangers of lost world. Abruptly all this ended with cannons, screams and vulgar death. The “teachers” in black uniforms Announced an intermission in the theater of peaceful life.
* A road to town is dark, A lonely wooden wagon, A miserable horse encouraged by a whip. Kilometers go slow, My girl at mercy of a peasant With Judas’s silver in his fist.
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If there was ever Christ, That’s how He must have felt. Is there a purpose to her death? Is innocence a sin? The wagon stops. Soft touch of mother’s hand and smell of safety … short-lasting and elusive band. The land was seldom free. The hatred of conquerors and strangers was taught for ages and passed to children through DNA. A vengeful nature’s twisting helix became a whip in inquisition’s hand again. We want your bread, they shouted, your homes, your children, your poets, writers, your gold and silver! She-wolf forgot her children and joined the foreign pack. We want your blood! they shouted, and burned, and killed, and spat at faces of humanity. A nightmare of amnesia was around …
Als ich fünf war War die Flamme des Krieges nah Und das Beben wuchs. Als ich sieben war, griff sie nach meiner Tür. Türen meiner Kindheit, verbrannt für immer ließen mich gehen
Brief an meine Mutter
Meine Erinnerung blieb: Ein Kind verloren in der Zeit plötzlich unerwünschter Rassen. Es ist Zeit, Erinnerungen zu sammeln, Es ist Zeit, Worte aufzuschreiben. Worte … Seefahrer, heimkehrend von Orten, die nur die Nächte kennen. Nächte, neidisch auf des Kindes Schrecken, Schrecken, in denen Götter nicht existieren. Heißer Sommer, und das Jahr ist einundvierzig. Ein Kind der Aufklärung Inmitten uralter Stammeswurzeln, Entfremdet, in Ritualen eines Gottes den man allmächtig hieß. Neugier überwog, und das Mädchen lauschte Geschichten der Vergangenheit. Während sie Milch trank und Fleisch aß, wie der Brauch des Stammes verlangte, Verletzte sie doch die Regeln im „Spiel“, von bärtigen Männern verfügt. Es war des Mädchens erste Lektion, Stunde in Toleranz. Ein Wunder aus Sabbatkerzen voller Bedeutung Und Melancholie der Lieder aus dem verlorenen Land. Ferien mit Blutsverwandten, die sie nicht kannte, Mit Fremden einer verlorenen Welt. Jäh kam all dies zum Ende mit Geschützen, Schreien und gemeinem Tod. Die „Lehrer“ in schwarzer Uniform Verkündeten eine Pause im Theater des friedvollen Lebens.
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* Eine Straße zur Stadt ist dunkel, Ein einsamer Wagen aus Holz, Ein elendes Pferd ermuntert durch eine Peitsche. Die Kilometer gehen schleichend, Mein Mädchen in der Gnade eines Bauern Mit Judas’ Silber in der Faust. Wenn es Christus je gab, Muss er sich so gefühlt haben. Ist da ein Sinn in ihrem Tod? Ist Unschuld Sünde? Der Wagen hält. Sanfte Berührung durch Mutters Hand und der Duft von Sicherheit … kurzlebiges, flüchtiges Band. Das Land war selten frei. Der Hass auf Eroberer und Fremde wurde gelehrt über Generationen und weitergegeben an Kinder durch DNA. Einer rachsüchtigen Natur gewundene Helix wurde wieder zur Peitsche in der Hand der Inquisition. Wir wollen euer Brot, schrien sie, eure Häuser, eure Kinder, eure Dichter, Schriftsteller, euer Gold und Silber! Die Wölfin vergaß ihre Jungen und ging mit dem fremden Pack. Wir wollen euer Blut! schrien sie
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und brannten und mordeten und spien in die Gesichter der Menschlichkeit. Ein Albtraum des Vergessens war ringsum …
* Am nächsten Morgen erfuhr ich die Neuigkeiten, die ich sofort wissen musste: Erstens: Papa war weg. Er war in die russische Armee eingezogen worden und sollte die verwundeten Soldaten an der Front behandeln. Er würde lange wegbleiben, sagtest du mir. Zweitens: Die Deutschen waren in der Stadt, und ich durfte nicht allein auf die Straße gehen. Nach Sonnenuntergang durfte überhaupt niemand das Haus verlassen – es herrschte Ausgangssperre. Drittens: Du arbeitetest im gleichen Krankenhaus wie zuvor, aber viel länger, so dass wir einander nur spätabends sehen könnten. Du und Janka würden gemeinsam von der Arbeit zurückkommen, weil sie keine Medizinstudentin mehr war, sondern jetzt im gleichen Krankenhaus wie du als Krankenpflegerin arbeitete. Viertens: Ich musste zuhause bleiben und auf dich warten. Wenn jemand an der Tür läutete, sollte ich so tun, als sei ich nicht da. Fünftens: Die „adoptierte“ Clara lebte jetzt bei anderen Leuten. Dafür bekam ich keine weitere Erklärung, aber ich erfuhr bald, warum sie weggegangen war. Abgesehen davon, dass Papa „vorübergehend“ weg war, wie du sagtest, waren mir alle übrigen Veränderungen egal, solange ich nur bei dir war. Ich glaubte immer noch, du hättest die Macht, alles wieder gut zu machen für uns – für Janka und mich. Es gab noch eine sechste Sache, von der du mir nichts sagtest. Als du und Janka morgens eure Mäntel anzogt, um
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zur Arbeit zu gehen, fiel mir auf, dass am rechten Ärmel ein weißes Band mit einem blauen Stern darauf befestigt war. Diesmal war es ein sechszackiger Stern, nicht einer mit fünf Zacken, wie bei den russischen Soldatenmützen. Der Stern war leicht zu zeichnen – zwei Dreiecke übereinander, eines, das gerade nach oben zeigte, und ein umgekehrtes, das darübergelegt war. Ich erfuhr, dass man ihn Davidsstern nannte oder Mogen David auf Hebräisch. Mogen bedeutet Schild; ich glaube, das bezieht sich auf den Schild, den David trug, als er den Riesen Goliath besiegte. Aber jetzt war es kein Symbol des Sieges, sondern eines der Niederlage und Demütigung. Weil ich unter zehn war, musste ich es noch nicht tragen; ich tat es auch nie. Als ich dir aufgewühlt in hastigen und unzusammenhängenden Sätzen erzählte, wovon ich in der Stadt Radechow Zeuge geworden war, hast du mir geglaubt. Warum? Es war doch nicht zu glauben! In jeder anderen Zeit hättest du dein Kind zum Arzt gebracht, damit er es von dieser schrecklichen Obsession heile – aber du wusstest es besser und glaubtest mir. * All die Regeln, die ich befolgen sollte, wurden schon bald nach meiner Rückkehr aus Radechow hinfällig. Man befahl uns, in ein „Ghetto“ zu ziehen, ein Wort, das ich zuvor nie gehört hatte. Plötzlich waren wir „die Juden“. Plötzlich waren wir keine Polen mehr. Wir gehörten nicht mehr dazu; wir waren für den Tod gebrandmarkt. Man erlaubte uns, ein paar Koffer mit persönlichen Dingen zu packen. Jankas Freund, ein junger Kollege aus dem Krankenhaus, half, den kleinen Handwagen mit unserem Gepäck bis zu unserem Ziel zu ziehen, das einige Kilometer weit entfernt lag. Ich hörte, dass das Ghetto ein Sammellager für geplante Tötungen sei und dass es bald zum Schlachthaus werden würde für alle, die dort hinkamen. Und das war es.
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Das war es für uns. So hätte es in jedem Lexikon nach 1945 erklärt werden müssen – das geschah aber nicht. Meine liebe Mama, wenn meine Kinder oder Enkel in irgendeinem Wörterbuch in meinem Haus nachschlagen wollten, was das Wort „Ghetto“ bedeutet, wäre alles, was sie erfahren würden, es sei „ein Teil einer Stadt, in dem eine Minderheit lebt“. Vielleicht würden sie sogar noch darüber informiert, dass das Wort aus dem Venedig des 16. Jahrhunderts stammt, wo Juden ausgegrenzt und isoliert waren, aber wohl ein sehr komfortables Leben führten. Ohne diesen Brief an dich zu lesen, würden sie nie etwas über das Ghetto wissen, in dem ich gelebt habe. Dir zu Ehren und für alle anderen Bewohner des Ghettos ergänze ich meine eigene Erklärung für das Wörterbuch: ein Sammellager für jüdische Menschen, organisiert von Deutschen unmittelbar vor der planmäßigen Ermordung, Aushungerung und Vernichtung der Juden – Hitlers „Endlösung“. Stumm und mit fassungslosem Erstaunen durchquerten wir das Stadtzentrum, bewegten uns weiter nach Norden zum Bahndamm und betraten das Gebiet des Ghettos durch einen kurzen Tunnel unter den Gleisen. Die Unterführung wurde auf beiden Seiten von besonderen deutschen Truppen bewacht, die man Gestapo nannte. Ihre Aufgabe war, sicherzustellen, dass niemand aus dieser sich langsam bewegenden Prozession entkam, bevor er in der Falle des Ghettos gefangen war. Wie es bewerkstelligt werden konnte, dass wir, du, Janka und ich, zusammen in einem kleinen Raum landeten, übersteigt mein Erinnerungsvermögen oder, genauer gesagt, meine Kenntnis. Ich wusste einfach nicht, wie wir in dieses schmale, lange Zimmer gelangt waren, an das ich mich jetzt erinnere. Es war ungefähr zwei oder drei Meter breit und acht oder neun Meter lang, mit zwei Betten, einem Tisch und einem Waschtisch.
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Über dem Tisch hast du die gerahmte Fotografie von uns beiden aufgehängt, die vor langer Zeit bei einer Fotoausstellung in dieser Stadt einen Preis gewonnen hatte. Es war wirklich eine entzückende Darstellung von Mutter und Kind: Unsere Köpfe waren nah beieinander und unsere Augen waren auf deine offene Hand gerichtet, in der eine einzelne Erbse lag, die mein kleiner Finger berührte. Mit dem einfachen Arrangement und in weichen Grau- und Weißtönen gehalten, strahlte die Aufnahme zärtliche Liebe aus – beinahe wie eine Madonna mit Kind von Raffael. Der Abstieg von unserem schönen und großzügigen Haus zu einer ziemlich großen, komfortablen Wohnung und dann zu diesem Raum wurde eine schlichte Lebensrealität, eine Tatsache. Das Zimmer war einmal Teil einer großen Wohnung mit drei Schlafzimmern gewesen; es war das letzte der amfilada, einer Flucht von Räumen, die in einer Linie hintereinander lagen. Es gab keinen Korridor. Um zu unserem Schlafzimmer zu kommen, mussten wir durch zwei Zimmer voller Menschen und auf dem gleichen Weg wieder zurück, falls wir zur Toilette wollten. Nachts benutzten wir einen großen Nachttopf, um die anderen Familien in den vorderen Zimmern nicht zu stören. Du und ich schliefen zusammen in einem Bett, Janka im anderen. Morgens gingst du sehr früh zur Arbeit in ein Krankenhaus auf der „arischen“ Seite der Stadt – außerhalb des Ghettos, wo die Nichtjuden lebten. Die Deutschen brauchten dich dort als erfahrene Röntgenassistentin, und du bekamst einen besonderen Pass, mit dem du aus dem Ghetto hinausund hereingelangen konntest. Janka arbeitete als Pflegerin im Krankenhaus des Ghettos. Der Direktor, Dr. Litvak, hatte Papa vor dem Krieg gekannt, und Janka erzählte uns immer, wie freundlich er zu ihr war.
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Mir wurde gesagt, ich dürfe nie, unter gar keinen Umständen, alleine auf die Straße gehen. Nur zusammen mit dir oder meiner Schwester Janka konnte ich hinaus. Der Grund dafür war, dass die deutschen Gendarmen alle paar Tage in unterschiedlichen Straßen Verhaftungen vornahmen; wir nannten sie lapanka, vom polnischen Verb lapac, das fangen oder schnappen bedeutet. Sie riegelten einen Straßenabschnitt ab, und wer immer sich gerade dort befand, wurde mit Gewalt gepackt, auf einen der großen Militärlaster gestoßen, weggefahren und nie wieder gesehen. Wer versuchte, zu entkommen, wurde auf der Stelle erschossen, und die blutüberströmten Körper wurden auf die Wagen zu den noch Lebenden geworfen. Ich habe es oft vom einzigen Fenster in unserem Zimmer aus beobachtet. Ich hörte die Schreie auf der Straße und ich sah, wie die Menschen erschossen wurden, die wegzulaufen versuchten. Das war jetzt meine Wirklichkeit. Wenn ich in dem langen schmalen Zimmer alleine war, gab es nur wenig, was ich tun konnte, während ich darauf wartete, dass du heimkamst. Es gab ein paar Bücher, aber ich habe nur zwei von ihnen gelesen. Eines war Pan Tadeusz, eine lange Sagendichtung von Adam Mickiewicz, dem bedeutendsten polnischen Dichter, die für mich viel zu schwer zu verstehen war. Es gefiel mir nur, wenn er in wunderbaren Worten die Wälder und Flüsse beschrieb, und die Natur, die vor noch nicht allzu langer Zeit Teil meines Lebens war, jetzt aber so weit entfernt wie aus einer anderen Zeit schien. Das zweite Buch handelte von einem Rehkitz namens Bambi. War es ein Zufall oder Eingebung, was dich dazu veranlasste, zusammen mit unseren wenigen anderen Sachen gerade dieses Buch mit ins Ghetto zu nehmen? Bambi, das Reh, erinnerte mich an meinen Hund Bambi aus unseren glücklichen Tagen, aber ich musste auch weinen, weil ich
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Angst hatte, dich zu verlieren, so wie Bambi seine Mutter verloren hatte. Ansonsten brachte ich die Zeit, während ich auf dich wartete, damit zu, auf dem Fensterbrett zu sitzen und die Straße zu beobachten. Gegenüber war eine Süßwarenfabrik, der Name stand groß auf die Mauer geschrieben: Suchard. Dort wurden wohl immer noch Süßigkeiten hergestellt – wahrscheinlich für die deutsche Armee; ich weiß, dass sie noch produzierten, denn an windigen Tagen konnte ich einen leichten Duft erschnuppern, einen schwachen Hauch von Pralinen, wie ich sie vor Ur-Zeiten selbst gegessen hatte. Aber meine Lieblingsbeschäftigung war, mich mit meinem Freund auf der anderen Straßenseite zu „unterhalten“. Im Haus neben der Schokoladenfabrik lebte im ersten Stock ein Junge mit schwarzen Locken, der ungefähr so alt war wie ich. Wir haben uns nie getroffen oder miteinander geredet, ich kannte noch nicht einmal seinen Namen, aber wir hatten eine Freundschaft von Fenster zu Fenster. Durch die Scheibe zeigte er mir seine Spielsachen und Bücher oder was er zu essen hatte. Er machte Faxen, und wir lachten beide; einmal zeigte er mir ein Blatt Papier mit einem großen M darauf, seitdem nannte ich ihn M-Junge. Natürlich habe ich mit allem geantwortet, was ich durchs Fenster von mir erzählen konnte. Es war wie ein Pantomimenspiel – ein Theater ohne Worte. Als ich dir von meinem Fensterfreund erzählte, hast du dich gefreut, dass ich ihn hatte. Wir gingen nie in einen Laden, um einzukaufen. Du und Janka, ihr brachtet jeden Abend Essen mit, wenn ihr von der Arbeit kamt. Es war immer dunkles Brot, ab und zu Huhn, Kartoffeln oder Rüben, Marmelade und Milch. Ihr habt behauptet, ihr würdet euch beide nichts aus Milch machen, sie sei also nur für mich. Manchmal habt ihr Essen in Dosen mitgebracht, das ungewohnt schmeckte, von den Deutschen
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hergestellte Ersatz-Nahrung. Ich war nicht mehr wählerisch; ich aß alles und fast immer war ich hungrig. Ich aß sogar lebiodka (wilden Majoran), ein Kraut, das du am Straßenrand sammeltest; es schmeckte wie Spinat, den ich früher einmal so verabscheut hatte. Oft, wann immer du konntest, hast du mich frühmorgens, bevor du zur Arbeit gingst, in eine Schule gebracht, die ein Ehepaar heimlich organisiert hatte; beide waren vor dem Krieg Lehrer gewesen. Kinder aller Altersstufen versammelten sich in ihren zwei Zimmern. Wir saßen hinter zugezogenen Vorhängen, damit uns von der Straße keiner sehen konnte. Mit leiser Stimme lasen die beiden uns Bücher vor oder unterrichteten uns über die Geschichte des Landes, zu dem wir nicht mehr gehörten. Sie brachten uns auch ein paar geographische Grundlagen von fernen Gegenden bei, die so exotische Namen trugen wie Asien, Afrika oder Amerika, und ich versuchte fest daran zu glauben, dass sie wirklich existierten. Eines der älteren Mädchen, Janka Hescheles, gründete dort eine Theatergruppe. Ihr Vater war vor dem Krieg Herausgeber der wichtigsten Tageszeitung in Lwów gewesen. Wir alle spielten abwechselnd ausgedachte Rollen und genossen diese vorgestellte Flucht aus unserem düsteren Dasein. Nach dem Krieg hat sie, Janka Hescheles, ein Buch über diese Zeit veröffentlicht, Oczyma dwunastoletniej dziewczyny (Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens),7 das ich besitze und mit nach Amerika gebracht habe. Papa hat es mir nach dem Krieg gekauft, weil sie auch über mich geschrieben hat – mit meinem vollen Namen; damit hat sie aus mir mehr gemacht als nur ein anonymes Mädchen, das diese albtraumhafte Zeit überlebt hat. Heute würde ich sagen, dieses 7 Janina Hescheles: Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens. Ghetto – Lager – Versteck. Übers. von Christina-Marie Hauptmeier, hg. von Markus Roth (Berlin: Metropol, 2019).
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Buch war das polnische Gegenstück zum Tagebuch der Anne Frank. Wie schade, dass dieses Buch nicht bekannt ist, Mama! Man kennt es nicht, weil dieses junge Mädchen, ohne es zu beabsichtigen, ein unrühmliches Bild von jenem Land gezeichnet hat, das wir einmal unseres nannten; und seine Bürger wollten nicht, dass das Buch populär wird und sich dieses Bild verbreitet. * Ich habe dir vorhin versprochen, dass ich dir eine Geschichte mit glücklichem Ausgang erzähle. Bevor ich mir die schrecklichste Zeit meines Lebens in Erinnerung rufen will, erzähle ich dir also die Geschichte von Clara, deiner „Adoptivtochter“, der jungen Frau, die eine Zeit lang bei uns gelebt hat, nachdem sie von Waręż nach Lwów geflohen war. Du kanntest den Grund, warum sie nicht mit uns ins Ghetto kam. Sie hatte dir anvertraut, dass sie sich als ukrainisches Mädchen ausgeben wollte, weil sie erfahren hatte, dass die Deutschen viele von ihnen als Arbeitskräfte einzogen und nach Deutschland verschickten. Sie konnte sich leicht so verkleiden – sie war blond, hatte blaue Augen, rote Backen und eine nicht-jüdische Nase. Sie kam nach Deutschland, wo sie als Hausangestellte bei der Familie eines Offiziers arbeitete. Er war an der Ostfront und kämpfte gegen die Russen; und als kostenlose Entschädigung, gewissermaßen wie ein Bonus, kam Clara als Zwangsarbeiterin – oder Sklavin – in sein Haus. Sie hatte Glück, sie versorgte vier Kinder und den Haushalt; sie litt keinen Hunger und trug keinen Davidsstern; sonntags hatte sie sogar ein paar Stunden frei. Während dieser Freistunden ging sie mit anderen jungen Dienstmädchen zusammen zum Stadtrand, um nach dem Gefangenenlager für französische Offiziere zu schauen. Nach und nach lernte sie ein paar Brocken Französisch und freun-
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dete sich mit einem jungen Offizier an. Sie brachte ihm Brot und Zigaretten, die sie aus dem Haushalt gestohlen hatte, in dem sie arbeitete. Die Romanze über den Zaun zwischen ihr und dem jungen Franzosen setzte sich fort, bis die Alliierten Ende 1944 die Gefangenen befreiten. Der junge Offizier nahm sie mit nach Frankreich, heiratete sie, und sie gingen nach Algerien, das damals eine französische Kolonie war. Dort war er Chef-Ingenieur eines der größten französischen Industriekonzerne, Gas de France. Sie führte ein luxuriöses Leben in einer schönen Villa und hatte selbst drei algerische Hausmädchen – eigene „Sklavinnen“. Ihr neuer Name war Madame Guilbert. Die Familie ihres Mannes gehörte zur Aristokratie, die Napoleon begründet hatte, und der Name seines Großvaters Guilbert war in den Arc de Triomphe in Paris eingemeißelt. Clara konvertierte zum Katholizismus, um die Familie ihres Mannes zu besänftigen und durch dieses Zugeständnis zu versöhnen, denn bis dahin hatten sie das Handeln ihres Sohns als Fehltritt und die Heirat als Mesalliance verstanden. Als sich ihr Ehemann mit einer üppigen Pension zur Ruhe setzte, bezogen sie ein schönes Haus in Lyon und eine Sommervilla in den französischen Alpen. Claras Vater, der orthodoxe Jude aus dem kleinen polnischen Schtetl, hätte sich im Grab umgedreht und den Verrat an seinem Gott beklagt – sein Schaden! Auf ihre Einladung hin besuchte ich Clara im Jahr 1960 in Lyon, lernte ihre Schwiegereltern in Paris kennen, sah dort ihren neuen Familiennamen auf dem Arc de Triomphe stehen und verbrachte einige Zeit in ihrer Villa in den Alpen. Es stimmt also alles, was ich dir erzähle, ich habe es mir nicht zusammenfantasiert. Was ich dir aber vor allem erzählen wollte, ist ein Teil dieser außerordentlichen Geschichte, der dich ehrt: Clara hatte zwei Töchter, eine nannte sie Ja-
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nine und die andere Hélène – aus Liebe zu dir hat sie ihren Töchtern die Namen deiner Töchter in ihrer französischen Form gegeben. Diese Geschichte hat mich immer fasziniert, weil sie die eigenartigen und unvorhersehbaren Verbindungen zwischen Menschen zeigt. Eine amüsante Seite daran ist, dass sie als Beleg für die bekannte Theorie der „Six Degrees of Separation“8 dienen kann. Du und ich wären demnach – über Clara – nur „zwei Grade“ von Napoleon entfernt. Kurios, nicht wahr? * Ich weiß, ich weiß, liebste Mama, aus diesem Brief ist eine lange Geschichte geworden, eigentlich viele kleine Geschichten und Bilder von dir und mir. Das liegt allein daran, dass ich mich nicht von dir trennen will … * Eines Tages, an einem grauen, wolkenverhangenen Vormittag, nachdem du und Janka zur Arbeit gegangen wart, schreckte mich ein grässlicher Lärm von durcheinanderhallenden scharfen Rufen auf Deutsch aus dem Dämmerzustand auf, in dem ich noch halb träumend im Bett lag. Durch das Fenster hörte ich „Raus, raus, raus!“. Das lähmende, versteinernde Anschwellen von Schreien kam immer näher. Ich hörte schwere Stiefel auf den Treppen in unserem Haus dröhnen, auf und ab, auf und ab; dann hörte ich, wie Leute aus den vorderen Schlafzimmern geschleift wurden. Die Schreie der Menschen, die dort lebten, vermischten sich 8 Auch als „Kleine-Welt-Phänomen“ bekannt; von Stanley Milgram 1967 aufgestellte Theorie, wonach alle Personen auf der ganzen Welt durch eine erstaunlich kurze Kette von sozialen Beziehungen oder Bekanntschaften miteinander verbunden sind.
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mit dem deutschen Brüllen. Es war ohrenbetäubend. Ich lag in meinem Bett, hielt steif und unbeholfen meine angezogenen Knie mit beiden Armen fest und hoffte, dass dieser Moment vorübergehen würde. Plötzlich war es still. In dieser Stille öffnete sich unsere Zimmertür, und ein Gestapo-Mann mit einem Gewehr in der Hand und einem Helm auf dem Kopf stand im Türrahmen. Der Tag war trüb und der Raum schwach beleuchtet. Er suchte mit den Augen den Raum ab und sah mich! Er schaute sich nach anderen Leuten im Zimmer um, sein Blick blieb schließlich an dem gerahmten Bild von dir und mir hängen; es dauerte nur ein paar Sekunden, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Dann schaute er auf mich, und ich wusste sofort, dass er mich auf diesem Bild erkannt hatte. Seine Augen wanderten noch einmal von meinem Gesicht zu der Fotografie. Als er die Stimmen seiner Gestapo-Kameraden näherkommen hörte, schaute er noch einmal zu mir und legte den Zeigefinger an die Lippen mit einer Geste, die mir bedeutete, leise zu sein. Dann sagte er zu den anderen Männern etwas wie „Keine Juden“, ging hinaus und schloss die Tür. Was war gerade passiert?! Ich wusste, das war unerwartet; ich wusste, man hatte mich nicht zusammen mit den anderen wehklagenden Menschen weggebracht. Ihre verzweifelten Schreie verschwanden immer weiter aus meinen Ohren. Stille, es gab nur noch Stille ... Von dem Augenblick, in dem der Gestapo-Mann die Tür öffnete, bis zu dem Moment, als er sie wieder schloss, vergingen vermutlich knapp ein paar Sekunden, aber für mich war es eine Ewigkeit. Meine Chance, zu leben. Wie viele Chancen würde ich noch bekommen? Oh, wie ich mich nach deiner Umarmung sehnte und nach dem liebevollen Gesicht meiner großen Schwester! Wo wart ihr? Wie sollte ich euch erklären, was in diesem kleinen, dunklen
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Raum im Ghetto passiert war? Was hat diesen Mann, der seine brutalen grausamen Pflichten zu erfüllen hatte, dazu bewogen, den Befehl zu verweigern? Ich wusste es damals nicht – und selbst heute habe ich keine Antwort. Ich möchte gerne glauben, dass dieser Mann, wenigstens für einen Augenblick, in unserer Fotografie ein Bild der Menschlichkeit gesehen hat, die er so oft verraten hatte, und dass dieser Augenblick ihm eine Chance zur Sühne bot. Oder war es nur schlicht die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter? Ich weiß es nicht; aber so habe ich den Beginn der Liquidation des Ghettos in Lwów überlebt. Die Nacht war dunkel und sternenlos, und nur das schwache Licht der Straßenlaternen warf unheimliche Schatten im Raum, als euer Flüstern mich aus meinem erschöpften Schlaf weckte. Du drängtest mich, mich schnell anzuziehen. Ich hörte, wie Janka zu dir sagte, der einzig sichere Ort für uns sei das Krankenhaus, in dem sie arbeitete. Im Schutz der Nacht mussten wir schnell dorthin gelangen. Alle drei rannten wir, so schnell wir konnten; du hieltest meine Hand mit zitterndem Griff, Janka lief vorneweg und zeigte uns den Weg. Wir flüsterten nicht einmal. Wir überquerten einige Straßen und erreichten das Tor des Krankenhauses. Im Inneren erstreckte sich ein sehr langer, schwach beleuchteter Korridor mit schwarz-weiß gemusterten Bodenfliesen. Der Direktor des Krankenhauses, Jankas Chef, erwartete uns. Er sagte zu dir, für mich sei der sicherste Platz auf der Kinderstation, er habe ein Bett für mich besorgt. Du solltest dich als Angestellte des Spitals ausgeben, falls irgendjemand fragte, und er würde dafür bürgen, obwohl du keine Papiere hattest, die das belegen konnten. Er wollte gerne helfen, aber wie falsch er lag! Seine Überlegungen waren den niederträchtigen Plänen der Nazis nicht gewachsen, die sich unmittelbar am nächsten Tag offenbaren sollten.
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Du saßest an meinem Bett in dem Raum voller kranker Kinder; einige von ihnen weinten, aber die meisten waren ruhig oder schliefen. Ich erzählte dir alles, was mir in dem Haus, in dem wir lebten, an diesem Tag zugestoßen war. Wieder hast du mir geglaubt. Warum hast du meiner Geschichte geglaubt, die mir selbst nicht real vorkam? Du wusstest, dass die Vorstellungskraft eines Kindes sie nicht hätte erfinden können. Du hast mir versichert, du würdest mich von nun an nie mehr alleine lassen. Ach, wie hast du dich getäuscht! Auch dein Versprechen war dem Übel nicht gewachsen, das kommen sollte. * Als der nächste Morgen dämmerte, bedeckten Wolken das Blau des Himmels. Die Gestapo hatte mehrere große Lastwagen in einer Reihe vor dem Hospital in Stellung gebracht, aus denen sich eine Schwadron Gestapomänner ergoss, die geordnet in das Krankenhaus marschierten; einige von ihnen riegelten die Straße ab, so dass niemand entkommen konnte. Sie sahen aus wie riesige, bewaffnete Echsen, ihre Uniformen waren grün mit einem Stich ins Blaue. Die Farbe dieser Uniformen hat sich für viele Jahre in mein Gedächtnis eingebrannt, so tief, dass mich nach dem Krieg und sogar bis heute, immer, wenn ich eine Blaukiefer sehe, der bläuliche Ton an die Szene dieses Morgens erinnert. Ich würde diese unschuldigen Kiefern nie anrühren oder in meinen Garten pflanzen. Ist das nicht merkwürdig, Mama, was uns unser Gehirn für Streiche spielt mit Farben und Gerüchen? Aus dem gleichen Grund streiche ich immer und unveränderlich die Buchstaben durch, wenn ich auf einem Formular nach meiner Sozialversicherungsnummer als „SS#“ gefragt werde, und ich schreibe die Worte aus: „Social Security Number“. Einmal habe ich sogar einen Brief an
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eine hierzulande populäre Rockgruppe geschrieben, ob sie ihren Namen, KISS, tatsächlich mit den gleichen Blitzen schreiben wollten, wie sie die SS-Männer auf ihren Uniformen trugen. Alle Patienten, die laufen konnten, Erwachsene und Kinder, wurden auf die Lastwagen geladen – zur „Umquartierung“, wie man ihnen sagte. Alle diejenigen, die im Krankenhaus arbeiteten, mussten sich in dem langen, schwarz-weiß gefliesten Korridor aufstellen, an dessen Ende zwei SS-Männer standen, die eine Auswahl trafen und manchen befahlen, zur Tür links zu gehen, anderen, zu der Tür rechts. Die linke Tür führte in den großen Speisesaal des Krankenhauses, die rechte zu den Lastwagen vor dem Haus. Ein Gerücht gelangte bis zum Ende der Schlange, wo wir standen und du meine Hand hieltest. Es hieß, „sie“ brächten nicht nur die weg, die krank waren, sondern auch die, die keine Kennkarte vorweisen konnten, ein spezielles Dokument für alle, die im Ghetto arbeiteten. Weil du gesehen hattest, dass die kranken Kinder direkt auf die Wagen kamen, hattest du mich blitzartig aus dem Krankensaal geholt. Du hattest mir versprochen, mich nie mehr alleine zu lassen, und du hieltest mich dicht bei dir. Du hattest das Dokument nicht, das man jetzt brauchte, weil du außerhalb des Ghettos arbeitetest, auf der „arischen“ Seite der Stadt, und nur eine Erlaubnis hattest, das Ghetto am Morgen zu verlassen und am Abend wieder zurückzukommen. Ich sah die Panik in deinem Gesicht. Das Gesicht, das ich so liebte, war bleich, ein Bild der Verzweiflung. Die Reihe bewegte sich vorwärts zum Punkt der Selektion, wo sie sich in zwei Stränge aufteilte – den linken und den rechten. Du musstest eine Entscheidung treffen, eine verzweifelte Entscheidung, eine Entscheidung aus Liebe, eine heldenhafte Entscheidung …
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Liebste, beste Mama, ich bin sicher, du kennst die Geschichte vom weisen König Salomo, in der zwei Frauen zu ihm kamen, die beide das gleiche Kind für sich beanspruchten. Es geht die Sage, Salomo habe vorgeschlagen, den Streit beizulegen, indem man das Kind mit dem Schwert zweiteilte, so dass jede Frau eine Hälfte des Kinds bekäme. An diesem Punkt erklärte die richtige Mutter sich bereit, das Kind aufzugeben; und mit psychologischem Verständnis für die Liebe einer Mutter erließ der König den Urteilsspruch zu ihren Gunsten. Als die Untertanen des Königs dieses Urteil vernahmen, verharrten sie in Ehrfurcht vor ihm. Diese Erzählung ist eine der kostbarsten in der Überlieferung menschlicher Weisheit. Als wir der Gabelung näher kamen, hörte ich dein aufgeregtes Flüstern, halb flehend, halb befehlend, mit dem du dich zu einer Frau neben uns wandtest: „Nehmen Sie mein Kind! Nehmen Sie mein Mädchen! Und sagen Sie, es sei Ihres!“ Und bevor du mich zu ihr stießest, hieltest du meinen Kopf in deinen beiden Händen, küsstest mich und sagtest: „Geh! Geh jetzt!“ Es war im Jahr 1943. Ich war elf, du warst siebenundvierzig, und das war das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe und dass ich deine Hände gespürt habe. * Erinnerst du dich an die Teufels-Gabel, die ich für dich gezeichnet habe? Dein letztes Ziel war das Vernichtungslager: Belzec, deine letzte Reise in dieser Welt. Ich habe immer gehofft, dass dich die Liebe deiner Kinder gestärkt hat und dass dein Leiden kurz war; aber es gab keine Menschenmenge, die aufstand, dein Leben zu würdigen und die vor der Liebe einer Mutter in Ehrfurcht verharrte. Belzec. Ich war nie dort; aber in meinen wiederholten Albträumen sehe ich eine schöne, intelligente, vitale, groß-
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zügige Frau – dich, auf einen Namen reduziert – Operation Reinhard – und untergegangen in der Niedertracht dieser Zeit. An drei Orten, Belzec, Treblinka und Sobibor, wurden 1,7 Millionen Menschen vernichtet. Es ist einem normalen menschlichen Verstand nicht fassbar, sich vorzustellen, dass ein Raum von nicht einmal 85 Quadratmetern zu einem Schlachtfeld für mehr als sechshunderttausend unschuldige Menschen werden konnte, oder dass dort in höchstens einer Stunde die menschliche Ladung eines ganzen Güterzuges ausgelöscht und beseitigt wurde. * Nachdem der Krieg zu Ende war, habe ich viele Jahre lang in jedem September an verschiedenen Orten Sträuße von wildem rotem Mohn auf polnischen Boden gelegt. Ich habe mich von dir verabschiedet. Es war nicht wichtig, wo die Blumen lagen, Polens Erde war getränkt von deinem Blut. Einmal mehr verabschiede ich mich von dir und von all den zärtlichen Erinnerungen an dich. * Adieu, Mama, meine unvergessliche Mama. Deine Tochter ... Deine Tochter die Stets ein Teil von dir bleibt. Auf vielfältige, unermessliche Weise wirst du immer ein Teil von ihr sein.
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Liebe Janeczka, Janeczka, so nannten wir dich meistens, wenn wir in der Familie mit dir sprachen oder – wenn du nicht da warst – über dich. Es war unser Kosename für dich, der unmittelbar ausdrückte, wie wichtig du für uns alle warst: für Mama, Papa und mich, deine kleine Schwester. Dein amtlicher Name war Janina, Janka war eine Verkleinerungsform davon. Als du im Jahr 1922 geboren wurdest, war Mama 26 Jahre alt, Papa 24, und ich war noch keine biologische Größe – noch zehn weitere Jahre nicht. Ich weiß von der Zeit, in der du auf die Welt kamst, aus den Erzählungen unserer Eltern. Das Leben war nicht gerade einfach für euch drei, wie das bei jungen Leuten, die ihr gemeinsames Leben gerade beginnen, oft so ist. Schon nach zwei Jahren hatten die beiden ein heißgeliebtes Baby zu versorgen. Aber sie waren jung, tatkräftig und voller Erwartungen und Hoffnungen für ihre kleine Familie. Die Schwierigkeiten kamen aus den gesellschaftlichen Konventionen und Gebräuchen, von denen sie viele aufkündigten. Die Bräuche und Sitten waren alt und ungerecht, und in ihrem jugendlichen Idealismus glaubten die beiden, sie, wenn nicht auf anderem Wege, allein durch ihr bloßes Beispiel verändern zu können. Die offiziellen Gesetze und die unverrückbar feststehenden Regeln in ihren beiden Familien machten es ihnen nicht leicht. Papa war gerade aus Wien zurückgekehrt, wo er ein Lehrjahr – wir würden es heute Praktikum nennen – an ei-
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ner guten Klinik verbracht hatte, und er hatte sich um eine Stelle in Kulparkuw, einer großen psychiatrischen Klinik in der Nähe von Lwów, beworben. Während er wartete und auf eine Zusage hoffte, nahm er jede verfügbare Arbeit als Arzt an. Mama kümmerte sich um ihr Neugeborenes und konnte nicht arbeiten. Zum Teil lebten sie vom Geld, das sie von Freunden geliehen hatten, und sie warteten sehnlich darauf, unabhängig zu werden. Mamas engste Familie – ihr Vater, ihre Mutter, ein Bruder und zwei Schwestern – emigrierten nach Palästina im selben Jahr, als du geboren wurdest. Und selbst wenn ihre Eltern noch in der Nähe gewesen wären, hätten sie Mama vermutlich verstoßen, weil sie gewagt hatte, mit der Orthodoxie zu brechen. Papas Eltern waren kalt und distanziert und missbilligten die Wahl einer Frau, die sie, weil sie aus einer anderen Schicht stammte, als unter ihrem Stand betrachteten. Sicher hast du von all dem irgendwann in deinem Leben gehört, aber ich rufe mir diese Ereignisse wieder ins Gedächtnis, um mir deine Babyjahre und deine Kindheit auszumalen. Du solltest als Stadtkind aufwachsen. Ich kann mir jetzt lebhaft vorstellen, fast wie im Film, wie sehr sie dich liebten und wie alles, was du zum ersten Mal tatest, sie rührte und entzückte. Ich erinnere mich an eine Geschichte über dich, die mir Mama einmal erzählt hat. Du warst ein blühendes, gesundes und hübsches kleines Mädchen, aber so sehr sie auch versuchten, dich mit Spielsachen, Liedern und Bilderbüchern zum Reden zu verlocken, hast du nicht ein einziges Wort gesprochen. Da gab es kein „Mama“, kein „Tata“ (polnisch für Papa), kein Kleinkinderbrabbeln. Sie fingen an, sich Sorgen zu machen; und dann plötzlich, in einem überraschenden Augenblick, als du beinahe drei Jahre alt warst, hast du dich entschieden, das Schweigen zu brechen; und du begannst, in
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ganzen Sätzen zu reden, mit richtigen Wörtern, ohne Babysprache, als wolltest du erklären: „Ich bin so weit, ich kann es mit eurer Welt aufnehmen.“ Als du ungefähr fünf warst und Papas Traum von einer festen Stelle sich nicht erfüllt hatte, beschlossen die beiden, weg aus der Großstadt aufs Land zu ziehen, damit er in der Provinzstadt Waręż eine Praxis eröffnen konnte. Von da an bis zu der Zeit, als du zur Schule nach Lwów geschickt wurdest, war dein tägliches Leben vermutlich nicht viel anders als meines, als wir dort wohnten, außer dass du, wie Mutter mir erzählte, nicht so leicht Freunde fandest. Du bist nicht mit den Zigeunerkindern herumgerannt oder auf Bäume geklettert. Du warst nachdenklich, stelltest viele ernsthafte Fragen und warst sehr enttäuscht, wenn man dir keine Antwort geben konnte. Du wurdest aus dem gleichen Grund in die weltläufige große Stadt Lwów geschickt, um dort die Schule zu besuchen, aus dem auch ich dorthin gehen sollte, unmittelbar bevor dann der Krieg ausbrach: Du hättest die einfachen Provinzlehrer in unserer Stadt mit Sicherheit übertroffen. * Meine liebe, leidenschaftliche, freimütige, intelligente, kluge und schöne Janka, jetzt lass mich erzählen, was ich selber von dir in Erinnerung behalten habe. Du hättest am längsten Zeuge meines Lebens sein sollen, und ich, deine kleine Schwester, hätte erleben sollen, wie all deine Träume in Erfüllung gehen. Du warst mein großes Vorbild, aber gleichzeitig beschlichen quälende Anfälle von Eifersucht meine kindliche Seele, wenn du zu einem kurzen Besuch während des Schuljahrs oder in den Sommerferien für eine längere Zeit nach Hause kamst. Meine Gefühle waren zwiespältig: Ich wollte dich
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wiedersehen und die ganze Zeit mit dir zusammen sein, aber gleichzeitig war ich froh, wenn deine Ferien mit uns zu Ende gingen. Ich glaube nicht, dass du das bemerkt hast, außer in meinen kurzen Ausbrüchen und offenbar kindischen Sticheleien und Witzen, wenn ich sagte: „Das sind meine Mama und Papa, nicht deine – geh nach Hause!“ Ihr drei lachtet dann alle, habt einander umarmt und mich damit aufgezogen, dass ich vielleicht nicht die „richtige Tochter“ sei. Die psychologischen Gründe für meine Gefühle sind mir heute klar: Das ganze Jahr über stand ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, aber von deiner Ankunft an mussten und wollten sie dir ihre ganze Aufmerksamkeit und Liebe schenken. Meine Neidanfälle waren kurz und verschwanden völlig, wenn wir – wie meistens – nur zu zweit beieinander waren. An den Abenden saßen wir zusammen in unserem „Salon“. Du hast uns von der Schule und von deinen Freundinnen erzählt, und wenn Papa nicht zu irgendwelchen armen Kranken in den Dörfern gerufen wurde, hat er schöne Stücke auf dem Klavier gespielt und uns damit unterhalten. Es war himmlisch, und die Erinnerung an diese Momente ist wie Balsam, den meine verwundete Seele noch immer braucht. Du warst schön mit deinem schimmernden und schillernden schwarzen Haar, das glatt und glänzend, mit einer leichten Welle um die Stirn bis zu deinen Schultern reichte; manchmal hast du es in zwei dicke kurze Zöpfe geflochten. Deine Augen waren dunkelgrün wie große, kostbare Edelsteine. Lange schwarze Wimpern schützten sie vor der Sonne. Du warst groß und von klassischer Schönheit, selbst schon als Sechzehnjährige. Dein Gesicht und deine Gesten spiegelten deine Stimmung, von Nachdenklichkeit über Ironie bis zur Fröhlichkeit. In meinen Augen warst du perfekt.
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Abb. 5: Janka und ich, Waręż, Oktober 1938
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Ich konnte nie verstehen, warum du – wie du mir oft gesagt hast – all diese Pracht und Schönheit eintauschen wolltest gegen mein strohblondes Haar, meine blauen Augen und die Sommersprossen, die vom ersten Sommersonnenschein an meine Nase und Wangen übersäten. Du hast mich oft auf die Nase geküsst und meine Backen mit einer schnellen wischenden Bewegung getätschelt, als wolltest du meine Sommersprossen stehlen und auf deine Wangen setzen und sagen: „Schau, ich hab sie auch!“ Natürlich hat damals keine von uns beiden wirklich darauf achtgegeben, wie wir aussahen; aber heute, meine liebe große Schwester, will ich, dass du weißt, wie mein Bild von dir war. * Jetzt, am Anfang des 21. Jahrhunderts, beginnt die Wissenschaft die Geheimnisse des Gehirns zu enträtseln. Eines dieser Geheimnisse ist, wie Langzeiterinnerungen gespeichert und abgerufen werden. Du wärst fasziniert von diesen Entdeckungen, so wie ich. Aber selbst, wenn wir noch immer nicht genau wissen, wie das Gedächtnis funktioniert, weiß ich eines sicher: Es ist eine der wunderbarsten und höchsten Gaben unseres Gehirns, und ich bin Mutter Natur ewig dankbar dafür. Am Ende des Wegs will ich alle meine Erinnerungen bewahren: die schlechten und die entsetzlichen, die schönen und die liebevollen. * Es war ein heißer Sommerabend, die Fenster im Schlafzimmer unserer Eltern standen offen und ein Chor von Vögeln sang. Wir alle vier, Mama, Papa, du und ich, hatten uns auf ihrem breiten Bett versammelt und du hast uns von deinem Leben in der Schule erzählt, darüber, was du gelernt hast, über deine Lehrer, von deinen Besuchen in Museen
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und Theatern, über die Regeln, die du in der Schule befolgen musstest; du hast uns von deinen Freunden erzählt, sogar von einem Verehrer, der dir heimlich Briefe schrieb, über die Liebe und deine Schönheit. Wir haben dich damit geneckt, aber es machte dir nichts aus, weil du ihn nicht besonders mochtest. Du mochtest einen anderen Jungen, der aber zu deiner Enttäuschung keine Briefe an dich schrieb und dir nicht viel Aufmerksamkeit schenkte. Er hat mir leid getan; keinesfalls, so dachte ich, konnte er eine bessere Freundin finden als dich. An diesem Abend habe ich nicht nur zugehört; ich habe dir auch von meinen Abenteuern und Freunden erzählt. Der ganze Raum tönte von Gelächter und Geschichten, und ich erinnere mich, dass du mir die neuen Schritte zu einem Tanz namens Walzer gezeigt hast, die du gelernt hattest und die ich ungeschickt nachzumachen versuchte. Es war spät in der Nacht, als wir uns schließlich widerstrebend in unsere eigenen Schlafzimmer begaben. Meine Erinnerung an diesen Abend ist kein stehendes Bild, sondern voller Bewegung, wie ein Farbfilm. Ich mochte es sehr, mit dir zusammen zu sein. Du hast mich als Deinesgleichen behandelt, hast mein Kindsein zu etwas Höherem, etwas Wichtigem erhoben. Du hast mir die Vorstellung von Gott und den Göttern verständlich gemacht als eine Möglichkeit für manche Menschen, ihr Elend zu erleichtern und zu erklären, was nicht erklärbar ist. Wie ich mich erinnere, hast du dich über diese Vorstellungen nie lustig gemacht; in deinen Worten wurden sie zu Erzählungen von fernen Ländern und Menschen. Manchmal spätabends zeigtest du mir vom Balkon, auf dem Mamas Oleander blühten, die Sterne; sie hatten Namen. Manche von ihnen waren Planeten. Du hast mir gezeigt, dass man einen Regenbogen nicht nur in einem Regenschleier am Himmel sehen konnte, sondern auch in einem Kristall, der von einem Kronleuchter
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in unserem Esszimmer herunterhing. Du hast mir erklärt, dass Tiere denken können und Liebe, Hunger und Schmerz empfinden genau wie wir. Das wusste ich schon von meinen Zigeunerfreunden und von Bambi, aber durch dich wurde es noch glaubwürdiger und wichtiger. Du hast mir gesagt, dass es außer dieser kleinen Stadt Waręż noch die große Stadt Lwów gab und darüber hinaus die große Welt, eine ganze Welt mit anderen Kontinenten und Menschen. Du hast mir sogar erzählt, dass Mama und Papa daran dachten, dich nach deinem Abschluss am Gymnasium nach Amerika zu schicken, damit du dort an einer Universität studieren könntest. Papa müsste eine Menge Geld für die Reise und deine Studienerlaubnis dort bezahlen (10.000 Zlotys, wenn ich mich recht erinnere), und ein Freund unserer Eltern, der dort lebte, würde dir dabei helfen, dich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. Der Freund war einer von Papas Patienten gewesen. Sein Leben war aus der Qual einer verheerenden Tuberkulose gerettet worden, und Mama hatte ihm angeboten, in unserem Haus zu wohnen, damit er sich erholen konnte. Am Ende bist du nicht nach Amerika gegangen; ich glaube, schon der Gedanke an den Abschied wäre zu schwer gewesen, und außerdem wirkten auch schlechte Nachrichten über einen möglicherweise am Horizont heraufziehenden Krieg abschreckend. Wie schmerzlich ist es, heute an diese Entscheidung zu denken. * Es ist spät, fast Mitternacht, während ich diesen Brief an dich schreibe. Der Sommer ist zu Ende, aber hier ist die Luft warm, sanft und ruhig. Am Schreibtisch sitzend sehe ich durch das offene Fenster das volle Gesicht des Mondes, blassgolden mit den schattenhaft grauen Maren, die Mund und Augen bilden; es schaut genau so wie damals, als wir
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Kinder es gerne zeichneten: das Gesicht von Frau Luna. Aus meinem Garten dringen nur die Stimmen der Zikaden, die mit ihren zarten durchsichtigen Flügeln Musik machen. Ich bin sicher, es gibt einen guten Grund, warum sie das Lied der Natur singen, aber ich nehme es ganz egoistisch als ein Geschenk für mich, damit meine Gedanken an die so lang zurückliegende Zeit leichter fließen. * Als wir in Lwów lebten, nachdem wir der deutschen Seite des geteilten Landes entkommen waren, haben wir nicht viel Zeit miteinander verbracht. Du warst Studentin an der Universität, du wolltest Ärztin werden und kamst von den Vorlesungen und langen Stunden in der Bibliothek erst spät nach Hause. Auch ich ging zur Schule, und meistens schlief ich schon, wenn du heimkamst. Ich erinnere mich, dass ich dich einmal als „echte Ärztin“ erlebt habe – wenigstens warst du es in meiner Wahrnehmung, obwohl du noch in deinem ersten Studienjahr warst. Mama wurde sehr krank; sie hatte schlimme Schmerzen, konnte nicht essen, lag mit hohem Fieber im Bett und Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Papa sagte uns, dass sie eine kranke Gallenblase habe und dass ein Stein, der sich darin gebildet hatte, nicht passieren könne. Ihre Augen waren gelb, und alles, was sie aß, spie ihr Magen wieder aus. Ich hatte sie nie zuvor krank gesehen, und es machte mir Angst, wie sie so hilflos im Bett lag. Außer einer Operation, die sie ablehnte – ein Grund für Spannungen zwischen Papa und ihr –, konnte man nicht viel anderes machen als abzuwarten und zu hoffen, dass es vorbeiging. Ich habe gesehen, wie du dich um sie gekümmert hast, ihr Morphiumspritzen verabreichtest gegen die Schmerzen, ihr mit einem feuchten Tuch vorsichtig die Stirn abwischtest, ihr Kompressen auf den Bauch legtest
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und sie wechseltest, wie du ihr löffelweise flüssige Nahrung eingegeben oder einen Zwieback gereicht hast oder einfach an ihrer Bettkante saßest und ihre Hand hieltest. Ja, in meinen Augen warst du eindeutig eine richtige Ärztin. Berühmte Maler haben solche Szenen dargestellt, in denen ein Arzt sich um Kranke kümmert. Ich kenne sie aus verschiedenen Museen und Kunstbüchern. Auf diesen Gemälden ist der Arzt immer ein Mann; im Gemälde meiner Erinnerung bist es du, eine mitfühlende Frau. Sonntags hast du mich manchmal mit ins Kino genommen oder zu einem Spaziergang durch die Stadt, oder du hast mich zu meinen Ballettstunden begleitet. Wenn du Zeit hattest, bist du bis zum Ende geblieben und hast mir zugeschaut, wie ich meine Pas und Pirouetten machte; und auf dem Heimweg hast du mir einmal erklärt, es gebe Orte auf der Welt, an denen Mädchen träumen und ihre Träume verwirklichen könnten, Orte ohne Krieg und Zukunftsangst, Orte, an denen ein Mädchen wie ich eine berühmte Ballerina werden könnte. Es war einen Moment ganz still zwischen uns, dann brachen wir beide unwillkürlich in Gelächter aus, und statt gesittet auf dem Bürgersteig zu gehen, rannten und hüpften wir ausgelassen über das Trottoir wie zwei völlig unbeschwerte Kinder in einer Welt ohne Sorgen. Du warst mein Kamerad, die Quelle meiner Träume, und das waren unsere geheimen Augenblicke, die nur uns beiden gehörten. Wie du weißt, hat keines unserer eigenen Familienbilder die Kriegszeit in Polen überstanden. Auch das Raffael-Foto von Mama und mir, das mir in dem engen Zimmer im Ghetto das Leben rettete, endete sicher auf einem Schutthaufen oder in einem Berg von Asche. Aber durch eine merkwürdige Wendung der Umstände brachte ich ein paar Bilder mit nach Amerika, und auf jedem warst auch du zu sehen. Die Bilder waren von Freunden unserer Familie
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Abb. 6: Mein Vater, meine Schwester und ich, Lwów, etwa 1938
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Abb. 7: Meine Schwester, meine Freundin und ich mit meinem Foxterrier Bambi, Waręż, Juli 1938
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gerettet worden, die so klug waren, aus dem Osten Polens zu fliehen. Nach dem Krieg gaben sie Papa die Fotos. Ich wiederum habe sie meinen Töchtern weitergegeben in der Hoffnung, dass sie sie für die nächste Generation bewahren. Die meisten habe ich meiner älteren Tochter geschenkt, die mit zweitem Namen, dem Mittelnamen, wie sie hier sagen, Janine heißt – dir zu Ehren. Diese Bilder sind natürlich schwarz-weiß oder manchmal sepiafarben, rötlich-braun. Auf einem sind wir drei: Papa, du und ich, wie wir in warmen Mänteln auf der Straße gehen, jeder von uns mit einer Mütze auf dem Kopf. Auf einem anderen Bild sitzen wir zwei auf der Eingangstreppe vor unserem schönen Haus in Waręż, unser Terrier Bambi stolz zwischen uns. Ein Bild von dir ist nur in dem Buch abgedruckt, das einer von Papas Freunden mir aus Israel geschickt hat, wohin er nicht lange nach meiner Ankunft in Amerika emigriert ist. Über dieses Buch muss ich dir später erzählen; es ist furchtbar für mich, was dort über das Ende deines Lebens steht. Für jetzt, meine Liebe, erlaube mir, das Fotoporträt anzuschauen, das auf dem Regal in meinem Zimmer steht, und den Anblick auszukosten. Ich sehe eine junge und schöne Frau mit intelligenten, empfindsamen Augen, mit sanftem Ausdruck und dem Anflug eines rätselhaften oder vielleicht sogar geheimnisumwitterten Mona-Lisa-Lächelns. Sie, unsere Mama, hält ein Baby auf dem Schoß, kaum älter als zwei. Das Baby umarmt Mamas Hals und hält ihr Gesicht fest, Wange an Wange mit ihrer liebevollen Beschützerin. Das Baby bist du. Es sieht aus, als würde dich Mama davor schützen, erwachsen zu werden. Natürlich habe ich dich in diesem Alter nie gekannt, aber ich spüre eine eigentümliche, fast mystische Verbindung mit Mama, und auch ich will dieses Baby – dich – vor allen Gefahren, die dir drohen könnten, beschützen.
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Abb. 8: Meine Mutter und meine Schwester in Lwów, etwa 1925
Dieses Gefühl stammt mit Sicherheit aus meiner eigenen Erfahrung der Mutterschaft und kommt aus den unerklärlichen und geheimen Winkeln meiner Psyche. Ich bin stolz darauf und schätze solche seelenvollen, bewegenden Emotionen. Janka, mein Bild von dir wird immer jung bleiben. Du wirst nie Falten oder graue Haare bekommen, du wirst nie altersschwach oder gebrechlich werden. In meiner Erinnerung wirst du immer schön sein, voller Lebenskraft und mutigen Taten. Dieses Bild ist mein einziger Ersatz dafür, dass wir unser Leben nicht bis in diese Zeit des Alters und der Falten teilen konnten.
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Abb. 9: Meine Schwester, Lwów, 19389
9 Dies ist die oben erwähnte Fotografie aus dem Buch von Shlomo Strauss-Marko, auf das die Autorin später ausführlicher zurückkommt. Shlomo Strauss-Marko: Poylishe Yidn in di ṿelder. Vol.1 (Tel-Aviv: Farlag Nay-lebn, 1979; digit. Aufl. Amherst: National Yiddish Book Center, 2009 (Steven Spielberg digital Yiddish library, no. 103813). https://www.yiddishbookcenter.org/collections/ yiddish-books/spb-nybc210383/strauss-marko-shlomo-poylisheyidn-in-di-velder-vol-3 [05.03.2021]), S. 223.
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* Du kennst die Geschichte von unserem Leben im Ghetto, deshalb werde ich sie nicht wiederholen, außer um dir zu sagen, dass ich von deinen geheimen Aktivitäten dort wusste. Manchmal abends, wenn ich so tat, als würde ich schlafen, hörte ich dich und Mama leise flüsternd über die Kontakte sprechen, die du zu Leuten hattest, die man „Partisanen“ nannte (hier würden sie „Guerillas“ heißen). Das waren Männer von der „arischen“ Seite der Stadt. Du hast nie ihre Namen genannt, aber du hast Mama erzählt, dass du und diese Männer Waffen ins Ghetto brachten und sie an geheimen Orten versteckten, um junge jüdische Männer und Frauen zu bewaffnen, und dass du und deine Kameraden bald beginnen würden, gegen die Deutschen zu kämpfen. Während dieses Kampfes würde es vielen Leuten gelingen, zu fliehen, sich in den umliegenden Wäldern zu verstecken und von dort aus den Kampf gegen die Deutschen weiterzuführen. Mama fragte dich immer, ob du diesen Partisanen trauen konntest, ob du nicht befürchten musstest, durch Verrat in eine Falle zu geraten und an den Feind ausgeliefert zu werden, was den sicheren und grausamen Tod bedeuten würde. Du hast immer sarkastisch und mit einem bitteren Klang in der Stimme geantwortet, dass wir alle für den Tod gezeichnet seien und dass es für dich nur diesen Weg gebe, zu leben und zugleich die Würde deines Lebens zu wahren. Am Ende des Geflüsters blieb Mama nur, dich anzuflehen, vorsichtig zu sein und auf deine Sicherheit zu achten. Diese nervösen Unterhaltungen endeten immer damit, dass ihr beide einander in den Armen lagt und weintet. Wenn ich zufällig das kleinste Anzeichen gab, nicht zu schlafen, hörte ich euch mit nervöser Anspannung in der Stimme fragen: „Helunia, bist du wach?“ Ich habe nie darauf geantwortet. Irgendwie
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wusste ich, dass es schon gefährlich war, zuzugeben, dass ich mitgehört hatte. Weißt du, wenn ich mich an all das erinnere, bin ich davon überzeugt, dass Mama, wie Tausende andere, nie wirklich daran glaubte, dass die sorgfältige Planung der Deutschen zur Vernichtung von Millionen Menschen in die Tat umgesetzt werden könnte. Sie hätte nie glauben können, dass ein Volk, das solche Größen des Humanismus und der Kultur wie Heine, Goethe, Schubert, Mendelssohn und Mozart hervorgebracht hatte und stolz auf deren Geltung in der Welt war, sich en masse in „willige Vollstrecker“ verwandeln würde. Ich war damals ein unwissendes Kind, aber heute würde ich ihr sagen, dass sie auch Wagner hervorgebracht haben, dessen ergreifend hohe und schöne Musik beschmutzt war vom Makel seiner bösen und giftigen Denkungsart, für die sich die Nazis begeisterten. * Da war ich also, das einzige Kind im Speisesaal des Ghettohospitals, stand dort mit einer Gruppe von Krankenhausmitarbeitern, nahe bei einer Frau, einer Fremden, zu der mich Mama geschoben hatte, unmittelbar bevor sie mir für immer weggenommen wurde. Du hast nicht gesehen, was passiert ist. Du bist fieberhaft und verzweifelt durch das ganze Krankenhaus gerannt, um uns zu suchen. Als du mich in diesem Raum fandest, bei der Frau stehend, die du als Krankenschwester kanntest, hat sie dir in aller Eile mit abgehackten Worten berichtet, was nur ein paar Minuten vorher geschehen war. Du hast mich an dich gerissen und fest im Arm gehalten, als die SS-Männer laut befahlen, dass sich alle gesunden Leute vor dem Gebäude zu versammeln hätten, bis alle kranken Erwachsenen und Kinder auf die großen Lastwagen verladen und abtransportiert wären. Plötzlich brüllte einer der SS-Männer und
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deutete auf mich mit einer Bewegung seines Arms und einem schrillen Pfiff, was bedeutete, dass auch ich auf den Lastwagen steigen sollte. Wegen meines Alters war ihm klar, dass ich keine Mitarbeiterin des Krankenhauses sein konnte, ich musste also eine Patientin sein und war deshalb dazu bestimmt, mit den anderen Kindern zu gehen. All das geschah mit rasender Geschwindigkeit, aber ich erinnere mich, wie du Dr. Litvak, den Leiter des Krankenhauses, angefleht hast, mich zu retten. Er trat aus der Gruppe seiner Leute heraus und erklärte dem brüllenden SS-Mann, dass er mit seiner Ehre und seinem Leben dafür einstehe, dass ich keine Patientin sei. Der schwarz-braun uniformierte Soldat des Todes, der zum Zeichen seiner tödlichen Mission einen Totenkopf auf der Kappe trug, bedeutete mit einer Geste, dass ich bleiben könne. Es war für ihn nicht wirklich von Belang. Er wusste, dass wir in einigen Tagen alle an das gleiche Ziel kommen würden. Aber jetzt hatte er es eilig, seine tägliche Quote zu erfüllen und die leichteste Beute, die Kranken, loszuwerden. Was als Nächstes geschah, ist das Schlimmste, was ich je an menschlicher Verrohung gesehen habe. Was immer die Philosophen dazu sagen mögen, es beweist mir die Existenz eines absoluten Bösen. Und dieses Absolute kann kein Prinzip der Relativität in Frage stellen. Säuglinge und Kinder, die nicht gehen konnten, wurden vom vierten, fünften oder sechsten Stock aus dem Fenster geworfen, direkt auf die offenen Lastwagen, ihre Körper und Schädel zerschellten mit dem gedämpften Klang eines weichen Schlags. Ich habe sie nicht schreien hören, ich hörte die Schreie der Frauen, die versuchten, auf die Wagen zu springen und die Kinder aus der Luft zu fangen, aber sie haben es nicht geschafft – sie wurden auf der Stelle erschossen. Du hast mir mit der Hand die Augen zugehalten, aber es war zu spät. Ich kann dir nicht sagen, was ich in diesem
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Moment gedacht habe, aber ich weiß, dass meine Seele die Erinnerung an das, was ich gesehen habe, niemals verloren hat und dass dort für immer tiefe Furchen der Traurigkeit eingegraben sind. Ich hatte in den sechzig Jahren, die seitdem vergangen sind, viele wiederkehrende Albträume – das ist einer davon: Ich träume von Körpern, die in der Luft heftig um sich schlagen, Körper von Babys und Kindern, die still hinunterfallen, aber in meinem Albtraum erreichen sie nie die Pritsche des Lastwagens. Durch irgendeine magische Macht in meinem Traum halte ich sie in der Luft und lasse sie dort flattern wie Schmetterlinge oder geistige Wesen, die den Menschen überlegen sind, wie die sagenhaften Engel aus der Mythologie. * Die Marter des Tags ging zu Ende und langsam kam der Abend. Die Lastwagen und die Henkersknechte waren weg; die Straße vor dem Krankenhaus war leer. Schnell nahmst du mich bei der Hand und wir rannten atemlos die Treppen hinauf ins oberste Geschoss des Krankenhausgebäudes; nur eine oder zwei Sekunden pausierten wir zwischendurch, um Luft zu holen. Du fandest einen kleinen Abstellraum, wie eine Zelle, mit fast leeren Regalen ringsum an den Wänden, in denen ein paar Handtücher und gelbfleckige Kissen lagen. Licht drang durch ein hohes, ganz schmales Fenster, das auf einen großen Hof hinter dem Krankenhaus ging. Du sagtest mir, ich solle dort bleiben, ganz still sein und nicht antworten oder die Tür aufmachen. Falls irgendjemand klopfen sollte oder die Tür aufbrechen würde, solle ich unter das unterste Regalbrett kriechen und mich unter den Kissen und Decken verstecken. Du sagtest, sobald es dunkel sei, würdest du wiederkommen und mich an einen sichereren Ort bringen. Du hast mich an dich gedrückt und mich immer
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wieder inständig gebeten, still zu sein und kein Geräusch zu machen. Falls ich aufs Klo müsste, sollte ich mich in die Ecke auf den Boden setzen und es mit den Matten aus dem Regal zudecken. Mein Kopf hatte alles registriert, als du aus der Zelle gingst und ich den Schlüssel im Schloss gehen hörte. Wie ich alleine dort stand, habe ich gespürt, dass ich an einem Wendepunkt in meinem Leben angelangt war. Der Tod bedeutete von da an nicht mehr so viel – nur einen Übergang von dem, was „war“, zum Nichts. Mein einziger Wunsch war, dass der Tod schnell und mit den geringsten Schmerzen kommen sollte. Ich bewegte mich langsam zum Fenster, als ich eine graue Rauchwolke zum Himmel steigen sah und durch das angelehnte Fenster ein übler Geruch in das Zimmer drang. Als der Wind den Rauch hier und da verwehte, wurden Haufen nackter Leiber sichtbar, Männer und Frauen, die auf dem Hof des Krankenhauses brannten. Die Flammen krümmten die Körper und sie verloren in Verrenkungen ihre Form; es schien, als wären manche von ihnen noch am Leben, mit offenen Mündern und zum Himmel gestreckten Armen. In diesen Körpern, die ich durch das Fenster sah, erkannte ich die Patienten, die so krank gewesen waren, dass sie nicht aus eigener Kraft zu den Lastwagen hatten gehen können. Der methodische Vernichtungsplan der Deutschen sah keine Zeit- und Energieverschwendung vor: die Schwächsten verbrannten sie gleich an Ort und Stelle. * Meine Liebste, ich hatte nie Gelegenheit, dir zu erzählen, was ich gesehen habe; ich konnte dir nie sagen, dass ich keine Tränen in den Augen hatte, dass mich meine neu gewonnene Empfindungslosigkeit davor bewahrte, wahnsinnig zu werden oder laut zu schreien. Aber es war nicht nur Emp-
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findungslosigkeit; ich war an der Grenze angelangt, an der die Realität eines elfjährigen Kindes surreal wird, wenn die Abnormität sich gewaltsam der Normalität aufzwingt und das Vergessen die einzige Form der Verteidigung ist, die die Natur bietet. Obwohl alles, was ich gesehen habe, für immer in den dunkelsten Winkeln meines Denkens und meiner Seele gespeichert ist und mich wieder und wieder heimsucht, um mich zu quälen – in jener vergangenen „Gegenwart“ habe ich darüber nicht gesprochen. * Liebe Janka, lass mich einen Moment aufhören, von diesem tod- und grauenerfüllten Tag zu sprechen. Erlaube mir für einen Augenblick Abstand – es ist zu dunkel, zu kalt dort, und es ist schwer, wieder ins Leben zurückzukommen, wenn man in diesen stinkenden, schwarzen Sumpf gesunken ist. Lass mich dir von Sparta erzählen. Sparta?, wirst du dich wundern. Warum Sparta? Vor mehr als zweitausend Jahren, als Sparta auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, gehörte dies zu den Methoden, seine Siege vorzubereiten: Ein Säugling wurde kurz nach der Geburt vor den Ältestenrat gebracht, und der entschied, ob er aufgezogen werden sollte; war das Kind unterentwickelt oder schwächlich, wurde es beseitigt. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr wurden die Kinder daheim erzogen, danach war ihre Ausbildung Sache des Staates. Sie bestand meistenteils aus körperlicher Ertüchtigung und Kampfübungen. Gegenstände wie Musik oder Literatur nahmen einen sehr kleinen und untergeordneten Platz ein. Im Alter von zwanzig Jahren waren die Kinder zu Soldaten und Dienern des Staats geworden. Ja, die Spartaner waren Eroberer und unterwarfen viele antike Stadtstaaten, Athen eingeschlossen. Aber es gab nie einen spartanischen Homer oder Sophokles; nie einen spartanischen Pythago-
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ras, Aristoteles, Euripides, eine Sappho, einen Solon oder Sokrates. Spartaner haben nie den Olymp der Wissenschaft, Dichtung, des Rechts, der Philosophie oder der Kunst erklommen. Die Deutschen des Dritten Reichs übertrafen die spartanische Erziehung noch. Die Hitlerjugend wurde nicht nur zum Kämpfen ausgebildet, sondern von früher Jugend an auch zur Grausamkeit und zur Ausschaltung menschlichen Mitgefühls erzogen. Ich habe von Hitlerjungen gehört, denen befohlen wurde, ihren Hund zu töten – Hunde, die sie von klein an aufgezogen hatten, die sie liebten und für die sie sorgten und zu denen sie eine enge Beziehung entwickelt hatten. Diese Jungen, die ihre geliebten Gefährten erschossen, waren die, die mit zwanzig kranke Babys aus hohen Fenstern warfen und Menschen verbrannten, die zu schwach waren, zu Fuß in ihren Tod zu gehen. Die Deutschen würden – wenn sie den Olymp der Wissenschaft, Philosophie, Dichtung und Musik schon erreicht hatten – ihn von neuem erklimmen müssen, und mit jedem Schritt würden sie um Vergebung bitten müssen für jene Kinder, die lebendig in ihren Tod geworfen wurden. Ich glaube, dass Kinder nicht verantwortlich sind für die Sünden ihrer Eltern, aber dieser Gedanke gilt nur für die Kinder, die nicht nur die Sünden, sondern auch die Väter verurteilen. Wenn wir vergeben und vergessen, wie es Menschen immer wieder tun, beleidigen wir unsere Intelligenz und behindern unsere Fähigkeit, aus unserer gemeinsamen Geschichte zu lernen. Ich bin sicher, dass du mir zustimmen würdest. * Jetzt lass mich zurückkehren in diese Kammer, in der du mich an diesem endlosen Tag gelassen hattest. Ich hatte we-
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der Urin noch Kot oder gar Tränen aus meinem Körper abzusondern. Mein einziger physiologischer Reflex war Erbrechen, als Reaktion auf den abstoßenden Gestank und den Anblick brennenden menschlichen Fleisches. Ich konnte mich nur übergeben. Mein Magen spie ein paar unverdaute Brocken dunklen Brotes aus und eine kleine Menge zäher Flüssigkeit, die extrem bitter und sauer schmeckte. Ich dachte an deine Ermahnung und tat es, so leise ich konnte, in der Ecke des Raums; das Erbrochene deckte ich mit einem Vorleger zu. Ich saß daneben auf dem Boden in einem Zustand, der wohl einem Stupor nahekam. Ich war bei Bewusstsein, aber Aufmerksamkeit, Empfindungsvermögen und Wahrnehmung waren völlig abgestorben. Es war dunkel, als ich hörte, wie sich der Schlüssel drehte und du dich durch die kaum geöffnete Tür zwängtest. Du konntest mich nicht auf dem Boden sitzen sehen, aber du hast leise meinen Namen gesagt und ich habe geantwortet. Du hast dich nahe zu mir gesetzt und mir ein kleines Schüsselchen mit Milch und gekochten Kartoffeln gereicht. Sicher hast du einfach gebracht, was du für mich beschaffen konntest, aber es war genau richtig, um den anhaltenden sauren Geschmack in meinem Mund zu neutralisieren, und natürlich auch, um meinen Hunger zu stillen. Als ich fertig war, sagtest du, wir müssten gehen. Ich trug einen zerknitterten Rock mit einer Bluse und Schuhe ohne Socken. Du brachtest mir einen Pullover, der ein bisschen zu groß war, und hast mir geholfen, ihn anzuziehen. Wir gingen über die leeren Treppen und Flure und zum Eingangstor hinaus auf eine leere Straße. Je weiter wir uns vom Krankenhaus entfernten, desto dunkler wurden die Straßen. Du kanntest offenbar den Weg und das Ziel. Du wusstest auch, wie man den Patrouillen der Gendarmen und der Gestapo ausweichen konnte.
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Als die Straßen aufhörten, liefen wir durch ein leeres, grasbewachsenes Feld bis zum Fuß des Bahndamms. Diese Stelle war weit entfernt vom Zentrum des Ghettos und von der Bahnunterführung, durch die wir, nicht lange zuvor, unter der scharfen Bewachung der Gestapo diesen gottverlassenen Ort zum ersten Mal betreten hatten. Nachdem wir wohl ungefähr eine Stunde gelaufen waren, setzen wir uns auf den Boden. Die Nacht war so dunkel, dass ich noch nicht einmal dein Gesicht dicht neben mir sehen konnte. Du sagtest mir, dass wir auf ein Zeichen warten müssten: ein leises Pfeifen und nachgeahmtes Vogelzwitschern; wenn wir das dreimal hintereinander hörten, sollte ich auf den Bahndamm hinter uns hinaufrennen, die Gleise überqueren und auf der anderen Seite der Stimme entgegenlaufen, von der das Pfeifen und Zwitschern als unser Passwort kam. Eine Frau würde dort auf mich warten, um mich mit sich nach Hause zu nehmen. Du sagtest, du könntest nicht mit mir gehen, aber wenn der Krieg zu Ende sei, was sehr bald geschehe, würdest du wissen, wo du mich finden könntest, und dann wären wir wieder beieinander. Das musstest du mir so sagen. Wie konntest du deiner kleinen Schwester sagen, dass sie an einem Tag zwei Menschen, die sie über alles liebten, verlieren und womöglich nie mehr wiedersehen sollte? Du konntest nicht erwarten, dass ich diese unvorstellbare Möglichkeit verstehen oder akzeptieren würde. Du sagtest mir, ich solle tapfer und klug sein und nicht weinen und – am wichtigsten von allem – auf die Frau hören, die mich heute mitnehmen würde, und ihr immer gehorchen, denn sie wolle das Beste für mich. Du sagtest, sie sei eine Schwester im Krankenhaus auf der arischen Seite der Stadt, nicht im Ghetto. Sie heiße Jadwiga, aber ich sollte sie Tante Jadzia nennen und die Geschichte auswendig lernen, die sie mir über sie und mich erzählen würde. Ich versprach dir all das und nickte mit dem Kopf, als würde ich verstehen.
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Das Zeichen kam, Pfeifen und Vogelzwitschern, dreimal, und ich rannte über die Bahngleise, nur ein paar Steine, die ich mit den Füßen losgetreten hatte, hörte ich hinunterrollen. Ich war weg, du warst weg. Das war im Sommer 1943. Nach dieser Nacht sah ich dich nur noch einmal, einige Monate später, aber ich habe nie wieder deine Stimme gehört oder eine Berührung deiner Hand gespürt. * Der Plan, den du und deine Kameraden hatten, die Deutschen im Ghetto anzugreifen und vielen Menschen die Flucht zu ermöglichen, wurde nie verwirklicht. Die Taten der Henker waren gut geplant, und die Deutschen gingen ihrem Ziel, Menschen, denen sie das Recht zu leben absprachen, auszurotten, schnell entgegen. Meine liebe Janka, ich weiß, dass du dir im Klaren warst über die Verheerungen, die bis zu diesem Punkt über uns hereingebrochen waren, und dass du genau wusstest, dass es noch schlimmer kommen würde, aber all die kalten Zahlen der Morde konntest du nicht kennen. Deshalb verdienst du, die bereit war, ihr Leben für die gute Sache zu opfern, zu erfahren, wie Recht du hattest. Ich führe dir einige Daten und Zahlen an, die viel später, nachdem der Krieg zu Ende war, von Mitarbeitern des Holocaust Memorial Museum der Vereinigten Staaten zusammengetragen und im Historical Atlas of the Holocaust veröffentlicht wurden10: Von deutschen Truppen ermutigt, veranstalteten ukrainische Nationalisten im Juli 1941 gewaltsame Pogrome gegen 10 Vgl. Historical Atlas of the Holocaust (New York: Macmillan, 1996), S. 62.
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die Juden, in denen ungefähr 4000 Juden getötet wurden;11 ein anderes „Pogrom“, bekannt als die „Petliura-Tage“, wurde im späten Juli organisiert.12 Drei Tage lang zogen Ukrainer randalierend durch den jüdischen Bezirk von Lwów. Sie brachten Gruppen von Juden zum jüdischen Friedhof und ins Lunecki-Gefängnis und erschossen sie. – 2000 Juden wurden ermordet und Tausende weitere verletzt. Anfang November 1941 gründeten die Deutschen ein Ghetto im Norden Lwóws. Tausende von Älteren und Kranken wurden erschossen, als sie auf dem Weg zum Ghetto die Brücke überquerten. Im März 1942 begannen die Deutschen, Juden aus dem Ghetto in das Vernichtungslager Belzec zu bringen; bis zum August 1942 wurden mehr als 65.000 Juden deportiert und ermordet. Tausende von Juden wurden zur Zwangsarbeit in das nahegelegene Lager Janowska geschickt. Anfang Juni 1943 wurde das Ghetto schließlich zerstört. Die restlichen Ghetto-Bewohner wurden in das Arbeitslager Janowska geschickt oder nach Belzec deportiert. Tausende von Juden wurden während der Liquidation im Ghetto ermordet.
Dies gibt in wenigen kurzen Sätzen die kalten Fakten wieder. Aber mein Brief an dich hat einen anderen Zweck. Ich will, 11 Vgl. zu diesen Vorgängen auch die Darstellung in Hescheles, Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens, S. 34-43; auch Knut Mellenthin, Chronologie des Holocaust. http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1941/juli.html [05.03.2021.] 12 Bezeichnet nach Simon Petliura (1879–1926); er war Politiker, Verfechter der ukrainischen Unabhängigkeit und 1918/19 kurzzeitig ukrainischer Präsident. 1926 wurde er in Paris von Scholom Schwartzbard, einem Anarchisten ukrainisch-jüdischer Abstammung, getötet.
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dass du weißt, wie ich als Kind diese Fakten wahrgenommen habe, wie ungeheuer und unerklärlich das tagtägliche Leiden war und wie schwer es mir fällt, auch nur Worte zu finden, es zu beschreiben. Ich will, dass du weißt, dass mein Wunsch, jene Zeit zu beschreiben, zumindest zwei Ziele hat: zuerst, damit meine Stimme, schwach und unzureichend, wie sie ist, demütig alle die Stimmen vertreten möge, die von selbsternannten Folterern und Henkern zum Schweigen gebracht wurden; und zum Zweiten, damit meine Enkelkinder und deren Kinder, wenn sie in der Schule in Geschichtsbüchern von dieser Zeit lesen, auch wissen, dass hinter diesen „kalten Fakten und Statistiken“ tausende Mütter stehen wie unsere, Schwestern wie du und Kinder wie ich, deren Seelen, Herzen und Gefühle zerschmettert und zu Asche zerschlagen wurden, von denen nur ein paar übrig geblieben sind, um die Geschichte dieser alles umfassenden Dunkelheit zu erzählen. * Nachdem ich ein paar Tage in ihrem Haus verbracht hatte, lud „Tante Jadzia“, die Frau, die mich auf der anderen Seite der Bahngleise abgeholt hatte, eine Verwandte in ihr Haus, die ihre beiden Kinder, Wojtek, einen sechsjährigen Jungen, und seine fünfjährige Schwester Magda, versorgen sollte, während sie für ein paar Tage verreisen musste, um irgendetwas Dringendes zu erledigen. Sie sagte dieser Frau, die Pani Wanda hieß – Frau Wanda –, dass ich eine Nichte ihres Mannes sei und als größeres Mädchen im Haushalt helfen sollte. Pani Wanda war eine ältere Frau, klein und dürr, mit kurzem grau gesprenkelten Haar wie Salz und Pfeffer, einem viereckigen, faltigen Gesicht, tiefliegenden Augen und einer heiseren, fast männlichen Stimme. Sie war eine strenggläubige Katholikin, und jeden Abend vor dem Schlafengehen
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und morgens beim Aufstehen kniete sie vor einem Bild der Jungfrau Maria, das sie mitgebracht hatte, und betete laut. Sie hatte dabei einen Rosenkranz in der Hand und bewegte ihre klauenartigen Finger von einer Perle zur anderen, indem sie ein „Gegrüßet-seist-du-Maria“ nach dem anderen aufsagte. Sie hieß auch uns drei Kinder das Gleiche tun. Sie war unangenehm überrascht, dass ich im Gegensatz zu den beiden jüngeren die Gebete nicht kannte. Sie begann mich auszufragen über meine Verwandtschaft zu der Gastgeberin, und aus meinen wirren und unvollständigen Antworten schloss sie, dass ich ein jüdisches Mädchen war, das sich in diesem Haus versteckte. Sie missbilligte, dass Tante Jadzia verlauste, räudige Juden versteckte, wie sie mir mit begierigem Eifer mitteilte. Und ein paar Tage später machte sie mir klar, warum. Sie hatte von einem bevorstehenden wichtigen Ereignis erfahren, das wir alle sehen sollten. „Sie werden die Juden im Ghetto verbrennen“, sagte sie, „und das werden wir uns heute Abend anschauen.“ Am Abend machten wir uns auf den Weg. Als wir den Bahndamm hinaufstiegen – denselben, auf den ich erst ein paar Tage zuvor geklettert war, um aus dem Ghetto zu entkommen, aber viel weiter außerhalb der Stadt –, war der Himmel von hohen, roten Flammen erleuchtet. Manche Flammen waren kleiner und an verschiedenen Stellen zu sehen; dann verschmolzen sie zu einem gewaltigen Inferno. Eine Gruppe von Menschen stand dicht beisammen und beobachtete dieses Spektakel. Dabei zeigten ihre Gesichter weder Entsetzen noch Tränen. Die Frau, die uns hergebracht hatte, drehte sich zu mir, und indem ihr ausgestreckter Arm auf die Flammen wies, sagte sie zu mir mit einer heiseren, unheildrohenden Stimme Worte, die ich nie vergessen werde: „Schau hin und denk daran, dass es richtig und gerecht ist, dein Volk zu verbrennen, weil ihr unseren Herrn Jesus
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Christus umgebracht habt; und dann habt ihr Juden Christenbabys umgebracht, damit ihr Matzen machen könnt mit ihrem Blut. Diese Feuersbrunst ist die einzige glorreiche und gute Tat, die die Deutschen vollbringen. Auf die Art hört ihr auf zu existieren.“ Und sie beendete ihre Rede mit dem heiligen Wort: „Amen!“ Ich erinnere mich genau daran, wie sie diese Worte gesagt hat, weil ich sie noch oft in meinem Leben zu hören bekam, sogar noch nach dem Krieg. Diese Frau stand vor dieser surrealen Kulisse des Höllenfeuers, vor dem Reich des Teufels, dem Ort von Qual und Zerstörung, und ihre Augen spiegelten das Feuer und waren voller Hass. Sie war die Verkörperung der hässlichen alten Hexe aus meinem furchteinflößenden Märchenbuch. Ich wartete, ob ich sie nicht jeden Moment wegfliegen sehen würde, hoch am Himmel, über Feuer und Rauch – weg von mir. Aber das tat sie nicht, sondern kam mit uns nach Hause. Es war das Verdienst meines kindlichen Gemüts, dass ich nicht ein Wort von dem glaubte, was sie sagte, und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich verächtlich über sie gelacht. Trotzdem haben die Worte dieser Frau mich gelehrt, dass mich viele Leute hassten aus Gründen, die ich nicht verstehen konnte, und dass die Beweise ihres Hasses von jetzt an so vielfältig sein würden, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Mich beschäftigte Wichtigeres – ich dachte an dich, meine Schwester. Es war zu furchtbar, mir nur vorzustellen, dass du dort sein könntest, in diesem infernalischen Abgrund. Immer wieder habe ich für mich wiederholt, dass du versprochen hattest, dass wir uns bald wiedersehen würden. Und so war es! Es war ein paar Monate später, zu Beginn des Winters, als ich allein durch die Straßen lief, obdachlos, hungrig und frierend. Der Tag war grau, die Bürgersteige bedeckte halb-
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geschmolzener Schneematsch. Der Schnee war ungewöhnlich früh gekommen in diesem Jahr. Die Straße hieß Lyczakowska; sie führte den Berg hinauf, wo sie als Sackgasse an den großen Gebäuden einer psychiatrischen Klinik endete, die unter dem Namen Lyczakow allgemein bekannt war. Wenn Leute jemanden verletzen oder sagen wollten, er sei dumm oder verrückt, sagten sie stattdessen, „der ist von Lyczakow getürmt.“ Aber für mich war es damals ein guter Ort. Durch Zufall hatte ich herausgefunden, dass das Tor zum Krankenhaus am Nachmittag offenstand; ich konnte mich hineinschleichen und in den Abfalltonnen hinter dem Küchengebäude ein paar Essensreste suchen. Meistens waren es Kartoffeln oder Rote Bete, aber wenn ich Glück hatte, fand ich ein paar Hühnerknochen mit Fleischresten daran. Manchmal haben mich die Küchenangestellten weggescheucht, wie man einen streunenden Hund verjagt, aber am nächsten Tag kam ich wieder zurück, aus dem gleichen Grund wie ein streunender Hund – ich hatte Hunger. Ich ging dorthin auf der Seite des Bürgersteigs, die ich für die sichere hielt, so dicht wie möglich an den Häusern. Sicher war sie, weil ich eine Chance hatte, ins nächstgelegene Haus zu rennen, die Treppen hinaufzulaufen und mich zu verstecken, wenn mich jemand verfolgen wollte, was oft geschah. Diesmal jedoch gab es keine Gefahr, nur eine unerwartete freudige Überraschung: Schon von weitem sah ich dich, meine Janeczka, meine Schwester, mir auf der „unsicheren“ Seite des Gehwegs entgegenkommen. Du hattest Mamas alten Wintermantel an, der mit den Überresten eines roten Fuchspelzkragens immer noch elegant aussah, und auf dem Kopf hattest du ein braunes, wollenes Kopftuch. Du hast mich im gleichen Moment bemerkt wie ich dich. Ich machte mit ausgestreckten Armen eine Bewegung auf dich zu und wollte loslaufen zu dir, aber du machtest eine heim-
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liche Geste, ich solle anhalten und nicht näher kommen. Ich bemerkte, dass du eine große, weiche Reisetasche trugst. Unwillkürlich verlangsamten wir beide unseren Schritt, so dass wir einander ein klein wenig länger sehen konnten. Wir gingen schweigend aneinander vorbei, und nur deine Augen und ein schwaches Lächeln der Bestätigung sagten alles, was möglich war. Unser Kontakt dauerte höchstens zwei oder drei Minuten, aber in meiner noch immer kindlichen Naivität war diese Begegnung eine Bekräftigung deines Versprechens, dass wir einander wiedersehen würden. Das geschah nicht. Es sollte das letzte Mal sein. Nach meinem heutigen Wissen hast du an diesem Tag in deiner großen Tasche vermutlich wichtige Dinge für den Untergrund transportiert und konntest deine Arbeit, deine Kameraden, die Sache, dich selbst und mich nicht gefährden. Ich weiß heute auch (aus dem Historical Atlas of the Holocaust), dass nach der Liquidation und der Zerstörung des Ghettos im Feuer du und die anderen, die noch kräftig genug waren zu arbeiten, in das Arbeitslager Janowska umgesiedelt wurden. Dieses Lager war, wie wir jetzt wissen, 1941 gegründet worden, war im Besitz der SS und wurde von ihr betrieben. Es trug den Namen „Deutsche Ausrüstungswerke“, und Juden wurden dort als Zwangsarbeiter in der Tischlerei und Metallverarbeitung eingesetzt. Es diente auch als Transitlager während der Massendeportation polnischer Juden in die Vernichtungslager im Jahr 1942. Juden durchliefen in Janowska einen Selektionsprozess, der dem in Auschwitz-Birkenau und Majdanek glich. Diejenigen, die als arbeitsfähig eingestuft wurden, blieben zur Zwangsarbeit im Lager. Die arbeitsunfähige Mehrheit wurde nach Belzec deportiert und umgebracht oder in den Sandhügeln an der „Piaski“-Schlucht erschossen. Im
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Sommer und Herbst des Jahrs 1942 wurden Tausende von Juden aus dem Ghetto in Lwów dort umgebracht. Im November 1943 wurden die Gefangenen dazu gezwungen, die Massengräber zu öffnen und die Leichen zu verbrennen, da die Deutschen versuchten, in der „Aktion 1005“ die Spuren des Massenmords auszulöschen. Wie Dokumente beweisen, die bei den Nürnberger Prozessen vorgelegt wurden, „haben die Gefangenen einen Aufstand und den Versuch einer Massenflucht organisiert. Einigen ist sie gelungen, aber die meisten wurden wieder gefangengenommen und getötet.“13
Aber ich greife vor. Ich zitiere all diese offiziellen Daten für dich in dem dringenden Wunsch, dich wissen zu lassen, dass die Geschichte dieser Zeit, deine Geschichte, nicht vergessen ist. Ich stelle mir immer wieder vor, wenn du in früheren Zeiten gelebt hättest, wäre vielleicht eine dramatische Erzählung über dich geschrieben worden; du wärest eine Volksheldin mit einem Denkmal, das dir gleichsieht, in irgendeinem geheimnisvollen Wald. Im Spätherbst 1944, als die Russen Lwów zurückeroberten und die Deutschen nach Westen drängten, habe ich immer noch die Straßen durchstreift, immer noch alleine und hungrig, aber diesmal ohne die allgegenwärtige Furcht, gefangen und getötet zu werden. Ich habe unaufhörlich nach dir gesucht, bis man mir sagte, du seist vermutlich umgekommen. Ich hörte, dass alle Juden, die überlebt hatten, ihre Namen auf Papierfetzen schrieben und an die Wand einer niedergebrannten Synagoge im Stadtzentrum nagelten. Ich heftete meinen Namen an diese Wand in der Hoffnung, dass du ihn finden würdest. Manchmal hielt ich auf der 13 Historical Atlas of the Holocaust, S. 63.
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Straße schwarzhaarige Frauen an, die deine Größe hatten, zog sie am Ärmel, zwang sie, mich anzuschauen, und hoffte, dein Gesicht zu sehen. Aber es war immer das Gesicht einer Fremden. Noch lange nachdem der Krieg zu Ende war, bis in meine späten Teenagerjahre, senkten sich Anfälle von Schuld wie dunkle Wolken auf mich. Warum war ich hier? Warum warst du verschwunden? Du hattest schon gezeigt, was es bedeutete, ein Mensch zu sein; ich musste mich erst noch beweisen. Als ich beschloss, Ärztin zu werden, jemand, der Körper und Seele heilt, so, wie ich mir vorstellte, dass du es gewesen wärest, und wie dich ein grausames Schicksal es nie hat werden lassen, versuchte ich mein Bestes; und meine Hoffnung ist, dass ich dich nicht enttäuscht habe. * Nachdem Papa und ich nach dem Krieg wieder beisammen waren, wussten wir über viele Jahre nicht, was mit dir geschehen war, wo und wie du umgekommen bist, und manchmal hatten wir sogar die flüchtige, schwache Hoffnung, dich wiederzufinden. Wir hörten von Menschen und Familien, die plötzlich wieder zusammenkamen, nachdem sie durch fast unglaubliche Umstände und durch die Wirren des Kriegs in verschiedene Teile der Welt verstreut worden waren. Eines Tages beschloss Papa, in die südwestpolnische Stadt Wrocław zu reisen, wohin die meisten Polen aus Lwów übersiedelt waren, nachdem die Konferenz von Jalta Polens Grenzen ein weiteres Mal verschoben hatte. Vor dem Krieg war Wrocław die deutsche Stadt Breslau gewesen, während aus Lwów nach dem Krieg Lwiw wurde, eine Stadt, die zur Sowjetrepublik Ukraine gehörte. Die Deutschen waren geschlagen, die Ukrainer hatten auf das falsche Pferd gesetzt, und Polen wurde ein Satellit Sowjetrusslands. Papa zählte darauf, Leute aus Lwów zu finden, die möglicherweise
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wussten, was mit dir geschehen war. So war es, aber sie sagten ihm nicht die ganze Wahrheit. Papa erfuhr von einem Mann, der zu den Partisanen in der Umgebung von Lwów gehört hatte, dass er dir begegnet war und dich als Mitglied einer anderen Kampfgruppe kannte, die sich in den Wäldern um die Stadt versteckt gehalten hatte. Er wusste, dass du zu einer Partisanengruppe mit dem Decknamen Ivan Franko gehörtest, und dass du an vielen Aktionen gegen die Deutschen teilgenommen hattest. Bei einer solchen Aktion seist du umgekommen, beim Versuch, eine Eisenbahnbrücke zu sprengen. Sie zu zerstören hätte die wichtigste Transportader und damit den zentralen Nachschub deutscher Waffen und Soldaten an die Ostfront lahmgelegt. Er wusste auch, dass du aktiv daran beteiligt warst, Waffen von deutschen Soldaten zu kaufen, die sie von ihrer eigenen Armee gestohlen hatten und zu geheimen Verstecken brachten. Als Frau, der einzigen in deiner Gruppe, warst du weniger auffällig, und es war sicherer, dir diese Aufgabe zu übertragen. Es ist bekannt, dass solche heimlichen Aufträge oft an Frauen oder Kinder gingen. Ich nehme nun an, dass du auf einer deiner gefährlichen geheimen Missionen warst, als ich dich auf der Lyczakowska-Straße mit der großen Tasche in der Hand sah. Erinnerst du dich an das Buch, von dem ich dir erzählt habe, das 1979, sechsunddreißig Jahre nach deinem Tod, in Israel geschrieben und veröffentlicht wurde14 und das man mir als Geschenk nach Amerika schickte? Ein Kapitel dieses Buchs ist dir gewidmet und beschreibt im Detail, gestützt durch Dokumente, die in den Archiven der Nürnberger Prozesse gegen die Nazis aufbewahrt sind, was wirklich geschah an dem Tag, an dem du umkamst. Das Dokument ist ein Bericht von Generalleutnant Katzmann, dem SS-Chef im 14 Shlomo Strauss-Marko: Poylishe Yidn in di ṿelder.
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Bezirk Galizien, an seinen Vorgesetzten, SS-Polizeiführer Krüger in Krakau. Der Bericht beschreibt das Ereignis und wie damit umgegangen wurde. Das Buch ist auf Jiddisch geschrieben, und das Kapitel über dich hat ein befreundeter Arzt hier in Amerika für mich übersetzt. Hier ist die Geschichte: Zwei Fahrer, vermutlich Ukrainer, die für die Deutschen arbeiteten, von denen man wusste, dass sie schon zuvor Waffen und Munition an geheime Partisanengruppen verkauft hatten, hatten diesmal eingewilligt, für 20.000 Zlotys zwei Dutzend Leute, Munition und Sprengstoff in die Gegend von Brody zu schaffen, einer Kleinstadt in der Nähe von Lwów. Ihr, du und deine Gruppe, solltet die Platzierung von Sprengstoff an den Eisenbahngleisen entlang eines Streckenabschnittes und unter einer Brücke organisieren. Beide Punkte waren für die Deutschen strategisch wichtig für den Transport bewaffneter Einsatzkräfte zu den Schlachtfeldern. Nachdem sie einige Zeit durch das Dunkel der Nacht gefahren waren, machten die Fahrer plötzlich Halt. In wenigen Augenblicken war klar, dass sie euch verraten hatten und in ein Gestapo-Quartier gefahren waren. Es folgte ein kurzes Feuergefecht zwischen deinen Leuten und den Deutschen – ein Kampf, der zum Scheitern verurteilt war durch die schlichte Tatsache, dass ihr überrascht worden wart, und wegen der überwältigenden zahlenmäßigen Überlegenheit eurer Feinde. Alle deine Kameraden wurden auf der Stelle getötet, aber du und eine Kampfgenossin, eine Frau wie du, wurdet lebendig gefangengenommen und zum GestapoHauptquartier in Lwów gebracht. Deine Kameradin wurde gefoltert und in den Straßen von Lwów aufgehängt als grausame Warnung. Du bist an den unerträglichen Qualen wiederholter sadistischer Folterungen in den Kerkern der Gestapo zugrunde gegangen.
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Am Ende des Kapitels über dich las ich folgenden Satz: „Die geliebte, gutherzige Janka verlor ihr Leben in den Kellern der Gestapo. Mit Ehre und Ruhm, gesegnet sei ihr strahlendes Andenken!“ Ja, fürwahr! Dass Fremde sich so an dich erinnern, erfüllt mich mit einem Gefühl der Wärme, aber ich, deine Schwester, kann meine Traurigkeit, meinen Schmerz und mein Leid darüber nie überwinden, dass ich dich verloren habe, und darüber, wie ungerecht und grausam deine letzten Augenblicke waren. Shlomo Strauss-Marko, der Autor des Buchs, hat auf die erste Seite geschrieben: „Für Helena, die Schwester der Heldin in meinem Buch – zur Bewahrung und zum bleibenden Andenken. – S. M.“ * Nach dem Krieg wurde in Warschau, wo ich wohnte, ein Denkmal errichtet, das an den Aufstand im Warschauer Ghetto und die darauffolgende Vernichtung seiner jüdischen Bevölkerung erinnert. Ich habe es oft alleine besucht und die Gestalten und Gesichter im Relief angeschaut, die Helden und Märtyrern der schändlichen Zeit gehörten. In meiner Vorstellung standen manche der Gesichter symbolisch für dich und Mama und schufen eine greifbare Nähe zwischen uns. Als ich mein Medizinstudium abschloss, war es der Brauch, dass jedem von uns in der Examensfeier zusammen mit unserem Diplom der Hippokratische Eid in kunstvollen Lettern auf Pergament gedruckt überreicht wurde. Als ich eines Tages wieder von der Erinnerung an dich überwältigt wurde, rollte ich dieses Pergament zusammen, band ein grünes Band darum und sprang in die elektrische Straßenbahn, die mich bis zum Denkmal für die Helden des
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Abb. 10: Die Ruinen unseres Hauses in Waręż nach 1944; aufgenommen im Jahr 1956
Ghettos brachte. Ich legte den hippokratischen Eid an den Sockel, und ich erinnere mich, dass ich gelächelt habe. Ich war froh, mit diesem Geschenk an dich gute Erinnerungen zu wecken. Ich sagte dir Lebewohl. * In meiner Welt sind die Toten selbst jetzt nicht tot. Janka, ich werde mit Zärtlichkeit und Liebe an dich denken, bis die Erinnerung aufhört. Deine Schwester bvw_MO_205-21414_Ganor-Spambalg_abb10
Brief an meinen Vater
Lieber Papa, unlängst habe ich das Tagebuch wieder gelesen, das ich mit achtzehn Jahren geschrieben habe, als ich gerade Abitur gemacht hatte. Manche der Einträge und Bemerkungen sind naiv, manche spiegeln eine Ideologie wider, die nicht meine eigene, aber unter den jungen Leuten dieser Zeit weit verbreitet war; manche beschreiben meine Freundschaften und Romanzen – typische Teenager-Beziehungen, wie es sie überall auf der Welt gibt und die heute ein Lächeln auf mein alterndes Gesicht bringen. Ein paar Naturschilderungen von schönen Sommerabenden, Spaziergängen an der baltischen See und an den Ufern der Wisła sind mit jugendlicher Empfindsamkeit geschrieben, und auch wenn sie in einer Sprache abgefasst sind, die ich nicht mehr gebrauche und deren Klang und Struktur mir inzwischen fremd geworden sind, liegt in diesen Beschreibungen – Bescheidenheit einmal beiseite – für ein achtzehnjähriges Mädchen vielleicht ein Funke Talent. Ich hatte diese Tagebücher einer Freundin in Polen zur Aufbewahrung gegeben, und sie hat sie mir vor ein paar Jahren geschickt, als sie spürte, dass ihr Leben zu Ende gehen würde. Du kanntest sie: Sie und ich haben viele Jahre in demselben Krankenhaus in Warschau gearbeitet, in dem du Vorstand der inneren Abteilung warst. Sie hieß Jagusia, kurz für Jadwiga, und war im gleichen Jahr geboren wie unsere Janeczka. Ich „adoptierte“ sie als Ersatz für eine ältere Schwester. Der eigentliche Grund, warum ich dir von meinem Tagebuch erzähle, ist ein Eintrag, den ich am 27. Januar 1952
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verfasst habe, etwa zehn Jahre nach meinen Erlebnissen während des Krieges. An diesem Tag gestehe ich mir ein, dass ich dir nie in allen Einzelheiten von meinem Leben während der Besatzung durch die Nazis berichtet habe. Ich habe dir die Fakten mitgeteilt – ja: dass Mama tot war, dass Janka tot war, dass deine ganze Familie tot war. Ich berichtete dir in Kurzform, wie es geschehen war, aber ich habe nie von den eigentlichen Vorgängen im Einzelnen gesprochen. In diesem Tagebuch, das du nicht gelesen hast, habe ich mir eingestanden, wie quälend es wäre, all diese Ereignisse noch einmal ausführlich zu erzählen, aber gleichzeitig beschreibe ich aus einer gefühlsmäßigen Erkenntnis heraus, dass eine solche Katharsis meiner Seele guttun könnte. Natürlich habe ich das nicht mit so geschwollenen Worten gesagt; ich schrieb einfach, dass vielleicht meine Albträume aufhörten und der Schmerz vergehen würde und ich eine Erleichterung verspüren könnte, wenn ich mich von diesen Erinnerungen befreite, indem ich sie erzählte und beschrieb. Aber ich habe meine Geschichte nie erzählt, bis jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später. Selbst nachdem ich nach Amerika gezogen war, war es zu schmerzhaft, darüber zu sprechen. Ich erinnere mich an einen Abend in den frühen Siebzigern, als ich mit meinen Kindern im Fernsehen einen Film über das Leben im Ghetto in Polen angeschaut habe. Ich habe angefangen, fürchterlich zu weinen, und als meine Kinder von meinem plötzlichen Ausbruch erschrocken und überrascht waren, konnte ich nur sagen, „So war das! Es war wirklich eine schlimme Zeit!“ Ich fand, es wäre selbstsüchtig von mir, das Grauen meiner Erfahrungen an sie weiterzugeben. So denke ich jetzt nicht mehr. *
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Kurz bevor du mich gefunden hast, Papa, im Herbst 1944, hat mich eine Frau bei sich aufgenommen. Sie hatte gesehen, wie ich meinen Namen an die Mauer einer zerstörten Synagoge in Lwów heftete. Sie hieß Dr. Lieberman. Sie war eine Zahnärztin, die dich vor dem Krieg gekannt hatte, und der Name fiel ihr auf. Als sie hörte, dass ich alleine sei, sagte sie, ich solle ihre Adresse auf den Zettel schreiben, weil ich von nun an bei ihr leben würde. Sie stellte das als eine Tatsache fest, und ich nahm ihr Angebot an. Es war besser, als weiter allein zu sein. Sie hat mir nie erzählt, wie sie den Krieg überlebt hat, aber als die Russen nach Lwów kamen, kam sie aus ihrem Versteck, mietete eine Wohnung mitten in der Stadt und machte eine Praxis auf. Es blieb für mich ein Geheimnis, woher sie das Geld hatte, aber ich vermute, dass sie ihren Weg mit Schmuck und Gold bezahlte, was sie wohl vor dem Krieg irgendwie verstecken konnte, und dass diese wertvollen Ressourcen ihr halfen zu überleben. Ich weiß von anderen Fällen, in denen Goldmünzen oder Schmuck in Verbindung mit der Habgier mancher „edlen“ polnischen Retter einigen Juden zu überleben halfen, manchmal bis zum Ende des Krieges. Aber häufiger überlebten sie nur ein paar Tage und wurden verraten, sobald die glänzenden Vorräte zu Ende waren. In diesem ungeheuer christlichen Land war Judas eine prominente Figur. Während der Wochen, in denen ich bei der Zahnärztin lebte, hatte ich eine warme Bleibe und litt keinen Hunger, auch wenn das Essen bescheiden war. Mit meinen zwölf Jahren wurde ich zu ihrer Assistentin. Sie zeigte mir, wie man Instrumente sterilisiert, und ich lernte sogar, Silberfüllungen für die Zähne ihrer Patienten zu mischen. Sie zahlte mir ein paar Groschen, so dass ich auf dem Markt einige Äpfel oder Pfirsiche kaufen konnte, was mir immer ein Gefühl von üppigem Luxus gab. Ich erinnere mich, dass ich Kleider trug,
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die mir zu groß waren, auch die Schuhe waren zu groß, aber keines von beiden hatte Löcher – auch das war Luxus. Der einzige Luxus, nach dem ich mich in dieser Zeit wirklich sehnte, war, jemanden zu haben, der mich lieb hatte, mich umarmte, der mir sagte, dass ich wichtig war und dass das, was ich erlebt hatte, nie wieder passieren würde. * Eines Tages kam eine junge Frau in diese improvisierte Mehrzweckkombination aus Wohnung und Zahnarztpraxis und fragte namentlich nach mir. Sie war eine gut aussehende, kräftige Frau, die nur Russisch und Ukrainisch sprach. Es ist eine kuriose Sache, dass ich ihren Namen vergessen habe, weil die Nachricht, die sie brachte, so überwältigend war. Sie sagte uns, sie komme aus Russland, sei Krankenschwester in einem russischen Militärhospital, in dem du als Arzt arbeitetest, und dass sie dich gut kenne. Sie erklärte, ihre Familie lebe in Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, und sie habe von den Militärbehörden die Erlaubnis erhalten, aus der weit entfernten Gegend Russlands herzureisen, um sie zu besuchen. Sie berichtete auch, dass du von ihrer Reise erfahren und ihr Geld gegeben hattest, damit sie eine weitere Fahrt von Kiew nach Lwów unternehmen und nach deiner Familie suchen konnte. Sie fragte sich durch und fand meinen Namen und die Adresse an der Wand der zerstörten Synagoge. Sie sagte uns, sie sei von dir autorisiert, für alle aus unserer Familie, die den Krieg überlebt hatten, die Reise zu dir nach Russland zu organisieren. Nun, ihre Aufgabe stellte sich als einfach heraus – ich war die Einzige. Die Geschichte, die sie uns an diesem Tag erzählte, hätte man kaum erfinden können, aber sie war doch so unglaublich, dass die Zahnärztin, meine damalige Beschützerin, von der jungen Frau irgendeinen Wahrheitsbeweis forderte. Sie
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versprach, ihn am nächsten Tag zu erbringen. Was sie uns tags darauf brachte, waren fünf Briefe von dir: einer an deine Eltern, einer an deine Brüder, einer an Mama, einer an Janka und einer an mich. Alle Briefe waren handgeschrieben mit lilafarbener Tinte auf gelblichem linierten Papier. Ich las sie alle. Jeder eröffnete dem Adressaten die Wahl, die Reise nach Russland anzutreten oder zu warten, bis der Krieg zu Ende wäre und du, wie du hofftest, wiederkommen würdest. Der Brief an mich war in klarer Kursivschrift geschrieben, so dass ein Kind ihn leicht lesen konnte; und um mir zu beweisen, dass du wirklich mein Papa warst, der diesen Brief schrieb, hast du Ereignisse aus meiner Kindheit erwähnt, die nur du und ich kennen konnten, und du hast mich inständig gebeten, deine Identität nicht anzuzweifeln. Am Ende des Briefes hast du mir versprochen, wenn ich zu dir käme, würdest du mein Leben wieder heiter und schön für immer machen. Keine anderen Worte hätten mich glücklicher machen können; selbst wenn sich all das am Ende als großer Schwindel herausstellen sollte, war so ein Märchenschluss alles, was ich wollte und dringend brauchte. Lieber Papa, du hast auch geschrieben, dass die Frau, die mir den Brief geben sollte, mit mir gemeinsam zu dir zurückreisen würde; dass ich auf sie hören und immer in ihrer Nähe bleiben solle und dass ich aufpassen müsse, in den überfüllten Zügen nicht verloren zu gehen. Du gabst mir Anweisungen, mich auf der Reise so sauber wie möglich zu halten und niemals ungekochtes Wasser oder Milch zu trinken; die Krankenschwester wusste auch, dass sie mir nur durchgegartes Essen geben sollte. All diese Vorsichtsmaßnahmen waren notwendig, um nicht am Typhus zu erkranken, der im Land grassierte, durch das ich reisen würde. Es wurde vereinbart, dass deine Abgesandte, die ukrainische Schwester, in zwei oder drei Tagen wiederkommen wür-
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de, wenn man für mich eine Reiseerlaubnis und eine Fahrkarte beschafft hätte. Als sie kam, war ich bereit: gebadet und sauber, das Haar gerade oberhalb des Nackens geschnitten, in einem wollenen Rock und Pullover und in Schnürschuhen, die bis zu den Knöcheln reichten. Mein Gepäck war einfach: Ich hatte eine Tasche, die aus einem Stück dunkler grau-grüner Decke genäht war; darin hatte ich einen einzigen Pullover, eine Wollmütze und Handschuhe und einen kleinen weißen Lappen, in dem ein Stück dunkelbrauner Seife versteckt war. Die Schwester legte noch ein paar andere Dinge in meine Tasche: einen halben Laib Brot, einen kleinen Beutel mit Würfelzucker, eine große Blechtasse und ein kleines Ding, das sich während der Reise als sehr nützlich herausstellte. Für die Menge russischer Bauern, die mit uns reisten, war es eine wahre Sensation und machte mich zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wenn ich es benutzte. Dieses Ding war ein viereckiges Kästchen aus Blech, etwa zwölf Zentimeter breit und neun hoch. Der Deckel war mitten durchgeschnitten, so dass er sich in einem 45-GradWinkel zu den Seiten hin aufklappen ließ und ein Gestell ergab, auf das man eine Tasse stellen konnte. Auf die Mitte des Bodens konnte ich kleine würfelförmige Tabletten legen; sie waren grau, glänzten leicht, und drei Dutzend von ihnen lagen der Schachtel bei. Die Tablette zündete man dann mit einem Streichholz an, und die ganze Vorrichtung wurde zu einem Miniaturofen, auf dem ich in meiner Tasse Wasser oder Milch abkochen konnte oder auch die dünne Suppe, die an manchen Bahnstationen auf unserer Reise verkauft wurde. Ihr Bruder, so erzählte mir meine Begleiterin, hatte dieses Kästchen aus dem Rucksack eines toten deutschen Soldaten gestohlen. Verzeih mir diese lange Abschweifung von meiner eigentlichen Geschichte, aber es war mir unheimlich, wie
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dieser kleine Gegenstand, der eine solche Fülle von Möglichkeiten eröffnete, im Lauf seiner unbeseelten Existenz von Hand zu Hand gewandert war und schließlich zu meinem Nutzen in meinen Händen landete. Dieses kleine Metallkästchen reiste mit mir von Lwów nach Pensa im tiefsten Russland, kam mit mir zurück nach Polen – nach Warschau – und hat mich dann nach Amerika begleitet. Hier habe ich es schließlich verloren, aber den Gedankengang, den dieses Kästchen ausgelöst hat, habe ich nicht vergessen. * Unsere Reise von Lwów nach Pensa, der Stadt, in der du lebtest, dauerte neun Tage! Während dieser neun Tage haben wir eine Entfernung von etwas mehr als 1600 Kilometern zurückgelegt, was heute im Flugzeug vermutlich nicht länger als zwei Stunden dauern würde. Der Zug wurde oft stundenlang angehalten, manchmal sogar für einen Tag oder zwei – in großen Städten und in gottverlassenen kleinen Bahnstationen mitten im Nirgendwo. Er wurde aufgehalten oder auf Nebengleisen abgestellt, um den Weg freizumachen für die endlosen Züge, die Soldaten und Nachschub in die andere Richtung brachten – nach Westen. Die Zugwaggons waren voller Menschen, die der Krieg entwurzelt hatte – Männer, Frauen und Kinder, die nun versuchten, wieder nach Hause oder zu ihren Familien zu gelangen. Die Bewegungen der deutschen und russischen Armeen hatten viele von ihnen aus ihrer Heimat vertrieben oder zur Flucht gezwungen. Sie saßen auf den Bänken, auf dem Boden, zwischen den Türen und manche sogar auf den Stufen der Waggons. Nahrungsmittel waren schwer zu bekommen, aber meine Beschützerin, die Krankenschwester, war geschäftstüchtig und fand ihre Wege. Mithilfe deines Geldes und ihrer ukrainischen wie russischen Sprachkenntnisse konnten wir an manchen Sta-
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tionen etwas Essbares ergattern – Brot, Milch, gelegentlich sogar Suppe und Eier. Sie ließ mich nie allein im Zug aus Angst, mich zu verlieren, also waren wir immer gemeinsam unterwegs auf unseren Abenteuern außerhalb des Zugs und unserer Jagd nach Essen. Überraschenderweise gab es um die unbedeutenden kleinen Bahnstationen auf dem Land mehr zu essen als in den Bahnhöfen der Großstädte wie Kiew, Charkow und Woronesch, die fast nichts zu bieten hatten. In diesem Zug hatte ich meinen ersten Russischunterricht. Ich lernte die Namen von Nahrungsmitteln und einfache Wörter, wie spasibo für „danke“ und do swidanija für „auf Wiedersehen“. Es war einfach für mich, weil ich das eng verwandte Ukrainisch kannte. Ich lernte sogar, dass ich ein krasivaja devotschka war, ein hübsches Mädchen – ein Kompliment, das man Kindern in friedlichen Zeiten oft machte, das ich aber längst vergessen hatte. Die Luft war kalt, der Himmel traurig grau, immer wieder weinte er Regenschauer. Selbst die Sonne war müde, und wenn sie hin und wieder ihr Gesicht zeigte, verbreitete sie sehr wenig Wärme. Nachts war es dunkel im Zug, hie und da flackerte eine Kerze. Manchmal durchbrach das Wiegenlied einer Mutter die Stille, wenn sie ihr Kind beruhigen wollte. Und in dieser Zeit zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen wurde sie oft von einem Chor trauriger Volkslieder begleitet, wie ein Echo aufgeteilt in hohe und tiefe Klänge. Es war eine Musik, die ich zu lieben lernte. Sie war ganz anders als die Musik, die du auf dem Klavier spieltest, aber sie passte für mich besser während dieser Zeit im Zug. Sie erfüllte mein Bedürfnis nach Ruhe vollkommen. Trotz der äußeren Umstände war ich auf eine Art glücklich, wie ich es schon lange nicht mehr gewesen war. Diese Stimmung brachte mir Bilder von uns beiden aus lang vergangenen Zeiten zurück.
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Ich begann, mir alles in Erinnerung zu rufen, was ich von dir wusste: wie du aussahst, wie du gearbeitet hast, wofür du dich begeistern konntest und was wir zusammen taten. Du warst mindestens einen Kopf größer als Mama; oben auf dem Kopf hattest du eine Glatze, und sobald sich dort Reste von grauem Haar zeigten, hast du sie abrasiert. Du hattest blaue Augen, die durch die Linsen deiner Brille sehr groß wirkten. Dein Gang war beschwingt und deine Hände hatten lange schlanke Finger. Du konntest viele Sprachen: Althebräisch hatten dir deine Großeltern beigebracht, Deutsch lerntest du in der Schule, weil Galizien und Lwów damals zum österreichisch-ungarischen Reich unter Kaiser Franz-Joseph gehörten. Tschechisch konntest du aus der Zeit, als du in Prag Medizin studiertest. Zum Studium warst du ins Ausland gegangen, weil die Zulassung zum Medizinstudium in Polen durch das ungeschriebene Prinzip eines numerus clausus oder numerus nullus für Minderheiten, insbesondere Juden, beschränkt war.15 Du lerntest Französisch, weil du die großartige französische Literatur bewundertest, und Ukrainisch, weil die Mehrheit deiner Patienten in Waręż Ukrainer war. Dort warst du schließlich Landarzt geworden, weil man dir als Juden eine Stelle im psychiatrischen Krankenhaus in Lwów verweigert hatte. Der Psychiatrie galt dein leidenschaftliches Interesse, das vermutlich durch die Freud’sche Psychoanalyse befördert wurde. Aus Prinzip hast du dich jährlich erneut um diese Stelle beworben – mehr als zehn Jahre lang. Aber obwohl die 15 Rigide Zugangsbeschränkungen für Juden in verschiedenen slawischen Staaten; in Polen nie als Gesetz niedergelegt, da dies den Verfassungsgrundsätzen widersprochen hätte, wurden solche Beschränkungen jedoch als interne Regelungen von verschiedenen Universitäten und besonders begehrten Fakultäten bereits ab 1919 verhängt. Siehe Andrea Rudorff, „Numerus Nullus“. In: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien (Berlin: De Gruyter, 2010), S. 252–253.
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Stelle noch immer unbesetzt war, hast du nie eine Zusage erhalten. Das wurde zum Gegenstand satirischer Witze in unserer Familie. Am Ende waren diejenigen die Dummen, die dich nicht wollten; du wärest nicht mehr hingegangen, selbst wenn man dich genommen hätte. Für diese Zeit hast du außerordentlich gut verdient, wie du mir später erzählt hast, 5000 Zlotys oder mehr im Monat. Das kam dir nicht zugeflogen. Du hast hart gearbeitet, und nicht nur in deiner Praxis: Für deine Patienten warst du Tag und Nacht verfügbar. Wenn eine Frau in einem der umliegenden Dörfer ein Kind zur Welt brachte, wenn jemand wegen einer Lungenentzündung oder galoppierenden Tuberkulose keine Luft bekam, jemand an einem durchgebrochenen Blinddarm zu sterben drohte oder sich bei der Feldarbeit das Bein gebrochen hatte, schickten sie ihre Pferdekutschen, um dich zu Hilfe zu holen. Wenn der Tod kam, hast du ihre Augen geschlossen und die Angehörigen getröstet. Wer dich für deine Bemühungen nicht bezahlen konnte, wurde von dir genauso behandelt wie die Reichen. Die Armen würden bezahlen, was sie konnten – und ein Huhn, ein paar Eier oder Kartoffeln als Zeichen ihrer Dankbarkeit zu Mama bringen. Diese einfachen Leute bewunderten dich. Es ist mir immer ein Rätsel geblieben, wie sie sich nach all den Jahren deiner harten Arbeit und deiner Güte gegen dich und deine Familie wenden konnten. Ich erinnere mich, wie ich an einem schönen Sommertag miterlebte, welche überbordende Liebe und Hochachtung dir entgegengebracht wurde. An diesem Tag hieß es, du würdest nach mehr als einem Monat Abwesenheit wieder in unsere kleine Stadt zurückkommen. Die Straße war gesäumt von Bauern und Stadtbewohnern, die dich begrüßten; kleine Kinder, von denen du viele mit auf die Welt gebracht hattest, streuten Blumen vor dem Auto, einem luxuriösen Wagen, in
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dem du zusammen mit Graf Hulimka saßest. Graf Hulimka war ein reicher Großgrundbesitzer, der wie seine Mutter viele Jahre dein Patient war. Was war los? Warum diese triumphale Rückkehr? Warum im vornehmen Hispano-Suiza des Grafen, mit ihm an deiner Seite? Damit man diese Geschichte versteht, muss man sie – wie jede gute Geschichte – von Anfang an erzählen. In diesen Jahren vor dem Krieg warst du, wie viele Angehörige der intelligenzija, Sympathisant der kommunistischen Bewegung in Polen; besonders jüdische Intellektuelle gehörten dazu und diejenigen, für die diese Ideologie das Versprechen und den einzigen Weg darstellte, die Ideen der Liberté, Égalité et Fraternité zu verwirklichen. Wie sehr ihr alle euch täuschtet, würde die Geschichte schon bald offenbaren. Es würde sich zeigen, wie hochherzige Ideen in den Händen von Tyrannen jeglicher Couleur sich in Barbarei und erbarmungslose Grausamkeit gegen Millionen Menschen verkehren konnten. Erst am Ende deines Lebens hast du dir schließlich eingestanden, was für ein kolossaler Fehler es war, viele Jahre deines Lebens für diese Fata Morgana, diese trügerische Wirklichkeit zu verschwenden. Das war schwer. Aber zurück zu diesem Sommertag: Mama hielt mich an der Hand, als wir mit einer Menge Menschen auf dem Marktplatz standen; wir waren da, als du aus dem Auto stiegst, mich aufhobst und fest in deinen Armen hieltest. An diesem Tag kehrtest du aus dem Gefängnis zurück, nachdem du unter der Anklage inhaftiert worden warst, einer Gruppe von Freunden geholfen zu haben, die der Kommunistischen Partei Polens angehörten. Die meisten von ihnen endeten nach kurzem Prozess in einem berüchtigten Gefängnis namens Bereza Kartuska und verbrachten dort viele qualvolle Jahre. Maßgeblich an deiner Freilassung beteiligt war dein Freund und Patient, Graf Hulimka, denn er sagte für dich aus.
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* Weil du ständig gearbeitet hast, gab es nicht viele Momente allein zwischen uns beiden. Meistens waren wir alle beim späten Nachtessen beieinander, vor allem während der kostbaren Zeiten, in denen Janka in den Schulferien bei uns war. Trotzdem erinnere ich mich an ein paar „Du-und-ich-Momente“. Bevor wir an Winterabenden ins Bett gingen, zündete Handzia, unser Hausmädchen und unsere Köchin, in den schönen hohen Kachelöfen, die in unseren Schlafzimmern standen, ein Feuer an. In meinem Zimmer hatte der Ofen grüne Kacheln und war mit Fliesen eingefasst, auf denen Fliegenpilze zu sehen waren, rot mit weißen Tupfen; muchomory nannte man sie auf Polnisch. Darauf saßen kleine Zwerge mit roten Mützen, großen Nasen und einem breiten Lächeln. In der Natur waren diese getupften Pilze hochgiftig, aber in den Kindermärchen wohnten darin niedliche kleine Wichtel, krasnoludek auf Polnisch, die Kinderwünsche wahr werden ließen. An diesen kalten Winterabenden kamst du in mein Zimmer, um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Wenn das Zimmer noch immer kalt war, hast du meine Decke nahe an den Ofen gehalten, um sie anzuwärmen, mich dann mit lauter Wärme umhüllt und zugedeckt und hast dich auf meine Bettkante gesetzt und mir zauberhafte Gute-Nacht-Geschichten erzählt. Es waren magische Augenblicke, wenn meine Abendwirklichkeit nahtlos in das Land der Träume überging. Leider erinnere ich mich nicht mehr an meine Träume, aber sie waren sicher himmlisch. Manchmal im Sommer oder im Frühling, wenn es nach Flieder und Jasmin duftete, nahmst du mich zu deinen Krankenbesuchstouren mit. Während ich auf dich wartete, habe ich mit den Kindern dort gespielt, die meine Kameraden in ausgelassenen, unbeschwerten Spielen wurden.
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Einmal – ganz unvergesslich für mich – sollte auf dem Hof, auf dem du einen Patienten besuchtest, eine Kuh ein Kalb auf die Welt bringen. Aber etwas ging schief und der Hausherr kam zu dir gelaufen und bat dich um Hilfe bei dieser Entbindung. Alle Kinder und ich rannten zum Stall und kauerten uns mit staunend aufgerissenen Augen in eine Ecke. Wir sahen eine Kuh auf dem strohbedeckten Boden stehen und unter ihrem Schwanz hing fast das halbe Kalb heraus. Der Bauch der Kuh hob sich in rhythmischen Krämpfen im Versuch, ihr Junges herauszupressen; ihr langer Schwanz peitschte schnell von einer Seite auf die andere. Ich erinnere mich, wie du lange Gummihandschuhe angezogen hast und mit immenser Anstrengung dem Baby-Kälbchen heraushalfst. Es fiel auf die dicke Schicht Stroh, und du hast seine rosafarbene Schnauze und sein Maul abgewischt, die mit einer dicken, klebrigen Masse bedeckt waren. Als das Kälbchen seinen ersten Atemzug machte, drehte die Mutterkuh den Kopf zu ihrem Jungen und begann es mit seiner dicken rosa Zunge zu säubern. Für mich war das ein unvergessliches Schauspiel – wie du siehst bis heute. Auf dem Heimweg war ich erregt und aufgewühlt von dem, was ich eben miterlebt hatte. Ich erinnere mich, wie du mir erzählt hast, dass Menschenbabys so ziemlich auf die gleiche Weise zur Welt kommen. Die Lektion in Biologie, die du mir an diesem Tag zu vermitteln versuchtest, war zu groß, als dass ich sie hätte verstehen und behalten können, aber als ich mit 25 als Praktikantin auf einer Geburtshilfestation zum ersten Mal dabei war, wie ein Kind geboren wurde, und erlebte, wie der Schmerz der Mutter in Tränen der Freude überging, als sie das Neugeborene in ihren Armen hielt, habe ich mit ihr geweint und endlich die Gemeinsamkeit in den Gesetzen der Natur begriffen. Manchmal fuhren wir nach Lwów, wo wir die Freuden und besonderen Reize der Großstadt genossen, aber aus ir-
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gendeinem Grund mochte ich das Land lieber. Ein paar Mal hast du mich auch zu deinen Visiten im Herrenhaus der Gräfin Hulimka mitgenommen. Sie war Witwe und ihr einziger Sohn hielt sich nicht viel bei ihr auf. Er verbrachte die meiste Zeit in Paris, und der reiche Ertrag aus den Ländereien ermöglichte ihm den Luxus, ganz Europa zu bereisen. Als Kind konnte ich verstehen, dass er nicht bei der Gräfin leben wollte – ich dachte, er müsse genau solche Angst vor ihr haben wie ich. Sie war eine hässliche, große und knochige Frau mit einem langen Gesicht, vorstehenden Zähnen und einer stocksteifen Haltung. Ihr Besitz umfasste Tausende Hektar fruchtbares Ackerland, das von Bauern bestellt wurde, und das Schloss, das sie bewohnten, war riesig und von schönen Gärten und Bäumen umgeben. Ihr Mann war vor vielen Jahren gestorben, und man munkelte, dass viele Kinder in den umliegenden Dörfern, die zum Gutsbesitz gehörten, seine waren; hübsche junge ukrainische Mädchen hatten sie zur Welt gebracht. Die alte Gräfin regierte das Anwesen mit eisernem Willen. Sie hoffte, ihr Sohn würde eines Tages eine hochgeborene Ehefrau aus Europa mitbringen, was aber nie geschah. Wenn die Gräfin ihre Bauern empfing, stand sie auf der großen Terrasse des Schlosses, und nach feudalistischem Brauch knieten sie vor ihr nieder und küssten ihr die Hand. Wenn die Audienz beendet war, traten die Bauern und Bauersfrauen zurück und hatten dabei den Blick stets auf sie gerichtet; so bewegten sie sich eine geraume Strecke, bis sie – erst weit entfernt – wagten, ihr den Rücken zuzukehren. Kein Wunder, dass ich Angst vor ihr hatte. Der Grund, warum du mich dorthin mitnahmst, war natürlich nicht, dass ich die Gräfin oder ihren Sohn hätte besuchen sollen; es gab einen viel wichtigeren und aufregenderen Grund für mich: Sie hatten einen Hof mit Tieren; und dort gab es nicht nur gewöhnliche Tiere, wie ich sie auf jedem Bauernhof se-
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hen konnte, sondern auch Zobel, Rotfüchse und Silberfüchse, Hirsche und sogar ein paar Bären. Alle diese Tiere wurden in Käfigen gehalten, aber wenn sie – meistens im Frühjahr oder Frühsommer – Junge hatten, erlaubte mir der Wärter, die Kleinen auf den Arm zu nehmen oder mir auf den Schoß zu setzen, sie zu füttern, zu streicheln und mit ihnen zu sprechen. Aus irgendeinem Grund hing ich besonders an einem kleinen Fuchsbaby. Ich gab ihm sogar einen Namen und nannte es Czarnulek, eine Koseform von czarny, was „schwarz“ bedeutet. Es war ein flauschiges schwarzes Junges mit glänzenden braunen Augen, einer langen rosa Zunge und schneeweißen Zähnen, die spitz waren wie Nadeln. Ich war davon überzeugt, dass es mich auch liebte und gerne bei mir leben würde. Es kümmerte mich nicht, dass aus ihm ein großer Silberfuchs werden würde. Ich besuchte ihn zwei oder dreimal und weinte jedes Mal, wenn wir wieder gingen. Vermutlich um meiner Bettelei zu entkommen, hast du mir versprochen, ihn für mich zu kaufen. Aber das geschah nie. Das war meine erste Lektion über gebrochene Versprechen – viele sollten ihr noch folgen. * Der überfüllte Zug voll fremder Menschen fuhr durch die ukrainische Steppe, durch trockenes Grasland und durch Dörfer, die vom Krieg verwüstet waren. Als wir langsam in das Gebiet Russlands kamen, begannen die Erinnerungen an meine glückliche Kindheit zu verblassen, weil ich an das furchtbare Dasein dachte, das darauf folgte. Einen Teil dieses Briefs an dich, Papa, widme ich den wenigen Zeugen meines Lebens während des Krieges, die gewagt haben, einem kleinen Mädchen Sicherheit zu geben, und sei es auch nur für kurze Zeit. Die wenigen, die mir geholfen haben, waren eine seltene Ausnahme in einem Meer
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von Feindseligkeit und Gleichgültigkeit. Sie kamen, wie du sehen wirst, aus allen Schichten, selbst aus bescheidensten Verhältnissen. Ich lernte, dass man nicht adlig geboren sein musste, um zu einer hohen Klasse der Menschen zu gehören. Ich werde dir die Geschichte meines Überlebens erzählen, so gut ich mich erinnern kann – von dem Moment an, als unsere geliebte Janezcka meine Flucht aus dem Ghetto in Lwów organisierte, bis zu dem Augenblick, als deine Sanitätsschwester mich gefunden und auf die Reise zu dir mitgenommen hat. Tante Jadzia, die mich in dieser schicksalhaften Nacht vom Ghetto in ihr Haus brachte, war eine schöne Frau, mittelgroß und gut gewachsen, mit schwarzem Haar und leicht schrägen, fast orientalisch anmutenden dunklen Augen mit langen Wimpern. Ihre Haut sah aus wie schimmerndes Perlmutt. Sie war Krankenschwester von Beruf und hatte zwei kleine Kinder. Ihr Mann, der vor dem Krieg polnischer Offizier gewesen war, floh später über Rumänien nach Spanien, dann weiter nach England, wo er, rekrutiert von der polnischen Exilregierung in Großbritannien, Pilot der RAF (Royal Air Force) wurde. Tante Jadzia arbeitete für den polnischen Untergrund in der Gegend von Lwów und hatte hochrangige Kontakte nach beiden Seiten – zum Untergrund und zu den Deutschen. Wie wir später erfuhren, hatten ihre weiblichen Reize ihr Zugang zu den höchsten Nazi-Beamten verschafft, die für amouröse Beziehungen zu einer schönen Frau der sogenannten niedereren Rassen nicht unempfänglich waren – selbst um den Preis, ihr geheime Hinweise zu geben. Ich lebte einige Zeit bei ihr, nachdem die „Hexenfrau“ Pani Wanda wieder weg war, und passte auf die Kinder auf, wenn sie untertags aus dem Haus war. Ich putzte, gab den Kindern zu essen und ging mit ihnen im Park spazieren. Sie kam gewöhnlich spätabends zurück; ich
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wartete auf sie, um ihr die Ereignisse des Tages zu berichten. Sie schärfte mir immer ein, ich solle Begegnungen mit den Nachbarn vermeiden und nie mit ihnen sprechen. Sie lebte in einer sehr hübschen Villa, die sie und ihr Mann als Hochzeitsgeschenk von den Eltern ihres Mannes bekommen hatten, die vor dem Krieg zur High Society in Lwów gehörten. Eines Tages brachte Tante Jadzia eine andere jüdische Frau mit nach Hause. Sie hieß Marlena und hatte ihr Versteck bei einer polnischen Familie verloren; sie hatten Geld und Schmuck von ihr angenommen und sie dann denunziert, so dass sie fliehen musste. Wie sie mit meiner Beschützerin in Kontakt gekommen war, wusste ich nicht. Sie blieb nur drei oder vier Tage bei uns, und während dieser Zeit hat sie zwei Dinge getan, die mir eindrücklich waren. Eines war tragikomisch: Sie beschloss, ihr semitisches Aussehen zu verändern und ihr pechschwarzes Haar blond zu bleichen. Als sie die Prozedur hinter sich gebracht hatte, merkte sie zu ihrem Entsetzen, dass sie zu einem flammenden Rotschopf geworden war und nun jüdischer aussah als je zuvor. Sie war wie versteinert und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie sagte zu mir, welches Glück ich hätte, blond und blauäugig zu sein und eine freche slawische Nase zu haben. Ich nehme an, dass es mein Glück war, dass an irgendeiner Stelle, weit zurück in der Vergangenheit, einer meiner Vorfahren beschlossen hatte, mein Erbgut zu verdünnen. Marlena beschloss, ihr langes, jetzt rotes Haar knapp über der Kopfhaut abzuschneiden und zu warten, bis ihre natürliche Farbe wieder zum Vorschein käme. Am nächsten Tag sagte sie mir, sie gehe zu irgendwelchen Leuten, um sich neue Ausweispapiere und eine neue Identität zu beschaffen. Sie fragte mich, ob ich irgendwelche gefälschten Dokumente besäße. Falls nicht, hätte sie genug Geld, um auch mir welche zu kaufen. Sie erklärte mir, dass es wichtig sei, so etwas zu haben, falls
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ich geschnappt würde. Wir alle – sie, Tante Jadzias Kinder und ich – fuhren dann mit der Straßenbahn zu einer armenischen Kathedrale, die weit von unserem Haus entfernt lag. Es war ein sehr altes, aber schönes Gebäude mit einem hohen Turm und einem säulengesäumten Innenhof. In der Stadt gab es eine große armenische Gemeinde, die dort Gottesdienst hielt und zu einem sehr alten Zweig der Christenheit gehörte. Ein alter Mann in einem schwarzen Priestergewand nahm uns alle mit in die Sakristei, und Marlena sprach mit ihm in einer Ecke. Nach einer Weile händigte er ihr im Tausch gegen zwei Goldmünzen, die sie aus einem kleinen Beutel unter ihrer Bluse genommen hatte, zwei Umschläge aus. Nachdem die Transaktion abgeschlossen war, gingen wir wieder heim. Sie öffnete einen der beiden Umschläge und zog ein gelbliches Papier heraus, das alt aussah, und erklärte mir, das sei meine neue Geburtsurkunde. Ich musste nicht nur die Namen meiner neu erworbenen Eltern auswendig lernen, sondern auch die meiner Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits, den Tag meiner Geburt und, besonders wichtig, den Tag meiner Taufe. Das Papier war vermutlich das Originaldokument eines Kindes, das früh verstorben war. Mein neuer Name und die Namen der falschen Familie waren lang und meinen Ohren fremd. Ich prägte mir alles mit großen Schwierigkeiten ein. Zum Glück musste ich die Prüfung der Namen nie bestehen – nicht nur, dass ich versagt hätte, ich glaube auch, niemand hätte bei meinem Anblick geglaubt, dass ich ein armenisches Mädchen sei. Kurze Zeit nach der Episode mit den armenischen Papieren brachte mir Tante Jadzia ernste Neuigkeiten: Ich würde weggehen müssen. Eine Nachbarin ein paar Häuser weiter unten in der Straße hatte ihr drohend zu verstehen gegeben, sie wisse, dass sie ein jüdisches Mädchen bei sich im Haus versteckt halte. Tante Jadzia hatte es abgestritten und ihr ent-
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gegnet, ich sei eine Verwandte, die für kurze Zeit auf Besuch sei. Trotzdem würde ich gehen müssen. Am selben Tag fand sie einen übergroßen warmen Mantel für mich und brachte mich an einem kühlen Abend zu ihren Schwiegereltern, wo ich ein paar Tage bleiben sollte. Sie errieten die Wahrheit und willigten nur ein, mich über Nacht zu behalten. Anderntags kam Tante Jadzia mich abholen und sagte mir, sie wolle versuchen, mich in einem Waisenhaus unterzubringen, das von Barfüßerinnen des Karmeliterordens geführt wurde. Es war später Nachmittag, als wir einen weiten Weg in ein anderes Viertel von Lwów zurücklegten, wo hinter mit Ornamenten verzierten eisernen Gittern und Toren vornehme Häuser und feudale Villen standen. Zu meinem Erstaunen hielten wir plötzlich an einem dieser Tore an, vor dem ein deutscher Soldat Wache stand. Ich zog an ihrer Hand und wollte panisch wegrennen, weil ich dachte, sie liefere mich ihm aus. Sie hielt mich fest und sagte dem Wachsoldaten ein paar Worte auf Deutsch. Das meiste von dem, was sie sagte, verstand ich nicht, aber ich hörte den Namen Generalleutnant Katzmann fallen. Der Soldat ließ uns hinein. Ein paar Schritte hinter dem Tor standen wir vor einer kunstvoll gearbeiteten Eingangstür, an deren Seite, gerade über der Türklingel, ein goldenes Schild angebracht war, in das derselbe Name eingraviert war, den ich eben gehört hatte. Sie klingelte. Nach ein paar Sekunden machte ein hochgewachsener Mann in schwarzer Uniform, braunem Hemd mit schwarzer Krawatte die Tür auf; er stand weit innen. Sie zog mich schnell durch die halbgeöffnete Tür hinein. Ich war stumm vor Angst. Sie drehte sich zu mir und sagte, ich solle still auf dem Stuhl in der Ecke sitzen bleiben und auf sie warten. Sie folgte dem SS-Mann durch eine große Eingangshalle, und beide verschwanden durch eine Tür auf der
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anderen Seite aus meinem Blick. Mein Instinkt sagte mir, dass ich nicht dort sein sollte, aber der gleiche Instinkt hielt mich auch davor zurück, wegzulaufen. Ich wusste, es wäre aussichtslos gewesen. Mein Körper war schreckstarr, aber meine Augen suchten sorgfältig den Raum ab. Auf dem Boden lag ein vielfarbiger orientalischer Teppich, auf dem ein Schreibtisch, ein Sofa und eine Reihe von Sesseln standen, und alles war ausnehmend schön. Das einzige, was nicht in diesen Raum passte, war ich, ein kleines Mädchen mit zu großen Schuhen, einem zu großen Mantel und großen Augen voller Angst. Ich weiß nicht, wie lange ich gewartet habe, in Augenblicken wie diesem hat die Zeit keinen Bezug zur Wirklichkeit. Für mich war es eine Ewigkeit, aber ich glaube, es dauerte nicht länger als eine Stunde. Als Tante Jadzia wieder den Raum betrat, kam der Mann in der SS-Uniform zu mir, berührte mit seiner Hand meine Wange und sagte: „Eine schöne Jüdin.“ Danach umarmten die beiden einander kurz, und Tante Jadzia und ich liefen schnell hinaus. Als wir weit genug von dem Haus entfernt waren, sagte Tante Jadzia zu mir: „Dieser Mann kann mir nicht helfen, dich bei mir im Haus zu behalten, deshalb gehen wir zu dem Waisenhaus, von dem ich dir gestern erzählt habe.“ Mein Kopf war in heilloser Verwirrung und Bestürzung, aber das Vertrauen und das Gefühl, dass sie mich beschützte, umgab, wärmte und bestärkte mich wieder. Immerhin hatte sie mich nicht an diesen Mann übergeben, der zur gleichen Art gehörte wie der Mann, der mir meine Mama für immer weggenommen hatte. Es war noch hell, als wir zu einer romanischen Kirche kamen, an die sich ein großes Kloster aus roten Backsteinen anschloss. Bevor wir in den Klosterhof traten, gab sie mir ein paar Anweisungen: zuerst, dass ich alleine zu den Non-
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nen gehen und erklären solle, dass ich eine Waise sei und dass ich darum um Aufnahme bitte. Sie könne nicht mit mir gehen, weil die Nonnen die Geschichte nicht glauben würden, wenn sie dabei wäre. Sie sei sicher, dass sie mich aufnehmen würden, weil sie fromme und barmherzige Nonnen seien. Ihre nächste strikte Ermahnung war, niemandem, auch nicht den Nonnen, je ihren Namen oder ihre Adresse zu nennen. Danach umarmte sie mich schnell, wünschte mir viel Glück und verschwand. Ich habe sie erst 1947 wiedergesehen, zwei Jahre nachdem der Krieg zu Ende war. Sie hatte dich, Papa, und mich ausfindig gemacht und bat dich um Hilfe, um sich in einer Stadt in Westpolen eine Existenz aufzubauen. Ihr Ehemann war nie aus England zurückgekehrt und sie musste alleine zwei Kinder großziehen. Ich weiß, dass du großzügig zu ihr warst und ihr nicht nur eine Arbeitsstelle verschafft, sondern sie auch finanziell unterstützt und ihr so lange Geld geschickt hast, bis sie und ihre Kinder in besseren Verhältnissen lebten. Ich habe dir nie erzählt, wie sie mich vor dem Kloster allein gelassen hat, weil ich das starke Gefühl hatte, dass ihr Wunsch, mich zu schützen, solange sie konnte, wirklich aufrichtig war. Ich empfand damals wie heute, dass selbst der kleinste Funke Mitgefühl dankbar anerkannt und gewürdigt werden sollte. * Der Abend kam und ein kühler Wind blies mir ins Gesicht, als mir plötzlich klar wurde, dass ich mich um meine Aufnahme in das Waisenhaus kümmern musste, die mir – so glaubte ich in meiner Naivität – ganz sicher gewährt würde, weil das, was ich sagen sollte, ja der Wahrheit entsprach: Ich war eine Waise.
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Ich stand vor einer dicken, mächtigen Holztür und pochte ein paarmal mit dem metallenen Türklopfer, der ein hartes Geräusch machte. Es kam keine Antwort, also klopfte ich wieder. Nach einer Zeit öffnete sich ein kleines Fenster auf der Seite der Tür und ich sah das Gesicht und die Schultern einer Nonne in dunkelbraunem Habit. Nachdem sie sich angehört hatte, was ich zu sagen hatte, bat sie mich zu warten, bis sie die vorgesetzte Nonne geholt hätte. Sie ging weg und ihre Sandalen klapperten auf den Pflastersteinen des Hofs. Dabei sah ich ihre nackten Füße, die in dicken Ledersandalen steckten, und mir wurde klar, woher der Name des Ordens kam: „Unbeschuhte Karmelitinnen“. Ich vermute, ihre nackten Füße sollten symbolisieren, dass sie alle weltlichen Annehmlichkeiten verachteten, weil sie sich völlig den christlichen Glaubensidealen unterworfen hatten und Jesus, dem allbarmherzigen Sohn Gottes, ergeben waren. Ich sollte bald lernen, dass „Barmherzigkeit“ nicht ihr Ziel war. Die nächste Nonne, die auf der anderen Seite des kleinen Fensters auftauchte, begann mir eine lange Reihe von Fragen zu stellen: Ob ich eine Waise sei? – Ja. – Wie alt ich sei? – Elf. – Ob ich irgendwelche Angehörigen hätte? – Nein. Daraufhin fing sie an, mir zu erklären, dass sie nur Waisen aufnähmen, die zwar ihre Eltern verloren hatten, aber noch über irgendwelche Verwandten verfügten, die das Waisenhaus bezahlten und das Mädchen unterstützten – und auch dann nur unter der Bedingung, dass das Mädchen bereit sei, Nonne in diesem Orden zu werden. (Viele Jahre später habe ich erfahren, dass genau dieser Orden einer der reichsten war. Er wurde üblicherweise von wohlhabenden Adelsfamilien subventioniert, deren Töchter sich in unwürdigen Liebschaften entehrt hatten oder hässlich genug waren, nie in eine zu geraten.) Als sie mir unvermittelt ihre letzte Frage entgegenschleuderte: „Willst du Nonne werden?“, sagte ich:
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„Nein, ich will niemals Nonne werden!“ Es entstand ein kurzer Moment der Stille. Darauf sagte sie mit süßer und beinahe melodischer Stimme, die mir jetzt noch im Ohr klingt: „Dann geh dorthin, woher du gekommen bist, Gott segne dich!“ Das kleine Fenster schloss sich, und von allen verlassen stand ich alleine da mit der plötzlichen Erkenntnis, dass der Gott dieser Nonne, oder im Grunde jeder Gott, ebenso eine Fälschung war wie die armenischen Papiere in meiner Tasche. Er würde nie irgendeine göttliche Fürsorge für mich bewirken. Das „Gott segne dich“ der Nonne bedeutete in Wahrheit, dass Gott keine Segnungen zu vergeben hatte. * Die Nacht brach herein und es wurde kälter; der Wind hatte sich gelegt und der Himmel war wie übersät von winzigen Diamanten. Ich erinnere mich deutlich, dass ich in dieser Nacht nicht geweint habe. Ich glaube nicht einmal, dass ich mir ein Gefühl der Einsamkeit oder des Selbstmitleids erlaubte. Im Rückblick denke ich, dass ein Funke irgendeiner inneren Energie es schaffte, meine ganze kindliche Schläue oder den Instinkt eines Wildtiers in mir aufzurufen, etwas Ähnliches, was auch streunende Hunde oder wilde Katzen haben. Ich wusste, ich würde jene natürliche Gerissenheit auf unbestimmte Zeit brauchen, um zu überleben. Ich ging in Richtung Stadtmitte, wo mehr Menschen auf der Straße waren. Die Straßenlampen waren spärlich und zwischen ihnen war es stockdunkle Nacht. Ich war so müde, dass ich beschloss, einen Platz zum Schlafen zu suchen. Ich ging in ein Mietshaus und stieg die Treppen hinauf bis ganz oben, wo sie auf einem dunklen Speicher endeten, einem finsteren Raum direkt unter dem schrägen Dach. Ich legte mich auf die harten Holzbretter und schlief ein. Von da an wurden solche Dachböden und Speicher für lange Zeit
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nicht nur Schlafräume, sondern auch Zufluchtsorte und Verstecke, wenn ich von Leuten verfolgt wurde, die riefen: „Schnappt die Jüdin!“ Dieses Wort war mein Fluch. Nur drei oder vier Jahre zuvor hatte ich es noch nicht gekannt, aber jetzt bedeutete es Gefahr und war ein Signal, zu rennen. Tagsüber verbrachte ich meine Zeit damit, Essensreste zu suchen, meist in Mülltonnen. Ich fand Kartoffelschalen oder verdorbenes Gemüse und Knochen mit spärlichen Resten von Fleisch daran. Eines Tages entdeckte ich einen Ort, an dem gutes Essen buchstäblich vom Himmel fiel. In den Außenbezirken der Stadt, die ich mit der Zeit gut kennenlernte, stand eine drei Stockwerke hohe Armeekaserne, die sich über mehrere Häuserblöcke erstreckte. Sie war von ungarischen Soldaten besetzt, die mit den Deutschen damals verbündet waren. Viele von ihnen saßen in den Fenstern und warfen Kindern, die sich darunter auf dem Gehweg versammelten, Essen hinunter. Was war das für eine Entdeckung! Wir füllten unsere Taschen mit Stücken von frischem Brot, Süßigkeiten und manchmal sogar Äpfeln. Die Soldaten lachten und riefen ein paar Worte in einer Sprache, die keiner von uns verstand. Wenn die Austeilung zu Ende war, führten die Mütter ihre Kinder weg von diesem Ort, und ich rannte, so schnell ich konnte, um nicht zu verraten, dass auf mich keine Mutter wartete. Tage und Wochen vergingen, während ich endlos in den Straßen umherwanderte, immer mit dem einen Ziel: etwas zu essen und Unterschlupf für die Nacht zu finden. Mein Körper war schmutzig, Haare und Kleider von Läusen befallen, die ich nicht loswerden konnte. Den Angriff der Parasiten konnte ich nur durch ständiges Kratzen ertragen, was blutige Spuren auf meiner Haut zurückließ. Der Winter hatte früh begonnen. Er war streng in diesem Jahr, und das machte das Überleben noch schwieriger. Meine
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Schuhe hatten große Löcher in den Sohlen, und ich stopfte sie täglich mit Papierstücken oder Lumpen, die ich auf den Straßen oder im Müll gefunden hatte. Meine Socken waren zerlöchert. Das einzige Kleidungsstück, das noch einigermaßen intakt war, war der übergroße Mantel, den Tante Jadzia mir vor langer Zeit gegeben hatte. Uhr oder Kalender hatten für mich keine Bedeutung. Meine Zeit bemaß sich nach Morgengrauen, Abenddämmerung und Nacht, nach Sonnenschein, Regen, Schnee oder Wind. Die Namen von Wochentagen, Monaten oder Jahren waren ebenso gleichgültig für mich. Ich nahm mir immer nur vor, von einem Sonnenaufgang zu einem Sonnenuntergang zu überleben, und beim nächsten Sonnenaufgang begann ich meine verzweifelte Reise aufs Neue. Ich erinnere mich, dass ich abends manchmal nahe am Fenster irgendeiner Kellerwohnung vorbeikam – man nannte sie auf Polnisch suteryna, vom französischen sous terrain für „unter der Erde“. Diese Keller wurden von den Ärmsten der Gesellschaft bewohnt, aber was ich sah, wenn ich vor einem dieser Fenster stehenblieb, war der vollendete Luxus einer Familie, die in Wärme und Licht gemeinsam zum Abendessen um den Tisch saß. Manchmal erreichte der Duft von gekochtem Eintopf oder frisch gebackenem Brot meine Nase. Dieses unerreichbare, einfache Glück rief in mir gewöhnlich eine so starke Sehnsucht hervor, dass ich vor diesem Bild davonrannte, weil ich spürte, dass ich im Begriff war, dort zusammenzubrechen, vielleicht sogar zu sterben. Ich versprach mir selber, wenn ich erwachsen wäre und der Krieg zu Ende – aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass das beides geschehen würde: Ich würde erwachsen werden und der Krieg würde aufhören –, dann würde ich so eine Kellerwohnung haben, aus der es nach frisch gebackenem Brot und gekochtem Eintopf duftete.
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Ja, Papa, du hast mich später mit viel mehr versorgt und mir eine Menge materieller Annehmlichkeiten verschafft, um mich für mein Elend zu entschädigen, aber dieses erleuchtete Kellerfenster und der Geruch von Essen wird mir immer bittersüß in Erinnerung bleiben. Es waren viele Menschen um mich in dieser schrecklichen Zeit. Sie waren auf den Straßen, in den Häusern, in den Straßenbahnen, in den Kirchen. Irgendwie wusste ich, wie ich mich so unsichtbar wie möglich machen konnte. Instinkt und Erfahrung hatten mir beigebracht, dass ich mich vor ihnen verstecken musste; die meisten von ihnen waren nicht die richtigen Leute, und es war gefährlich, ihnen nahezukommen. Ich wusste auch, dass sie mich – obwohl ich in meinem kurzen Leben nie jemandem etwas Böses getan hatte – aus irgendeinem unerklärlichen Grund hassten. * Eines Sonntags schlurfte ich über das Trottoir, in Schuhen, die mir viel zu groß waren. Ich hatte am Tag davor das Glück gehabt, sie in einem Park zu finden, wo sie jemand weggeworfen haben musste. Ich war froh, weil diese Schuhe keine Löcher in den Sohlen hatten und meine Füße warm und trocken waren. Ich weiß, dass es Sonntag war, weil wenige Minuten vorher die Glocken einer nahegelegenen Kirche geläutet hatten. Viele Leute strömten zur Sonntagsmesse in die Kirche. Versehentlich streifte ich einen großen, hageren Mann, der mit einer jungen Frau am Arm in die andere Richtung ging. Er schaute mich verärgert an und fasste mich an der Schulter, um mich aufzuhalten. Das hatte ich nicht erwartet, aber ich wusste, dass das ein Zeichen für mich war, wegzulaufen. Ich riss mich von ihm los und lief, so schnell ich konnte, aber der Mann rannte mir hinterher, und ich hörte ihn schreien: „Schnappt die kleine Jüdin!“ Ich
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verschwand in der Menge, aber als ich kurz zurückschaute, sah ich ihn bei einem deutschen Gendarmen stehen und in meine Richtung zeigen. Ich rannte noch schneller und erreichte die Kirchentür gerade rechtzeitig, um mich unter die dichtgedrängte Menge zu mischen, die sich dort bereits versammelt hatte. Ich kannte diese Kirche genau; es war ein prachtvolles barockes Heiligtum mit einer großen Kuppel, die mit glänzenden Kacheln ausgekleidet war. Sie hieß nach dem heiligen Bernhard Katedra Bernardyńska. Ich habe vergessen, dir zu erzählen, Papa, dass neben den Speichern und Dachböden großer Mietshäuser auch Kirchen meine Zuflucht für die Nacht waren. Sie waren vierundzwanzig Stunden geöffnet und gewöhnlich so gebaut, dass neben dem Hauptschiff in der Mitte der Kirche Seitennischen und kleine Kapellen lagen, die verschiedenen Schutzheiligen gewidmet waren. Diese Nischen waren weit genug zurückgesetzt, dass ein paar Bänke zum Gebet darin Platz fanden. Manchmal waren sie so groß, dass sie zusätzliche Altäre hatten, vor denen Messen abgehalten wurden, die einem besonderen Heiligen gewidmet waren. Ich habe in vielen Kirchen überall in der Stadt übernachtet. Die größeren waren sicherer, weil es einfacher war, sich darin zu verstecken. Ich schlief immer unter der Bank und achtete darauf, dass meine Arme und Beine nicht herausschauten. Manchmal dienten mir ein paar Gesangbücher, die ich aus der hölzernen Tasche in der Bank genommen hatte, als Kissen. Kleine Kirchen waren wärmer, weil sie kleinere Türen hatten und so die Luft weniger bewegt wurde. Wichtiger war noch, dass ihre Böden aus Holz waren und nicht so kalt wie die Marmor- oder Steinböden in den großen Kathedralen und reichen Gemeinden. Der ständige Geruch von Weihrauch, der in der Luft hing, hatte eine beruhigende Wirkung
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auf meinen Geist und meinen Körper und half mir einzuschlafen. Es kommt also nicht von ungefähr, wenn ich dir eben gesagt habe, ich kannte diese Kirchen genau. Diesmal, an jenem speziellen Sonntag, habe ich mich in die dritte Bankreihe geschoben und mit gesenktem Kopf getan, als würde ich beten, während der Priester in einem besonderen, goldverzierten Gewand die Messe zelebrierte; vier Ministranten waren seine Helfer bei dem Ritus. Plötzlich entstand eine Unruhe im hinteren Teil der Kirche und zwei deutsche Soldaten tauchten auf. Der eine ging durch den Mittelgang zum Altar, der andere kontrollierte die Reihen von den Seitengängen. Der Priester unterbrach seine Gebete nicht – alles war auf Lateinisch –, und er drehte sich oft vom Altar weg zu den Gläubigen und machte mit seiner Hand ein Kreuzzeichen und segnende Gesten über seine Zuhörer, die von Zeit zu Zeit das eine Wort wiederholten, das ich kannte: „Amen“. Es wurde immer auf der letzten Silbe ein wenig gedehnt, so dass es klang wie das Ende eines Lieds. Die Polizisten waren noch immer in der Kirche. Als es Zeit zur Kommunion wurde und es denen, die zuvor im Beichtstuhl ihre Sünden bekannt hatten, erlaubt war, an diesem Ritual teilzunehmen, standen viele auf und stellten sich an, um vor den Altar zu treten und kniend eine Oblate zu schlucken, die ihnen vom Priester zugeteilt wurde, gefolgt von einem Schluck Wein. Ich stand mit den anderen auf, und als ich an der Reihe war, nahm ich teil an diesem Ritual und ahmte dabei alle Bewegungen und Gesten des Sich-Bekreuzigens nach, wie es die gläubigen Katholiken machten. Ich beteiligte mich an dem symbolischen Akt, das Fleisch des Gottes zu essen und sein Blut zu trinken, ohne ein sündiges Dasein zu bereuen. Selbst wenn ich davor zur Beichte gegangen wäre, hätte ich keine Sünden zu bekennen gehabt, und ehrlich gesagt, hatte
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ich von der Bedeutung dieses Begriffs keine Ahnung. Es war nicht das letzte Mal, dass ich an diesem feierlichen Ritus teilnahm, doch davon erzähle ich dir später. Es gibt eine alte Redensart, die heißt: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!“ Auf eine verdrehte Art und Weise galt das an diesem Wintersonntag für mich. * Es gab eine kleine Begebenheit im Lauf der Zeit, die ich dir nicht deshalb beschreiben will, weil sie eine einschneidende Erfahrung in meinem Leben gewesen wäre, sondern weil sie dir vielleicht eine Ahnung von der seelischen Verfassung deines kleinen Mädchens gibt. Eines Tages nach einer jener langen Wanderungen nach nirgendwo, die damals meine einzige Beschäftigung waren, saß ich an einem Rinnstein und ruhte meine Füße aus. Es war eine Pause aus Notwendigkeit und ohne besonderen Zweck. Ein großer Kater näherte sich mir, aus seinem Maul hing eine Maus. Er saß vor mir und brachte genüsslich seinen Fang vollends zur Strecke. Die Augen der Maus waren weit offen, der Körper zuckte noch, obwohl die blutigen Eingeweide schon auf dem Boden lagen. Es wäre leicht für mich gewesen, den Kater von seinem Festmahl wegzuscheuchen, damit er dieses Stück warmer Nahrung mit mir teilte. Aber trotz meines allgegenwärtigen Hungers lag es außerhalb meiner Möglichkeiten, ihn mit diesem blutigen Gericht zu stillen. Das verdorbene, übelriechende Essen, das ich mir unter großen Mühen zusammensuchte, war die Grenze, an die ich in meiner menschlichen Erniedrigung gehen konnte. Drei andere Dinge gab es, die ich während dieser Zeit nie tat: Ich bettelte nicht, ich weinte nicht und ich stahl nicht. Ich glaube nicht, dass das auf irgendeine in früheren Zeiten eingeprägte Moral oder edle Gesinnung zurückzu-
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führen war: In meiner Welt musste ich ein Schatten sein, eine unsichtbare körperlose Seele, und diese drei Aktivitäten waren alle gefährlich und würden noch mehr Hass nach sich ziehen, gegen den ich mich verteidigen müsste. War es Intelligenz, Instinkt oder beides – wer weiß? Ich weinte nicht, weil meine Tränen vertrocknet waren. Zum letzten Mal geweint hatte ich in der Nacht, als der Bauer mich versteckt in einem Pferdewagen zurück zu Mama brachte, kurz nachdem ich das grässliche Massaker in Radechow miterlebt hatte. * Der Zug fuhr schnell und mit weniger Haltestationen meinem Ziel entgegen – meinem Vater. Wir waren jetzt in Russland. Die Felder waren leer und mit Schnee bedeckt, und gelegentlich konnten wir kleine Dörfer mit strohgedeckten Hütten sehen. Hie und da wehte dünner grauer Rauch von den Kaminen und mischte sich mit dem grauen Himmel – ein Lebenszeichen. Es wurde weniger eng im Zug, weil immer mehr Leute unterwegs ausstiegen. Zu einem Zeitpunkt gab es sogar eine leere Bank in unserem Abteil, auf der ich mich ausstrecken und die ganze Nacht schlafen konnte. Vier Frauen, die auf der Bank gegenüber saßen, und deine Krankenschwester, die an meinen Füßen saß, hatten mir diesen Platz freigemacht, weil ich das einzige Kind war. Das war eine willkommene Freundlichkeit von Fremden – eine Seltenheit in meiner unmittelbaren Vergangenheit und ein Zeichen der Hoffnung darauf, dass ich noch einmal Kind sein durfte, mit allen Privilegien. Es gab so viel, was ich dir zu erzählen hatte, und die Bilder drängten sich in meinem Kopf zur Musik der Räder mit ihrem Klicke-di-Klick. *
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Lass uns zurückkehren nach Lwów, dem Ort meiner Pilgerreise aus Trauer und Verzweiflung. Es war ein Abend voll Schneeregen und Graupel, als ich in nassen Kleidern und zitternd vor Kälte zusammengekauert vor einem Hauseingang auf der Schwelle saß. Mein Leben hätte wahrscheinlich dort sein Ende gefunden, mein Körper war erschöpft, mein Geist zu zermürbt, um sich noch zu ängstigen. Ich erwachte aus einer Art Stupor, als sich eine Frau über mich beugte und nach meinem Namen fragte. Ich sagte ihr meinen richtigen Namen. Als sie sah, wie furchtbar es mich schüttelte, half sie mir aufzustehen und sagte mir, sie wohne ein paar Häuser weiter und sie würde mich mit zu sich nach Hause nehmen. Ihre Stimme war ermutigend, oder ich wollte das zumindest gerne glauben. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nur eines sicher: dass ich nach drinnen musste, weg von der Kälte. Nach ein paar Schritten betraten wir ein hohes Gebäude und dann einen schmalen Gang. Vorbei an einem vornehmen Marmor-Stiegenhaus gingen wir über einen kleinen Hof und kamen in einen ganz kleinen Hausflur mit einer eisernen Wendeltreppe, wie man sie gewöhnlich in engen Leuchttürmen findet. Als wir den obersten Stock erreicht hatten, traten wir auf eine schmale Galerie, die den Innenhof umgab, den man fünf Stockwerke tiefer liegen sah. Die Wohnung der Frau lag nah an der Treppe. Sie schloss sie mit einem Schlüssel auf und wir betraten einen ziemlich großen Raum. In dessen Mitte stand ein großer Esstisch mit vier Stühlen, links ein großer Herd. Sie half mir aus meinen triefend nassen, kalten Kleidern und Schuhen, wickelte mich in ein großes Handtuch, setzte einen Topf mit Wasser auf den Herd, um ein Bad für mich zu richten, und holte Brot, Wurst und einige Flaschen Bier aus ihrer Tasche. Sie stellte all diese Kostbarkeiten vor mir auf den Tisch und schnitt für mich Brot und Wurst zum Essen auf. Dann öffnete sie eine
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Flasche Bier und forderte mich auf, zwei kleine Schlucke zu nehmen. „Es wird dir guttun“, sagte sie. All das geschah schnell. Ich sah beinahe unbeteiligt zu, als schaute ich mir auf der Leinwand einen Film an. Der Geschmack des Bieres war bitter und abstoßend, aber als es in meinen Magen kam, spürte ich eine Wärme, die sich in meinem Körper ausbreitete. Nachdem ich gegessen hatte, goss sie das warme Wasser aus dem Topf in eine kleine tragbare Badewanne aus Metall, und bevor ich mich hineinsetzen durfte, suchte sie meinen Körper und meine Kleider gründlich nach Läusen ab. Sie erwartete offenbar, dass ich Läuse hatte, weil sie den Zustand kannte, in dem sie mich gefunden hatte. Wie du ja weißt, Papa, ist die Laus der am besten gedeihende und am meisten profitierende Parasit des Menschen in Kriegszeiten. Sie stopfte alle meine Kleider in einen Sack, um sie wegzuwerfen, und goss Kerosin auf mein Haar, mit dem sie mir die Kopfhaut einrieb. Dann zog sie eine eng anliegende Kappe über meine Haare und sagte, diese Prozedur würde dreimal wiederholt werden, um mich vollständig zu entlausen. Als all das erledigt war, zeigte sie mir den Raum neben dem Herd, wo ich schlafen würde. Der Raum war fensterlos, dunkel und hatte kein elektrisches Licht. Es gab ein Feldbett mit einem Kissen und einer Decke und einen Stuhl darin. Als ich im Bett lag, sagte sie mir, sie heiße Kazia, kurz für Kazimiera, und dass sie mir am Morgen alles Notwendige sagen würde, was ich wissen musste, wenn ich bei ihr wohnte. Ich glaube, dass ich die letzten Worte, die sie sagte, nicht mehr hörte. Ich schlief bereits fest. Die Ereignisse dieses Abends würden manche eine göttliche Vorsehung nennen. Ich würde sagen, dass Taten menschlichen Großmuts manchmal von unerwarteter Seite kommen.
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Ich habe dir nach dem Krieg von Kazia erzählt, aber nicht so detailliert wie jetzt. Ich erinnere mich, wie ich darauf gedrungen habe, dass du, Papa, unbedingt versuchen solltest, sie zu finden; aber sie war verschwunden und konnte nur in meinen Erinnerungen wieder lebendig werden. * Kazia war klein und stämmig. Ihre Beine waren gekrümmt, weil sie als Kind Rachitis gehabt hatte, so dass ihre Schienbeine ein längliches O formten, wenn sie mit geschlossenen Füßen stand. Ihr Gesicht sah aus wie ein Dreieck, dessen Grundseite ihre vorgewölbte Stirn bildete. Ihre Nase hatte keine Basis, nur eine nach oben zeigende Spitze, so dass sie einem Pferdesattel glich und die großen Nasenlöcher deutlich zu sehen waren. Ihre schmalen Lippen bedeckten nie ganz die großen gelben Schneidezähne mit ihren unregelmäßigen Kanten. Ihre Haare waren hellbraun und sie trug eine kurze Ponyfrisur. Nach allen üblichen Maßstäben von weiblicher Schönheit war sie sehr hässlich. Sie wies alle Zeichen der Hutchinson-Trias auf, eines Syndroms, das Menschen mit angeborener Syphilis trifft. Das wurde mir später als Medizinstudentin deutlich. In medizinischen Lehrbüchern wird es durch eingekerbte Schneidezähne, Sattelnase und eine diffuse Entzündung der Hornhaut (Keratitis) charakterisiert. Die Krankheit wird im Uterus von einer syphilitischen Mutter auf ihr Kind übertragen. Allein von ihrer äußeren Erscheinung ließ sich auf ihre unglückliche Kindheit schließen, die ihr von der Gleichgültigkeit des Schicksals auferlegt worden war. Es bildete sich eine merkwürdige Freundschaft zwischen dieser zweiunddreißigjährigen Frau und einem elfjährigen Mädchen, die im Vorkriegspolen vermutlich niemals aufeinandergetroffen wären.
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Kazia arbeitete in einem Bierlokal im ersten Stock eines Rathauses, das jetzt den deutschen Namen trug statt des polnischen ratusz. Sie schenkte Bier an deutsche Soldaten und Offiziere aus, die die einzigen Gäste dort waren. Als Kellnerin hinter der Theke verdiente sie sehr wenig, und um ihr Leben zu erleichtern, besserte sie ihr Einkommen auf zweierlei Weise auf: Sie stahl Bier und Nahrungsmittel von den Deutschen, die das Lokal betrieben, und sie verkaufte ihren Körper, vor dessen Hässlichkeit betrunkene deutsche Soldaten nicht zurückschreckten. Fast jeden Tag brachte sie in zwei großen Taschen aus grobem Stoff ein Dutzend oder mehr Bierflaschen heim, die sie dann für gutes Geld unter ihrer eigenen Kundschaft verteilte. Ein- oder zweimal, manchmal dreimal die Woche brachte sie einen deutschen Soldaten, gewöhnlich von niederem oder gar keinem Rang, in ihre Wohnung und bot ihm fleischliche Vergnügungen im Tausch gegen deutsche Reichsmark. Sie vertraute mir; so wurde ich ihre Helferin und brachte Bier zu ihren Kunden in verschiedenen Teilen der Stadt. Damit ich keinen Verdacht erregte, kaufte sie mir hübsche warme Kleider und Schuhe, so dass ich wie ein legitimes „arisches“ Kind aussah. Wenn sie – meistens nachts – ihre betrunkenen Liebhaber in die Wohnung brachte, schloss sie mich in meiner fensterlosen Koje ein, bis sie wieder draußen in der Nacht verschwunden waren. Ich muss zugeben, dass ich neugierig war, was sie taten, vor allem, wenn ungewöhnliche Stimmen und Geräusche durch die Wände und Türen zu mir drangen. Meine Neugier wurde aber immer von einem viel stärkeren Gefühl unterdrückt – der Angst vor den Deutschen. Deshalb habe ich niemals meine Tür geöffnet oder irgendein Lebenszeichen von mir gegeben und schlief normalerweise ein. Am nächsten Morgen weckte mich Kazia mit guten Neuigkeiten: Essen. Durch Kazias Fürsorge war
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ich inzwischen sauber, frei von Läusen und hatte es warm. Die Frostbeulen an meinen Knien und Füßen heilten, meine Wangen wurden wieder voller und rosig und ich nahm an Gewicht zu. An der Höhe der Türklinken im Verhältnis zu meiner Körpergröße bemerkte ich auch, dass ich ein wenig gewachsen war. An manchen Abenden, wenn Kazia keinen Männerbesuch hatte, saßen wir am Tisch und sie erzählte mir von ihrer elenden Kindheit und Jugend. Ihre Mutter war Alkoholikerin und Prostituierte; sie hatte Syphilis gehabt und war in einer Irrenanstalt gestorben. Nach Kazia hatte sie zwei Kinder tot geboren. Kazia hat nie erfahren, wer ihr Vater war. Es gab Augenblicke, in denen ich all das hörte und spürte, dass ihr Leben unendlich viel trauriger war als meines. Wenigstens hatte ich ein paar sonnige Erinnerungen, an die ich in den schlimmsten Zeiten zurückdenken konnte, und einen schwachen Funken Hoffnung, dass vielleicht etwas Besseres vor mir lag. Sie hatte beides nicht. Ich hatte keine Angst, ihr von meinem Leben vor dem Krieg zu erzählen, von Mama und dir und von meiner Schwester – ich wusste, dass sie mich nicht verraten würde. Es war immer unbegreiflich für mich, dass sie mich unterbrach, wenn sie von meinem Leben hörte, und rief: „Du armes kleines Ding!“ – als wollte sie sagen: „Du hattest so viel Gutes und hast es verloren. Ich habe nichts so Wertvolles zu verlieren gehabt, deshalb tut es mir für dich viel mehr leid als für mich.“ * Erinnerst du dich, Papa, an die Beschreibung des Hauses, das ich mit Kazia als Erstes betrat, nachdem sie mich halb erfroren und teilnahmslos gefunden hatte? Es hatte eine Marmortreppe mit einem prachtvollen Geländer, die zu den Wohnungen im Vorderhaus führte, deren Fenster
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auf die Straße gingen. Das waren sehr elegante Wohnungen, die jetzt ausschließlich von ukrainischen Familien belegt waren, nachdem die Vorkriegsbesitzer– teils Polen, teils Juden – vertrieben worden waren: die Ersteren gewaltsam durch Zwangsräumung, die Letzteren ins Ghetto abgeführt und dann in Vernichtungslagern umgebracht. Kazia warnte mich, ich solle mich in Acht nehmen vor den Leuten, die dort wohnten; sie seien niederträchtig und duldeten sie nur deshalb im Hinterhaus, weil sie wussten, dass sie deutsche Soldaten dorthin mitbrachte. Ich sollte immer sehr genau aufpassen, mich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen – vor allem, wenn ich das gestohlene deutsche Bier dabei hatte, das ich verkaufen sollte. Wenn ich mich recht erinnere, ging der Winter zu Ende, aber es war noch nicht Frühling geworden. Bis dahin hatte ich einige Wochen bei Kazia verbracht. Verglichen mit meinem obdachlosen Leben auf der Straße, bevor sie mich zu sich nahm, war es eine fast idyllische, friedliche Zeit. Die tägliche Routine, die ihre Lebensweise auch für mich mit sich brachte, drängte die Angst, gefasst und umgebracht zu werden, in den Hintergrund. Eines Tages kam ich zurück, nachdem ich ein paar Flaschen Bier an Kazias Kunden ausgetragen hatte. Mit der leeren Tasche in der Hand stieg ich ohne Eile die enge Wendeltreppe hinauf, als ich plötzlich von einem dicken jungen Mann angepöbelt wurde, der mir abwärts entgegenkam. Ich versuchte, an ihm vorbeizukommen und meinen Weg nach oben fortzusetzen, aber er schlug mich mit der Faust und ich fiel auf die Stufen. Er fing an mich zu treten, in den Bauch, die Brust und die Beine, und mit der Faust schlug er auf meinen Kopf ein, ins Gesicht und ins Genick. Die Tritte und Schläge waren nicht sehr hart, aber sie waren absichtsvoll und sollten mich verletzen. Während er mich schlug, redete
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er mit einer schrillen Stimme auf mich ein: Er wisse, dass ich eine Jüdin sei und mich irgendwo hier im Haus versteckt halte. Er verlangte, dass ich ihm sagte, wo, und als ich nicht antwortete, kam sein fettes Gesicht näher und er bespuckte mich. Im Reflex, mich vor Schlägen in mein Gesicht und auf den Kopf zu schützen, rollte ich mich zusammen wie ein Igel und verbarg mein Gesicht und meinen Kopf nah an meinem Körper. Ich sagte kein Wort und konnte mir nur zwei Möglichkeiten denken, wie mein plötzliches Unheil endete: Ich würde sterben oder er würde weggehen. Nachdem er sein sadistisches Gelüst befriedigt hatte – sadistisch, weil er nicht hoffen konnte, Reichtümer bei mir zu finden –, hörte er plötzlich auf, mich zu schlagen und sagte auf Ukrainisch, er gehe jetzt, aber wenn er mich morgen noch einmal auf dieser Treppe finde, bringe er mich um. Was für ein Dummkopf, dachte ich. Warum sollte ich morgen noch hier sein? Ich wusste, wie man weglief und sich vor Leuten wie ihm versteckte! Aber ich konnte mich nicht bewegen, der Schmerz im ganzen Körper hielt mich mit eisernem Griff am Boden. Ich blieb liegen, unfähig mich zu rühren und in Erwartung des Schlimmsten, als ich jemanden die Treppe heraufkommen hörte. Ich war sicher, dass er es wieder war, aber noch immer konnte ich mich nicht bewegen! Wenige Augenblicke später sah ich Kazia näherkommen. Mit einem einzigen erfahrenen Blick begriff sie sofort, was passiert war. Sie hob mich auf, beschwor mich, nicht zu weinen, und trug mich in ihre Wohnung. Während sie mich wusch und mir das Blut von den Beinen wischte, sagte sie mir, sie würde mich am Abend zu einer Frau bringen, die sie kannte und die wiederum einen Mann kannte, der mir helfen könnte. Und das tat sie auch. Die zwei Frauen, Kazia und ihre Freundin, warteten mit mir zusammen in der Wohnung
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der Freundin, bis am nächsten Morgen ein Mann dort auftauchte. Er trug graue Hosen, die in hohen Stiefeln steckten, und hatte eine flache Mütze auf dem Kopf. Sie waren alle einig, dass er mich sofort in ein Versteck bringen sollte. Kazia drückte meine Hand und sagte: „Gib nicht auf und bleib gesund.“ Ich sah ein paar stumme Tränen ihre Backen hinunterrollen – sie verlor gerade das bisschen Ahnung einer Familie, die sie nie gehabt hatte. Nach diesem kurzen Abschied nahm der Mann mich mit. Später habe ich erfahren, dass Kazia den Krieg überlebte. Als wir auf der Rückreise von Russland in Lwów haltmachten, gingen wir beide, du und ich, zu dem Haus, in dem ich bei ihr gelebt hatte. Die Nachbarn sagten uns, sie sei weggezogen in eine andere Stadt. * Wegen meiner Blutergüsse und schmerzenden Glieder konnte ich nicht sehr schnell und auch nicht lange gehen, deshalb setzten wir uns immer wieder auf eine Bank an der Straße und ruhten aus. Der Mann fragte, wie ich heiße, und ich antwortete ihm „Helenka“. Dann sagte er mir, er würde mich in ein Waisenhaus bringen, das von Nonnen geführt werde. Darauf erklärte ich ihm, dass er unnötig seine Zeit verschwende, weil ich kein Geld und keine Familie hätte, um die Nonnen zu bezahlen – und, vor allem, weil ich keine Nonne werden wolle, wenn ich erwachsen sei. Deshalb würden mich die Nonnen nicht nehmen. Ich wisse das, weil ich es schon einmal probiert hätte und sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen hätten. Als ich fertig war, lächelte er und sagte, er habe von solchen Nonnen gehört, aber er kenne viel bessere. Jetzt lächelte ich und sagte: „Wir werden ja sehen, wer recht behält.“ Glücklicherweise habe ich mich getäuscht. Wir gelangten schließlich an den Stadtrand, wo kleine-
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re Häuser standen mit großen Gärten und Bäumen dazwischen. Die Bäume waren zu dieser Jahreszeit kahl, und durch das verschlungene feine Geflecht ihrer Zweige konnte ich den Himmel sehen. Bald betraten wir einen dieser Gärten, den ringsum ein Lattenzaun umgab. Am Ende des Wegs stand ein ziemlich großes zweistöckiges Gebäude, das hellgrau gestrichen war. Der Mann klopfte an die Tür und fragte die Nonne, die die Tür öffnete, nach der Mutter Oberin. Als wir in ihr Büro traten, stand sie hinter ihrem Schreibtisch auf und begrüßte den Mann mit Vornamen; sie kannte ihn offenbar gut. Sie wechselten ein paar Worte, dann sagte er: „Ich möchte dieses kleine Mädchen hier bei euch lassen, sie hat keinen Platz, wo sie bleiben kann.“ Die Mutter Oberin nickte nur leicht mit dem Kopf in einer zustimmenden Geste. Er ließ meine Hand los, verbeugte sich tief und ging. Diese kurze Begegnung zwischen dem Mann und der Nonne wirkte auf mich fast wie eine einstudierte Theaterszene, bei der ich eine stumme Rolle hatte. Als der Mann gegangen war, fragte mich die Mutter Oberin nach meinem Namen und wies mir einen Stuhl an, auf dem ich warten sollte; sie komme gleich zurück. Sie kam wieder in Begleitung einer Schwester, Schwester Stanislava, die mich in einen großen Raum mit mehreren langen, schmalen Tischen führte, hinter denen reihenweise Mädchen saßen. Sie stellte mich dieser Mädchenschar mit Namen vor und verkündete, ich würde jetzt auf Dauer hier bleiben. Dann bestimmte sie ein viel älteres Mädchen, Marianna, als meine Mentorin, die mir alles beibringen sollte, was ich über das Leben im Waisenhaus wissen musste. Das Waisenhaus wurde vom Orden der Schwestern der Muttergottes von der Barmherzigkeit geführt. Abgesehen von den Gesichtern und Händen, den einzigen Stellen, an denen die Haut der Nonnen zu sehen war, waren ihre Kör-
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per völlig unter einem schwarzen, bodenlangen Habit versteckt, einer Art Kleid, wie es wahrscheinlich die Frauen im Mittelalter trugen. Ich fand den Habit sehr schön, aber in seiner besonderen Schlichtheit schwer zu beschreiben. Es war ein locker fallendes schwarzes Kleid mit weiten Ärmeln und tiefen Taschen auf jeder Seite. Gesicht und Hals jeder Nonne waren von steifem, kräftig gestärktem weißen Stoff eingerahmt; er bildete einen viereckigen Schild, der ungefähr fünf Zentimeter über die Stirn ragte und das Gesicht wie ein vorspringendes Dach beschattete. Ein schwarzer Schleier war an der Kopfbedeckung befestigt und floss in einer üppigen Kaskade aus leichterem Stoff hinunter bis unter die Taille, so dass er sich in einer anmutigen Welle bewegte, wenn die Nonnen mit schnellerem Schritt gingen. Die Nonnen trugen einen Silberring am Finger als Symbol dafür, dass sie ihrem Glauben angetraut waren, und große, einfache Holzkreuze von ungefähr acht Zentimetern Länge hingen an dicken Silberketten um ihren Hals. Vier Schwestern hatten unmittelbar mit dem Betrieb des Waisenhauses und der Betreuung der Mädchen zu tun. Die Mutter Oberin war die geistliche Leiterin und schlichtende Instanz, wenn Meinungsverschiedenheiten und Streitereien unter den Mädchen geklärt werden mussten. Sie war eine ältere Frau mit faltigem Gesicht und einer Brille. Die zweitwichtigste Position hatte Schwester Stanislava inne. Sie war die organisatorische Leiterin unserer Arbeit, versorgte uns mit Material und fungierte auch als Vermittlerin zwischen den übrigen Nonnen und der Mutter Oberin. Sie war groß, kräftig und energisch und bewegte sich auf eine sehr männliche Art mit großen Schritten. Sie war bei allen Mädchen beliebt für ihre sachlichen und gerechten Entscheidungen. Ihr genaues Gegenteil war Schwester Katarzyna, klein, mit einem hübschen Gesicht, großen blauen Augen und einer
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kindlichen Stimme. Sie war unsere Katechismus-Lehrerin und unterrichtete uns in der katholischen Lehre. Die vierte Nonne war Schwester Veronika, vor der mich meine Mentorin Marianna warnte und mir riet, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen, weil sie eine „gemeine alte Frau“ sei. Es gab noch andere Nonnen, die das Haus und die Kapelle sauber hielten, in der Küche arbeiteten, in der Wäscherei oder in dem großen Garten hinter dem Kloster, wo das eigene Gemüse angebaut wurde. An diesem ersten Tag lernte ich auch, dass, mich eingeschlossen, sechsunddreißig Mädchen unterschiedlichen Alters in dem Waisenhaus lebten, von denen ich die jüngste war. Man zeigte mir zwei Räume, einen mit vierundzwanzig Metallbetten, wo ich schlafen würde, und einen anderen, in dem die zwölf älteren Mädchen ihre Betten hatten. Wir gingen mit Schwester Stanislava zu einem Lagerraum, wo eine Uniform und Unterwäsche für mich ausgesucht wurde – viel zu groß, aber die kleinste Größe, die es gab. Als ich mich umzog, bemerkte die Nonne die Blutergüsse und Kratzer auf meinem Körper und sagte, ich hätte zwei Tage, um mich auszuruhen, bevor man mir zeigen würde, welche Art von Arbeit ich machen sollte. Das war mein erster Tag im Waisenhaus, das nach allem, was ich wusste, für immer mein Zuhause sein würde. Während der Monate, die ich im Waisenhaus verbrachte, musste ich schnell neue Erfahrungen und Gewohnheiten annehmen und mich an neue Regeln gewöhnen. Ich ging wie alle anderen ungefähr um zehn Uhr abends schlafen im großen Schlafsaal mit den 24 Betten, nachdem wir gemeinsam ein Gebet gesprochen hatten. In meiner ersten Nacht dort wurde mein Körper von Wanzen heimgesucht – runde, rotbraune Parasiten, die ich am Morgen entdeckte; sie krabbelten überall auf mir und waren dick geschwollen von meinem Blut. Das erklärte das fürchterliche Jucken, das mich
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die ganze Nacht über gequält hatte. Die Mädchen rieten mir, die vier Bettpfosten in vier Schüsseln mit Essigwasser zu stellen, dann würden die Wanzen, die versuchten, an den Beinen meines Betts hinaufzukrabbeln, in diesen Schüsseln ertrinken. Und tatsächlich fiel mir jetzt auf, dass alle anderen Betten solche Vorkehrungen hatten. Meine Zimmerkameradinnen rieten mir auch, ein Laken über mir aufzuspannen wie einen Baldachin und es an den vier Metallpfosten des Betts festzubinden. Die Wanzen seien nämlich sehr klug und würden, wenn ihr Versuch, das Bett zu erreichen, an der Essigwasserbarriere scheiterte, an den Zimmerwänden hinaufklettern und sich von oben auf unsere warmen Körper herunterfallen lassen. Um fünf Uhr morgens verkündete eine Schwester mit einer Handglocke aus Metall die Weckzeit. Wir wuschen uns Gesicht und Hände in kleinen Metallschüsseln mit sogenannter Wäscheseife. Sie war gelb, hart wie ein Ziegelstein, etwas ölig, roch nicht gut und gab auch nie Schaum. Unsere Zähne putzten wir mit dem Zeigefinger. Ich muss dir sagen, dass das schon einen Fortschritt in meiner Körperpflege bedeutete, weil ich seit meiner Flucht aus dem Ghetto-Spital meine Zähne nicht geputzt hatte; ich hatte nie eine Zahnbürste. Außer der dürftigen Wäsche gab es einmal in der Woche, am Samstag, wenn wir nur bis zum Mittag arbeiteten, ein Bad für den ganzen Körper. Wir begannen den Tag mit einem Morgengebet in der Kapelle, bei dem die Litanei der Heiligen gesprochen wurde. Frühstück gab es im gleichen Raum, in dem wir dann, nachdem wir die Tische gesäubert hatten, arbeiteten. Es bestand aus Kascha16, auf der ein paar Öltropfen schwammen, einem Stück dunklen Brots und Wasser. Wir konnten um eine zwei16 Buchweizenbrei.
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te Portion bitten. Sonntags gab es statt des Wassers eine Tasse heiße Milch. Die Nonnen hatten zwei Kühe, die sie täglich molken. Die Milch verkauften sie auf dem Schwarzmarkt. Nach dem Frühstück arbeiteten wir alle. Die älteren Mädchen nähten Weißzeug, Kopfkissenbezüge, Schürzen und andere Haushaltsartikel, die die Nonnen für Geld verkauften oder gegen Essen eintauschten, meist für Mehl oder Fleisch. Die jüngeren Mädchen, zu denen ich gehörte, machten Knöpfe für die Bettwäsche, die im Kloster hergestellt wurde. Ich lernte sehr schnell, wie man diese Knöpfe machte, und konnte in kurzer Zeit an einem Arbeitstag zwei oder drei Dutzend von ihnen herstellen – je nach Größe. Die Knöpfe waren aus dickem weißen Garn gemacht, das auf kunstvolle Weise um einen flachen Metallring gewoben wurde. Ich habe so viele von ihnen angefertigt, dass ich sie sicher selbst jetzt noch mühelos nacharbeiten könnte. Tatsächlich habe ich heute Abend, sechzig Jahre später, einen solchen Knopf hergestellt. Nach einer Pause von einer Stunde gab es Mittagessen, immer Gemüse- oder Kartoffelsuppe und Brot. Dann wurde die Arbeit wieder fortgesetzt bis ungefähr acht Uhr abends, wenn es Abendessen gab – gewöhnlich ein Schmalzbrot mit Zwiebelringen. Sonntags gab es zusätzlich zwei Löffel Rührei in unserem Menü. Wie du siehst, waren das Kloster und das Waisenhaus autark; ein gut organisierter Betrieb mit vielen klugen Aktivitäten der Nonnen, die es ihnen erlaubten, zu überleben und die Waisen in ihrer Obhut zu versorgen. Sie hatten nur wenig Unterstützung von den Kirchenoberen. Draußen an der frischen Luft waren wir nur, wenn wir abwechslungsweise im Gemüsegarten halfen oder beim Ausmisten des Kuh- oder Hühnerstalls. Samstagnachmittags und sonntagmorgens kam ein Priester, um die Beichte abzunehmen. Alle Mädchen wa-
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ren verpflichtet, zu beichten, weil wir alle am Mittag an der Sonntagsmesse und der heiligen Kommunion teilzunehmen hatten. Wie du dich erinnerst, war meine erste Begegnung mit diesem Ritual in der St.-Bernhards-Kathedrale, als ich erfolgreich den deutschen Polizisten entkam. Jetzt wiederholte ich es jeden Sonntag. Die Kommunion war einfach. Ich musste nur diesen symbolischen Körper und das Blut jenes Gottes schlucken, den die Nonnen verehrten, dem ich mich aber in keiner Weise verpflichtet fühlte, weil ich nicht sehen konnte, wo dieser Gott in meinem Leben eine Rolle spielen sollte. Alle Lehren über diesen Gott und die Grundsätze der katholischen Religion wurden uns von der hübschen Schwester Katarzyna nahegebracht. Sie wiederholte wieder und wieder, dass wir alles Leiden, alle Schmerzen und Trauer als heiligen und verborgenen Plan annehmen sollten, den dieser Gott für uns alle hatte. Aber selbst ein kleines Mädchen ohne Bildung wie ich konnte die Grausamkeit, die ich im Ghetto erlebt hatte, nicht entschuldigen – den Verlust von Mama und Janka, mein Exil in kalter Einsamkeit und Hunger – oder gar eine Verbindung herstellen von solchen Erfahrungen zu einem verborgenen und heiligen Plan dieses Gottes. Ich befolgte alle Regeln und Rituale, aber ich glaubte nicht daran. Während die Kommunion eine leichte Aufgabe war, hatte ich aber ein Problem mit der Beichte: Mir fielen keine Sünden ein, die ich begangen hätte. Ich fragte meine Mentorin Marianna, was ich denn dem Priester sagen sollte, der in der hölzernen Kabine des Beichtstuhls versteckt war. Sie gab mir ein paar gute Ratschläge und Beispiele von „Sünden“, die ich wiederholt bekannte, Banalitäten, die mich nie beschäftigt haben – auch unbeschadet dessen, dass das Lügen selbst eine Sünde war. Ich beichtete zum Beispiel: „Ich habe ein Gebet nicht zu Ende gebracht“, „während der Messe
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habe ich mir ein Prinzessinnenkleid vorgestellt, das ich gern tragen würde“, „ich war eifersüchtig auf ein Mädchen, das hübscher war als ich“. Findest du nicht, Papa, dass all das, aus der zeitlichen Distanz betrachtet, auf eine schräge Weise absurd und zum Lachen ist? Alles in allem aber war ich den Nonnen dankbar für das Leben im Waisenhaus. Ich hatte es warm, war nicht hungrig und hatte ein Dach über meinem Kopf. Ich wurde behandelt wie alle anderen Mädchen, und vor allem war ich nicht mehr auf der Flucht und musste mich nicht verstecken. Es ist auch bemerkenswert, dass ich nie gesehen oder erlebt habe, dass je eines der Mädchen wegen schlechten Benehmens in irgendeiner Weise körperlich gestraft worden wäre. Der Ordensname, Schwestern von der Heiligen Mutter der Barmherzigkeit, war in meinen Augen gerechtfertigt. Ich erfuhr, dass die Mutter Oberin, abgesehen davon, dass sie sechsunddreißig Waisen Schutz bot, noch drei weitere jüdische Mädchen im Kloster versteckte. Ein weiterer Beweis dafür, wie bedingungslos sie sich der Barmherzigkeit verschrieben hatte, war ein „Mädchen“, das, als ich ins Kloster kam, zweiunddreißig Jahre alt war. Blind von Geburt an, hatte man sie als kleines Kind vor der Tür des Klosters ausgesetzt. Als sie größer wurde, stellte sich heraus, dass sie auch geistig zurückgeblieben war. Sie lebte bei den Nonnen, die sie versorgten, und wir alle lernten, ihr bei ihren täglichen Verrichtungen zu helfen. Aber eine Begebenheit zeigte mir, dass trotz ihres Bekenntnisses zum Glauben und zur Berufung nicht alle Nonnen gleich geschaffen waren. Schwester Veronika, die unsere Arbeit beaufsichtigte und die man mir am ersten Tag als ‚gemeine alte Frau‘ beschrieben hatte, eröffnete uns allen eines Abends nach der Arbeit, es seien aus einem Lagerraum Kleider gestohlen worden.
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Wer immer das getan habe, verlangte sie, solle es gestehen, bevor wir zu Bett gingen. Niemand rührte sich. Wir saßen da und sahen einander nicht an. Sie wurde ärgerlich und schrie, sie wisse einen Weg, die Wahrheit und den Dieb herauszufinden. Sie ließ uns alle an die Tische sitzen, dann stellte sie Gläser voll Wasser und Strohhalme in gleicher Länge vor uns hin. Sie befahl uns, die Strohhalme ins Wasser zu stecken und das andere Ende in den Mund zu nehmen; als wir das getan hatten, schaltete sie das Licht aus, und in völliger Dunkelheit sagte sie mit bedrohlicher Stimme, wer immer den Diebstahl begangen habe, werde überführt werden. Der Teufel werde den Strohhalm der Schuldigen schnell wachsen lassen. Diese makabre und furchterregende Szene dauerte ein paar Minuten, danach schaltete sie das Licht wieder an und ging von Mädchen zu Mädchen, um die Länge der Halme zu kontrollieren. Ich muss zugeben, ich glaubte nicht an Gott, aber von der Nichtexistenz des Teufels war ich nicht so überzeugt. Ich zögerte einen Moment und überlegte, ob ich nicht ein Stück von meinem Strohhalm abbeißen sollte, falls „er“, der Teufel, ihn in meinem Glas hätte wachsen lassen. Ich habe es nicht getan, aber ein mageres, ängstliches Mädchen tat es. Sie wurde von Schwester Veronika mit zwei Tagen Fasten und Einsamkeit in einer dunklen Zelle bestraft, aus der man durch die Wände ihr schwaches Schluchzen hörte. Ein paar Tage nachdem diese Nonne ihre Exerzitien in sadistischer Psychologie und Justiz betrieben hatte, wurde entdeckt, dass eine Nonne, die in der Küche arbeitete, die Kleider genommen hatte. Schwester Veronika hat sich nie bei dem schmächtigen Mädchen entschuldigt oder sie getröstet. Sie ermahnte sie lediglich, nicht auf den Rat des Teufels zu hören. Diese „Strohhalm-Geschichte“ hat mir enthüllt, dass sich hinter heiligen Gewohnheiten sehr hässliche Seelen verbergen können.
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Abb. 11: Ein Knopf, wie wir ihn bei den Schwestern des Ordens der Heiligen Mutter der Barmherzigkeit anfertigten.
* Wie ich dir schon gesagt habe, waren die Mutter Oberin und Schwester Stanislava die einzigen, die wussten, warum ich in diesem Waisenhaus war. Weil ihnen mein Wohlverhalten auffiel und sie bemerkten, wie ich alle Regeln, mitsamt den religiösen, befolgte, schlugen sie mir wiederholt vor, mich taufen zu lassen. Dies wäre die eigentliche Rettung nicht nur meines Körpers, sondern auch meiner Seele. Getauft zu sein, erklärten sie mir, bedeute, dass ich, wenn ich sterben werde, in den Himmel aufgenommen würde und ewig mit ihrem Gott verbunden wäre. Aus Gründen, die ich dir bereits geschildert habe, mochte ich ihren Gott nicht und wollte die Ewigkeit nicht in seiner Gesellschaft verbringen. Man muss es ihnen hoch anrechnen, dass sie mich nie zu diesem Akt gezwungen haben – und mir, dass ich nie eingewilligt habe. Ich muss zugeben, dass ich noch immer großen Respekt habe vor dem kleinen Mädchen, das „ich“ damals war.
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* Das Kloster lag am nordwestlichen Stadtrand. Vom Osten her war einige Tage lang der Lärm von Kanonen und Geschützfeuer zu hören. In der gleichen Richtung war der Himmel vom Feuer rot gefärbt. Unter den Nonnen herrschte eine fühlbare Angst, die an Panik grenzte und auch die sechsunddreißig Waisen ansteckte. Dann hörten die Kriegsgeräusche auf. Es hieß, die Deutschen hätten sich rasch nach Westen zurückgezogen und die russische Armee habe die Stadt zurückerobert. Eines Tages versammelte die Mutter Oberin die jüdischen Mädchen in ihrem Büro und erzählte uns von der zerstörten Synagoge, wo wir unsere Namen angeben könnten, um unser Überleben anzuzeigen. Du kennst den Rest der Geschichte, außer, dass ich, als mich die Zahnärztin vorübergehend adoptierte, noch einmal zur Mutter Oberin zurückkehrte, um ihr zu sagen, dass ich ein neues Zuhause hatte. Sie und Schwester Stanislava segneten mich mit dem Kreuzzeichen und es war das einzige Mal, dass sie mir erlaubten, sie zu umarmen in stiller Dankbarkeit für ihre Güte, an die ich mich immer erinnern werde. Als ich mit dir in Russland lebte, haben wir zusammen einen langen Brief an die Mutter Oberin geschrieben, in dem wir unsere Dankbarkeit dafür zum Ausdruck brachten, dass sie und ihre Schwestern mir Schutz geboten hatten. Zu unserer freudigen Überraschung antwortete sie mit einem langen Brief, von dem mir ein Satz sehr gut in Erinnerung geblieben ist. Sie schrieb, wie glücklich sie sei, dass ich meinen „irdischen Vater“ gefunden hatte, und dass sie hoffe, dass ich eines Tages auch „den himmlischen“ finden möge. Ich weiß, dass ihre Wünsche für mich von Herzen kamen, aber ich wusste auch, dass der „irdische“ alles war, was ich wollte und brauchte.
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Der Krieg endete im Mai 1945. Als wir 1946 nach Polen zurückkehrten, hast du dich sehr darum bemüht, dass wir auf unserer Reise über die Stadt Lwów fahren konnten. Wir beide gingen und wollten die Nonnen besuchen, aber als wir dort ankamen, stand das Kloster leer. Die Schwestern des Ordens der Heiligen Mutter der Barmherzigkeit waren evakuiert und in den westlichen Teil Polens gebracht worden, wie alle anderen polnischen Bürger, die nicht in der nunmehr sowjetischen Republik Ukraine bleiben wollten. Ich weiß auch, dass du dem Waisenhaus an seinem neuen Ort über lange Jahre anonyme Spenden geschickt hast, und ich werde dir dafür immer dankbar sein. * Die lange Reise zu jener weit entfernten Stadt in Russland kam an einem kalten Winterabend zu ihrem Ende, als der Schaffner des Zugs durch die Korridore der Waggons ging und laut und wiederholt rief: Gorod Pensa! Stadt Pensa! Dank seiner Rufe war ausgeschlossen, dass jemand, der aussteigen musste, den Halt verpasste. Mein Herz schlug schon seit vielen Stunden in der Erwartung dieses Augenblicks, und jetzt wollte es fast aus meinem mageren Brustkorb springen. Was, wenn das die falsche Stadt war? Was, wenn du vergessen hattest, zu kommen? Was, wenn das alles eine Täuschung war und ich am Ende wieder alleine auf dem Bahnsteig stünde, der Gnade von Fremden ausgeliefert? Diese Gedanken durchzuckten meinen Kopf schnell wie Blitze und laut wie Donnerschläge. Deine Botschafterin, die Krankenschwester, nahm mich bei der Hand, wir stiegen aus und standen auf einem überfüllten Bahnsteig. Menschen in dicken Mänteln und Pelzmützen schoben und drängten sich mit lautem Reden, wobei um ihre Münder kleine weiße Wölkchen entstanden, wenn der warme Atem aus ihren
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Lungen strömte und in der eiskalten Luft kondensierte. Und da warst du, Papa, auf die gleiche Art gekleidet, und deine eingefallenen Wangen waren unrasiert und mit kurzen silbernen Stoppeln bedeckt. Du ranntest auf mich zu und nahmst mich vom Bahnsteig hoch, wie man ein Baby aufnimmt. Ich war ein großes Mädchen geworden, aber als du mich fest im Arm hieltest, baumelten meine Füße an deinen Knien. Trotz der eisigen Kälte um uns meinte ich, die Wärme der Decke zu fühlen, mit der du mich vor so vielen Jahren immer zum Einschlafen zudecktest. In diesem Moment wusste ich, dass ich wieder ein Kind sein durfte. Papa, Jahre später, nachdem ich nach Amerika gezogen war, wünschte ich mir, ich hätte dich auf die gleiche Weise begrüßen können. Aber du fühltest dich zu alt, um dein bisheriges Leben gegen ein neues zu tauschen, und hast dich entschieden, in Polen zurückzubleiben. Du bist mit sechsundsiebzig Jahren an Herzversagen gestorben, im Jahr 1974, dreißig Jahre nach dem Ende des Krieges. Ich danke dir, lieber Papa, für deinen Empfang voller Liebe auf dem Bahnhof und für die vielen Jahre, in denen du mich verwöhnt und mir Besonderes ermöglicht hast in deinem nicht endenden Bestreben, meine elende Vergangenheit auszulöschen und mich dafür zu entschädigen. Auf immer dein kleines Mädchen, Helunia
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ls ich den letzten der drei Briefe zu Ende brachte, die an die ersten zwölf Jahre meines Lebens und die Ereignisse erinnern, die es bestimmten, drängten sich mir viele Gedanken auf. Sie waren nicht neu. Ich hatte sie mein Erwachsenenleben hindurch endlose Male aufs Neue durchdacht, stets ergänzt durch erworbenes Wissen über Geschichte, Psychologie, Philosophie und durch wachsende Lebenserfahrung. Es wäre mir kaum möglich, sie ohne emotionale Beteiligung darzustellen, zusammenzufassen und zu ordnen; so habe ich beschlossen, diese Gedanken auf ein paar numerische Fakten zu reduzieren. Das Folgende ist meine private, sehr persönliche Statistik: - Am Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Polen beinahe 32 Millionen Einwohner. - Es war über mindestens sechshundert Jahre das Land meiner Vorfahren. - Zur Zeit der deutschen Invasion lebten dreiunddreißig Mitglieder meiner unmittelbaren und größeren Familie in Polen. - Von diesen dreiunddreißig hat nur eine bis heute überlebt, nämlich ich. - Abgesehen von meiner Mutter, meiner Schwester Janka und der entfernten Cousine meiner Mutter haben sich fünf Menschen aktiv eingesetzt, um mein Leben zu retten: Tante Jadwiga, die polnische Krankenschwester; Kazia – eigentlich Kazimiera –, die polnische Prostituierte; die Mutter Oberin der Schwestern der Heiligen Muttergottes der Barmherzigkeit, eine polnische Nonne;
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Dr. Litvak, der jüdische Direktor des Krankenhauses im jüdischen Ghetto von Lwów; und ein namenloser Angehöriger der Gestapo, ein Deutscher. - Diese aktiven Taten der Barmherzigkeit erstreckten sich jeweils über einen Zeitraum von wenigen Sekunden bis zu mehreren Wochen. - Von meinen oben aufgeführten Rettern haben alle drei Mitglieder der polnischen Gesellschaft den Krieg überlebt. - Das Schicksal des Gestapo-Manns ist mir unbekannt, aber es besteht die Möglichkeit, dass auch er den Krieg überlebt hat. - Der jüdische Arzt kam im Vernichtungslager Belzec um. Dies ist die knappste und genaueste Einschätzung, die ich von diesen schändlichen Zeiten geben kann. – Kurz, aber aufschlussreich. * Mit gebührender Demut und etwas Stolz habe ich nicht nur das Überleben meines Körpers bejaht, sondern auch das Überleben meines Geistes gefeiert, so oft ich konnte. Auf einer Reise durch Kalifornien im Juni 1987 habe ich dieses Gedicht geschrieben: Flowers, colors and flowers, Blossoms on a velvet of grass Covering the planet. The wind’s aroma, Excitement of the unknown … Red, yellow and sunset, The vapors of flowers in the sky – A rainbow over the planet! Hands reaching for flowers,
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Hands reaching for rainbow … Don’t touch! Let it be! Fragile fragrance of colors, Trembling to last forever. In my eyes: red, yellow, Sunset and … night. In the morning – anew Excitement, Aroma, Unknown … And the velvet of grass that is pregnant With rainbows of flowers again. Galactic perpetuum mobile! Don’t touch! Let it be! Viva the planet! Surviving in chaos! Trembling to last forever. For reasons obscure to my mind, I welcome this tremor of life.
Blumen, Farben und Blumen, Knospen über Samt aus Gras Bedecken den Planeten. Der Geruch des Winds Der Reiz des Unbekannten … Rot, gelb und Sonnenuntergang, Der Dunst von Blumen am Himmel – Ein Regenbogen über dem Planeten! Hände sich reckend nach Blumen Hände sich reckend nach dem Regenbogen …
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Nicht berühren! Lass es sein! Zerbrechlicher Duft der Farben, Zitternd, auf ewig zu überdauern. In meinen Augen: rot, gelb, Sonnenuntergang und … Nacht. Am Morgen – aufs Neue Reiz Geruch Unbekanntes … Und wieder Samt aus Gras, befruchtet Von Regenbogen aus Blumen. Galaktisches Perpetuum mobile! Nicht berühren! Lass es sein! Es lebe der Planet! Überlebend im Chaos! Zitternd, auf ewig zu überdauern. Aus Gründen, die mir dunkel bleiben, begrüße ich dieses Beben des Lebens.
Brief an meine Stiefmutter
Liebe Olik, das erste Mal, dass ich dich gesehen habe, war in der Nacht, in der Papa mich vom Bahnhof mit einem Lastwagen seines Militärhospitals in das zweistöckige, L-förmige Haus brachte, in dem du mit ihm lebtest. Nachdem wir die hohe Treppe hinaufgestiegen und durch einen langen Flur gegangen waren, betraten wir einen Raum, der so vollgestopft mit Möbeln war, dass man darin kaum noch Platz fand. „Das ist Olga Alexandrowna“, sagte Papa zu mir. Ich hatte immer eine Neigung, Kosenamen für die Menschen zu erfinden, die mir nahe waren, so als wollte ich damit sagen, dass sie mir gehörten oder – richtiger – dass wir zueinander gehörten. So war „Olik“ also der Name, den ich für dich erfand. Das geschah aber erst einige Zeit später – genau genommen erst lange nach unserer ersten Begegnung. Mit dieser Winternacht, in der ich auf dem Bahnhof von Pensa, tief im Innern Russlands, meinen Vater wiederfand, begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Darin spielten wir beide, du und ich, liebe Olga, eine wichtige Rolle, wie in einem Drama auf dem Theater; beide mussten wir wechselseitig einen Weg zum Vertrauen entdecken und den schmalen, unsicheren Pfad zu einer tiefen Verbindung finden. Unsere Gefühle wurden in ihrer Verletzlichkeit hart auf die Probe gestellt, als wir mühsam die steinige Straße unseres Zusammenlebens hinaufstiegen, aber schließlich wurden wir mit vierundzwanzig Jahren gegenseitiger Liebe und tiefer Freundschaft belohnt.
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Lass mich die Fakten vergegenwärtigen, die ich in diesem Winter 1944 erfahren habe: Dein Name war Olga Alexandrowna Archipowa. Den zweiten Namen erhielten erwachsene Frauen und Männer nach alter russischer Sitte nach dem Namen ihres Vaters. Als Erwachsene würde man mich Jelena (von Helena) Lwówna nennen (von meines Vaters Vornamen Lev, übersetzt vom polnischen Leon, was übrigens vom lateinischen leo kommt und „Löwe“ bedeutet). Du wurdest 1896 in die obere Schicht der russischen Gesellschaft geboren, die es vor der Revolution von 1917 gab. Deine Mutter gehörte zum Landadel und dein Vater war Arzt in der Armee des Zaren im hohen Rang eines Obersts. Er starb ein paar Jahre nach dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05, an dem er teilgenommen hatte. Ich bin sicher, du würdest dich freuen, wenn du wüsstest, dass ich in meinem Haus hier in Kalifornien einige schöne Andenken habe, die dein Vater aus dem Fernen Osten mitbrachte; inzwischen sind sie zu über hundert Jahre alten Antiquitäten geworden. Ja, deine Lenotschka hat sie aufgestellt, zusammen mit deinen alten russischen Ikonen, als greifbare Erinnerungen an dich – buchstäblich greifbar, denn wenn ich sie anfasse, treffen meine Hände auf die Abdrücke deiner Berührung. Deine Mutter starb in den frühen 1920ern, aber vor diesem Ereignis zogst du nach Moskau, der ehemaligen russischen Hauptstadt, wo du im Jahr 1915, mit neunzehn Jahren, deine höhere Ausbildung begannst. Du besuchtest die Moskauer Universität für Frauen, an der du Geschichte und Philosophie studiertest. Im vorrevolutionären Russland war das mit Sicherheit eine erstrebenswerte Ausbildung für ein junges Mädchen als Vorbereitung auf das Leben in der höheren Gesellschaft. Ich habe ein Studienbuch deines Instituts vor mir, in dem deine Fächer aufgelistet sind: die Geschichte Russlands vom 9. bis zum 19. Jahrhundert, antike Geschich-
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te Griechenlands und Roms, Philosophie, Logik, Russische Literatur, Französische Literatur und Französische Sprache. Du hast vier Semester lang Kurse besucht – 1915, 1916 und 1917, bis sich dein Leben durch den vulkanartigen Ausbruch der sozialistisch-proletarischen Revolution, wie sie genannt wurde, für immer veränderte. Der Brand der Gewalt verbreitete sich durch dieses ungeheuer große Land Eurasiens, angefacht durch Hunger und jahrhundertelange Ungerechtigkeiten, aber auch durch die Propaganda hochfliegender Versprechungen, jedem – wie das marxistisch-kommunistische Ideal verhieß – „nach seinen Bedürfnissen“ zu geben und von „jedem nach seinen Fähigkeiten“ zu fordern. Das hat sich nie erfüllt, und schließlich, nach fast einem dreiviertel Jahrhundert grausamer Diktatur, fiel alles auseinander und dein Mutterland tauchte in ein Chaos anderer Art. Ich schreibe von all diesen Umständen, liebe Olik, nicht weil ich ein Geschichtsbuch schreiben will – davon gibt es viele und viel bessere, als ich eines schreiben könnte. Ich will – wie ein Maler – einen Hintergrund entwerfen, um die Hauptsache der Komposition hervorzuheben, damit sich aus der Summe der Erfahrungen und Eindrücke ein Ganzes ergibt. * Hier also war ich: ein sehr junges Mädchen, damals ohne jede Ahnung von diesen Umbrüchen der Weltgeschichte, das mitsamt dem schweren Ballast meiner eigenen zwölfjährigen geistzerstörenden Geschichte in dein Leben trat. Eine Reisende mit einem Sack voll ganz anderer Erfahrungen und mit einem anderen Hintergrund. Du hast von Anfang an verstanden, dass die Annäherung unserer beider Welten nur in einem Prozess geschehen konnte, nicht durch einen plötzlichen, magischen Wechsel. Und so war es.
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* Bevor ich weiter in die Geschichte unseres gemeinsamen Lebens eintauche, will ich dir beschreiben, dass ich jetzt, an diesem ruhigen Abend, zwei Fotos von dir vor mir habe. Normalerweise stehen sie auf dem Bücherregal in meinem Schlafzimmer, neben den Bildern von Mama und Janka und von meinen Kindern und Enkeln. Aber gerade eben habe ich sie vor mir aufgestellt, um den Strom der Erinnerung und die Zuflüsse der Empfindungen zu befördern und alle Eindrücke und Gefühle, die mit dir zu tun haben und die mir wichtig sind, willkommen zu heißen. Es ist eine Novembernacht; draußen ist der Himmel mit schweren, tief hängenden Wolken überzogen, und sanfte Regentropfen fallen mit einem klickenden Geräusch auf die kräftigen Fächer der Palmblätter vor meinem Fenster – die paysage, wie die Franzosen sagen, könnte sich kaum stärker von der Winternacht unterscheiden, in der ich dir begegnet bin. So wie du mich aus deiner Fotografie anschaust, während ich den Regentropfen der Zeit lausche, bin ich einer schönen Frau gegenüber, wohl Mitte oder Ende zwanzig, mit einem vollkommen ebenmäßig geformten ovalen Gesicht, dunklem Haar und dunkelbraunen Augen, die von den Augenbrauen in feinem Bogen überwölbt sind. Sie trägt eine weiße Seidenbluse, ihre Schultern sind ins Profil gedreht, während ihr Blick sich auf mich richtet, en face, wie wiederum die Franzosen sagen würden. Die herzförmigen Lippen sind leicht geöffnet zu einem feinen halben Lächeln. Wenn ich an die Meister der russischen Literatur denke, die du, Olga, mir mit so glühender Leidenschaft nahegebracht hast, könnte diese Frau, die mir aus der sepiafarbenen Fotografie entgegensieht, eine Heldin aus einer ihrer Geschichten sein; aus Tschechows Stücken ebenso wie aus seinen oder Turgen-
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Abb. 12: Olga in ihren Zwanzigern oder frühen Dreißigern, Moskau, etwa 1930
jews Erzählungen; sie könnte Anna Karenina sein oder Tatjana in Puschkins Eugen Onegin. Aber das Schicksal hatte andere Pläne für sie. Selbst die Zigeunerfrauen meiner Kindheit mit ihrer großen Vorstellungskraft und Fantasie hätten ihre Zukunft nicht vorhersagen können. Das andere Foto, 1945 in Pensa aufgenommen, zeigt dich und mich. Du sitzt und ich stehe dicht bei dir. Inzwischen bist du neunundvierzig Jahre alt und ich bin dreizehn. Du bist noch immer schön, aber dein Haar ist silbergrau. Das Mädchen – das heißt, ich – hat einen lieben, aber ziemlich ernsten Gesichtsausdruck, fast wie erwachsen. Das Bild zeigt noch etwas, was niemandem auffallen würde, woran
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ich mich aber gut erinnere. An meinem Pullover ist eine schmale goldene Brosche befestigt, sie hat die Form einer Sicherheitsnadel mit einem erbsengroßen Stein aus grüner Jade in der Mitte. Das war ein Geschenk von dir – das erste Schmuckstück, das ich je besaß und das mir deshalb noch heute unvergesslich ist. Dieses Bild entstand in dem Jahr, das wir beide alleine zusammen verbrachten. Papa war mit seinem Armeespital hinter den vorrückenden Truppen nach Westen zur Front nachgezogen. In dieser Zeit begann unsere Verbindung sich zu entwickeln. Über die nächsten zwanzig Jahre wuchs sie zu einer Liebe, die ich weiterhin zärtlich pflege und in Ehren halte. * An diesem Abend, als Papa dich mir vorstellte, machte ich einen Knicks – auf Polnisch sagte man dyg –, so wie man es mir vor langer Zeit, vor dem Krieg, beigebracht hatte, wenn man einen Erwachsenen begrüßte. Viele solcher Sitten sind heute aus der Mode gekommen; ähnlich ist es auch ein Brauch von gestern, wenn ein Mann eine Frau mit einem Handkuss begrüßt. Diese Gewohnheit bestand aber noch mein ganzes Leben hindurch, bis ich Polen im Jahr 1968 verließ. Die Geste wurde begleitet von den Worten „Caluje raczki“, „Ich küsse Ihre kleinen Hände“, was sehr oft ein „Guten Morgen“, „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“ oder irgendeinen anderen Gruß eines Mannes gegenüber einer Frau ersetzte. Nachdem Papa dich mir vorgestellt hatte, sagte er: „Und das ist meine Tochter Helunia“, und er fügte hinzu: „Lenotschka“, auf Russisch. Ich glaube, du warst überrascht von meinem Knicks, weil er ein Anachronismus war und definitiv fehl am Platz im postrevolutionären Russland. Zugleich mit deiner Überraschung bemerkte ich ein warmes und einladendes Lächeln
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Abb. 13: Olga und ich, Pensa, Russland, 1944
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auf deinem Gesicht. So wurden wir miteinander bekannt gemacht. Ich war sehr müde; die lange Reise und die aufgestauten Gefühle verlangten schließlich ihren Preis. Ich weiß noch, dass ich ein Glas Milch bekam mit einem süßen, brotartigen Kuchen und dass Papa Worte zwischen dir und mir übersetzte. Ich weiß nicht mehr, wie lange dieser Abend im „Wachzustand“ dauerte, aber das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Bett lag und du mich mit einer Wolldecke zudecktest. Ich erinnere mich nicht an einen Traum in dieser ersten Nacht, aber die Wolldecke habe ich hier bei mir in Kalifornien. Du hast sie für mich gestrickt, während du auf meine Ankunft wartetest. Ich frage mich, was du in diesen Stunden wohl gedacht hast, während du stricktest. Heute weiß ich – aus Erfahrung und aus deinen Erzählungen –, dass deine Gedanken denen aller Mütter ähnelten, die ein Kind erwarten, das in ihr Leben kommen soll. Aber deine Erwartung der Mutterschaft war anders als die gewöhnliche, die sich seit Anbeginn der Zeiten nach biologischen Gesetzen wiederholt. Du wartetest auf ein Geschenk des Schicksals, das es bisher gut mit dir gemeint hatte. Dieses „Geschenk des Schicksals“ kam an der Türschwelle zu deinem Herzen in einem zwölf Jahre alten Paket an, in dem eine gehörige Portion Schwierigkeiten steckte. Du hast dieses Paket mit Geduld, Feingefühl und Liebe Schicht für Schicht ausgepackt, manchmal mit Tränen der Trauer, aber immer mit der Zuversicht und Entschlossenheit, ein für uns beide gedeihliches Ergebnis zu erlangen. Die ersten Tage mit dir vergingen mit den offensichtlich notwendigen Belangen des täglichen Bedarfs. Ich brauchte neue Kleider für den strengen Winter, und vor allem brauchte ich neue Schuhe, die sich für Temperaturen von minus 40 Grad eigneten. Durch deine speziellen Verbindungen hast du sie innerhalb weniger Tage für mich aufgetrieben,
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was in dieser Zeit in Russland keine einfache Aufgabe war. Die Schuhe, die ich bekam, hießen walenki. Sie waren hässlich, aber himmlisch für meine Füße. Walenki waren aus dickem, braunem Wollfilz, der in nassem Zustand über verschieden große fußähnliche Leisten modelliert und dann vom Knöchel bis zum Knie zu einer weiten Röhre verlängert wurde. Jeder trug sie, einschließlich der russischen Armee. Man brauchte keine Angst zu haben, dass sie nass werden könnten, denn der Schnee würde während des Winters niemals schmelzen. Er war so hart und trocken wie weißer Zement. Um Gehwege oder einen Fußweg zum Haus freizuräumen, brauchte man eine Spitzhacke wie die Bergleute. Mit diesen Stiefeln, die wie kleine Öfchen waren, und mit meinen warmen Kleidern fing ich an, diesen ungewöhnlichen Winter zu mögen. Wir kauften Lebensmittel auf kleinen Bauernmärkten ein, wo es die verschiedensten Dinge gab. Die umliegenden Dörfer waren alle sogenannte kolchosy – staatlich eingeführte „landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften“ –, aber jede Bauernfamilie durfte einen kleinen Acker und einen Garten um das Haus haben, eine Kuh und ein paar Hühner. Tatsächlich haben diese kleinen Privatunternehmen das ländliche Russland ernährt. Die staatlichen Lebensmittelläden waren fast immer leer, und wenn sie gelegentlich Lebensmittellieferungen erhielten, bildeten sich davor endlose Schlangen. Bis man endlich den Ladentisch erreicht hatte, war die Ware oft schon aus. Ich verbrachte die ganze Zeit mit dir. Ich schlief noch, wenn Papa zur Arbeit ging, und schon, wenn er wieder aus dem Militärhospital zurückkam. Manchmal kam er ganze Tage nicht nach Hause, gelegentlich auch eine Woche nicht. Dann war er mit einer Gruppe von Schwestern seines Spitals unterwegs, um kranke deutsche Soldaten zu versorgen, die in einem Kriegsgefangenenlager irgendwo tief im Wald zwi-
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schen Pensa und Kasan versteckt eingesperrt waren. Ich erinnere mich, dass du sagtest, nachdem du meine Geschichte gehört hattest, sie hätten es nicht besser verdient. In ein paar Wochen hatte ich inzwischen genug Russisch gelernt, um mich mit dir und den anderen Kindern, die im Haus lebten, zu verständigen. Du hattest keine Kinderbücher, also hast du mir die schönsten Stücke aus der russischen Literatur vorgelesen und mir auch beigebracht, sie selber zu lesen. Puschkins Märchen Ruslan und Ludmilla mochte ich am liebsten. * Als sich die täglichen Abläufe zwischen uns dreien eingespielt hatten, kam es mir eines Tages plötzlich ins Bewusstsein, dass wir alle, mich eingeschlossen, die Person vergessen hatten, die ich am meisten liebte, meine Mutter. Ich fühlte mich plötzlich schuldig, weil ich angefangen hatte, wieder glücklich zu sein. Ich wusste nicht, wem ich die Schuld geben sollte, Papa oder dir. Er war mein Vater, die Verbindung zur Vergangenheit; du warst eine Fremde. Es war einfacher, dir die Schuld zu geben. Jetzt, da ich wieder ein richtiges Kind war und gut versorgt, konnte ich die naheliegende Frage stellen: Wer ist diese Frau? Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und haben ihre eigene psychologische Logik der Argumentation. Ich nahm meinem Vater übel, was er getan hatte, und war nach außen feindselig gegen dich. Er war mein Vater, aber du warst eine Fremde, die es wagte, den Platz meiner Mama einzunehmen. Ich war alt genug zu verstehen, dass ihr als Mann und Frau zusammenlebtet, obwohl ihr nicht verheiratet wart und unterschiedliche Nachnamen trugt. Es gab Tage, an denen ich nicht mit dir gesprochen habe; ich habe deine Fragen nicht beantwortet, noch deinen
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Gruß und auch nicht deine Versuche, mir näherzukommen. Schweigend und widerstrebend befolgte ich die Regeln des Haushalts. Es muss herzzerreißend für dich gewesen sein, aber du hast nie die Geduld verloren, obwohl ich weiß, dass du heimlich vor Enttäuschung geweint hast. Es ist zu spät in meinem Leben und sinnlos, über Papa zu urteilen. Das Einzige, was ich jetzt in diesem Brief an dich, liebe Olik, sagen will, ist, dass durch dich, Olga Alexandrowna, durch deine Person, deine Liebe und deine Loyalität sein Vergehen einen Ausgleich fand. Mein Vergehen im Gegenzug war der Wunsch nach Ausschließlichkeit. Ich wollte seine ungeteilte Liebe. In meiner gierigen Sehnsucht gab es keinen Platz für ein Trio. Bestärkt durch mein verletztes Herz bemerkte ich in meinem kindlichen Egoismus nicht, dass du mir deine ungeteilte Liebe und Aufmerksamkeit anbotest und bereit warst, den Mangel an Gegenseitigkeit zu ertragen, weil du irgendwie daran glaubtest, dass sich das ändern würde. * Es gab drei Ereignisse in unserem Leben in Pensa, die neben deinem unbeirrten Bemühen, meinen Groll zu zähmen, dazu beitrugen, meine Seele zu beruhigen und das Tor für etwas Besseres zu öffnen. Ich erzähle dir von diesen Augenblicken nach ihrer Wichtigkeit für meine sich langsam erwärmenden Gefühle dir gegenüber. Das erste Ereignis fand an einem Sonntag statt. Papa arbeitete nicht und du hattest – dank deiner Verbindungen zu Leuten, die dich und deine Familie seit langem kannten – einen Pferdeschlitten organisiert, mit dem wir einen Tagesausflug machten. Es war kalt, aber der Himmel war türkisblau und die Sonne strahlte blendend hell. Nach ungefähr zwei Stunden kamen wir zu einem Ort von zauber-
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hafter Schönheit. Wir standen am Ufer eines großen Flusses, den wir gerade überquert hatten. Die Wasseroberfläche war noch immer dick mit Eis und Schnee bedeckt und die Sonne ließ das Eis in allen Regenbogenfarben glitzern. Auf beiden Seiten des Flusses zogen sich sanft geschwungene kleine Hügel hin, hier und da mit Gruppen von Kiefern bestanden. Im Kontrast zu dem strahlenden Weiß und dem glitzernden Funkeln wirkten die Bäume schwarz; nur wenn man näher kam, konnte man das Grün der Kiefernnadeln erkennen. Manchmal verwandelte sich die Straße in einen weiß kristallenen Tunnel, an dessen Seiten die Schneewände fast zwei Meter hoch aufragten. In diesem himmlisch-irdischen Zauber saß ich zwischen euch beiden und habe glücklich gelacht und geredet. Auf dem Heimweg, nicht weit von der Stadt, hörten wir plötzlich ein wiederholtes hohes Jaulen. Wir hielten an und gingen alle zu Fuß in Richtung des verzweifelten Belferns. In den Zweigen eines kleinen kahlen Buschs hatte sich ein kleiner weißer Welpe verfangen. Du, Olik, hast ihn aufgehoben und mir in den Arm gelegt. Es war ein magerer, zitternder schmutzig-weißer kleiner Ball mit schwarzen Augen und einer rosaroten Zunge. Es stand außer Zweifel, dass wir ihn mitnehmen würden, nicht aber, ob ich ihn behalten durfte. Mein Vater hatte viele Argumente dagegen; alle waren seinem Denken zufolge stichhaltig und gewichtig – nicht so für mich. In meinem verzweifelten Wunsch, dieses Hundebaby zu besitzen, drückte ich deine Hand, und du hast die Geste erwidert, was ein Zeichen eines geheimen Einverständnisses bedeutete. Bis dahin hattest du kein Wort gesagt, aber jetzt drehtest du dich mit einem Lächeln zu mir, zwinkertest mir zu und fingst an, Papa davon zu überzeugen, wie gut es für mich wäre, wenn ich diesen kleinen Hund haben könnte. Und wir haben gewonnen. In diesem Augenblick waren du
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und ich einander näher als je zuvor. Als wir nach Hause kamen, wusch ich ihn, fütterte ihn und nannte ihn Sneschok, Schneeball. Er schlief bei mir und wich mir nicht von der Seite, bis wir 1946 nach Polen zurückkehrten und ich ihn unter Tränen zurücklassen musste. Mein Freund, ein Junge, der im gleichen Haus lebte, freute sich, Sneschok zu erben, und versprach, gut für ihn zu sorgen. Ich hoffe, er hat es getan. Eines Tages fragtest du mich, ob ich schon einmal in einem Museum gewesen sei. Das war das zweite Ereignis. Nicht nur, dass ich noch nie ein Museum besucht hatte, ich wusste nicht einmal, was das war. Also gingst du mit mir am nächsten Tag in das einzige Museum, das es in Pensa gab. Das Gebäude hatte einen eindrucksvollen Vorbau und breite Stufen führten zu einem Eingang, der von Säulen gesäumt war. Es war das Palais eines Adligen im Ort, das konfisziert und verstaatlicht worden war, und seine privaten Kunstschätze waren jetzt der Bestand dieses Museums. Es herrschte eine Atmosphäre allgemeiner Ehrfurcht vor der Kunst, die mich mehr beeindruckte als die Kunst selbst, wobei ich mich doch an die Skulptur einer Frau mit einem kleinen Kind im Arm erinnern kann, die mir wirklich gefiel. Wir gingen einige Zeit gemeinsam durch die Räume des Museums, bis wir irgendwie durch eine Gruppe von Schulkindern voneinander getrennt wurden. Ich hatte dich aus den Augen verloren und lief in ziemlicher Angst und Panik immer schneller durch die Räume und wusste nicht, was ich machen sollte, als ich eine Lautsprecherdurchsage hörte, in der mein Name fiel. Ich hörte, Lenotschka, die Tochter von Olga Alexandrowna, solle in den blauen Raum kommen, wo ihre Mutter auf sie warte. Das war leicht zu befolgen, und ich fand dich wieder. Was mir aber in den Ohren nachhallte, war die laute Kundmachung – symbolisch für die ganze Welt, dass ich deine Tochter war und dass wir einander nicht
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verlieren würden. Das war eine Bekräftigung für uns beide – und für mich besonders, dass ich zu jemandem gehörte und dass du dafür Sorge tragen würdest. Das dritte Ereignis: An einem trüben und faulen Tag blieben wir zuhause in unseren Betten liegen, nachdem Papa zur Arbeit gegangen war. Nachdem wir schon viele Wochen zusammen verbracht hatten, saß ich an diesem Tag auf deiner Bettkante und beantwortete deine vorsichtigen Fragen nach meinem Leben vor dem Krieg. Du und Papa habt mich nie gedrängt, über meine fürchterlichen einsamen Jahre zu sprechen – ihr habt geduldig gewartet, bis ich soweit war. Gelegentlich kamen tatsächlich Teile und Bruchstücke aus mir heraus, aber auf den ganzen Bericht musstest du viele Jahre warten. Auch dann blieb er spärlich – bis jetzt. Ich denke, auf eine Art war es ein Glück, dass ich in diesen Zeiten noch ein Kind war. Kinder können sich von außerordentlichen Belastungen leichter erholen. Sie folgen eher den einfachen Reflexen des Überlebens, als das Leiden intellektuell zu analysieren und nach dem Wert des Lebens, das darauf folgen könnte, zu fragen. Ich weiß von einigen Menschen, die ihr Leben durch Selbstmord beendeten, weil sie mit ihren Erinnerungen nicht umgehen konnten. Ein prominentes Beispiel ist der italienische Schriftsteller Primo Levi. Schonungslose philosophische Analyse und die Suche nach Erklärungen müssen ihn in den Selbstmord getrieben haben. Es ist möglich, Heilung zu finden, wenn man eine wertvolle Seite des Menschseins entdecken kann. Manchmal haben Musik, Lyrik, Malerei und Literatur eine große heilende Kraft und können Hoffnung geben. Es tut mir leid, meine liebe Olga, dass ich so unversehens abgeschweift bin von dem, woran ich dich eigentlich erinnern wollte im Zusammenhang mit diesem trüben, faulen Tag, an dem wir vertraulich miteinander sprachen. Du
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hattest mich gebeten, dir von Dingen zu erzählen, die ich früher gerne getan hatte. Aus irgendeinem Grund beschloss ich, dir von meinen Ballettstunden zu erzählen, und du hast mich gefragt, ob ich dir zeigen würde, wie ich damals getanzt hatte. Um es echter zu machen, wie im Theater, bist du aufgestanden, hast eine große Truhe geöffnet, die in der Ecke stand, und ein schönes langes Kleid herausgenommen. Es hatte ein Wellenmuster in Rosa, Grau und Orange. Es war lang und aus Seide, und als ich es anzog, floss es um mich mit den Bewegungen meines Körpers. In das Mieder, das eng anliegende Oberteil des Kleides, waren zwei edelsteinbesetzte Silberknöpfe mit Türkisen in der Mitte eingenäht. Du sagtest, es sei ein Geschenk deines Vaters gewesen, das er dir vor langer Zeit auf seiner Reise in die Türkei gekauft hatte, und nun gehöre es mir. Du weißt, dass ich es so lange getragen habe, bis die Seide nach vielen Wäschen brüchig war. Viele Jahre später hast du aus den Edelsteinknöpfen zwei Ringe machen lassen – einen für deine Schwester Nina und einen für mich. Ich habe ihn noch immer und trage ihn oft – noch eine greifbare Erinnerung an dich. Also, ganz in dieses türkische Gewand gehüllt, tanzte ich nun für dich einen erfundenen „Haremstanz“, wie du es nanntest. Als ich aufhörte, müde vom Tanzen in deinem von Möbeln vollgeräumten Zimmer, hüpfte ich in dein Bett. Wir lachten beide über unser einfaches Vergnügen. Du umarmtest mich und gabst mir einen Kuss; schweigend verharrten wir eine Weile in dieser Umarmung. Als ich mich zu dir drehte, sah ich stille Tränen über deine Wangen rollen. Ich setzte mich auf und wischte sie nach und nach mit meinen Händen ab. In dieser Mischung aus Kind- und Erwachsensein, in der ich in dieser Zeit steckte, spürte ich, dass ich dir, um eine wirkliche Verbindung zwischen uns zu schaffen, von jenem letzten Moment erzählen musste, in dem ich meine
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Mutter gesehen habe, wie sie eine fremde Frau darum bat, mich als ihre Tochter auszugeben, um mich vor der Vernichtung zu retten, in die sie selbst ein paar Sekunden später getrieben wurde. Nachdem ich mit meiner Geschichte zu Ende war, sagtest du mir in deinem weichen Russisch, dass ich für immer deine Tochter sein würde und dass du mich noch darüber hinaus lieben würdest und dass ich dich, zu Ehren meiner Mutter, ihres Opfers und ihres Geschenks an dich, bei deinem Namen nennen sollte, Olga, was bedeutete, dass du nicht von mir erwartetest, Mama zu dir zu sagen. Wie hochherzig und lieb war es von dir, das zu sagen! In diesem Augenblick begriff ich, dass ich wie nur wenige Menschen gesegnet war – mit zwei Müttern in einem Leben: der Mutter, die mir zweimal das Leben schenkte, und dir, meine liebste Olik. Du hast dein Versprechen bis zum Ende deines Lebens gehalten und mich mit deiner bedingungslosen Liebe beschenkt. Du hast es jedem, der es hören wollte, immer wieder mit Worten gesagt und in deinen Taten gezeigt, dass ich in deinen Augen niemals etwas falsch machen konnte. Du hast mich unser ganzes gemeinsames Leben hindurch spüren lassen, dass ich der Stern an deinem Himmel war. Und, ja, du hast mich verwöhnt, wie du nur konntest, mit materiellen Dingen und mit der Freigebigkeit deines Gefühls. * Noch immer wütete der Winter. In diesem Teil der Welt war der Boden hart gefroren und täglich schneite es. Strenger Ostwind wehte Haufen von Schnee von Ort zu Ort und formte sie, wie die Sanddünen der Sahara. Die Temperaturen erreichten oft vierzig Grad unter null. Menschen gingen zur Arbeit und verließen dafür ihre Häuser, deren Türen manchmal unter dem Schnee gar nicht mehr zu sehen
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waren. Kinder gingen mit dicken Woll- oder Pelzmänteln und Fellmützen in die Schule. Und ich war eines von ihnen. Ich kam mit der russischen Sprache gut genug zurecht, dass ich in die fünfte Klasse aufgenommen werden konnte, was nicht schlecht war – ich war für mein Alter nur ein Jahr hinterher. Zu dieser Zeit hatte das russische Schulsystem zehn Schulstufen. Nach der Abschlussprüfung der zehnten Klasse konnte man ein Studium an der Universität beginnen. Hauptsächlich erfolgte meine Ausbildung aber zuhause. Papa arbeitete spätabends, deshalb fanden seine Privatstunden immer sonntags statt. Ich musste viel nachlernen in all den Fächern, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte – Botanik, Biologie, Algebra, Geschichte, Literatur und Geographie. Ihr hattet beide erkannt, dass ich noch einige Zeit und Hilfe brauchen würde, um in einen geregelten Schulalltag zu finden. Meine Lieblingsfächer waren Literatur und Geographie. Ich entdeckte auf einmal, wie großartig dieser Planet Erde ist – mit Ozeanen, Kontinenten und Gebirgen, voll von exotischen Namen und Menschen. All diese farbenprächtigen Bilder waren fast wie in einem Märchen und ließen mich manchmal zweifeln, ob das alles wirklich existierte. Ich lernte von dir, dass Pensa, die Stadt, in der wir lebten, etwa siebenhundert Kilometer südöstlich von Moskau, die Hauptstadt der Autonomen Republik Mordwinien war und dass die Menschen, die uns auf den Straßen und in den benachbarten Dörfern begegneten, auf Russisch Mordwa hießen. Es waren stämmige Leute, mit einem leicht gelblichen Hautton, haselnussbraunen Augen und braunem Haar. Du meintest, sie seien mongolischer Abstammung; die meisten von ihnen arbeiteten auf den Feldern. Du wärest wahrscheinlich überrascht zu hören, was ich erst vor kurzem erfahren habe, dass nämlich die Mordwinier zu den alten finnisch-
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ugrischen Stämmen gehörten, die über das ganze russische Gebiet westlich des Urals verstreut waren, sogar westlich der Wolga. Sie waren einst ein großes Volk und Meister des Ackerbaus. Ihre Sprache war eng verwandt mit Finnisch und Ungarisch, und der Zensus von 1897 bezifferte ihre Zahl mit mehr als einer Million. Sie wurden unter Stalin dezimiert, der jede einheitliche Volksgruppe fürchtete, und viele von ihnen wurden nach Sibirien umgesiedelt. Ich kann mich gut an Besuche bei einer mordwinischen Bauernfamilie erinnern – die Frau war eine Tochter deines Kindermädchens und ungefähr gleich alt wie du. Ihr teiltet gute Erinnerungen an eure beiden Mütter und sie tischte eine Fülle guter Speisen für uns auf. Wie im vorrevolutionären Russland verbeugte sie sich tief, wenn sie dich begrüßte, und schlug das übliche dreifache Kreuzzeichen über der Brust, wie es alle russischorthodoxen Gläubigen tun. * Einige Monate, nachdem ich die Schule angefangen hatte, verließ uns Papa, weil er mit dem russischen Militärhospital nach Westen ziehen musste. Nur sporadische Briefe von ihm teilten uns mit, dass er am Leben war, aber das Militärgeheimnis erlaubte ihm nicht, uns seinen Standort zu nennen. Ich habe in der Schule keine Freunde gefunden, weil ich etwas älter als der Rest der Klasse und eine Außenseiterin war. Ihr schicktet mich hauptsächlich deshalb in die Schule, um mein Leben dadurch zu „normalisieren“, dass ich in Kontakt zu Gleichaltrigen kam. Als das keinen Erfolg hatte, hast du mich wieder aus der Schule genommen. Wieder, wie schon einmal in meinem Leben, wurde meine Beschützerin zu meiner Lehrerin. Die warmen Frühlingswinde kündigten sich im späten März mit vereinzelten Regentagen an, und im April brach
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sich das Grün der Bäume und Wiesen um uns in den zarten Farbtönen junger Blätter und den sich sachte abzeichnenden Formen von Blütenknospen explosionsartig Bahn. Wie überall im kalten Klima verschwendete die Natur keine Zeit und beeilte sich, das Versprechen ihrer Erneuerung zu erfüllen. Selbst in diesen harten Zeiten begegneten die Menschen dem Frühling mit einem Lächeln auf ihren bleichen Gesichtern, und aus offenen Fenstern konnte man die Stimmen von Kindern und die Lieder ihrer Mütter hören. Diese große Symphonie der Farben und Klänge mündete in ein triumphales Finale: Am 9. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Der offizielle und private Jubel dieses Tages war überall um uns und stürmte auf all unsere Sinne ein. Unsere Freude war mehr als bittersüß; sie war unausweichlich verbunden mit der Trauer um die verlorenen Leben. Es gab Zeiten, meistens nachts, in denen ich eine riesige Schuld auf mir spürte, weil ich lebte, während die, die ich liebte, umgekommen waren. Du hörtest mein nächtliches Weinen, meine Schreie in der Nacht, und kamst gelaufen, um mich mit deiner Liebe zu trösten. Du erklärtest mir, wenn ich mein Leben gut und fröhlich lebte, würde das Wesen meiner Mutter und meiner Schwester, ihr Mut und ihr Wollen, ihre lebensbejahende Kraft für immer einen Platz in meiner Seele und in meinem Denken haben. Du und Sneschok, mein kleiner weißer Hund, ihr wart die besten Psychologen und Heiler für meine Wunden. Meine liebe Olik, du wärst mit Sicherheit überrascht und erstaunt, wenn ich dir erzählte, wie viele Leute ich gekannt habe und wie viele Patienten ich hatte, die lange Jahre und viel Geld aufwendeten, weil sie „Heilung“ suchten für etwas, das sie egozentrisch und selbstverliebt für Leiden hielten. In vielen Fällen hätte es geholfen, wenn sie einfach das Nehmen durch Geben ersetzt hätten. Manche Krankheiten, die heu-
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te aber zu wirklichen Lebensbedrohungen geworden sind, zum Beispiel die Magersucht, würdest du mit einem kurzen russischen Sprichwort abtun: „Ot schiru besjatsja“, „Zu viel Fett macht verrückt“ – „Fett“ hier in dem Sinn, dass alle alles im Überfluss und ohne Anstrengung zur Verfügung haben. * Eines Tages bekamen wir einen Brief von Papa, in dem er schrieb, er komme zurück und werde uns beide mitnehmen nach Polen, aber frühestens in einem halben Jahr oder Jahr. Unmittelbar vor seiner Abreise hattet ihr organisiert, dass ihr beiden im Rathaus von Pensa heiraten konntet. Es hatte keine Zeremonie und kein Fest gegeben, um dieses Ereignis zu feiern, nur ein amtliches Papier, das deinen alten Nachnamen durch einen neuen ersetzte. Damit stand dir als Ehefrau eines Stabsarztes eine monatliche Gehaltszahlung durch die russische Armee zu. Dieses Geld und die Familienerbstücke, die du gelegentlich verkauftest, ermöglichten uns einen in meiner Erinnerung sorgenfreien Lebensunterhalt. Als du eines Tages von Besorgungen in der Stadt zurückkamst, hast du mich mit einem schönen, seidig glänzenden dunkelblauen Rock und einer weißen Bluse beschenkt; sie hatte lange Ärmel und einen Stehkragen, wie ihn die russischen Herrenhemden hatten – aber aus feiner Spitze. Du verkündetest, wir würden uns beide hübsch machen und ins Theater gehen. Du hattest fast zwei Stunden angestanden, um uns Karten für eine Operette zu besorgen. Sie wurde von einem Ensemble aus Sängern und Schauspielern aufgeführt, die aus Kasan, einer größeren Stadt, etwa 500 Kilometer entfernt, nach Pensa kamen. Ich wusste natürlich nicht, was eine Operette war, aber in ein paar Stunden sollte ich lernen, was für ein Vergnügen das sein konnte. Es war nicht meine erste Begegnung mit Musik; Papas Klavierspiel in meiner
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Kindheit hatte meine Vorstellungswelt nachhaltig geprägt. Aber das war anders. Das war wirklich gewordene Fantasie! Alle Sinne waren angesprochen – die Schauspieler und Sänger trugen bunte fremdartige Kostüme, sie bewegten sich, sangen und tanzten und schufen mit jedem Szenenwechsel ein farbiges Kaleidoskop. Die Operette hieß Zyganskii Baron – Der Zigeunerbaron – und war von Johann Strauss, einem österreichischen Komponisten. Er hat in seinem Leben viele Operetten geschrieben, und seine Wiener Walzer haben Millionen auf der ganzen Welt bezaubert und tun es noch. Auf Englisch heißt die Operette The Gypsy Baron. Wir gingen Hand in Hand aus dem Theater und sangen dabei laut die Melodien der fröhlichen Arien miteinander, ohne auf die Leute um uns zu achten. Es war eine warme Vollmondnacht und es ging ein leichter Wind. Als ich zum Himmel hinaufschaute, hätte ich schwören können, dass das lächelnde Gesicht von Frau Luna mir freundlich zublinzelte und mit unserer Freude einverstanden war. * Das war erst der Anfang neuer Entdeckungen und Abenteuer, die du für mich im Sinn hattest. Du eröffnetest mir, wenn Papa uns nach Polen bringen würde, würdest du das Land deiner Geburt, Russland, wahrscheinlich nie mehr wiedersehen; also sei jetzt vielleicht deine einzige Chance, dir einige deiner Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen. Es waren drei. Ich hörte ehrfürchtig zu, wie du deine Pläne entwickeltest. Deine pulsierende Energie beflügelte meine Gefühle zu neuen und ungeahnten Höhen. Erstens: Wir würden eine Reise nach Moskau unternehmen, wo deine einzigen verbliebenen Familienangehörigen lebten – deine Schwester Nina, dein Bruder Mischa und deine Nichte Irina. Du warst auch mit deiner Tante Warwa-
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ra Michailowna sehr eng verbunden, der Schwester deines Vaters, so dass wir sicher auch mit ihr einige Zeit verbringen würden. Du wolltest, dass ich deine Verwandten kennenlernte und dass sie das Glück mit dir teilten, dass du Mutter geworden warst. Zweitens würden wir von dort einen Ausflug unternehmen, um die Schönheit des Baikalsees zu erleben, der weit im Osten von Moskau, im Süden des riesigen Gebiets von Sibirien liegt. Offenbar hatte dein Vater dir versprochen, dich einmal dorthin mitzunehmen, es aber nie getan. Die Geschichten, die er dir von dieser Gegend erzählt hatte, waren nie aus deiner Vorstellung verschwunden, und nun wolltest du sie unbedingt mit mir teilen. Du wusstest nicht, ob dieser Traum erreichbar war, aber du würdest dein bestes versuchen. Drittens wolltest du mit mir auf die Krim fahren, an den Ort deiner glücklichsten Kindheitserinnerungen. Diesen Traum habe ich besonders gut verstanden. Du hast mich gewarnt, dass nichts von all dem oder vielleicht nur die Reise nach Moskau zu verwirklichen sein könnte, wenn man die Schwierigkeiten bedachte, die solche ausgedehnten Reisen kurz nach dem Krieg mit sich bringen würden. Du warst bewundernswert in deiner unerschütterlichen Entschiedenheit – und tatsächlich konnten wir alles in die Tat setzen. „Wir“ heißt in dem Fall, du hast alles organisiert, aber du sagtest, ich sei der beste Kamerad, den du je hattest. Dass wir beide viel mehr das Vergnügen als die Beschwernisse empfanden, lag wohl an der Kombination aus den Erfahrungen meines Alleinlebens, meiner Straßenschläue und deiner beschützenden Nähe, die mir ein Gefühl von Glück und Sicherheit gab. Ich will deine Geduld nicht strapazieren, liebe Olik, aber ich will dich an ein paar Momente erinnern, in denen sich mir die neue Welt um mich und damit die Fülle der Empfindungen neu erschlossen hat – weit entfernt von der winzig
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kleinen Stadt Waręż, meiner glücklichen frühen Kindheit, die so vollständig anders war als deine. Ich weiß aus den Gesprächen zwischen Papa und dir und aus Geschichten, die du mir selber erzählt hast, dass du dein Land zutiefst und mit jeder Faser deines Daseins liebtest. Diese Liebe war unabhängig von politischen Systemen. Das Land war seit je, über ungezählte Generationen hinweg, deines gewesen. Es war ein reiner Zufall der Geschichte, der dich mit diesem Land verbunden hatte und dich nun mit feierlichen Versicherungen und Gelübden wie in einem Eheversprechen verpflichtete, es „zu lieben“ und ihm „zu gehorchen in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod uns scheidet …“ Du liebtest die Weiten des Landes, die Flüsse, Berge und Wälder; das Talent und die romantischen Stimmen der Dichter; die tiefgründige und geheimnisvolle Musik; den manchmal tröstlichen, manchmal verletzenden Genius eurer Schriftsteller; die Maler, die auf der Leinwand festhielten, was du vom Leben selber erfahren hattest oder aus Büchern kanntest, die die wechselvolle Geschichte deines Landes und seiner Menschen beschrieben haben; die spontanen, einfachen, aber vollkommenen Lieder der Bauern, die in mondhellen Nächten über die Flüsse schallten. In meinem Bewusstsein hallen diese Lieder jetzt auf die gleiche Weise nach wie der Blues, der in den Seelen der schwarzen Sklaven Amerikas seinen Ursprung hat. Beide klingen wie ein Weinen oder ein ergebenes Gebet zu einer höheren Macht, die über jeden menschlichen Einfluss erhaben ist. Wenn der Schmerz unerträglich wird, explodieren Musik und Lied in einem Feuer aus Rhythmus und freudigem Tanz. Es ist der Klang nicht nur von Träumen des Glücks, sondern auch der Rebellion. Ich danke dir dafür, dass du mir deine Liebe zu Dingen mitgegeben hast, die über ein behagliches Leben und materiellen Wohlstand hinausgehen.
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Aus der Perspektive meines Alters verstehe und schätze ich sie mehr als je zuvor. * Nach einer verhältnismäßig kurzen Bahnfahrt erreichten wir Moskau, wo uns deine Schwester Nina und ihr Mann Jura am Bahnhof begrüßten. Wir kamen untertags an und nahmen einen elektrischen Trolley-Bus, um zu ihrem Haus zu gelangen. Tante Nina und Onkel Jura beschützten mich vor der drängenden Menschenmenge, als wäre ich eine Porzellanpuppe. Sie hatten keine Kinder und kannten meine Geschichte nicht, und so konnten sie nicht wissen, dass ich mich mittlerweile unzerbrechlich fühlte. Der Trolley-Bus hatte Gummiräder und wurde über D-förmige Metallbügel mit Strom versorgt, die über dem Dach des Busses an dicken elektrischen Leitungen entlangglitten. Vom Fenster des Busses sah ich dicht gedrängte Massen von Menschen, die in alle Richtungen unbekannten Zielen entgegenströmten. Nur sehr wenige Autos oder Lastwagen fuhren vorbei. Der Tag war grau und wolkig, die Kleider der Leute dunkel, und nur hier und da versuchten junge Mädchen – wie als Gruß an den Frühling – den Straßen ein bisschen Farbe zu geben, indem sie sich mit bunten Schals oder Hüten schmückten. Das Haus, in dem deine Schwester lebte, war ein hohes Gebäude mit zwei großen Wohnungen auf jedem Stockwerk. Vor der Revolution war jede Wohnung von jeweils einer – vermutlich wohlhabenden – Familie bewohnt gewesen. Jetzt war in jedem Raum eine Familie untergebracht, die Küche und Badezimmer mit den anderen teilen musste. Nahrungsmittel waren nach Kriegsende knapp in Russlands Hauptstadt; es gab nur wenig mehr als in den dunklen und kalten Kriegszeiten. Einzig Wodka gab es im Überfluss – hatte man keinen Edelbrand, gab es doch immer samogon, schwarz gebrannten.
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Trotzdem brachte Tante Nina – durch reine Zauberei oder doch eher dank der Überlebenskünste, die sie während der jahrelangen Entbehrungen entwickelt hatte – ein Fest zustande und lud alle deine Verwandten in Moskau ein, mitzufeiern. Ich lernte sie alle auf dieser ersten (aber nicht einzigen) Reise nach Moskau kennen, sogar deinen ersten Ehemann, von dem du schon einige Jahre geschieden warst. Er war ein sehr gut aussehender, großer Mann mit dunklem Haar, dunklen nachdenklichen Augen und leicht fremdländischen Gesichtszügen. Er hatte jetzt eine andere Frau und ein Kind. Lange Zeit später, als ich schon erwachsen war, hast du in einem unserer sehr vertrauten Gespräche verschiedentlich angedeutet, dass der Grund eurer Trennung darin gelegen hatte, dass du keine Kinder bekommen konntest. Vom heutigen Wissenstand der Genetik aus gesehen ist es wahrscheinlich, dass ein schadhaftes Gen, vielleicht von deiner Großmutter väterlicherseits, an die Frauen der nächsten beiden Generationen weitergegeben wurde – an deine Tanten, die Schwestern deines Vaters, die keine Kinder hatten, und an dich und deine Schwester Nina, die ebenfalls nicht dazu in der Lage war. Das einzige Kind in deiner Familie war Irina, die Tochter deines Bruders Mischa; sie war ein Jahr jünger als ich und saß bei dem Festessen, das Nina am Sonntag für uns auftischte, neben mir. Die Vorbereitungsarbeiten in der Küche dauerten zwei Tage. Nina standen gemeinsam mit den anderen Bewohnern nur zwei Gasflammen und ein Backofen zur Verfügung. Das war noch der einfachste Teil, denn viel schwieriger war es, das Rohmaterial für das Fest zu beschaffen – eine Leistung, die zwei Wochen in Anspruch nahm und die nur deine Schwester zustande bringen konnte. Das Menü war traditionell und typisch russisch. Als am Sonntagnachmittag der Tisch gedeckt war, schmückten ihn
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Farben und Formen, die ich nie zuvor gesehen hatte: schwarzer und roter Kaviar vom Schwarzen Meer; ein ganzes gebratenes Spanferkel mit einer Karotte im Maul; geschmorter Kohl und Salat aus Rotkohl mit weißer Zwiebel-Vinaigrette und einem Schuss Wein; es gab fast violette rote Bete mit einem weißen Klecks Sauerrahm auf jeder Scheibe, mit gemahlenem Pfeffer gesprenkelte gebratene Kartoffelscheiben, Rinderbraten mit dicker goldbrauner Soße und herrlich duftendes, selbstgebackenes Brot mit knuspriger Kruste. Wodka floss oft und reichlich aus den Flaschen in die Gläser, die mit Genuss in einem Zug geleert wurden; und ich probierte zum ersten Mal in meinem Leben Wein aus Grusinien – russisch für Georgien, wo unter der Sonne süße Trauben wuchsen. Zum Nachtisch gab es babka, eine Art Brioche oder leichter Kuchen, den man aus Butter, Eiern und Hefe machte, und dazu gab es Tee, der in einer silbernen Urne, die Samowar genannt wurde, fortwährend köchelte. Die Tischgespräche waren lebhaft, oft wurde mit einem Trinkspruch angestoßen, und manchmal folgten darauf russische Lieder oder bekannte Zigeunerlieder, die in diesem Land allgemein beliebt waren. Ich kann mich noch an eine romantische Ballade über verträumte schwarze Zigeuneraugen erinnern, die jeden, den ihr Blick traf, mit dem Zauber glühender Liebe behexten. Dieses Lied ist noch immer in Konzerten zu hören, wenn ein Sänger den Applaus zu begeistertem Crescendo steigern will. Liebste Olik, ich frage mich, warum ich mich an diesen Tag und das Essen, das für uns gegeben wurde, in so vielen Einzelheiten erinnere. Ich litt keinen Hunger mehr, und selbst die Erinnerung daran war verblasst. Ich glaube, ich kann mich deshalb so gut daran erinnern, weil ich das erste Mal miterlebt habe, dass man Essen als Ritual der Lebensfreude feiern kann.
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Der hellblaue Himmel, der an diesem sonnigen Sonntag durch die beiden Fenster in den Raum blitzte, hatte angefangen, sich in dunkleres Kobaltblau zu färben, als die Gäste eintrafen. Neben den Gastgebern – Tante Nina und ihr Mann Jura – saßen noch weitere sechs Personen am Tisch: dein Bruder Mischa mit seiner Tochter Irina, deine Tante Warwara Michailowna, dein erster Ehemann, Nikolai, und wir beide. Nur zwei lebende Mitglieder deiner Familie fehlten: deine andere Tante, Walentina Michailowna Archipowa, die Schwester deines Vaters, und ihr Lebensgefährte. Sie waren am Leben, konnten aber nicht eingeladen werden. Ich werde ihre Geschichte erzählen, liebe Olik. Wenn auch deine Familie nicht wie meine in Vernichtungslagern und in den Folterkammern der Gestapo umgekommen war, so war auch sie von Traurigkeit und von der Grausamkeit des herrschenden Systems nicht verschont geblieben. Zwei deiner Verwandten wurden zu einem Beispiel, wie eine paranoide Diktatur, getrieben von irrationalen Verdächtigungen und Angst vor Machtverlust, das Leben eines Einzelnen zugrunde richten und sich für immer der Verantwortung für die von ihr begangenen Taten entziehen kann. Es ist nicht wahr, dass Ungerechtigkeit immer irgendwie ausgeglichen wird, und es stimmt nicht, dass die Schuldigen immer bestraft werden. Oft ist es für beides zu spät. Diejenigen, die gelitten haben, sind nicht nur körperlich zugrunde gegangen, sehr oft sind sie auch vergessen worden. Das ist der Hauptgrund, warum ich davon sprechen will; deshalb schreibe ich diese Briefe. * Wer war also deine Tante, die sich mit ihrem Künstlernamen, den sie aus ihrem eigentlichen Namen Walentina Archipowa abgeleitet hatte, „Tina-Ar“ nannte? Als junges Mäd-
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chen war sie aus der respektablen Gesellschaft ihrer Familie in die Welt der Bohème ausgebrochen. Sie war eine Rebellin, zum einen wegen ihrer nicht reputablen Berufswahl als Sängerin und Tänzerin, zum andern auch, weil sie sich erlaubte, sich von der Liebe eines jungen Mannes verführen zu lassen, den sie nie heiratete, mit dem sie aber ständig zusammenlebte. Sie bewiesen einander, dass wahre Liebe keinen Betrug kennt. Sie war vor der Revolution und kurze Zeit danach sehr bekannt und gab in den Großstädten des ganzen Landes Konzerte. So viel ich über ihr Bühnenrepertoire gehört habe, würde ich ihre Auftritte als eine Art Cabaret bezeichnen, wie es damals in Westeuropa populär war. Was Tina-Ar passierte, ist auch Tausenden anderen geschehen. Im Jahr 1941 trat sie in Rostow auf, einer Stadt am Don. Die Deutschen rückten schnell nach Osten vor, und die Bevölkerung konnte mit dem Rückzug der russischen Armee nicht Schritt halten. Unzählige blieben zurück und mussten unter der deutschen Besatzung ausharren. Nach Kriegsende wurden viele der Zurückgebliebenen zu Verrätern erklärt und entsprechend behandelt. War man dermaßen abgestempelt, war die Verbannung nach Sibirien noch die glimpflichste Strafe. Sibirien war für Millionen ein Land ohne Wiederkehr, das frostige Inferno gepeinigter Seelen; aber es gab keinen Dante, der davon erzählt hätte – bis zu Solschenizyns Archipel Gulag. Nach einigen Jahren erhielt Tina-Ar die Erlaubnis, aus Sibirien zurückzukehren, aber es war ihr verboten, je wieder nach Moskau zu kommen. Sie starb kurz darauf in einem weit entlegenen Dorf in den Armen ihres Geliebten, der zum alten Mann geworden war. Es gibt viele Wege, wie diejenigen, die fürchten, ihre absolute Macht zu verlieren, die Pest der Ungerechtigkeit verbreiten und ein vielversprechendes Leben unwiederbringlich in einen Abgrund der Verzweiflung stürzen können. Dein
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Bruder Mischa war noch ein Beispiel dafür. Er war ein hübscher Junge – der jüngste in der Familie – und wurde zuerst von deiner Mutter, dann von zwei liebevollen Schwestern verwöhnt. Intelligent und talentiert, studierte er an der Moskauer Universität und wurde Physiker. Er galt immer als Mädchenschwarm und war stets von jungen Schönheiten umgeben, doch zur allgemeinen Überraschung heiratete er ein jüdisches Mädchen, dessen Äußeres keineswegs über dem Durchschnitt lag. Kein Jahr später kam seine Tochter zur Welt, ein blondes Mädchen mit blauen Augen, das er vergötterte. Er arbeitete an der Abteilung für Physik der Akademie der Wissenschaften und stieg schnell in eine wichtige Stellung auf. Diese Position unterlag einer so umfassenden Geheimhaltung, dass sie ihn fast vollständig von seiner Familie und seinen Freunden isolierte. Er lebte und arbeitete hinter hohen Mauern in einem Institut für Physik, wie es genannt wurde, irgendwo im Wald versteckt in der Umgebung von Moskau. Nach kurzer Zeit wurden die Vorschriften verschärft, und er durfte seine Frau und seine Tochter nur noch einmal im Monat besuchen. Innerhalb von zwei Jahren brach die Familie auseinander – seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Seine Tochter sah er nur, wenn sie sonntags zu ihm gebracht werden konnte, und mit den Jahren wurden die Besuche immer seltener. Er führte ein einsames Leben in einem komfortablen Gefängnis. Aber ein Gefängnis bleibt ein Gefängnis, auch wenn man es nicht so nennt. In den einsamen Stunden seiner Depression wandte er sich dem einzigen Mittel zu, das ihm lindernd zur Verfügung stand, dem Alkohol, der ihm so etwas wie eine Atempause von seiner stetig weiter wachsenden Traurigkeit zu gewähren schien. Für jeden Ausflug von diesem Ort musste er um eine Sondergenehmigung ansuchen, und selbst dann folgte ihm die Geheimpolizei und überwachte ihn. Tante Nina hat uns
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– dir und mir – viele Jahre später davon erzählt. Du ahntest bei unserem Sonntagsfestessen, liebe Olik, dass du deinen Bruder zum letzten Mal sahst. Euer Abschied war tränenreich und beinahe gespenstisch. Dein attraktiver, begabter und geliebter Bruder Mischa starb mit Anfang fünfzig an den Folgen chronischen Alkoholmissbrauchs. Es stimmt, dass Wodka ein Mittel der Wahl für einen langsamen Selbstmord ist, ein schneller Tod würde vielleicht nobler erscheinen. Aber ich lehne es ab, darüber zu urteilen, wenn man nicht selber ein Leben ohne Freiheit erlebt hat. Gewiss würdest du, Olik, mir zustimmen. Ich weiß nicht mehr, wer dieses Gedicht geschrieben hat, das ich zitieren will in Erinnerung an viele russische Mischas und Tina-Ars. Wahrscheinlich ist meine Wiedergabe nicht ganz richtig, aber ich hoffe, du wirst mein unzulängliches Gedächtnis entschuldigen. Wenn ich mich recht erinnere, war es an eine Frau gerichtet, die der Dichter liebte. Ich richte es an die Freiheit und tue mein Bestes, die Essenz zu vermitteln: Though great my error, great has been my grief, And one looked to you for some relief, Think then, in pity, love, and tender care Upon the suffering I’m left to bear, And seek to set a wretched soul free, Who loses so much in losing thee.17 17 Ausschnitt aus einem Gedicht, das 1818 in einem christlichen Wochenblatt unter der Rubrik „Selected Poetry“ abgedruckt wurde mit dem Vermerk, es entstamme dem Brief eines psychisch kranken Patienten aus dem Pennsylvania Hospital an seine Frau. Andrew Fowler (Hg.): The Sunday Visitant. Or, Weekly Repository of Christian Knowledge, 11. Jg., Nr. 6. Charleston: T. B. Stephens, 1818. https://books.google.at/books?id=21w_AAAAYAAJ [05.03.2021].
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So groß mein Irrtum, so groß ist auch mein Leid, und schaue ich um Linderung zu dir, so denk in Sorge, Liebe und Barmherzigkeit Ans Elend, das zu tragen hier Mir bleibt. Und such, die arme Seele zu befrei’n, Die viel verliert, soll ohne dich sie sein.
In dieser Zeit mit dir, in meinen beginnenden Teenagerjahren gab es für mich in schneller Folge viele ganz neue Erlebnisse. Ich saugte sie auf wie die ausgetrocknete Erde den wohltuenden Regen aufnimmt, um die schlafenden Samen rasch wieder zu erwecken und sie zu grünen Wiesen mit Blumen in allen Regenbogenfarben zu verwandeln. * Neu waren die für mich ersten Dichter und Schriftsteller in einer neuen Sprache, die Museen, die mir durch die Kunst die menschliche Geschichte zeigten, nie erlebte eiskalte Winde, die erste Operette mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit, die zu wecken ich der Musik nie zugetraut hätte, und jetzt kam noch etwas Neues dazu: Ein paar Tage nach unserem sonntäglichen Fest nahmst du mich in das berühmte Moskauer Bolschoi-Theater mit, wo das Ballett Dornröschen aufgeführt wurde. Die Geschichte wurde von großartigen Tänzerinnen und Tänzern zur Musik von Tschaikowsky erzählt. Wie konnte ein gequälter Mensch solche bezaubernden Töne hervorbringen? Entsteht Schönes vielleicht immer aus einer Art des Leidens? Ungefähr eine Woche später waren wir unterwegs zum Baikalsee, dem tiefsten und sechstgrößten See der Welt, der sich im Südosten des asiatischen Teils von Russland erstreckt. Die Mongolen nennen ihn Dalai-Nur, die Türken
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Bai-Kul18. Von Dezember bis in den späten April ist er fest zugefroren. Der See findet in der russischen Seele einen romantischen Widerhall. Er wurde in der Mitte des 17. Jahrhunderts entdeckt, und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts haben kühne Reisende seine physikalischen Eigenschaften erforscht und die umliegenden Berge, Flüsse und die Pflanzenwelt beschrieben. Seit im Jahr 1905 die große transsibirische Eisenbahn fertiggestellt worden war, die den europäischen Teil Russlands mit der Pazifikküste im fernen Osten verbindet, stand diese Naturschönheit denen offen, die die Zeit und das Geld hatten, sie zu bewundern, und denen, die dazu gezwungen wurden, dieses Land zu besiedeln. Ich habe dir das noch nie erzählt, aber mit sechzehn, als ich in Warschau aufs Gymnasium ging, kannte ich einen alten Mann, den Großonkel meines damals besten Freundes. In der Zeit der zaristischen Herrschaft über Polen hatten ihn die Russen als Zivilingenieur rekrutiert und so war er viele Jahre als einer der Baumeister dieser Bahnlinie beschäftigt. Er kehrte als reicher Mann zurück, trug Gold und Zobelpelze und erzählte uns gern fantastische Geschichten über sein Leben im weiten Sibirien. Es war unser zweiter Tag unterwegs; wir hatten ein ziemlich bequemes Eisenbahnabteil mit zwei Stockbetten und einer Bank nur für uns alleine. Du hast mir später erzählt, dass es nötig war, eine ganze Reihe von Leuten in einflussreichen Positionen zu bestechen, und dass du einiges von deinem Schmuck versetzen musstest – nicht nur um diesen Luxus zu erlangen, sondern vor allem, um für uns beide eine Reiseerlaubnis zu erwirken. Jedermann in Russland besaß 18 Es finden sich unterschiedliche Bezeichnungen, Schreibweisen und Übersetzungen. In der Sprache der mongolischen Burjaten Sibiriens wie in den sibirischen Turksprachen bedeutet der Name „reicher See“ oder „großer See“.
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einen Pass. Sich nach eigenem Willen frei von Ort zu Ort zu bewegen, war aber nicht erlaubt. In diesem proletarischen Paradies musste man sich am Ort der Abreise bei der Polizei melden und ebenso am Ziel. Die strenge Überwachung aller Bewegungen der Bevölkerung dauerte bis weit über Stalins Tod hinaus an. Aber lassen wir das. Gehen wir wieder zurück zu meinem nächsten neuen Erlebnis: Diesmal war es eine Reise um des Reisens willen, einfach für das Vergnügen, jeden Tag an einem anderen Ort aufzuwachen – keine Reise, um einer Gefahr zu entkommen, nicht einmal eine Reise, um einen verlorenen Vater wiederzufinden. Einfach reisen! Der Zug bewegte sich rasch vorwärts, mit wenigen Halten an kleinen Stationen. Obwohl es Frühling war, lagen die sibirischen Steppen, die sich zwischen Ural und Pazifik erstrecken, in den frühen Morgenstunden unter dichtem Nebel, der sich über die blassgrüne Erde und die noch immer kalten, schwarzen Wasser der Flüsse hinzog, die wir passierten. In diesen unheimlich kahlen Weiten sahen wir kaum Menschen, nur manchmal, wenn sie an den Haltestationen zusammenkamen. Unsere erste Station war Irkutsk, von dort aus würden wir weiter zum Baikalsee fahren. Als wir den See schließlich erreichten, hatten wir, wenn ich mich recht erinnere, vier Zeitzonen durchquert, was wieder etwas Neues für mich bedeutete. Ich musste auf meiner ersten Armbanduhr viermal die Zeit umstellen! Die Uhr war ein Geschenk von Papa, der sie für mich in Pensa von einem Uhrmacher gekauft hatte, der die Teile aus der Uhrenfabrik stahl, in der er arbeitete. Er besserte sein Einkommen dadurch auf, dass er aus diesen Teilen Uhren zusammenbaute und sie auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Die Uhr hieß Pensa, aber keine Sorge, liebe Schweiz! Diese Marke wird der Welt auf immer
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unbekannt bleiben und dir als Konkurrenz kein Kopfzerbrechen bereiten. Dieses Neue, die Armbanduhr, war mit dem Prinzip der Zeitzonen verbunden – der nächsten Neuheit also. Die Vorstellung, dass Mutter Erde mir hier einen Streich spielte, weil sie sich zusätzlich zu ihrer Umrundung der Sonne um ihre eigene Achse drehte, überstieg meine Begriffe. Das einzig Sichere und Vertraute war für mich, dass jeder Tag mit dem Sonnenaufgang anfing und mit Sonnenuntergang endete. Ich muss dir gestehen, liebe Olik, dass ich mich selbst jetzt noch konzentrieren muss, um die Zeitzonen zwischen Ost und West nicht durcheinanderzubringen. Mein naives und ehrliches Eingeständnis dieses persönlichen Defizits lässt meinen Mann Jan immer ironisch, aber verständnisvoll lächeln, und dann schickt er umgehend eine Erklärung der „Relativität“ der Zeit hinterher. Ja, es ist der gleiche Jan, den du in Warschau kennengelernt hast, als wir unsere ersten Pläne für ein gemeinsames Leben schmiedeten. Aber abgesehen von all dem waren du und ich uns ganz sicher, dass wir den Gesang der Vögel verstehen konnten, dem wir lauschten, wenn wir vor der Fischerhütte am Ufer des Baikalsees saßen, in der wir wohnten. Die Vögel kamen in solchen Scharen über den See, dass sie den Himmel verdunkelten. Es war ihr Triumphgesang des Lebens, nachdem das dicke Eis, das den Baikalsee während der Wintermonate bedeckt hatte, endlich geschmolzen war und der Futterstreit der Vögel beginnen konnte. Die Berge am Ostufer des Sees konnte man über das Wasser hinweg nur bei gutem Wetter sehen; sie lagen fünfundzwanzig bis fünfzig Kilometer entfernt. Wir aßen eine Menge Fisch und machten nur an ruhigen und sonnigen Tagen Ausflüge mit dem Fischerboot unseres Gastgebers. An Regentagen blieben wir in der Hütte und hörten dem Sohn des Fischers zu, wie er Balalaika
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spielte, während sein jüngerer Bruder mir Schach beibrachte – wieder eine Neuheit für mich. Ich werde dich nicht langweilen mit dem, was ich dann noch alles zum ersten Mal erlebte. Das ist schließlich im Leben jedes Kindes ganz selbstverständlich. Es gibt lustige, romantische Seiten dabei; eine davon ist, dass ich in meinem Leben niemanden getroffen habe, der an den Ufern des Baikalsees von einem Jungen halb mongolischer, halb türkischer Herkunft das Schachspielen gelernt hat. Ende Juni kamen wir nach Pensa zurück. Selbst mit deiner großen Unternehmungslust und deinem Talent, durch das Labyrinth der sowjetischen Bürokratie hindurchzusteuern, brauchte es einige Zeit, unsere Reise auf die Krim zu organisieren. Aber wir haben sie gemacht. Ich will dich nicht mit meinem kindlichen Entzücken über diese Gegend langweilen, ich weiß, dass du bitter enttäuscht warst über ihren Verfall: heruntergekommene Bauwerke, graue Menschenmengen und das Fehlen des Glanzes, den dieser Teil deines Landes früher gehabt hatte. Für mich war es ein einziges Wunder: Es taten sich ständig wechselnde Anblicke auf und exotische Namen auf der Landkarte wurden lebendig. Wir erreichten Rostow am Don. Städtenamen, in denen ein Fluss vorkommt, wie Stratford-upon-Avon oder Frankfurt am Main, klangen für mich immer danach, als sollte gleich eine romantische Geschichte beginnen. Wir fuhren dann an den westlichen Ausläufern des Kaukasus entlang, und nachdem wir die Meerenge am Asowschen Meer überquert hatten, endete unsere Reise im berühmten Jalta. Wenn ich darüber bestimmen könnte, wie Orte auf der Welt heißen sollten, wäre das Schwarze Meer die Lapislazuli-See; die Farbe des Wassers kam mir vor wie geschmolzener Lapis mit goldenen Funken aus Sonnenstrahlen, die sich hie und da im Wasser brachen. Ich weiß, dass wir viel länger in Jalta
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blieben, als du eigentlich wolltest, weil du in meinen Augen das grenzenlose Glücksgefühl der Entdeckerfreude gesehen hattest. Nach meinen eigenen mikroskopisch kleinen Maßstäben erlebte ich Augenblicke, die denen eines Vasco da Gama oder Captain Cook in nichts nachstanden. Wir fuhren nicht über Rostow, die ehemalige Hauptstadt der mächtigen Kosaken, sondern über Odessa zurück und kamen in kurzer Zeit wieder in Pensa an, das nun so eintönig und langweilig wirkte, wie es tatsächlich war. Das Jahr 1946 rückte näher und es blieben uns nur noch ein paar Monate, um deinen Haushalt aufzulösen und die Dinge zu packen, die wir mitnehmen durften zu unserem neuen Wohnort, das von der deutschen Besatzung befreite Warschau. Papa würde bald kommen, um uns dorthin zu bringen. Ich war deine wichtigste Hilfe bei diesen Vorbereitungen, und mit der Zeit wurde ich zu einem Verpackungsexperten – wie du selber sagtest, viel besser als du. Lustig, aber wahr. Ich muss dir sagen, liebe Olik, dass sich diese Fähigkeit in meinem späteren Leben als sehr nützlich erwies. Wir mussten alle deine Möbel verkaufen; darunter waren auch wertvolle Antiquitäten, die einmal deinen Eltern gehört hatten. Wir verkauften sie unter offenem Himmel auf dem Basar, der einmal in der Woche mitten in der Stadt abgehalten wurde. Manchmal musstest du mich mit unserer Ware alleine lassen, und ich sollte mich um den Verkauf kümmern. Ich behauptete meine plötzlich erworbene Stellung als Verkäuferin fest und beharrlich. Kein gerissener Käufer sollte meinen, ein junges Mädchen sei leicht über den Tisch zu ziehen und er könne das gewünschte Objekt billiger haben, als du es festgesetzt hattest. Am Ende des Tages haben wir einander noch einmal lachend von meiner Straßenschläue und deinen weichen Händen erzählt. Du hast mir die Wangen getätschelt und über meinen Kopf gestreichelt
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und anerkennend festgestellt, dass es meinen einsamen Tagen vor noch nicht allzu langer Zeit zu verdanken war, dass ich so beherzt sein konnte. Wir waren bereit für unsere Fahrt nach Polen, als Papa kam, um uns abzuholen. Er richtete unsere Reise so ein, dass wir in Lwów Halt machen konnten, um zumindest die Nonnen aufzusuchen, die mir geholfen hatten zu überleben und die, wie er aus Briefen an uns wusste, auch den Krieg überlebt hatten. Er wollte seine Dankbarkeit nicht nur mit Worten zum Ausdruck bringen, sondern sie auf jede andere erdenkliche Art unterstützen. Die Nonnen waren jedoch nach Westpolen übersiedelt. Kazia, die Prostituierte mit dem goldenen Herzen, war gleichfalls aus der Stadt verschwunden. Sie bleibt nur noch in meinem Gedächtnis. Für dich war Lwów nur mit mir und der Geschichte meiner Familie verbunden, und wenn du die Stadt auch sehenswert fandest, so wolltest du sie doch so schnell wie möglich hinter dir lassen. Mitten im Herbst 1946 überquerten wir die Wisła, um uns in Warschau niederzulassen und unser Leben neu zu beginnen. Es war zugleich der Beginn eines neuen Abschnitts in meinem Leben. Ich war vierzehn Jahre alt. In den folgenden prägenden Jahren meiner Jugend, in denen ich zu einer Frau heranwuchs, kann dein Einfluss auf meine Seele gar nicht überschätzt werden. Bevor ich diesen Brief schließe, will ich dich deshalb bitten, meine Hommage an dich und meine Dankbarkeit für all das Gute in mir anzunehmen. Für die törichten Seiten meines Egos übernehme ich selbst die Verantwortung. Ich danke dir für deine bedingungslose Liebe. Ich danke dir dafür, dass du mich zur wichtigsten Person in deinem Leben gemacht hast.
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Ich danke dir für dein fortwährendes Bestreben, mich glücklich zu machen. Ich danke dir für deine so hoch gefasste Meinung, dass kaum jemand an Leib, Seele und Geist mir gleichkam, und selbst wenn ich das mit dem nötigen Körnchen Salz zur Kenntnis genommen habe, war es doch Balsam für mein Herz. Ich danke dir für deinen Stolz über meine Leistungen. Ich danke dir dafür, dass du eine liebevolle Großmutter für meine Töchter warst – für die jüngere leider nur sehr kurze Zeit. Und ich danke meinem Glücksstern, dass ich mit der Liebe zweier Mütter beschenkt wurde. Auch wenn ich dich nie Mama genannt habe, weißt du, meine liebste Olik, dass du eine warst und dass ich dich nie für selbstverständlich genommen habe. * Du bist im Jahr 1968 im Alter von 72 Jahren plötzlich, aber friedlich gestorben. Aber wie du an diesem langen Brief sehen kannst, bist du lebendig und unvergessen. Kurz nach deinem Tod habe ich das Land meiner Geburt für immer verlassen und habe mich mit meiner neu gegründeten Familie auf das nächste Abenteuer begeben, das viele Jahre dauern sollte. Bevor ich aufbrach, habe ich aber erfahren, dass manchmal, wenn jemand stirbt, nicht alles mit einem Mal tot ist. Im Haus lag noch der Duft deines Parfums in der Luft; die Post kam weiter unter deinem Namen, dein Stuhl stand leer am Tisch, als warte er auf dich; im Kamm vor dem Spiegel fand sich noch ein silbergraues Haar, und an den Aben-
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den nahm ich deinen Lieblingsschal aus Mohair um meine Schultern. Diese Zeichen von dir ebneten langsam den Weg für die ruhige Gelassenheit, die mich jetzt hier umgibt, wo ich stehe, um dir Lebewohl zu sagen. Deine Tochter Lenotschka
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as ist nun aus dem kleinen Mädchen geworden, das die Leser ihrer Briefe inzwischen näher kennen? Sie bekam eine Chance im Leben und hat sie ergriffen; es war fast wie die Überlebenschance einer gefährdeten Art. Sie wuchs zu einem wilden Teenager heran. Wie um die verlorene Zeit nachzuholen, warf sie sich in alle Abenteuer, in das Leben selbst – von durchgefeierten Nächten bis hin zum Theater, vom Tanzen bis zum Motorradfahren. Sie füllte ihre Ohren mit Musik, von Elvis, für den sie schwärmte, bis zu göttlichen Beethovensonaten. Sie verschlang Bücher in einem Zug, von verbotenem erotischen Schund bis zu den Meisterwerken Émile Zolas. Sie hatte Hunger nach jedem Gericht auf der Tafel irdischer Freuden, und die Desserts durften nicht fehlen. Sie entdeckte die Romantik jugendlicher Liebe im Duft von Fliederblüten und weißem Jasmin unter dem Himmel voller Sterne. Als junge Frau lenkte sie ihre Begeisterung für das Leben auf den Beruf, den sie liebte. Die harte Arbeit, Ärztin zu werden, wurde zu ihrer lebenslangen Leidenschaft. Es gab nicht viele Grautöne in ihren Urteilen über Menschen und Ereignisse. Schwarz und Weiß waren fast immer ihre bevorzugten Farben. Auf eine gewisse Weise ist sie das Mädchen geblieben, dem die Leser hier begegnet sind; sie wurde nur noch mehr zu dem, was sie war. Spätere Briefe an die Zeugen ihres Lebens, falls sie je geschrieben werden, werden immer noch von diesem Mädchen kommen. Wichtig ist, dass dieses erwachsene und jetzt alt gewordene Mädchen entdeckt hat, dass ihre Zukunft we-
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nig Sinn hätte, keine Erfüllung, Hoffnung oder mögliche Abenteuer brächte, wenn sie sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern und sie begreifen würde.
Literatur
Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Band. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. Berlin: De Gruyter Saur, 2010. Fowler, Andrew (Hg.): The Sunday Visitant. Or, Weekly Repository of Christian Knowledge. 11. Jg., Nr. 6. Charleston: T. B. Stephens, 1818. Online verfügbar unter https://books.google. at/books?id=21w_AAAAYAAJ, zuletzt geprüft am 05.03.2021. Hescheles, Janina: Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens. Ghetto – Lager – Versteck. Übers. von Christina-Marie Hauptmeier, hg. von Markus Roth. Berlin: Metropol, 2019 (Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur, Bd. 7). Historical Atlas of the Holocaust. New York: MacMillan, 1996. Mellenthin, Knut: Chronologie des Holocaust. Online verfügbar unter http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1941/ juli.html, zuletzt geprüft am 15.04.2021. Rudorff, Andrea: „Numerus Nullus“. In: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. Berlin: De Gruyter, 2010, S. 252–253. Strauss-Marko, Shlomo: Poylishe Yidn in di ṿelder. Tel-Aviv: Farlag Nay-lebn, 1979; digit. Aufl. Amherst: National Yiddish Book Center, 2009 (Steven Spielberg digital Yiddish library, no. 103813). Online verfügbar unter https://www.yiddishbookcenter.org/collections/yiddish-books/spb-nybc210383/straussmarko-shlomo-poylishe-yidn-in-di-velder-vol-3, zuletzt geprüft am 15.04.2021. „Tadeusz Kościuszko“. In: Encyclopaedia Britannica. Online verfügbar unter https://www.britannica.com/biography/TadeuszKosciuszko, zuletzt geprüft am 15.04.2021.
Abbildungsnachweis
Sämtliche Abbildungen in diesem Buch stammen aus dem Privatbesitz der Autorin.