Vielfalt im Recht [1 ed.] 9783428559848, 9783428159840

Vielfalt im Recht hat zahlreiche Facetten. Sich diesen unterschiedlichen Dimensionen anzunähern, sozusagen die »Vielfalt

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Vielfalt im Recht [1 ed.]
 9783428559848, 9783428159840

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Schriften zur Rechtstheorie Band 302

Vielfalt im Recht Herausgegeben von

Milan Kuhli und Mareike Schmidt

Duncker & Humblot · Berlin

MILAN KUHLI UND MAREIKE SCHMIDT (HRSG.)

Vielfalt im Recht

Schriften zur Rechtstheorie Band 302

Vielfalt im Recht Herausgegeben von

Milan Kuhli und Mareike Schmidt

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-15984-0 (Print) ISBN 978-3-428-55984-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 26. und 27. August 2019 fand an der Universität Hamburg die Tagung „Viel­ falt im Recht“ statt. Der vorliegende gleichnamige Sammelband beinhaltet die schriftliche Fassung einiger der auf dieser Tagung gehaltenen Vorträge. Allen Vortragenden – neben den Autorinnen und den Autoren dieses Bandes sind Yuko Nishitani (Kyoto University) und Lars Viellechner (Universität Bremen) zu nennen – möchten wir an dieser Stelle noch einmal herzlich dafür danken, dass sie die Konferenz mit ihren interessanten und spannenden Referaten bereichert haben. Ein besonderer Dank gebührt zudem all denjenigen, die die Organisation der Tagung und die Erstellung des Sammelbandes tatkräftig unterstützt haben. Zu nennen sind hier Aylin Aslan, Barbara Fisz, Jan Hendrik May, Hannah Ofter­ dinger, Judith Papenfuß, Lara Schmidt, Jasper Wode, Florentine Wiethoff und ­Judith Zemmrich. Dankend hervorheben möchten wir außerdem, dass die Tagung in großzügiger Weise durch die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung und das Gleichstellungsreferat der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Ham­ burg gefördert wurde. Schließlich danken wir dem Verlag Duncker & Humblot für die freundliche Bereitschaft, den vorliegenden Sammelband zu publizieren. Andreas Beck hat die Drucklegung des Bandes umsichtig begleitet. Hamburg, März 2022

Milan Kuhli & Mareike Schmidt

Inhaltsverzeichnis Mareike Schmidt & Milan Kuhli Vielfalt im Recht – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Anna Katharina Mangold Gleichheitsdogmatik als Verarbeitung von Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Bijan Fateh-Moghadam Toleranz oder Neutralität? Zu den ideengeschichtlichen Grundlagen des strafrechtlichen Umgangs mit religiöser Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Hans-Heinrich Trute Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen Einheit und Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Hans-W. Micklitz European Regulatory and Private Law – Between Neoclassical Elegance and Postmodern Pastiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Florian Rödl Die Einheit des Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Peter Collin Justizielle Vielfalt – Alternativen zur ordentlichen Gerichtsbarkeit im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Vielfalt im Recht – eine Einleitung Mareike Schmidt & Milan Kuhli Vielfalt im Recht hat zahlreiche Facetten. Sich diesen unterschiedlichen Di­ mensionen anzunähern, also sozusagen die „Vielfalt der Vielfalt“ aufzufächern und unterschiedliche Zugänge dazu und Perspektiven darauf aufzuzeigen, war das Anliegen einer Tagung, die im Sommer 2019 an der Universität Hamburg statt­ fand. Wir schätzen uns sehr glücklich, dass wir dafür an einem Ort tagen durften, der für dieses Thema wohl so passend ist wie kaum ein anderer. Die Rede ist von der Bibliothek Aby Warburgs, in der vielfältige Perspektiven auf die Welt und die Wissenschaft gesammelt und durch ein einzigartiges Ordnungssystem nach dem „Gesetz der guten Nachbarschaft“ auf eine Art zueinander in Beziehung gesetzt wurden, dass sich aus den verschiedenen Perspektiven wieder neue, bisher unge­ sehene Zusammenhänge ergeben und erschließen konnten.1 Was aber verbirgt sich hinter der Idee – oder besser: den Ideen – der Vielfalt im Recht? Vielfalt kann beispielsweise ein Faktum sein, mit dem Recht umgehen muss (etwa kulturelle Vielfalt); sie kann ein Ziel sein, das durch Recht verfolgt wird (beispielsweise Medienpluralismus); sie kann auch eine Methode oder ein Mittel sein, mit der bzw. dem das Recht arbeitet (z. B. die Vielfalt der sozialen Träger). Die Liste ließe sich wohl beliebig fortsetzen.2 Statt einer Zersplitterung scheint es uns jedoch am hilfreichsten, von einer ganz grundlegenden Unterscheidung aus­ zugehen: nämlich derjenigen zwischen der Vielfalt als dem „Eigenen“ des Rechts (z. B. seine Regelungs- und Anwendungsmechanismen, seine eigene Ausdifferen­ zierung, seine Ziele) auf der einen Seite und der Vielfalt als dem „Anderen“ des Rechts (in der Regel: Regelungsgegenstand) auf der anderen Seite.3 Kurz gefasst unterscheiden wir also zwischen rechtlicher und gesellschaftlicher Vielfalt. Beide Spielarten und mögliche Zusammenhänge zwischen ihnen zu skizzieren, ist Ziel dieser Einleitung. 1

http://www.warburg-haus.de/kulturwissenschaftliche-bibliothek-warburg/ (zuletzt abge­ rufen am 13. 08. 2021). 2 Ulrike Lembke hat in ihrem Versuch, den verwandten Terminus „Diversity“ als Rechts­ begriff zu fassen, fünf Dimensionen der Betrachtung aufgezeigt: Regelungsgegenstand, Re­ gelungsmittel, Regelungstechnik, Regelungsziel und Regelungsfolgen, vgl. Lembke, Diversity als Rechtsbegriff, RW 2012, 46 ff. (57); ob dabei mit Diversity tatsächlich dasselbe gemeint ist wie mit Vielfalt, mag dahinstehen. Auch verbinden wir mit dieser Einleitung nicht den Anspruch, Vielfalt als Rechtsbegriff zu bestimmen (welche Implikationen das im Einzelnen auch immer haben mag). 3 Vgl. zu dieser Differenzierung auch Fateh-Moghadam in diesem Sammelband (S. 32).

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I. Gesellschaftliche Vielfalt Wir beginnen mit der gesellschaftlichen Vielfalt. Sie dürfte der Aspekt sein, der den meisten von uns beim Gedanken an „Vielfalt im Recht“ als erstes ein­ fällt. Nicht zuletzt liegt dies vermutlich an der aktuellen Debatte über Identitäten und Identitätspolitik sowie über „Diversity“ als gesellschaftlicher Tatsache bzw. erstrebenswertem Ziel.4 Jenseits dieser aktuellen Bezüge ist gesellschaftliche Plu­ ralität kein neues Phänomen. Allerdings ist davon auszugehen, dass der Vielfalt innerhalb einzelner Gesellschaften heutzutage jedenfalls eine größere Bedeutung beigemessen und auch mehr Anerkennung zuteil wird. Zwei weitere Aspekte gesellschaftlicher Pluralität, die seit einiger Zeit auch im öffentlichen Diskurs eine große Aufmerksamkeit erfahren, betreffen Kultur und Religion. Letztere nimmt Bijan Fateh-Moghadam in seinem Beitrag in den Blick: Er widmet sich hierin unter anderem der Frage, inwieweit das Strafrecht mit reli­ giös-weltanschaulicher Vielfalt umgeht, und unterscheidet hierbei aus einer kri­ tischen Perspektiven zwischen Konzepten der Toleranz und der Neutralität.5 Der Bereich der Kultur war Inhalt des Vortrags von Yuko Nishitani, in dem sie den Umgang mit kultureller Vielfalt in einzelnen Bereich des Familienrechts untersucht hat.6 Gerade im Bereich des familiären Zusammenlebens zeigt sich ein weiteres Element gesellschaftlicher Pluralität in Gestalt der Vielfalt der Lebensformen. Diese wiederum können auch mit kulturellen Hintergründen in Verbindung ste­ hen – müssen es jedoch nicht unmittelbar.

II. Rechtliche Vielfalt Vielfalt lässt sich auch als ein Charakteristikum des Rechts beschreiben.7 Am grundlegendsten ist insofern wohl die Vielfalt des Rechtsbegriffs selbst, der je nach Standpunkt nur staatlich gesetztes, positives Recht bezeichnet oder eine oder mehrere der folgenden Spielarten (mit) einbezieht: vor-positives (Natur-)Recht, religiöses Recht, transnationales Recht, privat gesetztes Recht oder aber auch ge­ 4 Ein Beispiel eines Anwendungsbereichs bilden die Grundsätze der modernen Unterneh­ mensführung. 5 Fateh-Moghadam in diesem Sammelband (S. 32 ff). 6 Der Vortrag von Yuko Nishitani konnte leider nicht verschriftlicht und in diesem Sam­ melband abgedruckt werden; vgl. aber Nishitani, Identité culturelle en droit international privé de la famille, in: Recueil des Cours, Vol. 401 (2019), S. 127 ff. Zum Umgang mit kultu­ reller Vielfalt in den vermögensrechtlich ausgerichteten Bereichen des bürgerlichen Rechts vgl. M. Schmidt, Integratives bürgerliches Recht? Zum Umgang mit kultureller Diversität im Vermögensrecht, in: Buchholtz / Croon-Gestefeld / Kerkemeyer (Hrsg.), Integratives Recht, Tü­ bingen 2021, S. 153 ff. 7 Eine solche Überlegung mag kontraintuitiv erscheinen, soweit man der Vorstellung der Einheit der Rechtsordnung anhängt; vgl. zu dieser Vorstellung Rödl in diesem Sammelband (S. 100).

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sellschaftliche Normen, deren Nichtbefolgung in irgendeiner Form sanktioniert wird. Eng damit verbunden ist eine Vielfalt der möglichen Rechtsquellen und derjenigen Personen(gemeinschaften) oder Institutionen, die als Rechtssetzende in Betracht kommen. Diese Form der Vielfalt ist eng verknüpft mit der Vielfalt verschiedener Rege­ lungsebenen, angefangen bei der kommunalen, über die Landes- und Bundes- bis hin zur supranationalen Ebene, sowie einer Pluralität von Regelungsbereichen, die mit unterschiedlichen Ausgangslagen und Zielen verschiedenen Logiken folgen. Dem Phänomen einer in multipler Weise zusammengesetzten Rechtsordnung wid­ met sich der Beitrag von Hans-W. Micklitz anhand des Beispiels des European Regulatory and Private Law.8 In dieser Hinsicht analysiert er allgemeine Prinzipien, Mechanismen horizontaler und vertikaler Differenzierung, die Rolle des regula­ torischen Privatrechts für die Entstehung einer europäischen Gesellschaft sowie den unterschiedlichen Umgang mit Heterogenität in unterschiedlichen Teilrechts­ gebieten. Auf dieser Grundlage diagnostiziert er eine fortbestehende Spannung zwischen Einheitlichkeit und Fragmentierung. Den Gedanken der unterschiedlichen Teilrechtsgebiete, in die das Recht in mo­ dernen Gesellschaften regelmäßig ausdifferenziert ist, greift auch Florian Rödl in seinem Beitrag auf. Er nimmt dazu das Arbeitsrecht in den Blick, welches sich aus zivilrechtlichen, privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Elementen zu­ sammensetzt. Obgleich die Pluralität der so verbundenen Materien eine Fragmen­ tierung naheliegend erscheinen lässt, postuliert er nichtsdestoweniger die Einheit des Arbeitsrechts und setzt damit einen Kontrapunkt zu der seiner Ansicht nach „im avancierten Lager“ weit verbreiteten „These des Pluralismus“9. Ebenfalls mit verschiedenen Regelungsfeldern setzt sich Peter Collin in seinem Beitrag auseinander, allerdings aus einer verfahrens- und organisationsrechtlichen Perspektive.10 Er konstatiert (mit Fokus auf dem Straf- und Privatrecht) eine justi­ zielle Vielfalt für Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, und zwar entgegen verbreiteten Vorstellungen einer staatlichen justiziellen Einheit in jener Zeit. Pluralisierungstendenzen erkennt er sowohl mit Blick auf die Organisationen als auch hinsichtlich der Verfahren sowie schließlich auch – und hier lässt sich wie­ der ein Zusammenhang mit einer Diversifizierung von Grundprinzipien sowie mit dem materiellen Recht erkennen – im Hinblick auf materielle Entscheidungsratio­ nalitäten. Damit einher ging eine personelle Pluralisierung der Rechtsprechenden, und zwar durch den Einbezug von juristischen Laien in die Entscheidungsfindung.

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Micklitz in diesem Sammelband (S. 75 ff.). Hierzu Rödl in diesem Sammelband (S. 100). 10 Collin in diesem Sammelband (S. 121 ff.). 9

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III. Zusammenhänge und Verhältnisse Das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und rechtlicher Vielfalt lässt sich seinerseits aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: So lässt sich insbesondere danach fragen, welchen Einfluss gesellschaftliche Vielfalt auf das Recht hat und wie das Recht mit gesellschaftlicher Vielfalt umgeht. Ein wesentlicher Gesichts­ punkt im Verhältnis zwischen Recht und gesellschaftlicher Vielfalt ist die Frage nach der Reaktion des Rechts auf gesellschaftliche Diversität. Im Ausgangspunkt zeigt sich im Angesicht gesellschaftlicher Vielfalt auch das Spannungsverhältnis zwischen dem Anliegen, einheitliche rechtliche Regeln für alle Betroffenen auf­ zustellen, und dem Ziel der angemessenen rechtlichen Regelung für jeden Einzel­ fall. Häufig begegnet der Gesetzgeber dieser Herausforderung durch den Einsatz von Generalklauseln oder wertenden Begriffen, wie etwa Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder Geringwertigkeit (§ 243 Abs. 2 StGB),11 verweist die Erfordernisse der Einzelfallgerechtigkeit also auf die Ebene der Rechtsanwendung. Der Vorteil einer solchen Lösung kann darin bestehen, dass möglicherweise auftretende Sachver­ halte nicht bereits bei der gesetzlichen Normbegründung kategorisiert werden müssen.12 Allerdings unterliegt der Gesetzgeber aufgrund der Prinzipien der recht­ lichen Bestimmtheit und der Rechtssicherheit bei der Verwendung flexibler Tat­ bestandsmerkmale durchaus auch Grenzen.13 Zudem weist Hans-Heinrich Trute in seinem Beitrag zutreffend auf die entgegengesetzte Herausforderung hin, die sich in der Rechtsapplikation stellt: „Wie sichert, wenn überhaupt, das Rechtssys­ tem die Einheit der Rechtsanwendung angesichts der dezentralen Anwendung des Rechts durch eine Vielzahl der Anwendungsinstanzen, sei es der Gerichte oder der Verwaltung?“14 Jenseits der schlichten Dichotomie von Einheitlichkeit – etwa in Form der Abs­ traktion von gesellschaftlicher Vielfalt – und Diversifizierung rechtlicher Rege­ lungen in Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt sind noch weitere Beziehungen zwischen Recht und gesellschaftlicher Vielfalt denkbar: So kann gesellschaftli­ che Vielfalt durch Etablierung rechtlicher Kategorien entweder negiert oder an­ erkannt werden; aus jüngerer Zeit ist hier vor allem das Beispiel der geschlechtli­ chen Identität zu nennen.15 Durch rechtliche Mechanismen kann gesellschaftliche Vielfalt verboten oder ermöglicht, geschützt oder gefördert werden. Dafür sind nicht zwingend unterschiedliche gesetzliche Regelungen für unterschiedliche Personen(kreise) erforderlich. Vielmehr kommen – was insbesondere Lars Viel­ 11 Vgl. hierzu Kuhli, Normative Tatbestandsmerkmale in der strafrichterlichen Rechtsan­ wendung, Tübingen 2018, S. 249 f. 12 Vgl. in diesem Kontext die Ausführungen von Mangold in diesem Sammelband (S. 15 ff.), die sich mit dem Verhältnis von Diskriminierungskategorien und Zwischenformen befasst. 13 Diese Grenzen variieren von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet durchaus. 14 Trute in diesem Sammelband (S. 68). 15 Vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 10. 10. 2017  – 1 BvR 2019/16, in: NJW 2017, 3643 m. Anm. Gössl.

Vielfalt im Recht – eine Einleitung

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lechner in seinem Vortrag thematisierte16 – auch universal geltende Regelungen in Betracht, wie beispielsweise die Grundrechte, die durch die Gewährleistung von Freiheiten universelle Schutzmechanismen gesellschaftlicher Vielfalt darstellen. Viellechner erstreckte in seinem Vortrag das (insbesondere im nationalen Bereich vertraute) verfassungsrechtliche Konzept auch auf das Verhältnis zwischen ver­ schiedenen Staaten und plädierte dafür, durch ein weitgehend einheitliches System eine Pluralität an Lösungen zu ermöglichen. Eng hiermit verbunden sind auch die unterschiedlichen Dimensionen der Regelung im europäischen Mehrebenensys­ tem. Eine gedankliche Nähe besteht insofern auch zu den aus dem nationalen Raum bekannten Wegen der Gewährleistung von Mitbestimmung sowie der Delegation von Regelungsbefugnissen, etwa in Form der Gestattung von Selbstverwaltung, durch die gesellschaftlicher Vielfalt Rechnung getragen werden kann. Schließlich kennt das Recht  – wie Hans-Heinrich Trute in seinem Beitrag ausführt  – auch Aufträge zur Sicherung der Vielfalt, etwa in Bezug auf Leistungsträger und An­ gebote im Sozialrecht, kulturelle Vielfalt im Bildungswesen sowie in Gestalt des Rundfunkpluralismus.17 Deutlich wird an diesen verschiedenen Gesichtspunkten, dass die Berücksichti­ gung gesellschaftlicher Vielfalt nicht zwingend eine Ausdifferenzierung staatlicher Regelungen bedeuten muss. Sofern keine Differenzierung stattfindet, stellt sich je­ doch regelmäßig die Frage nach dem Verhältnis von Relevanz und Nicht-Relevanz faktischer Vielfalt im Rahmen der Gleichheitsdogmatik. Diesem Aspekt geht Anna Katharina Mangold in ihrem Beitrag nach.18 Sie diskutiert darin Grundfragen des rechtlichen Umgangs mit „der unendlichen Vielfalt der tatsächlich lebenden Men­ schen“19 sowie die historische Entwicklung der Gleichheitsdogmatik. Dabei geht sie auf die Unterschiede zwischen einem formalen und einem materialen Verständ­ nis von Gleichheit ein und exemplifiziert ihre Überlegungen anhand des Beispiels der Kopftuch tragenden Richterin. Nach alledem beschreibt die Vielfalt im Recht eine ganze Palette von Phäno­ menen, die auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedener Ausprägung anzu­ treffen sind. Der Umgang mit dieser Herausforderung kann nicht in der Aufhebung der Vielfalt, wohl aber in ihrer Ordnung und Klassifikation bestehen. Dazu soll der vorliegende Sammelband einen kleinen Beitrag leisten – in der Hoffnung, dass sich die unterschiedlichen Perspektiven ganz im Sinne der „guten Nachbarschaft“ der Bibliothek Aby Warburgs zu einem Ganzen vereinen, das den Leser:innen neue Impulse zu geben vermag.

16 Der Vortrag von Lars Viellechner konnte leider nicht verschriftlicht und in diesem Sam­ melband abgedruckt werden. 17 Trute in diesem Sammelband (S. 53). 18 Mangold in diesem Sammelband (S. 14 ff.). 19 Mangold in diesem Sammelband (S. 21).

Gleichheitsdogmatik als Verarbeitung von Vielfalt Anna Katharina Mangold In diesem Beitrag geht es darum, wie rechtliche Gleichheitsdogmatik tatsächlich vorfindliche Vielfalt verarbeitet. In der rechtlichen Debatte zentral für die Ver­ handlung von Vielfalt ist die Dogmatik der besonderen Gleichheitssätze, also der Diskriminierungsverbote, weil diese Gleichheitssätze historisch wie theoretisch den allgemeinen Gleichheitssatz flankieren. Während der allgemeine Gleichheits­ satz alle Menschen als gleich (vor dem Gesetz) bezeichnet und damit gerade die universelle revolutionäre Idee der Gleichheit aller Menschen in den Vordergrund rückt,1 reagieren die besonderen Gleichheitssätze seit jeher auf die faktische Viel­ falt von Menschen, die sich auch in rechtlichen Regelungen niederschlägt. Die Struktur besonderer Gleichheitssätze untersagt reaktiv die kategoriale Unterschei­ dung zwischen Personen und Personengruppen.2 Dogmatisch ausdifferenzierte Rechtsfiguren operationalisieren dieses generelle Verbot inzwischen, indem sie es spezifizieren und damit für Einzelfälle handhabbar machen: Verboten ist die unmittelbare Diskriminierung ebenso wie die mittelbare,3 während angemessene Vorkehrungen4 zu treffen sind, um Diskriminierungen zu verhindern. Das Ver­ 1 Art.  3 Französische Menschenrechtserklärung von 1793 (abgedr. bei Franz, Günther, Staatsverfassungen, 1975, S. 372 ff.): „Tous les hommes sont egaux par la nature et devant la loi.“ US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776: „We hold these truths to be selfevident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ (eigene Hervorhebung). 2 Umfassend zu den Elementen rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung Mangold, Demo­ kratische Inklusion durch Recht, 2021. – Der Beitrag beruht auf dieser Arbeit und entwickelt sie weiter. 3 Exemplarische Definitionen der beiden Rechtsfiguren finden sich in § 3 AGG. § 3 Abs. 1 S. 1 AGG: „Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines [geschützten] Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ § 3 Abs. 2 AGG: „Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neut­ rale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines [geschützten] Grundes gegen­ über anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“ 4 Exemplarisch die Begriffsbestimmung in Art. 2 Uabs.  4 UN-BRK (BGBl.  II 2008, S. 1419): „Im Sinne dieses Übereinkommens […] bedeutet ‚angemessene Vorkehrungen‘ not­ wendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder un­ billige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vor­ genommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können […].“

Gleichheitsdogmatik als Verarbeitung von Vielfalt

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hältnis zur proaktiven Förderung5 kategorial bestimmter Personengruppen, die historisch Diskriminierung erfahren haben und deswegen in der Gegenwart noch strukturell benachteiligt sind, ist in diesem dogmatischen Feld notorisch schwierig zu bestimmen: Auf Basis eines rein formalen Gleichheitsverständnis6 wäre jede Anknüpfung an bestimmte kategoriale Unterscheidungen untersagt, während ein materiales Gleichheitsverständnis7 die faktischen gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nimmt und zwischen solchen Anknüpfungen unterscheidet, die sich auf historisch diskriminierte kategorial bestimmte Personengruppen weiter negativ auswirken, und solchen Anknüpfungen, die positive Effekte gerade für historische benachteiligte Personengruppen bezwecken. Der Beitrag entwickelt die Argumentation in drei Schritten. Im ersten Schritt (I.) wird eine Perspektive auf die Funktionsweise von rechtlichen Gleichheitssät­ zen vorgestellt, die von der unendlichen Vielfalt unter den Menschen abstrahieren und bestimmte Hinsichten definieren, die unberücksichtigt bleiben müssen, um von rechtlicher Gleichheit sprechen zu können. Im zweiten Schritt (II.) zeichnet eine genealogische Perspektive den Wandel und die Umkämpftheit rechtlicher Gleichheitsverständnisse nach. In diesem Abschnitt bilden historische Beispiele den Ausgangspunkt für die idealtypische Beschreibung in einem Drei-Phasen-Mo­ dell von Gleichheitskämpfen,8 demzufolge zunächst Gleichheit ganz grundsätzlich verwehrt wird, worauf folgend immerhin formale Gleichheit gewährt wird, wäh­ rend in der dritten Phase die formale durch materiale Gleichheit mit Leben erfüllt wird. Im dritten Schritt (III.) schließlich werden die theoretischen und historischen Überlegungen knapp auf das Beispiel des aktuell hochumstrittenen Kopftuches in der Justiz angewandt, an dem deutlich wird, wie im Recht und anhand der Gleich­ heitssätze darum gerungen wird, ob und wie der sichtbaren gesellschaftlichen Vielfalt Rechnung zu tragen ist.

I. Rechtliche Gleichheit: Abstraktion von unendlicher Vielfalt Besondere Gleichheitssätze abstrahieren trotz ihres Bezugs auf kategoriale Unterscheidungen zwischen Personengruppen doch noch immer von der tatsäch­ lichen menschlichen Vielfalt und definieren lediglich bestimmte Hinsichten, auf die es für eine Unterscheidung rechtlich nicht soll ankommen dürfen. Sie etab­ lieren kontrafaktische Forderungen und rufen auf zur Überwindung der existie­ renden ungleichen gesellschaftlichen Zustände. Positiv gewendet stellen sie einen

5 Übersicht mit Typologie bei McCrudden, A Comparative Taxonomy of ‚Positive Action‘ and ‚Affirmative Action‘ Policies, in: Schulze (Hrsg.), Non-Discrimination in European Pri­ vate Law, 2011, S. 157–180. 6 Zum formalen Gleichheitsverständnis unten II. 2. a). 7 Zum materialen Gleichheitsverständnis unten II. 2. d). 8 Unten  II. 1.

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Anna Katharina Mangold

„Schuldschein auf die Zukunft“9 aus, der erlaubt, die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen und eine Rechtfertigung zu verlangen.

1. Individualität und Gleichheit Ein Grundsatz modernen Rechts ist, dass jeder Mensch in seiner Individualität wahrgenommen werden soll. In Deutschland etwa ist das allgemeine Freiheitsrecht in Art. 2 Abs. 1 GG nicht zufällig formuliert als „freie Entfaltung der Persönlich­ keit“. Jeder Mensch soll vom Staat und im Recht in seinem Sosein akzeptiert wer­ den. Der Anspruch auf Anerkennung von Autonomie ist das rechtliche Äquivalent der Individualität der Einzelnen.10 Dieser Anspruch steht in einem Spannungsverhältnis zu einem weiteren Grund­ satz modernen Rechts, nämlich der demokratischen Gleichheit aller Menschen, die schon in der Paulskirchenverfassung (§ 137 Paulskirchenverfassung11), im 14. Zusatz­ artikel der US-Verfassung12, in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 109 WRV13) 9

Diese Formulierung bei Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019, S. 338. Zu Analysen von Autonomie aus verschiedenen feministischen Perspektiven Baer / Sack­ sofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 2018. 11 § 137 Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. 3. 1849 (RGBl. 1849, S. 101; abgedr. bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 1: Deutsche Verfassungsdoku­ mente 1803–1850, 3. Aufl. 1978, S. 375 ff.): „(1) Vor dem Gesetz gilt kein Unterschied der Stände. (2) Der Adel als Stand ist aufgehoben. (3) Alle Standesvorrechte sind abgeschafft. (4) Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. (5) Alle Titel, insoweit sie nicht mit einem Amte verbunden sind, sind aufgehoben und dürfen nie wieder eingeführt werden. (6) Kein Staatsangehöriger darf von einem auswärtigen Staate einen Orden annehmen. (7) Die öffentlichen Aemter sind für alle Befähigten gleich zugänglich. (8) Die Wehrpflicht ist für Alle gleich; Stellvertretung bei derselben findet nicht Statt.“ 12 Amendment XIV Sec. 1 (veröffentlicht am 16. 6. 1866, 14 Stat. 358, ratifiziert am 9. 7. 1868): „All persons born or naturalized in the United States, and subject to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the State wherein they reside. No State shall make or enforce any law which shall abridge the privileges or immunities of citizens of the United States; nor shall any State deprive any person of life, liberty, or property, without due pro­ cess of law; nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws.“ (eigene Hervorhebung). 13 Art. 109 Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 8. 1919 (RGBl. S. 1383; abgedr. bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 4: Deutsche Verfassungsdoku­ mente 1919–1933, 3. Aufl. 1992, S. 151 ff.): „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden. Titel dürfen nur verliehen werden, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen; akademi­ sche Grade sind hierdurch nicht betroffen. Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staat nicht verliehen werden. 10

Gleichheitsdogmatik als Verarbeitung von Vielfalt

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und nun dem Grundgesetz (Art. 3 GG14) als „Gleichheit vor dem Gesetz“ formuliert ist. In allen genannten Verfassungen ist dieser sogenannte allgemeine Gleichheits­ satz von Beginn an flankiert von speziellen Diskriminierungsverboten, etwa der Abschaffung von Standesvorrechten und Titeln, so in der Paulskirchenverfassung15 und Weimarer Verfassung16, der Abschaffung der Sklaverei in den USA17, und dem gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in allen drei erwähnten deutschen Ver­ fassungen18. Die Gefahr liegt darin, dass Menschen behaupten, besonders und an­ ders zu sein, weswegen sie nicht so behandelt werden dürften wie andere, sondern bessere Behandlungen erfahren müssen, etwa weil sie adelig sind. Historisch richtet sich das demokratische Gleichheitsversprechen einer üblichen Erzählung nach primär gegen den Ständestaat,19 der nach dem von den Einzelnen unbeeinflussbaren „Zufall der Geburt“20 bestimmt, wer welche Rechte hat und wer von diesen Rechten ausgeschlossen ist. Allerdings wurden schon in der Franzö­ sischen Revolution auch die unterschiedlichen Rechte von Männern und Frauen

Kein Deutscher darf von einer ausländischen Regierung Titel oder Orden annehmen.“ 14 Art. 3 GG i. d. F. des 42. ÄnderungsG v. 27. 10. 1994 (BGBl. I, S. 3146): „(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Spra­ che, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen An­ schauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ 15 § 137 Abs. 1–3 Paulskirchenverfassung (Fn. 11). 16 Art. 109 Abs. 3 und 4 WRV (Fn. 13). 17 Amendment XIII Sec. 1 (veröffentlicht am 1. 2. 1865, 13 Stat. 567, ratifiziert am 6. 12. 1865): „Neither slavery nor involuntary servitude, except as a punishment for crime whereof the party shall have been duly convicted, shall exist within the United States, or any place subject to their jurisdiction.“ 18 § 137 Abs. 7 Paulskirchenverfassung (Fundstelle bei Fn. 11); Art. 128 WRV (Fundstelle bei Fn. 13): „(1) Alle Staatsbürger ohne Unterschied sind nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen. (2) Alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte werden beseitigt. (3) Die Grundlagen des Beamtenverhältnisses sind durch Reichsgesetze zu regeln.“ Art. 33 Abs. 2 und 3 GG: „(2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. (3) Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Äm­ tern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem reli­giösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Be­ kenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“ 19 Das lässt sich in den soeben in den Fußnoten zitierten Gleichheitsartikeln der deutschen Verfassungen exemplarisch ablesen. 20 Angelehnt an die Formulierung in Hirabayashi v. United States, 320 U. S. 81, 111 (1943), per Murphy J conc.: „accident of race or ancestry“.

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Anna Katharina Mangold

kritisiert,21 ebenso wie Sklaverei als mit der universellen Menschengleichheit an­ gesehen wurde22. In dieser Genealogie tritt eine Spannungslage hervor, die die besonderen Gleichheitssätze prägt: Der allgemeine Gleichheitssatz macht ein allgemeines Gleichheitsversprechen, das in der Realität freilich nur für eine kleine Gruppe von Menschen erfüllt ist, gerade weil die Menschen so vielfältig sind und sich in so unterschiedlichen Lebenslagen befinden. Die besonderen Gleichheitssätze er­ lauben als Diskriminierungsverbote nun, gerade diese Vielfalt geltend zu machen gegenüber regulativer Orientierung an einem impliziten Normalmodell, das nur die in einer konkreten Gesellschaft hegemoniale Personengruppe erfüllt (etwa: weiße, gesunde, heterosexuelle Männer, welche der Mehrheitsreligion angehören).23 Die besonderen Gleichheitssätze flankieren den allgemeinen Gleichheitssatz also von Beginn an und machen historisch den eigentlichen Kern rechtlicher Gleichheitsvorstellungen aus. Die Gleichheitsdogmatik lässt sich vom Kopf auf die Füße stellen, wenn nicht der allgemeine Gleichheitssatz, sondern vielmehr die besonderen Gleichheitssätze als Diskriminierungsverbote theoretisch zum Aus­ gangspunkt der dogmatischen Rekonstruktion gemacht werden. Einerseits sind also Menschen Individuen und unterscheiden sich in vielfäl­ tiger Weise, andererseits sollen sie rechtlich gleich behandelt werden, „vor dem Gesetz gleich sein“. Gleichheitssätze sind demnach im Kern kontrafaktische Be­ hauptungen: Offenbare faktische Unterschiede, nämlich die Vielfalt der Men­ schen, sollen in bestimmten Hinsichten nicht relevant sein. Was diese Hinsichten sind, die rechtlich nicht relevant sein dürfen, ist je gesondert zu untersuchen für die verschiedenen Ausprägungen der Gleichheitssätze. Diskriminierungsverbote bestimmen relevante Hinsichten, auf die eine benachteiligende Behandlung nicht gestützt werden darf.

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Olympe de Gouges formulierte im September 1791 deswegen eine „Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne“, zuerst für die deutsche Debatte zugänglich geworden 1977 bei Schröder / Sauter, Zur politischen Theorie des Feminismus, APuZ 1977, S. 28 (31). Weg­ weisend für das deutsche Schrifttum hat diese Traditionslinie herausgearbeitet Gerhard, Ute, Gleichheit ohne Angleichung, 1990, S. 49 ff., insbes. S. 52 ff., inklusive Rekonstruktion des historiographischen Verschweigens der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“. 22 Wiederum kein Zufall ist es wohl, dass Olympe de Gouge, die auch mehrere Theaterstücke verfasst hat, sich in einem, L’Esclavage des Noirs, ou l’heureux naufrage, mit der Sklaverei in den französischen Kolonien auseinandersetzte und sie anprangerte; das Stück wurde 1789 an der Comédie Française aufgeführt. 23 Umfassend Mangold / Payandeh (Hrsg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2021 (in Vorbereitung).

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2. Unterscheidungskategorien und ihre Konstruktion Diese relevanten Hinsichten, Klassen von Personen oder Diskriminierungs­ kategorien24 sind ihrerseits nicht tatsächlich vorfindlich, sondern werden rechtlich erst konstruiert.25 Jede Form rechtlicher Klassifizierung erfordert eine Einord­ nung in die angenommenen Ausprägungen einer „Klasse“ oder Kategorie – etwa in „weiß“ und „Schwarz“26, „Frau“ und „Mann“, behindert und nicht behindert et cetera. All jene typischerweise und tatsächlich vorkommenden Zwischenformen müssen dann aber rechtlich zugeordnet werden. Die Vielfalt der Menschen wird in nur zwei oder drei Ausprägungen einer „Kategorie“ gepresst, auch wenn es viel mehr als nur zwei oder drei Ausprägungen gibt. Für Zwischenformen müssen in der Folge rechtliche Regeln definiert werden, nach denen die Zuordnung überhaupt erfolgen kann. Das Problem stellt sich nicht nur bei der Rasse, die eben nicht nur „weiß“ und „Schwarz“ kennt, sondern auch viele Mischformen. Die US-amerikanische „Ein-Tropfen-Regel“ (one drop rule) etwa gibt vor, wie Zuordnungen zu erfolgen haben: danach, ob auch nur „ein Trop­ fen Schwarzen Blutes in den Adern einer Person fließe, was sich danach bemisst, ob eine Person Schwarze Vorfahren hat.27 Auch bei vielen anderen Diskriminierungskategorien müssen solche Zuordnun­ gen getroffen werden, etwa dem Geschlecht, bei dem eine hohe Vielfalt an Zwi­ schenformen unter den Menschen zu beobachten ist.28 Im Fall der geschlechtlichen

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Während der Begriff „Merkmal“ als ein Charakteristikum von Personen angesehen wird, etwa ihre Hautfarbe oder ihr Geschlecht betreffend, lenkt der Begriff „Kategorie“ das Augen­ merk auf den ordnenden und unterscheidenden Vorgang, der in der Zuweisung zu einer kate­ gorial geschützten Personengruppe liegt. 25 Dazu ausführlich Mangold, Demokratische Inklusion (Fn. 2), § 6, S. 305 ff. 26 Die Großschreibung des Adjektivs Schwarz folgt einer Selbstbenennungspraxis von ­People of Colour in Deutschland, vgl. Eggers / Kilomba / Piesche / Arndt (Hrsg.), Mythen, Mas­ ken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 13. Sie soll verdeutlichen, dass es sich bei der Bezeichnung um eine Konstruktionsleistung handelt; die Großschreibung irritiert und ermöglicht so, einen Widerstand im Text zu erzeugen. 27 Racial Integrity Act 1924, Sec. 5: „It shall hereafter be unlawful for any white person in this State to marry any save a white person, or a person with no other admixture of blood than white and American Indian. For the purpose of this act, the term ‚white person‘ shall ap­ ply only to the person who has no trace whatsoever of any blood other than Caucasian; but persons who have one-sixteenth or less of the blood of the American Indian and have no other non-Caucasic blood shall be deemed to be white persons.“ (Hervorh. AKM) – Die Ausnahme für American Indians galt, weil einige Virginians ihre Herkunft auf Pocahontas zurückführ­ ten, siehe Loving v. Virginia, 388 U. S. 1, 11 mit Fn. 11 (1967). 28 In der Medizin ist längst anerkannt, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt und dass es (mindestens) vier Methoden gibt, die Menschen zuzuordnen: (1) chromosomal, (2) gonodal, (3) hormonell, (4) phänotypisch. – Für die medizinische Forschung vgl. nur die immer noch re­ präsentative Metastudie von Blackless / Charuvastra / Derryck / Fausto-Sterling / L auzanne / L ee, How sexually dimorphic are we? Review and synthesis, American Journal of Human Bio­ logy 12 (2000), S. 151 ff. – Gegebenenfalls erfolgt die Zuordnung sogar mittels körperlichen

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Zuordnung überantwortet das Recht zwar die sachliche Entscheidung weitenteils dem medizinisch-psychiatrischen Personal, gibt diesem jedoch vor, dass sie in genau eine von drei Kategorien – männlich, weiblich, divers – einzuordnen haben oder die Eintragung offenlassen müssen.29

3. Dominantes Normalmodell Diese Unterscheidung anhand von Kategorien fußt darauf, dass eine Ausprägung einer Kategorie als herrschend, dominierend, gegenüber den anderen Ausprägun­ gen dieser Kategorie konstruiert wird. Die Kategorisierung von Menschen in verschiedene Rassen etwa geht mit der wertenden Zuordnung einher, dass „weiße“ Menschen zu solchen anderer Rassen in einer übergeordneten gesellschaftlichen Position stünden, und zwar gerade des­ wegen, weil die einen Menschen „weiß“, die anderen „nicht-weiß“ sind.30 Gleiches gilt für die Kategorie Geschlecht, bei der die Ausprägung „männlich“ traditionell als höherwertig und gesellschaftlich dominierend verstanden wird, der die Ausprägung „weiblich“ untergeordnet ist.31 Ähnlich dann für hetero- und homosexuell, behindert / nicht-behindert usf. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Ausprägungen einer Kategorie er­ folgt dabei typischerweise so, dass nur die nicht dominanten Ausprägungen über­

Zwangs, wenn nur so die rechtliche Klassifikation ermöglicht wird, etwa im Falle von Inter­ sex-Kindern durch sog. „geschlechtsangleichende“ Operationen. Die Diskussionen hierüber sind keineswegs bereits am Ende angelangt. Einen hilfreichen Überblick gibt der Deutsche Ethikrat, https://www.ethikrat.org/themen/gesellschaft-und-recht/intersexualitaet/ (zuletzt ab­ gerufen am 14. 6. 2021). 29 So durfte in Zweifelsfällen in Deutschland zwar seit 2012 die Einordnung aufgeschoben werden, vgl. § 22 Abs. 3 PStG a. F., doch diese Neuregelung wurde geschlechtlicher Variabilität noch immer nicht gerecht und war auch regelungstechnisch völlig verfehlt, siehe dazu Remus, Inter*Realitäten. Variabilität und Uneindeutigkeit des Geschlechts als Herausforderung für Recht und Gesellschaft, in: Schmidt / Schondelmayer / Schröder (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt: Lebenswirklichkeiten Forschungsergeb­ nisse und Bildungsbausteine, 2015, S. 63 Rn. 72. Unterdessen ist zum 1. 1. 2019 in Umsetzung von BVerfGE 147, 1 – Dritte Option [2017], eine Neuregelung erfolgt, die freilich selbst schon wieder verfassungsrechtliche Probleme aufwirft (anhängige Verfassungsbeschwerde vom 15. 6. 2020, Az. 1 BvR 1506/20), denn Geschlecht ist vielfältiger als eine binäre Vorstellung von nur und genau zwei oder drei Geschlechtern suggeriert. 30 Grundlegend für die deutschsprachige Rechtswissenschaft Barskanmaz, Recht und Ras­ sismus: Das menschenrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse, 2019; Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021. 31 Inzwischen klassisch Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung: Eine rechts­ dogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 1991 (2. Aufl. 1996); Baer, Würde oder Gleichheit?: Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung in der BRD und den USA, 1995.

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haupt hervorgehoben, also „aktiv markiert“32 werden: Menschen haben also kein Geschlecht, solange sie männlich sind; das Geschlecht wird erst thematisierungs­ bedürftig bei nicht-männlichen Menschen, insbesondere bei Frauen. Die dominante Ausprägung einer Kategorie ist das gesellschaftliche „Normal­ modell“, an dem sich alles ausrichtet und an dem die anderen, nicht-dominanten Ausprägungen gemessen werden und sich messen lassen müssen.33

4. Zusammenfassung Um diese Überlegungen zusammenzufassen: Das Recht abstrahiert von der un­ endlichen Vielfalt der tatsächlich lebenden Menschen, indem es finite Ausprägun­ gen bestimmter rechtlich relevanter und determinierter Kategorien bestimmt. Die Einordnung in diese finite Zahl an Ausprägungen erfolgt nach wiederum rechtlich festgelegten Kriterien. Die Gleichheitssätze formulieren bestimmte Hinsichten, die gerade nicht relevant für Unterscheidungen sein dürfen, und sind damit Abstrak­ tionen von der Vielfalt echter Menschen.

32 Markard, Zwangsehen und Scheinehen: Intersektionalität als Analyseinstrument im Recht, in: Bereswill / Degenring / Stange (Hrsg.), Intersektionalität und Forschungspraxis, 2015, S. 20 Rn. 22: „wer den spezifischen Erwartungen entspricht, wird nicht aktiv kategori­ siert“. – Die Unterscheidung „markiert / unmarkiert“ stammt aus der linguistischen Semantik und wurde dort prominent von Roman Jakobson eingeführt, vgl. zu seinem Werk Waugh, The Poetic Function and the Nature of Language, in: Pomorska / Rudy / Vine (Hrsg.), Verbal art, verbal sign, verbal time, Minneapolis 1985, S. 143 (160): „One similarity relation which is ex­ tremely important in linguistic structure is that of opposition; opposition is a binary relation of mutual implication in which there is an inherent asymmetry between the two choices, an asymmetry known as markedness. Markedness entails the fact that in two choices, one is the more focussed, the more narrowly constrained, the more concentrated than the other.“ Pomorska, Poetics of Prose, in: ebd., S. 169 (174): „The main concepts underlying this principle [of markedness] are correlation and hierarchy. Two mutually related elements are compared as to the amount of information they carry. The one that carries more information is the marked one, as opposed to the other element bearing less information …“ Mel’cuk, Three Main Features, Seven Basic Principles, and Eleven Most-Important Results of Roman Jakobson’s Morphological Research, in: ebd., S. 178 (186): „The markedness principle consists in recog­ nizing the essential asymmetry of opposed linguistic items: one of any two opposed items is normally distinguished by the language itself in that it receives a special mark, while the other is characterized only by the absence of such  a mark.“ (Nachw. jeweils weggelassen, Hervorh. i. Orig.). 33 Dieses „Normalmodell“ erfüllen nur bestimmte Personen, wie niemand besser (wenn auch in ganz anderer Absicht) formuliert hat als Isensee, Nachwort. Privatautonomie: Freiheit zur Diskriminierung? – Verfassungsrechtliche Vorgaben, in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 239 (270): „Männer, Gesunde mittleren Lebensalters, Hetero­ sexuelle, Christen, Deutsche ohne Migrationshintergrund etc.“  – Damit ist trefflich das in Deutschland dominierende „Normalmodell“ charakterisiert.

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II. Historische Entwicklung der Gleichheitsdogmatik: Von formaler zu materialer Gleichheit Die historische Entwicklung führt als Fortschrittserzählung von der grundsätzli­ chen Verwehrung der Gleichheit über formale Gleichheit hin zu materialer Gleich­ heit. Diese Entwicklung lässt sich idealtypisch als Drei-Phasen-Modell schemati­ sieren. Den drei Phasen korrespondieren bestimmte dogmatische Entwicklungen in der Interpretation der Gleichheitssätze.

1. Drei-Phasen-Modell von Gleichheitskämpfen In den rechtshistorischen Kämpfen um Gleichheit lassen sich idealtypisch34 drei Phasen unterscheiden:35 In der ersten Phase werden gleiche Rechte ganz grund­ sätzlich verwehrt, in der zweiten Phase werden gleiche Rechte formal eingeräumt, in der dritten Phase müssen diese gleichen Rechte auch tatsächlich, also material durchgesetzt werden. In der ersten Phase werden rechtliche Regelungen und Praktiken genutzt, um die Ungleichheit zwischen kategorial bestimmten Personengruppen rechtlich abzusi­ chern und aufrechtzuerhalten. Ganz grundsätzlich werden Gleichheit und Gleich­ wertigkeit der unterschiedenen Personengruppen in Abrede gestellt. Angeblich natürliche Unterschiede zwischen Rassen, Geschlechtern, Ausprägungen von Men­ schen werden herangezogen, um ebendiese vorgeblichen Unterschiede rechtlich abzusichern und auch dort durchzusetzen, wo diese Unterschiede nur schwer aus­ zumachen sind. Frauen etwa wurde die Befähigung abgesprochen, selbst öffentlich zu handeln und rechtlich verbindlich über ihre Angelegenheiten zu entscheiden, sie standen unter der Geschlechtsvormundschaft ihres Vaters, später Ehemannes oder anderer männlicher Verwandter.36 Schwarze wurden von Weißen segregeirt, was

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Nicht gemeint ist eine teleologische, gewissermaßen automatische oder zwangsläufige Fortschrittsgeschichte. Vielmehr wird in jeder Phase hart gerungen, eben gekämpft, und es kann auch zu Rückschritten kommen. 35 Vgl. auch die drei Phasen bei Sacksofsky, Diskriminierung und Gleichheit – aus verfas­ sungsrechtlicher Perspektive, in: Opfermann (Hrsg.), Unrechtserfahrungen: Geschlechter­ gerechtigkeit in Gesellschaft, Recht und Literatur, 2007, S. 31 (37). – Vorüberlegungen zum Drei-Phasen-Modell Mangold, Die verfolgte Unschuld vom Lande oder: Warum es kei­ nes „Grundrechts auf Diskriminierung“ bedarf, 2014, http://verfassungsblog.de/verfolgteunschuld-vomlande-oder-warum-es-keines-grundrechts-auf-diskriminierung-bedarf/, (zuletzt abgerufen am 14. 6. 2021); Mangold, Mehrdimensionale Diskriminierung. Potentiale eines materialen Gleichheitsverständnisses, RphZ 2016, S. 152 ff. 36 Gerhard, Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts: von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 1997, S. 509 ff.

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als ganz natürlich und normal angesehen wurde.37 Die Kriminalisierung einver­ nehmlicher sexueller Beziehung zwischen erwachsenen Männern wird für durch das Sittengesetz gerechtfertigt gehalten.38 In der zweiten Phase dieser rechtshistorischen Entwicklung wird die grundsätz­ liche Gleichheit und Gleichberechtigung der vormals unterschiedlich behandelten Personengruppen anerkannt: Schwarze und Frauen erhalten volle Bürgerrechte, darunter auch das Wahlrecht, wenn auch nicht alle Personengruppen gleichzeitig.39 Die Kriminalisierung von Schwulen findet irgendwann ein Ende.40 Auch Menschen mit geistiger Behinderung dürfen Verträge schließen. In rechtlichen Regelungen und Praktiken wird die formale Anknüpfung an die kategorialen Unterscheidungen verboten. Dennoch bestehen die historisch etablierten gesellschaftlichen Strukturen weiter und bewirken, dass selbst die nicht mehr an die Kategorisierungen anknüpfenden, nunmehr neutralen rechtlichen Regelungen sich nach wie vor tatsächlich unter­ schiedlich auswirken auf die verschiedenen Personengruppen (strukturelle oder institutionelle Diskriminierung41). Deswegen ist es in der dritten Phase notwendig, die formale Gleichheit auch tatsächlich durchzusetzen, also den Blick auf die unterschiedlichen Auswirkungen von rechtlichen Regelungen und Praktiken für verschiedene Personengruppen zu richten. Das in der zweiten Phase zunächst formale Gleichheitsverständnis wird in der dritten Phase um eine materiale Perspektive ergänzt, die auch faktische Auswir­ kungen in den Blick nimmt. So wird deutlich, dass ein und dieselbe rechtliche Regelung für Männer und Frauen nicht dieselben Auswirkungen hat, weil für Männer und Frauen wegen der historisch gewachsenen Strukturen nicht dieselben Ausgangsbedingungen herrschen.42 37 Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 537, 544 (1896): „The object of the [14th] amendment was undoubtedly to enforce the absolute equality of the two races before the law, but, in the nature of things, it could not have been intended to abolish distinctions based upon color, or to en­ force social, as distinguish d from political, equality, or a commingling of the two races upon terms unsatisfactory to either.“ (eigene Hervorhebung); vgl. auch S. 551: „racial instincts“, „distinctions based upon physical differences“. 38 BVerfGE 6, 389 – § 175 StGB [1957]. Es handelt sich um die einzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die jemals auf das „Sittengesetz“ als Schranke der Persönlich­ keitsentfaltung in Art. 2 Abs. 1 GG rekurriert hat. 39 Amendment XV (veröffentlicht am 27. 2. 1869, 15 Stat. 346; ratifiziert 17. 2. 1870) ge­ währte nur den männlichen ehemaligen Sklaven das Wahlrecht, nicht jedoch den weiblichen, da das Frauenwahlrecht in den USA erst 1920 durch das Amendment XIX eingeführt wurde (41 Stat. 362; ratifiziert am 18. 8. 1920). 40 Erst 1994 wurden die letzten Überreste der Kriminalisierung von männlichen Homose­ xuellen aus dem StGB entfernt. 41 Gomolla, Direkte und indirekte, institutionelle und strukturelle Diskriminierung, in: Scherr / El-Mafaalani / Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2017, S. 133 ff. 42 Zum Konzept materialer Gleichheit der Sammelband von Mangold / Sacksofsky (Hrsg.), Materiale Gleichheit, 2021 (in Vorbereitung).

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2. Gleichheitsverständnisse Festzuhalten ist also, dass es zwei verschiedene Gleichheitsverständnisse gibt: ein formales und ein materiales. a) Formales Gleichheitsverständnis Bei einem formalen Gleichheitsverständnis gelten rechtliche Regelungen dann als unverdächtig, wenn sie sich einer expliziten Anknüpfung an eine bestimmte Kategorie gänzlich enthalten. Das formale Gleichheitsverständnis verlangt auf rein formaler Ebene Gleichheit. Eine Doktrin wie „separate but equal“ erscheint mit einem solch formalen Gleichheitsverständnis auf den ersten Blick vereinbar. Der Formel zufolge soll keine Ungleichheit zu konstatieren sein, wenn getrennte, aber gleichwertige Einrichtungen für verschiedene Personengruppen zur Verfü­ gung gestellt werden.43 Doch bereits die Unterscheidung zwischen zwei Personengruppen selbst kann „inhärent ungleich“ sein.44 Wenn die herangezogene Unterscheidungskategorie an sich bereits nämlich nicht überzeugt, dann mögen die durch die Unterscheidung gebildeten Personengruppen noch so gleich behandelt werden, die Tatsache der Unterscheidung selbst bleibt problematisch. b) Symmetrisches Gleichheitsverständnis Mit einem formalen Gleichheitsverständnis geht vielfach ein symmetrisches Gleichheitsverständnis einher. Es wird dann nur darauf geschaut, ob überhaupt eine bestimmte Kategorie in Bezug genommen wird, nicht jedoch beachtet, warum diese Kategorie für eine Unterscheidung herangezogen wird. Vor allem bei Schutz- und Förderungsmaßnahmen zugunsten bislang benachteiligter Personen­ gruppen ist diese Ausblendung höchst problematisch.45 Regelungen, die an Kategorien anknüpfen, sind nämlich unterschiedlich zu be­ werten je nachdem, ob sie der dominierenden oder einer dominierten Personen­ 43

Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 537 (1896). Brown v. Board of Education of Topeka 347 U. S. 483, 495 (1954): „Separate educational facilities are inherently unequal.“ (eigene Hervorhebung) – Berühmt sind die Nachweise zu den psychologischen und edukatorischen Effekten von Segregation in Fn. 11 der Entscheidung, darunter die auch in der Debatte über Rassismus insgesamt sehr einflussreiche 1.500-seitige, von der Carnegie Corporation of New York finanzierte Studie des späteren Nobelpreisträgers in Wirtschaftswissenschaften Myrdal, An American dilemma: The Negro problem and ­modern democracy, New York 1944. 45 Die Frage speziell der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Frauenförderungsmaß­ nahmen untersucht Sacksofsky (Fn. 31). 44

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gruppe zugutekommen sollen. Im Gleichstellungsrecht sollen regelmäßig gerade dominierte Personengruppen geschützt oder gefördert werden: Frauen, nicht Männer, sollen in Aufsichtsräte46 oder Vorstände47 gelangen. „[I]n order to treat some persons equally, we must treat them differently.“48, formulierte der US ­Supreme Court. „Um Menschen gleich zu behandeln, müssen wir sie unterschied­ lich behandeln.“ c) Vielfalt kategorialer Ausprägungen und Gleichheit Aufgrund der historisch überkommenen gesellschaftlichen Strukturen wirken sich rechtliche Regelungen unterschiedlich auf verschiedene Personengruppen aus. Denn selbstverständlich mitgedacht wird, wie schon erwähnt, immer nur die do­ minante Ausprägung einer Kategorie, wohingegen die nicht-dominanten Ausprä­ gungen als Abweichung von diesem Normalfall erscheinen. Mindestens implizit, wenn nicht sogar explizit49 orientieren sich rechtliche Regelungen deswegen am in einer Gesellschaft dominanten „Normalmodell“. Dieses „Normalmodell“ wird zum Maßstab für alle nicht dominanten Ausprägungen einer Kategorie, wenn nur diese Ausprägung einer Kategorie berücksichtigt wird. Bei rechtlichen Regelungen und Praktiken ist also die Vorstellung von einem Rechtssubjekt nicht neutral und undeterminiert, sondern im Gegenteil in viel­ facher Hinsicht vorgeprägt. Aus der Vielfalt der Subjekte wird ein Leitmodell destilliert, an dem alle vielfältigen Individuen gemessen werden und sich messen lassen müssen. d) Materiales Gleichheitsverständnis Zur Bewertung, wann eine Ungleichbehandlung vorliegt, reicht eine rein for­ male Sichtweise folglich nicht aus, denn sie wird der tatsächlichen Vielfalt von Menschen und Lebenswirklichkeiten nicht gerecht. Denn auch neutral formulierte Normen, die nicht explizit an bestimmte Kategorien anknüpfen, können sich unter­ 46

Zum 1. 1. 2016 trat unter anderem eine 30 %-Geschlechterquote für die Aufsichtsräte mit­ bestimmungspflichtiger und börsennotierter Unternehmen in Kraft, „Gesetz für die gleich­ berechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst“ (FührposGleichberG) v. 24. 4. 2015, BGBl. I, S. 642. 47 Nunmehr auch für Vorstandspositonen im „Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Pri­ vatwirtschaft und im öffentlichen Dienst“ (Zweites Führungspositionengesetz – FüPoG II), im Bundestag verabschiedet am 11. 6. 2021, vgl. BT-Plenarprotokoll 19/234. 48 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U. S. 265, 407 (1978), per Blackmun J, conc. in part, diss. in part. 49 So durften Beamte bis zur sog. Lex Peschel nicht in Teilzeit arbeiten, vgl. die feministi­ sche Darstellung bei Peschel-Gutzeit, Selbstverständlich gleichberechtigt, 2012, S. 149 ff.

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schiedlich auf verschiedene Personengruppen auswirken; diesem Problem widmet sich die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung.50 Deswegen ist über das formale Gleichheitsverständnis hinaus auch auf die materiale Gleichheit zu achten, die jene unterschiedlichen Auswirkungen berücksichtigt, „die eine (iden­tische) Behandlung auf verschiedene Menschen(gruppen) hat“.51 Auch unangemessene Gleichbehandlung, die Vielfalt nicht hinreichend Rechnung trägt, kann also Un­ gleichbehandlung sein. Ein materiales Gleichheitsverständnis erlaubt, unterschiedliche Personengrup­ pen spezifisch und differenziert zu berücksichtigen und auf ihre vielfältigen Bedürfnisse zu reagieren. Ein materiales Gleichheitsverständnis macht die Ver­ schiedenheiten und unterschiedlichen Bedürfnisse sichtbar. In dieser Perspektive finden die konkreten gesellschaftlichen Machtverhältnisse Eingang in die Rechts­ dogmatik, indem die faktischen Verhältnisse und die konkreten Auswirkungen von rechtlichen Regelungen und Praktiken berücksichtigt werden. In einem materia­ len Gleichheitsverständnis erscheint Ungleichheit als Herstellung einer sozialen Rangbeziehung. Eine solche materiale Gleichheitsperspektive hat drei Auswirkungen: Erstens wird das einer neutral erscheinenden Regelung zugrunde gelegte „Nor­ malmodell“ sichtbar. Zweitens tritt die Heterogenität der von Diskriminierungsverboten geschützten Personengruppen hervor. Drittens werden die unterschiedlichen Folgen für die betroffenen Personengrup­ pen auch rechtsdogmatisch berücksichtigt. aa) Dekonstruktion des „Normalmodells“ vermeintlich neutraler rechtlicher Regelungen Eine materiale Gleichheitsperspektive macht erstens sichtbar, dass sich recht­ liche Regelungen vielfach implizit an einem „Normalmodell“ orientieren, etwa dem weißen, heterosexuellen, gesunden, christlichen Mann. Eine materiale Gleich­ heitsperspektive hilft, derartige implizite rechtliche Orientierungen am „Normal­ modell“ offenzulegen und zu dekonstruieren. In diesem Prozess der Explikation und Dekonstruktion werden die vom „Nor­ malmodell“ abweichenden Fälle sichtbar.

50 51

Ausführlich und m. w. N. Mangold, Demokratische Inklusion (Fn. 2), S. 241 ff. Sacksofsky (Fn. 35), S. 31 (33).

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bb) Heterogenität der geschützten Personengruppen: Intersektionalität Werden gesellschaftliche Machtverhältnisse berücksichtigt, erscheint es zweitens nicht mehr verwunderlich, dass auch in der Gruppe „der“ Schwarzen oder „der“ Frauen nicht alle Schwarzen oder Frauen gleichermaßen von Ungleich­ heit betroffen sind, sondern es intersektionale Verschränkungen und Achsen von Ungleichheiten gibt.52 Denn auch innerhalb gesamtgesellschaftlich dominierter Gruppen existieren interne Hierarchisierungen. Weiße Frauen befinden sich ge­ sellschaftlich in einer anderen Position als Schwarze Frauen, reiche Frauen in einer anderen als arme Frauen usw. Auch eine materiale Interpretation der Gleichheitssätze gelangt deshalb nicht ohne weiteres an ihr Ende, sondern kann, darf und muss selbst immer wieder kritisiert und dekonstruiert werden, inwiefern etwa weiße Mittelstandsfrauen als das Normalmodell von Forderungen nach Gleichberechtigung der Geschlechter dekonstruiert werden, hinter dem abweichende Ausprägungen zu verschwinden drohen. Allerdings ist zu beachten, dass eine solche rhetorische Strategie auch ge­ nutzt werden kann, die patriarchale Struktur der Gesellschaft zu invisibilisieren und die internen Hierarchien als Ausbeutung von Frauen durch Frauen zu beschrei­ ben, wodurch auf mirakulöse Weise und keineswegs zufällig die gesellschaftlich dominierenden Männer aus dem Blick geraten.53 cc) Dogmatische Figuren eines materialen Gleichheitsverständnisses Rechtsdogmatisch führt ein materiales Gleichheitsverständnis schließlich drittens dazu, dass neue dogmatische Figuren eingeführt werden: das Verbot mittel­ barer Diskriminierung54 sowie das Erfordernis, angemessene Vorkehrungen55 zu treffen. Alle diese rechtsdogmatischen Figuren rekurrieren auf die unterschied­ lichen tatsächlichen Folgen vermeintlich neutraler Normen und machen es erfor­ derlich, „die jeweiligen Formen von Diskriminierung spezifisch zu analysieren“.56 52

Klinger / Knapp / Sauer (Hrsg.), Achsen der Ungleichheit zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, 2007; zuvor: Knapp (Hrsg.), Achsen der Differenz: Gesellschafts­ theorie und feministische Kritik II, 2003. 53 Diese Gefahr hat am Beispiel des Kap. IX in Habermas, Faktizität und Geltung: Bei­ träge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, klar heraus­ gearbeitet Holzleithner, Gesellschaftsauffassung und Rechtsverständnis. Zu Jürgen Haber­ mas, Faktizität und Geltung, Kapitel IX. Paradigmen des Rechts, in: Koller / Hiebaum (Hrsg.), Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Reihe Klassiker Auslegen, 2016, S. 153 (161): „So wie Habermas die Problematik skizziert, haben wir es mit einem reinen Frauenthema zu tun. Männer bleiben durch die Verkomplizierung der Kategorie Frauen noch weiter außen vor.“ 54 Vgl. die Legaldefinition in § 3 Abs. 2 AGG oben in Fn. 3. 55 Vgl. die Legaldefinition in Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK oben in Fn. 4. 56 So Sacksofsky, Die blinde Justitia: Gender in der Rechtswissenschaft, in: Bußmann (Hrsg.), Genus: Geschlechterforschung, Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaf­ ten ein Handbuch, 2005, S. 402 (432).

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III. Anwendungsbeispiel: Das Kopftuch der Richterin zwischen „Neutralität“ und Gleichheit Diese theoretischen und dogmatischen Erwägungen werden nun knapp an einem konkreten Beispiel erläutert, dem aktuell hochumstrittenen Kopftuch für Richterinnen. Kopftuchtragende Juristinnen sind sichtbar anders als die bislang in Deutschland urteilenden Personen. Dass nun auch kopftuchtragende Juristinnen ihr Referenda­ riat in Deutschland absolvieren und damit von ihren Qualifikationen her geeignet sind, als Richterinnen tätig zu werden, hat zu einer Debatte über ein generelles Kopftuchverbot in der Justiz geführt, für Referendarinnen,57 aber auch Richterin­ nen und Anwältinnen58. Der Streit um das Kopftuch in der Justiz trägt eine gesell­ schaftlich beobachtbare Vielfalt in einen konkreten Rechtskonflikt hinein, in wel­ chem es zentral um Gleichheitsverständnisse und auch Gleichheitsdogmatik geht. Konkret geht es um Art. 33 Abs. 3 GG. Dort heißt es: „Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern [… ist] unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“

Es handelt sich bei Art. 33 Abs. 3 GG um einen besonderen Gleichheitssatz, der vor Diskriminierung wegen der Religion schützt: Die Zulassung zu öffentlichen Ämtern soll „unabhängig von dem religiösen Bekenntnis“ sein.59 Jene, die ein generelles Kopftuchverbot befürworten, argumentieren nun, das Tragen eines religiös motivierten Kopftuches gefährde die „Neutralität“ der Jus­ tiz.60 Ein etwaiger Anspruch der kopftuchtragenden Juristin auf gleichen Zugang 57

Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Kopftuchverbots für Referendarinnen BVerfG, Beschl. v. 14. 1. 2020, 2 BvR 1333/17, unter Offenlassung des mittelbar diskriminierenden Charakters der Neutralitätsvorgaben für Frauen; zustimmend v. Schwanenflug, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 14. 1. 2020, 2 BvR 1333/17, NVwZ 2020, S. 474 ff.; kritisch Brosius-Gersdorf / Gersdorf, Kopftuchverbot für Rechtsreferendarin: Unanwendbarkeit des Neutralitäts­ gebots, NVwZ 2020, S. 428 ff.; ähnlich auch EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017, Rs. C-157/15, Achbita; dazu wiederum kritisch Mangold / Payandeh, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit im Unionsrecht. Anmerkungen zu den Urteilen des EuGH v. 14. 3. 2017 in den Rs. C-157/15 (Achbita) und C-188/15 (Bougnaoui), EuR 2017, S. 700 ff. 58 Einordnend Payandeh, Das Kopftuch der Richterin aus verfassungsrechtlicher Per­ spektive, DÖV 2018, S. 482 ff.; zur Exklusionswirkung bei Rechtsanwältinnen Bartel / Liebscher / Remus, Rassismus vor Gericht: weiße Norm und Schwarzes Wissen im deutschen Recht, in: Fereidooni / El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, 2017, S. 361 (368). 59 Zu früheren Verfassungsnormen dieses Inhalts siehe oben Fn. 18. 60 BVerfG, Beschl. v. 14. 1. 2020, 2 BvR 1333/17, Rn. 92: „Auch wenn das religiöse Bekennt­ nis einzelner Amtsträger allein nicht gegen deren sachgerechte Amtswahrnehmung spricht, kann die erkennbare Distanzierung des einzelnen Richters und der einzelnen Richterin von individuellen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei Ausübung

Gleichheitsdogmatik als Verarbeitung von Vielfalt

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zum öffentlichen Amt der Richterin müsse gemessen werden daran, ob durch ihr Kopftuchtragen die Neutralität der Justiz gefährdet erscheine. Im Kern wird eine Gerichtsöffentlichkeit imaginiert, die ein Kopftuch als nicht neutral wahrnehmen werde, und diese imaginierte Empirie wird als sachlicher Grund für eine unter­ schiedliche Behandlung von Juristinnen mit und ohne Kopftuch akzeptiert.61 Implizit wird in Forderungen nach einem Kopftuchverbot so ein Normalmodell etabliert, demzufolge unsichtbar religiöse Menschen richtend sollen tätig werden dürfen, was christliche Menschen leicht erfüllen können, da im Christentum keine besonderen Bekleidungsvorschriften gelten, die aus Gründen der Glaubensüber­ zeugung zum Tragen sichtbarer Symbole verpflichteten. Solcher Argumentation zugrunde liegt ein formales Gleichheitsverständnis. Es werde ja nicht allen Personen muslimischen Glaubens das Richten verboten. Re­ gelungstechnisch werden in der Tat nur bestimmte Vorschriften über Neutralität formuliert, auch wenn diese unmittelbar an die Religion anknüpfen.62 Muslimische Männer etwa können diesen Regelungen zufolge ohne weiteres als Richter tätig werden, weil sie regelmäßig keinen religiösen Bekleidungsvorschriften unter­liegen. Und auch Frauen werden nicht grundsätzlich vom Amt der Richterin ausgeschlos­ sen, sondern eben nur kopftuchtragende Frauen. (Hier wird sichtbar, dass kopf­ tuchtragende Juristinnen in einer intersektional benachteiligten Position sind: als gläubige Personen weiblichen Geschlechts.) Auf der Grundlage eines formalen Gleichheitsverständnisses kann ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 3 GG in Abrede gestellt werden, auch wenn diese Norm sogar explizit den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig von der Glau­ bensüberzeugung garantiert, und zwar ohne dabei zwischen gläubigen Männern und Frauen zu unterscheiden. Durch die Festlegung von „neutraler“ Amtstracht ihres Amtes zur Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz insgesamt beitragen und ist umgekehrt die öffentliche Kundgabe von Religiosität geeignet, das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen, das gerade durch eine besondere persönliche Zurück­ nahme der zur Entscheidung berufenen Amtsträger geprägt ist.“ (Verweis fortgelassen, eigene Hervorhebung). 61 Hörnle, Warum Vertrauen in die Neutralität der Justiz ein schützenswertes Verfassungs­ gut ist, VerfBlog, 2017/1/15: „Vertrauen ist in sozial, kulturell und religiös fragmentierten Gesellschaften leicht zu erschüttern, wenn sich Richter [sic!] im Gerichtssaal in augenfälliger Weise als Angehörige einer sozialen, kulturellen oder religiösen Gruppe zu erkennen geben. Vor allem diejenigen, die sich als Verlierer sehen, etwa weil sie in einem Zivilprozess unter­ liegen oder in einem Strafprozess Angeklagte sind, sind für Signale empfänglich, die auf eine ihnen ungünstige Vorprägung der entscheidenden Richter deuten. … Repräsentanten der Justiz müssen in einer nicht perfekten Welt deshalb schon den Anschein vermeiden, Vertreter von Partikularinteressen zu sein.“ 62 Exemplarisch § 45 S. 1 und 2 HBG: „Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst poli­ tisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Insbesondere dürfen sie Kleidungsstü­ cke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden.“ (eigene Hervorhebung).

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Anna Katharina Mangold

entstehe eine „formalisierte Situation vor Gericht“, in der „[a]us Sicht des objek­ tiven Betrachters … insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden“ könne.63 Dies stelle einen sachlichen Unterscheidungsgrund dar. Aus einer materialen Gleichheitsperspektive sieht die Sache anders aus. Es wird deutlich, dass implizit ein Normalmodell etabliert und verteidigt wird. Eine er­ kennbar gläubige Muslima wird als nicht neutral eingeordnet, wenn sie ein Kopf­ tuch trägt, ein gläubiger Katholik aber sehr wohl, auch wenn alle Welt weiß, dass er streng katholisch ist, wie es etwa bei Ernst-Wolfgang Böckenförde der Fall war, der als Verfassungsrichter am zweiten Abtreibungsurteil mitwirkte.64 An diesem Vergleich wird deutlich, dass es sich um normativ imprägnierte Zuschreibungen handelt. Die sichtbar gläubige Muslima wird in anderer Weise behandelt als der unsichtbar ebenso gläubige Katholik, und so wird ein Normalmodell der Mehr­ heitsgesellschaft etabliert und gegen gesellschaftliche Vielfalt verteidigt. Für genau solche Fälle ist auf Basis eines materialen Gleichheitsverständnisses die dogmatische Figur der mittelbaren Diskriminierung entwickelt worden. Eine an sich unverdächtige Norm, die nicht selbst an die verbotene Kategorie anknüpft,65 hier also die Vorgabe zur neutralen Amtsführung, wird daraufhin überprüft, ob sie unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Personengruppen hat. Vor­ gaben über ein weltanschaulich neutrales Erscheinungsbild wirken sich überpro­ portional nachteilig auf sichtbar gläubige muslimische Frauen aus, sie benachtei­ ligen kopftuchtragende Juristinnen deswegen mittelbar. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im zweiten Kopftuchurteil jedenfalls dem Grunde nach so gesehen.66 Dem Zweiten Senat fehlt diese Einsicht hingegen seit jeher,67 so auch in der Entscheidung zur kopftuchtragenden Referendarin68.

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BVerfG, Beschl. v. 14. 1. 2020, 2 BvR 1333/17, Rn. 90. In dieser Formulierung wird die Relevanz der rechtsanwendenden Personen und ihre Positioniertheit besonders deutlich, denn bei Figuren wie „dem (!) objektiven Betrachter“ fließen Normalitätsvorstellungen ein, vgl. Kocher, Die Position der Dritten, JöR (2019), S. 403 ff.; Barnert, Der eingebildete Dritte, 2008. 64 Interessant ist insoweit, dass BVR Böckenförde, der als tiefgläubiger Katholik öffentlich entschieden gegen Schwangerschaftsabbrüche eingetreten war und einem entsprechenden Ver­ ein angehörte, nicht als befangen angesehen wurde, als es um die Zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit der gesetzlichen Regelung des Schwangerschafts­ abbruches ging, weil er aus dem Verein ausgetreten war, vgl. BVerfGE 88, 17 –Befangenheit BVR Böckenförde [1992]; differenzierte Reflexion später: Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S. 442 ff. 65 Grundlegend Griggs v. Duke Power Co., 401 U. S. 424 (1971); zur historischen Entwick­ lung der Figur Tobler, Indirect discrimination, 2005. 66 BVerfGE 138, 296 (358) – Kopftuch II [2015]. 67 BVerfGE 108, 282 – Kopftuch I [2003]. 68 Der Zweite Senat missversteht die dogmatische Struktur des Verbots mittelbarer Diskri­ minierung ganz grundlegend, BVerfG, Beschl. v. 14. 1. 2020, 2 BvR 1333/17, Rn. 113, obgleich ein Verstoß nachvollziehbar gerügt worden war, vgl. Rn. 35.

Gleichheitsdogmatik als Verarbeitung von Vielfalt

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Gleichwohl diskutieren wir weiter über ein Kopftuchverbot in der Justiz. Hier zeigt sich, dass es tatsächlich Kämpfe um Gleichheit sind, die nicht zuletzt in den Arenen des Rechts verhandelt werden. Verhandelt wird Vielfalt, und zwar in den Formen der Gleichheitsdogmatik.

Toleranz oder Neutralität? Zu den ideengeschichtlichen Grundlagen des strafrechtlichen Umgangs mit religiöser Vielfalt Bijan Fateh-Moghadam

I. Einleitung: Die Vielfalt des Rechts Vielfalt im Recht, das Generalthema dieses Sammelbandes, lässt sich in unter­ schiedlicher Weise deuten. Zum einen könnte es auf eine rechtsinterne Differen­ zierung normativer Ordnungen zielen, wie dies Theorien des Rechtspluralismus diskutieren.1 Das Recht bildet hier selbst den passiven Gegenstand von Plurali­ sierungsprozessen. Zum anderen lässt sich der Blick auf Pluralisierungsphäno­ mene in der außerrechtlichen Lebenswirklichkeit richten und nach dem Umgang des Rechts mit gesellschaftlicher Vielfalt fragen.2 In dieser Lesart tritt das Recht aktiv als Ordnungs- und Gestaltungsmacht von gesellschaftlicher Pluralität auf. Der Umgang des (Straf-)Rechts mit religiös-weltanschaulicher Vielfalt, für den sich der vorliegende Beitrag interessiert, steht exemplarisch für die zuletzt genannte Perspektive. Zugleich macht die Rechtsgeschichte religiöser Vielfalt deutlich, dass die beiden oben genannten Perspektiven in einem Verhältnis der Wechselbezüg­ lichkeit stehen können.3 So etwa, wenn das Recht auf konfessionelle Vielfalt mit einer rechtsinternen Pluralisierung reagiert, mit der Folge, dass für unterschied­ liche religiöse Gemeinschaften unterschiedliche Rechtsnormen gelten. Wenn es um die Antwort des Rechts auf religiöse Vielfalt geht, sind zwei Be­ griffe allgegenwärtig: Toleranz und Neutralität. Dabei bleibt jedoch häufig unklar, wie sich die beiden Begriffe zueinander verhalten. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Schweizerischen Bundesgerichts werden die Begriffe zum Teil synonym verwendet. Etwa, wenn in einem Atemzug von einem verfassungsrechtlichen „Toleranz- und Neutralitätsprinzip“ die Rede ist.4 Wie nachfolgend gezeigt werden soll, bilden Toleranz und Neutralität tatsächlich zwei unterschiedliche Bewältigungsstrategien des Rechts für den Umgang mit religiöser Vielfalt. Als Leitideen der Religionsverfassung schließen sie sich gegenseitig aus. Ideengeschichtlich ist die schrittweise Umstellung von Toleranz auf Neutralität 1

Vgl. dazu aus der neueren Literatur Seinecke sowie Nell. Vgl. Hörnle; dazu Hilgendorf, JZ 2014, S. 821 ff.; Renzikowski, NJW 2014, S. 2539 f.; Siehe auch Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, Renteln sowie Valerius. 3 Instruktiv Heinig, passim. 4 Vgl. BGE 142 I 49 E. 3.3, S. 53; BVerfGE 33, 23; BVerwG, JZ 2014, S. 138 (139). 2

Toleranz oder Neutralität?

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konstitutiv für die „normative Moderne“. In der gegenwärtigen Religionspolitik beobachten wir indes revisionistische Tendenzen zu einer Rückkehr zur Toleranz, die ich als ein Symptom für eine Krise des liberalen Rechtsstaats deute.

II. Die Rückkehr der Toleranz: Paradigmenwechsel in der Religionspolitik? Am 7. März 2021 hat die Schweizer Bevölkerung die Initiative „Ja zum Ver­ hüllungsverbot“ mit einem knappen Mehr von 51,2 % gegen 48,8 % der Stimmen angenommen.5 Nachdem zuvor bereits im Tessin und in St. Gallen kantonale Ver­ hüllungsverbote eingeführt wurden, verankert die Volksinitiative ein nationales Verhüllungsverbot auf der Ebene der Schweizerischen Bundesverfassung (BV). In einem weiteren Schritt soll die Vorgabe der Verfassung einfachgesetzlich in ein sanktionsbewährtes Verbot umgesetzt werden. Die umgangssprachlich als „BurkaVerbot“ bezeichnete Regelung knüpft politisch an das bereits in Art. 72 Abs. 3 BV verankerte Minarett-Verbot an.6 Letzteres ging wie auch das Burka-Verbot auf eine Volksinitiative zurück, die vom Egerkinger Komitee initiiert wurde, wel­ ches wiederum der Schweizerischen Volkspartei (SVP) nahesteht. Wie die bereits seit Längerem geltenden gesetzlichen Verhüllungsverbote in Frankreich, Belgien, Österreich und Dänemark zeigen, handelt es sich bei der Rückkehr zur staatlich normierten Kleiderordnung nicht um ein isoliertes landesspezifisches Phänomen der Schweiz, sondern um eine verbreitete Tendenz in der europäischen Religions­ politik. Ungeachtet ihrer allgemeinen Formulierung kommt es diesen Verhüllungs­ verboten gerade auf die Verbannung des islamischen Gesichtsschleiers in Form des Niqabs oder der – in Europa praktisch nicht existenten – Burka aus den Straßenbil­ dern westlicher Nationen an. Der „Westen“ reagiert auf den gegenüber Frauen aus­ geübten staatlichen Zwang zur Verhüllung in Ländern des politischen Islams mit einer ebenfalls repressiven Verbotspolitik: Frauen wird gesetzlich vorgeschrieben, sich nicht zu verhüllen, und bestimmte religiöse Symbole werden aus dem öffentli­ chen Raum vollständig verdrängt. Es ist nicht zuletzt die in Pandemiezeiten nahezu ubiquitäre Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Maske, die die anti-islamische Stoßrichtung der Verhüllungsverbotspolitik kenntlich macht: Ungeachtet der in­ zwischen alltäglichen Verhüllung des Gesichts als Teil der „neuen Normalität“ der Corona-Pandemie wird an der Verhüllungsverbotsinitiative festgehalten. Nicht die 5

Die Bundesverfassung wurde daraufhin wie folgt geändert: „Art. 10a Verbot der Ver­ hüllung des eigenen Gesichts: 1. Niemand darf sein Gesicht im öffentlichen Raum und an Orten verhüllen, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden; das Verbot gilt nicht für Sakralstätten. 2. Niemand darf eine Person zwingen, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen. 3 Das Gesetz sieht Ausnahmen vor. Diese umfassen ausschliesslich Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums.“ 6 Art. 72 BV regelt das Verhältnis von Kirche und Staat. Art. 72 Abs. 3 BV lautet: „Der Bau von Minaretten ist verboten.“

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mangelnde Identifizierbarkeit oder die behaupteten Kommunikationsbeschränkun­ gen – mit denen wir offenbar ganz gut zurechtkommen – sind das Problem des Gesichtsschleiers, sondern allein die dahinter vermutete religiöse Motivation ihrer Trägerinnen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Corona-Pandemie wird die Schwäche des Arguments noch deutlicher, auf das allein sich der EGMR in seiner das französische Burka-Verbot im Ergebnis nicht beanstandenden Entscheidung gestützt hatte. Die Barriere, die gegenüber anderen durch einen das Gesicht ver­ bergenden Schleier errichtet werde, könne, so der EGMR, vom beklagten Staat als Angriff auf das Recht anderer verstanden werden, in einem Raum zu leben, der das Zusammenleben erleichtert.7 Es lässt sich indes, wie die Erfahrungen in der Pandemie lehren, sogar unter Kommunikationsbedingungen zusammenleben, die durch massenhaft und nicht nur in seltenen Einzelfällen verhüllte Gesichter erschwert sind, ohne dass die Fundamente der Demokratie ins Wanken geraten.8 Die verfassungsrechtliche und kriminalpolitische Legitimation von straf- oder ord­ nungswidrigkeitsrechtlichen Verhüllungsverboten im öffentlichen Raum lässt sich mit guten Gründen bestreiten.9 Im vorliegenden Zusammenhang interessiere ich mich indes nicht für diese an anderer Stelle bereits ausführlich diskutierte Legiti­ mationsfrage.10 Vielmehr dient mir die europäische Politik einer Zurückdrängung von religiösen (hier: islamischen) Symbolen aus dem öffentlichen Raum als An­ schauungsmaterial für die empirische These einer Rückkehr der Toleranz in die Religionspolitik moderner, westlicher Verfassungsstaaten. Diese Rückkehr zur Toleranzpolitik bedeutete aus der Perspektive sowohl des deutschen Grundgesetzes als auch der Schweizerischen Bundesverfassung einen Paradigmenwechsel im Religionsverfassungsrecht. Zwar wird über religiöse Sym­ bole im Religionsverfassungsrecht bereits seit Langem in der Rechtswissenschaft und vor den Gerichten gestritten. In diesen Debatten geht es indes um religiöse Symbole im Kontext staatlicher Schulen (Kruzifix im Klassenzimmer; Kopftuch der Lehrerin; Kopftuch der Schülerin) und der Justiz (Kruzifix im Gerichtssaal; Kopftuch der Rechtsreferendarin). Kontroversen über die Zulässigkeit religiöser Symbole in staatlichen Kontexten unterscheiden sich kategorial von denjenigen über religiöse Symbole in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit. In den klas­ sischen religionsverfassungsrechtlichen Konflikten über religiöse Symbole in der Schule und der Justiz stehen die individuelle Religionsfreiheit und die religiös-­ 7

EGMR (Grosse Kammer), Urteil vom 1. 7. 2014 – 43835/11 (SAS / Frankreich) = EGMR, NJW 2014, 2925 (2929) [Rn. 122]. 8 Anders sehen dies nur die rechtsradikalen Kreisen nahe stehende sogenannte „Querden­ ker“-Bewegung, rechtspopulistische Parteien wie die AfD und die SVP, Verschwörungstheo­ retiker und Corona-Leugner. 9 Vgl. Fateh-Moghadam, Neutralität und Geschlechterordnung, in: Stollberg-Rilinger, S. 181 ff.; Fateh-Moghadam, ZPR 2016, S. 214; Fateh-Moghadam, recht 2017, S.  225 ff.; Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 187 ff.; ferner Kühler, Jusletter 26. 2. 2018, S. 14. 10 Vgl. Fateh-Moghadam, Neutralität und Geschlechterordnung, in: Stollberg-Rilinger, S. 181 ff.; Fateh-Moghadam, ZPR 2016, S. 214; Fateh-Moghadam, recht 2017, S. 225 ff.; Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 187 ff.

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weltanschauliche Neutralität des Staates in einem Spannungsverhältnis zuein­ ander: Die Religionsfreiheit der Lehrerin streitet für, die Neutralitätspflicht des Staates, als deren Repräsentantin die Lehrerin betrachtet werden kann, tendenziell gegen die Zulässigkeit des Tragens eines Kopftuchs. Unabhängig davon, wie man diesen Konflikt im Einzelfall entscheidet,11 bewegt sich die juristische Argumen­ tation im Rahmen des überkommenen Religionsverfassungsrechts mit der Reli­ gionsfreiheit und der staatlichen Neutralität als den beiden maßgeblichen Säulen. Wenn dagegen Bürgerinnen generell verboten werden soll, religiöse Symbole in der Öffentlichkeit zu tragen, wird dieser Rahmen überschritten: Geht es um die Frage, ob Frauen als Privatpersonen den Gesichtsschleier im öffentlichen Raum tragen dürfen, streiten sowohl die individuelle Religionsfreiheit als auch die staat­ liche Neutralitätspflicht für die Freiheit zum Schleier. Denn der Neutralitäts­ grundsatz verpflichtet den Staat und das Recht, nicht aber die Bürgerin und die Zivilgesellschaft.12 Im Gegenteil: Bürgerinnen und Bürger haben das verfassungs­ rechtlich gewährleistete Recht nicht neutral zu sein, sich als gläubige (oder nicht gläubige) Personen darzustellen und sich so zu kleiden, wie es ihrer Persönlichkeit entspricht (Art. 4 Abs. 1, 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 7, 8, 10 Abs. 2 und 15 Abs. 1 BV).13 Hieran lässt sich zugleich ablesen, dass das verfassungsrecht­ liche Neutralitätsprinzip nicht anti-religiös ist, sondern pluralismusfreundlich: Es garantiert und fördert die religiös-weltanschauliche Vielfalt. „Heimstatt aller Bürger“, unabhängig von ihrer Religion und Weltanschauung, wie es das Bundes­ verfassungsgericht formuliert,14 kann der Staat nur dann sein, wenn er sich selbst mit keiner Religion identifiziert und er einzelne Religionen und Weltanschauungen weder bevorzugt noch benachteiligt. Das neutrale Recht bildet, wie es der Frank­ furter Philosoph Rainer Forst formuliert, eine Schutzhülle, unter der die Bürgerin­ nen ihre je eigenen Vorstellungen des guten Lebens, ihre je individuelle Vorstellung der richtigen Lebensform so weit wie möglich verwirklichen können sollen.15 Ein buntes Straßenbild, in der die Diversität der Lebensformen in einer offenen Gesell­ schaft sichtbar wird, ist mit der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates daher nicht nur vereinbar, sondern vielmehr ihr Ausdruck. Das Verbot des Gesichtsschleiers müsste sich daher aus anderen Quellen speisen als aus den anerkannten Prinzipien des Religionsverfassungsrechts. Da weder die polizei- und sicherheitsrechtlichen Begründungen des Verhüllungsverbots, noch die individualschutzrechtliche Argumentation über den paternalistischen Schutz 11

Vgl. Fateh-Moghadam, Neutralität und Geschlechterordnung, in: Stollberg-Rilinger, S. 189 mit Fn. 46. 12 Vgl. dazu BGE 142 I 49 E. 9.2, S. 69 f., wo das Bundesgericht ein Kopftuchverbot gegen­ über einer Schülerin namentlich mit Blick auf das öffentliche Interesse an der Wahrung der religiösen Neutralität der Schule als ungeeignet und daher unverhältnismäßig erachtete. 13 Barczak, DÖV 2011, S. 54; Germann, in: FS Fischer, S. 35. 14 BVerfGE 19, 206. Das BVerfG stützt dies auf Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 15 Forst, Recht auf Rechtfertigung, S. 203.

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von Freiheit und Würde der betroffenen Frauen überzeugen,16 liegt es nahe, die Verhüllungsverbotsgesetzgebung als Ausdruck einer Umstellung der Religionsver­ fassung von Neutralität auf Toleranz als Leitgedanken der Integration religiöser Vielfalt zu deuten. Eine solche revisionistische Rückkehr zum Toleranzprinzip wird denn auch von Teilen der staatsrechtlichen Literatur bereits seit Längerem explizit gefordert.17 Um zu erfassen, was mit der Aufgabe der staatlichen Neutra­ lität für liberale Demokratien auf dem Spiel steht, ist zunächst die systematische Unterscheidung von Toleranz und Neutralität als miteinander nicht kompatiblen Prinzipien der Religionsverfassung zu rekonstruieren (unten III.). In einem zweiten Schritt ist an die „im geltenden Recht eingelagerten historischen Erfahrungen“18 zu erinnern, ohne die sich das noch wirkmächtige Konzept der religiös-weltanschau­ lichen Neutralität nicht in seiner „Tiefengrammatik“ verstehen lässt (unten IV.).19

III. Zum Verhältnis von Neutralität und Toleranz Was ist an Verhüllungs- und Minarettverboten tolerant? Ist die Zurückdrängung von religiösen Symbolen des Islam nicht vielmehr gerade Ausdruck von Intoleranz gegenüber religiösen Minderheiten, wie dies Kritikerinnen dieser Entwicklung in der öffentlichen Debatte betonen? In einem umgangssprachlichen Sinne und in Bezug auf die persönlichen Einstellungen der Initianten und Unterstützerinnen der Verhüllungsverbotsinitiative ist der Vorwurf der Intoleranz durchaus treffend. Bereits der EGMR hatte seine Entscheidung zum französischen Burka-Verbot mit der Warnung verbunden, ein Staat, der ein Gesetzgebungsverfahren dieser Art in Angriff nehme, laufe „Gefahr, zur Verfestigung von Vorurteilen gegen bestimmte Personengruppen beizutragen und den Ausdruck von Intoleranz zu ermutigen, ob­ wohl er im Gegenteil Toleranz fördern“ müsse.20 Interessiert man sich dagegen für die richtige begriffliche Charakterisierung der Religionsverfassung einer Rechtsordnung, stellt sich das Bild anders dar: Ein Staat, der Minarette und andere religiöse Symbole des Islam, und nur des Islam, in der Öffentlichkeit verbietet, bringt zum Ausdruck, dass diese Symbole mit dem eigenen religiösen oder weltanschaulichen Selbstverständnis nicht vereinbar sind. Der Staat positioniert sich selbst religiös oder weltanschaulich und macht deutlich, dass er bestimmte andere religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen ablehnt. Damit gibt er die neutrale Haltung gegenüber Religionen und Weltanschauungen auf, sofern er diese jemals eingenommen hatte. Besonders deutlich zum Ausdruck

16

Dazu ausführlich Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 187 ff. Ladeur / Augsberg, JZ 2007, S. 12 (18); Müller, S. 150 ff. 18 Heinig, S. 2. 19 Heinig, S. 2. 20 EGMR (Grosse Kammer), Urteil vom 1. 7. 2014 – 43835/11 (SAS / Frankreich) = EGMR, NJW 2014, 2925 (2931) [Rz. 149]. 17

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kommt dies in der offiziellen Begründung des französischen Burka-Verbots, in welcher der Gesichtsschleier als öffentliche Manifestation der Ablehnung der „Werte der Republik“ („manifestation communautariste“) verstanden wird.21 Die republikanisch-laizistische Verfassungstradition ist Ausdruck eines weltanschau­ lich gebundenen Staates, der von seinen Bürgerinnen und Bürgern verlangt, dass sie sich zu der in den Werten der Republik verkörperten „laiischen Moral“22 aktiv bekennen.23 Die Burka-Verbotsgesetzgebung erscheint insofern als konsequente Fortsetzung dieser Tradition, auch wenn sich politisch zeigt, dass das damit ver­ bundene Exklusionspotenzial („wer unsere Werte nicht aktiv unterstützt, gehört nicht dazu“), die Integrationsprobleme der hochgradig pluralen französischen Ge­ sellschaft nicht löst, sondern verschärft. Für liberale Religionsverfassungen, die zentral auf dem Grundsatz der religiösweltanschaulichen Neutralität beruhen,24 erweist sich die Politik der Verhüllungsund Minarettverbote dagegen als systemfremde Überschreitung des neutralen Selbstverständnisses. Die gezielte Verdrängung von Symbolen religiöser Minder­ heiten aus dem öffentlichen Raum ist typischer Ausdruck einer Politik der (repres­ siven) religiösen Toleranz. Religiös-weltanschauliche Neutralität unterscheidet sich wesentlich von Toleranz. Staat und Recht können sich nur entweder tolerant oder neutral gegenüber Religionen und Weltanschauungen verhalten. Eine neutrale Haltung des Rechts ist nicht tolerant und eine tolerante Haltung ist nicht neutral. Dies ergibt sich aus der systematischen Konzeption des Toleranzbegriffs, die Rai­ ner Forst grundlegend und umfassend ausgearbeitet hat.25 Demnach ist der Tole­ ranzbegriff notwendigerweise nicht nur mit einer Akzeptanzkomponente, sondern zugleich mit einer Ablehnungskomponente verbunden.26 Tolerant ist eine Haltung also genau dann, wenn sie eine abweichende religiös-weltanschauliche Konzep­ tion oder Lebensform akzeptiert, obwohl sie sie für falsch hält und daher ablehnt. Dies setzt voraus, dass sich Staat und Recht selbst im religiös-weltanschaulichen Diskurs positionieren. Schließlich gehört zum Toleranzbegriff notwendigerweise auch eine Grenze.27 Toleranzpolitik setzt einen Akteur voraus, der die Macht hat, Grenzen der Toleranz zu definieren und gegenüber religiösen Minderheiten durch­ zusetzen. Genau hierdurch wird er selbst zur Partei im Wettbewerb von Religionen und Weltanschauungen. Je nach den historisch-gesellschaftlichen Umständen kann diese Grenze großzügiger oder enger gezogen werden.

21 Der genaue Gesetzestext des LOI n°  2010–1192 und dessen offizielle Begründung („exposé des motifs“) sind hier abrufbar: https://www.legifrance.gouv.fr/dossierlegislatif/ JORFDOLE000022234691/ (zuletzt abgerufen am 30. 4. 2021). 22 Durkheim, S. 57. 23 Vgl. dazu bereits Fateh-Moghadam, Neutralität und Geschlechterordnung, in: StollbergRilinger, S. 205 f. 24 Für die Schweiz grundlegend Engi. 25 Forst, Toleranz im Konflikt, S. 30 ff. 26 Forst, Toleranz im Konflikt, S. 34. 27 Forst, Toleranz im Konflikt, S. 37 ff.

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Anschaulich wird diese Grenzdefinitionsmacht toleranter Staatskonzeptionen in der schwachen, von Forst sogenannten Erlaubniskonzeption der Toleranz, bei der eine religiöse Mehrheit einer Minderheit die Religionsausübung nur solange erlaubt, als diese nicht zu sehr in der Öffentlichkeit präsent wird.28 Das klassische historische Beispiel ist die Zulassung der Hausandacht für Angehörige einer kon­ fessionellen Minderheit nach dem Westfälischen Frieden.29 In der Gestattung der Hausandacht kann man eine frühe Form der Anerkennung individueller Religi­ ons- und Gewissensfreiheit im Sinne einer conscienta liberta erblicken.30 Mit dem Recht der freien Hausandacht wird anerkannt, dass auch der einzelne Mensch als Individuum ein eng begrenztes Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit hat, mit der Folge, dass die Religion der Landesherren und die Religion ihrer Untertanen auseinanderfallen können. Wichtigste praktische Folge war, dass die Untertanen nicht mehr gezwungen waren, ihre Konfession zu wechseln, wenn der Landesherr seine Konfessionszugehörigkeit änderte.31 Diese historisch überraschende Akzep­ tanz von verschiedenen Konfessionen, nicht nur im Herrschaftsgebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, sondern auch innerhalb der konfessionell definierten Territorialstaaten, kann man durchaus als Ausdruck des Beginns einer toleranten Religionspolitik und -verfassung deuten. Das Beispiel erhellt zugleich, dass die Anerkennung (rudimentärer) individueller Religionsfreiheit nicht mit einer Umstellung auf religiös-weltanschauliche Neutralität einhergehen muss. Vielmehr handelt es sich bei der Zulassung der Hausandacht um eine frühe politische Tole­ ranzkonzeption, welche die durch den Landesherrn bestimmte wahre „Staatskon­ fession“ nicht in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund können das Schweizer Minarettverbot aus dem Jahr 2009 und das 2021 beschlossene Verhüllungsverbot als Anknüpfung an diese historische Tradition der Erlaubniskonzeption der Toleranz gedeutet werden. Es handelt sich um Einschränkungen der Religionsausübungsfreiheit, die sich spezi­ fisch gegen die Sichtbarkeit des Islam bzw. bestimmter Auslegungen des Islam richten; sie diskriminieren systematisch eine bestimmte Religion. Zugleich gibt die Schweiz damit selbstverständlich nicht die grundsätzliche Gewährleistung der Religionsfreiheit auch für Muslime auf. Die Ausübung der islamischen Religion wird weiterhin akzeptiert und grundrechtlich garantiert (Akzeptanzkomponente). Gleichzeitig bringt die Rechtsordnung zum Ausdruck, dass die Sichtbarkeit des Islam im öffentlichen Raum nicht bzw. nur eingeschränkt geduldet wird. Weithin sichtbare und das Stadtbild mitprägende Minarette sind ebenso unerwünscht wie der islamische Gesichtsschleier auf öffentlichen Straßen und Plätzen. Muslime dürfen gemeinsam beten, sie dürfen dies auch in öffentlich zugänglichen Gebets­ häusern, diese sollen aber nicht durch Minarette als solche weithin identifizierbar 28

Zum Begriff der Erlaubniskonzeption Forst, Toleranz im Konflikt, S. 42 ff. Vgl. dazu Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 84; zum Folgenden vgl. bereits Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 47 f. 30 Horn, S. 74. 31 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 84. 29

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sein. Frauen, die das Tragen eines Gesichtsschleiers als Ausdruck der eigenen re­ ligiösen Lebensform und Würde verstehen, werden sogar vollständig aus der Zi­ vilgesellschaft exkludiert, jedenfalls soweit diese unter freiem Himmel und nicht lediglich digital stattfindet. Das „Recht ein Außenseiter zu sein“32 wird muslimi­ schen Frauen, die sich für den Gesichtsschleier entscheiden, verwehrt. Mit den Verboten von Minarett und Gesichtsschleier bringt die Schweizer Rechtsordnung zum Ausdruck, dass sie die von diesen angeblich oder tatsächlich symbolisier­ ten Religionen oder Weltanschauungen missbilligt (Ablehnungskomponente). Sie definiert in erzwungener Übernahme der rechtspopulistischen Propaganda der Initianten der Volksabstimmungen die Schweizer „Kultur“ als eine Ordnung, in der Minarette und Gesichtsschleier als Ausdruck des Islam keinen Platz, keine Existenzberechtigung haben. Es handelt sich um Elemente einer ausgrenzenden Religionspolitik, die Integration nicht fördern, sondern verhindern will. Die in der schweizerischen Bundesverfassung verankerten diskriminierenden Minarettund Verhüllungsverbote definieren damit zugleich eine allgemeinverbindliche und zwangsweise durchsetzbare Grenze der Toleranz gegenüber der religiösen Minder­ heit der Muslime (Grenze der Toleranz). Damit sind alle drei Komponenten des Toleranzbegriffs vorliegend erfüllt, wobei es sich freilich um eine repressive Form der Erlaubnistoleranz handelt. Minarett- und Verhüllungsverbote lassen sich dagegen nicht mehr als Ausdruck einer religiös-weltanschaulich neutralen Rechtsordnung verstehen. Neutralität wird zu Recht als die Einnahme einer unparteiischen Position im Verhältnis zu mindes­ tens zwei konfligierenden Parteien beschrieben.33 Die Bundesverfassung verlässt insoweit zumindest partiell die neutrale religionspolitische Haltung, die sie zur Ge­ währleistung gleicher Religionsfreiheit verpflichtet und ihr eine Parteinahme für oder gegen bestimmte Religionen oder Weltanschauungen untersagt. Eine solche Parteinahme für eine Konzeption des Guten verstößt gegen die mit dem Konzept der Neutralität notwendig verbundenen Forderungen der Nicht-Identifikation und der Unparteilichkeit.34 Im Gesamtbild der Religionsverfassung der Schweiz bil­ den das Minarett- und das Verhüllungsverbot freilich Fremdkörper, die mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild einer pluralen Gesellschaft (Art. 2 Abs. 2 BV35), der Anerkennung gleicher Religionsfreiheit (Art. 7, 8 und 15 Abs. 1 BV) und dem Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität36 nicht vereinbar sind. Die Schweiz steht somit, nicht anders als die anderen Rechtsordnungen Europas, vor

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EGMR (Grosse Kammer), Urteil vom 1. 7. 2014 – 43835/11 (SAS / Frankreich) = EGMR, NJW 2014, 2925 (2933) [Rz. 8]. 33 Kühler, Lebensformenpolitik, in: Bannwart / Cottier et  al., S. 50; Steiger, in: Brunner / ​ Conze et al., S. 315. 34 Zu diesen Ausprägungen des Neutralitätsgrundsatzes Gutmann, in: Gabriel / Spieß et al., S. 298; Huster, S. 233. 35 Gemäß Art. 2 Abs. 2 BV schützt die Schweizerische Eidgenossenschaft „die kulturelle Vielfalt des Landes“. 36 Dazu umfassend Engi.

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einer grundlegenden Richtungsentscheidung zwischen der Verteidigung einer libe­ ralen Religionsverfassung auf der Basis der religiös-weltanschaulichen Neutralität von Staat und Recht und der schrittweisen Rückkehr zu Formen einer überwunden geglaubten repressiven Toleranzpolitik eines Weltanschauungsstaates. Gemäß der hier vertretenen Lesart geht mit den Minarett- und Verhüllungsver­ boten also eine partielle Umstellung von Neutralität auf Toleranz als leitendem religionsverfassungsrechtlichen Prinzip einher. Ich möchte abschließend auf zwei mögliche Einwände gegen diese Deutung der religionspolitischen und religions­ verfassungsrechtlichen Bedeutung der oben genannten Entwicklung eingehen. Zu­ nächst könnte eingewendet werden, dass die Religionsausübung – nicht nur der is­ lamischen, sondern auch anderer Religionen und Konfessionen – schon bisher nicht grenzenlos gewährleistet wird. So dürfen fundamentalistische Christen („Zwölf Stämme“) ihre Kinder nicht systematisch züchtigen, im Namen der Religion dür­ fen keine irreführenderweise sogenannten „Ehrenmorde“ oder Terror­anschläge begangen werden, Angehörige der Rastafari-Religion unterliegen den Verboten des Betäubungsmittelrechts, und Kirchen dürfen abgelehnten Asylbewerbern kein „Kirchenasyl“ gewähren und damit die Vollziehung von rechtskräftigen Abschie­ bebescheiden behindern. Beweist dies nicht, dass jede Rechtsordnung gezwungen ist, Grenzen der Toleranz gegenüber Religionen und Weltanschauungen zu defi­ nieren und damit den neutralen Standpunkt zu verlassen? Im Unterschied zu den Minarett- und Verhüllungsverboten handelt es sich bei den zuletzt genannten Gren­ zen der Religionsausübung um allgemeine Gesetze, die sich nicht gegen eine be­ stimmte Religion richten, sondern dem Schutz der Rechtsgüter anderer dienen. Die Ratio des Rechtsgüterschutzes ist je nach Verbotsnorm mehr (Züchtigungs­verbot, Verbot von „Ehrenmorden“ und Terroranschlägen) oder weniger (religiös moti­ vierter Drogenkonsum, „Kirchenasyl“) offensichtlich und überzeugend. Jeden­ falls handelt es sich in allen Beispielsfällen nicht um religionspolitisch motivierte, einzelne Religionsgemeinschaften diskriminierende Verbote. Die Rechtsordnung gibt ihre Neutralität nicht auf, wenn sie das Verletzen und Töten von Menschen, den Besitz von und den Handel mit bestimmten Betäubungsmitteln, die Geltung von (teilweise hinsichtlich ihrer Legitimation fragwürdigen) Bestimmungen des Ausländerrechts auch gegenüber den Angehörigen von allen Religionsgemein­ schaften einfordert. Hier stellt sich in bestimmten Konstellationen wie derjenigen des „Kirchenasyls“ allenfalls die Frage, ob die Rechtsordnung mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen der Religionsfreiheit eine „vernünftige Ausnahmeregelung“37 für die Religionsausübung, einen Dispens vom allgemeinen Recht vorsehen sollte oder zumindest dürfte. In anderen Konstellationen (Betäu­ bungsmittelrecht) kann sich die Frage stellen, ob bestehende Verbote insgesamt und mit Wirkung gegenüber jedermann, unabhängig von Religion und Welt­anschauung, aufgegeben werden sollten. 37 Maclure / Taylor, S. 85 ff.; Nussbaum, S. 68 ff.; vgl. dazu Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 287 ff.

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Noch grundsätzlicher wird gegen die hier vorgeschlagene Deutung des Ver­ hältnisses von Neutralität und Toleranz vorgebracht, dass staatliche und recht­ liche Neutralität weder wünschenswert noch möglich sei.38 Auch auf Basis dieser Annahme erscheint es geradezu unvermeidlich, dass der Staat gegenüber religiö­ sen Minderheiten Grenzen der Toleranz definiert. Die Unmöglichkeit staatlicher Neutralität soll sich dabei einerseits daraus ergeben, dass eine konkrete Rechts­ ordnung bei empirisch-historischer Betrachtung stets bestimmten religiösen und geistesgeschichtlichen Traditionen näher stehe als anderen.39 Der Staat müsse anerkennen, so der Berner Staatsrechtler Markus Müller, dass er in seiner Ge­ samtheit ein religiös geprägtes Gebilde sei, wobei die religiöse Prägung im Falle der Schweiz eine „wesentlich christlich-jüdische“ sei.40 Andererseits scheitere die Forderung der Neutralität an den individuellen (auch) religiösen Prägungen der konkreten Menschen, die als Amtsträger den Grundsatz der Neutralität praktisch umsetzen müssten („Tücken menschlicher Umsetzung“).41 Der neutrale Umgang mit rechtlichen, rechtspolitischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, wie er dem politischen Liberalismus vorschwebe, sei daher ein „die menschliche Natur überforderndes Ansinnen“.42 Weder das empirisch-historische bzw. genetische Argument, das auf die religiö­ sen Prägungen des Staates verweist, noch das anthropologische Argument, das auf nicht hintergehbare religiöse Prägungen des Individuums abstellt, sind überzeu­ gend. Beide Argumente verkennen, dass die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Neutralität von Recht und Staat ein kontrafaktischer normativer Imperativ ist. Dieser Imperativ der Neutralität verlangt vom Gesetzgeber und vom Rechtsan­ wender gleichermaßen – vermeintliche oder tatsächliche – empirisch-historische oder auch persönliche Verbindungslinien zu einer bestimmten religiösen Tradition auszublenden. Es ist eine der evolutionären Errungenschaften ausdifferenzierter Rechtssysteme, dass sie über die notwendige Eigenkomplexität verfügen, um eine solche Abstraktionsleistung auch praktisch erbringen zu können. Rechtssysteme bestehen nicht aus Menschen, sondern aus rechtlichen Kommunikationen, die be­ stimmten methodischen Standards der Rechtswissenschaft folgen müssen, um als rechtliche Kommunikationen anschlussfähig zu sein.43 Selbst wenn die in Verwal­ tung und Justiz mitwirkenden Menschen bestimmte religiöse Prägungen haben, so sind sie in ihrer Rolle als Amtsträger gezwungen, ihre Entscheidung so darzustel­ len, dass sie der rechtlichen Überprüfung durch einen neutralen Dritten standhal­ ten. Auf diese Weise entsteht von (amtlicher oder gerichtlicher) Entscheidung zu Entscheidung eine eigenständige, institutionell geprägte Tradition der Auslegung 38

Müller, S. 140 ff.; Ladeur / Augsberg, JZ 2007, passim („Der Mythos vom neutralen Staat“). So Müller, S. 84 ff.; ähnlich Ladeur / Augsberg, JZ 2007, S. 12 (17). 40 Müller, S. 141; für Deutschland vgl. Uhle, Stein sowie Isensee, AöR 131 (2006), S. 173 ff. 41 Müller, S. 84 ff. 42 Müller, S. 85. 43 Vgl. Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 31 m. w. H., insb. auf Niklas Luh­ manns Systemtheorie des Rechts. 39

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und Anwendung rechtlicher Begriffe, die sich von den persönlichen Prägungen der an ihnen beteiligten Menschen emanzipiert.44 Gerade diese Eigengesetzlich­ keit des Rechts moderner, funktional differenzierter Gesellschaften unterscheidet es von irrationalen oder lediglich materiell rationalen, aber nicht formal rationa­ lisierten (Früh-)Formen der Rechtsfindung im Sinne Max Webers.45 Gleiches gilt für die moderne Verwaltung, für die Unpersönlichkeit und Austauschbarkeit des Beamtenstabes konstitutive Elemente sind, wie dies seit der Bürokratietheorie von Max Weber allgemein anerkannt ist.46 Schließlich verkennt Müller das Faktum des Pluralismus, das Rawls als dauerhaftes Merkmal der Kultur moderner Demo­ kratien ausweist,47 indem er die Schweizer Gesellschaft, mindestens ihre für die Rechtsanwendung zuständigen Teile, kontrafaktisch als religiös-weltanschaulich homogen (als „tiefgreifend christlich-jüdisch geprägt“48) konzipiert. Dass unter den Amtsträgern, die das Recht anzuwenden haben, selbstverständlich nicht nur Angehörige der beiden christlichen Konfessionen, sondern auch Juden, Muslime, Buddhisten, Atheisten usw. anzutreffen sind, wird systematisch ausgeblendet. Weil aber in modernen Gesellschaften genau mit dieser Pluralität von Vorstellungen des guten Lebens in der gesamten Gesellschaft zu rechnen ist, können Staat und Recht nur funktionieren, wenn sie sich von den individuellen religiösen und welt­ anschaulichen Prägungen emanzipieren und als Institutionen, die mehr sind als die Summe der an ihnen beteiligen Personen, einen neutralen Standpunkt einnehmen. Die auf eine Rückkehr zur Toleranz zielende Kritik am Neutralitätsliberalismus erweist sich bei näherem Hinsehen mithin als Ausdruck einer reaktionären Geis­ teshaltung, die an den praktischen Herausforderungen moderner, religiös-weltan­ schaulich pluraler Gesellschaften scheitern muss.

IV. Die Lehren der Ideengeschichte von Toleranz und Neutralität Damit komme ich zur Ideengeschichte von Toleranz und Neutralität, deren Ge­ burt ich in der frühen Neuzeit und hier insbesondere im Kontext des Augsburger Religionsfriedens von 1555 verorten möchte.49 An diesem Beispiel lässt sich zu­ gleich der Unterschied zwischen Toleranz und Neutralität noch einmal deutlich machen. Die Grundideen von Toleranz und Neutralität entstehen im Westen im frühneuzeitlichen Europa der Religionskriege und entfalten sich ideengeschicht­ lich im Zeitalter der Aufklärung und politisch praktisch zuerst in der Folge der 44

Vgl. Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 74. Weber, S. 563 f. 46 Zur bürokratischen Herrschaft eingehend Weber, S. 551 ff., vgl. auch S. 124 ff. 47 Rawls, S. 317. 48 Müller, S. 159. 49 Für die nachfolgende Darstellung greife ich teilweise auf meine Ausführungen in meiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Strafrechts“ zurück und übernehme einige Passagen wörtlich. 45

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nordamerikanischen und der französischen Revolution, also in den Verfassungen der Länder der „angewandten Aufklärung“ von 1791.50 Die Ideengeschichte ver­ läuft dabei von Toleranz zu Neutralität. Sie lässt sich als ein Prozess beschreiben, in dem sich in Reaktion auf die konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts zunächst verfassungspolitische Toleranzkonzeptionen durchsetz­ ten, die spätestens mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 durch das Konzept der religiös-weltanschaulichen Neutralität von Staat und Recht abgelöst wurden.51 Die Umstellung von Toleranz auf Neutralität ist dabei die Folge der institutionellen Trennung von Kirche und Staat durch das Verbot der Staatskirche – bei gleichzei­ tiger Anerkennung gleicher individueller Religions- und Gewissensfreiheit durch moderne, grundrechtsbasierte Verfassungen, wie der Weimarer Reichsverfassung. Als der wohl bedeutendste historische Ausgangspunkt für die Entkoppelung von Kirche und Staat und als ein „verfassungsgeschichtlicher Meilenstein“52 gilt der Augsburger Religionsfrieden von 1555.53 Mit diesem wurde den Landesherren das Reformationsrecht (ius reformandi) für ihre jeweiligen Territorien, die zusam­ men das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bildeten, zugestanden.54 Dies bedeutet, dass sie – begrenzt auf ihr Territorium – „über die religiöse Glaubens­ wahrheit befinden und ihre Untertanen zu einer Konfession zwingen“ konnten.55 Die hierauf bezogene Koexistenzformel des cuius regio, eius religio verweist auf einen Vorgang der territorialen Konfessionalisierung, bei dem der christliche Be­ zug des Reiches insgesamt erhalten bleibt und die Einheit von Glauben und Politik innerhalb der konfessionellen Territorialstaaten stärker ist als je zuvor.56 Die in der Geschichtswissenschaft übliche Kennzeichnung der frühen Neuzeit als konfessionelles Zeitalter57 macht diesen Aspekt des Augsburger Religionsfriedens gar zu dem Merkmal, das eine ganze Epoche prägen soll. Mit Blick auf die Bevölkerung kann nach 1555 noch nicht einmal von Toleranz in seiner schwächsten Form – der Erlaubniskonzeption58  – gesprochen werden, denn konfessionelle Minderheiten wurden innerhalb der jeweiligen Fürstentümer regelmäßig gerade nicht akzeptiert. Gleichwohl kann man in der Regelung, dass die Reichsstände ihren andersgläubi­ gen Untertanen gestatten mussten, auszuwandern (ius emigrandi), sie aber nicht zwingen durften, ihre Konfession zu wechseln, einen ersten Schritt zur Anerken­ nung individueller Religions- und Gewissensfreiheit „im Gewande der Freizügig­ 50

Osterhammel, S. 1246 f. Horn, S. 75. 52 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 62. 53 Dazu umfassend Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter; Heckel, Säkularisie­ rungsproblem, in: Dilcher / Staff, S. 50 ff. 54 Dazu ausführlich Heckel, Ius reformandi, in: Heckel, S. 135 ff. 55 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 61. 56 Dreier, JZ 2002, S. 1 (7). Für die Konfessionalisierungs-Schule in der Geschichtswissen­ schaft vgl. nur Gorski, in: Gabriel / Gärtner et al., S.  189 ff. 57 Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter; Gorski, in: Gabriel / Gärtner  et  al., S. 189 ff. 58 Dazu Forst, Toleranz im Konflikt, S. 42 ff. 51

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keit“59, wenn nicht gar das „erste Grundrecht der deutschen Verfassungsgeschich­ te“60 erblicken,61 auch wenn sich dieses Recht zur Auswanderung für die betroffene konfessionelle Minderheit praktisch als Vertreibung dargestellt hat.62 Erst mit dem Westfälischen Frieden von 1648 werden erstmals unterschiedliche Konfessionen innerhalb eines Territorialstaates toleriert. Mit der bereits oben erwähnten Zulas­ sung der Hausandacht gilt für die Angehörigen der Minderheitenkonfession eine schwache Erlaubniskonzeption der Toleranz. Die ideengeschichtliche Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens liegt nun gerade nicht in diesem Vorgang der Konfessionalisierung als solchem. Vielmehr erfasst man diese nur dann, wenn man den Blick auf den Kontext des Gesamt­ verbandes des Reiches richtet.63 Die durch die Friedensverträge von 1555 und 1648 mit hervorgebrachte „Reichsverfassung“64 – als Bestandteile der sogenann­ ten Reichsgrundgesetze (leges fundamentales) – verhält sich hinsichtlich der Kon­ fession der jeweiligen Reichsstände neutral. Im Reich galt rechtliche Neutralität gegenüber den anerkannten Konfessionen,65 im Territorium rechtliche Identität von Konfession und „Staat“.66 Die Indifferenz des Reichsrechts in der theologischen Wahrheitsfrage bedeutete einen Bruch mit dem „mittelalterlichen Verständnis einer göttlich begründeten Ordnung, die nur als harmonische und unauf­lösliche Einheit von weltlichem und geistlichem Recht vorstellbar war […]“.67 Die Säkula­ risierung der Reichsverfassung hat „das mittelalterliche Einheitsdenken von Kir­ che, Reich und Recht zerrissen“68 und damit „den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit eingeleitet“69. Die Ausklammerung der Wahrheitsfrage, die bis heute als Kern des freiheitlichen säkularen Staates betrachtet wird,70 lässt sich hier als Mittel politischer Konfliktlösung erstmals beobachten.71 Indem er zwei konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche zur dauerhaften Koexistenz nötigte, habe der Augs­ 59

Link, S. 103, der die Formulierung Martin Heckel zuschreibt. Link, S. 103. 61 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 61; Horn, S. 74; Borowski, S. 20 m. w. H. in Fn. 75. 62 Rémond, S. 49. 63 Zur Struktur des Reiches sehr anschaulich Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 14 ff. 64 Zur Verwendung des Verfassungsbegriffs im Kontext der Frühen Neuzeit vgl. StollbergRilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 12–16. 65 So bereits Heckel, Religionskonflikt, S. 11; vgl. auch Link, S. 105: „Verfassung als neut­ rale Friedensordnung“. 66 Mückl, in: Isensee / K irchhof, S. 716 Rz. 8. In Gestalt der Suspendierung der Wahrheits­ frage zeichne sich in nuce schon der Grundsatz der Neutralität der weltlichen Gewalt in Frage von Religion und Bekenntnis ab. 67 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 63. 68 Heckel, Säkularisierungsproblem, in: Dilcher / Staff, S. 51. 69 Link, S. 105. 70 Dreier, Säkularisierung, S. 33; Heckel, Säkularisierungsproblem, in: Dilcher / Staff, S. 55. 71 Pohlig, in: Gabriel / Gärtner et al., S. 225 ff., 235. Dieser spricht von einer auf die Reichs­ ebene „begrenzte verfahrensmäßige Stillstellung des Religionskonflikts“. 60

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burger Religionsfriede – so die Historikerin Stollberg-Rilinger – erstmals religiöse und politische Ordnung auseinandertreten lassen.72 Der konfessionelle Pluralismus innerhalb großer Herrschaftsverbände wie dem Heiligen Römischen Reich Deut­ scher Nation stellt sich rückblickend als eine Triebkraft sowohl für funktionale Differenzierung als auch für die Herausbildung von verfassungsrechtlichen To­ leranz- und Neutralitätskonzeptionen dar. Dieser Zusammenhang von Imperium, religiösem Pluralismus und Neutralität bestätigt sich im 19. Jahrhundert durch den global-historischen Befund, dass Imperien strukturell eher religiös neutral waren als Nationalstaaten.73 Es ist also durchaus zutreffend, dass die Religionskriege im nachreformatori­ schen Europa den Ursprung von Toleranz, Neutralität und in gewisser Weise sogar des Liberalismus bilden.74 Allerdings sind es, wie ich an anderer Stelle ausführlich begründet habe,75 die gesellschaftsstrukturellen Folgen von Glaubensspaltung und Religionskonflikten, die den liberalen Ideen den Weg bereiten und nicht das mo­ ralische Erschrecken über die Grausamkeit der Religionskriege. Die prominente moral- und sozialpsychologische These, dass die Grausamkeit der Religions­ kriege zur Folge gehabt habe, dass sich viele Christen einer Moral zuwandten, die Tolerie­rung als Ausdruck christlicher Nächstenliebe verstanden habe,76 erscheint dagegen wenig überzeugend. Die grausamsten Exzesse dieser Zeit, nämlich jene, die sich im Zusammenhang mit der Verfolgung von sogenannten „Sekten“ wie der Täuferbewegung ereigneten, spielten für die verfassungspolitisch bedeutsamen Friedensschlüsse keine Rolle. Dies spricht dafür, dass die ersten verfassungsrecht­ lichen Toleranzkonzeptionen der frühen Neuzeit nicht aus Einsicht oder humani­ tärem Erschrecken – wie Shklar nahelegt –, sondern aus der Not geboren waren, einen pragmatischen modus vivendi für einen gewaltsam nicht lösbaren Konflikt zu finden, wobei keine der Parteien ihren absoluten religiösen Wahrheitsanspruch aufgab und die eigennützige, gewalttätige oder juristische Lösung stets die erste Wahl blieb.77 Bereits Bodin, der die wohl früheste theoretische Neutralitätskon­ zeption ausgearbeitet hat,78 verstand Neutralität als ein Instrument zur Friedens­ sicherung im religiösen Bürgerkrieg, wobei die Neutralität des Fürsten zugleich

72 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 63; im Ergebnis „für die Reichebene und nur für diese“ auch Pohlig, in: Gabriel / Gärtner et al., S.  238. 73 Osterhammel, S. 1260. 74 Shklar, passim; Gutmann, in: Gabriel / Spieß et al., S. 291. 75 Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 41 ff. 76 Shklar, S. 30. 77 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich, S. 65 f.; Pohlig, in: Gabriel / Gärtner et al., S. 225 ff.; Heckel, Säkularisierungsproblem, in: Dilcher / Staff, S. 51; noch der Westfälische Friede war nach Martin Heckel durch eine juristische „Strategie der gegenseitigen Über­ vorteilung“ geprägt, die „durch die konfessionelle Kontroversjurisprudenz zur hohen Schule kryptotheologischer Gewaltinterpretation entwickelt wurde“ (Heckel, Deutschland im kon­ fessionellen Zeitalter, S. 50). 78 Bodin, S. 636 ff.

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Ausdruck und Instrument zur Sicherung seiner Souveränität sei.79 Als normative Verfassungsprinzipien scheinen Toleranz und Neutralität damit gleichsam hinter dem Rücken der Akteure über die strukturellen Folgen der Friedensschlüsse Ein­ gang in die sich entwickelnde Verfassung des Reiches gefunden zu haben. Die nächsten bedeutenden Verschiebungen in der Religionsverfassung Deutsch­ lands lassen sich erst etwa 150 Jahre später, nach dem Ende des Heiligen Römi­ schen Reiches Deutscher Nation, im Kontext der mit der französischen Revolution transportierten Ideen der Aufklärung verzeichnen.80 Und eine völlig neue Dimen­ sion des Neutralitätsgedankens, nämlich die Trennung von Recht und Moral bzw. Ethik, die für das Strafrecht von entscheidender Bedeutung ist, entfaltet sich erst im Ordnungsrahmen des Grundgesetzes von 1949 – auch hier mit einiger Verzöge­ rung verstärkt seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Dessen ungeachtet ist daran zu erinnern, dass es einen Zusammenhang zwischen der Entkoppelung von Recht und Religion und der Trennung von Recht und Moral gibt. Die Anerkennung und Legalisierung konfessioneller Pluralität in der frühen Neuzeit in der Folge des Augsburger Religionsfriedens trug das intellektuelle Potential in sich, mittelfristig nicht nur die theologischen Grundlagen der Strafbarkeit von Ketzerei und Blasphe­ mie, sondern auch der strafrechtlichen Sittlichkeitsdelikte zu untergraben. Dabhoi­ wala kommt in seiner instruktiven „Geschichte der ersten sexuellen Revolution“ zwischen 1600 und 1800 in England zu dem Ergebnis, dass sexuelle Toleranz eine Folge religiöser Toleranz war.81 Das Toleranzdenken ist indes nicht dazu geeignet der Kriminalisierung von bloßen Moralwidrigkeiten eine harte Grenze zu setzen. Dies wird erst durch die Umstellung von Toleranz auf Neutralität möglich, weil diese den Staat in Distanz zu umfassenden religiös-weltanschaulichen Konzeptio­ nen des Guten bringt. Erst der religiös-weltanschaulich neutrale Staat verbietet die Diskriminierung wegen der Lebensform, so ausdrücklich Art. 8 Abs. 2 BV, und setzt somit etwa der Kriminalisierung der Homosexualität harte, verfassungsrecht­ liche und justiziable Schranken. „Über Lebensformen ist nicht zu urteilen“ im re­ ligiös-weltanschaulichen neutralen Staat.82 Vorausgesetzt ist hier ein Verständnis von Neutralität als ethische „Begründungsneutralität“ im Sinne von Stefan Huster. Danach dürfen Freiheitseinschränkungen nicht auf Gründen beruhen, die Aus­ druck einer partikularen ethische Konzeption des guten und tugendhaften Lebens sind.83 Die Gründe, die zur Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs angeführt werden, müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vielmehr auf neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebun­ denen Gesichtspunkten beruhen. Freiheitseingriffe können insbesondere nicht aus 79

Dazu Steiger, in: Brunner / Conze et al., S. 348 f. Dazu ausführlich Fateh-Moghadam, Neutralität des Strafrechts, S. 48 ff. 81 Dabhoiwala, S. 84 ff. mit Hinweis auf den Toleration Act von 1689. 82 So die treffende Überschrift der kritischen Rezension von Michael Pawlik zu meiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Strafrechts“ (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 3. 2020, S. 12). 83 Huster, S. 652; vgl. auch Engi, S. 189 f. 80

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„metaphysischen Gründen oder bestimmten religiös-kirchlichen Regeln“ gerecht­ fertigt werden.84 Während folglich das Verhältnismäßigkeitsprinzip vor zu inten­ siven Freiheitsbeeinträchtigungen schützt, wendet sich das Neutralitätsgebot gegen Grundrechtseingriffe „aus den falschen Gründen“.85 Für das Straf- und Ordnungs­ widrigkeitenrecht gewinnt der Neutralitätsgrundsatz damit, und darauf kommt es vorliegend an, eine entscheidende strafrechtsbegrenzende Funktion. Der gegenüber einem Bürger erhobene strafrechtliche Unrechtsvorwurf darf aus verfassungs­ rechtlichen Gründen auf allen Ebenen der strafrechtlichen Zurechnung nicht auf Erwägungen beruhen, die lediglich Ausdruck einer partikularen religiösen, welt­ anschaulichen oder ethischen Vorstellung des Guten sind. Strafrechtliche Begriffe sind nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten zu interpretieren. Es ist der Neutralitätsgrundsatz, der Straftatbestände, welche bloße Moralwidrigkeiten oder bloß selbstschädigende Verhaltensweisen paternalistisch verbietet, ausschließt. Der Ausschluss bloßer Moralwidrigkeiten aus dem Strafrecht lässt sich neutralitätstheoretisch so formu­ lieren, dass ein Straftatbestand nicht auf partikularen Vorstellungen des ethisch Guten beruhen darf, sondern vielmehr den Anforderungen von Verallgemeiner­ barkeit und Reziprozität entsprechen muss. Die hier diskutierten Verhüllungs- und Minarettverbote lassen sich, wie oben gezeigt, nicht neutral begründen, sondern müssen als Ausdruck einer repressiven Politik der Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten verstanden werden. Als Toleranzgesetze implizieren sie partikulare religiöse oder weltanschauliche Vorstellungen der richtigen Lebensweise, die sich der Gesetzgeber zu eigen macht. Die Initianten des Verhüllungsverbots wissen entweder (paternalistisch) besser, was gut für die betroffenen Frauen ist, als diese selbst, oder oktroyieren ihnen die eigenen Sittlichkeitsvorstellungen über angemes­ sene Bekleidung im öffentlichen Raum (Rechtsmoralismus). Legitimieren lassen sie sich daher in der Tat nur dann, wenn die Religionsverfassung von Neutralität auf Toleranz als Leitprinzip umgestellt wird.

V. Ausblick: Europäische Religionspolitik am Scheideweg Was mit der Umstellung von Neutralität auf Toleranz auf dem Spiel steht, sollte die Konfrontation der aktuellen Dynamik des Religionsrechts religiöser Symbole mit der Ideengeschichte von Toleranz und Neutralität deutlich gemacht haben. In der Europäischen Geschichte hat sich die Toleranzpolitik als ungeeignet erwie­ sen, um gesellschaftliche Vielfalt friedlich zu integrieren. Erst die religiös-weltan­ schauliche Neutralität des Staates ermöglicht es allen Bürgerinnen und Bürgern, sich unabhängig von ihrer Religion und Weltanschauung mit dem Staat, in dem sie leben, zu identifizieren und sich in einer Demokratie nicht nur als Adressaten, sondern zugleich als Autoren der allgemeinen Gesetze zu verstehen. Das verfas­ 84 85

BVerfGE 36, 146. Huster, S. 657.

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sungsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen der Lebensform, verstanden als Oberbegriff nicht nur für die gender-identitären und sexuellen, sondern auch für die religiös-weltanschaulichen Prägungen von Personen, ist das Ergebnis eines historischen Lernprozesses des Rechts als Institution,86 in dessen Verlauf sich die Ideen der Aufklärung schrittweise verwirklicht haben. Es ist dieses Verbot der Dis­ kriminierung wegen der Lebensform, das den Kerngehalt des Neutralitätsgrund­ satzes definiert. Mit der Aufgabe der Neutralität wird daher zugleich die Tür für die Diskriminierung von abweichenden Lebensformen weit aufgestoßen, wie das Beispiel des Minarett- und Verhüllungsverbots zeigen. Letztlich stehen daher mit dem Neutralitätsgrundsatz die Fundamente der modernen liberalen Demokratie, die zugleich eine Friedensordnung pluraler Gesellschaften bilden, insgesamt auf dem Spiel.

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Vgl. Habermas, S. 790 f.; Gutmann, in: Siep / Gutmann et al., S. 312.

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Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen Einheit und Vielfalt Hans-Heinrich Trute

I. Einleitung Eine Recherche in juristischen Datenbanken ergibt eine, fast ist man geneigt zu sagen, enorme Vielfalt an Gebrauchsverwendungen für die Begriffe Pluralismus, Pluralität und Vielfalt. Fragt man das digitale Wörterbruch der deutschen Sprache zum Lemma Pluralismus,1 dann hat dieser Begriff seinen Take-off im letzten Drit­ tel des 19. Jahrhunderts und die Verbindung mit Begriffen wie Demokratie, Mehr­ parteiensystem, Meinungsfreiheit, Menschenrechte, Toleranz mag auch schon Hin­ weise darauf geben, was der Grund für die Karriere dieses Begriffs ist. Sowohl auf den Staat wie die Gesellschaft bezogen wird damit eine Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender und miteinander um Einfluss, Macht konkurrierender Gruppen, Organisationen, Institutionen, Meinungen, Ideen, Werte, Weltanschau­ ungen bezeichnet. Dies kann theoretisch ausformuliert sein, politische Forderun­ gen umfassen oder schlicht deskriptiv sein. Jedenfalls ist der Begriff deutlich auf das politische System bezogen: Parteienpluralismus, pluralistische Demokratie, Pluralismus in der Meinungsäußerung und -bildung sind nur einige der Beispiele für diesen Bezug. Vielfalt scheint dagegen eher darauf ausgerichtet zu sein, Mannigfaltigkeit, Vielgestaltigkeit zum Ausdruck zu bringen. Diese Bedeutung teilt es mit dem Be­ griff der Pluralität, der eher auf die Vielfalt von Lebensstilen und Meinungen, auf kulturelle, religiöse und weltanschauliche Vielfalt ausgerichtet ist. Der Begriff ist also eher auf die gesellschaftliche Vielfalt bezogen. Aber letztlich ist die Begriffs­ verwendung alles andere als konsistent. Die nachfolgende Analyse wird zeigen, dass eine fein säuberliche Scheidung der Bezugspunkte nicht besteht. Schon gar nicht ist es so, dass die Einheit sich auf Verwaltung und das Staatliche bezieht, die Vielfalt auf die Gesellschaft. Die Ab­ bildung, Sicherung, Gewährleistung von Vielfalt der Gesellschaft bzw. bestimmter Aspekte gesellschaftlichen Handelns, aber auch in Bezug auf das Staatliche und die Anwendung des Verwaltungsrechts lässt eher ein Oszillieren zwischen Einheit und Vielfalt erkennen.

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https://www.dwds.de/wb/Pluralismus.

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II. Die Organisation und Gewährleistung von Vielfalt durch Verwaltungsrecht Ausgangspunkt ist zunächst die Frage, ob und wie Recht Vielfalt gewährleistet oder doch abbildet. Als Bezugsrahmen dient hier die staatliche Regelung gesell­ schaftlicher Vielfalt. Dafür steht etwa das Medienrecht, das explizite Vielfaltsge­ währleistungen auch unter kulturellen Aspekten vorsieht und dafür ein komplexes Governance-Regime institutionalisiert. Ein weiteres Beispiel wären etwa die viel­ fältigen Einrichtungen, die staatliche Entscheidungen im Kulturbereich treffen. Sie versuchen, die Entscheidungsmaßstäbe durch eine an der Pluralität des Sach­ bereichs ausgerichtete Multiperspektivität zu operationalisieren. Sie sind zwei er­ wartbare Themenfelder, die ergänzt werden durch einen Blick auf das Sozialrecht, das in Teilen – eher weniger bekannt – auf die sozialen, kulturellen, religiösen und geistigen Bedürfnisse Rücksicht nimmt. Im Interesse sachangemessener Aufga­ benerledigung wird versucht, eine Pluralität der Angebote mit unterschiedlichen Orientierungen abzubilden. Gewiss ließen sich weitere Felder finden und die ein­ gesetzten Regelungsinstrumente systematisieren, zugleich aber auch die Schwie­ rigkeiten verdeutlichen, Vielfalt positiv zu sichern. Hier geht es nur um eine ex­ emplarische Darstellung des Umgangs mit Vielfalt.

1. Das Medienrecht Ein prominentes Beispiel ist das Medienrecht, das – so könnte man sagen – das Vielfaltsgewährleistungsrecht par excellence ist. Nimmt man den Medienstaats­ vertrag zum Maßstab, dann kann man schnell den Eindruck eines Vielfaltssiche­ rungsgesetzes bekommen. Es nennt diesen Begriff der Vielfalt, typischerweise be­ zeichnet als Informationsvielfalt, Meinungsvielfalt, vielfaltsichernde Maßnahme, Vielfalt im deutschsprachigen und europäischen Raum, Vielfalt im Programm in – je nach Zählung – über 50 Fällen. Und so ist es ja auch: Zentralwert der Re­ gelung ist die Gewährleistung der Vielfalt der Informationen / Meinungen, die der Rundfunk (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich organisiert) als Medium und Faktor vermitteln soll. Dies wird (mittlerweile) erweitert auf Telemedien, Inter­ mediäre, Plattformen, Streaming Dienste, ohne dass die Abgrenzung schon immer ganz trennscharf ist. Der enge Zusammenhang mit dem demokratischen Prinzip und insbesondere der Meinungsbildung liegt auf der Hand2 und verlangt entspre­ 2 In der Sache nicht unähnlich, vielleicht etwas zurückhaltender im Detail, akzentuiert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Medienordnung. Demokratie, Pluralismus der Meinungen, Diversität, alles dies sind auch für die Rechtsprechung des EGMR Begriffe zu diesem Themenfeld: „it is indispensable for the proper functioning of democracy that it transmits impartial, independent and balanced news, information and comment and in addition provides a forum for public discussion in which as broad a spectrum as possible of views and opinions can be expressed.“ Vgl. EGMR Nr. 13936/02, ECLI:CE:ECHR:2009:091

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chende Absicherungen, die eine detaillierte Ordnung des Mediensektors mit dem Ziel der Vielfaltsgewährleistung anzielen.3 a) Vielfalt als Leitbegriff und Leerstelle Freilich, der Zentralbegriff der Vielfalt ist eine Leerstelle, ein nicht definier­ ter, nicht positiv operationalisierter Zielwert. Dies gilt zumal dann, wenn man die Ordnung des Mediensektors von einem Vielfaltsgesamtziel her entwerfen möch­ te.4 Dies gilt noch mehr dann, wenn man die sozialen Medien und neue Anbieter mit in den Blick nimmt: Man hat dann eine Vielzahl von Medien, Inhalten und Anbietern, deren Beiträge zu einem Vielfaltsgesamtziel sich schwerlich bewerten lassen. Man kann dann nur einzelne Medien und Anbieter mehr oder weniger stark einer vielfaltsbezogenen Regulierung unterwerfen, deren Beitrag zu einer Gesamtordnung offenbleibt. Sicherlich kann man die Aufgabenbeschreibung so fassen, wie es in § 26 Abs. 1 MStV geschieht, aber Operationalisierbares folgt daraus eher nicht. Eher werden damit Aspekte aufgerufen, die in möglichen Diskussionen in Gremien, die multi­ perspektivisch zusammengesetzt sind, dann als Kristallisationspunkte einer De­ batte dienen. Nichts anderes gilt für die Programmgrundsätze für den privaten Rundfunk (§ 51 MStV), insbesondere den Beitrag der Programme zur Vielfalt mit einem angemessenen Anteil von Information, Kultur und Bildung (§ 51 Abs. 2 MStV) und das in einem außenpluralen Modell, das letztlich nur auf eine An­ bieter- und Programmvielfalt abstellen kann. Die Konzentrationsvorschriften als Beitrag zur Sicherung der Meinungsvielfalt stellen immerhin auf Schwellenwerte der Reichweiten einzelner Programme und deren Kumulation bei einem Anbieter ab, sind von daher gut operationalisierbar, aber in der Sache haben sie Bedeutung eher als Warnsignale einer weiteren Vergrößerung der Reichweite, denn als hin­ reichend klar anwendbare Regelungen.5 7JUD001393602, Manole, Rn. 101; entsprechend kann staatliche Regulierung dann legitimer­ weise das Ziel der Vielfalt verfolgen. Ausführlich Nielsen, S. 130 ff. 3 Std. Rspr., vgl. BVerfG, Urteil v. 16. 6. 1981, in: BVerfGE 57, 295 (319 ff.); BVerfG, Urteil v. 18. 6. 2018, in: BVerfGE 149, 222 (260 ff.). 4 Dazu bereits Trute, VVDStRL 57 (1998), 216 (232 ff.). 5 Dies hat nicht zuletzt das Verfahren Springer / ProSiebenSat1 gezeigt, das – jedenfalls was die medienkonzentrationsrechtliche Seite betrifft – die Schwierigkeiten des Regelungs­ modells offengelegt hat. Die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medien­ bereich hält daher aus vielen Gründen, die hier nicht expliziert werden können, das Modell des Medienkonzentrationsrechts in der vorliegenden Form für weitgehend leerlaufend; vgl. Konzentrationsbericht der KEK, Sicherung der Meinungsvielfalt im digitalen Zeitalter, 2018, S. 443 f. Ob allerdings die vorgeschlagene Umstellung von der Fernsehzentrierung auf ein Ge­ samt(meinungs)marktmodell (S. 444) die Operationalisierungsdefizite behebt oder eher noch zuspitzt, erscheint als eine offene Frage. Schon bisher stehen die quantitativen Schwellenwerte für den Gegenbegriff zur Vielfalt, die vorherrschende Meinungsmacht, wissenschaftlich auf eher schwachen Beinen; dazu Beck RundfunkR-Trute, § 26 Rn. 29, 40.

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Werfen wir einen Blick auf die Rechtsprechung, in diesem Fall naheliegender Weise auf diejenige des Bundesverfassungsgerichts. Im ZDF-Urteil6 kann man das Wort Vielfalt in vielfältigen Kombinationen immerhin mindestens 65-mal finden. Immer dort, wo die Aufgabe des Rundfunks, die Organisation desselben, die Zusammensetzung der Gremien in Rede stehen, wird Vielfalt zum Zentralbe­ griff, allerdings ohne diesen Begriff näher zu operationalisieren. Offenkundig ist Vielfalt in sehr unterschiedlichen Dimensionen verstehbar, als Vielfalt der Mei­ nungen, als Vielfalt der Inhaltsproduzenten, als Vielfalt der Rundfunkprogramme oder -veranstalter, als Organisationsdimension, als Maßnahme zur Sicherung von Vielfalt. Mit der Aufnahme von Medienplattformen und Medienintermediären in die immer noch vom Modell des Rundfunks her gedachte regulative Ordnung werden die Operationalisierungsschwierigkeiten der Vielfalt nicht eben geringer. Die Anforderungen an Transparenz und Diskriminierungsfreiheit sind nur auf den ersten Blick unproblematisch. Sie dürften eher Chips für die öffentliche Diskus­ sion verteilen als einen durchsetzungsgeeigneten rechtlichen Handlungsrahmen der Medienaufsicht zur Verfügung stellen. Die in vieler Hinsicht idealisierende und der bisherigen „Rundfunklogik“ ver­ haftete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betont mehr die struktu­ rellen Sicherungen der pluralistischen Vielfalt.7 Darin kommt dem in bestimmter pluralisierter Weise organisierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine neuerdings stärker betonte Funktion eines Gegengewichts zu der Medienmarktordnung zu,8 die im Übrigen Raum lassen würde für andere Funktionsbestimmungen der Me­ dienintermediäre, der Plattformen und sozialen Medien. Die Realbeschreibung der Medienentwicklung durch das Bundesverfassungsgericht bleibt der Logik von Massenmedien verhaftet9 und spiegelt eher – durchaus etwas einseitig – den me­ dienpolitischen Diskurs, als dass sie eine wissenschaftlich instruierte Analyse der Veränderung der Medienordnung aufzunehmen versucht. Es ist durchaus richtig, nicht von einem Vielfaltsgesamtziel her eine positive Ordnung zu konzipieren. Dies eröffnet die Möglichkeit, eine an den einzelnen medialen Angeboten und ihren Beiträgen und Gefährdungen sowie der Komplexität der Medienordnung und ihrer Vernetzung orientierte Lösung zu entwickeln.10 Diese müsste dann auch den spezifischen Funktionen der medialen Akteure und ihrer dadurch bewirkten Veränderung der Medienordnung Rechnung tragen. So lässt sich Google zwar als Medienintermediär einordnen, aber mit der Regelung von Transparenz und Dis­ kriminierungsfreiheit ist wenig oder gar nichts gewonnen, schon gar nicht eine Operationalisierungsfähigkeit der Maßstäbe. Vor allem bleibt unklar, wie denn 6

BVerfG, Urteil v. 25. 3. 2014, in: BVerfGE 136, 9 ff. BVerfG, Urteil v. 18. 6. 2018, in: BVerfGE 149, 222 (260). 8 BVerfG, Urteil v. 18. 6. 2018, in BVerfGE 149, 222 (260 ff.); zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Widerlager einer Medienmarktordnung bereits Trute, VVDStRL 57 (1998), 216 (232 ff.). 9 Vgl. etwa BVerfG, Urteil v. 18. 6. 2018, in: BVerfGE 149, 222 (261 f.). 10 Vgl. jüngst Vesting, JZ 2020, 975 (981 ff.). 7

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durch die Regelung von Transparenz und Diskriminierungsfreiheit etwas für die Vielfalt gewonnen werden könnte. Die Rolle des Medienintermediärs, wie etwa Google, wird aus der Perspektive des Rundfunks bestimmt, und damit von vorn­ herein an eine Logik gebunden, die diesen nicht trifft.11 Damit wird aber die Ver­ änderung der Medienordnung durch neue Akteure nicht zureichend reflektiert. Dies ließe sich ebenfalls an den sozialen Medien verdeutlichen. Diese sind schon deshalb nicht nach der Logik des Rundfunks zu rekonstruieren, weil sie nicht als Gatekeeper von gleichsam aggregierten Meinungen fungieren, sondern gerade in der Umgehung dieser Gatekeeper-Funktion und einer Re-Individualisierung der Kommunikation liegen. Von daher wird man in der bisherigen Logik Vielfalt der gesellschaftlichen Meinungsbildung nicht sichern können. Der Sache nach geht es wohl eher darum, Strukturen zu schaffen, die eine Viel­ falt der Perspektiven begünstigen, Bedingungen schaffen, die Offenheit gegenüber Schließungen bevorzugen, die Organisationen und Verfahren schaffen, die daran orientiert sind. Aber dies setzt voraus, die eingetretenen Veränderungen der Kom­ munikationsordnung auch zu reflektieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. b) Pluralisierung der Vertreter des Staates und der Politik als Vielfaltssicherung Schon immer gab es Vertreter des Staates und der Politik in den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit bekannten Einbußen an der Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Um diesen Missstand abzustellen, zugleich aber nicht alle Vertreter des Staates und der Politik als Teil von Meinungsbildungen auszuschließen, sind selbst diese Vertreter in den Gremien des öffentlich-rechtli­ chen Rundfunks neuerdings unter Pluralitätsgesichtspunkten beurteilt und für das Spiel der Vielfalt in den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Vielfaltsanforderung instrumentalisiert worden, um die Staatsferne abzusichern. Im ZDF-Urteil ist das gut zu beobachten, dass eben nicht mehr mit einer einfachen Unterscheidung von privater Freiheit (Vielfalt) und staatlicher Bindung im Sinne von Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 2 GG (Einheit) gearbeitet wird, sondern konsequent funktional im Sinne der Kommunikationsziele des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG bestimmt wird, wer als staatlicher Vertreter angesehen werden muss.12 Stichworte sind: Aus­ richtung an Vielfalt, Verhinderung politischer Instrumentalisierung. „Maßgeblich ist hierfür, ob es sich um eine Person handelt, die staatlich-politische Entschei­ dungsmacht innehat oder im Wettbewerb um ein hierauf gerichtetes öffentliches Amt oder Mandat steht und insoweit in besonderer Weise auf die Zustimmung einer breiteren Öffentlichkeit verwiesen ist.“13 Das liegt freilich noch auf der Linie der traditionellen Vielfaltssicherungsmechanismen des Rundfunkrechts. In­ 11

Zu Recht Vesting, JZ 2020, 975 (980 f.). BVerfG, Urteil v. 25. 3. 2014, in: BVerfGE 136, 9 (39 f.) Rn. 53. 13 BVerfG, Urteil v. 25. 3. 2014, in: BVerfGE 136, 9 (40) Rn. 53. 12

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des bleibt das Gericht dabei nicht stehen, sondern verlangt auch, die Ausrichtung der in diesem Sinne staatsnahen Vertreter pluralistisch zu organisieren, um damit Vielfalt zu generieren: „Es reicht danach nicht, die Zahl dieser Personen auf einen bestimmten Anteil zu beschränken. Vielmehr müssen die auf diesen Anteil entfal­ lenden Mitglieder zugleich den Anforderungen der Vielfaltsicherung entsprechend bestimmt werden. Hierzu gehört insbesondere, dass die verschiedenen politischen Strömungen auch im Sinne parteipolitischer Brechungen möglichst vielfältig Ab­ bildung finden. Dabei kann der unterschiedlichen Bedeutung der verschiedenen Strömungen Rechnung getragen werden. Dem Grundsatz der Vielfaltsicherung entspricht es jedoch, dass gerade auch kleinere politische Strömungen einbezogen werden. Gleichfalls hat der Gesetzgeber darauf zu achten, dass möglichst vielfäl­ tig weitere perspektivische Brechungen – etwa föderaler oder funktionaler Art – berücksichtigt werden.“14 Man kann mit einiger Überspitzung sagen, dass damit nicht mehr ein Block staatsnaher Vertreter konzipiert wird, sondern diese selbst als Träger unterschiedlicher Perspektiven gehandelt werden. Damit wird eine vor­ gebliche Einheit des Staatlichen aufgelöst und gleichsam eine Pluralisierung durch grundrechtliche Anforderungen herbeigeführt. Es geht also nicht mehr allein um die gesellschaftliche Vielfalt, sondern durchaus um eine umfassendere Konzep­ tion von Pluralisierung, die staatliche Pluralisierung aufnimmt im Interesse einer Vielfalt von Meinungen und Perspektiven. c) Staat als Mitspieler im Vielfaltskonzert Durchaus auf der Linie dieser Pluralisierung kann man sehen, dass sich die Leit­ bilder der Kommunikationsordnung verändern. Lange Zeit herrschte so etwas wie eine mehr oder weniger scharfe Dichotomisierung von staatlicher Amtssphäre und gesellschaftlicher Kommunikation vor, die dem Staat bestenfalls eine begrenzte informatorische Rolle zuweisen wollte, bezeichnet dann als staatliche Informa­ tionstätigkeit, abgesichert durch eine allgemeine Neutralitätsverpflichtung. Auch wenn diese Rollenzuweisung von Beginn an unscharf war, zeigte sich doch eine mehr oder weniger kategoriale Unterscheidung von staatlicher und gesellschaft­ licher Kommunikation, die in der Rollenbeschreibung einen eher rigiden Stil ni­ vellierender Abgrenzung bevorzugt. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorstellung fein säuberlich getrennter Sphären schon an der Funktionsbestimmung staatlicher Kommunikation aufläuft. Die Ver­ fassung war zudem schon deutlich offener gestaltet, als solche Dichotomisierung erkennen ließ. Sie lässt an vielen Stellen und in differenzierter Form Kommunikate und Kommunikationsforen zu, die sich von der gesellschaftlichen Kommunika­ tion nicht einfach trennen ließen, sondern von dieser leben und auf diese bezogen sind und umgekehrt. Man denke nur an das Forum des Parlaments, in dem sich 14

BVerfG, Urteil v. 25. 3. 2014, in: BVerfGE 136, 9 (43) Rn. 57.

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staatliche Funktionsträger mit Bezug auf gesellschaftliche Kommunikation äußern und äußern müssen und nicht einfach einem Neutralitätsgebot welcher Art auch immer unterworfen werden können. Und natürlich ist auch die Politik, vereinfacht gesprochen, immer schon in mediale Auseinandersetzungen verstrickt, die klare Unterscheidungen verschwimmen lässt. Die Pluralisierung des Mediensystems im Sinne einer Vielzahl von sozialen Medien hat zudem die eingespielten und mehr oder weniger stabilen Beziehungen zwischen Medien als Vermittler und Faktoren gesellschaftlicher Kommunikation und staatlichen Akteuren erodiert. Dazu muss man nicht auf den Twitter-Account eines ehemaligen US Präsidenten hinweisen, es reicht der Verweis auf die ver­ gleichsweise reichweitenschwächere deutsche Politik mit einer Vielzahl von poli­ tischen und staatlichen Akteuren in der öffentlichen Diskussion. Insoweit führt die Multiplizierung der Angebote und die Umgehung von bis­ herigen, ja durchaus auf Qualitätssicherung und Filterung bedachten, klassischen Medien jenseits des Boulevards zu einer enormen Pluralität der Äußerungsformen und vor allem einer enormen Steigerung in der Dimension der Zeit, die zuneh­ mend knapp wird und ganz andere Reaktionsgeschwindigkeiten erfordert, die mit wohl abgewogenen Presseerklärungen und -konferenzen überhaupt nicht mehr zu greifen sind. Dies ist offenkundig nicht nur ein Problem der Regierung oder allge­ meiner: politischer Akteure, sondern betrifft auch die Verwaltung und ihre Tätig­ keit. Der Aufgabenbereich erfordert zunehmend Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation. Man denke nur an die Einstellung von Kommunikationsprofis bei der Polizei, die aktiv, zum Teil proaktiv, an der Kommunikation über Sicher­ heit teilnehmen und teilnehmen müssen, wie sich in kritischen Situationen schnell zeigt. Dies lässt sich nicht nur als einfaches Informationshandeln kennzeichnen, sondern als Teilnahme an der gesellschaftlichen Kommunikation im Interesse der Aufgabenwahrnehmung. Insoweit ist es durch den Aufgabenbezeug natürlich nicht beliebig und schon gar nicht Ausübung gesellschaftlicher Freiheit. Aber es zeigt, dass auch die verwaltungsrechtliche Eingrenzung dieses Handelns nicht (mehr) nur darauf gerichtet sein kann, gleichsam die Sphären abzugrenzen und insoweit eine Rollenbeschreibung vorzunehmen, sondern Anforderungen an die Kommunikate formulieren muss, die wegen der Teilnahme an der gesellschaftlichen Kommu­ nikation Qualität, Sachlichkeitsgebote und zeitliche Grenzen operationalisieren müssen, aber nicht mit eher unterkomplexen Formulierungen von staatlicher Neu­ tralität arbeiten können. Staatliche Akteure werden in diesem Sinne nicht mehr in ihrem Beitrag zur gesellschaftlichen Meinungsbildung gleichsam neutralisiert, sondern bestimmten Anforderungen unterworfen.15

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Ausführliche Rekonstruktion bei Mast, S. 141 ff.

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2. Jugendhilferecht Oftmals übersehen, in der Sache jedoch von enormer praktischer Bedeutung und mit nicht unerheblichen Problemen der Durchführung behaftet ist das Jugend­ hilferecht des SGB VIII. Die Orientierung der Leistungserbringung an dem Plu­ ralismus öffentlicher und freier Träger kommt schon in der zentralen Leit­linie des Gesetzes zum Ausdruck, in § 3 Abs. 1 SGB VIII, wonach die Jugendhilfe durch die Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen gekennzeichnet ist. Dies ist nicht ein­ fach eine Beschreibung eines Ist-Zustandes, sondern verbindliche Leitlinie für die staatlichen Entscheidungen,16 die für die Herbeiführung eines pluralen Angebots erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen,17 wie etwa für die Ausübung des Wahlrechts der Berechtigten (§ 5 SGB VIII) oder die Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe. Man kann diese Leitlinie durchaus als Ausdruck einer allge­ mein geltenden, jedenfalls das Mindestmaß an menschenwürdigen Bedingungen umfassenden Gewährleistungsverpflichtung staatlicher Leistungsträger verstehen, darauf hinzuwirken, dass die zur Ausführung von Sozialleistungen erforder­lichen Dienste und Einrichtungen zur Verfügung stehen, wie es auch in § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I heißt. Diese objektiv-rechtliche Verpflichtung wird eben nicht umgesetzt durch die staatliche Leistung, sondern vor allem im Zusammenhang mit dem Grundsatz der institutionellen Subsidiarität durch die Vielfalt der Träger und zwar zuvörderst Freier Träger.18 Es bleibt eine staatliche (kommunale) Gesamtverant­ wortung19 erhalten, die sich in einer Vielzahl von Befugnissen niederschlägt, die freilich das Grundmodell pluralistischer und privater Leistungserbringung erhalten soll und muss. Dieses Modell ist nicht nur historisch gewachsen, sondern durch­ aus Ausdruck verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen, die kurz wie folgt skizziert werden können: Autonomie der Familie, ein nur begrenzter Erziehungsauftrag des Staates jen­ seits der Schule, das sog. staatliche Wächteramt, dessen Eingriffsschwelle eher von § 1866 BGB beschrieben wird als von verwaltungsrechtlichen Normen. Schon dies zwingt zur Berücksichtigung unterschiedlicher Erziehungs-, Lebens- und Verhal­ tensstile. Dies bedingt aber auch einen anderen Ansatz der Erreichung der Ziele, der Unterstützung von Familien, die dieser Aufgabe nicht oder nur begrenzt ge­ wachsen sind einerseits, der Unterstützung Jugendlicher in der Selbstentwicklung andererseits. Beides bedingt verfassungsrechtlich indiziert eine indirekte Form der Unterstützung,20 die sich der Durchsetzung staatlicher Erziehungsvorstellun­ 16

Wiesner SGB VIII-Wiesner, § 3 Rn. 7 ff. Wiesner SGB VIII-Wiesner, § 3 Rn. 9. 18 Zum Umfang der Subsidiarität vgl. BeckOK SozR-Winkler, SGB VIII, § 4 Rn. 15. 19 Dazu BVerfG, Urteil v. 18. 6. 1967, in: BVerfGE 22, 180 (206). 20 BT- Drucks. 11/5948 S. 42: „Das eingriffs- und ordnungsrechtliche Instrumentarium des Jugendwohlfahrtsgesetzes soll durch eine stärkere Betonung der Beratungs- und Kooperationspflichten des Jugendamts mit den Beteiligten abgebaut, die Autonomie der Familie ge­ 17

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gen enthält und stattdessen auf die Förderung und Unterstützung setzt – jenseits der ultima ratio einer Intervention. Diese Akzentuierung setzt sich in der Orga­ nisation der Unterstützung und Förderung fort. Die Anerkennung der Freien Trä­ ger der Jugendhilfe ist insoweit nicht nur durch eine lange Tradition der privaten Hilfe motiviert, sondern die freie Jugendhilfe gründet, wie es in den gesetzlichen Materialien heißt,21 „ihre Tätigkeit nicht auf staatliches Recht, sondern auf reli­ giöse oder humanitäre Grundideen und Überzeugungen, denen sie sich aus eige­ ner Entscheidung verpflichtet fühlt. Sie bleibt daher bei der Wahl der Aufgaben und der Art und Weise ihrer Wahrnehmung frei. Der Unterschied zwischen der Tätigkeit der öffentlichen Jugendhilfe und der Tätigkeit der freien Jugendhilfe liegt daher nicht nur in der unterschiedlich strukturierten Trägerschaft, sondern in dem unterschiedlichen Rechtsgrund für die Aufgabenwahrnehmung.“ Die Be­ tonung der Freien Träger ist denn auch auf die Unabhängigkeit von staatlicher Organisation und staatlichem Einfluss auf die Kirchen gerichtet. Diese Anerken­ nung einer (insoweit vorfindlichen) gesellschaftlichen Pluralität von Wertorien­ tierungen und Erziehungs- und Lebensstilen einschließlich der grundrechtlich abgestützten Persönlichkeitsentwicklung verweist indes noch auf einen anderen Aspekt. Der Sache nach geht es um die Unterstützung von Veränderungen von Personen, die im Modus der Erledigung einer Verwaltungsaufgabe nicht zu leis­ ten sind. Sie ist nicht Durchsetzung von Recht (selbstverständlich kann sie dies außerhalb des Förder- und Unterstützungskontextes auch sein), keine bürokratisch anleitbare Veränderung von Personen, sondern eine flexible, auf vielfältige Rück­ koppelungen und Lernprozesse ausgerichtete Aufgabe.22 Darüber hinaus bedarf die unterstützende Arbeit oftmals des Einlassens auf Milieus und Gemeinschaften, die staatliche Unterstützung nicht wollen und insofern gar nicht auf diese Weise erreichbar wären, einmal abgesehen davon, dass dies kaum als Aufgabe des öf­ fentlichen Dienstes organisierbar wäre. Insoweit macht der Trägerpluralismus, der seine Rechtfertigung auch, wie es im Gesetz heißt, in der Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen findet, auch unter diesen Gesichtspunkten durchaus Sinn. Dieser Situation entspricht dann auch das Wahlrecht der Leistungsempfänger (§ 5 SGB VIII), das sich freilich immer auf den Status quo der vorhandenen Ein­ richtungen, nicht auf die Schaffung von weiteren Angeboten richtet.23 Hier ist nicht davon zu handeln, ob und inwieweit der staatliche Ansatz tatsäch­ lich dem Pluralismusgebot entspricht oder ob hinsichtlich der freien Träger nicht eine gute Portion überschüssiger Idealisierungen eine Rolle spielen (können), die achtet und die Selbstverantwortung und Mitarbeit junger Menschen und ihrer Familien gestärkt werden. Auf diese Weise kann dem zweifachen Nachrang von öffentlicher Jugendhilfe, näm­ lich der Achtung und Stärkung elterlicher Erziehungsverantwortung vor staatlichen Eingriffen (Hilfe zur Selbsthilfe) sowie dem Vorrang nichtstaatlicher vor staatlicher Hilfe (Funktions­ schutz freier Träger) am besten Rechnung getragen werden.“ 21 BT- Drucks. 11/5948 S. 48. 22 Vgl. insoweit JurisPK-SGB VIII-Luthe, § 3 Rn. 20. 23 BeckOK SozR-Winkler, SGB VIII, § 5 Rn. 3.

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vorhandene Marktorientierung und Vermachtung durch Verbände camouflieren können. Freilich ist darauf hinzuweisen, dass die begrüßenswerte Idee des Trä­ ger- und Angebotspluralismus nur dann wirksam sein kann, wenn auch die Plu­ ralisierungsformen der Gesellschaft zureichend abgebildet werden. Für die An­ erkennung als freier Träger mag dies im Hinblick auf Formen der institutionellen Zusammenarbeit Bedeutung haben. Wenn § 75 Abs. 3 SGB VIII Kirchen, soweit sie Körperschaften des Öffentlichen Rechts sind, von Gesetzes wegen die An­ erkennung verleiht, mag dies staatskirchenrechtlich veranlasst sein. Dies bedeutet im Lichte des Pluralismusgebots indes nicht, dass kirchliche Vereinigungen, die diesen Status nicht haben oder nicht anstreben, nicht als Freie Träger anerkannt werden (können). Hier zeigt sich, dass diese Konzeption nur als dynamische sinn­ voll verstanden ist und genau darin auch ihren Vorteil hat, in der Anerkennung einer Pluralisierung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und damit auch einer Dynamik der Veränderung.

3. Grundrechte als Vielfaltsgenerator und als Einheitstreiber An vielen Stellen ist bereits die Bedeutung der Grundrechte für die Organisa­ tion und Gewährleistung der Vielfalt, nicht mehr nur im Medienrecht, sondern in dem gesamten Kultur- und Wissenschaftsbereich, deutlich geworden. Insoweit kann man sagen, dass der enorme Einfluss der Grundrechte, die in der Rechtspre­ chung des BVerfG immer auf eine gewisse Kontextualisierung im Hinblick auf die Bedeutung der Rechtsgüter in konkreten Zusammenhängen angelegt sind, so etwas wie einen Vielfalts-Generator eigener Art darstellt. Dies gilt nicht nur für die Religionsfreiheit oder für die Berücksichtigung von Selbstverständnissen der Grundrechtsträger.24 Die Ausbildung von Konventionen etwa im Äußerungsrecht, die Anerkennung von Selbstregulierungen etwa im Jugendmedienschutz, stellen Beispiele für Ansätze in diese Richtung dar, die allerdings, so scheint mir, noch nicht zureichend auf ihre Reichweite hin ausgelotet sind. Grundrechte wirken als Vielfaltsgenerator im Zweifel auf die gesamte Rechtsordnung ein und damit natür­ lich auch auf das öffentliche Recht. Sie mögen dazu führen, dass eine vorgefundene gesellschaftliche Pluralität anerkannt, gestützt oder stabilisiert wird. Der gesamte Kultur- und Wissenschaftsbereich wäre hier zu nennen, natürlich die Religionsfrei­ heit und selbstverständlich auch die Persönlichkeitsentfaltung. Wie immer man das Verhältnis von Sozialität und Individualität denken mag, in der Sache ist jedenfalls die Persönlichkeitsentfaltung nur als eine je individuelle Leistung denkbar, deren Anerkennung als Freiheit eben auf plurale Formen der Entwicklung und Lebens­ führung setzt, wie im Bereich der Jugendhilfe gezeigt. Diese Beispiele ließen sich gewiss vermehren, aber darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Denn die Grundrechte beeinflussen die gesamte Rechtsordnung. Sie drängen

24

Morlok, S. 34 ff.

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damit auf eine Differenzierung der Anwendung. Man nehme nur das Beispiel des Verhältnisses von Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, das durch die Rechtspre­ chung in eine Vielzahl von Konstellationen ausdifferenziert worden ist.25 In der Sache ist auch diese Vielfaltsgenerierung und -sicherung nicht ohne eine Gegenbewegung. Denn die Entfaltung der Grundrechte durch das Bundesverfas­ sungsgericht führt mit einer anderen Perspektive auch zu einer Nivellierung an Vielfalt – selbst dort. Wo das Grundgesetz von einer Vollzugspluralität ausgeht, jedenfalls diese anerkennt wie in Art. 83 ff. GG, führt die Grundrechtsprechung im föderalen Kontext dazu, dass immer detailliertere Mindestvorgaben in den Voll­ zug von Bundesrecht eingezogen werden, wie Stefan Oeter schon vor langer Zeit analysiert hat.26 Daran wird sich nicht viel ändern, so darf man prognostizieren. Die Optimierung des Grundrechtsbezugs, all seinen Dimensionen, hat keine im­ manente Grenze. Dass dies zugleich zu einer gewissen Petrifizierung bestehender Strukturen beiträgt und damit der Grundidee des Föderalismus zuwiderläuft, wird man nicht übersehen können. Zugleich ist deutlich, dass die Grundrechte inso­ weit nicht einfach als Vielfaltsgenerator oder Nivellierung von Vielfalt anzusehen sind. Vielmehr durchzieht dieses Themas auf einer Metaebene die Debatte über die Wirkung der Grundrechtsprechung der Verfassungsgerichte. Eindeutige Ent­ wicklungen sind insofern nicht zu erwarten.

III. Vielfalt oder Einheit der Verwaltung? Die Vielfalt des Themas kann man auch bezüglich anderer Aspekte aufzeigen: etwa der langdauernden Diskussion um die Einheit der Verwaltung.

1. Zwischen Ausdifferenzierung und Einheitspostulaten „Einheit“ sei kaum das Wort, dass einem als Erstes einfalle, wenn man an die deutsche Verwaltung denke. Mit diesem Satz beginnt Brun-Otto Bryde sein Staats­ rechtslehrer-Referat von 1987 über die Einheit der Verwaltung als Rechtsproblem angesichts des Ausmaßes an Differenzierung und Pluralisierung der Verwaltungs­ organisation.27 Organisationstheoretisch ist dieser Ausgangsbefund alles andere als überraschend. Die organisatorische Ausdifferenzierung gilt zumindest in der Verwaltungswissenschaft seit langem als mehr oder weniger adäquate Reaktion auf die Umweltkomplexität des politisch-administrativen Systems und daher als mehr oder weniger notwendige Folge einer Verwaltung, der planende, verteilende, 25

Vgl. dazu etwa die Darstellung möglicher Fallkonstellationen in BVerfG, Beschluss v. 19. 5. 2020, in: NJW 2020, 2622. 26 Oeter, S. 426 ff. 27 Bryde, VVDStRL 46 (1988), 181.

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lenkende und präventionsorientierte Aufgaben zugewiesen werden.28 Hinzu kommt heute die durch die Europäisierung der Verwaltung bewirkte Einbindung derselben in horizontale und vertikale Einflussbeziehungen zu den anderen Mitgliedsstaaten und der europäischen Verwaltung, die jeweils mit einer mehr oder weniger starken Verselbstständigung von Verwaltungseinheiten einhergeht. Diese organisatorische Ausdifferenzierung ist als Realbefund kaum ernsthaft zu bezweifeln und sie kann sich durchaus auf normative Gründe stützen. Der Fö­ deralismus hat notwendig eine Differenzierung der Ebenen und damit der Orga­ nisation zur Folge, durch die kommunalen Gebietskörperschaften wird dies noch­ mals verstärkt, im Ressortprinzip findet die fachliche Differenzierung zumindest einen Anker,29 die Gewaltenteilung ist für eine funktionsgerechte Differenzierung zumindest offen, der Vollzug von Bundesrecht setzt eine föderale Pluralisierung des Vollzugs zumindest voraus30 und setzt dem nur bei den vorgesehenen Inge­ renzen des Bundes Vereinheitlichungskompetenzen entgegen, Art. 87 Abs. 2 GG und Art. 88 GG sind Anerkennungen der Differenzierungen, grundrechtliche An­ forderungen an Organisation und Verfahren der Grundrechte wirken auch auf weitere Differenzierungen hin, der europäische Verwaltungsraum führt zu wei­ teren Verselbständigungen von Verwaltungsträgern, zum Teil europarechtlich so vorgesehen, teils nahegelegt, teils durch die Einbindung in Kooperations- und Abstimmungsstrukturen, die zur Ausbildung einer netzwerkartigen Grundstruktur der Verwaltung zumindest in organisatorischer Hinsicht führen.31 Letztlich ist die Differenzierung ebenso wie die Pluralisierung der Verwaltung ein altes Thema der Verwaltungs(rechts)wissenschaft. Zu Recht weist Eberhard Schmidt-Aßmann darauf hin, dass Vorstellungen der Einheit der Verwaltung eher nachträgliche Konstrukte angesichts einer ausdifferenzierten und pluralisierten Verwaltung waren, nicht aber habe die Einheit der Verwaltung einem ursprüng­ lichen Bauprinzip entsprochen.32 Dies gilt selbstverständlich auch heute. Gleich­ wohl gibt es immer auch so etwas wie eine Gegenbewegung, die die Einheit der Verwaltung betont und in ihrer Differenzierung verfassungsrechtlich bestenfalls auf limitierte Ausnahmen beschränkt sehen möchte.33 Man kann das Problem gut an der Diskussion um die demokratische Legitima­ tion nachvollziehen, die Einheitsbildung einerseits durch ein Legitimationsmodell versucht herzustellen, das vor allem an der hierarchischen Ministerialverwaltung 28 Dazu etwa Brohm, VVDStRL 30 (1972), 245 (261 ff.); Steinberg, S. 264 ff.; Schuppert, S. 191 ff., 350 ff.; Bryde, VVDStRL 46 (1988), 181 (182 ff.); Schmidt-Aßmann, 5. Kap. Rn. 34. 29 Bryde, VVDStRL 46 (1988), 181 (187). 30 Zu den Entwicklungstendenzen im föderalen Gefüge v. Mangoldt / K lein / Stark-Trute, GG, Art. 83 Rn. 6 ff. 31 Trute, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), § 9 Rn. 60 ff. 32 Schmidt-Aßmann, 5. Kap. Rn. 34; vgl. auch Groß, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / ​ Voßkuhle (Hrsg.), § 13 Rn. 95. 33 Gewissermaßen als Gegenpol zur Differenzierungsthese kann man das Staatsrechts­ lehrerreferat von Haverkate, VVDStRL 46 (1988), 217 ff., lesen.

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entwickelt worden ist und dessen Tauglichkeit für eine europäisierte Verwaltung ernsthafte Zweifel aufwirft. Ernstgenommen würde es weite Teile der existieren­ den Verwaltung verfassungsrechtlichen Zweifeln aussetzen, denen man entgeht, indem man immer wieder Ausnahmen zugesteht, die dann freilich die Tendenz haben, zur Regel zu werden. Anderseits kann man versuchen, ein Legitimations­ modell für die differenzierte und pluralisierte Verwaltung zu entwerfen, das das Anliegen der Erhaltung demokratischer Verantwortung ernst nimmt, ohne dies mit unterkomplexen Modellen bewerkstelligen zu wollen. Es ist ja keineswegs so, dass die Ausdifferenzierung der Verwaltung schon immer zu Steuerungsverlusten von Recht und Politik führt. Vielmehr ist die Öffnung für gesellschaftliche Inte­ ressen und deren Inklusion in Verwaltungsvorgänge eher wechselseitige Nutzung von Wissensressourcen und Verwaltungskompetenz, die einerseits staatliche Ein­ flussnahme auf gesellschaftliche Felder, andererseits Staatsentlastung beinhaltet.34 Unabhängig davon, ob es sich um partizipative, korporative und professionelle Gremien handelt,35 stets geht es darum, dass durch die Einbeziehung Externer eine Multiperspektivität in die Rechtskonkretisierung einbezogen wird. Nicht zu­ fällig wird daher auch bei diesen Formen typischerweise über das Bestehen einer Beurteilungsermächtigung diskutiert.

2. Die Pluralisierung der Verwaltung Ein Bespiel wären etwa wissenschaftliche Beratungseinrichtungen und Gre­ mien des Jugendschutzes. Man kann dies etwa im Jugendmedienschutz sehen, der es letztlich erfordert, sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Frage einer Jugendgefährdung durch mediale Kommunikate zu verwerten, die in der Ministe­ rialbürokratie als solche gar nicht abbildbar sind und zudem in besonderer Weise mit Kriterien verbunden sind, die grundrechtlich geschützten Zusammenhängen entstammen: Wissenschaft, Kunst, Religion. Einem ähnlichen Modell folgt die Bundesprüfstelle jugendgefährdender Medien (§ 17 ff. JSchG), die – jetzt weniger kulturell als interessenplural  – Entscheidungen über die Aufnahme oder Strei­ chung von Medien in die oder von der Liste jugendgefährdender Medien trifft. Die Stelle wird aufgrund von Vorschlagsrechten von Verbänden aus den Bereichen der Kunst, der Literatur, des Buchhandels und der Verlegerschaft, der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien, der Träger der freien Jugendhilfe, der Trä­ ger der öffentlichen Jugendhilfe, der Lehrerschaft und der Kirchen, der jüdischen Kultusgemeinden und anderer Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts tätig. Insoweit ist das eine Stelle, die einerseits einen Interes­ senpluralismus, Expertise in dem Feld und andererseits auch diverse Perspektiven auf den Gegenstand jugendgefährdender Medien verkörpert. Auch hier finden wir 34

Vgl. etwa BVerfG, Beschluss v. 5. 12. 2002, in: BVerfGE 107, 59 (92); Bryde, VVDStRL 46 (1988), 181. 35 Hierzu und zum Folgenden Groß (1999), S. 61 ff.

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ungeachtet des staatlichen Ernennungsrechts (§ 19 Abs. 2 JSchG) durchaus eine ge­ wisse Form der Staatsdistanzierung, die nicht nur in den plural zusammengesetz­ ten Entscheidungsorganen, sondern auch in ihrer Weisungsfreiheit zum Ausdruck kommt. In der Sache steht die Bundesprüfstelle jugendgefährdender Medien für Gremien im Medien-/Kulturbereich, die zwar Teil der staatlichen Administration darstellen, deren Entscheidungen aber um der Multiperspektivität der zugrunde liegenden Maßstäbe willen letztlich nicht durch Einrichtungen der Ministerialbü­ rokratie, sondern durch partiell verselbstständigte, interessenplurale Gremien ge­ troffen werden sollen. Dies wirft dann die Frage nach einer Beurteilungsermäch­ tigung hinsichtlich der Abwägung der Belange im Einzelfall auf.36 Die Inklusion über Organisationen erweist sich dabei in besonderer Weise als funktional, weil Organisationen in gewisser Weise als funktionale Äquivalente von Programmstrukturen wirken.37 In ihnen lassen sich unterschiedliche Interes­ sen und Handlungsrationalitäten vermitteln und auf bestimmte Ziele ausrichten, also Prozesse des Interessenausgleichs auf Dauer stellen, was freilich jeweils ein mehr oder weniger großes Maß an Eigenständigkeit verlangt. Im Ergebnis führen die Prozesse der Ausdifferenzierung und Pluralisierung denn auch dazu, dass das Bild der Verwaltung eher einem Netzwerk unterschiedlicher Verwaltungseinheiten mit je unterschiedlicher Eigenstruktur gleicht, als dem Bild hierarchischer, auf ein Zentrum ausgerichteter und geschlossener Verwaltung. Vielfalt in diesem Sinne bedroht nicht eigentlich die Einheit des Staatlichen, ist kein Verlust an staatlicher Steuerungsfähigkeit, sondern kann im Gegenteil zur Steigerung der Problembe­ wältigung herangezogen werden. Die Redeweise von der Absenkung des Legitima­ tionsniveaus erweist sich vor diesem Hintergrund an bestimmten Leitvorstellungen der Problembewältigung orientiert, die ihren Realitätstest schon dadurch umgehen, dass sie diese Absenkung des Niveaus oftmals als gerade noch hinnehmbar, aus­ nahmsweise noch akzeptabel ansehen. Vielfalt ist also durchaus nicht als Bedro­ hung von Einheit zu denken – jedenfalls nicht notwendig. Auf der anderen Seite wirft sie in Bezug auf Verantwortungsstrukturen notwendig die Frage nach ange­ messenen Rückbindungen an demokratische Entscheidungszusammenhänge auf.

3. Herstellung von Einheit? Man kann dies für die Ebene des föderal und kommunal gebrochenen Verwal­ tungsrechts und seiner immerhin von der Verfassung vorgesehenen oder doch zu­ mindest anerkannten Vollzugspluralität beobachten und dies selbst dort, wo Bun­ desrecht im Vollzug steht (Art. 83 ff. GG). Man kann das dann an der Ausbildung der berühmten vertikalen Fachbruderschaften der Verwaltung exemplifizieren, 36

Dazu BVerwG, Urteil v. 18. 2. 1998, in: NJW 1999, 75; auch Urteil v. 28. 8. 1996, in: NJW 1997, 602; OVG NRW, Beschluss v. 3. 6. 2015, in: NWVBl. 2016, 36; BVerfG, Beschluss v. 27. 11. 1990, in: BVerfGE 83, 130 ff.; BVerfG, Beschluss v. 10. 9. 2007, in: NVwZ-RR 2008, 29. 37 Schimank, S. 170 ff.

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deren Ziel u. a. darin besteht, ein gewissermaßen akkordiertes Verständnis und damit ein gewisses Maß an Einheitlichkeit herzustellen. Im Kontext der europäi­ sierten Verwaltung kann man etwa die Ausbildung von Einrichtungen (und Netz­ werken) beobachten, die auf die Herstellung gemeinsamer Perspektiven gerichtet sind. Dies kann ebenso die Herstellung einer gemeinsamen Wissensbasis sein (als Netz von wissensgenerierenden Einheiten, wie im Bereich der Lebensmittelsi­ cherheit oder der Pandemievorsorge) verbunden mit der Herstellung eines gemein­ samen Problembewusstseins und einer gemeinsamen Handlungsstrategie. In der Sache wird man sagen können, dass das europäisierte Verwaltungsrecht letztlich über Organisation und Verfahren versucht, eine mit der unvermeidbaren Plurali­ tät der Verwaltungskulturen vereinbare und diese keineswegs in eine gemeinsame Kultur überführende Gemeinsamkeit von Wissen, Problemwahrnehmungen als Voraussetzung eines Maßes an Vereinheitlichung herzustellen.

4. Differenzierung und Einheitsbildung Als Ergebnis kann man festhalten, dass der Realbefund der institutionellen Dimension der Verwaltung immer schon eine durchaus erhebliche Vielfalt an Or­ ganisationsformen aufweist, die hier mit der Pluralisierung und Differenzierung bezeichnet worden sind. Thesen der Einheit der Verwaltung, die letztlich mit zu einfachen Modellen von Organisation arbeiten, kann die Vielfalt nur als Bedro­ hung der Einheit erscheinen. Dabei werden die Funktionen einer differenzierten Organisation unterschätzt. Dies ändert freilich nichts daran, dass eine solcher­ maßen differenzierte und pluralisierte Verwaltung der Entwicklung angemesse­ ner Abstimmungsmechanismen und Schaffung von Verantwortlichkeiten bedarf.

IV. Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Antwort auf die Ausdifferenzierung der Verwaltungsrechtsordnung? Die Differenzierung und die Versuche der Einheitsbildung als mehr oder weni­ ger gleichzeitige Phänomene sind auch in der wissenschaftlichen Konzeption des Allgemeinen Verwaltungsrechts aufweisbar. Die Idee des allgemeinen Verwaltungsrechts hatte immer auch die Funktion, die Vielfalt der Materien des Besondern zu zähmen und auf eine Einheit grund­ legender Institute und Maßstäbe hinzuwirken. Dies ist für das 19. Jahrhundert gut rekonstruiert. Vor dem Hintergrund der Entwicklung des Verwaltungsrechts in den Einzelstaaten und vor dem Hintergrund der älteren staatswissenschaftliche Me­ thode setzte die Trennung von Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre ein.38 Otto Mayer konnte sich vor diesem Hintergrund insbesondere von L. v. Stein absetzen, 38

Dazu Trute, in: Brüning / Schliesky (Hrsg.), S. 205 ff.

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den er mehr karikierend als wissenschaftlich ernst nehmend für die Gruppierung des Verwaltungsrechts als Emanationen der verschiedenen Zwecke Gewerbewesen, Armenwesen, Eisenbahnwesen kritisierte und das Fehlen einer verwaltungsrecht­ lichen Systematisierung beklagte.39 Sie waren, wie es Laband ausdrückte, Kon­ glomerate von allerhand Verschiedenartigem.40 Zudem spielte bei der Entstehung eines Verwaltungsrechts als Hintergrund die Vielgestaltung der Rechte in den Einzelstaaten eine Rolle.41 Gegenüber diesen Besonderheiten der Einzelstaaten galt es ein Gemeinsames herauszustellen, das überwiegt, nämlich die maßgeben­ den Grundideen (des Verwaltungsrechts, d.V.), die er in der gemeinsamen Kultur verankert sieht.42 Wie er im Vorwort zur zweiten Auflage des Verwaltungsrechts bekennt, beruht das Werk auf dem Glauben an die Macht allgemeiner Rechtsideen, die in den Mannigfaltigkeiten des wirklichen Rechts zur Erscheinung und Entfal­ tung kommen. Auch aus wissenschaftlicher Perspektive wird die Einheit formu­ liert: „Es gibt keine bayrische, sächsische nicht einmal eine für sich bestehende preußische Verwaltungsrechtswissenschaft – Gott Lob!“43 Die Systematisierung des Mannigfaltigen durch die Rechtswissenschaft, die Zähmung des Besonderen durch das Allgemeine, steht am Beginn des allgemeinen Verwaltungsrechts. Ganz ähnlich findet man es bei Fritz Fleiner, von O. Mayer zustimmend aufge­ nommen, der gegenüber der immer noch an Aufgaben der Verwaltung und Mate­ rien des Rechts orientierten staatswissenschaftlichen Methode die juristische Me­ thode hervorhebt und ihre Herausbildung der allgemeinen Institute, die in der Lage sind, der Auslegung des Besonderen Maßstäbe zu geben, betont.44 Bei W. ­Jellinek nimmt der Allgemeine Teil und seine Funktion gegenüber dem Besonderen der einzelnen Materien dann auch die dominante Gliederung des Lehrbuchs ein.45 Diese Funktion der Umorientierung auf Allgemeine Lehren und Institute gegen­ über der Vielfalt der Verwaltungsmaterien hebt auch Ernst Forsthoff in seinem All­ gemeinen Teil des Verwaltungsrechts hervor, zugleich hellsichtig die Grenzen der juristischen Methode markierend und hieraus eine stärker wirklichkeitsorientierte Verwaltungsrechtswissenschaft artikulierend.46 Ohne Einschränkungen wird man sagen können, dass es sich bei der konstruktiven Leistung Otto Mayers um einen enorm wirkungsmächtigen Zug zur Herausbildung des Allgemeinen Verwaltungs­ rechts gehandelt hat. Offen ist dabei freilich, wie weit es damit zur Bändigung des Besonderen durch das Allgemeine geführt hat, auch unabhängig von der Tatsache, dass sicherlich die Rechtsprechung einen enormen Anteil daran hatte und hat, all­ 39

Mayer, S. 18. Laband, AöR 2 (1887), 149 (156). 41 Vgl. die Auflistung der Bearbeitungen bei Jellinek, S. 102 ff. 42 Mayer, S. 21. 43 Mayer, S. 21. 44 Fleiner, S. 42 ff. 45 Jellinek, S. 114 f. 46 Forsthoff, S. 45 ff., der zu Recht auf die konstruktiven Grundlagen in der französischen Verwaltungstradition und ihrem Recht verweist. 40

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gemeine Lehren auch jenseits dessen auszuprägen, was zum Bestandteil des kodi­ fizierten Allgemeinen Verwaltungsrechts geworden ist. Die Idee eines gleichsam die Besonderheit normierenden, jedenfalls Modell ge­ benden Teils hat seinen Anker in Systemvorstellungen, die in der Tat immer auch mit Einheitsvorstellungen einhergehen. Das würde man heute überwiegend wohl nicht mehr so konzipieren. Eher geht es heute darum, ob ein reformiertes Konzept des Verwaltungsrechts auch die Vorstellung eines Allgemeinen Verwaltungsrechts angesichts der Vielfalt der als auseinanderstrebend wahrgenommen Materien des Verwaltungsrechts gleichsam modernisieren kann und ob dieses die Vielfalt der Sonderinteressen zumindest einhegen kann. Dabei kann man sehr schön sehen, dass die Frage von Einheit und Vielfalt, hier als Allgemeines und Besonderes, nunmehr dynamisiert wird.47 Das Allgemeine, hier verstanden als eine Einheitskonzeption, ist nur noch eine regula­ tive Idee, vor der das Besondere je rechtfertigungsbedürftig wird, wie umgekehrt das Allgemeine sich fragen lassen muss, ob es die Vielfalt des je Besonderen noch auf einen allgemeinen Begriff, auf allgemeine Prinzipien bringen kann. Insoweit ist es zu einem dynamischen Verhältnis wechselseitiger Perspektivenverschränkung geworden. Man könnte auch sagen, zu einem produktiven Verhältnis von Einheit und Vielfalt – ohne hierarchisierende Vereinfachungen.

V. Einheit und Vielfalt in der Anwendung des Rechts Wie sichert, wenn überhaupt, das Rechtssystem die Einheit der Rechtsanwen­ dung angesichts der dezentralen Anwendung des Rechts durch eine Vielzahl der Anwendungsinstanzen, sei es der Gerichte oder der Verwaltung? Statt die Ein­ heit der Anwendung etwa durch Gesetzesbindung und Methodik vorauszusetzen, mag es sinnvoll sein, von der Unwahrscheinlichkeit der Einheit angesichts einer Pluralität von Anwendungsinstanzen auszugehen und danach zu fragen, wie denn Einheit bewirkt wird. Angesichts der in der post-positivistischen Methodendiskus­ sion kaum ernsthaft bestrittenen Schwierigkeit, ein gleichsinniges Verständnis von Texten vorauszusetzen,48 stellt dies eine Perspektive dar, die Gewissheiten durch Unsicherheit ersetzt. Hintergrund dieser Fragestellung ist, dass für klassische Methodiker die Ein­ heit der Anwendung durch den Text der Norm und seine Interpretation gewähr­ leistet wird. Fehler im Applikationsvorgang werden durch den Instanzenzug der Gerichte korrigiert. Das wird unterfüttert mit verfassungsrechtlichen Garantien – etwa der Gesetzesbindung von Verwaltung und Gerichten, dem strafrechtlichen Analogieverbot, das eine Wortlautgrenze voraussetzt, ohne die es, wie es scheint, 47 48

Schmidt-Aßmann, 1. Kap. Rn. 9 ff. Ausführlicher Durchgang durch die Methodendiskussion bei Rübben, S. 33 ff.

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unhaltbar zu werden scheint. Nur die (strikte) Bindung an den Text garantiert die Einlösung dieser Garantien.

1. Von der klassischen Methode zur Praxis von Interpretationsgemeinschaften Nun ist das klassische Modell der Rechtsanwendung, für viele ja auch das Mo­ dell nach dem sie ihr Verständnis von Rechtswissenschaft ausrichten, aufgrund der Entwicklungen in der Linguistik, der Sprachphilosophie, des Pragmatismus und der ethno-methodischen Theorien, so kaum haltbar.49 Wenn es so etwas wie eine gemeinsame Grundüberzeugung der post-positivistischen Rechtsauffassung gibt, dann die, dass es Bedeutung, die an einem Text haftet, nicht gibt. Bedeutung ist eine nachträgliche Zuschreibung, nichts aber, was von Beginn das Verständnis, die Anwendung dirigiert.50 In dem klassischen Modell geht es bei der Rechtsanwen­ dung aufgrund der Vorannahmen zur Verbindung von Text und Bedeutung weniger um die Herstellung von Normativität in einem strukturierten Arbeitsprozess, als vielmehr um die Affirmation des schon vom Gesetzgeber Vorentschiedenen. Die Methoden der Interpretation haben in dieser Perspektive vor allem die Aufgabe, das Vorentschiedene, also durch den Gesetzgeber in die Norm eingewickelte, zu entwickeln und so die Norm auf die spezifische Situation zu applizieren. Der ­Sache nach handelt es sich also um ein Rechtserkenntnismodell, das keinen Raum für die konstitutive Erzeugung von Normativität im Prozess der Anwendung kennt, sondern diese immer schon dem Gesetzgeber zuweist. Indes kann keine Regel die Kriterien ihrer Anwendung selbst festlegen;51 das endet zwangsläufig in einem infi­ niten Regress. Methodenregeln sind also nicht etwa ein ZIP-Programm, vermittels dessen die in die Norm eingepackte Bedeutung für konkrete Umstände entpackt werden könnte.52 Sie mögen bestenfalls eine spezifische Praxis des Umgangs mit der semantischen Unterbestimmtheit und der Kluft zwischen der Regel und der Entscheidung anleiten.53 Es sind sehr unterschiedliche Ansätze entwickelt worden, die auf diese Problem­ lage reagieren. Dazu gehören die Strukturierende Rechtslehre,54 post-positivisti­ sche Theorien55 und konstruktivistische Positionen,56 denen gemeinsam ist, dass sie sich auf die Anwendung des Rechts als Prozess der Erzeugung von Rechts­ 49

Dazu Rübben, S. 123 ff. Dazu Trute, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers (Hrsg.), S.  211. 51 Vgl. Ladeur / Augsberg, Rechtstheorie 36 (2005) S. 143 (144 f.); Somek, S. 112 ff.; Christensen (1989), S. 240 ff.; Müller / Christensen, S. 168; Lüsing, in: F. Müller (Hrsg.), S. 21 (51 ff.). 52 Vgl. mit der Metapher eine Förderbandes Christensen / Kudlich, S. 154 f. 53 Vgl. Ladeur / Augsberg, Rechtstheorie 36 (2005) S. 143 (146 ff.). 54 Müller (1994); Christensen (1989); Müller / Christensen. 55 Somek (2006), S. 112 ff. 56 Lee 2010; Stegmaier, 2009. 50

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wissen, auf Interpretationsgemeinschaften,57 auf experimentelle, immer vorläufige Bedeutungszuweisungen aus einer Vielzahl von Entscheidungen58, auf Gewohn­ heiten von Sprachgemeinschaften beziehen. Viele von ihnen sind letztlich aus der Auseinandersetzung mit Wittgensteins Entfaltung des Problems des Regelfolgens entstanden.59 Dies öffnet den Raum für die Frage, wie Rechtswissen durch die Praxis von Interpretationsgemeinschaften erzeugt wird. Trotz erheblicher Detail­ unterschiede erlauben diese Positionen insgesamt einen Blick auf die (sozialen) Voraussetzungen für die Praxis der Anwendung von Normen, die als Erzeugung einer mehr oder weniger gemeinsamen, wenn auch immer vorläufigen Erkenntnis verstanden werden können, dass es möglich ist, Rechtsfragen als solche zu identi­ fizieren und Fälle als Fälle einer bestimmten Art zu beschreiben.60

2. Analyse der professionellen Arbeit als Aufgabe Vor diesem Hintergrund lässt sich rekonstruieren, wie das Rechtssystem der Bedeutungen, verstanden als die Gesamtheit dieses Wissens, in kommunikati­ ven Verfahren produziert, konkretisiert und ständig bestätigt und variiert wird.61 Jede einzelne Rechtskommunikation basiert auf dem Wissensbestand und ist vor dem Hintergrund dieses Wissens erst als Rechtskommunikation identifizierbar. Durch den gleichen Akt der Kommunikation wird dieses Wissen bestätigt oder variiert – eine Art rekursive Struktur mit dynamischen Wechselbeziehungen zwi­ schen sozialen Strukturen, rechtlichen Bedeutungen (d. h. der Strukturebene) und individueller Kommunikation. Diese Perspektive ermöglicht eine Analyse der professionellen juristischen Arbeit sowohl im Hinblick auf die Entwicklung und die Differenzierung des ge­ meinsamen Wissens als auch auf die Rekonstruktion der Mikropraxis konkreter Entscheidungstätigkeiten. Ein solcher Ansatz verlagert den Fokus von der singu­ lären Textanalyse anhand eines bestimmten Sets von Methoden auf die Analyse der Rechtspraxis und ihrer Bedingungen. Sie ermöglicht es, die Funktion der Rechtsdogmatik, der Rechtsgrundsätze und Präzedenzfälle, der Rechtsprechung der jeweiligen Gerichte sowie des expliziten und impliziten Wissens, das sich jeder Jurist zur Stabilisierung und Nutzung aneignen muss, genauer zu bestimmen.62 Es erlaubt auch, die Rechtskommunikation in ihren ganz unterschiedlichen Facetten aufzunehmen und die Frage zu stellen, wie dieses Wissen innerhalb des Rechtssys­ tems generiert, erworben, stabilisiert und verteilt wird. Das wäre ein Forschungs­ 57

Fish, 1989. D. Busse. 59 Ausführliche Rekonstruktion bei Müller-Mall, S. 91 ff.; aus praxistheoretischer Perspek­ tive Schäfer, S. 27 ff. 60 Fish, S. 92 ff. 61 Lee, S. 47, 84 ff. 62 Lee, S. 152 ff. 58

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programm, das eher praxistheoretisch und weniger an den iterativen Schleifen der Methodendebatte orientiert vorgeht. Keine wie auch immer ansetzende Methode kann die Einheit der Rechtsanwen­ dung garantieren. Das ist freilich nicht gleichbedeutend damit, dass nur eine Viel­ falt gar Beliebigkeit einzieht. Insoweit ist die Bedeutungskonstitution ein Prozess der Konstruktion, ein sozialer Prozess, der keinem Individuum und nicht einer ein­ zigen Entscheidung zugeschrieben werden kann.63 Die Bedeutung gründet immer schon in der gesellschaftlichen Praxis und damit auch im impliziten Wissen. Wo dieses nicht vorhanden ist oder nicht zureicht, werden explizite Interpretationsakte erforderlich, die sich freilich letztlich wiederum auf die Überzeugungskraft eines wie auch immer in Anspruch genommenen Wissens stützen müssen.64 Normtexte sind insoweit keine bedeutungslosen Zeichen. Mit ihnen wird eine große Zahl von möglichen Verwendungsweisen aktualisiert.65 Als Geschriebenes sind sie Text, der immer schon Interpretationshypothesen anregt, an Verweisungszusammen­ hänge früherer Interpretationen anknüpft, Anschlüsse für künftige Entscheidungen schafft und insofern Halt gibt, ohne zu determinieren. Jede Entscheidung kann der Ausgangspunkt einer Änderung des Sprachgebrauchs, des Verweisungszusammen­ hangs sein, in dem eine Regel steht. Immer ermöglicht sie damit etwas anderes, eine Verschiebung. Da sie die Bedingungen ihrer Anwendung nicht selbst enthält, sondern immer auf die Anwendung in situ angewiesen ist, deren Kontextbedin­ gungen niemals einfach dieselben sind und ohnehin ihrerseits der Interpretation unterliegen, ist ihr immer auch die Möglichkeit von Verschiebung eingeschrieben. Anwendung ist immer durch die Gleichzeitigkeit von Verschiebung und Bestäti­ gung gekennzeichnet.66

VI. Schluss Einheit und Vielfalt im Verwaltungsrecht ist eine Frage, auf die es keine einfa­ che Antwort gibt. Es sind viele Dimensionen denkbar, von denen hier nur einige analysiert worden sind. Auf den ersten Blick geht es darum, wie Verwaltungsrecht normativ gewünschte Vielfalt organisiert, abbildet oder gewährleistet. Der Bezugs­ punkt ist dann gesellschaftliche Vielfalt, allerdings mit Blick darauf, dass auch die Pluralisierung staatlicher Entscheidungszusammenhänge in den Dienst der Ge­ währleistung gesellschaftlicher Pluralität genommen werden kann und muss. Dies ist, das wird an den obigen Analysen deutlich, ein Feld, in dem das Recht immer wieder auf die Entwicklung der Gesellschaft reagiert und reagieren muss, um etwa den Anforderungen grundrechtlicher Maßstäbe Rechnung zu tragen. Zum anderen hat man hier vielfach ein Oszillieren zwischen der Anerkennung von Vielfalt und 63

Winch, S. 46 f. Somek, S. 116 ff. 65 Christensen / Kudlich, S. 178. 66 Zu diesem Problem ausführlich Ortmann, S. 47 f. 64

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dem Bedarf nach mehr Einheit, oder – anders formuliert – oftmals beide Perspek­ tiven: Einheit und Vielfalt. Das wird auch deutlich, wenn man die Beobachtung auf die Verwaltung und ihre wissenschaftliche Analyse selbst richtet. Schon die Frage nach Einheit oder Vielfalt der Verwaltung endet in einem sowohl als auch. Differenzierung der Organisation als (bestrittener) Realbefund, aber die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung im Interesse einer demokratischen Rückbindung: Auch hier kann man unterschiedli­ che Beobachtungsgegenstände und -ebenen wählen. Einheit ist oftmals ein Postu­ lat, Vielfalt die Realität. Von daher spricht viel dafür, dass man es nicht mit einem Gegensatz zu tun hat, sondern mit einem Prozess, in dem stets beide Dimensionen eine Rolle spielen. Man kann dies auch – aus einer anderen Perspektive – als Er­ haltung von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit lesen.

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European Regulatory and Private Law – Between Neoclassical Elegance and Postmodern Pastiche Hans-W. Micklitz „Seit jeher gehört es zu den zentralen Herausforderungen des Rechts, einheitliche Regeln für eine heterogene Gesellschaft aufzustellen. Nach welchem Maßstab ist die Frage zu beantworten, ob Recht hinreichend abstrakt und andrerseits hinreichend differenziert ist?“ „One of the central challenges of law has always been to establish uniform rules for a heterogeneous society: By what standard is the question to be answered whether law is sufficiently abstract and, on the other hand, sufficiently differentiated?”1

I. The European Context Since 1957, the foundation of the European Economic Community, the EU – as the European Economic Community is now called  – had turned into  a major regulator of private law and economic law. The term economic law – Wirtschafts­ recht – makes sense in a French-speaking environment, but it has no clear meaning within common law countries. In the common law it is associated with public administrative law, with no link to contract and tort. The concept of European Regulatory Private Law instead is meant to cover both dimensions  – private autonomy or freedom of contract (private ordering) and public regulation that shape the economic order. European Regulatory Private Law is  a composite legal order, not  a legal system comparable to national private law systems.2 The different layers are to be understood not as a component of one legal order, but as variations of European Regulatory Private law. Today it consists of:

1

M. Schmidt and M. Kuhli in their invitation letter December 2018. I would like to thank Guido Alpa, Guido Comparato and Yane Svetiev for their intriguing comments. The usual disclaimer applies. 2 J. Dickson defending EU law as a system, Dickson, J.: Towards a Theory of European Union Legal Systems, in: J.  Dickson / P.  Eleftheriadis (eds.), Philosophical Foundations of European Union Law, Oxford 2012, pp. 25–53 and Giudice and Cutler arguing that EU law is an order, Culver, K. / Giudice, M.: Not a System but an Order. An Inter-Institutional View of European Union Law, in: J. Dickson / P. Eleftheriadis (eds.), Philosophical Foundations of European Union Law, Oxford 2012, pp. 54–76.

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– Constitutionalized private law – Primary EU law, the Charter of Fundamental Rights and the European Convention of Human Rights in their impact on private law,3 with the CJEU and the ECtHR as the key actors, – European International Private Law – the Brussels I Regulation on Jurisdiction and Enforcement, the Rome I and II Regulations on Contracts and Torts, – Draft Common Frame of Reference – a fully fledged European Civil Code not in the form of binding law, but as point of reference for interpretation,4 – Harmonised horizontal Employment, Consumer and Non-Discrimination Law, concretised through more than 100 judgments of the CJEU,5 – Harmonised horizontal law on universal service obligations (in the making),6 and – Harmonised vertical law of Regulated Markets  – telecommunication, energy, transport, financial services, by and large in the hands of sector-specific indepen­ dent regulatory agencies and relying chiefly upon out of court dispute settlement procedures.7 Does it make sense to discuss these varieties of European Private Law as an attempt to establish “uniform rules” for “a heterogeneous society”, balanced out through “differentiated rules”? Or is it time to think about whether the idea of a uniform approach has turned out to be untenable in our modern society? The initial reference relates to the century-old problem of “coherence through abstraction” vs. “fragmentation through differentiation”. By the end of the 19th cen­ 3

Steindorff, E.: EG-Vertrag und Privatrecht, Baden-Baden 1996; Hartkamp, A.: European Law and National Private Law, Cambridge 2012; Micklitz, H.-W. (ed): Constitutionalization of European private law, Oxford 2014; Micklitz, H.-W. / Sieburgh, C. (eds.): Primary EU law and Private Law Concepts, Cambridge / Antwerp 2017; Zglinski, J.: Doing Too Little or Too Much? Private Law before the European Court of Human Rights, 37 Yearbook of European Law 2018, pp. 98–129. 4 V. Bar, Ch. / Clive, E. / Schulte-Nölke, H. / Beale, H. / Herre, J. / Huet, J. / Storme, M. / Swann, St. / ​Varul, P. / Veneziano, A. / Z oll, F. (eds.): Principles, Definitions and Model Rules of Euro­ pean Private Law. Draft Common Frame of Reference (DCFR), prepared by the Study Group on a European Civil Code and the Research Group on EC Private Law (Acquis Group), based in part on a revised version of the Principles of European Contract Law, München 2009. 5 Weatherill, St.: Contract Law of the Internal Market, Cambridge 2016; Kas, B. / Micklitz, H.-W.: Rechtsprechungsübersicht zum Europäischen Vertrags-und Deliktsrecht (2014–2018) – EWS 2018, pp. 181–219 und 241–300 (Teil I und Teil II). 6 Micklitz, H.-W.: The Politics of Justice in European Private Law, Social Justice, Access Justice, Societal Justice, Cambridge 2018, pp. 283–315. 7 Cantero Gamito, M.: The private law dimension of the EU regulatory framework for electronic communications: evidence of the self-sufficiency of European regulatory private law, PhD thesis, European University Institute 2015; de Almeida, L.: Integration through selfstanding European private law: insights from the internal point of view to harmonization in energy market, PhD thesis, European University Institute 2017; Della Negra, F.: MiFID II and Private Law Enforcing EU Conduct of Business Rules, Oxford 2019.

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tury O. v. Gierke criticised the abstract and bloodless draft of the German civil code and praised problem-focused regulation as being much closer to the people.8 What we have seen in the 20th century is a constant rise of status-related regulation, first to enhance workers’ rights, then consumer rights, and today the rights of those discriminated against. Striking a balance between coherence and fragmentation is already difficult at the national level and has increased heterogeneity within nation-state private law. In terms of EU and European private law, the debate is gaining pace and rigidity. On the one hand are those who fear that the EU is pushing fragmentation too far and undermining national codifications, while on the other hand are those who do not share the resistance against fragmentation and who advocate the opportunities of European experimentalism for a post-nation-state private legal order, for challenging the idea of uniformity. Behind the two modes of thinking stand two strands of legal thinking: those who require coherence need to clarify what coherence means and why coherence is or should be a decisive component of a private law order,9 while on the other hand those who are not afraid of fragmentation have to explain how an incoherent private law order can nevertheless stabilize the normative expectations of the people for a law that provides orientation. The questions remain the same, whether the subject matter is national private law order or the European private law order, although the search for answers gets more complicated in the European context due to the necessary interplay between national private law and European private law. The lifting of the century-old tension between coherence and fragmentation to the European level gives the search for uniform abstract rules for a heterogenous society a very different twist. Can Europe deliver more than just differentiated rules that enhance fragmentation? How to merge the two – the varieties of private law at the EU level with the varieties of private laws at the national level? Despite all the rhetoric on supremacy and direct effect of EU law, there is overall agreement that European Regulatory Private Law is not a substitute for national private laws, but is rather adding an additional layer of rules, whose effectiveness and efficiency depends on the readiness of national private law systems to accept and to integrate and even hybridise European private-law rules and remedies.10 That is why the search for the varieties of European Regulatory Private Law cannot be conceived of without a linkage to national legal systems.

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Gierke, O. v.: Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Vortrag gehalten am 5. April 1889 in der juristischen Gesellschaft zu Wien, Berlin 1889. 9 Brownsword, R.: Convergence: What, Why and Why not, in: H.-W. Micklitz / Y. Svetiex (eds.), A Self-Sufficient European Private Law  – A Viable Concept?, EUI Working Paper 2012/31, pp. 77–82; Smits, J.: Self-Sufficiency of European (Regulatory) Private Law: A Discussion Papier, in: H.-W. Micklitz / Y. Svetiev (eds.), A Self-Sufficient European Private Law – A Viable Concept?, EUI Working Paper 2012/31, pp. 83–86; Wilhelmsson, Th.: The Contract Law Acquis: Towards more Coherence through Generalisations?, in: 4. Europäischer Juristentag, Wien 2008, pp. 111–145. 10 Kropholler, J.: Internationales Einheitsrecht, Tübingen 1975.

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I will put the focus of my paper on the analytical side of the varieties of European Regulatory Private Law. Such a stock taking is a necessary prerequisite to finding a tentative answer to  a whole series of questions: to what extent has European integration transformed national private law orders, whether the EU is about to develop – or has already developed – its own European private law order, what is the interaction between the variations of the European private law order, and how is that European private law order related to national private law orders? Is, could, or should coherence be a necessary condition for building a European society, or can a European society be built through fragmentation?

II. Uniformity, Abstraction and Generality in and through ERPL The search for uniform rules can aim to guarantee a sufficient level of abstrac­ tion, so as to be generally applicable to all members of society. The generality of the law and the (idea of) equality before the law are seen as major achievements of the French Code Civil of 1804. The French Civil Code set  a benchmark for all codifications in the 19th and 20th century. After the fall of the Berlin wall in 1989, the idea of  a European Civil Code grew, together with the idea of  a European Constitution.11 The early 1990s saw a window of opportunity to bring European countries closer together and to unite them in a supranational federation. However, politics and the peoples of Europe missed – or consciously avoided – the opportunity. The longer the debate lasted, the more the two grand projects were bureaucratized and the chances to realize them vanished away. The referenda in France and the Netherlands set an end to the Constitution, the European Commission withdrew the draft proposal on a common European Sales Law Civil Code – the remainder of the European Civil Code –, due to the resistance of seven Member-State governments.12 Looking back, one of the deeper reasons might have been that both grand projects – the European Constitution and the European Civil Code – were built on 19th century thinking, on the key role of constitutions and codes in the making of the nation state, not giving enough space for thinking about the role of a private law order for a supranational legal construct, not discussing whether uniform rules are the appropriate means to hold an ever more divergent European society together. Be that as it may, the time for grand projects is over. The EU is struggling to survive, but it is still strong enough to produce further private law rules and to get 11 On the history of the DCFR, Schulze, R., The Academic Draft of the CFR and the EC Contract Law, in Schulze, R. (ed.), Common Frame of Reference and Existing EC Contract Law, Sellier 2008, pp. 3–26. 12 Micklitz, H.-W.: Failures or Ideological Preconceptions? Thoughts on Two Grand Projects: The European Constitution and the European Civil Code, in: Tuori, K. / Sankari, S. (eds.), The Many Constitutions of Europe, Farnham 2010, pp. 109–142.

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them interpreted by the European courts. Up to now, there are no abstract European rules which come even close to national codifications. The European Civil Code was meant to fill that gap, at least in the Academic Draft of a Common Frame of Reference. This document looks by and large like  a continental civil code: systematic, coherent, broken down into books, and guided by a general part on legal acts (Rechtsgeschäft). Abstract rules and general principles were introduced in order to make the Draft Common Frame of Reference an inherently consistent and coherent body of law. The whole project was guided by the idea and the ideology that a European Civil Code could contribute to the building of a European “Nation” or, more cautiously speaking, to the shaping of the “United States of Europe”. A comparison between the USA and the EU would have demonstrated that the United States has been turned into a federal state, but without a united private law. In the EU the idea of a European Civil Code had to be matched with the very different traditions of the common law system and reticence against the added values of abstract rules and general principles.13 The tension between continental codifications and the common law might have rendered the search for a European Civil Code more difficult, but these tensions are but one reason for the failure of the project. The existing body of European private law is a law of bits and pieces, a legal order built around six major sources which are not systematically interlinked. European private law grew in reaction to and in line with the transformation of European integration, from a mere market in 1957 to a market with a social face in 1986 and from there into a supranational entity with a quasi-statutory outlook. Understanding the rise, the many faces – in short the varieties – of private law requires connecting the six sources to the different stages of European integration. This does not mean that there were and are no attempts to make existing European private law more coherent and more systematic below the level of a European Civil Code. The European Commission focused its energies on consumer law, trying to systematize the different regulatory tools, more or less successfully, as will be shown. The political vacuum which resulted from the two failures was filled by judicial activism – the judges as the heroes of our times14 – and by European legal scholarship.15 In the formative years at times when it was unclear whether the idea of  a European Constitution and a European Civil Code would and could find political support not only in the European Parliament but also in the European Commission and in particular in the Member States, the CJEU started to rely, in  a limited 13 Lord Goff, R.: The Future of the Common Law, International and Comparative Law Quarterly 1997, pp. 745–761. 14 Dworkin, R.: Law’s Empire, Cambridge 1986; Micklitz, H.-W. / de Witte, B. (eds.): The European Court of Justice and the Autonomy of the Member States, Cambridge / Antwerp 2012. 15 Micklitz, H.-W.: A European Advantage in Legal Scholarship?, in: R. van Gestel / ​ ­H.-W. Micklitz / Ed. L. Rubin (eds.), Rethinking Legal Scholarship. A Transatlantic Dialogue, New York 2016, pp. 262–309.

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set of preliminary references, on “general principles of civil law” to legitimate its decisions and fill gaps in the sketchy body of European private law.16 For the sake of argument, I understand the search for general principles as a way to introduce a higher level of abstraction so as to tie the bits and pieces together. The few judgments triggered a blossoming debate, theoretically – what might general principles of European private law look like and where could they derive their legitimacy from,17 in particular in contrast to the common law,18 doctrinally – what could be the content of the general principles, methodologically  – could the general principles be used as a reference point to fill gaps in European private law.19 All this is now history. Despite the ever stronger involvement of the CJEU in giving shape to European private law in the drastically increasing number of preliminary reference procedures, the CJEU did not pursue that avenue.20 Whether the theoretical debate impressed the Court is hard to investigate and qualify. More importantly the wind had changed, and overall support for an active Court that had once built the European constitution with a small “c”, vanished away.21 The referenda rendered the transformation of the EU legal frame into a “supranational constitution” impossible. The strong letter that the seven governments wrote to the European Commission pushing for the withdrawal of CESL made abundantly clear that there was no preparedness to accept the development of a fully-fledged European private legal order, not even as an optional legal order. The political will of national governments, societal support through the peoples of Europe and intellectual backing for the CJEU to fill the gap that the Member States had left through their resistance against the two grand projects – all had evaporated. In line with Solange thinking, Member States and their courts had accepted the building of a European legal order based on supremacy and direct effect, but not a European private law order.22 The political and societal euphoria for European integration 16 ECJ C-412/06, ECLI:EU:C:2008:215, ECR 2008 I-02383, Hamilton, para. 42; AG Trstenjak C-489/07, ECLI:EU:C:2009:98, ECR 2009 I-07315, Messner, paras. 91 and 108; ECJ C-489/07, ECLI:EU:C:2009:502, ECR 2009 I-07315, Messner, para. 29; ECJ C-101/08, ECLI:EU:C:2009:626, ECR 2009 I-09823, Audiolux. 17 Hesselink, M.: The general principles of civil law: their nature, roles and legitimacy, in: D. Leczykiewicz / St. Weatheril (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relation­ ships, Oxford 2013, pp. 131–180. 18 Weatherill, St.: The ‘principles of civil law’ as  a basis for interpreting the legislative ­acquis?, 6 ERCL 2010, pp. 74–95, at 84. 19 Special issue: On Legal Methodology, 83 (2) Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 2019. 20 Kas, B. / Micklitz, H.-W.: Rechtsprechungsübersicht zum Europäischen Vertrags-und De­ liktsrecht (2014–2018) – EWS 2018, pp. 181–219 and 241–300 (Teil I und Teil II). 21 Walker, N.: Big ‘C’ or Small ‘c’, 12 European Law Journal 2006, pp. 12–14; Blauberger, M. / Heindlmaier, A. / Kramer, D. / Martinsen Sindbjerg, D. / Sampson Thierry, J. / Schenk, A.  / ​ Werne, ECJ Judges read the morning papers. Explaining the turnaround of European citizens­ hip jurisprudence, 25 Journal of European Public Policy 2018, pp. 1422–1441, DOI: 10.1080/ 13501763. 2018. 1488880. 22 For early warnings Joerges, Ch.: On the Legitimacy of Europeanising Private Law: Con­ siderations on a Law of Justi(ce)-fication (Justum Facere) for the EU Multi-Level System, in:

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so lively in the 1960s can hardly be compared with the political reluctance and hesitation that was the reality of the new millennium at times of accelerating globalization and the Eastern enlargement in 2004 and 2006. But the vanishing away of the CJEU invention of the “general principles of European civil law” did not mark the end of judicial and scholarly attempts to look for a higher level of abstraction which could hold the EU legal order together. The most powerful push for opening new pathways of generalization, uniformity and abstraction result from the double constitutionalisation of private law through primary EU law and through the move towards fundamental human rights. The impact of the EU Treaty, of the four freedoms and competition law on national private laws, has been by and large neglected until today. Whenever national courts refer a case to Luxemburg, in order to test whether statutory rules affect market freedoms and competition, the true conflict is one between private parties, tied together through a contract.23 The rich body of preliminary reference procedures is a treasure box for understanding how the CJEU through its case law on market freedoms and competition contributed to the transformation of basic legal concepts through primary EU law, such as the legal subject, the notion of contract and tort and the invention of new remedies.24 The first wave of constitutionalisation did not play a role in the development of the Draft Common Frame of Reference. The constitutionalisation of private law through primary EU law was simply not part of the EU’s political agenda. It was lacking already in the first key document of the European Commission which triggered the building of the Study and the Acquis Groups. Those who got the project off the ground in the European Commission and in the Member States were private lawyers, the majority from the continent, with a certain bias towards a selected number of countries. EU lawyers were not part of the initiative.25 The Study and the Acquis Group missed the opportunity to give the European Civil Code project a different perspective, one that could have broken new ground towards a postmodern understanding of a supranational private law order which is not held together by a nation state but by multi-level pluralist governance. The opt-in option in the draft proposal for  a European Common European Sales Law came too late, although it attracted considerable scholarly attention on both sides of the Atlantic.26

A. Hartkamp / M. Hesselink / E. Hondius / C. Jostra / E. du Ferron / M. Veldman (eds.), Towards a European Civil Code, 3rd edition, Alphen aan den Rijn 2004, pp. 159–190. 23 Davies, G.: Freedom of Contract and the Horizontal Effect of Free Movement Law, in: D. Leczykiewicz / St. Weatherill (eds.), The Involvement of EU Law in Private Law Relation­ ships, Oxford 2013, pp. 53–70. 24 Micklitz, H.-W.: The Constitutional Transformation of the Private Law Pillars through the ECJ, in: H. Collins (ed.), European Contract Law and the EU Charter of Fundamental Rights, Cambridge 2017, pp. 50–91. 25 Schepel, H.: The European Brotherhood of Lawyers: The Reinvention of Legal Science in the Making of European Private Law, 32 Law & Social Inquiry 2007, pp. 183–199. 26 Special Issue: 50 (1) CMLR 2013, pp. 1–329.

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The second constitutionalisation started in the 1970s, when the CJEU – not least under pressure from the Solange judgment of the German Constitutional Court – proclaimed human and fundamental rights to be part of the constitutional tradition of the Member States.27 Whether and to what extent private litigation also lies behind this movement has never been investigated, although the number of cases is much more limited than in the area of the four freedoms and competition law. It needed the Constitutional Charter of 2000 and the integration of the Charter of Fundamental Rights into the Treaty of Lisbon, to promote the constitutionalisation of private law at the EU level. Today the CJEU is confronted in 50 % of cases with the potential impact of the Charter on EU law more generally. In private law cases, the reference to effective judicial protection in Article 16 CFR is by far the most frequent point of reference.28 The constitutionalisation of private law through human rights and fundamental rights has triggered strong reactions, both in the affirmative and in the negative. Those who promote constitutionalisation are relying on fundamental and human rights so as to promote social justice, while those who are more critical are concerned about the integrity of private law.29 Scholars have started to condense the growing case law into a set of rules which are no longer at the disposal either of the Member States or of the parties to a contract.30 The twofold constitutionalisation might compensate for the lack of general rules that provide a sufficient level of abstraction, at least in the long run. However, even if it is possible to deduce constitutionalized private law principles out of the case law, the question remains whether these principles are abstract enough so as to reach beyond the particular context in which they have been developed. As there is no European private law as such, constitutionalized private law principles remain bound to particular fields of EU law. The result might also be constitutionalized fragmentation. The most ambitious scholarly effort to distill “general principles of European law” (NOT private law) out of CJEU case law has been undertaken by Takis Tri­ dimas.31 Norbert Reich’s search for the “general principles of EU civil law” might 27 ECJ C-42/59, ECLI:EU:C:1996:444, ECR 1996 I-06017, Nold; ECJ C-44/79, ECLI:​ EU:C:1979:290, ECR 1979 I-03727, Hauer. 28 Safjan, M. / Düsterhaus, D.: A Union of Effective Judicial Protection: Addressing a Multilevel Challenge through the Lens of Art. 47 CFREU, 33 Yearbook of European Law 2014, pp. 3–40. 29 Contributions in Ciacchi, A. C. / Brüggemeier, G. / Comandé, G. (eds.): Fundamental Rights and Private Law in the European Union, Vol. I and II, Cambridge 2010; Collins, H.: The (In) compatibility of Human Rights Discourse and Private Law, in: H.-W. Micklitz (ed.), Consti­ tutionalization of European private law, Oxford 2014, pp. 26. 30 Bell, M.: Constitutionalization and EU Employment Law, in: H.-W. Micklitz (ed.), Con­ stitutionalization of European private law, Oxford 2014, pp. 137–169; Mak, Ch.: Judges in Utopia: Fundamental Rights as Constitutive Elements of a European Private Legal Culture, in: G. Helleringer / K. Purnhagen (eds.), Towards a European Legal Culture, Munich / Oxford 2014, pp. 375–395. 31 General Principles of EU Law, OUP 2006, a third edition is under way.

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have been inspired by Tridimas. He identified seven principles: framed autonomy, protection of the weaker party, non-discrimination, effectiveness (of remedies), balancing, proportionality, and good faith.32 Reich grounded his seven principles in case law on the Treaties and in secondary EU law. His study was limited to the “acquis communautaire”, devoted explicitly to “the specific contribution of civil law provisions of the EU law, whether primary or secondary in the shadow of the EU Charter on Fundamental Rights”. The seven principles have to be kept distinct from “the principles common to the Member States”, which are deduced from a comparative analysis of the Member States’ legal orders, the acquis communau­ taire. They are meant to provide guidance in the interpretation of EU law principles and filling gaps, but they cannot replace a non-existent European Civil Code. In sum, the striving for more abstract rules and general principles in private law has shifted from politics (the European Commission and the European Parliament) to the European judiciary and from there to European legal scholarship. Growing skepticism about the European integration project has left deep traces not only in politics, in the courts but also in legal scholarship. The intellectual backing that carried the development of European law, roughly speaking in the first fifty years, has been replaced by a more distant view. Today it seems that legal scholarship is divided. There are those who defend European integration indirectly in the search for general principles and abstract rules. However, there are also those who are not necessarily against European integration but advocate  a private law order which not only advocates market rationality through supremacy and direct effect, but one which promotes social justice and which does not undermine national democracies.33

III. Differentiation in and through ERPL The European piecemeal approach results from the principle of enumerated powers. The EU enjoys competence only where the Treaty so provides. The Treaty does not contain  a particular competence in private law, except Article 81 TFEU for the adoption of international private law rules. By far the most important competence basis is Article 114 TFEU, as amended through the Single European Act in 1986. It grants the EU the power to adopt measures on health, safety, environmental and consumer protection to complete the Internal Market at a high level of protection. Specific competencies are provided for the regulation of consumer protection (Art. 169 TFEU), worker protection (Art. 153, 157 TFEU) and environmental protection (Art. 191 TFEU). The Treaty of Nice introduces competences in the field of non-discrimination, today Article 19 TFEU. In light 32

Reich, N.: The General Principles of EU Civil Law, Cambridge 2014, on the function and methodology, pp. 13–14. 33 It suffices to contrast the leading textbooks on EU law with the rising amount of legal scholarship which critically reflects the achievements of EU law.

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of the principle of enumerated powers it is not surprising that the EU was and is very much focused on the development of differentiated rules for particular groups in the economy and society, workers, consumers, the discriminated-against, and more recently for small and medium-sized companies although there is no specific competence. The European approach is one of problem-solving, rarely providing a more general frame. The second major field of regulatory activity with a strong impact on private law comprises regulated markets – the markets for electronic communications, for energy, for transport and for financial services. The political background is somewhat different, though. The Treaty of Rome promoted the liberalization of public services. However, it needed the Single European Act coupled with judicial activism to set the regulatory machinery into motion. The competence basis for the shaping of regulated markets is again first and foremost Article 114 TFEU, complemented through particular competencies in the field of transport (Art. 90 TFEU), telecommunication (Art. 170 TFEU), energy (Art. 194 TFEU) and banking (Art. 282 TFEU). The EU started adopting secondary EU law in these areas even before adoption of the Single European Act, prior to 1986. But the introduction of majority voting in the Council boosted the development of status-related European private law in the 1990s. Contrary to the private law of the Member States the EU did not address EU citizens or “the person” or “the legal subject”, but the consumer, the worker, the discriminated-against, SMEs. Therefore the EU legislature had to provide a definition of the scope of application ratio personae. Initially the EU followed the welfare state rhetoric and adopted rules so as to protect the weaker party. This is reflected in the political programmes and the recitals which legitimized regulatory action. European private law aimed at establishing a minimum standard throughout the EU, leaving Member States the freedom to establish a higher level of protection. With the decline of the welfare state in the Member States and the politically-felt need of the Member States to adapt European social regulation to an ever more competitive economy, the EU took a much more robust stand in the role and responsibilities of the former weaker parties. The latter were turned into responsible actors needed to promote and complete the Internal Market. The now famous declaration of the heads of the Member States adopted at the Lisbon Sum­ mit in 200034 marks the break-even point in the move from protective regulation towards empowering regulation. Fully harmonized rules should guarantee the same level playing field throughout the EU.35 At the same time, however, the EU had to preserve a higher degree of protection for the more vulnerable members of the target groups. The political rhetoric shifted from protection of the weaker party to social inclusion, where again the 34

Lisbon European Council, 23rd and 24th of March 2000, presidency conclusions https:// www.europarl.europa.eu / summits / lis1_en.htm. 35 Council Resolution of 2nd December 2002 on Community Consumer Policy Strategy 2002–2006, 17. 1. 2001, OJ C 11/1.

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Lisbon Summit prepared the ground.36 The insertion of the vulnerable consumer in contrast to the average consumer stands out and is paradigmatic for the much broader development of breaking down the status of the weaker party to ever more sophisticated schemes of differentiation. A kind of intersectionality,37 so vividly discussed in non-discrimination law, dominates the different fields of social regulation. In terms of conflicts, there is a kind of competition as to who is the most vulnerable of the vulnerable parties. Legal scholarship promotes the idea of a flexible law, where each status – vulnerable, average and responsible – is linked to a particular level of protection and an appropriate set of remedies.38 But the question remains as to how the different status-related levels within one domain of the law are connected to each other and whether new forms of “conflict of law rules” are needed to resolve potential tensions.39 The law of regulated markets is inherently linked to the liberalization and privatization of former national state-owned incumbents.40 This is why the starting point and the perspective are different. Contrary to social regulation in labour, consumer and non-discrimination law, the regulatory perspective is one of es­ tablishing  a competitive market, through liberalization and / or privatization, of finding means to break up state monopolies, granting access to new competitors, regulating the price for using the infrastructure of the incumbent, putting into place supervisory authorities which survey and monitor the market at the national level and co-ordinate administrative activities at the European level through the building of European agencies.41 This exercise concentrated on the business 36

There is no space for discussing the implications of the shift, Collins, H.: Discrimination, Equality and Social Inclusion, 66 The Modern Law Review 2003, pp. 16–43; Comparato, G.: The Financialisation of the Citizen, Oxford, forthcoming 2018. 37 Xenidis, R.: Shaking the normative foundations of EU equality law: Evolution and hie­ rarchy between market integration and human rights rationales, EUI-ERC Working Paper 2017/04; Xenidis, R.: Transforming EU Equality Law: On Disruptive Narratives and False Dichotomies, 38 Yearbook of European Law 2020, DOI: https://doi.org/10.1093/yel / yey005. 38 Micklitz, H.-W.: Do Consumers and Businesses need a New Architecture for Consumer Law? A Thought Provoking Impulse, 32 Yearbook of European Law 2013, pp. 266–367. 39 Joerges, C.: Die Europäisierung des Privatrechts als Rationalisierungsprozess und als Streit der Disziplinen, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1995, pp. 181–201; Joerges, C. /  Rödl, F.: Zum Funktionswandel des Kollisionsrechts II: Die kollisionsrechtliche Form einer legitimen Verfassung der post-nationalen Konstellation, in: G.-P.  Calliess / A.  Fischer-Le­ scano / D. Wielsch / P. Zumbansen (eds.): Soziologische Jurisprudenz. Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, pp. 765–778. 40 Keßler, J. / Micklitz, H.-W. (eds.): Kundenschutz auf liberalisierten Märkten. Energie. Ver­ gleich der Konzepte, Maßnahmen und Wirkungen in Europa, Baden-Baden 2008; Keßler, J. /  Micklitz, H.-W.: Kundenschutz auf liberalisierten Märkten. Personenverkehr / Eisenbahn. Ver­ gleich der Konzepte, Maßnahmen und Wirkungen in Europa, Baden-Baden 2008; Keßler, J. /  Micklitz, H.-W.: Kundenschutz auf liberalisierten Märkten. Telekommunikation. Vergleich der Konzepte, Maßnahmen und Wirkungen in Europa, Baden-Baden 2008. 41 In the following I rely on research by de Almeida, L. / Comparato, G. / Cantero Gamito, M. /  della Negra, F. / Svetiev, Y. which originated from the ERC project on European Regulatory Private Law; Micklitz, H.-W. / Svetiev, Y.: A self-sufficient European Private Law – A viable

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level, on promoting competition but also on providing rules for organizing the supply upstream and downstream. Gradually but steadily customers came into the limelight, their role and responsibilities, but also their needs. Liberalization and privatization had to be complemented through universal services obligations which ensure that customers in need keep access to services which are indispensable for the organization of their daily lives.42 The result is sector-specific private law rules for b2b and b2c relations, which is even true for universal service obligations. Liberalization and privatization have lasted for over thirty years already and have occurred in regulatory waves. Currently the fourth wave of European telecom and energy regulation has to be implemented into national law. Typically, the law of the regulated market is regarded and analysed as administrative law, mainly by administrative or regulatory lawyers. The private law dimension has been by and large underestimated until today, although the services provided through these markets count for more than 50 % of the gross income of the EU.43 Again this law is more or less missing in the Draft Common Frame of Reference. It appears to some extent in the chapter dealing with service contracts, but the comparative analysis which stands behind the development of these rules only covers the law of the regulated markets to a very limited extent.44 Silo thinking is characteristic of regulated markets. But in order to understand the rationale of the regulated market, a holistic perspective is indispensable. EU rules are regulating the different sectors from cradle to grave, from the making of the rules through the EU and the regulatory agencies up to their enforcement through the agencies and ADR mechanisms for agency to business, business and business to consumer conflicts. The EU rules are blurring different lines, between the responsibilities of the EU and the Member States, between rule-making through administrative authorities and rule-enforcement through the same authorities, be­ tween private law enforcement through the judiciary and private law enforcement through administrative authorities. With each wave, the EU has intervened deeper into contractual relations not only between businesses and consumers, but also in business-to-business relations. The result is sector-specific private law rules targeting the respective particularities of the different regulated markets. The Concept?, EUI Working Paper 2012/31; Micklitz, H.-W. / Svetiev, Y. / Comparato, G. (eds.): European Regulatory Private Law – The Paradigm Tested, EUI-ERC Working Paper 2014/04; Micklitz, H.-W. / Comparato, G. / Svetiev, Y. (eds.): European regulatory private law: autonomy, competition and regulation in European private law, EUI-ERC Working Paper 2016/06. 42 The European Commission has set up a website https://ec.europa.eu/info/topics/singlemarket/services-general-interest_en. There is much debate on the scope and reach of univer­ sal service obligations, see e.g. Szyszczak, E. / van de Gronden, J. (eds.): Financing services of general economic interest: reform and modernization. Legal issues of services of general interest, The Hague 2013. 43 Ackermann, Th.: Sektorielles EU Recht und allgemeine Privatrechtssystematik, ZEuP 2018, p. 741, focusing very much on the German perspective. 44 Barendrecht, J. M. / Jansen, C. E. C. / L oos, M. B. M. / Pinna, A. P. / Cascao, R. M. / van ­Gulijk, S., Principles of European law. Service Contracts, Munich 2007.

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silos are standing side by side. There is little homogeneity in the substance of EU rules. That is why there is not one law of the regulated markets but different laws each dealing with one specific market – despite the common origin, the belief that transforming state monopolies into competitive markets provides for better prices and better quality to customers. Within this subset of horizontally and vertically differentiated rules, the idea of abstraction is not fully getting lost. When the European Commission started to review the consumer law acquis more or less in parallel with the elaboration of the Academic Draft Common Frame of Reference, it had much more ambitious objectives than simply updating the existing rules to rising competition between different economies through globalisation. The European Commission planned to test the feasibility of general rules on fairness through the introduction of the “good faith and fair dealing principle” which could have turned into a safety net, a general rule, even an abstract principle, which would have allowed systemization of existing consumer law and to tie it together through a gap-filling mechanism.45 However, during the next decade, which was governed by revision of consumer law, the idea of a general rule on good faith in consumer law vanished in the haze. If we follow Norbert Reich, European private law is held together through the principle of protection of the weaker party, whoever the weaker party might be: a consumer, a worker or a discriminated-against party. However, the European principle of good faith, if any, is claimed to be only half way achieved. The European Commission’s proposal of a principle of good faith and fair dealing would have applied to con­ sumer law alone, but not to labour law. Reich’s principle of protection of the weaker party is still awaiting broader recognition in the case law of the CJEU. The situation is different with regard to the principle of non-discrimination law.46 This principle is not bound to a particular field of law but cuts across European law as a whole, be it primary or secondary EU law, though not without limitations. The European Commission failed in its attempt to extend application of non-discrimination law to private law relations. It seems that the CJEU is ready to fill the gap – though only partially.47 The situation is much more complex with regard to the law of the regulated markets. First and foremost the generality is limited to the respective markets if 45

European Commission, Green Paper on the Consumer Acquis, COM (2006) 744 final, 8. 2. 2007, p. 11, https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/993e0c06-8ee4-4e65a36d-5ad84795de42/language-en/format-PDF/source-search, thereto Heiderhoff, B. / Kenny, M.: The Commission’s 2007 Green Paper on the consumer acquis: deliberate deliberation?, 32 European Law Review 2007, pp. 740–751. 46 Reich, N.: The General Principles of EU Civil Law, Cambridge 2014, on the function and methodology, pp. 13–14. 47 Draft proposal and CJEU against discrimination beyond the workplace, and ECJ Cases C-569/16 and C-570/16, ECLI:EU:C:2018:871, Digital Reports, Wuppertal; with a case note from Leczykieciwz, D.: The Judgement in Bauer and the Effect of the EU Charter of Funda­ mental Rights in Horizontal Situations, 16 ERCL 2020, pp. 323–333.

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any, and – perhaps more importantly – enforcement of the law is by and large in the hands of administrative authorities and ADR bodies.48 The decisions they make are not always publicly accessible and if they are accessible, only parts of their reasons are disclosed. That is why it is very difficult, though not impossible, to get an idea of how the law is applied and whether a kind of “general rule” guides the administrative authorities and ADR bodies.49 Therefore it seems as if sector-spe­ cific general principles are in the offing, if something like this is imaginable and if it makes sense to speak of general principles with regard to particular markets. Be that as it may, striving for abstraction calls for an inquiry as to the various patterns of rationality which dominate the respective regulated markets. Understanding the rationality and giving shape to what is meant by rationale and rationality requires a deep understanding of the markets, the community and quite often technology. Whether rationales and rationalities can be turned into sector-specific principles is open to debate. The two big blocks of horizontal and vertical differentiation are difficult to merge: they follow their own logic. Horizontally differentiated labour, consumer and non-discrimination law is governed first and foremost by the CJEU which provides partial answers to whether and to what extent it is possible to deduce more general principles out of status-related rules. The vertically differentiated regulated markets are much more closed. Access to understanding the law in practice requires a deeper view behind the curtain, into administrative practices and the ADR bodies which apply the laws.

IV. European Society in and through ERPL Whilst it seems as if the distinction between uniform and differentiated rules could be transferred to the European context, the second limb – the purpose the rules are made for – is much more difficult to grasp. Does it make sense to even consider the idea that European rules in whatever disguise are made for a European society? Is a European society imaginable for which uniform and differentiated rules could be designed? Is it necessarily a fragmented society? What is the role of law in building a society? Can European integration and the building of a European legal order be compared with nation-state building in the 19th and 20th centuries, where a national constitution and a national private law served nation-building? The immediate answer after the two grand failures of the European constitution and the European civil code seems to be “no”. However, failure can also be interpreted differently. If European integration cannot be compared to nation-state building, a

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Special issue: The Public and the Private – European Regulatory Private Law and Finan­ cial Services, 10 (4) ERCL 2014. 49 Svetiev, Y.: The EU’s Private Law in the Regulated Sectors: Competitive Market Hand­ maiden or Institutional Platform, 22 European Law Journal 2016, pp. 659–680.

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European society may nevertheless exist in theory and it might be tested as to what kind of role law could play in making a European society possible. There are many follow-on questions. Does a European society require the existence of a European constitution? Probably not, but does a European society require a European private law? Probably yes, if European society should be more than a mere aggregation of national societies. This would require a degree of commonalty that unites the European peoples, a kind of common legal culture which F. Wieacker was claiming to serve as the deeper foundation of Europe, somewhat similar to Kaarlo Tuori’s cultural sediments.50 The EU is first and foremost about market-building, then about the development of  a multilevel governance structure51 and last but not least about European society-building, if any. Therefore, European rules serve mainly one particular purpose, that of market-building and of how to efficiently organize and monitor the market and / or markets. Historically the EEC was meant to establish a common market, while the Single European Act aimed at establishing an internal market with  a social face, combining market integration and social regulation. The liberalization and privatization policy ended up in establishing a European or at least a Europeanised – depending on how one measures – market for telecoms, for energy (for electricity and gas), for financial services and for the various means of transport. Whilst promotion of the internal market, with all its submarkets, is written into the EU treaties, the European Commission is inventing in  a bewildering way ever newer markets, the capital market, the digital market, the sustainable market.52 Each move in the rhetoric is followed by regulatory activities to establish a banking union, to liberalise the capital market, to shape the digital market and currently to create a sustainable market. These regulatory activities, whatever market they are targeting, end up in rules that affect private law relations. Is it fair to assume that there is a spill-over effect from markets to society, more precisely from EU market-building to European society-building, or is the EU quite to the contrary marketizing national societies through ongoing competence creep?53 Ordo-liberals might feel tempted to answer the question in the affirmative, not only with regard to nation states but also with regard to the EU, pointing to the Republican and Democratic foundations of ordo-liberalism, which is enshrined 50

Wieacker, F.: Foundations of European Legal Culture, 38 American Journal of Compa­ rative Law 1990, pp. 1–29; Kaarlo Tuori: Transnational law: on legal hybrids and legal per­ spectivism, in: Maduro. M. / Tuori Kaarlo / Sankari. S. (eds.), Transnational Law, Rethinking European Law and Legal Thinking, Cambridge 2014, pp. 11–58. 51 Kohler-Koch, B. / Jachtenfuchs, J. (eds): Europäische Integration, Wiesbaden 2003. 52 European Commission (Communication), Action Plan on Building  a Capital Markets Union, COM (2015) 468 final; Communication, A Digital Single Market Strategy for Europe, COM (2015) 192 final; Communication, A new Circular Economy Action Plan For a cleaner and more competitive Europe, COM (2020) 98 final. 53 Weatherill, St.: Competence Creep and Competence Control, 23 Yearbook of European Law 2004, pp. 1–55, https://doi.org/10.1093/yel/23. 1. 1.

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in the concept of a private law society (Privatrechtsgesellschaft).54 Critical voices would point to the problematique of making market rationality the overall sole denominator against which not only nation-state rules but also the behaviour of the people is measured. Market rationality, so goes the argument, is claimed to enter ever-new fields, to colonise ever new areas of the life world (J. Habermas), to turn political citizens into market citizens, to undermine national democracies and to eliminate social justice.55 There is much truth in the critique, in particular in terms of social regulation. The EU has transformed labour law into the law of the labour market56 and consumer law into the law of the consumer market,57 public services into regulated markets. Weak workers are turned into self-standing workers, weak consumers are turned into responsible consumers, recipients of public services are turned into customers who should follow the logic of the market.58 The process has not yet come to an end, it goes on and on. The European law of the digital market is said to enhance market rationality through the one-sided promotion of online business to the detriment of local and regional shops, thereby transforming civil society, while the EU opens up space for the sharing economy to the advantage of intermediaries that endanger local and regional tourism and transport. Perhaps the most dramatic development is about to occur in the EU-guided promotion of the platform economy which left space for the development of social media that are now endangering public media, the fourth power in a democratic state. The EU has no competence in media regulation, but it enjoys competence to foster e-commerce. Due to the lack of competences in everything that concerns civil society as such, the EU is institutionally forced to stretch its competences in market integration so as to reach the overarching field of civil society.59 As there are no or few democratic safeguards at the European level the activities of social media platforms can only be controlled 54 Deutscher, E.: Of Masters, Slaves, Behemoths and Bees - The Rise and Fall of the Link between Competition, Competition Law and Democracy, PhD EUI 2020; on the EU Mest­ mäcker, E.-J.: Auf dem Wege zu einer Ordnungspolitik für Europa, in Mestmäcker / E.-J. / Möl­ ler, H. / Schwartz. H. P. (eds.), Eine Ordnungspolitik für Europa: Festschrift für Hans von der Groeben, Baden-Baden 1987, pp. 9–49 but without discussing the implications for a Republican Democratic European Legal Order. 55 Bartl, M.: Internal Market Rationality, Private Law and the Direction of the Union: Re­ suscitating the Market as the Object of the Political, 21 European Law Journal 2015, pp. 572– 598; Kochenov, D. / de Búrca, G. / Williams, A. (eds.): Europe’s Justice Deficit?, Oxford 2015; Streeck, W: How Will Capitalism End?, London 2016. 56 Deakin, S. / Wilkinson, F.: The Law of the Labour Market. Industrialization, Employment and Legal Evolution, Oxford 2005. 57 For a plea to revitalise consumer protection law, Howells, G. / Twigg-Flesner, Ch. / Wilhelmsson, Th.: Rethinking European Consumer Law, Abingdon 2017. 58 Davies, P. / Freedland, M.: Towards a Flexible Labour Market. Labour Legislation and Regulation since the 1990s, Oxford 2007. 59 Helberger, N.: The Political Power of Platforms: How Current Attempts to Regulate Mis­ information Amplify Opinion Power, Digital Journalism 2020, DOI: 10.1080/21670811.2020.​ 1773888.

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through tools for market integration such as competition law, non-discrimination law, data protection law, the law on unfair commercial practices.60 So far so good, the list of potential critical issues could easily be extended. John Rawls offered harsh words against Philippe van Parijs:61 “One question the Europeans should ask themselves, … is how far reaching they want their union to be. … The long term result of this (the US federal union driven by market efficiency HWM) … is a civil society awash in a meaningless consumerism of some kind. I can’t believe that that is what you want.”

However, one might wonder whether the critique reflects the full picture or whether it is somewhat one-sided, pinpointing the problems of European market integration but setting aside the opportunities which are enshrined in the idea of the citizen consumer, the citizen worker, the citizen employer, the citizen customer for the building of a European society which reaches beyond market rationality. One need not follow ordoliberal thinking in order to raise the question whether and to what extent the idea of a market enshrines and comprises the idea of a republican society.62 Marxist historians would argue that nation- and market-building are in fact the same process, whereas Rawls is adhering to a romanticised and irenic view of the nation as natural, uniform and economic. Recent years have shown a revival of the political economy of the law, a strand of debate which reaches beyond the purpose of this paper.63 The opening of the market beyond the nation state through establishing the com­ mon – later the internal – market is creating space for civil society and therewith for politicisation. The Lisbon Summit 2000 established the legal framework for the rise of global value chains, which have been made possible through the decrease of communication costs.64 The Global Reach of European economic and private law took shape hand in hand with the adaptation of the EU legal order to globalisation needs.65 The other side of the coin becomes equally ever more evident. Global value chains shed light on the working and environmental conditions under which consumer products are produced in the countries of origin. Global value chains 60

Staab, Ph.: Digitaler Kapitalismus – Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknapp­ heit, Berlin 2019. 61 Rawls, J. / Van Parijs, P.: Three letters on The Law of Peoples and the European Union, 4 Revue de philosophie économique 2003, pp. 7–20, available at: http://www.uclouvain.be/ cps/ucl/doc/etes/documents/RawlsVanParijs1.Rev.phil.Econ.pdf. 62 A deeper answer would imply a discussion on the Economic Constitution of Europe, the relationship between the economy, society and democracy. I leave this for a later occasion. 63 I would like to thank G. Comparato for introducing this clarification, see e.g. Kjaer, P. (ed.): The Law of Political Economy, Transformation in the Function of Law, Cambridge 2020. 64 Baldwin, R.: The Great Convergence, Havard 2016. 65 Bradford, A, The Brussels Effect, How the European Union Rules the World, Oxford, 2020, Cremona, M. / Scott, J. (eds.) EU Law Beyond EU Borders, The Extraterritorial Reach of EU Law, Oxford 2019; Cantero, M. / Micklitz, H.-W. (eds.): The Role of the EU in Transna­ tional Legal Ordering: Standards, Contracts and Codes, Cheltenham 2020.

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and the digital economy have been breaking down the barriers between trade and production. The dividing line between product and process regulation, on which the post-World War II order is built, is loosening. The digital economy and digital society enable civil society to survey, to monitor and to report on the working and environmental conditions in the Global South.66 The EU is a forerunner in breaking down the boundaries between trade and production within its territory. Even before adoption of the Single European Act, the EU began to dismantle the regulatory barriers between product and process regulation. Contrary to GATT / WTO the EU introduced minimum standards on the production process in the EU, quite successfully in environmental regulation and in health and safety at work, less successfully in labour perhaps with the exception of equal pay for men and women. The revised Posting of Workers Directive guarantees posted workers from Eastern Europe the same salary as their Western counterparts, but it is clearly not made to prevent the existence of two types of working classes.67 The recent scandal in the German meat industry shows in a nutshell not only the degree to which the labour market is divided but also how production and consumption interact. Heavily underpaid workers from Eastern Europe were infected by the Corona virus due to their housing conditions. The scandal could be interpreted in a twofold way, as evidence for demonstrating the deficiencies and the loopholes in European and German labour regulation which still allows this form of employment, but also that neither German consumers and their organisations nor German workers and their trade unions could close their eyes any longer before economic and social reality. The scandal demonstrates how consumption and protection are politicised, interrelated and that relying on established consumer and labour rights is just not enough. In a globalized economy both workers and consumers are catapulted out of their comfort zone. Consumers can no longer close their eyes before the reality that cheap meat is produced under unbearable conditions and workers who enjoy a sound employment contract have to realise that their advantages are achieved on the back of underpaid workers from Eastern Europe with whom they are standing side by side in the same company. Consumption and production gain a citizenship dimension. I have condensed this development in the formula of the move from European labour law and European consumer law to a European law of the labour market society and the consumer market society.68 In Europe private law beyond 66

The various legislative projects to get to grips with responsibilities in supply chains are very much focusing on lead companies and do not take a holistic perspective, Salminen, J.  / ​ Rajavuori, M.: Transnational sustainability laws and the regulation of global value chains: comparison and framework for Analysis, 26 Maastricht Journal of European and Comparative Law 2019, pp. 602–627. 67 Directive 2018/957, OJ L 173/16, 9. 7. 2018 to the Viking and Laval saga, but not really as the scandal demonstrates. 68 Micklitz, H.-W.: The Politics of Justice in European Private Law, Cambridge 2018, pp. ­196–245.

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the nation state is not private regulation or private ordering. The enlarged autonomy of business, workers and consumers is framed through European regulation,69 for which the EU and the Member States take joint responsibility. The regulatory frame can be tight or rather loose, depending on the character of European rules, whether they set legally binding standards or whether they provide a framework which can be filled jointly by business, workers and consumers. A prominent example of co-regulation in the field of consumption is technical standardization, where ANEC, the Consumers’ Voice, is involved in the development of technical standards through CEN and CENELEC.70 Similar developments are going on in the field of energy and electronic communications.71 In the field of labour law attention should be drawn to the works’ councils where the EU has rather successfully delegated rule production to business and trade unions.72 The second major actor in the building of a European market society is the CJEU, sometimes with a bias towards the market sometimes with a bias towards society. There is no consistent line in the case law, perhaps with one exception. Through its case law on the first constitutionalisation, the impact on market freedoms and competition, the CJEU is opening societal space in classic legal concepts, it is breaking down the rather narrow notion of the legal subject towards a citizenship dimension, it is opening privity of contract towards third parties and along supply chains and it is inventing new remedies to deal with multi-level governance structure.73 All these are cautious steps, they should not be overestimated but they should also not be underestimated. Comandé is going even further in bringing together these developments in a proclaimed fifth European Union fundamental freedom: private law citizenship.74 One might equally recognize and theorise 69 Reich, N.: The General Principles of EU Civil Law, Cambridge 2014, on the function and methodology. 70 Van Gestel, R. / v. Lochem, P.: Private standards as replacement for public law making?; Cantero Gamito, M. / Micklitz, H.-W. (eds.): The Role of the EU in Transnational Legal Orde­ ring, Cheltenham 2020, pp. 27–53. 71 See the contributions by G. Spindler: The standardization of the internet and the inter­ national harmonization of e-commerce / Busch, Ch.: Self-regulation and regulatory inter­ mediation in the platform economy / de Almeida, L.: Standardization of standard contracts: fairness in EU energy exchanges, in: M. Cantero Gamito / H.-W. Micklitz (eds.), The Role of the EU in Transnational Legal Ordering: Standards, Contracts and Codes, Cheltenham 2020, pp. 100–114, 115–134, 155–179. 72 Liukkunen, U. (ed.): Collective Bargaining in Labour Law Regimes: A Global Perspec­ tive, Berlin 2019, pp. 622; Boele-Woelki, K. / Fernandez Arroyo, D.: Ius Comparatum – Global Studies in Comparative Law, Cham 2020; Liukkunen, U. / Chen, Y.: Enclave Governance and Transnational Labor Law – A Case Study of Chinese Workers on Strike in Africa, 88 Nordic Journal of International Law 2019, pp. 558–586. 73 Micklitz, H.-W. / Sieburgh, C. (eds.): Primary EU law and Private Law Concepts, Cam­ bridge / Antwerp 2017. 74 Comandé, G.: The fifth European Union Freedom. Aggregating Citizenship…around Private Law, in: H.-W. Micklitz (ed.), Constitutionalization of European Private Law, Oxford 2014, pp. 61–101; Carr, K.: Regulating the periphery – shaking the core European identity building through the lens of contract law, EUI Working Paper 2015/40.

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about the potential and the limits of human rights and fundamental rights in civil society-building beyond the state.75 In sum: European private law is not about market rationality alone, it is not only submitting private law rules to economic efficiency and the functioning of the Internal Market. The Regulatory character of European Private law is opening a societal space that reaches beyond the nation state and that empowers workers and consumers to accept responsibility for the political implications of consumption and production within the EU and beyond. True, such an infant European society is a rather fragmented society, built around markets and target groups. The societal dimension is much more visible in horizontal labour and consumer law, as it addresses the two key groups in a market economy. Fragmentation in the law of the regulated market seems to lead to epistemic communities,76 being composed of all relevant actors operating in the market, but being closed towards society at large. Such an opening occurs only in a situation where the silo collapses, where a potential deeper conflict with major societal implications can no longer be solved within the silo, but requires political action through the EU legislature or through the CJEU.

V. Heterogeneity in and through ERPL Bringing heterogeneity, society and law into perspective raises sensitive ques­ tions as to the requirements which have to be met for a uniform private law to be applied in  a society in which live different ethnic groups, different cultural habits, even different languages. The starting point is rather promising: private legal orders in the nation state address persons or legal subjects, completely independent of any personal capacity or capability. After adoption of the Code Civil in 1804, citizens were meant to enjoy the same rights. The deep moral and political message which is enshrined in the dictum of equality before the law should never be forgotten, despite its heavily criticized unrealistic assumptions or realizations for that matter, which have been remedied at least to some extent in the 20th century by the introduction of differentiated rules for workers and consumers. The development of the European legal order condenses in its short history the experience of the Member States, the move from a formal legal order enshrined in the Treaty of Rome towards a value-based legal order that multiplies diversity far beyond the political credo “united in diversity”. Two steps have to be clearly distinguished, first the market building exercise, the fight for a European market where everybody is treated equally before the four market freedoms and secondly

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Caldor, M.: Transnational civil society, in: T. Dunne / N. J. Wheeler (eds.), Human Rights in Global Politics, Cambridge, pp. 195–213, DOI: https://doi.org/10.1017/CBO9781139171298.009. 76 Klabbers, J.: Judging Inter-Legality, in: J. Klabbers and G. Palombella (eds.), The Chal­ lenge of Inter-Legality, Cambridge 2019, pp. 339–362.

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the transformation of the market through social regulation, where status-related rules guarantee protection through secondary EU law. Two major forms of discrimination needed to be eliminated to build a com­ mon  – later an internal  – market, namely economic discrimination through national protectionism and discrimination based on nationality. National pro­ tectionism – economic discrimination – is enshrined in legislation, regulation or even administrative practices that favour the economic interests of the country of origin over the country of destination. The Treaty of Rome introduced the four fundamental freedoms so as to abolish illegitimate restrictions on trade. The CJEU granted the four freedoms vertical direct effect, turning  a supranational convention into an autonomous legal order based on individual rights. Since the two foundational judgments van Gend & Loos and Costa v. ENEL, each and every national of the EU is entitled to invoke the four freedoms against even their own Member State, to strike down national barriers to trade resulting from statutory rules. Freedom of trade, services and capital address first and foremost business. However, recipients of services may equally enjoy individual legal rights against a Member State.77 The most radical form to enhance freedoms for both parties to economic transactions would have been to understand national private law orders or at least particular rules within national private law orders as barriers to freedom of trade and to grant Article 30 TFEU direct horizontal effect. It would have meant relying on the market alone to grant equality for all participants of civil society. To paraphrase: everybody – business and workers and consumers – would have been equal before the market, namely the four freedoms. In Alsthom Atlantique and CMC Motorradcentre the CJEU rejected attempts by business to strike down differences in contract and tort law by reference to market freedoms.78 The CJEU recognized the differences in national private law orders and left it to politics to take or not to take measures to approximate the legal orders through secondary EU law. Discrimination based on nationality would, if allowed, shatter the foundations of European integration, the idea that, independent of nationality, all European citizens are equal before the market / market freedoms. Nationality and citizenship are still the most controversial aspects of the non-discrimination dictum.79 In the Treaty, discrimination based on nationality forms the core of the fourth freedom: free movement of workers within the EU. Freedom of establishment addresses the self-employed. Free movement of services supplements the two other freedoms. All three freedoms read together have market citizens in mind, namely those who earn their living through labour, professional qualifications or other services to be performed in exchange for payment. Freedom of movement entails the abolition of 77

ECJ C-186/87, ECLI:EU:C:1989:47, ECR 1989-00195, Cowan v. Trésor Public. ECJ C-339/89, ECLI:EU:C:1991:28, ECR 1991 I-00107, Alsthom Atlantique; ECJ C-93/92, ECLI:EU:C:1993:838, ECR 1993 I-05009, CMC Motorrad Center. 79 Comparato, G.: Nationalism and Private Law in Europe, Oxford 2014. 78

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discrimination based on nationality between workers of the Member States with regard to employment, remuneration and other conditions of work and employment, subject to legitimate restrictions. The key to defining an autonomous role for private law within the European legal order is the theory of horizontal direct effect.80 Only horizontal direct effect could ensure that there is no leeway left for the Member States to disadvantage a citizen coming from another EU Member State. The move towards horizontal direct effect in order to set aside restrictions based on nationality started in 1974 and has not yet come to an end. Since Defrenne II, discrimination by nationality and discrimination by gender through unequal payment are put on an equal footing. Wherever workers move within the territory of the EU, they can start from the premise that men and women are paid the same salary. The CJEU interpreted the notion of the worker broadly, including all those who are still in education and want to study outside their home country.81 The CJEU did not limit the reach of the non-discrimination principle to statutory action. By and large the CJEU has also been ready to eliminate discriminatory collective agreements set up by private associations.82 The European Commission and the CJEU are anxiously monitoring and safe­ guarding the right not to be discriminated against because of one’s nationality. This is what Alexander Somek called “The Darling Dogma of Bourgeous Eu­ ropeanists”:83 “Substantively, the darling dogma says that national democracies are inherently deficient on democratic grounds since they affect people across their own borders without offering them  a voice in the domestic democratic process.” The Darling dogma is not limited to abolition of discrimination based on nationality. CJEU case-law on the four freedoms provides ample evidence for the

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Reich, N.: The Public / Private Divide in European Law, in: H.-W. Micklitz / F. Cafaggi (eds.), European Private Law after the Common Frame of Reference, Cheltenham 2010, pp. ­56–89, p. 61 analyses vertical and horizontal direct effect so as to demonstrate the development. 81 Reich, N.: Bürgerrechte in der Europäischen Union, Baden-Baden 1999. 82 ECJ C-36/74, ECLI:EU:C:1974:140, ECR 1974-01405, Walrave and Others; ECJ C-415/93, ECLI:EU:C:1995:463, ECR 1995 I-04921, Union royale belge des sociétés de football association; ECJ C-281/98, ECLI:EU:C:2000:296, ECR 2000 I-04139, Angonese; ECJ C-438/05, ECLI:EU:C:2007:772, ECR 2007 I-10779, The International Transport Workers’ Federation and The Finnish Seamen’s Union; ECJ C-341/05, ECLI:EU:C:2007:809, ECR 2007 I-11767, Laval un Partneri; ECJ C-325/08, ECLI:EU:C:2010:143, 2010 I-02177, Olympique Lyonnais; AG Léger C-309/99, ECLI:EU:C:2001:390, ECR 2002 I-01577, Wouters and Others. 83 Somek, A.: The Darling Dogma of Bourgeois Europeanists, 20 ELJ 2014, pp. 688–712 at 692; Substantively, the darling dogma says that national democracies are inherently deficient on democratic grounds since they affect people across their own borders without offering them a voice in the domestic democratic process. Since the dogma is indeed of constitutional significance, it offers a constitutional perspective on supranationality, which is at first glance quite sensible: Supranational institutions and laws force national democracies to take the in­ terests of outsiders into account. Hence, a supranational organization is an arrangement that supposedly ensures that national democracies treat one another justly’. 

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obligation of Member States to take potential discriminatory economic effects into account when they adopt national regulation that affects other Member States.84 More or less in parallel to the growing case law on the limits of economic discrimination – protectionism – and on discrimination based on nationality, the EU began to take legislative measures to overcome differences in private law orders through harmonisation and to seriously eliminate all sorts of social discrimination. It has to be recalled that the EU is historically built on the idea that it suffices to build a common market based on the four freedoms, but that the way in which the market freedoms are realized through economic transactions is left to national private law orders and international private law rules in case of conflict. Even after Alsthom Atlantique and CMC Motorradcentre the European Commission did not even think about harmonization of national private law orders.85 The European Commission might have recognized and accepted the message behind the judgment that business will be able to handle differences in the private law systems. The true “problem”, however, resulted from the increase in status-related rules to the benefit of workers and consumers, which differed considerably in the Member States. Seen through the lenses of the European Commission, differences in the degree to which workers and consumers are protected led to economic discrimination, in particular of those workers and consumers who are not making use of the freedom to move and who stay at home. The first step was to establish a level playing field so as to make sure that all European consumers enjoy a minimum standard of protection. The EU accepted the existence of higher standards to the benefit of those consumers living in the country with the higher standards to the detriment of those consumers who are living in the country with lower standards. The European Barometer highlights that European consumers are well aware of these differences, when consumers in the European South believe that consumers in the European North are better off. The move towards full harmonization after the Lisbon summit is nothing more than eliminating economic discrimination. All European consumers should enjoy the same standard of protection. The European Commission is well aware that effective protection does not depend on the law on the books alone but on the law in action, on the degree to which laws are enforced and enforceable through the necessary institutional infrastructure. That is why the European Commission is intruding ever more strongly into regulating enforcement, less successfully in the horizontal field and more successful in regulated markets. Enforcement, however, lies essentially in the hands of the Member States. Legal scholarship and presumably also the European Commission are well aware of the limits of full harmonization and where 84 Weatherill, St.: Competence and Legitimacy, in: C. Barnard / O. Odudu (eds.), The Outer Limits of European Union Law, Oxford 2009, pp. 17–34; and Weatherill, St.: The Internal Market, Oxford 2017. 85 Muir Watt, H.: Integration and Diversity: The Conflict of Laws as a Regulatory Tool, in: F. Cafaggi (eds.), The Institutional Framework of European Private Law, Oxford 2006, pp. 107.

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it really means, let alone of the differences in the enforcement of consumer law. What matters is that the EU is trying to eliminate economic heterogeneity through centralizing and monopolizing status-related laws. Non-discrimination law points in the opposite direction – towards the recogni­ tion of diversity. Enlarged competences through the Treaty amendments enabled the EU to extend the non-discrimination principle via secondary EU law gradually to other forms of discrimination than nationality and equal pay, to gender, race, colour, ethnic or social origin, language, religion or belief, disability, age and sexual orientation. From  a sociological perspective the enlargement of the non-discrimination principle beyond discrimination based on nationality con­ stitutes  a genuine European value, which might or might not hold the infant European society together. The growing case law, which will certainly further increase, documents the difficulties in doing justice to the different forms of social discrimination, let alone handling the problem of intersectionality. Most of the litigation is located in the workplace environment. The EU has not managed to stretch the enlarged non-discrimination principle to the consumption sphere, with the exception of goods and services that are “available to the public”.86 The integration of the non-discrimination principle into the Draft Common Frame of Reference could be understood as the most radical move away from 19th century thinking in private law relations. As none of the regulatory initiatives either via a code or via particular regulation can be realistically expected to come to pass, the CJEU might fill or refuse to fill the gap through giving horizontal direct effect to the non-discrimination principle anchored in Article 21 of the Charter. Judicial activism will become ever more difficult in light of loud or rumbling resistance in most of the Member States at implementing the non-discrimination principle in both public and in private spheres. This is particularly true with regard to the relationship between nationality and citizenship. The law on universal services, if connected to citizenship, highlights how far the EU is away from giving equal rights to EU citizens, let alone non-EU citizens.87

VI. Conclusion – is there a conclusion? ERPL has contributed heavily to heterogeneity, first through the recognition of minimum standards, later through extension of the non-discrimination principle. One might wonder whether the EU and its Member States have become ever more heterogeneous in both fields, in horizontal consumer and non-discrimination law. The only area where more homogeneity could be achieved is in the field of regulated markets. The opportunities that the establishment of a European market 86

Art. 3 (1) Directive 2004/113. De Witte, F.: Justice in the EU, the Emergence of Transnational Solidarity, Oxford 2015, who stresses the promising pathways the EU has offered, but also indicating difficulties in implementing political rhetoric legally. 87

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order and European economic and private law order beyond the nation state offers to business, workers and consumers demonstrate at the same time the weakness of the integration process. The EU has no competence and no means to fill the societal space it created through opening market logic towards society. It cannot master the centrifugal powers which it triggered. Does it mean that fragmentation will continue to the detriment of coherence and abstraction, at least as long as the EU legislator is sitting in the driver’s seat? This survey of ERPL could not answer the question whether the idea of a uniform law that governed nation-state building in the 19th and even 20th centuries has reached it limits. However, the analysis seems to underpin the striving for a legal order which is fragmented and much less homogenous. Therefore the tension between uniformity and fragmentation will persist. Yane Svetiev proposed to think of European private law as a platform aiming to integrate to the greatest extent possible the various perspectives of law makers and law enforcers and Hugh Collins advocated the idea the built European private law bottom up through the people and not through principles and concepts that stem from the 19th century.88

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Svetiev, Y.: European Regulatory Private Law: From Conflicts to Platforms, in: K. Purn­ hagen / P. Rott (eds.), Varieties of European Economic Law and Regulation, Liber Amicorum Hans Micklitz, Berlin 2014, pp. 153–178; Collins, H.: The European Civil Code – the Way Forward, Cambridge 2016.

Die Einheit des Arbeitsrechts Florian Rödl 1

I. Vielfalt und Einheit Wer heute avancierte Rechtswissenschaft betreiben will, tut gut daran, sich auf die These des Pluralismus festzulegen. Denn dann ist man jedenfalls im avancier­ ten Lager nicht allein. Dort heißt es: Schon das Völkerrecht sei fragmentiert, die gesellschaftlichen Teilsysteme folgten auch rechtlich ihrer jeweiligen Eigenlogik, schon intern, vor allem aber im Zuge ihrer transnationalen Entfaltung. Auch die einzelnen Disziplinen des Rechts zerfallen in eine große Vielfalt. Als Folge nimmt die fachliche Spezialisierung zu und kaum jemand mehr beschäftigt sich mit den systematischen Grundlagen einer Disziplin. Zivilrecht, Strafrecht, Verwaltungsund Staatsrecht können ohnehin alle. Interessant ist daher nur, was man darüber hinaus zu bieten hat, etwa Familienstiftungsrecht, Unternehmensstrafrecht, euro­ päisches Arzneimittelrecht. Wer sich auf einen gegenteiligen Standpunkt stellt und auf die Einheit der Rechtsordnung besteht, hat es hingegen schwer. Ein solcher Standpunkt erscheint vielen als konservativ und vermessen. Er wird schließlich angesichts der unheim­ lichen Vielfalt von Rechtsnormen als unhaltbar angesehen. Nun könnte es sich mit der Vielfalt der Rechtsnormen und der Einheit der Rechtsordnung ähnlich verhalten wie mit den Bäumen und dem Wald: Vor lauter Vielfalt sieht man die Einheit nicht. Allerdings besteht ein Unterschied. Während letztlich alle wissen, was ein Wald ist, liegt das Problem der Einheit der Rechtsordnung darin, dass tatsächlich erst einmal aufzuklären ist, worin denn die Einheit der Vielheit hier bestehen könnte. Dem folgenden Beitrag unterliegt die Behauptung einer Einheit des Rechts. Diese Einheit ist gestiftet durch Idee und Struktur der bürgerlichen Gesellschaft. Das Recht der bürgerlichen Gesellschaft hat seinen Ursprung in dem Postulat, dass jeder sein eigener Herr ist und dementsprechend im Handeln unabhängig sein soll vom Willen anderer.2 Diese Freiheit im Handeln zu sichern, begründet die Idee des subjektiven Rechts an der eigenen Person als Handlungsgrenze für das Handeln anderer. Das spezifisch Bürgerliche tritt auf den Plan, indem über die eigene Person hinaus subjektive Rechte an Sachen und fremden Leistungen, 1 2

Der Beitrag beruht auf Vorarbeiten: Rödl (2012); Rödl (2018). Maßgeblich für eine solche Erläuterung: Ripstein (2009).

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sowie an Immaterialgütern konstituiert werden. Sachen, fremde Leistungen und Immaterialgüter gehören mit Erwerb zum Eigenen, das die Person über den eige­ nen Körper hinaus unabhängig vom Willen anderer im Handeln verwenden kann. Die subjektiven Rechte an ihnen bilden dieselbe Art von Handlungsgrenzen, wie das Recht an der eigenen Person.3 Neben die bürgerliche Gesellschaft tritt der Staat, zunächst als Rechtsstaat, der die subjektiven Rechte der bürgerlichen Gesellschaft ins Werk setzt und garan­ tiert. Der Staat erscheint uns heute aber auch als Republik, um Gemeinwohlbe­ lange zu verwirklichen, und als Sozialstaat, um Daseinsvorsorge zu sichern. Beide Funktionen, Gemeinwohlverwirklichung und Daseinsvorsorge, sind erforderlich, weil die bürgerliche Gesellschaft diese für sich genommen nicht erfüllt, sie aber gleichwohl aus sich heraustreibt.4 Der Staat selbst wiederum ist eine juristische Person, die ihren Willen auf der Basis verfassungsrechtlicher Regeln bildet und die bei der Verfolgung der Ziele von Republik und Sozialstaat die Grundrechte zu achten hat. Schließlich gehört zum Staat auch die Strafgewalt, die es denen mit Strafe vergilt, die, indem sie Straftaten begehen, die rechtliche Ordnung gleicher bürgerlicher Freiheit samt deren Staates nicht anerkennen.5 Schließlich besteht unsere Welt nicht nur aus einem Staat, sondern aus vielen. Sie stehen sich als ju­ ristische Personen gegenüber, für die ebenfalls eine Ordnung gleicher rechtlicher Freiheit gilt, zu der natürlich auch die Macht gehört, sich vertraglich zu binden, das heißt den Bestand der rechtlichen Verpflichtungen untereinander zu ändern.6 Diese knappe Zeichnung, wie die Teildisziplinen des Rechts (Privatrecht, Straf­ recht, öffentliches Recht, letzteres mit den Subdisziplinen von Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht und Völkerrecht) eine Einheit bilden, indem sie, beginnend mit Idee und Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, logisch aufeinander aufbauen, verpflichtet zur weiteren Behauptung, dass die jeweiligen Teildisziplinen ihrerseits eine Einheit bilden, die die Vielfalt der Rechtsnormen in dieser Disziplin erhellt und begrifflich zusammenbindet. Diese Behauptung lässt sich naturgemäß nicht abstrakt begründen. Im folgenden Beitrag soll die Begründungslast immerhin konkret und exemplarisch am Gegen­ stand des Arbeitsrechts eingelöst werden. Das Arbeitsrecht gilt vielen als ein Be­ reich, der die Struktur des bürgerlichen Rechts, des Zivilrechts, hinter sich lässt. Es diene angeblich dem sozialen Schutz des so schutzbedürftigen Arbeitnehmers.7 Für den habe die bürgerliche Rechtsordnung (und ihr Zivilrecht) nämlich nichts übrig, weil sie alle als „formal“ gleich ansehe und darüber nicht begreife oder ir­ gendwie vergessen habe, dass die freien Gleichen, die die rechtliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft konstituieren, unterschiedlich viel Geld in der Tasche 3

Die Familie sei an dieser Stelle ausgespart. Rödl (2015), S. 405–454. 5 Byrd. 6 Ripstein (2021). 7 Exemplarisch: Mü.-Handbuch zum Arbeitsrecht-Fischinger, § 3 Rn. 29. 4

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haben.8 Für einige sollte das Arbeitsrecht zusammen mit dem Wirtschaftsrecht sogar eine dritte Kategorie zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht bilden, in der sich vielleicht die Wurzeln einer neuen Ordnung abzeichnen würden.9 Im Kontrast zu alledem soll im Folgenden vorgeführt werden: Das Arbeitsrecht bildet eine einheitliche Struktur, die ihren Ausgang im Zivilrecht nimmt.

II. Zivilrecht, Privatrecht, Arbeitsrecht Zu beginnen ist mit einer terminologischen Klärung: Das Zivilrecht bezeichnet das Bürgerliche Gesetzbuch, samt seinem Einführungsgesetz und seiner Neben­ gesetze. Es ist nicht deckungsgleich mit dem Privatrecht. Das Zivilrecht ist zwar der Kern des Privatrechts, das Privatrecht umfasst aber mehr. Einige der privatrechtlichen Materien des Zivilrechts verdanken sich den Unter­ stellungen, die das Zivilrecht tragen, die es aber selbst nicht garantiert. Eine we­ sentliche Unterstellung des Zivilrechts ist, dass für alle vertraglich getauschten Leistungen ein kompetitiver Markt besteht. Darum ist die Vertragsfreiheit unter Einschluss der Preisfreiheit an sich der richtige Modus, um den fairen Preis einer Leistung zu bestimmen. Der sich im Zuge von Preisfreiheit bildende Marktpreis liefert das Wertmaß, das im Schuldrecht auch normativ eine große Rolle spielt. Beim Schadensersatz in Form der Geldentschädigung (§ 251 Abs. 1 BGB) bemisst sich deren Höhe nach dem Marktpreis der zu ersetzenden Gegenstände. Gleiches gilt beim Bereicherungsausgleich in Form des Wertersatzes (§ 818 Abs. 2 BGB), auch hier ist der Marktpreis maßgeblich. Beim Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB) be­ stimmt sich die Unangemessenheit eines Verhältnisses von Leistung und Gegen­ leistung ebenfalls in Ansehung des Marktpreises. Das Zivilrecht unterstellt den kompetitiven Markt, aber es garantiert ihn nicht.10 Die Gesetze, die den kompetitiven Markt sichern, gehören nicht zum Zivilrecht, aber eben zum Privatrecht: die Gesetze des Wettbewerbsrechts, namentlich das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und das Gesetz gegen unlau­ teren Wettbewerb (UWG). In einem Bereich der Wirtschaft lässt sich nun aufgrund der Natur der Leis­ tung kein kompetitiver Markt herstellen, weil sich die Bewegung von Angebot und Nachfrage anomal vollzieht: Das ist der Bereich der Leistungen menschlicher Arbeit, sei es als abhängige Arbeitsleistung, sei es als unabhängige Dienstleistung. Auf ein Sinken der Nachfrage reagiert die Anbieterseite hier nicht mit Absenkung, sondern mit Ausweitung des Angebots.11 Um auch in diesem Bereich faire Vergü­ 8

Maßgeblich: Wieacker, S. 9–35. Paradigmatisch: Wiethölter, S. 246 ff. 10 Vgl. Brüggemeier, S. 9–81. 11 Dazu Rödl (2012) m. w. N. 9

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tungen zu sichern, bestehen Vorschriften über Mindestvergütungen. Sie gehören wiederum nicht zum Zivilrecht, wohl aber zum Privatrecht. Das Arbeitsrecht wiederum bildet eine Einheit, die sich aus zivilrechtlichen, privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Regeln zusammensetzt. Den Aus­ gangspunkt liefern die dienstvertraglichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetz­ buches, die selbst schon einige Sonderregeln zum Arbeitsverhältnis beinhalten (§§ 613a, 622, 623a BGB). Das ist der zivilrechtliche Teil des Arbeitsrechts, zu dem tatsächlich auch die Nebengesetze des Individualarbeitsrechts zählen, weil dort – entgegen verbreiteter Überzeugung – nicht einfach der Arbeitnehmer geschützt wird, sondern die zivilrechtliche Logik für den Vertrag über Arbeitsleistungen ausbuchstabiert ist (dazu ausführlich anhand des Kündigungsschutzes unten III.). Dem privatrechtlichen Bereich des Arbeitsrechts gehören die Gesetze an, die eine faire Vergütung sichern (MiLoG, Mindestlohn-RVO nach AEntG). Daneben treten diejenigen Normen, die aus der Institution der Tarifautonomie fließen und durch Tarifvertragsgesetz (TVG) und Arbeitskampfrecht konstituiert werden. Das sind die Tarifnormen, die wiederum die faire Vergütung sichern (dazu IV.) Wiederum zur zivilrechtlichen Seite des Arbeitsrechts zählen die Normen, die aus der Insti­ tution der Betriebsverfassung resultieren, konstituiert durch das Betriebsverfas­ sungsgesetz (BetrVG). Die aus ihr fließenden Betriebsnormen lösen ein Problem, welches der spezifische kollektive Zusammenhang aufwirft, in dem Arbeitsver­ hältnisse regelmäßig stehen (dazu V.). Die nachfolgende Darstellung des Arbeitsrechts steht und fällt mit einer Behaup­ tung, die implizit schon in Anspruch genommen wurde: Das zivilrechtliche Ver­ tragsrecht unterstellt, dass die Parteien eines entgeltlichen Vertrags die vertrags­ typische Leistung zum fairen Preis und zu fairen Bedingungen tauschen wollen. Diese Unterstellung trägt die ergänzende Auslegung von Vertragserklärungen. Sie wird in § 157 BGB angesprochen mit der Vorgabe, Verträge seien so auszulegen, wie es Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfordern. Diese Unterstellung leitet auch den Gesetzgeber im Vertragsrecht an.12 Die Re­ geln, die den Inhalt der vertraglich vereinbarten Leistungspflichten betreffen, be­ stimmen, wie ein Vertrag auszulegen ist, der den fraglichen Aspekt nicht geregelt hat. Er ist so auszulegen, wie die Parteien die maßgeblichen Erklärungen verstehen mussten, wenn sie sich wechselseitig unterstellen, zu fairen Bedingungen tauschen zu wollen. Explizit wird dies in der Generalnorm des (zwingenden) § 242 BGB, der zufolge sich die weiteren, gesetzlich nicht geregelten Einzelheiten des Inhalts der Leistungspflicht nach Treu und Glauben bestimmen. Insoweit ist das dispositive Vertragsrecht gesetzlich festgelegte ergänzende Vertragsauslegung.

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So bereits v. Savigny, § 16 S. 57 f.

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III. Einheit I: Kündigungsschutz 1. Die irrige Vorstellung von Kündigungsfreiheit Vielfach besteht die Vorstellung, aus dem zivilrechtlichen Grundprinzip der Privatautonomie folge, dass bei der Vereinbarung von Dauerschuldverhältnissen „Kündigungsfreiheit“ bestehen müsse.13 Soweit dies im geltenden Recht nicht der Fall ist, müsste das auf andere normative Gesichtspunkte zurückzuführen sein, die mit der Logik des Zivilrechts nichts zu tun haben, sie – je nach Standpunkt – un­ erfreulich stören oder zu erfreulichen Kompromissen drängen. Diese Prämisse ist grundlegend falsch. Sie verkennt, dass der entgeltliche Schuld­ vertrag den vereinigten Willen zweier Parteien repräsentiert, denen zu unter­stellen ist, dass sie beide ihre Leistungen zu ihrem Wert und auch im Übrigen zu fairen Bedingungen tauschen wollen. In diesem Lichte sind die Erklärungen beider Par­ teien auszulegen, auch wenn es um die vertragliche Begründung eines entgeltlichen Dauerschuldverhältnisses geht. Gesetzt also, eine Partei bietet der anderen an, gegen eine faire Vergütung vom nächsten Monatsersten an auf unbestimmte Zeit eine bestimmte Dienstleistung zu erbringen, und die andere Partei nimmt das Angebot an. Dann ist sicherlich ein Vertrag zustande gekommen, doch hinsichtlich der Kündigungsberechtigung, über die die Parteien kein Wort verloren haben, hängt – wenn man sich die Regelungen des BGB in §§ 620 f. BGB erst einmal wegdenkt – alles von einer ergänzenden Auslegung des Vertrags ab. Den Text des auszulegenden Vertrags hat der Dienstverpflichtete geliefert und ihn dem Dienstberechtigten erklärt. Letzterer ist also der Empfänger, dessen ob­ jektivierter Horizont für die Auslegung maßgeblich ist. Wie durfte er das Angebot mit Blick auf die Kündigungsberechtigung verstehen, wenn er unterstellen musste, dass das Angebot für beide Seiten – also auch für die Seite des Dienstverpflich­ teten – fair sein sollte? Durfte er das Angebot so verstehen, dass ihm die andere Seite „Kündigungsfreiheit“ einräumen wollte? Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt eine solche Konstellation. Sie findet sich im Auftragsrecht. Gemäß § 671 Abs. 2 BGB kann der Auftrag vom Auftraggeber je­ derzeit widerrufen und vom Beauftragten jederzeit (nur nicht zur Unzeit, vgl. § 671 Abs. 2 BGB) gekündigt werden. Die Pointe des Auftrags ist aber, dass es sich um einen unentgeltlichen Vertrag handelt. Was im unentgeltlichen Verhältnis fair ist, ist sicherlich unfair im Verhältnis von zweien, die ihre Leistungen zum Wert und zu fairen Bedingungen tauschen wollen. Die Geschichte von der Kündigungsfreiheit als Ausfluss der Privatautonomie ist also ein grober Irrtum. Niemals ist sie Gegenstand eines entgeltlichen Dauer­ 13

Dazu Oetker, S. 280 f.

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schuldverhältnisses. Das Mindeste, was die Parteien eines Dauerschuldverhältnis­ ses fairerweise vereinbaren, und was darum in der Auslegung zu unterstellen ist, wenn die Dinge nicht zur Sprache gekommen sind, ist eine Frist. Die Frist ist die erste Stufe des Kündigungsschutzes. Sie greift in allen entgeltlichen Dauerschuld­ verhältnissen. Die Frist dient dazu, sich einen anderen Vertragspartner zu suchen, weshalb etwa auch dem Dienstverpflichteten bezahlte Freizeit zur Stellensuche zu gewähren ist (§§ 629, 616 BGB).

2. Rücktritt für die Zukunft Der nächste Anhaltspunkt für eine faire Kündigungsberechtigung ist das all­ gemeine Schuldrecht. Dieses regelt die Folgen von Vertragsverletzungen bzw., sinngleich, Leistungsstörungen. Im Gesetz ist geregelt, dass Vertragsverletzungen durch vertragsgemäße Erfüllung zu beenden sind (§ 241 Abs. 1 BGB), und dass Schadensersatz zu leisten ist, wenn die Vertragsverletzung zu verantworten ist (§ 280 Abs. 1 BGB). Im Gesetz ist zudem die Gegenseitigkeit der meisten schuld­ vertraglichen Leistungen reflektiert (§§ 320 ff. BGB). Gegenseitigkeit meint, dass eine eigene Leistung nur um des Versprechens der Gegenleistung willen verspro­ chen wird.14 So kann etwa aufgrund der Gegenseitigkeit die eigene Leistung trotz Fälligkeit bis zur Erbringung der Gegenleistung zurückbehalten werden (§ 320 BGB). Vor allem aber kann eine Partei vom Vertrag zurücktreten und damit die eigene Verpflichtung aufheben, wenn die andere Partei ihre Leistung endgültig nicht vertragsgemäß erbracht hat (§ 323 Abs. 1 BGB). Zentral ist dabei, dass die Berechtigung zum Rücktritt unabhängig von der Verantwortlichkeit des anderen Teils besteht. Es mag sein, dass der andere Teil überhaupt nichts für die Vertrags­ verletzung konnte. Die fehlende Verantwortlichkeit bewahrt ihn dann vor der Scha­ densersatzpflicht, aber die Gegenleistung wurde ihm nur um jener Leistung willen versprochen. Darum hat er sie ohne eigene Leistung nicht verdient. In einem auf unbestimmte Zeit abgeschlossenen Dauerschuldverhältnis werden in der Zeit fortlaufend gleichartige Leistungen erbracht. Wenn längere Zeit nach Beginn der wechselseitigen Leistungen der eine Teil seine Leistungspflicht verletzt, indem er etwa seine Leistung einfach nicht mehr erbringt, wäre es unsinnig, dem anderen Teil den Rücktritt vom Vertrag zu eröffnen, so dass alle bisher ordnungs­ gemäß erbrachten Leistungen ebenfalls rückabzuwickeln wären (§§ 346 ff. BGB). Geboten ist vielmehr, die Möglichkeit zu eröffnen, die eigene Gegenleistungs­ pflicht für die Zukunft aufzuheben. Genau das ist die Kraft der Kündigung. Die Kündigung des Dauerschuldverhältnisses ist in dieser Konstellation ein Rücktritt mit Wirkung für die Zukunft. Sie unterliegt daher im Grunde denselben Maß­stäben wie der Rücktritt: Verlangt ist, dass eine auch unverschuldete, hinreichend gewich­ tige (vgl. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB) Vertragsverletzung Anlass gibt, das entsprechende Ausbleiben vertragsgemäßer Erfüllung auch für die Zukunft zu erwarten. 14

Larenz, S. 202.

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Genau dieses Prinzip artikuliert das Kündigungsschutzgesetz mit den Möglich­ keiten der personen- und der verhaltensbedingten Kündigung (§ 1 Abs. 2 KSchG). Stets geht es um eine Vertragsverletzung, die in der Kündigungsdogmatik „Beein­ trächtigung des Arbeitsverhältnisses“ heißt.15 Den Arbeitnehmer muss, wie regel­ mäßig im Fall der personenbedingten Kündigung, kein Verschulden treffen.16 Die Vertragsverletzung muss den Schluss auf künftige Vertragsverletzungen gleicher Art tragen („Prognoseprinzip“).17 Sie muss für sich genommen von hinreichendem Gewicht sein („Verhältnismäßigkeit“)18 und zwar auch mit Blick auf alle Umstände des Einzelfalls („Interessenabwägung“)19 die Kündigung tragen. All diese Aspekte lassen sich letztlich den allgemeinen Regeln zum Rücktritt vom gegenseitigen Vertrag entnehmen. Weil die Parteien eines gegenseitigen Ver­ trags die Leistungen umeinander Willen versprechen, wird seitens des Vertrags­ rechts im Wege abdingbarer Regeln unterstellt, dass sie für den Fall einer auch unverschuldeten Vertragsverletzung eine Berechtigung zum Rücktritt nach den Maßgaben des § 323 Abs. 1 BGB vereinbaren wollten. Wenn es sich um einen gegenseitigen Vertrag über ein Dauerschuldverhältnis handelt, gilt Entsprechen­ des mangels einer gesetzlichen Regelung kraft ergänzender Auslegung unter dem Maßstab von § 157 BGB: Die Parteien wollten für den Fall einer hinreichend ge­ wichtigen und für die Zukunft aussagekräftigen Vertragsverletzung die Berechti­ gung zur Kündigung vereinbaren.

3. (Nur) Bei Wegfall des Bedarfs Doch das ist nicht alles, was Parteien an Kündigungsberechtigung vereinbaren würden. Denn wenn keine weitere Kündigungsmöglichkeit hinzukäme, dann wä­ ren vertragstreue Parteien eines Dauerschuldverhältnisses bis zum Lebensende an­ einandergebunden (und sogar darüber hinaus). So darf die eine Partei die andere nicht verstehen, die ihr ein Dauerschuldverhältnis „auf unbestimmte Zeit“ anbietet. Denn sie bietet eben kein Dauerschuldverhältnis bis zum Lebensende an (was gem. § 624 BGB möglich, aber doch ungewöhnlich ist), sondern eben ein Dauerschuld­ verhältnis auf unbestimmte Zeit. Vor diesem Hintergrund werden sich die Parteien ebenfalls zugestehen, dass die leistungsberechtigte Partei das Dauerschuldverhältnis kündigen darf, wenn sie keinen Bedarf mehr an der Leistung hat, und dass die leistende Partei kündigen darf, wenn sie die Leistung für eigene Zwecke benötigt und darum keinem anderen mehr versprechen will. Letzteres entspricht der Kündigung wegen Eigenbedarfs 15

Erf.-Kommentar-Oetker, § 1 KSchG Rn. 67. Mü.-Handbuch zum Arbeitsrecht-Kiel, § 13 Rn. 2. 17 Erf.-Kommentar-Oetker, § 1 KSchG Rn. 78 ff. 18 Erf.-Kommentar-Oetker, § 1 KSchG Rn. 74 ff. 19 Erf.-Kommentar-Oetker, § 1 KSchG Rn. 82 ff. 16

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im Wohnraummietverhältnis (§ 573 BGB) und ersteres der betriebsbedingten Kün­ digung im Arbeitsverhältnis (§ 1 KSchG). Die entscheidende Frage ist nun, unter welchen Umständen sich Parteien eines Dauerschuldverhältnisses fairerweise zugestehen, auch unabhängig von den bis­ herigen Gründen – Vertragsverletzung, Bedarfsänderung – das Vertragsverhältnis zu kündigen. Es geht namentlich um den Fall, dass die gegenleistende Partei die Leistung als zu schlecht oder für ihren Preis oder in Ansehung des damit verbun­ denen subjektiv empfundenen Genusses als zu teuer ansieht, oder dass die leistende Partei eine andere Partei findet, der sie dieselbe Leistung teurer verkaufen kann. Dabei muss man sich vor Augen führen: Wenn diese Kündigungsmöglichkei­ ten eingeräumt werden, dann gehen die zuvor behandelten Kündigungsgründe als kritischer Maßstab einer Leistung verloren. Man muss sich nicht mehr streiten, ob eine hinreichend schwerwiegende Vertragsverletzung vorliegt. Man findet die Leistung einfach zu schlecht oder zu teuer. Es hängt zentral vom Gegenstand der Leistung ab, ob sich Parteien eine solche zusätzliche Kündigungsberechtigung einräumen. Im Falle eines Arbeitsverhält­ nisses wird der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber eine weitergehende Kündigungs­ berechtigung nicht einräumen. Das liegt an Folgendem: Die Pointe des Arbeits­ vertrags ist das Weisungsrecht des Arbeitgebers. Er sagt dem Arbeitnehmer, wann, wie und wo er seine Leistung zu erbringen hat (§ 106 GewO; vgl. auch § 611a BGB: Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort). Er kann in diesen Hinsichten die Arbeitskraft des Arbeitnehmers steuern, als steuere er den eigenen Körper. Es gibt allerdings eine wesentliche Grenze. Die ist zentral, weil sie den fundamentalen Unterschied des zivilrechtlichen Arbeitsverhältnisses zur Leibeigenschaft markiert, in die sich der Arbeitnehmer sonst jedenfalls für die Dauer der Arbeitszeit begeben würde. Der Arbeitnehmer schuldet eben nicht „seine Arbeitskraft“ im Sinne seines gesam­ ten persönlichen Handlungsvermögens. Er schuldet die vertraglich versprochene Leistung. Wer vertraglich versprochen hat, die Leistung eines Verkäufers zu er­ bringen, der kann auf der Basis dieses Arbeitsvertrags nicht angewiesen werden, den Vorgesetzten mit dem Auto herumzufahren. Diese zentrale Grenze – es sei wiederholt: es ist die Grenze, die das freie Arbeits­ verhältnis von der unfreien Leibeigenschaft unterscheidet – kann der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis gegenüber seinem Arbeitgeber nicht verteidigen, wenn er dem Arbeitgeber weitergehende Kündigungsberechtigungen einräumt. Denn der Arbeit­ geber könnte die Kündigungsdrohung immer einsetzen, wenn der Arbeitnehmer auf der Grenze seines Leistungsversprechens bestehen würde. Der Arbeitgeber hätte einen Hebel in der Hand, um die essentielle Begrenztheit seines Weisungs­ rechts zu unterlaufen. Es kommt für das vorstehende Argument nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer vielleicht schnell neue Arbeit findet oder ob er überhaupt für seine materielle Exis­ tenz auf bisherigem Niveau auf die Beschäftigung angewiesen ist. Zwar könnte

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ihm in diesen glücklichen Fällen die angedrohte Kündigung gleichgültig sein. Aber das ändert nichts daran, dass er die Grenze des Weisungsrechts im Dauerschuld­ verhältnis im Verhältnis zum Arbeitgeber nicht verteidigen könnte. Er müsste die Auflösung hinnehmen. Darum muss es im Arbeitsverhältnis dabei bleiben, dass der Arbeitgeber nur kündigen kann im Fall der Vertragsverletzung und im Fall des Wegfalls des Bedarfs an der Arbeitsleistung. Angebot oder Annahme eines Vertrags mit einer weiterreichenden Kündigungsberechtigung wird man darum nach der Maßgabe von § 157 BGB einem Arbeitnehmer nicht unterstellen können. Aus gleichem Grund wird man auch nicht unterstellen können, dass ein Arbeit­ nehmer dem Arbeitgeber im Vertrag das Recht einräumen würde, den Inhalt der versprochenen Arbeitsleistung einseitig zu ändern. Vielmehr wird es bei § 311 Abs. 1 BGB bleiben: eine Änderung verlangt einen erneuten Vertrag. Wenn der Arbeitgeber den Änderungsvorschlag mit einer Beendigungskündigung verknüpft (sog. Änderungskündigung, § 2 KSchG), dann kann er damit nur Erfolg haben, wenn die Beendigungskündigung als personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigung rechtmäßig wäre.20

4. Unabdingbarkeit Nun ist der Kündigungsschutz bis hierher aus der Auslegung eines Arbeitsver­ trags auf unbestimmte Zeit nach dem Maßstab von § 157 BGB abgeleitet worden, in dem jenseits der Hauptleistungen nichts vereinbart wurde. Das würde bedeuten, die Parteien könnten auch etwas anderes vereinbaren. Der Kündigungsschutz des geltenden Rechts ist allerdings zwingend. Auch das ergibt sich aus der zivilrechtlichen Logik. Denn vertragliche Regeln sind einerseits dann zwingend, wenn eine abweichende Vereinbarung in einem Selbstwiderspruch resultieren würde. Den paradigmatischen Fall liefert der Ausschluss der Schadens­ ersatzverpflichtung für verschwiegene Mängel, § 444 BGB. Vertragliche Regeln sind auch dann zwingend, wenn die Abweichung von der fairen Regel nicht im Preis ausgeglichen werden kann. Ein Beispiel ist der Ausschluss der außerordent­ lichen Kündigung (§ 626 BGB). Darum greift deren zwingender Charakter sogar für alle Dauerschuldverhältnisse (§ 314 BGB). Gleiches gilt vom Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis: Eine Aufhebung der Grenze zur Leibeigenschaft ist nicht in Geld zu bezahlen.

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Das allerdings hat der zuständige Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts noch nicht ein­ gesehen und verfolgt stattdessen einen schwammigen Maßstab, vgl. (affirmativ) Erf.-Kom­ mentar-Oetker, § 2 KSchG Rn. 39 ff. Wie hier: Mü.-Handbuch für Arbeitsrecht-Rennpferd, § 119 Rn. 5.

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5. Zwischenfazit Der Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis nach § 1 KSchG ist keine Beschrän­ kung einer nach zivilrechtlichen Maßgaben an sich bestehenden Kündigungs­ freiheit des Arbeitgebers. Vielmehr resultiert der Kündigungsschutz aus einer ergänzenden Vertragsauslegung, die die Besonderheit des Arbeitsverhältnisses reflektiert als Arbeitsleistung nach Weisung in den Grenzen des vertraglichen Leis­ tungsversprechens. Der Kündigungsschutz ist notwendig, um eben diese Grenze im Dauerschuldverhältnis gegenüber dem Arbeitgeber zu verteidigen.

IV. Einheit II: Tarifautonomie 1. Die zivilrechtliche Unterstellung: Wille eines Tauschs zum Wert Die oben eingeführte grundlegende schuldvertragsrechtliche Unterstellung des Willens zum fairen Tausch betrifft nicht nur die Leistungsbestimmungen, die Gegenstand gesetzlicher oder richterlicher Auslegung des Vertragstextes sind. Sie betreffen auch den Preis. Die Parteien eines entgeltlichen Vertrags müssen einan­ der unterstellen, dass die Leistung zum fairen Preis, also ungefähr zu ihrem Wert getauscht werden soll. Parteien können einander regelmäßig nicht unterstellen, dass die jeweils andere ihr Wert zuwenden, ihr etwas schenken will. Darum fragt das Vertragsrecht in Gestalt der Wuchervorschrift, ob eine Zuwendung von Wert, wenn sie in Gestalt eines allzu hohen oder allzu niedrigen Preises (in den Wor­ ten von § 138 Abs. 2 BGB: „auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegen­ leistung“) vorkommt, sehenden Auges und aus freien Stücken oder in Ausbeutung einer Zwangslage oder eines mangelnden Urteilsvermögens erfolgte. Seinen ersten Halt findet der Wuchertatbestand also in einer Preisvereinbarung erheblich über oder unter Wert. Wie schon bemerkt, liefert grundsätzlich der kom­ petitive Marktpreis den Wert einer Leistung, und damit auch den angemessenen Preis unter der Wucherregelung in § 138 Abs. 2 BGB. Doch wie ebenfalls schon festgehalten: Der Arbeitsmarkt bringt keine Preise hervor, die als Wertmaß der Arbeitsleistung gelten können. Denn der Mechanismus von Angebot und Nach­ frage unterliegt der Anomalie, dass eine sinkende Nachfrage, die den Preis fallen lässt, kein Sinken des Angebots auslöst, welche den Preis wieder steigen ließe, sondern seine Ausweitung, die den Preis noch weiter fallen lässt.

2. Bestimmung des Wertes der Arbeitsleistung durch Tarifnormen Für freie Berufe wird diese Problematik mit gesetzlichen Mindestvergütungs­ regeln gelöst (z. B. RVG, HOAI, GOÄ etc.): Der Wert der Dienstleistung wird also im demokratischen Verfahren politisch bestimmt. Dasselbe existiert inzwischen

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auch für die Bestimmung des Wertes der arbeitsvertraglichen Leistung: Die poli­ tische Bestimmung des Wertes abhängiger Arbeit erfolgt in Gestalt von Rechts­ verordnungen auf der Grundlage des Arbeitnehmerentsendegesetzes und des Mindestlohngesetzes. Beide Gesetze sind allerdings jüngere Reaktionen auf die institutionelle Schwäche des Tarifvertragssystems. Diesem gebührt eigentlich der Vorrang vor der politisch-demokratischen Bestimmung. Gleichwohl haben Tarif­ normen und Mindestvergütungsregeln dieselbe Funktion: sie bestimmen politisch, allgemein- oder tarifpolitisch, den Wert arbeitsvertraglicher Leistung. Aus diesem Grund ist der Tarifvertrag kein zivilrechtlicher Schuldvertrag, über­ haupt kein Rechtsgeschäft, sondern Normsetzung. Wesentliche Geltungsbedingung ist nicht die mehrheitliche Zustimmung in einem Parlament, sondern der schriftlich fixierte Konsens am Verhandlungstisch (vgl. § 1 Abs. 2 TVG). Die Tarifvertrags­ parteien vereinbaren Arbeitsvertragsrecht, das wesentlich die Vergütung regelt, daneben auch noch viele andere Aspekte. Die Tarifvertragsparteien haben genau dazu die Autorität: zur Normsetzung im Bereich des Arbeitsvertragsrechts. Das mag dem Verfassungsrechtler eigentümlich erscheinen, weil er denkt, dass die Autorität zur Normsetzung ein demokratisches Fundament benötige, und das haben Verhandlungen zwischen Tarifvertragsparteien sicherlich nicht. Am Ende steht keine Abstimmung, in der eines jeden Stimme dasselbe Gewicht hat. Aber da muss sich der Verfassungsrechtler eben belehren lassen. Denn die Verfassung hat die Autorität zur Normsetzung vorgefunden und ihrem besonderen Schutz unterstellt, namentlich in Art. 9 Abs. 3 GG, der die Koalitionsfreiheit garantiert, was so verstanden wird, dass damit zugleich die Institution der Tarifautonomie gewährleistet ist, wie sie heute das Tarifvertragsgesetz samt Arbeitskampfrecht repräsentiert.21

3. Beschränkung der Tarifnormgeltung als Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt Ein hermeneutisches Hindernis für die vorstehende Position bildet der Umstand, dass Tarifnormen im Normalfall nur für solche Arbeitsverhältnisse Arbeitsver­ tragsrecht liefern, in denen beide Seiten des Arbeitsverhältnisses tarifgebunden sind (vgl. §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG). Die Frage der Tarifbindung des Arbeitnehmers liegt kraft der in Art. 9 Abs. 3 GG sogar verfassungsrechtlich garantierten individuellen Koalitionsfreiheit allein bei ihm. Letzteres Detail hat die Vermutung genährt, der Tarifgeltung liege doch eine ganz andere Idee zugrunde, nämlich die einer „kollektiv ausgeübten Privat­ autonomie“22: Die Parteien eines Arbeitsvertrags mandatieren ihre Verbände im Moment des Beitritts rechtsgeschäftlich, für sie den Inhalt ihrer Arbeitsverträge 21 22

BVerfG, Urteil v. 18. 11. 1954, in: BVerfGE 4, 96. Prägend: Bayreuther; pointiert: Hartmann.

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zu verhandeln und am Ende auch zu bestimmen. Diese Erläuterung passt jedoch schon nicht für Betriebsnormen und für betriebsverfassungsrechtliche Normen. Denn hier ist allein die Tarifbindung des Arbeitgebers relevant (vgl. § 3 Abs. 2 TVG), die Arbeitsverhältnisse mit Außenseitern werden ebenfalls erfasst, ganz ohne privatautonome Grundlegung durch Gewerkschaftsbeitritt. Für die Arbeitgeberseite stimmt die Vorstellung einer privatautonomen Grund­ lage der Tarifgeltung erst recht nicht. Denn zwar kann der einzelne Arbeitgeber über eine Tarifbindung kraft Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ebenfalls frei entscheiden. Entscheidet er sich aber gegen den Beitritt, kann er auch als einzelner Arbeitgeber durch Arbeitskampfdruck zum Abschluss eines Unternehmenstarif­ vertrags gezwungen werden, denn auch der einzelne Arbeitgeber ist tariffähig (vgl. § 2 Abs. 1 TVG). Dadurch entsteht ebenfalls Tarifbindung, die aber eigentlich auf einer Drohung mit einem empfindlichen Übel beruht (§ 123 Abs. 1 BGB), nämlich auf der Drohung mit Verlusten. Vor dem Zivilrecht würde die Abschlusserklärung des Arbeitgebers eigentlich keine Anerkennung als frei gebildeter Wille finden. Und doch ist ein Unternehmenstarifvertrag wirksam, und sei er auch unter Streik­ druck zustande gekommen. Zudem besteht eine Alternative zur Tarifgeltung kraft beiderseitiger Tarifbin­ dung. Das ist die Allgemeinverbindlicherklärung. Sie erstreckt die Tarifgeltung auf alle Arbeitsverhältnisse, die dem Geltungsbereich des maßgeblichen Tarifvertrags unterfallen (§ 5 Abs. 4 TVG). Eine privatautonome Grundlage hat die Geltung hier ganz offensichtlich nicht mehr, und doch bleiben die Normen des allgemeinver­ bindlichen Tarifvertrags Tarifnormen. Sie werden trotz der politischen Legitima­ tion durch den Arbeitsminister (§ 5 Abs. 1 TVG) nicht zu formellen Gesetzen, also staatlichen Rechtsnormen. Das wäre auch nicht richtig. Denn die Setzung staat­ lichen Rechts durch die Exekutive erfolgt durch Rechtsverordnung und verlangt eine entsprechende Ermächtigung (Art. 80 Abs. 1 GG). Vor diesem Hintergrund kann man die Allgemeinverbindlicherklärung nicht anders deuten, als dass durch politische Entscheidung des Arbeitsministers die Autorität der Tarifvertragsparteien zur untergesetzlichen Normsetzung nicht all­ gemein, aber in Bezug auf einen bestimmten Tarifvertrag und unter bestimmten Umständen (vgl. § 5 Abs. 1 TVG) über die Arbeitsverhältnisse ihrer jeweiligen Mitglieder hinaus erstreckt wird. Die Autorität entspricht damit zwar nicht hin­ sichtlich des Rangs, aber hinsichtlich der Reichweite der Geltung der Normen dem staatlichen Arbeitsvertragsrecht, das heißt sie erfassen alle Arbeitsverhältnisse, die in Deutschland erfüllt werden (Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO). Die Allgemeinverbindlicherklärung bildet allerdings einen Ausnahmefall. Da­ her stellt sich die Frage, aus welchem Grund denn im Regelfall die Geltung von Tarifnormen auf Arbeitsverhältnisse zwischen tarifgebundenen Vertragsparteien beschränkt ist. Es wäre ja an sich möglich, allen Tarifnormen hinsichtlich ihrer Geltung stets die Reichweite staatlichen Rechts zu geben, Tarifnormen also gene­ rell Allgemeinverbindlichkeit zu verleihen.

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Der Grund für diese Beschränkung hängt mit der Koalitionsfreiheit zusammen. Tarifnormen sollen gerade auch auf Arbeitnehmerseite nur durch frei gebildete Gewerkschaften gesetzt werden können. Die Tarifpolitik der Gewerkschaften soll sich dadurch in einem Forum legitimieren müssen, das unmittelbar mit den Inte­ ressen der Betroffenen verknüpft ist. Das ist eben die Mitgliedschaft. Nur solche Gewerkschaften sollen die Befugnis zur Tarifnormsetzung erhalten, die in der Lage sind, hinreichend viele Mitglieder von ihrer Tarifpolitik zu überzeugen: von den Maßstäben der internen Verteilung, von der Gewichtung von Lohnhöhe und Beschäftigung, vom Stil der Auseinandersetzung mit dem Tarifvertragspartner etc. Als Mitglied einer Gewerkschaft muss der Arbeitnehmer aber notwendig finan­ zielle Beiträge an sie leisten. Denn die Gewerkschaft benötigt einen schlagkräfti­ gen Apparat, der auf professionellem Niveau Tarifpolitik und auch Arbeitskampf organisieren kann, und sie benötigt eine volle Streikkasse, um glaubwürdig auch längere Arbeitskämpfe anzudrohen. Die Mitglieder müssen also ein finanzielles Opfer bringen. Darum muss es für sie im Arbeitsverhältnis auch einen Unterschied bedeuten, ob sie Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind oder nicht. Die Beschränkung der Geltung von Tarifnormen auf die Mitgliedschaft hat also nichts damit zu tun, dass dadurch die Tarifgeltung durch Beitritt privatautonom legiti­ miert wäre (Normgeltung kann man ohnehin nicht privatautonom begründen, die Privatautonomie trägt nur Rechtsgeschäfte). Vielmehr verdankt sich die für den Regelfall bestehende Beschränkung der Autorität der Normsetzung für die eigenen Mitglieder dem Umstand, dass die gewerkschaftliche Tarifpolitik nach der Idee der Koalitionsfreiheit politisch durch Mitgliedschaft legitimiert sein soll. Der Umstand, dass das Tarifvertragsrecht mithilfe der beschränkten Tarifgel­ tung einen Anreiz für einen Gewerkschaftsbeitritt liefert, steht der Legitimations­ funktion durch freien Beitritt nicht entgegen. Denn es liefert eben nur einen An­ reiz zum Gewerkschaftsbeitritt, keinen Anreiz zum Beitritt zu einer bestimmten Gewerkschaft. Richtig ist allerdings, dass sich hieraus auch begründet, dass die negative Koalitionsfreiheit nur einen Reflex der positiven Koalitionsfreiheit bildet, also der Freiheit unter mehreren Gewerkschaften frei zu wählen und, sofern er­ forderlich, eine neue Gewerkschaft zu gründen. Diese negative Koalitionsfreiheit hat darum ein ganz anderes Gewicht als die negative Seite einiger liberaler Grund­ rechte, etwa der Informationsfreiheit oder der Religionsfreiheit.23 Zu gewärtigen ist allerdings, dass der Anreiz am Ende doch moderat ausfällt. Denn auch Arbeitsverhältnisse, für die keine Tarifnormen gelten, bleiben von deren Gehalt nicht unberührt. Jedenfalls hinsichtlich der Vergütung liefern die Tarifnor­ men unter der Wucherregelung in § 138 Abs. 2 BGB das Maß der Angemessen­ heit von Leistung und Gegenleistung. Eine Vergütung, die unter zwei Dritteln des einschlägigen Tariflohns liegt, ist unangemessen, die anderen Voraussetzungen des Wuchertatbestands sind im Kontext eines Arbeitsverhältnisses regelmäßig zu be­ 23

Dazu Erf.-Kommentar-Linsenmeier, Art. 9 GG Rn. 32 ff.

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jahen. Jedenfalls hinsichtlich der Vergütung setzt die Tarifnorm also – mit einem Abschlag – das Maß der fairen Vergütung für alle Arbeitsverhältnisse. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern ist die Lage für Arbeitsverhältnisse von Außenseitern ohnehin eine andere. Hier vereinbart der Arbeitgeber mit jedem Arbeitnehmer, dass der einschlägige Tarifvertrag kraft Vertrags den Inhalt des Arbeitsverhältnisses bestimmt. Er nimmt darum den Anreiz zum Beitritt. Das ist dem Arbeitgeber unbenommen, allerdings mit der belastenden Folge, dass er in Zu­ kunft sich nicht mehr einfach durch Austritt aus dem Arbeitgeberverband von der künftigen Tarifentwicklung abkoppeln kann, weil er für die bestehenden Arbeits­ verhältnisse auch über den Zeitpunkt der Beendigung des Tarifvertrags hinaus (vgl. § 3 Abs. 3 TVG) vertraglich an den Inhalt künftiger Tarifnormen gebunden ist.24

4. Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht als öffentliches Recht Weil die Regeln des Tarifvertragsgesetzes den Normcharakter (§§ 1, 4 TVG) und die Bedingungen ihrer Geltung (§ 4 Abs. 1, 3 und § 5 TVG) statuieren und die Anforderungen an das Zustandekommen von Tarifverträgen regeln (§§ 1 Abs. 2, 2 TVG), sind sie selbst nicht zum Privatrecht zu zählen. Sie entsprechen staats­ rechtlichen (häufiger ungeschriebenen) Normen über die Geltungsbedingungen einfachen Rechts und (meist geschriebenen) über das Verfahren der Gesetzgebung. Darum handelt es sich beim Tarifvertragsrecht tatsächlich um öffentliches Recht. Die Tarifnormen hingegen, die aus solcher Gesetzgebung resultieren, sichern den fairen Austausch im Arbeitsverhältnis und gehören darum – wie Regeln über Min­ destvergütungen freier Berufe – zum Privatrecht. Damit gehört der rechtmäßige Arbeitskampf ebenfalls zum Verfahren der Normsetzung. Der Arbeitskampf der Gewerkschaftsseite ist anerkanntermaßen das entscheidende Druckmittel, um überhaupt eine Normsetzung zu erreichen.25 Verglichen mit den Schritten eines Gesetzgebungsverfahrens, etwa der Eröffnung des Verfahrens durch einen Regierungsentwurf (vgl. Art. 76 GG), ist es natürlich eine recht ungeordnete Sache. Aber der unterschiedliche Charakter dieser Norm­ setzungsprozesse ändert nichts an deren gleicher Funktion. Die streikende Ge­ werkschaft übt ein politisches Recht aus, und entsprechendes gilt für die Streik­ teilnehmer. Darum dürfen auch Arbeitnehmer seitens der Gewerkschaft zum Streik aufgerufen werden und am Streik teilnehmen, die nicht Mitglied der streikfüh­ renden Gewerkschaft sind.26 Darum dürfen Arbeitnehmer ihr Streikrecht auch nicht versilbern, indem sie sich vom Arbeitgeber für den Streikbruch Prämien bezahlen lassen.27 24

Seit BAG, Urteil v. 14. 12. 2005, in: AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 39. BAG, Urteil v. 10. 6. 1980, in: BAGE 33, 140 (149 f.). 26 Erf.-Kommentar-Linsenmeier, Art. 9 GG Rn. 166. 27 Dazu Handbuch Arbeitskampfrecht-Rödl, § 21 Rn. 195 ff. Leider immer noch andere An­ sicht: BAG, Urt. v. 14. 8. 2018, in: AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 186. 25

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Gegen diese öffentlich-rechtliche Sicht des Arbeitskampfes spricht nicht, dass der rechtswidrige Arbeitskampf zivilrechtliche Schadensersatzforderungen nach sich zieht, nach herrschender Meinung gemäß § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung eines absoluten Rechts am Unternehmen, oder besser gemäß § 826 BGB wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung. Denn Vergleichbares gilt auch im Ge­ setzgebungsverfahren. Wenn ein Fraktionsgeschäftsführer die Abgeordneten der Fraktion des gegnerischen politischen Lagers vor der Abstimmung in ihren Sit­ zungssaal einschließt, dann ist er ihnen nach § 823 Abs. 1 BGB wegen Freiheitsver­ letzung zum Schadensersatz verpflichtet. Der einzige, aber eben nicht essentielle Unterschied ist, dass im Arbeitskampf die Schädigung der Gegenseite regelmä­ ßige Folge rechtswidriger Verfahrenshandlungen (Streikaktionen) ist, während im staatlichen Gesetzgebungsverfahren Verfahrensfehler nur selten zugleich private subjektive Rechte verletzen.

5. Zwischenfazit Tarifautonomie ist keine fürsorgliche Antwort auf die Entdeckung der materiel­ len Bedürftigkeit der meisten Arbeitnehmer. Tarifautonomie ist eine Institution zur verhandelten Setzung privatrechtlicher Normen. Die Setzung dieser Normen ist erforderlich, weil das zivilrechtliche Schuldvertragsrecht grundsätzlich den Willen eines Tauschs zum Wert unterstellt, der Arbeitsmarkt aber aufgrund seiner Ano­ malie nicht den Wert der Arbeitsleistung bestimmen kann.

V. Einheit III: Betriebsverfassung 1. Das Weisungsrecht und seine zivilrechtliche Grenze Das Arbeitsverhältnis ist schließlich essentiell gekennzeichnet durch das Wei­ sungsrecht des Arbeitgebers.28 Es begründet die sogenannte persönliche Abhän­ gigkeit des Arbeitnehmers, die den Dienstvertrag zum Arbeitsvertrag macht. Es werden zwar in den Lehrbüchern und neuerdings sogar in § 611a BGB immer wieder noch weitere Kriterien für ein Arbeitsverhältnis mitgeführt, die scheinbar auf gleicher Ebene liegen, allem voran die betriebliche Eingliederung oder die Fremdbestimmung oder die Verteilung des wirtschaftlichen Risikos. Aber das ist nicht richtig. Essentiell ist, ob eine vertraglich versprochene Dienstleistung dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterstellt wird oder nicht. Die durch das Weisungsrecht eröffnete Bestimmbarkeit von Inhalt, Ort und Zeit steht allerdings nicht im Belieben des Arbeitgebers. Seine Weisungen müssen sich im Rahmen der Billigkeit halten. Die Grundlage für diese Vorgabe ist vor langer 28

Erf.-Kommentar-Preis, § 611a BGB Rn. 1.

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Zeit in § 315 BGB gesehen worden29, doch das trifft wiederum nicht zu. § 315 BGB betrifft den Fall einer nicht bestimmten Hauptleistung. Es geht also um den Fall, in dem die Parteien eine Hauptleistung (den Preis der zu bauenden Geige, die Anzahl an Kartoffeln) nicht bei Vertragsschluss festlegen, sondern die Bestimmung einer Partei überlassen. Hält man sich dies vor Augen, sind die in §§ 315 ff. BGB getrof­ fenen Regelungen stimmig: Wer seine Befugnis zur Bestimmung ausgeübt hat, ist daran gebunden. Wenn der anderen Partei die Leistungsbestimmung ihrem Inhalt nach unbillig erscheint, kann sie das Gericht anrufen, damit dieses eine angemes­ sene Bestimmung vornimmt. Das Gericht kann auch angerufen werden, wenn die Bestimmung nicht erfolgt. Man kann auch vereinbaren, dass die Bestimmung nach freiem Belieben erfolgen soll. Für das Arbeitsverhältnis passt das alles nicht: Die Billigkeitsgrenze ist nicht abdingbar. Wenn keine Weisung erfolgt, tritt Annahmeverzug (§ 615 BGB) ein. Der Arbeitnehmer muss nicht das Gericht anrufen, die unbillige Weisung ist einfach so unverbindlich.30 Der Arbeitgeber ist gerade nicht an seine Weisung gebunden, er kann sie jederzeit ändern, soweit dies wiederum billig ist. Tatsächlich ist Grundlage des Billigkeitsgrundsatzes nicht § 315 BGB, son­ dern § 242 BGB. Die Ausübung des Direktionsrechts ist eine Verpflichtung, die den Arbeitgeber trifft, denn der Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf vertrags­ gemäße Beschäftigung.31 Wie es § 242 BGB allgemein für jede schuldrechtliche Leistungsverpflichtung anordnet, darf auch die Weisung des Arbeitgebers als notwendige Mitwirkungshandlung (vgl. § 295 BGB) nicht treuwidrig ausgeübt werden, das Gebot der Billigkeit ist nur eine andere Ausdrucksweise dafür. Vor diesem Hintergrund liegt in der ausdrücklichen Erwähnung der Billigkeitsgrenze, die § 106 GewO seit 2002 enthält, lediglich eine Bekräftigung der bereits in § 242 BGB enthaltenen Regel. Versteht man die Billigkeitsgrenze in § 106 GewO als Artikulation des Ge­ bots von Treu und Glauben aus § 242 BGB für das arbeitsvertragliche Weisungs­ recht, ergeben sich die oben genannten Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses zwanglos.

2. Die Verteilung freiwilliger Leistungen und ihr zivilrechtliches Maß Noch eine andere Größe spielt im Arbeitsverhältnis eine wichtige Rolle. Zur Motivation und Steuerung der Arbeitsleistung setzt der Arbeitgeber vielfach zu­ sätzliche freiwillige geldwerte Leistungen ein. Die Leistungen sind in dem Sinn 29

Söllner. Auch beim BAG wieder eingesehen mit abschließend BAG, Urteil v. 18. 10. 2017, in: BAGE 160, 296. 31 Erf.-Kommentar-Preis, § 611a BGB Rn. 563 ff. 30

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freiwillig, dass sich der Arbeitgeber dazu nicht in den das Arbeitsverhältnis be­ gründenden Verträgen verpflichtet. Er will die Leistungen aber aus den besagten Zwecken eben ausgeben, und zwar nicht nur für einen Einzelfall, sondern er will sie unter mehreren Arbeitnehmern nach Kriterien verteilen, durch die der konkrete Zweck der Leistung am besten erreicht wird. Die Charakterisierung der Leistung oder Vergünstigung als freiwillig bedeutet allerdings nicht, dass der Arbeitgeber damit den Arbeitnehmern etwas schenkt. Vielmehr bietet er ihnen die jeweilige Leistung oder Vergünstigung als Änderung des Arbeitsvertrags an, die von den Arbeitnehmern regelmäßig stillschweigend angenommen wird (§§ 311 Abs. 1, 151 BGB). Das bedeutet, das vertragliche Recht der Arbeitnehmer umfasst nunmehr auch jene Leistung oder Vergünstigung. Ist die Leistung erbracht oder die Vergünstigung gewährt, so ist sie das jeweils mit Rechtsgrund, der Arbeitnehmer darf sie behalten. Eine andere Frage ist, ob es sich um eine einmalige Leistung oder Vergünstigung handelt, oder ob der Arbeitge­ ber sich auch für die Zukunft verpflichten wollte – das ist eine Frage der weiteren Umstände, die hier nicht vertieft werden muss. Wichtig ist nur, dass spätestens der Vollzug der Leistung oder die Gewähr der Vergünstigung diese in das vertrags­ rechtliche Austauschverhältnis einfügt, womit sie auch den allgemeinen vertrags­ rechtlichen Maßstäben unterstellt sind. In einem Vertragsverhältnis mit nur zwei Parteien unterliegt die Gewähr zu­ sätzlicher Leistungen oder Vergünstigungen keinem Maßstab. Man kann dem In­ stallateur Kaffee und Kuchen bereitstellen oder ihm die letzten Handgriffe einer Werkleistung abnehmen, ohne bei der Bezahlung Abstriche zu machen. Anderes gilt im kollektiven Zusammenhang, in dem das Arbeitsverhältnis steht. Hier ist es nicht fair, wenn von zwei Arbeitnehmern immer nur einer am Freitagnachmittag freibekommt, oder nur der eine ein Urlaubsgeld erhält. Mit anderen Worten, die Verteilung freiwilliger Leistungen oder Vergünstigungen unter den Arbeitnehmern im Betrieb untersteht dem Maßstab fairer Verteilung. Die gesetzliche Grundlage dieses Maßstabs bildet wiederum § 242 BGB, der im kollektiven Zusammenhang eben genau diesen Sinn erhält.

3. Bestimmung von Billigkeit und Fairness durch Betriebsnormen Billigkeitsgrenze der Weisung und Fairnessmaßstab der Verteilung sind Be­ standteile jedes einzelnen Arbeitsverhältnisses. Das bedeutet, dass jeder Arbeit­ nehmer die Einhaltung beider Normen gerichtlich überprüfen lassen kann. Die gerichtliche Entscheidung jedoch wirkt grundsätzlich nur inter partes. Im Falle freiwilliger Leistungen entsteht dadurch eine Spannungslage. Gegen­ stand der gerichtlichen Beurteilung ist die Fairness einer Verteilungsregel, die allgemeine Anwendung im Betrieb findet. Die Entscheidung des gerichtlichen Spruchkörpers hat jedoch nur Wirkung im Arbeitsverhältnis des klagenden Arbeit­

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nehmers. Folgerichtig kann ein anderer Spruchkörper die Regel anders beurteilen. Im Ergebnis gilt im Betrieb keine einheitliche Verteilungsregel mehr, sondern die Arbeitsverhältnisse enthalten je unterschiedliche allgemeine Verteilungsregeln. Um diese Spannungslage aufzulösen, wird die gerichtliche Kontrolle des Fair­ nessmaßstabs ersetzt durch eine prozedurale Kontrolle. Diese besteht in dem Erfordernis, die Verteilungsregel zum Gegenstand einer Betriebsnorm zu ma­ chen. Sie kommt im Regelfall durch die Einigung mit dem Betriebsrat zustande (vgl. § 77 Abs. 2 BetrVG). Betriebsrat und Arbeitgeber setzen also eine Betriebs­ norm, die den Maßstab der fairen Verteilung der vom Arbeitgeber ins Auge ge­ fassten freiwilligen Leistung oder Vergünstigung für sämtliche Arbeitsverhält­ nisse im Betrieb verbindlich bestimmt. Erfolgt die Verteilung auf Grundlage einer solchen Betriebsnorm, dann gilt sie als fair. Sie kann nach richtiger Auffassung nicht mehr unter dem Maßstab der Fairness aus § 242 BGB vor Gericht zu Fall gebracht werden.32 Erfolgt hingegen eine Verteilung ohne Verteilungsregel auf betriebsnormativer Grundlage, gilt die Verteilungsregel als unfair. Damit wird nicht die Leistung oder die Vergünstigung unwirksam. Unwirksam wird nur die vom Arbeitgeber zugrunde gelegte Regel, die die Leistung oder die Vergünstigung einigen vorenthält. In der Folge muss die fragliche Leistung oder Vergünstigung nach fairem Maßstab gewährt werden.33 Im Falle der Weisungen ist die Kontrolle der Billigkeitsgrenze ebenfalls erst einmal den Gerichten überantwortet. Auch insoweit entscheiden die Gerichte frei­ lich nur mit Wirkung für das einzelne Arbeitsverhältnis, dessen Verpflichtungen Gegenstand der Klage bilden. Hier entsteht dann ein Problem, wenn die Weisungen zur Organisation des Arbeitsprozesses nur einheitlich erfolgen können. Denn auch dann kann es wieder vorkommen, dass die befassten Spruchkörper der Arbeits­ gerichtsbarkeit unterschiedlich entscheiden. Auf dieser Grundlage würde dann etwa hinsichtlich der Ordnung im Betrieb für jedes Arbeitsverhältnis eine andere gelten. Ein einheitlicher Arbeitsprozess ließe sich auf dieser Grundlage nicht organisieren. Die Lösung ist dieselbe wie im Falle der freiwillig gewährten Leistungen oder Vergünstigungen: Die gerichtliche Kontrolle der Grenze der Billigkeit wird ersetzt und stattdessen prozeduralisiert. Weisungen mit kollektivem Bezug gelten dann als billig, wenn sie kraft Einigung mit dem Betriebsrat die Gestalt von Betriebsnormen angenommen haben oder im Einzelfall auf der Grundlage einer entsprechenden Betriebsnorm ergehen. Die Betriebsnormen selbst oder die auf ihrer Grundlage ergangene Weisung im einzelnen Fall sind ihrerseits nicht mehr als Maßstab der Billigkeit zu kontrollieren. Ergeht jedoch eine Weisung, die einen kollektiven Be­ zug hat und sich nicht auf eine Betriebsnorm stützen kann, dann gilt die Weisung

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Gegen etwa BAG, Urteil v. 30. 1. 1970, in: AP BGB § 242 Nr. 142 Ruhegehalt. Sog. Theorie der relativen Unwirksamkeit, vgl. Erf.-Kommentar-Kania, § 87 BetrVG Rn. 136.

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als unbillig und ist darum von vorneherein unwirksam.34 Die Arbeitnehmer, die sie nicht befolgen, begehen keine Vertragsverletzung und erhalten gleichwohl ihre Vergütung. Gesetzliche Grundlage für den Erlass der vorstehenden Betriebsnormen ist § 87 Abs. 1 BetrVG. Er eröffnet den Abschnitt über die Mitbestimmung in „sozialen Angelegenheiten“, wobei das „soziale“ hier eben den kollektiven Zusammenhang akzentuiert, der notwendig für eine Vereinbarung von Betriebsnormen bestehen muss. In § 87 Abs. 1 BetrVG sind die Gegenstände aufgeführt, die der Grenze der Billigkeit oder dem Maßstab fairer Verteilung unterfallen. Die Ankervorschriften liefern § 87 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 10 BetrVG. Nummer 1, „Ordnung des Betriebs“, steht paradigmatisch für Weisungen, die mit Blick auf den kollektiven Zusam­ menhang, in dem das Arbeitsverhältnis steht, nur einheitlich ergehen können. Nummer 10, „betriebliche Lohngestaltung“, steht paradigmatisch für die Gewähr freiwilliger Leistungen, die innerhalb der Belegschaft verteilt werden sollen. Die übrigen Nummern in § 87 Abs. 1 BetrVG lassen sich ebenfalls dem ein oder an­ deren Feld zuordnen, dem Feld der Weisungen zur Arbeitsleistung oder dem Feld der freiwilligen Leistungen. Ein Streikrecht wie die Gewerkschaften benötigt der Betriebsrat nicht, es steht ihm darum auch nicht zu (§ 74 Abs. 2 BetrVG). Denn der Arbeitgeber muss sich, wenn er Weisungen mit kollektivem Bezug erteilen oder freiwillige Leistungen oder Vergünstigungen in der Belegschaft verteilen will, mit dem Betriebsrat an einen Tisch setzen und die entsprechenden Betriebsnormen ausmachen. Das gibt dem Betriebsrat die Macht, seine Zustimmung zu Betriebsnormen mit anderen Zu­ geständnissen zu verkoppeln. Doch das würde der Grundidee nicht gerecht, dass Arbeitgeber und Betriebsrat sich über die Billigkeit der Weisung oder die Fair­ ness der Leistung einigen sollen. Wenn es darum dem Arbeitgeber unsachgemäß vorkommt, dass der Betriebsrat eine Einigung verweigert, dann kann er die soge­ nannte Einigungsstelle anrufen (§ 87 Abs. 2 BetrVG). Der Spruch der Einigungs­ stelle ersetzt die Einigung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber (§ 87 Abs. 2 S. 2 BetrVG), er setzt ebenfalls eine Betriebsnorm in Geltung (vgl. § 77 Abs. 1 BetrVG).

4. Betriebsverfassungsgesetz als öffentliches Recht So erweisen sich Betriebsnormen, seien sie vereinbart oder von der Einigungs­ stelle ausgesprochen, als Zivilrecht: Es geht um die Artikulation und verbindliche Bestimmung von Billigkeit und Fairness (§ 242 BGB) im spezifisch kollektiven Zusammenhang, in dem ein Arbeitsverhältnis regelmäßig steht, soweit der Arbeit­ geber mehrere Arbeitnehmer unter Vertrag nimmt, um deren versprochene Leis­ tungen zu seinen Zwecken einzusetzen. Wenn der Arbeitgeber hingegen nur einen 34

Sog. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung, vgl. Erf.-Kommentar-Kania, § 87 BetrVG Rn. 136.

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oder sehr wenige Arbeitnehmer unter Vertrag nimmt, entfällt die Problematik der einheitlichen Konkretisierung von Billigkeit und Fairness. Entsprechend bezieht sich die gesetzliche Verpflichtung zur Bildung eines Betriebsrats nur auf Betriebe mit mindestens fünf Arbeitnehmern (vgl. § 1 Abs. 1 BetrVG). Die Artikulation der Maßstäbe von Billigkeit und Fairness erfolgt in Gestalt von Rechtsnormen. Denn Betriebsvereinbarungen bestimmen den Inhalt der Arbeits­ verhältnisse unmittelbar und zudem zwingend (§ 77 Abs. 4 BetrVG). Die Normen resultieren nicht aus Verfahren staatlicher Gesetzgebung, sondern das Betriebs­ verfassungsgesetz verleiht den Betriebsparteien, also Arbeitgeber und Betriebs­ rat, die entsprechende Autorität zur Normsetzung mit Reichweite für die Arbeits­ verhältnisse zwischen dem Arbeitgeber und sämtlichen Arbeitnehmern, die dem Betrieb zugeordnet sind. Dabei schafft das Betriebsverfassungsrecht einerseits die Institution des Be­ triebsrats und regelt entsprechend Wahlverfahren, sowie Amtszeiten und das in­ terne Organisationsrecht des Betriebsrats. Das Betriebsverfassungsrecht regelt darüber hinaus das Zustandekommen (§ 77 Abs. 2 BetrVG) und die Geltungsbe­ dingungen von Betriebsnormen (dazu gehört auch § 77 Abs. 3–6 BetrVG). Das Betriebsverfassungsrecht repräsentiert daher ebenfalls öffentliches Recht. Denn seine Regelungen entsprechen funktional den Regelungen für die Erzeugung und Geltung staatlicher Rechtsnormen.

5. Zwischenfazit Das Betriebsverfassungsrecht repräsentiert keine Demokratisierung der Arbeits­ welt und keine Milderung der Fremdbestimmung durch Mitbestimmung, oder was auch immer Schönes darüber gesagt wird. Die aus der Betriebsverfassung resultie­ renden Betriebsnormen sind Bestimmungen der Billigkeit der kollektiven Ordnung im Betrieb und der Fairness der Verteilung freiwilliger Leistungen und Vergüns­ tigungen. Die Anforderung von Billigkeit in dieser und Fairness in jener Frage ist kein freundliches Zugeständnis an die Arbeitnehmer, sondern resultiert aus den originär zivilrechtlichen Verpflichtungen des Arbeitgebers. Ihre Mit-Bestimmung durch den Betriebsrat verdankt sich allein dem Erfordernis, die Maßstäbe für alle betrieblich verbundenen Arbeitsverhältnisse einheitlich zu bestimmen.

VI. Schluss So zeigt sich, dass sich das gesamte Arbeitsrecht aus der zivilrechtlichen Lo­ gik entwickeln lässt, wenn diese nur richtig erkannt ist. Der Kündigungsschutz ist Ergebnis der Auslegung der Vertragserklärungen nach zivilrechtlichen Maß­ gaben. Die Tarifautonomie dient der Bestimmung des Wertes der Arbeit, den das Zivilrecht wie in jedem Austauschvertrag als bestimmt voraussetzt. Die Betriebs­

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verfassung dient der Bestimmung der zivilrechtlichen Kategorien von Billigkeit und Fairness im kollektiven Zusammenhang des Arbeitsprozesses. Keine Vielfalt, nirgendwo.

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Justizielle Vielfalt – Alternativen zur ordentlichen Gerichtsbarkeit im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik Peter Collin

I. Einleitung Vielfalt im Recht erschöpft sich nicht in einer Vielfalt des materiellen Rechts. Auch das Verfahrens- und das Organisationsrecht lassen sich aus der Diversitäts­ perspektive beobachten. In der Justiz verschränken sich diese unterschiedlichen normativen Ebenen, sie bilden ein Arrangement. Justizielle Vielfalt wird meist in Mittelalter und Früher Neuzeit und in der Gegenwart eher in transnationalen Rela­ tionen1 oder in Ländern der Dritten Welt verortet, im letzten Fall auch als judicial pluralism bezeichnet.2 Aber gibt es Vielfalt im Recht der Justiz auch in modernen westlichen Gesellschaften? Bei der Beantwortung dieser Frage konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf Deutschland und auf jene Zeit, die auf den ers­ ten Blick eigentlich als die Hochzeit eines judicial monism erscheint: das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, jene Zeit, in der sich – seit den 1870er Jahren – mit der Rechtseinheit auch die Justizeinheit etabliert hatte und das staatliche Rechts­ setzungs- und Justizmonopol unangefochten schien. Bevor jedoch näher darauf eingegangen wird, soll ein bestimmtes Verständnis von justizieller Vielfalt vorgestellt werden, welches den folgenden Ausführungen zugrunde liegt. Justizielle Vielfalt bedeutet nicht nur eine Vielfalt der Justizinsti­ tutionen im Hinblick auf ihre organisatorische Verfasstheit, sondern auch Diver­ sität in Bezug auf ihre Verfahren und ihre Entscheidungsrationalitäten, wobei zu letzteren nicht materiellrechtliche Entscheidungsnormen gezählt werden, sondern auch eher abstrakt gefasste Leitlinien, die sich beispielsweise hinter solchen Stich­ worten wie „Güte“, „Billigkeit“, „Angemessenheit“ oder hinter bestimmten Rich­ terleitbildern3 verbergen. Dies weist auf einen zweiten Aspekt hin, der in diesem Zusammenhang wichtig erscheint: Justizielle Vielfalt muss nicht nur Vielfalt des geschriebenen Rechts bedeuten. Sie kann sich auch verbinden mit nicht oder nur sehr unvollständig positiv-rechtlich fixierten Vielfaltsfaktoren, also, wie erwähnt, diversen Richterleitbildern, aber auch rechtlich nur teilweise erfassbaren Verfah­ 1

Siehe nur Berman. Schuppert, S. 84 ff. 3 Dazu Kauffmann. 2

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rensstilen, verschiedenen Formalitätsgraden, Professionalitätsverständnissen und unterschiedlichen Abstufungen sozialer Nähe oder Ferne zwischen den Betei­ ligten.4 Schließlich die dritte Vorbemerkung: Vielfalt lässt sich in verschiedener Weise beobachten. Zum einen, indem die ordentliche Gerichtsbarkeit als Kontrast­ folie gewählt wird, zum anderen indem man die gewissermaßen interne Vielfalt des Feldes außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit auslotet. Geht man davon aus, dass Vielfalt sich erst über Unterschiede konstituiert, lassen sich dabei aber auch schwächere oder stärkere Ausprägungen von Vielfalt ausmachen, eben weil die Unterschiede schwach oder stark ausgeprägt sein können. Dies vorangestellt, soll im Folgenden die justizielle Vielfalt in der Formations­ phase des modernen deutschen Justizstaats, im späten 19. und frühen 20. Jahr­ hundert, vorgestellt werden.5 Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt dabei auf dem Zivilprozess.

II. Ausgangslage Wie aber war überhaupt die Ausgangslage? Das alte Reich vor 1800 war be­ kanntlich ein Raum der Rechtsvielfalt6 – nicht nur im materiellen Recht, sondern auch im Hinblick auf die Institutionen und Verfahren. Die Verfahrensordnungen unterschieden sich von Land zu Land, teilweise sogar von Gericht zu Gericht, von den Verfahrensregeln und -usancen der Kaufmanns-, der Handwerks-, der Aus­ trägalgerichte, der dörflichen oder der kirchlichen Gerichte ganz abgesehen. Zwar gingen vom gemeinen Recht, auch vom gemeinen Verfahrensrecht, vereinheit­ lichende Effekte aus, jedoch stellte das gemeine Verfahrensrecht keine der ZPO vergleichbare Verfahrenskodifikation dar. Vielmehr handelte es sich um eine Ge­ samtheit von Regeln und Doktrinen, die in der innerdeutschen Staatenvielfalt über­ dies ganz unterschiedliche Ausprägungen erfuhr, weil das Partikularrecht noch in Betracht zu ziehen war.7 Auch mit Anbruch der Moderne ab Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich daran zunächst nicht viel. Zwar verschwanden mit der ständischen Ordnung auch zahlreiche ständische Justizprivilegien und ständische Justizeinrichtungen, aber es existierte weiterhin eine bunte institutionelle Vielfalt – so in Preußen (nach einer Aufstellung von 1833) neben den ordentlichen Gerichten: katholische geistliche Gerichte, jüdische Rabbiner und Älteste, akademische Senate, Französische und 4 Letzterer Aspekt wurde früher öfter unter dem Stichwort „Klassenjustiz“ thematisiert, spielt aber in Deutschland heute keine dominante Rolle mehr, Machura, S. 419; Kocher, S. 157 f. In der Vergangenheit war er jedoch sehr wohl prägend; siehe nur Hodenberg, S. 215 ff.; Bernhardt, S. 376 ff. 5 Hierzu auch schon, allerdings mit dem Schwerpunkt auf drei Referenztypen und deren Entscheidungsmodi, Collin (2016). 6 Oestmann (2002). 7 Nörr, S. 11.

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Pfälzer Koloniegerichte, das Münzgericht bei der General-Münzdirektion, das Porzellan-Manufakturgericht, natürlich Militärgerichte, Patrimonialgerichte etc.8 Das Verfahrensrecht driftete sogar noch weiter auseinander, wenn man darauf ab­ stellt, dass das gemeine Recht als einigendes Band wegfiel9; ohnehin brach mit der Auflösung des Reichs auch jede – wenn auch noch so eingeschränkte – Möglich­ keit einer auf einheitliche Normbildung orientierenden höchstrichterlichen Recht­ sprechung weg.10 Nunmehr hatte man es grob gesagt mit drei kaum vereinbaren Verfahrensmodellen zu tun: dem französischen Verfahren als Parteiverfahren mit starkem Mündlichkeitsprinzip (vor allem in den Rheinlanden)11, dem gemeinrecht­ lichen Prozess als schriftlichem Parteiprozess und dem Verfahren nach der preu­ ßischen Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793, das von der Instruk­tionsmaxime beherrscht wurde.12 Diese Verfahrensdiversität ließ sich auch innerhalb von deut­ schen Einzelstaaten, wie Preußen, antreffen, in denen aufgrund der französischen Besetzung, territorialer Erwerbungen oder anderer Gebietsverschiebungen unter­ schiedliche Rechtsräume entstanden waren. Der Ruf nach Rechtseinheit war vordergründig ein Ruf nach einer gesamtdeut­ schen Verfahrensordnung, die die territorialstaatliche Zersplitterung überwand.13 Aber er war letztlich mehr – es ging um die Schaffung einer allgemeinen Rechts­ ordnung auf dem Gebiet des Zivilverfahrens, die sich – stark vereinfacht – durch folgende Merkmale auszeichnete: Erstens ging es natürlich um Egalisierung in territorialer Hinsicht (mit den Worten von Michael Stolleis kann man auch sagen: „innere Reichsgründung“14). Zweitens strebte man nach Egalisierung in perso­ neller Hinsicht; besondere Gerichtsstände für bestimmte Personen oder Gruppen sollten beseitigt werden. Drittens zielten die Forderungen auf Egalisierung in subs­ tantieller Hinsicht: Für ein Problem sollte es nur eine Lösung geben, keine Sonder­ regeln.15 Viertens ging es in der Konsequenz auch um Egalisierung in organisa­ torischer Hinsicht, also um institutionelle Vereinheitlichung, was Gerichtstypen und Rechtszüge betraf. Und schließlich hat man es – in gewisser Hinsicht beglei­ tend – mit einer Wissenschaft zu tun, die insofern auf Vereinheitlichung drängte, als sie system- und prinzipiengelenkt war. Sonderregeln wurden akzeptiert, pass­ ten aber nicht in dieses vom Systemgedanken getragene Recht hinein. Sie waren 8

Duesberg. Ahrens, S. 1. Dies gilt für den Zivilprozess. Für den Strafprozess wird nach 1848 trotz unterschiedlicher Landesgesetzgebung eine weitgehende Rechtseinheit (die damit das Ende des gemeinrechtlichen Prozesses überdauerte) konstatiert, nämlich in Gestalt des einheitlich anerkannten Prinzipien folgenden reformierten Strafprozesses, Koch, S. 543. 10 Maultzsch, S. 37. 11 Was die praktische Durchführung des Mündlichkeitsprinzips betrifft, werden neuestens jedoch Zweifel angemeldet. Denn die Anwälte beschränkten sich in vielen Fällen darauf, vor­ formulierte Schriftsätze vorzulesen, Oestmann (2019), S. 139. 12 Dahlmanns, S. 2647 ff. 13 Ahrens, S. 2 f. 14 Stolleis (2011). 15 Grundsätzlich zu dieser Egalisierungstendenz von Kodifikationen Kroppenberg, S. 1918 f. 9

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in diesem wissenschaftlichen Sinne kein Recht, sondern Politik, Fremdkörper im elegant aufgebauten System.16 In gewisser Weise schien die Reichsjustizgesetzgebung der 1870er Jahre die Verwirklichung dieses Konzepts einer allgemeinen Rechtsordnung zu sein. Das Gerichtsverfassungsgesetz verstaatlichte die Justiz endgültig und beseitigte die letzten Reste der Privatgerichtsbarkeit.17 Gerichte im gerichtsverfassungsrecht­ lichen Sinne waren nur noch jene Gerichte, aus denen sich heute die ordentliche Gerichtsbarkeit zusammensetzt. Einzige echte Ausnahme im Sinne einer daneben bestehenden Fachgerichtsbarkeit waren die Gewerbegerichte, also die frühen Arbeitsgerichte.18 Verwaltungsgerichte waren als besondere Gerichte zwar an­ erkannt, aber nicht im Gerichtsverfassungsrecht des Reiches geregelt. Das war Ländersache; obendrein existierte bei Inkrafttreten des GVG nur in wenigen Län­ dern verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz.19 Zugleich aber muss der Befund lauten, dass recht bald nach der Reichsjustizge­ setzgebung Pluralisierungstendenzen einsetzten. Dies geschah nicht in der Form, dass die vom GVG und der ZPO errichtete Architektur abgerissen wurde, vielmehr wurde – um in diesem Bilde zu bleiben – der imposante Bau durch zahlreiche An­ bauten erweitert oder mit Nebenbauten umgeben. Dies soll nicht chronologisch nachgezeichnet, sondern anhand verschiedener Pluralisierungsdimensionen ver­ deutlicht werden.

III. Dimensionen der Vielfalt 1. Pluralisierung der Organisationslandschaft Zunächst hat man es mit einer Pluralisierung der Organisationslandschaft zu tun. Es entstanden neue Gerichte oder gerichtsähnliche Gremien. Den Anfang machten durchaus unterschiedliche Einrichtungen der arbeitsrechtlichen Konflikt­ lösung, die 1890 in eine reichseinheitliche Gewerbegerichtsbarkeit umgewandelt wurden.20 Etwa zur gleichen Zeit entstanden im Zuge der Sozialgesetzgebung 16

Haferkamp, S. 232 f., wobei er darauf hinweist, dass im Denken Savignys und Puchtas zwischen solchem Sonderrecht unterschieden wurde, welches – mit einiger Anstrengung – in das allgemeine Recht integriert werden konnte, und solchem, bei dem dies nicht möglich war. 17 § 15 GVG 1877. 18 Allerdings wurden diese erst etliche Jahre nach Inkrafttreten des GVG, nämlich mit dem Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte, vom 29. Juli 1890 (RGBl. S. 141) geschaffen. Weitere Ausnahmen, die aber nur von partikularer Bedeutung waren, waren die auf Staatsverträgen beruhenden Rheinschifffahrts- und Elbzollgerichte, Gerichte für Ablösestreitigkeiten im Agrar­sektor und in einigen Ländern Gemeindegerichte in Sachen mit geringem Streitwert, § 14 GVG 1877. 19 Dazu jetzt ausführlich mit Überblicken zu den einzelnen deutschen Ländern Sommermann / Schaffarzik. 20 Siehe für einen Überblick Zimmermann.

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Schiedsgerichte für die Berufsunfall- und die Alters- und Invaliditätsversiche­ rung.21 Ebenfalls noch in der Schlussphase des 19. Jahrhunderts wurden die Anwälte22 und Ärzte23 sowie die Börsen24 mit Ehrengerichten ausgestattet. Für die neuen großen öffentlich-rechtlichen Wassergenossenschaften wurden ebenso Schiedsgerichte geschaffen25 wie für die mit der Industrialisierung rasant zu­ nehmenden Bergbauschadensfälle.26 Im Ersten Weltkrieg entstanden unzählige Schiedsgerichte der Kriegswirtschaft.27 Ebenfalls im Krieg, aber in der Weimarer Republik weiterwirkend, wurden Mieteinigungsämter errichtet, die einen großen Teil der Mietstreitigkeiten auf sich zogen.28 Es folgten Pachteinigungsämter29, Ei­ nigungsstellen für die Anpassung von Energiepreisen30 und Schiedsgerichte für Beförderungspreise31; 1923 wurde für die gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen eine zweistufige Eigengerichtsbarkeit eingerichtet.32 – Dies ist nur eine unvollständige Aufzählung, vor allem umfasst sie nicht die freiwillige private Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit, die seit Ende des 19. Jahrhunderts im­ posante Ausmaße angenommen hatte und vor allem bei Handelskammern, aber auch bei Verbänden angesiedelt war.33 Die oben genannten Schiedsgerichte waren gesetzlich vorgeschriebene, in der Regel Zwangsschiedsgerichte, hatten also nicht viel mit der Schiedsgerichtsbarkeit nach dem 10. Buch der ZPO zu tun. Organisatorische Pluralisierung erschöpfte sich aber nicht in der Entstehung neuer Einrichtungen. Diese waren in ihrer Binnenverfassung keine Spiegel­bilder der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern wiesen im Hinblick auf die interne Or­ ganisation Merkmale auf, die sie von jener erheblich unterschieden. Dies betraf vor allem die personelle Besetzung. Für die allermeisten der oben genannten Orga­ nisationen galt, dass das professionelle juristische Element zurücktrat. In etlichen Fällen finden sich staatlich ernannte Vorsitzende mit Befähigung zum Richteramt, aber durchaus nicht in allen. Fast durchgehend war die Beisitzerbank mit Laien 21

Knörr; Ayaß (2016). §§ 62 ff. Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 (RGBl. S. 177). 23 Gesetz, betreffend die ärztlichen Ehrengerichte, das Umlagerecht und die Kassen der Ärztekammern, vom 25. November 1899 (Preußische Gesetz-Sammlung S. 565). 24 §§ 9 ff. Börsengesetz vom 22. Juni 1896 (RGBl. S. 157). 25 § 56 Ziffer 11 Gesetz, betreffend die Bildung von Wassergenossenschaften vom 1. April 1879 (Preußische Gesetz-Sammlung S. 297), verpflichtete die Genossenschaften zur satzungs­ mäßigen Einrichtung von Schiedsgerichten. 26 Daubenspeck. 27 Überblick bei Collin (2019). 28 Pitzer; Führer (2012). 29 Pachtschutzordnung vom 9. Juni 1920 (RGBl. S. 1193). 30 Verordnung über die schiedsgerichtliche Erhöhung von Preisen bei der Lieferung von elektrischer Arbeit, Gas und Leitungswasser vom 1. Februar 1919 (RGBl. S. 135). 31 Verordnung über die schiedsgerichtliche Erhöhung von Beförderungspreisen der Eisen­ bahnen, Kleinbahnen (Lokalbahnen usw.), Straßenbahnen und Anschlußbahnen vom 21. Fe­ bruar 1920 (RGBl. S. 255). 32 §§ 10 ff. Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30. Oktober 1923 (RGBl.  I S. 1051). 33 Gal. 22

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besetzt, die entweder – bei organisationsinternen Gerichtsbarkeiten – den jeweili­ gen Organisationen entstammten oder bei Konfliktkonstellationen mit Gruppenbe­ zug meist paritätisch den sich gegenüberstehenden Gruppen entnommen wurden: Mieter / Vermieter, Hersteller / Verbraucher, Arbeitgeber / A rbeitnehmer, Hersteller / ​ Lieferanten, Ärzte / K rankenkassen usw. Weiter zur organisatorischen Pluralisierung gehört die Einbindung in Kontrollund Instanzenzüge. So könnte man von einer schwachen Pluralisierung sprechen, wenn die Judikate der genannten Einrichtungen in höherer Instanz von der or­ dentlichen Gerichtsbarkeit hätten überprüft werden können, sie also sozusagen in den Raum der einheitlichen Justiz zurückgeführt werden konnten. Aber das war kaum der Fall. An sich könnte man zwar die Gewerbegerichte dazu zählen, über deren Judikate in höherer Instanz die ordentlichen Gerichte zu befinden hatten.34 Wegen der (für damalige Zeiten) hohen Rechtsmittelstreitwerte35 kam allerdings kaum ein Fall über die erste Instanz hinaus.36 Mehr noch, da nur einige dieser Einrichtungen über eine zweite Instanz verfügten37, konnte sich in vielen Fällen auch intern keine einheitliche Rechtsprechung herausbilden. Man hat es hier also noch mit einer Binnenpluralisierung zu tun. Mannigfaltig war schließlich auch die organisatorische Anbindung, womit nicht nur die Ansiedlung auf Reichs- oder Länderebene gemeint ist. Manche dieser Ge­ richte wurden bei öffentlichen Körperschaften, wie den Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung oder Wassergenossenschaften, angesiedelt, andere waren kommunale Einrichtungen, wie die Gewerbegerichte. Die Schiedsgerichte der Kriegswirtschaft waren teilweise als besondere Abteilungen des Reichschieds­ gerichts für Kriegsbedarf organisiert38, andere waren behördlichen Reichsver­ teilungsstellen zugeordnet39, andere wurden wiederum als separate Gremien auf territorialer oder kommunaler Ebene eingerichtet.40 34 Eine eigenständige mehrstufige Fachgerichtsbarkeit (Arbeitsgerichte, Landesarbeitsge­ richte, Reichsarbeitsgericht [wenn auch nur in Form eines besonderen Senats bei Reichsge­ richt]) wurde erst 1927 geschaffen. 35 § 55 Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte, vom 29. Juli 1890 (RGBl. S. 141): 100 Mark. Dies entsprach um die Jahrhundertwende fast dem Doppelten eines monatlichen Arbeiter­ lohnes. 36 Rudloff / Vogt, S. 68. 37 Über eine zweite Instanz verfügten insbesondere die berufsständische und Börsenehren­ gerichtsbarkeit und die Schiedsgerichtsbarkeit der Unfall- und Invaliditäts- und Altersversi­ cherung (Reichsversicherungsamt). 38 So z. B. das Schiedsgericht für die Kohlenverteilung, § 1 Anordnung über das Schieds­ gericht für die Kohlenverteilung vom 21. März 1917 (RGBl. S. 250). 39 So z. B. das Schiedsgericht für Dörrgemüse bei der Reichsstelle für Gemüse und Obst, § 1 Bekanntmachung der Kriegsgesellschaft für Dörrgemüse m. b. H. über den Absatz von Dörrgemüse vom 1. Februar 1917 – Schiedsgerichtsordnung für Streitigkeiten aus der Liefe­ rung von Dörrgemüse – (Reichsanzeiger Nr. 30, auch abgedruckt bei Güthe / Schlegelberger, S. 707–708). 40 So die Schiedsgerichte zur Höchstpreisregulierung, § 5 Bekanntmachung betreffend Ein­ wirkung von Höchstpreisen auf laufende Verträge vom 11. November 1915 (RGBl. S. 758).

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2. Pluralisierung des Verfahrens Kommt man nun zum Verfahren und dessen Pluralisierung, lässt sich dieses jedenfalls teilweise im Kontrast zum normalen Zivilprozess beschreiben. Allge­ mein lässt sich sagen, dass es weitgehend an einer umfassenden und dichtmaschi­ gen Steuerung durch Prozessregeln fehlte. Die gesetzlichen Vorgaben kamen meist nicht über ein Dutzend Paragraphen hinaus.41 Dies wurde auch nicht durch Ver­ weise auf die ZPO (im Übrigen auch nicht auf die Vorschriften über das Schiedsge­ richt im 10. Buch der ZPO42) ausgeglichen. Wenn solche Verweise erfolgten, dann in der Regel nur in Bezug auf bestimmte Beweismittel und die Vollstreckung43, eine umfassende Bezugnahme findet sich lediglich bei den Gewerbegerichten44. Die Verfahrensordnungen der Schiedsgerichte der Sozialversicherung enthielten lediglich punktuelle Bezugnahmen auf die ZPO45; ansonsten stand man dem Rück­ griff auf allgemeine Grundsätze der ZPO zum Teil skeptisch gegenüber46, zum Teil bejahte man ihre Geltung, aber nur, wenn sie als Ausdruck „allgemeiner Rechts­ ansichten“ begriffen werden konnten – und dies auch nur dann, wenn sich daraus kein Konflikt mit der Grundausrichtung des Schiedsgerichtsverfahrens ergab.47 Doch unabhängig davon, in welchem Maße man das Zivilprozessrecht in die Verfahrensregularien der neuen Sondergerichte integrierte  – fast durchgängig kann man sagen, dass die neuen Verfahrensformen in grundsätzlich anderer Weise prinzipiengeleitet waren; hier kommt die Distanz zum ordentlichen Zivilverfahren auch im stärksten Maße zum Ausdruck. Verkürzt gesagt: An die Stelle von Par­ teibetrieb und Verhandlungsgrundsatz traten Amtsbetrieb und Amtsermittlungs­ grundsatz. Dies bedeutete nicht, dass die Parteien das Verfahren nicht mit ihren 41 Eine Ausnahme bildete die Gewerbegerichtsbarkeit. Das Gesetz, betreffend die Gewer­ begerichte, vom 29. Juli 1890 (RGBl. S. 141) umfasste 84 Paragraphen. 42 Die einzigen mir bekannten Fälle, in denen die Anwendung der Bestimmungen des 10. Buchs der ZPO vorgeschrieben wurde, betreffen Schiedsgerichte für Energielieferungen nach § 74 Abs. 5 der Kohlensteuer-Ausführungsbestimmungen des Bundesrats vom 12. Juli 1917 (ZBl. S. 166) sowie Schiedsgerichte für die Erhöhung der Beförderungspreise (§ 4 Ver­ ordnung über die schiedsgerichtliche Erhöhung von Beförderungspreisen der Eisenbahnen, Kleinbahnen (Lokalbahnen usw.), Straßenbahnen und Anschlußbahnen vom 21. Februar 1920 (RGBl. S. 255)). 43 So für die zahlreichen Schiedsgerichte der Kriegswirtschaft Kahn, S. 66, 69 f. 44 § 24 Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte, vom 29. Juli 1890 (RGBl. S. 141): „Auf das Verfahren vor den Gewerbegerichten finden, soweit im Nachstehenden nicht besondere Be­ stimmungen getroffen sind, die für das amtsgerichtliche Verfahren geltenden Vorschriften der Civilprozeßordnung entsprechende Anwendung.“ 45 §§ 3, 17 Verordnung über das Verfahren vor den auf Grund des Unfallversicherungsgeset­ zes errichteten Schiedsgerichten vom 2. November 1885 (RGBl. S. 279); §§ 3, 17 Verordnung, betreffend das Verfahren vor den auf Grund des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes errichteten Schiedsgerichten vom 1. Dezember 1890 (RGBl. S. 193); §§ 4, 18 Verordnung, be­ treffend das Verfahren vor den Schiedsgerichten für Arbeiterversicherung vom 22. November 1900 (RGBl. S. 1017). 46 Schneider, S. 17 f. 47 Appelius / Düttmann, S. VII.; Landmann / Rasp / Graßmann, S. 577.

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eigenen Anträgen beeinflussen und durch eigenes Vorbringen zur Herstellung der Tatsachengrundlage beitragen konnten. Aber die Entscheidungen über den Ablauf des Verfahrens, die sich Parteien und Richter nach der Reichszivilprozessordnung teilten48, waren weitgehend den Parteien entzogen. Und vor allem war die Beweis­ erhebung in starkem Maße der Initiative des Gerichts überlassen. Dies geschah nicht einheitlich und zum Teil mit Verzögerungen.49 Insgesamt kann man aber von einem Paradigmenwechsel sprechen. Hinzu kam – und dies war im Hinblick auf die Justiznutzer von Belang –, dass sich der nur teilweise rechtlich zu regulierende Verfahrensstil erheblich von dem der ordentlichen Justiz unterschied. Freilich lässt sich dies nur schwer erfassen, weil man sich dabei nicht auf normative Quellen als Informationsgrundlage stüt­ zen kann. Aber soweit Berichte vorliegen – vor allem für die Gewerbegerichts­ barkeit und die Schiedsgerichte der Sozialversicherung50 – deutet doch vieles auf ein eher sehr unkompliziertes, teilweise hemdsärmeliges Prozedere hin, welches Berührungsängste abbaute und die Suche nach pragmatischen Lösungen förderte oder zumindest fördern sollte. Fasst man all dies zusammen, scheint in dieser Pluralisierung des Justizsystems gleichzeitig ein Trend zur Vereinheitlichung auf. Gemeinsame Merkmale sind: Zurückdrängung von Parteibetrieb und Verhandlungsmaxime, stärkere Richter­ macht, Prinzip der materiellen statt formellen Wahrheit, unkomplizierteres, oft auch schnelleres Prozedere, geringere Bedeutung der Rechtsanwälte. Greift man diese Stichworte auf und überträgt sie auf die zivilprozessrechtliche51 bzw. jus­ tizpolitische52 Reformdebatte, gelangt man in der Tat zu einem Einheitsmodell, welches sowohl geltendes Recht als auch Folie für Reformvorstellungen war: die österreichische Zivilprozessordnung von 1895, die dem Konzept des Prozesses als 48 Nörr, S. 126 f. Im Einzelnen zur Verteilung der Entscheidung über Fristen, Termine, La­ dungen und Zustellungen Damrau, S. 6 ff. 49 So enthielten die Verfahrensregeln der Schiedsgerichte der Unfallversicherung noch keine Regelungen zur amtswegigen Beweiserhebung. Eine solche Befugnis des Richters gründete sich zunächst nur auf Bescheiden des Reichsversicherungsamtes. Dies wies darauf hin, dass die Tätigkeit des Schiedsgerichts „auf Ergründung materieller Wahrheit abzielt und daher nicht bloß auf freier Würdigung des von den Parteien beschafften Beweismaterials, sondern auch auf dem Recht und der Pflicht freiester Berücksichtigung alles dessen beruht, was zur thatsächli­ chen Aufklärung dienlich ist.“ Rundschreiben des Reichsversicherungsamtes vom 2. Juli 1887, Amtliche Nachrichten 1888, S. 235, Nr. 2, teilweise abgedruckt bei und zitiert nach Frankenberg (1895), S. 572 f. Erst mit der Novellierung des Verfahrensrechts wurde eine ent­sprechende aus­ drückliche Regelung geschaffen, § 17 Verordnung, betreffend das Verfahren vor den Schieds­ gerichten für Arbeiterversicherung vom 22. November 1900 (RGBl. S. 1017): „Das Gericht hat den zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweis in vollem Umfange zu erheben, ohne Rücksicht darauf, ob dieser Beweis von den Parteien angetreten worden ist oder nicht.“ 50 Ayaß (2014), S. 270; Vogt, S. 149 ff., 275 ff. Ich danke Herrn Vogt für die Überlassung des Manuskripts und die Erlaubnis, die dort dokumentierten Forschungsergebnisse für die Er­stellung dieses Aufsatzes heranzuziehen. 51 Dazu vor allem Damrau, insb. S. 91 ff. 52 Dazu Wilhelm, S. 432–437.

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„Wohlfahrtseinrichtung“ folgte53 und für die Abkehr vom bisherigen klassischen liberalen Prozessmodell französischer Prägung stand.54 Allerdings lässt sich die­ ses neue Modell der ordentlichen Gerichtsbarkeiten nicht ohne weiteres mit dem Phänomen der hier beschriebenen Sondergerichtsbarkeiten zur Deckung bringen. Denn für diese spielte – trotz der Debatten um „freie Rechtsfindung“ und „Recht und Wirtschaft“55, welche auch auf die Änderung der materiellen Entscheidungs­ maßstäbe abzielten – die Frage der (diversen) materiellen Entscheidungsrationa­ litäten eine ganz andere Rolle als für die ordentlichen Zivilgerichte.

3. Pluralisierung der materiellen Entscheidungsrationalitäten Zunächst ist eine Vielfalt des materiellen Gesetzesrechts zu konstatieren. Ver­ kürzt gesagt: Die hier behandelten Gerichte operierten nicht auf der Basis eines gemeinsamen Kodex, also des BGB oder – vorher – der landesrechtlichen Zivil­ rechtskodifikationen bzw. des gemeinen Privatrechts, sondern auf der Grundlage von Spezialrecht. Das bedeutet nicht, dass das allgemeine Recht nicht auch he­ rangezogen werden konnte. Aber die zentralen Entscheidungsnormen stammten meist aus anderen Quellen. Eine Ausnahme scheint auf den ersten Blick die Gewerbegerichtsbarkeit zu sein, in der über arbeitsrechtliche Konflikte entschieden wurde. Hier lag die Ein­ schlägigkeit des Dienstvertragsrechts des BGB als maßgebliche Rechtsquelle nahe. Allerdings galt dies nur teilweise. Daneben traten das für die gewerblichen Arbeiter geschaffene Arbeitsrecht der Gewerbeordnung, spezielles Landesrecht für bestimmte Berufsgruppen, Ortsgebräuche, noch lange weiterwirkende „zünftige Standards“56 und zunehmend auch Tarifverträge.57 Noch stärker hervor tritt der Sonderordnungscharakter des materiellen Rechts bei den Schiedsgerichten der So­ zialversicherung, für die die Bestimmungen des Unfall- und Rentenversicherungs­ rechts maßgeblich waren. Die Schiedsgerichte der Kriegswirtschaft entschieden fast ausschließlich über Preiskonflikte bei bestimmten Produktgruppen, wobei hierfür die einschlägigen speziellen kriegswirtschaftlichen Regelungen galten. Die Mieteinigungsämter judizierten nicht – wie angenommen werden könnte – auf der Basis des BGB-Mietrechts, sondern ausschließlich nach „billigem Ermessen“.58 Der letzte Fall verweist schon darauf, dass auch nichtgesetzliche Entscheidungs­ maßstäbe zum Tragen kommen konnten bzw. das Gesetz über sich hinauswies. 53

Klein. Dies als europäischen Trend verdeutlichend Heirbaut. 55 Heine, S. 127 ff. 56 Brand, S. 151. 57 Vogt, S. 246. 58 § 3 Abs. 1 Bekanntmachung zum Schutz der Mieter vom 26. Juli 1917 (RGBl. S. 659): „Das Einigungsamt entscheidet nach billigem Ermessen.“ Ab 1919 kam es allerdings zum Er­ lass erster gesetzlicher Richtlinien, die den Entscheidungsspielraum der Mieteinigungsämter einengten; siehe dazu Führer (1995), S. 127 ff. 54

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Blickt man zunächst auf die Normhierarchie, fällt der hohe Stellenwert unterge­ setzlichen Rechts (hier im Sinne von Recht unterhalb des Parlamentsgesetzes) bei den Kriegswirtschaftsschiedsgerichten auf: Sie entschieden fast ausschließlich auf der Basis von Verordnungsrecht. Im Falle der Schiedsgerichte für die An­ passung der Energie- und Gaspreise waren ministerielle Leitlinien maßgeblich.59 Für die Schiedsämter der gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassen und Kassenärzten waren Richtlinien halbamtlicher Ausschüsse die wichtigste Entscheidungsgrundlage.60 Schließlich tritt der Gesichtspunkt der „Billigkeit“ hervor. Im modernen kon­ tinentaleuropäischen Rechtsdenken ist Billigkeit keine normative Vorgabe für den Regelfall, sondern auf die Ausnahme zugeschnitten. Denn an sich soll das abstrakte, für eine Vielzahl von Fällen vorgesehene allgemeine Recht eine ge­ rechte Lösung garantieren. Billigkeit soll nur da zum Einsatz kommen, wo dies ausnahmsweise nicht möglich ist, weil der Einzelfall allzu stark von der für die allgemeine Regel unterstellten Konstellation abweicht61, oder etwas abgemildert ausgedrückt: Billigkeit sollte ausdrücken, was im konkreten Einzelfall als richtig zu gelten hatte.62 Insofern ist Billigkeit auch der allgemeinen Justiz nicht fremd und in diesem Zusammenhang wurde sie – gerade im Kontext der Freirechtsdebatte – auch diskutiert.63 Im Unterschied zur allgemeinen Justiz kann man aber  – ver­ kürzt und zugespitzt – sagen, dass bei der hier behandelten Sondergerichtsbarkeit Billigkeit nicht als Regel für den Ausnahmefall, sondern als Regel für den Regel­ fall zum Tragen kam.64 Allerdings handelte es sich weder in jedem Fall um eine ausdrücklich gesetzlich vorgeschriebene Billigkeit, wie – wie eben gesehen – bei den Mieteinigungsämtern, noch handelte es sich um eine konturenlose Billigkeit. Vielmehr ist zu unterscheiden: Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die rechtsnormativen Anknüpfungs­ punkte für Billigkeit durchaus unterschiedlicher Natur waren. So kann man für die Schiedsgerichte der Kriegswirtschaft festhalten, dass diese sich bei Preisstreitig­ keiten zunächst an durch Gesetz oder administrative Richtlinien vorgeschriebene Preisgrenzen zu halten, in diesem Rahmen aber nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden hatten. Zum Teil wurde dies in der Weise spezifiziert, dass auf 59 § 3 Verordnung über die schiedsgerichtliche Erhöhung von Preisen bei der Lieferung von elektrischer Arbeit, Gas und Leitungswasser vom 1. Februar 1919 (RGBl. S. 135); Richtlinien vom 27. Juni 1922 (Reichsanzeiger Nr. 148) (auch abgedr. bei Ziekursch / Kauffmann, S. 11 ff.). 60 § 12 Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30. Oktober 1923 (RGBl. I S. 1051). 61 Rybarz, S. 11. 62 Die Einzelfallbezogenheit der Billigkeit im zeitgenössischen Schrifttum wird zum Bei­ spiel betont bei Oertmann, S. 18; Matthiaß, S. 17. Als „häufigste“ Auffassung bezeichnet von Rümelin, S. 20. 63 Siehe vor allem Brie, sowie die ebenfalls in demselben Band abgedruckten weiteren Re­ ferate und die Diskussion. 64 Wobei dies in der Perspektive der Gesamtrechtsordnung wieder einen Ausnahmefall darstel­len würde, Brie, S. 529 („Ausnahmen für gewisse Kategorien von Personen und Ver­ hältnissen“).

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die Angemessenheit des Gewinns abgestellt wurde.65 Teilweise stellte man auf die angemessene Berücksichtigung der Interessen anderer Beteiligter ab, so bei den zwangskartellierten Brauereibetrieben, deren Schiedsgerichte über die Wie­ deraufnahme eines zeitweise entzogenen Lieferungsrechts zu entscheiden hatten: Die Reanimierung des Lieferverhältnisses konnte die betreffende Brauerei dann nicht verlangen, wenn dies dem Kunden „billigerweise nicht zugemutet werden“ konnte.66 Bei den Preisschiedsgerichten für Energie und Wasser sowie für Beför­ derungspreise galt, dass eine Vertragsänderung dann verlangt werden konnte, „wenn und insoweit infolge der Kriegsverhältnisse die Höhe der Selbstkosten seit der Zeit der letzten Preisvereinbarung so gewachsen ist, daß das Anwachsen bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht vorauszusehen war, und daß billigerweise die Tragung der Mehrkosten dem Lieferer allein nicht zu­ gemutet werden kann“. Hierüber war „unter Abwägung der Interessen aller Be­ teiligten“ zu befinden.67 Dass Billigkeitsmoment spielte selbst bei solchen Schiedsgerichten eine Rolle, wo es nicht nur an einer entsprechenden Vorschrift fehlte, sondern sogar ausdrück­ lich darauf hingewiesen wurde, dass es – im Unterschied zu den normalen Schieds­ gerichten – nicht gelten konnte, sondern nur nach Recht und Gesetz zu entscheiden war, wie bei den Schiedsgerichten der Sozialversicherung.68 Denn auch wenn für die Entscheidung über Unfall- und Altersrenten die gesetzlichen Bestimmungen über die Versicherungsvoraussetzungen und den Versicherungsumfang maßgeb­ lich waren, war der verbliebene Spielraum doch nach Maßgaben sozialer Billig­ keit auszufüllen. Auch für die Rechtsprechung – so die Verwaltungsspitzen der Sozialverwaltung – müsse es das maßgebliche Ziel sein, „die Gegensätze auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Lebens abzuschwächen und den Armen, Kranken und Erwerbsunfähigen hilfreich beizustehen“.69 65

§ 1 Bekanntmachung über Preisbeschränkungen bei Verkäufen von Schuhwaren vom 28. September 1916 (RGBl S. 1077); § 1 Bekanntmachung über Preisbeschränkungen bei Aus­ besserungen von Schuhwaren vom 25. Januar 1917 (RGBl. S. 75). 66 § 14 i. V. m. § 12 Bekanntmachung über die Zusammenlegung von Brauereibetrieben vom 2. November 1917 (RGBl. S. 993). 67 §§ 1 Nr. 1, 2 Nr. 2 Verordnung über die schiedsgerichtliche Erhöhung von Preisen bei der Lieferung von elektrischer Arbeit, Gas und Leitungswasser vom 1. Februar 1919 (RGBl. S. 135); fast gleichlautend §§ 1, 2 S. 2 Verordnung über die schiedsgerichtliche Erhöhung von Beför­ derungspreisen der Eisenbahnen, Kleinbahnen (Lokalbahnen usw.), Straßenbahnen und An­ schlußbahnen vom 21. Februar 1920 (RGBl. S. 255). 68 Grießenbeck, Sp. 152. 69 Rede des für die Sozialpolitik zuständigen Innenstaatsekretärs Karl Heinrich Boetti­ chers bei der Einweihung des neuen Dienstgebäudes am 24. September 1894, zitiert nach: Entwicklung des Reichsversicherungsamts, S. 6 f., Bezug zur Rechtsprechung: S. 16. Diese Vorgabe gründete sich normativ auf die Kaiserliche Sozialbotschaft vom 17. November 1881 (a. a. O., S. 6 f.). Freilich handelte es sich bei der Kaiserlichen Botschaft nicht um einen norma­ tiven Text im rechtlichen Sinne, sondern um eine Thronrede (zur Eröffnung des 5. Deutschen Reichstages) – die freilich in der Exekutive den Charakter einer Leitlinie bekam; siehe auch Einleitung, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, II.1, S. XV–XXXIV, XXI (dort in Bezug auf die Rentenversicherung).

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Sichtbar wird also, dass Billigkeit als Entscheidungsmaßstab dem Recht ver­ schiedener Hierarchiestufen wie auch nichtrechtlichen Maßstäben entnommen werden konnte. Was ihre substantielle entscheidungsdeterminierende oder zu­ mindest -beeinflussende Kraft betrifft, wird die Vielfalt von Billigkeit am ehesten sichtbar, wenn man deren funktionalen Bezüge deutlich macht. Grob unterscheiden lässt sich zunächst zwischen solchen Billigkeitsvorstellungen, die auf den Schutz des Schwächeren abzielen, und solchen, in denen es eher um die Ausbalancierung der Belange Gleichstarker geht. Die erstgenannte Ausrichtung weist sozialpolitische Bezüge auf und lässt sich zunächst relativ klar bei den Schiedsgerichten der Sozialversicherung verorten. Dem korrespondierten auch entsprechende Richterbilder: „Nur ein Mann von Herz“ eigne sich für das Amt des Vorsitzenden eines solchen Schiedsgerichts.70 Gleiches in Bezug auf die programmatische Ausrichtung des Gerichts lässt sich für die Mieteinigungsämter sagen, die unter den Bedingungen des Wohnungs­ mangels in Reaktion auf immer weiter um sich greifende Mieterhöhungsverlangen der Vermieterseite gebildet worden waren.71 Allerdings ist es nicht ohne weiteres möglich, von solchen programmatischen Ausrichtungen direkte Verbindungslinien zur tatsächlichen Rechtsprechung der betreffenden Schiedsgerichte zu ziehen. Gerade die paritätische Besetzung sollte es ja garantieren, dass auch sozialpoliti­ sche Zielsetzungen den Filter der Interessenabwägung passieren. Und so fielen die Urteile über die Rechtsprechung solcher Gerichte durchaus unterschiedlich aus, abhängig davon, welche Regionen und Zeiträume betroffen waren, aber natürlich auch abhängig vom Beobachterstandpunkt. So meinten Sozialdemokraten bei den Schiedsgerichten der Sozialversicherung eher eine hartherzige Rechtsprechung beobachten zu können72, umgekehrt kam von Arbeitgeberseite der Vorwurf allzu nachsichtiger Judikatur73; bei bestimmten süddeutschen Schiedsgerichten konsta­ tierte man eine arbeitnehmerfreundlichere Haltung als bei norddeutschen.74 Bei den Mieteinigungsämtern registrierte man in der Anfangszeit eine sehr vermieter­

70

Kobler, S. 529. Pitzer, S. 31–35, 74 ff. 72 Sitzung des Schiedsgerichts der II. Sektion der Süddeutschen Stahl- und Eisen-Berufs­ genossenschaft, Fränkische Tagespost Nr. 97 [und Nr. 99 und Nr. 117] vom 26. April 1889 [und 29. April 29 und 20. Mai], Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, II. 2/2, Nr. 354; Die Novelle zum Unfallversicherungs-Gesetz, Vorwärts. Berliner Volksblatt Nr. 277 vom 26. November 1895, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozial­ politik, III. 2, Nr. 85 (S. 360). 73 Protokoll des II. ordentlichen Verbandstags der Deutschen Berufsgenossenschaften vom 7. Mai 1888, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, II. 2/2, Nr. 337 (S. 1229). 74 Schmuker, S. 626. Eine gleiche Beurteilung erfuhren einzelne ostpreußische Schieds­ gerichte, Bericht des Vorstandsvorsitzenden der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt Ostpreußen Landeshauptmann Rudolf von Brandt an den Staatssekretär des Innern Dr. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner vom 21. Dezember 1897, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, III. 6, Nr. 51 (S. 323 f., 329). 71

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freundliche Judikatur75, für spätere Zeiten sah man das Pendel eher in die andere Richtung ausschlagen.76 Auch für die Gewerbegerichte könnte man zunächst von einem sozialpolitischen Impetus ausgehen, der auf einen Schutz der Arbeitnehmer zielte. Daraus ließe sich dann auch auf materiell-rechtlich relevante Billigkeitsgesichtspunkte schlie­ ßen. Allerdings ist hierbei zu differenzieren. In der Tat war die Einführung der Gewerbegerichtsbarkeit um 1890 Ausdruck einer aktiveren Arbeiterschutzpolitik nach Aufhebung des Sozialistengesetzes. Auf der anderen Seite wurde damit le­ diglich eine Einrichtung reichsweit etabliert, die – wenn auch teilweise in anderer Gestalt – schon vorher existiert hatte. Die ersten Arbeitsgerichte waren in Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffen worden, damals allerdings noch von den Arbeitgebern dominiert; ab Mitte des Jahrhunderts setzte sich der Gedanke paritätischer Besetzung durch; schon die – liberale – Gewerbeordnung von 1869 sah derartige Einrichtungen vor.77 Im Vordergrund stand die Bereitstellung von Konfliktlösungsformen, die schnell, unkompliziert, sachangemessen und lokal an­ gebunden entscheiden konnten. Arbeitnehmerschützende Gesichtspunkte kamen eher darin zum Ausdruck, dass Rechtsanwälte nicht zugelassen und Rechtsmittel an die ordentlichen Gerichte wegen des hohen Rechtsmittelstreitwerts de facto aus­ geschlossen waren (womit man die eher als sozial unsensibel eingestufte ordent­ liche Gerichtsbarkeit weitgehend aus dem Spiel nahm).78 Auch bei anderen Schiedsgerichten lassen sich natürlich bestimmte Schutz­ richtungen feststellen. So sollten bei Preisregulierungsschiedsgerichten vor allem diejenigen geschützt werden, die als Lieferanten oder Dienstleister einen Betrag vereinbart hatten, der unter den Bedingungen von Teuerung und Währungsverfall nicht mehr viel wert war, bzw. die ihrerseits unter massiver Verteuerung der für die Leistungserbringung erforderlichen Grundstoffe (Kohle) litten; dies betraf vor allem in langfristigen Verträgen vereinbarte Lieferungen; bei Energielieferungen kam die spezielle Motivation des Schutzes der wirtschaftlichen Existenz der städ­ tischen Energiewerke hinzu.79 Deutlich wird also, dass Billigkeitsrechtsprechung sich durchaus zwischen ver­ schiedenen Polen bewegen konnte: Billigkeitsrechtsprechung im Sinne des Schut­ zes des Schwächeren, Billigkeitsrechtsprechung im Sinne der Abwägung zwischen als gleichrangig angesehenen Interessen, schließlich dazwischen Billigkeitsrecht­ sprechung als Interessenabwägung, aber unter besonderer Berücksichtigung – z. B. aufgrund besonders zu berücksichtigender öffentlicher Belange – einer Seite. Es waren also die Belange des betreffenden sozialpolitischen oder ökonomischen Fel­ 75

Bovensiepen, Sp. 882. Führer (2012), S. 210 ff. 77 § 108 Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869 (BGBl. des Nord­ deutschen Bundes S. 245). 78 Einleitung, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, III.4, S. XIII–LXVI, XXIX. 79 Ziekursch / Kauffmann, S. 3; Ambrosius (1986), S. 371 ff. 76

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des und die damit verbundenen politischen Grundsatzentscheidungen bzw. zeit­ geistigen Stimmungen, durch welche Billigkeit ihre konkrete Ausformung erhielt. Dafür, dass die entsprechenden funktionalen Rationalitäten ausreichend zur Spra­ che kamen (und nicht nur juristische Logik den Takt angab), sollte die Besetzung der Beisitzerbank mit Vertretern der betroffenen Kreise sorgen.

IV. Schluss Die hier beschriebenen Phänomene wurden von den Zeitgenossen sehr wohl wahrgenommen. 1919 schon konstatierte Justus Wilhelm Hedemann: „… über­ all sehen wir Einigungsämter, Schlichtungsausschüsse, Schiedskommissionen auftauchen“80. Eine nennenswerte wissenschaftliche Reflexion fand allerdings kaum statt – weder damals noch später. Mit was für einer Art justizieller Vielfalt haben wir es zu tun, wenn man versucht, dieses Phänomen mit Hilfe etablierter Erklärungsmuster zu erfassen? Greift man zurück auf Konzepte des Rechtsplu­ ralismus, wie sie ursprünglich für Staaten der Dritten Welt entwickelt worden sind, fehlt es an einer vergleichbaren Abgrenzung von Rechtsschichten im Sinne der Gegenüberstellung von staatlichem und Gewohnheitsrecht, gegebenenfalls noch religiösem Recht. Auch ein forum shopping ist weitgehend ausgeschlossen. Überwiegend handelte es sich bei den hier behandelten Gerichten um Zwangs­ schiedsgerichte oder Zwangssondergerichte. Ebenso haben wir es nicht mit einer Art Paralleljustiz, vergleichbar der sogenannten, wenngleich nur ansatzweise em­ pirisch erfassten islamischen Justiz in Deutschland, zu tun. Es fehlte hier an den fundamentalen normative clashes.81 Schließlich erscheint es auch problematisch, dieses Phänomen als eine Art Überspielung und Unterhöhlung staatlicher justi­ zieller Konfliktlösung anzusehen, wie dies heute oft im Zusammenhang mit der modernen wirtschaftlichen Schiedsgerichtsbarkeit, gerade der internationalen Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit geschieht. Die hier behandelten Gerichte waren in weitem Maße staatsinitiiert und staatsorganisiert, wenngleich das Engagement der beteiligten Kreise eine wichtige Rolle spielte. Aber klar ist dennoch: Mit einer bloßen Ausdifferenzierung staatlicher Justiz im Sinne der Herausbildung von Fachgerichten, in denen lediglich die Logik staat­lichen Rechts heruntergebrochen wird, haben wir es nicht zu tun. Was wir einerseits sehen, ist eine partielle „De-Thematisierung“82 des Rechts (wenn man eine positiv-rechtliche Perspektive einnimmt). Was wir andererseits sehen könn­ ten, wenn wir gewissermaßen das Recht verlassen und eine übergeordnete Be­ obachterperspektive einnehmen, ist eine Verkoppelung von Recht mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen bzw. deren Subsystemen, nämlich in dem Sinn, 80

Hedemann, S. 14. Siehe auch schon Stolleis (2001), S. 270. Jedenfalls im Bereich des Strafrechts und im Erb- und Eherecht in Bezug auf die Rechte der Frauen; siehe dazu differenzierend Bauwens. 82 Luhmann, S. 71. 81

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dass Recht sich nicht an seiner eigenen Logik orientiert, sondern die anderer So­ zialsysteme übernimmt. So lautet jedenfalls der Befund von Teubner, der solche Einrichtungen in ein Modell funktionaler Differenzierung einordnet.83 Und in der Tat liegt es nahe, die zahlreichen Schiedsgerichte als jene Trefforte anzusehen, in denen andere Systemrationalitäten, vor allem ökonomischer Provenienz, in Rechts­ diskurse – und um solche handelte es sich trotz aller Distanzen zur allgemeinen Rechtsordnung – inkorporiert werden konnten. Hierbei darf man aber die Man­ nigfaltigkeit der konkreten sozialen und ökonomischen Gründe und Einbettungen nicht außer Acht lassen. Nicht selten spielten Gedanken korporativer Natur und ein gewisses traditionsbezogenes framing eine Rolle, sodass man es gewisserma­ ßen mit einem Mix aus funktionaler und stratifikatorischer Differenzierung zu tun hat.84 Auch kann man schon deshalb nicht von der Manifestation teilsystemischer Rationalitäten in diesen Sondergerichtsbarkeiten ausgehen, weil einige davon ja nicht Ausdruck der justiziellen Entäußerung einer bestimmten teilsystemischen Rationalität waren, sondern verschiedene, konfligierende teilsystemische Rationa­ litäten auszubalancieren hatten. Und schließlich beruhten etliche dieser Institutio­ nen, gerade solche, die der Bewältigung von Kriegsnot und Inflation dienten, auf hastigen politischen Improvisationen, waren oft gegen den Widerstand betroffener wirtschaftlicher Gruppen errichtet und dienten nicht der Entfaltung ökonomischer Rationalität, sondern deren Zähmung. Will man in ganz wenigen Sätzen ein Fazit ziehen, muss man sagen: Die Mo­ derne brachte in Deutschland nicht nur das liberal-rechtsstaatliche Modell einer auf dem Gedanken des allgemeinen, gleichheitsbasierten Rechts beruhenden Jus­ tizordnung hervor, sondern auch eine justizielle Parallelwelt mit ihren ganz eige­ nen Standards. Die Bedeutung dieser justiziellen Parallelwelt soll weder über- noch unterschätzt werden. Was die Verfahrenszahlen betrifft, dominierte immer noch die ordent­ liche Gerichtsbarkeit. Legt man Zahlen aus der Zeit um die Jahrhundertwende zugrunde, so finden sich z. B. neben ca. 2 Mio. Mahnsachen und ca. 1,6 Mio. streitigen Verfahren vor den ordentlichen Gerichten85 etwa 70.000 Verfahren vor den Gewerbegerichten86 und ca. 20.000 Verfahren vor den Schiedsgerichten für die Unfall- und Invaliditätsversicherung.87 Dies waren keine vernachlässigbaren Größen, aber der quantitative Unterschied wird schon deutlich. Noch klarer wird er, wenn man die Zahlen für weitere Sondergerichte denen der ordentlichen Ge­ richte gegenüberstellt, beispielsweise im Fall der Schiedsgerichte zur Regelung der Preiserhöhung für Elektroenergie, Gas und Leitungswasser. Hier ergingen 83

Teubner, S. 73 f. Dies für die Arbeitsrechtsordnung hervorhebend Brand. 85 Deutsche Justiz-Statistik, bearbeitet vom Reichs-Justizamt, Jahrgang X, Berlin 1901, S. 116 (Zahlen für 1899). 86 Vogt, S. 65. 87 Einleitung, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, III.  6, S. XI–XL, XVIII. 84

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zwischen 1919 und 1922 209 Schiedssprüche für den Bereich der Versorgung mit Elektroenergie, 30 für die Gaswerke und 26 für die Wasserwerke.88 Auch ange­ sichts von ca. 3000 E-Werken, ca. 1100 Gaswerken und ca. 3000 Wasserwerken erscheint dies nicht besonders viel.89 Gerade bei dem Beispiel der Schiedsgerichte für die Energie-, Gas- und Was­ serpreise sollte man sich aber verdeutlichen, dass die Bedeutung von Spezialge­ richtsbarkeiten nicht lediglich an Verfahrenszahlen und einem diesbezüglichen Vergleich mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit gemessen werden kann. Die Mög­ lichkeit schiedsrichterlicher Vertragsanpassung (wenn sich die Vertragspartner selbst nicht einigen konnten) trug in der Zeit der Geldentwertung wesentlich dazu bei, dass kommunale Versorgungsinfrastrukturen vor dem finanziellen Zusam­ menbruch bewahrt wurden.90 Überhaupt lässt sich sagen, dass sondergerichtliche Judikatur gerade nicht in bedeutungslosen Nischen oder im Bereich der Bagatell­ gerichtsbarkeit platziert wurde, sondern oft an Brennpunkten, wenn auch in einem weiten Sinne. Die Gewerbegerichtsbarkeit war nicht nur ein politischer Beitrag zur Entspannung der Arbeiterfrage, sondern gab gerade jenen, die keine finanziellen Rücklagen hatten, ein Instrument in die Hand, um in – verglichen mit der ordent­ lichen Gerichtsbarkeit  – sensationell kurzer Zeit zu ihrem Geld zu kommen.91 Die Schiedsgerichtsbarkeit der Sozialversicherung war das justizielle Rückgrat eines bis dahin in der Welt einmaligen Experiments flächendeckender sozialer Absicherung. Die Schiedsgerichte der Kriegswirtschaft boten Räume, in denen die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung verhandelt werden konnte, die Bedingungen also nicht lediglich von Verwaltungsbehörden und Kriegsgesell­ schaften diktiert werden konnten. Selbst wenn es sich teilweise um recht kurzlebige Einrichtungen handelte – sie verkörperten persistente Konzeptionen alternativer Justiz, die auch heute noch präsent sind: vereinfachtes Verfahren, Interessenaushandlung statt Kampf ums Recht, starre Rechtsmaßstäbe aufweichende Billigkeitsmaßstäbe, interne Differen­ zierung durch Integration verschiedener teilsystemischer Rationalitäten und durch Sachnähe garantierende personelle Besetzung. Freilich bleibt die Frage, welchen rechtsstaatlichen Preis man dafür zahlen muss, was Verfahrensgarantien, umfas­ sende Absicherung richterlicher Unabhängigkeit und berechenbares materielles Entscheidungsprogramm betrifft. Auf jeden Fall aber wird sichtbar, dass auch die westliche Moderne nicht automatisch in einen justiziellen Monismus einmündet. Genauso sind ihr Tendenzen justizieller Pluralisierung inhärent. Eine justizielle Einheitsordnung ist nicht selbstverständlich. 88 Allerdings wird damit die Tätigkeit dieser Gerichte nicht voll erfasst, denn hinzu kamen vor dem Schiedsgericht geschlossene Vergleiche in vergleichbarer Größenordnung: 133 für die E-Werke, 23 für die Gaswerke und 9 für die Wasserwerke, Ziekursch / Kauffmann, S. 6. 89 Ziekursch / Kauffmann, S. 6. 90 Ziekursch / Kauffmann, S. 4. 91 Beim Gewerbegericht Worms vergingen in 50 % der Fälle nur vier Tage oder weniger zwischen Klageerhebung und gerichtlicher Entscheidung, nur 6 % aller Verfahren dauerten mehr als sechs Tage, Vogt, S. 164.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren PD Dr. Peter Collin Forschungsfeldkoordinator am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie Frankfurt am Main Prof. Dr. Bijan Fateh-Moghadam Professor für Grundlagen des Rechts und Life Sciences-Recht an der Universität Basel Prof. Dr. Dr. Milan Kuhli Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht einschließlich ihrer internationalen und histo­ rischen Bezüge an der Universität Hamburg Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, LL. M. (Cambridge) Professorin für Europarecht an der Europa-Universität Flensburg Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-W. Micklitz Professor für Wirtschaftsrecht am Robert Schuman Centre für Advanced Studies des Euro­ päischen Hochschulinstituts in Florenz Prof. Dr. Florian Rödl, M. A. Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Mareike Schmidt, LL. M. (Tsinghua) Juniorprofessorin für Zivilrecht und rechtswissenschaftliche Fachdidaktik an der Universität Hamburg Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht an der Universität Hamburg