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German Pages [800] Year 1995
Verwehte Spuren
NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE Eine Schriftenreihe des Historischen Instituts der Universität Stuttgart herausgegeben von NORBERT CONRADS Band 3
Willy C o h n (Breslau 1888 - Kaunas 1941)
WILLY C O H N
VERWEHTE SPUREN Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang herausgegeben von NORBERT CONRADS
® 1995
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministers des Innern
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Cohn, Willy: Verwehte Spuren : Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hrsg. von Norbert Conrads. Köln ; Weimar; Wien : Böhlau, 1995 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte; Bd. 3) ISBN 3-412-10394-2 NE: G T Umschlagabbildung: Die zerschlagenen Gesetzestafeln aus der Synagoge „Zum weißen Storch" in Breslau. © 1995 by Böhlau Verlag G m b H & Cie., Köln Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Richarz Publikations-Service GmbH, Sankt Augustin Printed in Germany ISBN 3-412-10394-2
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort
VII
Einleitung
1
Widmung
17
I.
Ein schwieriger Junge (1888-1906)
18
II.
Akademische Luft (1906-1911)
87
III.
Preußische Lehrjahre (1911-1914)
168
IV.
Im Ersten Weltkrieg (1914-1918)
210
V.
Mein Weg zum Zionismus (1918-1919)
264
VI.
Erfüllte Pflichten (1919-1925)
311
VII. Zwischen Ostsee und Mittelmeer (1925-1927)
397
VIII. Auf der Höhe des Lebens (1927-1930)
462
IX.
Zeiten politischer Erregung (1930-1931)
552
X.
Unter dem Zeichen Amaleks (1931-1933)
606
Streszczenie w j^zyku polskim Zusammenfassung in polnischer Sprache Summary - Zusammenfassung in englischer Sprache Schriftenverzeichnis Willy Cohn Glossar Abkürzungsverzeichnis Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen
665 670 675 735 741 743
Personenregister Ortsregister
745 767
VORWORT Dieses Buch entstand in Deutschlands dunkelster Zeit. Sein Verfasser Willy Cohn spürte, daß er den Untergang des deutschen Judentums miterlebte. Er sah sich als Zeuge eines unglaublichen Geschehens, das auf eine Katastrophe zusteuerte. Wer würde späteren Generationen und Zeiten noch vom jüdischen Leben in Familie, Gemeinde und Heimat berichten können, wenn sich nicht ein jüdischer Historiker fände, wie er selbst es war, um solches niederzuschreiben? So entstand ein bewegendes Werk, das ebenso Autobiographie wie jüdische Geschichte wurde. Davon erzählt Cohn so leicht und inhaltsreich, daß man vergessen könnte, unter welch lebensbedrohlichen Umständen das Werk in den Jahren 1940 bis 1941 zustande kam. Wenige Wochen nach Abschluß des Manuskriptes wurden der Verfasser und seine jüngere Familie nach Litauen verschleppt und dort umgebracht. Sie gehörten zu den ersten Breslauer Mordopfern jenes Unheils, das Cohn vorausgesehen hatte. Auf wunderbare Weise aber blieb dieses Buch erhalten und kann hier erstmals bekanntgemacht und veröffentlicht werden. Für die in Israel und Frankreich lebenden Nachkommen waren diese Lebenserinnerungen bislang vor allem ein Teil ihrer persönlichen Geschichte. Die drei älteren Kinder Willy Cohns, in deren Besitz einige Hinterlassenschaften ihres Vaters gelangten und die heute selbst schon in vorgerücktem Alter stehen, haben die Anfragen und Bitten des Herausgebers mit größtem Verständnis und Entgegenkommen aufgenommen und schließlich das Manuskript zur Veröffentlichung bereitgestellt. Das verdient den Dank aller, die sich für das schlesische Judentum interessieren. Der herzlichste Dank richtet sich also zunächst an sie, ohne deren Billigung es nicht zu diesem Buch kommen konnte: an Frau Ruth Atzmon-Cohn in Ein Schemer/ Israel sowie ihre Brüder, Herrn Louis Wolfgang Cohn in Antony/ Frankreich und Herrn Abraham Ernst Cohn in Maos Chaim/ Israel. Den Weg dorthin hat freilich ein Freund der Familie und Kenner des schlesischen Judentums geebnet, der emeritierte Direktor des Leo-Baeck-
VIII Instituts zu Jerusalem, Prof. Dr. Joseph Walk. Er war schon früher auf die unbekannten Tagebücher Willy Cohns gestoßen, hatte aus ihnen Auszüge veröffentlicht und dadurch als erster auch von diesen Lebenserinnerungen erfahren. Aber er hat nicht nur großmütig auf die Herausgabe der Lebenserinnerungen Cohns verzichtet, sondern sich stets zu weiterführenden Gesprächen, Auskünften und Vermittlungen bereitgefunden. Ihm verdankt dieses Buch das hebräische Glossar. In Jerusalem halfen auch noch Frau Direktorin Dr. Hadassah Assouline durch Auskünfte aus dem Nachlaß Willy Cohns in den Central Archives for the History of the Jewish People sowie Dr. Hans Chaim Schmerl durch bibliographische Ermittlungen für das Schriftenverzeichnis Cohns. Das Manuskript löste viele Fragen aus, zu deren Beantwortung Zeitzeugen und Kollegen zu Rate gezogen wurden. Von ihnen sind leider bereits Bundesverfassungsrichter Prof. Martin Hirsch in Berlin, Pater Dr. Wolfgang Pax in München und Egon H. Rakette in Oberwinter verstorben. Für verschiedene Auskünfte und Hilfen ist ferner Maciej Lagiewski, dem Direktor des Muzeum Historyczne we Wrodawiu, zu danken, ebenso den Professoren Karol Jonca und Alfred Konieczny von der Universität Wroclaw sowie meinem Kollegen Eberhard Jäckel von der Universität Stuttgart. Ein Gleiches gilt auch für den Verleger Heinz M. Bleicher, Gerlingen, Staatsanwalt Willi Dreßen, Ludwigsburg, Pater Wolfgang Hoffmann SJ, Bonn, und nicht zuletzt Karen Lambrecht, Berlin. Durch die Übertragung des Manuskriptes in Reinschrift, die Abklärung offener Fragen, die Beschaffung von Literatur und die Erstellung der Register haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Projektbereich Schlesische Geschichte der Universität Stuttgart an dieser Edition mitgewirkt. Diesen Dank teilen sich vor allem Susanne Gernhäuser und Klaus Sackenreuther. Hervorzuheben ist jedoch, was Isabell Sprenger noch zusätzlich durch ihre auswärtigen Erkundigungen und das weitgehend von ihr erstellte Schriftenverzeichnis Willy Cohns hierzu beigetragen hat. Stuttgart, den 22. September 1994
Norbert Conrads
EINLEITUNG Immer wieder begegnen uns Bücher, auf die das alte Wort zutrifft, daß auch sie ihre Geschichte haben. Das gilt zweifellos für das vorliegende Werk, an dem allerdings die Geschichte eines ganzen Zeitalters haftet. Denn man kann nicht vom Schicksal des geretteten Manuskriptes sprechen, ohne nicht zugleich an die Hoffnungen und Verzweiflungen, unter denen es entstand, und an das schreckliche Fatum zu denken, dem der Verfasser und seine Familie entgegengingen, so wie viele seines Glaubens und Volkes. Mit größerer Berechtigung läßt sich der Satz auch umkehren: Es ist nicht nur so, daß Bücher ihre Geschichte haben, sondern ebenso bringt die Geschichte immer wieder Bücher hervor, die in bedrängender Weise Vergangenheit Wiederaufleben lassen; Bücher, die einen mehrfachen Zeugnischarakter besitzen, nämlich als Bekenntnis einer religiösen und geistigen Haltung und als Dokument einer verlorenen Kultur. Das gilt in besonderem Maße für diese Lebenserinnerungen des Breslauer Historikers und Pädagogen Willy Cohn, die so vieles zugleich sind: Familiengeschichte, Bilanz der eigenen Lebensleistung, Beobachtungen eines Zeitzeugen sowie Geschichtsschreibung des Breslauer und schlesischen Judentums. Es ist noch nicht lange her, daß Willy Cohn auch als Geschichtsschreiber seiner Zeit entdeckt wurde. 1984 erschien in kleiner Auflage ein Taschenbuch mit dem Titel „Als Jude in Breslau 1941" 1 . Es enthält ausgewählte Tagebuchaufzeichnungen Cohns aus seinem letzten Lebensjahr. Sieht man einmal von den autobiographischen Aufzeichnungen des Breslauer Kaufmanns Walter Tausk ab 2 , so erwiesen sich Cohns Notizen als besonders authentische und bewegende Einblicke in den W . Cohn: Als Jude in Breslau 1941. (Aus den Tagebüchern von Studienrat a.D. Dr. Willy Israel Cohn). Hg. von Joseph Walk. Gerlingen 1984. Vgl. SV N r . 483 und 488. 2 W . Tausk: Breslauer Tagebuch 1933-1940. Berlin (Siedler) 1988. 1
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Einleitung
Breslauer Alltag einer jüdischen Familie. Das führte zur Aufnahme eines Briefwechsels mit Joseph Walk, dem Jerusalemer Herausgeber, in der Hoffnung, mehr über Cohns Tagebücher und Schriften in Erfahrung zu bringen. Auf diesem Wege gelangte der Wunsch des Herausgebers auch an die überlebenden Kinder Willy Cohns, die seinerzeit noch rechtzeitig aus Deutschland entkommen waren. Bei ihnen mochten die Nachforschungen zum Lebenswerk ihres Vaters zunächst traumatische Erinnerungen und Ahnungen wieder heraufbeschworen haben. Dann aber gewannen doch eine spürbare Freude und Genugtuung über das bezeigte Interesse den Vorrang und erbrachten die überraschende Auskunft, daß es außer den Tagebüchern sogar ein abgeschlossenes Manuskript von Lebenserinnerungen Cohns gab. Das löste neue Nachfragen und Bitten aus, bis die Familie so viel Vertrauen gefaßt hatte, das Manuskript in andere Hände zu geben und schließlich auch den Druck des Werkes zu gestatten. Rückblickende Lebenserinnerungen sind etwas anderes als spontane Tagebuchnotizen. Doch darf man im vorliegenden Fall ein abgerundetes Memoirenwerk erwarten, wie es manche Überlebende der Shoah vorgelegt haben? Allein die Umstände der Niederschrift und die bald danach erfolgte Ermordung des Verfassers ließen solches nicht zu. Überdies lag für Cohn der Ausgang seiner Geschichte im Dunkel. Man muß sich verdeutlichen, daß hier das Lebenszeugnis eines Mannes mittleren Alters vorliegt, der nie etwas von Auschwitz oder dem Ausgang des Krieges erfahren und nur hoffen konnte, „die Katastrophe unserer Tage" (545) und „die Sinnlosigkeit des modernen Menschendaseins" (191) zu überleben 3 . Aber Cohn war nur zu gut mit der Geschichte seines Volkes vertraut, um nicht zu wissen, was hier geschah. Hatte er 1932 noch die Stimmung mit jener des Spanien der Judenaustreibung von 1492 verglichen (651), so war ihm während der Niederschrift seines Buches deutlich geworden, daß seine Zeit „den größten Krieg gegen das Judentum" erlebte, „den die Weltgeschichte gesehen hat" (660). Nun war es zu spät, um noch für die Sicherheit der eigenen Familie sorgen zu können. Cohn beobachtete ja, wie im Herbst des Jahres 1941 die „Evakuierungen" in seiner Umgebung begannen. Er wußte, was sich für Juden hinter dem Wort „Evakuierung" verbergen konnte, denn er hatte offenbar sichere Kenntnis „von dem furchtbaren Schicksal, das unsere östlichen Glaubensbrüder getroffen
3
Zahlenangaben in Klammern verweisen auf Seiten dieses Buches.
Einleitung
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hat" (543), insbesondere die ganze jüdische Intelligenz Polens (555). Im August 1941 hatte er gerüchteweise davon gehört, die SS nehme an der Ostfront Massenerschießungen von Juden vor 4 . Was man noch tun konnte, war, „einiges für den Fall vorzubereiten, falls man plötzlich heraus muß" 5 . Wenigstens seine Lebenserinnerungen, die ihn bis zuletzt beschäftigt hatten, sollten nicht verloren gehen und möglichst auch sein übriges geistiges Vermächtnis, die Tagebücher und einige Wertsachen. Als er am 1. November 1941 in Erfahrung brachte, man habe bereits über seine Wohnung verfügt, war ihm klar, „wir ... werden voraussichtlich verschickt, ... aber es muß alles durchdacht werden!" 6 . Die für den äußersten Notfall getroffenen Vorbereitungen wurden jetzt in die Tat umgesetzt. Cohn hatte in Berlin eine entfernte Verwandte, die durch ihre „Mischehe" mit einem Beamten der Reichsbahn namens Zeitz damals noch in relativer Sicherheit lebte 7 . Zwischen den Familien Cohn und Zeitz war für diesen Fall eine Absprache und ein Übermittlungsweg vereinbart worden. Davon hat Cohn zwischen dem 17. November 1941, dem letzten Tag seiner Tagebuchnotizen, und dem 21. November 1941, dem Tag der großen Razzia in Breslau, Gebrauch gemacht. Alles konnte wie geplant auf den Weg nach Berlin gebracht werden. Es war der riskante Versuch, vor Antritt des Weges in Ungewißheit und Tod der Nachwelt ein Lebenszeichen vom eigenen Wollen und Handeln zu hinterlassen. Nicht einmal der geringe Trost war Cohn vergönnt, zu erfahren, daß ihm solches tatsächlich gelungen war. Schon vor Kriegsausbruch war ein Sohn der Familie Zeitz nach England emigriert. Er kehrte 1945 mit dem Advance Detachment der britischen Armee nach Berlin zurück und suchte nach seinen Eltern. Sie hatten mit Glück und Courage überlebt und auch den Nachlaß Willy Cohns behütet, der nun über einige Stationen den älteren Kindern Willy Cohns in Palästina zugestellt werden konnte. Heute befindet sich dieser schriftliche Nachlaß unter der Signatur P/88 in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Das vorliegende Manuskript gehört unter der Signatur P / 8 8 / 1 1 4 , 1 1 6 , 1 1 7 dazu. Die Edition beruht jedoch auf einer Kopie in Familienbesitz. Nur ergänzend wurde auch das Archivexemplar herangezogen. W . Cohn: Als Jude in Breslau, S. 91. Ebd., S. 110. 6 Ebd., S. 121f. 7 Die folgenden Angaben nach der freundlichen Auskunft von Herrn Louis Cohn, 16. Februar 1994. 4
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Ehe jedoch ausführlicher auf den Verfasser, sein Buch und die Probleme seiner Edition einzugehen ist, erscheint es zweckdienlich, einige allgemeine Hinweise auf die Rolle Breslaus in der jüngeren Geschichte des deutschen Judentums zu geben, wie sie sich auch in diesem Buch wiederfindet. Breslau war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts neben Berlin und Frankfurt eines der drei großen und bedeutenden Zentren jüdischen Lebens in Deutschland. In allen Bereichen der Wirtschaft, der Kultur und Wissenschaft, der Gesellschaft und der Kommunalpolitik Breslaus fanden sich jüdische Persönlichkeiten in führenden Stellungen. Der jüdische Anteil in der Führungsschicht des Breslauer Bürgertums war weit größer als man es von einer Bevölkerungsgruppe erwarten konnte, die mit 19.743 Personen jüdischer Konfession im Jahre 1900 gerade einen Anteil von 4,7 Prozent unter den Einwohnern der Stadt ausmachte 8 . In den handeltreibenden und bürgerlichen Stadtteilen lag er aber deutlich höher, besonders auffallend am Breslauer Ring und in der Südstadt. Erst im Rückblick wurde man gewahr, wie sehr dem Breslauer Judentum neben seiner Bedeutung für das Wirtschafts- und Bankenwesen der Stadt auch eine wichtige kulturelle Funktion zugekommen war. Diese Beobachtung findet sich bei zwei Zeitgenossen Willy Cohns, deren Herkunft und Bildungsgang manche Parallele aufweist, dem Soziologen Norbert Elias und dem Historiker Walter Laqueur, allesamt Schüler desselben Breslauer Gymnasiums. Für Laqueur war der sich über zwei, drei Generationen hinziehende Aufstieg Breslaus als kultureller Mittelpunkt „zu einem nicht unwesentlichen Teil das Werk der jüdischen Bewohner". Gerade hier fand er die Assimilation der Juden weit fortgeschritten, ja sie hatte sich zu der eigenen Lebensform einer „deutsch-jüdischen Symbiose" fortentwickelt 9 . Allerdings blieb die jüdische Gesellschaft Breslaus nach der Ansicht von Elias „eine eigene, festgefügte Schicht des Bürgertums", die vielfach gar nicht mehr bemerkte, daß sie in den Augen der anderen eine „Gesellschaft zweiten Ranges" geblieben war 10 . Für Elias war es geradezu komisch, „daß sich die jüdische Gesellschaft in besonderem Maße als Träger der deutschen Kultur verstand. Und es war in gewisser Weise wahr, daß sich ohne das jüdische Mäzenatentum die B. Brilling: Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Entstehung und Geschichte. Stuttgart 1972. 9 Walter Laqueur: Heimkehr. Brief aus Breslau; in: Der Monat 15 (1963), Heft 180, S. 36-46, hier S.41. 10 Norbert Elias über sich selbst. Biographisches Interview von A. J. Heerma van Voss und A. van Stolk. Frankfurt/M. 1990, S. 13 und 166. 8
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Orchesterkonzerte, das Lobe-Theater und all die anderen Theater nicht hätten halten können. Eine sehr merkwürdige Situation: politisch waren die deutschen Juden Außenseiter, und zugleich waren sie Träger des deutschen Kulturlebens" 11 . Solche Aussagen finden bei Willy Cohn ihre Bestätigung, der zeitlebens ein inniges Verhältnis zur deutschen Kultur und insbesondere zu den von ihm verehrten Dichtern wie Goethe und Gerhart Hauptmann bewahrte. „Man kann uns antun, was man will, ... niemand kann uns nehmen, was uns Goethe gewesen ist und was er uns bleibt" (321). Bei Familien jüdischer Herkunft, die längst assimiliert und zum Christentum übergetreten waren, ging die Kenntnis ihrer Abstammung nicht verloren, und auch Cohn vermerkte sie öfter. Im übrigen war das Breslauer Judentum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zwei religiöse Lager geteilt, ein streng orthodox gesinntes und ein reformorientiertes. Die Auseinandersetzung hatte manche Parallele zu ähnlichen Konflikten innerhalb der christlichen Kirchen. In dem zeitweilig mit Heftigkeit ausgetragenen innerjüdischen Disput standen einander auf beiden Seiten hervorragende Rabbinerpersönlichkeiten gegenüber. Mit der Errichtung der großen Neuen Synagoge am Schweidnitzer Stadtgraben 1872 schuf sich das liberale Breslauer Judentum dort sein eigenes Gotteshaus, während die traditionsreiche Synagoge „Zum weißen Storch" von 1829 der Gebetsort der orthodoxen Juden blieb. Für die religiöse Entwicklung Willy Cohns war sein Weg von der Neuen zur Alten Synagoge bezeichnend. Da das prosperierende Breslau eine erhebliche Anziehungskraft ausübte, verstärkte sich auch der jüdische Zustrom von außerhalb. Er kam in erster Linie aus der schlesischen Provinz, besonders aus Oberschlesien. Daneben gab es auch einen steten ostjüdischen Zuzug aus der Provinz Posen und dem zaristischen Machtbereich, wobei sich diese Bevölkerungsgruppe mit ihrer eigenen Religiosität und ihren mitgebrachten Gewohnheiten vom alten Breslauer Judentum abhob und dort auch auf jüdische Vorbehalte stieß. Breslau war der Sitz einer bedeutenden jüdischen Hochschule, des 1854 gegründeten Jüdisch-Theologischen Seminars. Die Stadt hatte höhere und niedere jüdische Schulen, wie die Wilhelmsschule (1791-1848), das 1923 begründete jüdische Reformrealgymnasium, ferner ein konfessionsloses Gymnasium von traditionell jüdischer Prägung, nämlich das " Ebd. S. 17.
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1872 eröffnete Johannesgymnasium, auf das noch zurückzukommen ist. Es besaß seit 1919 eine jüdische Volkshochschule, jüdische Krankenhäuser, Stiftungen, Zeitungen, Vereine, Logen und Museen. Aus allen Bereichen ließe sich eine bemerkenswerte Leistungsbilanz vorlegen und eine Vielzahl bedeutender Persönlichkeiten benennen 12 . Das meiste davon findet sich in diesen Erinnerungen wieder, nicht in einer systematischen Darstellung, dafür aber in der persönlichen Begegnung und Sichtweise eines Beteiligten. Der Verfasser dieser Erinnerungen, Willy Cohn, wurde am 12. Dezember 1888 als Sohn eines aus Samter, Provinz Posen, zugewanderten Kaufmanns in Breslau geboren. Der Vater Louis Cohn (1843-1903) hatte von entfernten Verwandten in Breslau ein Posamentengeschäft erworben, dessen Firmenbezeichnung „Geschwister Trautner" er weiterführte. Mit unermüdlichem Fleiß baute er diese Firma zu einem Fachgeschäft für Posamenten und Spitzen aus, erwarb einen gediegenen Wohlstand und bald auch die entsprechende gesellschaftliche Stellung in der Breslauer Kaufmannschaft. Die Mutter des Verfassers, Margarethe Hainauer, entstammte der Familie des Breslauer Musikverlegers Julius Hainauer. Sie war es vor allem, die ihren ältesten Sohn Willy zu geistigen und wissenschaftlichen Interessen anregte, so daß er einen anderen beruflichen Weg einschlug als seine Geschwister. Die Familie des Kaufmanns Louis Cohn bewohnte ein großzügiges Haus am Breslauer Ohlau-Ufer. Die Krönung des geschäftlichen Erfolges war der Erwerb eines Grundstückes am Breslauer Ring, dem zentralen Marktplatz der Stadt, wo die bekannten Architektenbrüder Richard und Paul Ehrlich 1902 ein geschmackvolles neues Geschäftshaus im Jugendstil errichteten. Es prägte die alte Naschmarktseite des Ringes so sehr, daß der Breslauer Volksmund danach die ganze Ringseite als die „Trautnerseite" bezeichnete. Der junge Willy verbrachte eine sorgenfreie Kindheit. Er besuchte das Breslauer Johannesgymnasium (1895-1906) und entschied sich anschließend für ein Studium der Geschichte und Germanistik (1906-1911). Bis auf zwei für seine persönliche Entwicklung wichtige Sommersemester an der Universität Heidelberg besuchte Cohn die Universität Breslau, wo er 1910 im Alter von 22 Jahren mit einer Dissertation zur Geschichte der normannisch-sizilischen Flotte promovierte. Im Jahr darauf legte er das Staatsexamen ab und wurde 1912 Lehramtsanwärter. Noch K. Schwerin: Die Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben Schlesiens; in J S F U B 25 (1984), S. 93-177. 12
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viele Jahre nach dem ersten Weltkrieg, als Cohn unter dem Zwang der Verhältnisse längst in den Schuldienst gegangen war, träumte er von einer wissenschaftlichen Laufbahn als Historiker. Er bemühte sich an der Universität Breslau um Unterstützung seiner Habilitationspläne oder hoffte später auf die Erlangung einer Honorarprofessur für Geschichte. Ende der zwanziger Jahre suchte er auf den regelmäßig besuchten Historikertagen den Kontakt zu führenden deutschen Historikern, um eine seiner Begabung und seinen Interessen gemäße Tätigkeit am Preußischen Historischen Institut in Rom oder bei den Monumenta Germaniae Histórica in München zu erhalten. Als 1930 eine historische Professur an der Pädagogischen Akademie Breslau zu besetzen war, wäre er nach eigener Vermutung sicherlich zum Zuge gekommen, „wenn ich nicht Jude gewesen wäre und den Namen Cohn getragen hätte" (544). Überall stieß er auf eine Zurückhaltung, die mehr seiner jüdischen Herkunft als seiner unbestrittenen Qualifikation galt. Um so höher veranschlagte er daher die wissenschaftliche Anerkennung, die ihm 1932 durch Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Historischen Gesellschaft in Catania/Sizilien zuteil wurde. Sicherlich dürfte ihn auch erfreut haben, daß ihn damals das „Philo-Lexikon" unter die dreißig bedeutendsten Historiker jüdischer Herkunft in Deutschland einreihte 13 . Was Cohn zunächst als Übergangslösung betrachtet haben mochte, eine berufliche Laufbahn am Breslauer Johannesgymnasium, entsprach hingegen seiner pädagogischen Neigung, so daß er sich rasch und vorbehaltslos dieser Aufgabe zuwandte. Hier fand er auch ein Berufsfeld, in dem seine jüdische Herkunft und Konfession nicht sonderlich auffielen, weil beides an den höheren Schulen Breslaus eine verbreitete Normalität geworden war. Insbesondere das ihm vertraute Johannesgymnasium war „eine Simultananstalt, weil in ihm dem evangelischen, katholischen und jüdischen Bekenntnis das gleiche Recht prinzipiell eingeräumt" wurde 14 . An dieser Schule sollte bewußt eine religiöse Toleranz geübt werden, wie sie in Schlesien Tradition hatte. Das war nicht nur Absicht, sondern ist vor 1933 auch weitgehend gelungen, wie immer wieder von jüdischen Absolventen des Johannesgymnasiums versichert wird. Übrigens kamen laut Cohn „die meisten tüchtigen Breslauer" just von dieser Schule, wofür sich Namen wie Emil Ludwig, Siegfried Marek, Norbert Elias oder Walter Laqueur anführen ließen. Zuletzt hat Walter Boehlich Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Berlin 1934, 3. Auflage 1936, Sp. 297. 14 W . Cohn: Aus den Erinnerungen eines Johannäers. SV N r . 136. 13
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noch einmal den Charakter dieser Schule beschrieben: „Spannend war die Verfassung des Gymnasiums, das ich besuchte, eine Gründung des späten 19. Jahrhunderts, ausdrücklich eine Integrationsschule. Sie hatte eine unverrückbare Regel, die bis zu den Nazis galt: ein Drittel der Lehrer und Schüler mußte jüdisch sein, ein Drittel protestantisch, das weitere katholisch. ... An diesem Gymnasium hat es bis 1933 auch nicht den Anflug von Antisemitismus gegeben, überhaupt nicht. Es war ein wenig wie das Paradies und lag auch in der Paradiesstraße, wie ein Stück Natur." 1 5 In diesem Buch läßt sich nachlesen, wie sich die Drittelparität sogar noch zugunsten des jüdischen Anteils verschob, so daß um 1929 etwa die Hälfte der Schüler Juden waren (535). Das relativ unproblematische Zusammenleben der Konfessionen am Johannesgymnasium gewann für Cohn dadurch Bedeutung, daß er persönlich einen Wandel von der liberalen Religiosität seines Elternhauses zum „positiven Judentum" vollzogen hatte (306). Ausschlaggebend dafür war die Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Aller Einsatz der jüdischen Frontkämpfer auf deutscher Seite schien umsonst gewesen. „Unter diesem Eindruck vollzog sich in meiner jüdischen Entwicklung eine grundsätzliche Änderung. Ich war in den Krieg gezogen, zwar gewiß schon als bewußter Jude, aber doch als Vertreter der Assimilation, nämlich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Unter dem Eindruck dessen, was man draußen erfuhr, wurde ich im Laufe der Kriegsjahre, nicht von heute auf morgen, nach sehr langem und ernsthaftem innerem Kampfe Zionist" (225). Damit einher ging eine wachsende persönliche Frömmigkeit, die ihm gerade in den letzten Jahren inneren Halt bot. Auch das läßt sich in diesem Buch wiederfinden, schon äußerlich, indem Cohn nach jüdischem Brauch den Namen Gottes nur andeutet und ihn mit „G'tt" umschreibt. Von Ostern 1922 bis zur Entlassung durch die Nazis 1933 war Cohn am Johannesgymnasium beschäftigt, zuletzt als Studienrat. Er gehörte zu den beliebtesten Pädagogen seiner Schule, die durch einen modernen und fundierten Unterricht auffielen und mit den Schülern gemeinsame Abiturfahrten durch ganz Deutschland unternahmen. Seine Schüler erinnerten sich noch nach Jahrzehnten mit Dankbarkeit ihres Lehrers Cohn, so etwa der spätere Ehrenbürger von Jerusalem, Pater Wolfgang Pax O F M (Abitur 1930): „Er hat auf mich einen starken Eindruck gemacht, weil er nicht nur auf fachliches Wissen, sondern Interview mit W . Boehlich bei: G. Mattenklott: Über Juden in Deutschland. Frankfurt/M. 1992, S. 174f. 15
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auf menschliche Haltungen größten Wert legte. Ihm verdanke ich daher meine Allgemeinbildung. Soziale und politische Fragen behandelte er mit Vorliebe, da er auf diesen Gebieten stark engagiert war (offizielles Mitglied der SPD). Dazu kam sein religiöses Interesse, hier ragte er weit über die mäßigen christlichen Lehrer hervor" 16 . Ahnliches äußerte auch Shlomo Erel (Siegfried Ehrlich, Abitur 1935)17. Daneben fand Cohn noch Zeit zu politischer Arbeit für die Sozialdemokratische Partei, für Lehrtätigkeit in der Erwachsenenbildung, für die jüdische Volkshochschule, den Humboldtverein, die Breslauer jüdischen Logen, insbesondere die Lessing-Loge. Zugunsten des Ordens B'nai B'rith nahm er Vorträge bei vielen anderen Logen Schlesiens auf sich, bis immer weitere Einladungen folgten, die ihn vor allem nach Ostpreußen führten. Alles das findet sich hier ausführlich dargestellt. Diese Öffentlichkeitsarbeit galt zuletzt fast ausschließlich der jüdischen und zionistischen Sache und ließ keine Zweifel darüber zu, wo Willy Cohn auch politisch stand. 1933 wurde Cohn im Alter von 45 Jahren aus politischen und rassischen Gründen aus dem Schuldienst entlassen. Wenig später, am 10. Mai 1933, kam es auf dem Breslauer Schloßplatz zu der organisierten Bücherverbrennung, bei der auch seine sozialistischen Schriften in die Flammen geworfen wurden (89). Cohn widmete sich fortan ganz der jüdischen Arbeit und nahm 1936 einen Lehrauftrag für Geschichte am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau an. Früher als die jüdischen Kreise seiner Umgebung hatte er kommen sehen, „daß das deutsche Judentum einer Katastrophe von ungeahntem Ausmaß entgegensteuerte" (650). Es schmerzte ihn, zu erleben, wie die meisten seiner pessimistischen Prognosen sich erfüllten, so als gehöre er zu jenen Narren, denen der Talmud die Gabe der Prophetie zusprach. Für sich persönlich leitete Cohn daraus die Verpflichtung ab, dem Unheil entgegenzusteuern, zu informieren, „Trost aus der Geschichte" und dem Glauben zu schöpfen und weiterzugeben. Für alle, die nicht in gleicher Verantwortung standen, sah er nur eine zukunftsweisende Perspektive, den Weg der Alijah nach Erez Israel, also die Auswanderung nach Palästina. Seine älteren Kinder hatten diesen Weg noch gehen können. Auch Cohn selbst hat noch 1937 sein Gelobtes Land besuchen können. Aber dort zu bleiben, hätte nicht seiner „jüdischen Berufung" entsprochen, die er an Leo Baeck so 16 17
Persönliche Mitteilung vom 30. 1. 1991. MVEBI 53 (1989), S.6-8.
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bewunderte. Es wäre „Desertion" vor dem Feind gewesen. Ihn erfüllte ein Sendungsbewußtsein, das ihn nach Breslau zurückrief. Eher sah er sich in der Rolle des Moses, der seinem Volk den Weg nach Erez Israel wies, ohne diesen Weg selbst gehen zu dürfen (653). Daß dieser Entschluß am Ende für ihn und seine Familie den Tod bedeuten könnte, hat Cohn vor 1940 wohl kaum für möglich gehalten. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 hatten überall Entrechtung, Demütigung und Vertreibung der jüdischen Bürger begonnen. Am sichtbarsten wurde diese Entwicklung in der Pogromnacht vom 9. November 1938, in der auch die Breslauer Synagogen brannten, darunter der imposante Bau der Hauptsynagoge am Schweidnitzer Stadtgraben. Genau drei Jahre später begannen die Deportationen der Breslauer Juden an die Orte der Vernichtung. Damals war die jüdische Einwohnerzahl Breslaus von ihrer höchsten je erreichten Zahl von etwa 24.000 Personen um das Jahr 1920 (312) auf etwa 8.000 zurückgegangen. Der Zahlenvergleich berechtigt zu der Hoffnung, daß die Breslauer und wohl auch die schlesischen Juden in ihrer Mehrheit die zwischen 1933 und 1939 vorhandenen Möglichkeiten zur Flucht aus Deutschland genutzt hatten. Für die verbliebenen Breslauer Juden gab es aber kaum eine Möglichkeit, dem Zugriff der Täter zu entkommen. Im Laufe des Jahres 1941 begannen jene vorbereitenden Maßnahmen des NS-Regimes, die als Vorstufen der geplanten Judenvernichtung verstanden werden müssen: die Erfassung der Personen, ihrer Wohnungen und die Anordnung zum Tragen des Judensternes als äußere Stigmatisierung aller Betroffenen. Das geschah in einer Zeit, in der das NS-Regime bereits zur Durchführung der „Endlösung" entschlossen war, aber in den Mitteln und Wegen dazu noch von Fall zu Fall entschied. Daher hatten die Deportationen der schlesischen Juden so unterschiedliche Richtungen. Sie gingen teilweise in Zwischenlager wie Tormersdorf und Gnissau und dann erst in Konzentrations- und Vernichtungslager. Den brutalen Auftakt dazu bot die sogenannte „I. Abschiebungsaktion" vom November 1941. Nach vorbereiteten Listen wurden am 21. November 1941 eintausend jüdische Breslauer verhaftet, deren Namen heute überwiegend ermittelt sind. Sie lassen sich beispielsweise einer Aufstellung von „Wohnungen der aus Breslau im November abtransportierten Juden" entnehmen, zu der auch Willy Cohns Wohnung in der Opitzstraße 28 gehörte. Am 25. November 1941 verließ ein Eisenbahnzug mit eintausend Breslauer Juden die Stadt in Richtung Kaunas (Kowno) in Litauen. In der
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Transportliste trugen die vier Personen der Familie Cohn die Nummern 332 bis 335 18 . Seit Beginn des Krieges gegen Rußland war die Stadt Kaunas (Kowno) zum Sitz des Kommandanten der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes im Generalbezirk Litauen erklärt worden 19 . Das Einsatzkommando 3 der SS begann hier schon im Juli 1941 mit systematischen Erschießungen von Juden. Sie wurden dort zum Auslöser einer allgemeinen Pogromstimmung und hemmungsloser Mordlust zunächst gegenüber den einheimischen Juden 20 . Mitte Oktober 1941 hatte dann mit den Eisenbahntransporten europäischer Juden zu den Stätten der Vernichtung eine erweiterte Dimension des Judenmordes begonnen. Der Breslauer Zug vom 25. November 1941 mit seinen eintausend Menschen gehörte zu den ersten dieser Art. Was die aus Breslau nach Kaunas Verschleppten erwartete, mögen die wenigsten von ihnen für vorstellbar gehalten haben. Es fällt schwer weiterzuberichten: Litauische „Partisanen" verübten auf Befehl des SS-Standartenführers Karl Jäger eine Massenerschießung wehrloser Menschen. Es war eine Exekution unter entwürdigendsten Umständen, deren einziger Trost darin liegt, daß den Opfern eine lange Leidenszeit erspart blieb. Der berüchtigte „Jäger-Bericht" des verantwortlichen SS-Offiziers reduziert das Unfaßbare auf bloße Zahlen 21 . Danach wurden die eintausend Breslauer gemeinsam mit einer gleichen Anzahl Wiener Juden am 29. November 1941 im Fort I X am Rande der Stadt um ihr Leben gebracht. Es waren 1.155 Frauen, 693 Männer und 152 Kinder. Zu diesen Opfern gehörte auch der Autor dieses Buches mit seiner Ehefrau Gertrud und ihren beiden Töchtern Susanne, neun Jahre
18 Freundliche Mitteilung von Alfred Konieczny, Wroclaw, 20. Mai 1993, dessen Forschungen über die Breslauer Deportationen und die Namen der Opfer vor dem Abschluß stehen. Weitere Nachweise bei Franciszek Pofomski: Deportacje Zydöw z Dolnego Slgska w latach 1941-1944. Pröba rekonstrukcji; in: Z Dziejow Ludnosci Zydowskiej na Sl^sku. Wroclaw 1991, S. 83-119. 19 Vom Leiden und Sterben der litauischen Juden in Kaunas (Kowno) berichtet ein heimlich geführtes Tagebuch, das aber ohne Aufschluß über das Schicksal des Breslauer Transportes vom 25. November 1941 ist. A. Tory: Surviving the Holocaust. The Kovno Ghetto Diary. Cambridge Mass. 1990. 2 0 E . Klee, W . Dreßen, V. Rieß: „Schöne Zeiten". Judenmord aus der Sicht der Gaffer. Frankfurt/M. 1988, S.42ff. 21 Ebd. S. 57. Nach Auskunft von Willi Dreßen konnte Karl Jäger erst 1959 verhaftet werden und erhängte sich am 22. 6. 1959 im Gefängnis Hohenasperg bei Stuttgart.
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alt, und Tamara, drei Jahre alt. Sie alle mußten sterben, nur weil sie Juden waren. Der Ort, an dem in diesen Jahren 67.000 Menschen starben, ist heute eine Gedenkstätte 22 . Aber wo ließe sich dort ein Stein für die Breslauer Opfer niederlegen? Wenn das schon versagt bleibt, so sollte zumindest die Erinnerung an diese Menschen nicht verlorengehen. Dieses Buch mag dazu beitragen, zumal damit ein Wunsch seines Autors erfüllt wird, der immer wieder von der Hoffnung sprach, es möge sein Buch einmal von seinen Kindern (174), „Enkeln und späteren Generationen" (357) gelesen werden. Cohn wollte aber nicht nur seine eigene Familie ansprechen, sondern allgemein jüdische (184) und nichtjüdische Leser (276), Schlesier und Nichtschlesier (93) der „Generationen ... die nach mir kommen" (184). So ist abschließend noch einmal von diesem Buch zu sprechen, das im übrigen den Höhepunkt einer lebenslangen und erstaunlichen Publikationstätigkeit und Schreibfreude bildet. Erst die Auswertung des Manuskriptes ließ das ganze Ausmaß dieser schriftstellerischen Arbeit erkennen. Da die im Text erwähnten Titel bibliographisch überprüft wurden, wuchs während der Bearbeitung ein Schriftenverzeichnis aller ermittelbaren Veröffentlichungen Willy Cohns heran, das mit allen Neuauflagen an die 500 Titel umfaßt. Selbst wenn vieles davon auf Kleinschriften, Rezensionen und Kurzbeiträge entfällt, so kommt doch ein außergewöhnliches Œuvre zusammen, zu dem noch die ungedruckten Manuskripte hinzugehören, wie dieses hier zum ersten Mal erscheinende Erinnerungswerk. Was Cohn in drei Jahrzehnten als Wissenschaftler, Pädagoge und Korrespondent mehrerer Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, alles weitgehend neben seiner Berufstätigkeit, ist einfach staunenerregend. Es war nur durch eine an Besessenheit grenzende Arbeitsdisziplin möglich. Selbst die Hochzeitsreise von 1923 nutzte er zur Arbeit an einem neuen Buch (360). Diese Anstrengungen galten jeweils ganz unterschiedlichen Zwecken. Auf der einen Seite standen seine wissenschaftlichen Arbeiten zur normannisch-sizilischen Geschichte, die ihm den Spitznamen Osias Kaplanas: The Ninth Fort Accuses. Vilnius (Mintis Publishers) 1976. Lea Rosh und Eberhard Jäckel: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Deportation und Ermordung der Juden, Kollaboration und Verweigerung in Europa. Hamburg 1990, hier: S. 41-45. 22
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„Normannen-Cohn" einbrachten. Daneben fanden sich seine „kleinen sozialistischen Biographien" über Ferdinand Lassalle, Karl Marx, Friedrich Engels und andere, die zum Zwecke der politischen Bildung „der Jugend erzählt" wurden. Im Laufe der Jahre traten dann die historischen und zeitkritischen Beiträge zur Geschichte des Judentums hinzu, die er gerne zu einem Buch zusammengefaßt hätte, das einmal den Titel „Im Kampf um das Judentum" tragen sollte (339). Seine bereits zum Druck eingereichten Beiträge für das unvollendet gebliebene allgemeine Standardwerk Germania Judaica (430) sind noch verschollen. Nicht zu reden von den angefangenen Büchern, den ungedruckt gebliebenen Manuskripten, darunter eines zur Geschichte des Breslauer Judentums und den vom 19. Lebensjahr an, also von 1907 bis 1941, geführten Tagebüchern, die in 108 Tagebuchheften erhalten sind. Die Veröffentlichung dieser Lebenserinnerungen erforderte für den Herausgeber einige grundsätzliche Vorüberlegungen und Abwägungen des Umganges mit dem Manuskript. Sollte man seinen dokumentarischen Wert über den inhaltlichen stellen? War es nicht ein Gebot der Pietät, das Schreibmaschinenmanuskript mit allen Versehen und Mängeln zum Abdruck zu bringen, gar als Faksimile? Nur dadurch ließe sich doch das Atmosphärische der Entstehungsbedingungen richtig wiedergeben. Nach reiflicher Überlegung hat sich der Herausgeber für eine wissenschaftliche Redigierung entschieden, nicht zuletzt deshalb, weil der Verfasser sich selbst mehrfach klar über den Anspruch seines Werkes geäußert hatte. Solche Wünsche konnten nicht übergangen werden. Das vorliegende Rohmanuskript erhielt eine sorgfältig abwägende Redigierung, die den Hinweisen, Intentionen und früheren Beispielen des Verfassers gerecht werden wollte. Unter Einhaltung wissenschaftlicher Editionsprinzipien wurde mit dem Manuskript wie folgt verfahren: Da war zunächst seine Länge von 1048 eng beschriebenen Seiten. Als Diktat wies es Wiederholungen und Abschweifungen auf, die nach Kürzung verlangten. Der Verfasser konnte über der Erinnerung an herrliche Urlaubsreisen ins Schwärmen geraten und dabei seinen Vorsatz aus dem Auge verlieren, eigentlich „jüdische" Lebenserinnerungen schreiben zu wollen. Das war psychologisch nur zu verständlich. Von Reisen erzählen zu können, bedeutete ja eine Fluchtmöglichkeit aus der bedrängten Lage des Jahres 1940, in der jede Bewegungsfreiheit genommen war. Cohn selbst notierte beiläufig, daß die gemeinsame Erinnerung an ihre Fahrten für ihn und seine Frau das Schönste sei, was ihnen noch geblieben war (495). Folglich kann das
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Buch auf beispielhafte Ausschnitte solcher Eindrücke nicht verzichten. Da sich aber viele Ziele und Eindrücke jährlich wiederholten und der heutige Leser die Schilderung allgemein bekannter Sehenswürdigkeiten eher entbehren kann, wurden in diesem Bereich die umfangreichsten Kürzungen vorgenommen. Generell sind Kürzungen im Buch durch [...] kenntlich gemacht, doch war es unmöglich, jeweils Art und Länge der Auslassung anzumerken. Alle Streichungen zusammen machen fast ein Drittel des Textumfanges aus. Von einer Autobiographie erwartet man Aufschluß über den familiären Hintergrund. Auch Cohn beginnt damit und kommt immer wieder auf seine Familie, die Geschwister, die Verwandtschaft zurück. Das erlaubt einen Einblick in die gesellschaftliche Stellung der Familie in Breslau und darf nicht fehlen. Der Erzähler Cohn verweilt aber nicht ungern bei Krankheitsgeschichten und Familienzwist oder schafft altem Ärger Luft. Das ist für Unbeteiligte durchaus entbehrlich. Das vorliegende Buch verliert nichts von seinem historischen Wert, wenn es hier die gebotene Diskretion wahrt. Der Verfasser hat von 1940 an bis September 1941 den ganzen Text unter Heranziehung seiner Tagebücher in die Schreibmaschine diktiert. Die Niederschrift nahm seine Ehefrau vor. In der lebensbedrohlichen Lage im Herbst 1941 blieb keine Zeit mehr für eine Durchsicht des Manuskriptes. Nur am Anfang finden sich handschriftliche Korrekturen des Verfassers, deren Bedeutung vor allem darin liegt, daß damit der ganze Text als von Cohn stammend gesichert ist. Ein Diktat von solcher Länge kann kaum fehlerfrei sein. Zahlreiche Tipp- und Hörfehler sind offenkundig, daneben aber auch Versehen des Autors in der richtigen Benennung von Personen, Orten, Ereignissen und Jahreszahlen, verständlich für jemanden, der überwiegend aus dem Gedächtnis schöpft. Hörfehler waren es wohl, wenn es im Text „Heiliges Land" hieß und nicht „Helgoland", „Rhein" statt „Main", „kolonisiert" statt „polonisiert". Aber eindeutige Diktatfehler waren die Verwechslung von Catania mit Syrakus, eines Denkmals mit einem Gemälde, der Kirche St. Godulla mit St. Godehard. Das Rohmanuskript vermittelt beiläufig eine Vorstellung des routinierten Vortragsredners Cohn. Es enthält eine Menge von „beiseitegesprochenen" Wendungen wie: „und nun wollen wir uns diesem zuwenden" und unzählige rhetorische Flickwörter. Gravierender waren Versehen in Grammatik, Wortwahl und Satzbau. Überlange Sätze, Wiederholungen von Worten und Gedanken, mußten vereinfacht, zuweilen auch so umgestellt werden, daß sie verständlich wurden. Dabei galt es,
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Stil und Intention des Autors zu erhalten. Bei diesen Eingriffen in die Textvorlage kann sich der Herausgeber auf den Autor berufen, der seine eigene „Redneritis" kannte und wußte, „eine Rede ist keine Schreibe" (385). Auch unter normalen Verhältnissen hat Cohn seine Manuskripte von Lektoren und Freunden „durchfeilen" lassen (391). Er hätte es auch mit diesem Buch nicht anders gehalten. Die Hast der Niederschrift hat dem Verfasser auch nicht mehr erlaubt, seine Lebenserinnerungen in Abschnitte zu gliedern. Erst der Herausgeber hat solches vorgenommen und auch die Überschriften der einzelnen Kapitel formuliert, die alle einen wörtlichen oder sinngemäßen Bezug auf den Text nehmen. Als Ergebnis liegt somit ein Erinnerungswerk vor, dessen historische Aussagekraft für das Breslauer Judentum zu Anfang unseres Jahrhunderts seinesgleichen sucht. Kein anderes Werk hat bisher das private und kulturelle Leben des jüdischen Breslau in seiner bedeutendsten Zeit so nah und vielseitig dargestellt wie dieses. Cohn schrieb seine Erinnerungen in dem Bewußtsein, vielleicht der letzte Zeuge einer „abgelaufenen Epoche" oder gar „einer untergegangenen Welt" (185) des schlesischen Judentums zu sein, dessen Spuren bald verweht sein würden. Mehrfach findet sich bei ihm eben diese Formulierung (144,348), die der Herausgeber dann als Obertitel über das ganze Werk gestellt hat: „Verwehte Spuren" (468). Die geplante Fortsetzung seiner Erinnerungen hat Willy Cohn nicht mehr schreiben können, aber seine unveröffentlichten Tagebücher enthalten reiche Beobachtungen, die er nicht zuletzt auch für diesen Zweck zusammengetragen hat. Es mag sein, daß in ihnen das rein Private überwiegt, es sollte privat bleiben. Aber die beispielsweise 21 Tagebuchhefte zwischen dem 24. 10. 1937 und dem 7. 9. 1941 mit ihrem Umfang von 3453 Seiten enthalten zugleich Berichte „von großer Bedeutung" für die jüdische Geschichte 23 . Es wäre zu wünschen, daß dieses Buch zu weitergehenden Überlegungen Anlaß gäbe, zu einer Fortsetzung, die man sich als zeitgeschichtlichen Querschnitt aus Willy Cohns Tagebüchern von 1933 bis 1941 vorstellen könnte. Würde nicht dadurch erst die glückliche Rettung dieser Tagebücher über alle Zeitläufte hinweg ihren tieferen Sinn erhalten? Und würde nicht eine solche Fortsetzung durchaus dem Anliegen Willy Cohns entsprechen?
Gutachten Kurt Jakob Ball-Kaduri über Cohns Tagebücher, Tel Aviv, 5. Juli 1961. Archiv Yad Vashem, Jerusalem, 0-1/260. 23
Meiner geliebten Frau Gertrud Karoline Sara geborene Rothmann zu Rosch Haschana 5702 [22. September 1941]
WIDMUNG Eine bedeutsame Epoche des Judentums in Deutschland neigt sich ihrem Ende zu. Jüdische Menschen gehen seit sieben Jahren in alle Teile der Welt, und vieles, was eben noch Gegenwart war, ist nun schon Vergangenheit. Manches von dem, was gewesen ist, werden Akten, die sich in den Archiven erhalten, späteren Jahrhunderten übermitteln. Darüber hinaus aber hat in allen Zeiten die persönliche Erinnerung des Einzelnen ihren besonderen Wert als geschichtliche Quelle. Das Judentum ist an Memoirenwerken nicht allzu reich. Das, was der Verfasser dieser Erinnerungen anstrebt, ist nichts anderes, als das, was einstmals auch Glückel von Hameln anstrebte: sich in einer schweren Zeit das von der Seele zu schreiben, was wert ist, festgehalten zu werden. Der Schreiber dieser Zeilen fühlt sich in dem Sinne, wie es unsere Vorfahren gemeint haben, als bescheidener Jude. In dem Augenblicke, da er das Diktat dieser Erinnerungen beginnt, steht er im zweiundfünfzigsten Lebensjahr und kann mit Bewußtsein auf Jahrzehnte Arbeit am Judentum zurückblicken. Alles, was er niederlegt, ist nur subjektiv gemeint. Keine allgemein gültigen Urteile werden gefällt; nur das, was ihm selbst begegnet und was er selbst erstrebt hat, soll niedergelegt werden. Er glaubte aber richtig zu handeln, wenn er auch das Milieu, aus dem er stammt, eingehend schildert. Eine bürgerliche jüdische Familie aus der Zeit der Jahrhundertwende, aus der Epoche, die man Fin de siècle nannte, ist heute schon etwas, das dem jetzt lebenden Geschlecht entschwunden ist. Ich widme dieses Buch meiner Frau, meiner Lebensgefährtin in guten und schweren Tagen; es ist hier auch ein Teil ihres Lebens enthalten. Ich widme es unseren fünf Kindern, von denen heute drei in drei Erdteilen leben. Möge es einmal ihnen und unseren Enkelkindern Erinnerung an das sein, was wir gewollt, und Richtschnur für ihr künftiges Leben. Ich widme es dem neuen jüdischen Geschlecht in Erez Israel, das die Tradition des deutschen Judentums aus seinen besten Tagen mit den zukunftsweisenden Gedanken der zionistischen Welt verbinden soll. Am Jisrael chaj: das Volk Israel lebt.
I. E I N S C H W I E R I G E R J U N G E
(1888-1906)
„In meinem Elternhaus brannte der Weihnachtsbaum, es brannten auch die Chanukkaleuchter."
Als ich am 12. Dezember 1888 in Breslau am Ohlau-Ufer 15 geboren wurde, gaben mir meine Eltern den Namen Willy. Ein großer Teil der jüdischen Jungen, die 1888 diese Erde betraten, erhielten den Namen Wilhelm oder Friedrich. 1888 war das Dreikaiserjähr. In ihm war der Gründer des zweiten Reiches der Deutschen, Wilhelm I., gestorben, ebenso sein Sohn Kaiser Friedrich III. nach nur neunzigtägiger Herrschaft. Mit ihm war die Gedankenwelt des politischen Liberalismus besonders verknüpft. Was lag näher, als daß jüdische Jungen seinen Namen bekamen. Aber auch im Reiche Wilhelms I. hatte das Judentum in Deutschland Aufstieg und Ansehen gewonnen. Deswegen galt auch er als ein guter Namenspatron für diejenigen jüdischen Familien, die in ihren Kindern die Verknüpfung mit dem Deutschtum stark betonen wollten. Mit dieser doppelten Stellung zu Deutschtum und Judentum war unserer Generation kein leichtes Geschenk in die Wiege gelegt worden. Davon wird an gegebener Stelle noch ausführlich zu sprechen sein 1 . Wenn ich an meine früheste Kindheit denke, so steigt jenes umfriedete Elternhaus vor meinem geistigen Auge auf, das besonders von der bedeutenden Gestalt meines seligen Vaters erfüllt war, Louis Cohn. Louis Cohn war in seiner Zeit in Breslau ein Begriff. Er war am 19. Februar 1843 in Samter in der Provinz Posen geboren. Eigentlich hieß er mit Vornamen Lippmann. Aber wie viele Juden, die eigentlich einen jüdischen, beziehungsweise hebräischen Namen besaßen, nannte er sich von seinem Eintritt in das Geschäftsleben an mit einem ähnlich klingenden Vornamen.
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Vgl. unten S. 224 f. und S. 269 f.
Ein schwieriger Junge (1888-1906)
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Was die Provinz Posen ihren jungen Juden an Werten mitgegeben hat, kann hier nicht dargestellt werden. Da ich das Unglück hatte, meinen Vater schon im Alter von vierzehn Jahren zu verlieren, so weiß ich darüber nur einiges aus den Erzählungen und aus der Tradition des Hauses. Einmal in meinem Leben war auch ich in dieser Stadt Samter und erinnere mich an den Schwager meines Vaters, David Kauff, der dort eine Bierbrauerei betrieb, an seine Frau Dorothea, die Schwester des Vaters, und an meine Großmutter Henriette Cohn geb. Holländer, die meinen Vater um viele Jahre überlebt hat. Es war eine kleine Welt, aber fest begründet in dem Besten, was uns das Judentum zu sagen hat: Glauben und Familie. Pünktlich trafen zu allen Festen und zu allen Geburtstagen die Briefe aus Samter ein. Meine Großmutter hat niemals in deutschen Schriftzeichen zu schreiben vermocht. Sie bediente sich der hebräischen Kursivschrift, schrieb aber in deutscher Sprache. Ich besitze wohl noch alle Briefe, die sie an den Vater nach Breslau gerichtet hat. Wenn ich bedenke, daß sie im Jahre 1910 starb und daß einer ihrer Enkel, mein Sohn Ernst Adolf Abraham, schon im Jahre 1936 die hebräische Sprache in Wort und Schrift in Erez Israel geläufig beherrschte, so liegt kein so großer Riß zwischen den Generationen, wie es zuerst scheint. Für meinen Vater waren die Reisen nach Samter, die er regelmäßig machte, eine Rückkehr in seine eigene Kindheit. Meine Mutter sah diese Reisen nicht allzu gern. Sie selbst stammte aus einem ganz anderen Milieu und hat sich in das jüdische Städtel2 nicht hineinfinden können. Mein Großvater Isaak Cohn muß, wie mich spätere familiengeschichtliche Forschungen gelehrt haben, schon um das Jahr 1880, also lange vor meiner Geburt, gestorben sein. Denn mein Bruder Franz, der 1881 geboren wurde, erhielt nach ihm den Nameri Isaak. Es war eine lebendige Tradition im Judentum, den Enkel nur dann nach dem Großvater zu nennen, wenn dieser schon in die andere Welt gegangen war. Isaak Cohn stammte aus Schönlanke. Von ihm und seinen Vorfahren weiß ich nichts. Dagegen hat sich über die Vorfahren meiner Großmutter Henriette Holländer noch einiges feststellen lassen, das ich hier einflechten möchte. Henriette Holländer dürfte etwa um 1815 geboren sein, denn als sie 1910 starb, war sie nicht mehr weit von hundert Jahren entfernt. Ihr Vater war Jesuchor Baer Holländer, der zu Samter 1781 geboren wurde und dort am 15. September 1863 gestorben ist; wir kennen seinen Grabstein. Er wird gerühmt, daß er sich durch Mizwes ausgezeichnet hat und fünfundfünfzig Jahre Möbel in der Gemeinde Samter gewesen ist. Städtel im Sinne des jiddischen Schtetl. Vgl. M. Zborowski und E . Herzog: Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. München 1991. 2
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I. Kapitel
Er ist ein Mann von literarischen Interessen gewesen, denn wir wissen, daß er auf viele hebräische Werke subskribiert war. Damit setzte er die Tradition seines Vaters fort. Dieser Vater war der würdevolle Rabbiner, wie es auf dem Grabstein heißt: Scholaum Amsterdam. Seinen Geburtstag kennen wir nicht; doch wissen wir, daß er in Amsterdam in Holland geboren war und in Samter am 27. Juni 1823 starb. Auf seinem Grabstein heißt es: „Hier ruht der, welcher Verdienstvolles geleistet und viele zu verdienstvollen Taten angeleitet hat; er war der Vorsitzende des Gerichtshofes unserer Gemeinde, und er traf religiöse Entscheidungen in seiner Gemeinde viele Jahre." Den Namen seiner Frau, also meiner Ururgroßmutter, kennen wir nicht; aber wir wissen, daß sie die Tochter des Rabbiners Mosche Ben Jizchak war. Dieser war ebenfalls Rabbiner in Samter. Scholaum Amsterdam dürfte wohl bei ihm gelernt und durch dieses Lernen der Gatte seiner Tochter geworden sein. Der Name Holländer wurde dann folgerichtig von der Familie angenommen. Vielleicht, daß spätere Forschungen über diesen Scholaum Amsterdam noch einiges ergeben können. Mit ihm ist ein Stück sephardisches Judentum den weiten Weg (und das ist im 18. Jahrhundert ein sehr weiter Weg) von Holland nach der Provinz Posen gegangen. Vielleicht, daß Scholaum Amsterdam ein Nachfahre der spanischen Juden ist, die 1492 Spanien verließen. Wir wissen das nicht, aber die Tradition scheint im Blute zu leben. 1932 hielt ich in vielen Gemeinden Deutschlands einen Vortrag, in dem ich das Jahr 1492 mit dem Jahre 1932 verglich, dem Vorabend der großen Judenaustreibung aus Deutschland. Vielleicht, daß unbewußt in meiner Seele das wirksam wurde, was fernste Reihen von Ahnherren schon einmal erlebt haben. Aber zurück von diesen weltweiten Zeiträumen zu der kleinen Welt der eigenen Familie! Die Großmutter Henriette Cohn geb. Holländer, von der ich noch viele Bilder besitze, war eine jüdische Patriarchin im besten Sinne des Wortes. Ihre einfachen und bescheidenen Briefe waren in ihrer Anspruchslosigkeit dazu bestimmt, Freude zu erwecken und das Band mit den Enkelkindern zu knüpfen, die sie nur selten sehen konnte. Reisen war in jenen Zeiten noch nichts Alltägliches. Heute erscheint eine Entfernung von Samter nach Breslau keine sehr große zu sein; aber um 1890 war das für eine Frau um siebzig schon eine strapaziöse Reise. Sie hat ihre Tage übrigens nicht in Samter beschlossen, sondern ist, als ihre verwitwete Tochter ihren Söhnen nach Berlin nachzog, mit ihr gegangen
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und dort gestorben. So konnte sie nicht neben ihrem Manne begraben werden. Wieviel ließe sich über diesen unglückseligen Zug der Posenschen Juden nach der Reichshauptstadt sagen! Gewiß, er war verständlich; man drängte aus der Enge des Städtchens heraus. Aber er hat letzten Endes auch alle die Verfallserscheinungen mit sich gebracht, die ihrerseits die Ursachen zu dem wurden, was das 20. Jahrhundert dem Judentum in Deutschland vorbehielt. Ohlau-Ufer 15. Am 3. Mai 1880 hatte mein Vater dieses Haus gekauft. Er hat es also schon in sehr frühen Jahren zu einem erheblichen Wohlstand gebracht. Mit vierzehn Jahren war er lebenshungrig und tatenbereit nach Breslau gekommen. Bei alten Jungfern, den Geschwistern Trautner, hat er seine kaufmännische Ausbildung erfahren. Das war ein bescheidener Posamentenladen, der sich in der Elisabethstraße befand, einer kleinen Gasse, die bei dem altehrwürdigen Breslauer Rathaus vorbeiging. In diesem Geschäft scheint er sich das Vertrauen der alten Damen erworben zu haben, und als diese den Wunsch äußerten, sich zur Ruhe zu setzen, kaufte er von ihnen das Geschäft. Das Geld stellte ihm seine Schwester Marie zur Verfügung. Er hat es ihr später selbstverständlich zurückerstattet und hat ihr niemals vergessen, daß sie ihm den äußeren Aufstieg ermöglichte. Auch sie hat ein hohes Alter erreicht, wie überhaupt die Frauen der Familie sehr alt werden durften. Sie starb im Jahre 1936 im Alter von neunzig Jahren. Noch besitze ich den Kaufvertrag, den mein Vater mit dem Fräulein Trautner geschlossen hat. Das Geschäft führte nunmehr den Namen „Geschwister Trautner Nachfolger" und siedelte später nach dem Ring 52 über. Im Jahre 1902 erwarb mein Vater das Grundstück Ring 49, das er niederreißen und auf ihm ein modernes Geschäftshaus aufführen ließ. Dieses Haus wurde von den sehr angesehenen Regierungsbaumeistern Ehrlich aufgeführt 3 , in einem Stil, der sich dem einzigartig schönen Ring in Breslau einfügte. Vielleicht ist das auch auf die Initiative meines Vaters zurückzuführen, der, obwohl er nur die Volksschule in Samter besuchen durfte, von einem außerordentlichen Bildungsstreben erfüllt und von einer Begeisterung für alles Schöne und Edle war. An den Bau dieses Hauses kann ich mich noch mit allen Einzelheiten erinnern. Ich weiß, daß man beim Über Richard und Paul Ehrlich vgl. J. J. Menzel (Hg.): Katalog Breslauer Juden 1850-1945. St. Augustin 1990, S. 72-75. Die beiden Architekten entwarfen auch den Bau des Erbbegräbnisses der Familie Cohn auf dem Friedhof Lohestraße, vgl. W. Cohn: Als Jude in Breslau 1941, S. 86. 3
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I. Kapitel
Ausschachten eine altertümliche Säule gefunden hat, die dem Breslauer Altertumsmuseum geschenkt wurde 4 und sich wohl heute noch dort befinden mag, was ich allerdings nicht festzustellen vermag, da ich ja das Museum nicht mehr betreten darf 5 . Das schöne Trautnerhaus, nach dem bis zum heutigen Tage die ganze Ringseite „Trautnerseite" heißt, ist bis zum Jahre 1939 im Familienbesitze geblieben. An diesem herrlichen Gebäude, das die Firma zu einem großen Ansehen emporsteigen ließ, hat mein Vater keine sehr lange Freude mehr haben dürfen. Er hat den Einzug nur um wenige Monate überlebt. An dieser Stelle ist keine Geschichte der Firma zu schreiben, obwohl auch das eine recht interessante Aufgabe wäre. Doch möchte ich wenigstens kurz die Art und Weise umreißen, wie mein Vater als Kaufmann gearbeitet hat, soweit ich mich noch selbst darauf erinnere und soweit ich das zu beurteilen vermag. Das Wesen seiner Arbeit waren die unbedingte Pflichttreue und das unermüdliche Schaffen. Der Aufbau seines Geschäftes fiel in die Zeit, in der die Stadt Breslau wie die meisten Städte des Deutschen Reiches einen mächtigen Aufstieg nahm. Wenn auch Breslau hinter anderen Städten des Reiches durch seine nicht besonders günstige Lage zurückblieb, so war in ihr doch Raum für das Schaffen aufstrebender junger Menschen. In diesem Geschäft hat mein Vater alles und jedes vom Kleinsten an selbst geschaffen. Von früh um acht bis abends um acht war er mit kurzer Mittagspause tätig. Es waren vor allem die vielfachen Artikel für die Kleidung der Frau, besonders für das Zubehör, die hier verkauft wurden. Damals waren Posamenten der große Artikel. Die Firma unterhielt ein Comptoir in Annaberg in Sachsen. Dieser Ort liegt hoch oben im Erzgebirge. Dort in armer Gegend stellten Heimarbeiter die Posamenten her. Regelmäßig fuhr mein Vater dorthin, oft auch im Winter. In beschwerlicher Schlittenfahrt suchte er alle die Menschen auf, die für die Firma arbeiteten. Er hatte die Fähigkeit, auch mit dem einfachen Mann in seiner Art zu sprechen, und ich weiß, wie alle seine Angestellten und Arbeiter an ihm hingen.
Die Schenkung einer bemalten Säule des 16. Jahrhunderts „aus dem Haus Ring N r . 5 " (eigentlich doch Ring 49!) durch Louis Cohn ist vermerkt in: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Jahrbuch des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer 2 (1902), S. 200. 4
Seit dem 12. 11. 1938 war durch Anordnung der Reichskulturkammer für Juden der Besuch von Ausstellungen u.ä. verboten. 5
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Das zeigte sich auch, als er leider so früh im Alter von nur sechzig Jahren starb. Ein Kaufmann wie er faßte die Arbeit als das Beglückende auf. Nur einmal im Jahre hat er sich eine Erholungsreise gegönnt. In den allerletzten Jahren seines Lebens ist er im Frühjahr noch für kurze Zeit nach Wiesbaden gefahren, wo ihn dann auch der Tod ereilte. Aber etwas gehörte in den Ablauf seiner Arbeitswoche: der regelmäßige Besuch der Synagoge. Ich habe meinen Vater jeden Freitagabend vom Geschäft abgeholt und in die Neue Synagoge begleitet 6 , wo er Vorsteher war. Einen Monat hatte er immer Dienst, das heißt, er hatte oben auf der Empore zu stehen und beim Vorlesen aus der Thora dem Aufgerufenen die Stelle zu zeigen, die gelesen wurde. Wie stolz war ich, daß er das bei meiner Barmizwah auch bei mir tun durfte. Es war Sitte der Neuen Synagoge, die dem liberalen Ritus angehörte (sie ist im November 1938 verbrannt worden) 7 , daß man dort den Tallitb nicht offen trug, sondern nur in der Form eines schmalen Streifens, wie eine Stola im katholischen Ritus. Ich sehe meinen Vater, wie er hinter der Thora ging, die Enden des schmalen Gebetsmantels nach hinten haltend. Dieser Weg vom Ring nach dem Schweidnitzer Stadtgraben, wo die Synagoge stand, mag im gemeinschaftlichen Gespräch schon früh jene Liebe zum Judentum in meine Seele gelegt haben, die mich mein ganzes Leben erfüllte. Selbstverständlich brannten bei uns am Freitagabend die Sabbatkerzen, und immer gab es Fisch, den aber meine Mutter sehr ungern aß, da ihr die Gräten Schwierigkeiten bereiteten. Nur eine ganz kurze Mittagspause gönnte sich mein Vater. Auch abends kam er spät nach Hause. Es gab ja noch keinen Sechs- oder Sieben-Uhr-Ladenschluß. Ich war glücklich, wenn ich dann noch ein paar Minuten im Eßzimmer sitzen durfte. Oft wurde bei der Lektüre des Abendblattes über die Politik gesprochen, und so wurden auch schon früh in mir politische Interessen erweckt. In der Firma Geschwister Trautner wirkte als Mitinhaber auch der jüngere Bruder meines Vaters, Moritz Cohn, der heute, da ich dieses schreibe, in Buenos Aires lebt, der aber in jeder Beziehung so ganz anders geartet war als mein Vater. Geschäftlich soll er stets hervorragend Die Neue Synagoge, wie sie im Unterschied zur Storchsynagoge genannt wurde, war ein Bau des aus Oels stammenden Architekten Edwin Oppler im Stil der rheinischen Romanik. Sie wurde in den Jahren 1866 bis 1872 erbaut und war damals neben der Berliner die zweitgrößte Synagoge Deutschlands. Sie bildete den Mittelpunkt des liberalen Judentums in Breslau. Ihre sechzig Meter hohe Kuppel verlieh der Breslauer Südstadt einen unübersehbaren städtebaulichen Akzent. 6
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S. unten S. 527, Anm. 92.
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I. Kapitel
tüchtig gewesen sein, aber es fehlte ihm der Herzenstakt und die feinere Bildung. Er war schon ein stärkeres Produkt der Assimilation. Äußerlich paßte er sich der Umwelt an. Zeit seines Lebens stand er mit der deutschen Sprache ein wenig auf dem Kriegsfuß, während mein Vater geradezu meisterliche Briefe verfaßte, die er in seiner charakteristischen Handschrift in einem Zuge auf das Papier warf. Moritz Cohn verheiratete sich mit der besonders schönen Tochter des Schuhfabrikanten Dorndorf. Aber diese Schönheit ist auch das einzig Rühmenswerte, das sich von ihr sagen läßt. Ihre beiden Kinder (wozu ihre Namen nennen?) sind dem Judentum fremd geworden. Der einzige Sohn hat seinen Namen geändert; die Tochter hat vorübergehend einen verarmten Adligen geheiratet. In die Firma Trautner trat später auch einer meiner Brüder, Hugo, ein und dann nach Jahrzehnten mein jüngster Bruder Rudolf. Nach dem Testament des Vaters hätte ich selbst auch die Möglichkeit gehabt, Mitinhaber zu werden. Aber ich hatte mich schon früh der geistigen Arbeit verschworen. Wir waren am Ohlau-Ufer 15 ein kinderreiches Haus. Mein Vater war in erster Ehe mit Ernestine Sachs verheiratet. Es soll eine sehr glückliche Ehe gewesen sein, aus der fünf Kinder hervorgingen. Im sechsten Wochenbett starb Ernestine Cohn. Zwei meiner Geschwister kannte ich nicht; eine Schwester war nach wenigen Monaten gestorben, ein Bruder Richard im Alter von vier Jahren. Drei Brüder, Martin, Hugo und Franz waren also älter als ich, und ich habe eigentlich erst sehr spät und durch einen Zufall erfahren, daß wir nicht dieselbe Mutter hatten. Meine Mutter hatte keine leichte Aufgabe übernommen. Es war ja nicht nur, daß sie drei Kinder zu versorgen hatte, es war auch die Tatsache, daß die ganze Sachssche Familie, die Angehörigen der ersten Frau meines Vaters, in Breslau lebten und daß sie mehr oder weniger unauffällig kontrollierten, ob meine Mutter alles richtig machte. Das war sehr diffizil für eine junge Frau, die mit dem besten Willen kam, den verwaisten Kindern eine gute Mutter zu sein. Dazu kam noch, daß die Sachssche Familie zu denjenigen Juden gehörte, die aus einer Kleinstadt zugezogen waren, nämlich aus Winzig bei Wohlau in Schlesien, und daß sie bis auf wenige Ausnahmen die kleinstädtische Einstellung bewahrten, nämlich Fragen der Ernährung und des Einkaufs von Lebensmitteln als besonders wichtig anzusehen. Eine dieser Tanten, um das an einem Beispiel zu charakterisieren, konnte stundenlang einen Vortrag darüber halten, wie ausgezeichnet und billig man in der Friedrich-Wilhelm-Vorstadt Salat einkaufte. Sie
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selbst lebte in der Ohlauer Vorstadt. Sie übersah dabei, daß diese ganze Ersparnis durch zwanzig Pfennig Fahrgeld wieder ausgeglichen wurde. Es ist ja sicher, daß Menschen, die diese Einstellung haben, subjektiv sehr glücklich sind, weil sie Freuden haben, die ein anders konstruierter Mensch sich nicht so leicht erwerben kann. Andrerseits aber wird das Leben sehr kompliziert, wenn Menschen dieser Art mit den Menschen anderer Art in nahe Berührung kommen. Das habe ich später im Leben oft selbst erfahren müssen, und das hat auch meine Mutter gründlich kennengelernt. Die Sachsschen Tanten waren übrigens meist sehr gute Menschen und zu mir immer rührend. Ich hatte auf diese Weise drei Großmütter. Es hat sehr lange gedauert, bis ich mir darüber Sorgen machte, daß es damit doch eigentlich irgendeine Bewandtnis haben müßte. Oft habe ich bei Großmutter Sachs, die auch am Ohlau-Ufer wohnte, gesessen, meist auf einer Ritsche (so nennt man schlesisch eine Fußbank)8 und habe mit einem Metermaß gespielt, das sich auf eine Kaffeemühle aufrollen ließ. Ich sehe das noch heute nach über vierzig Jahren vor mir, so als ob es gestern gewesen wäre. Die Großmutter Sachs war eine besonders gütige Frau. Aber für meine selige Mutter war es sehr schwer, wenn jemand am Freitag einen Besuch machte, um unter irgendeinem Vorwand festzustellen, ob die Karpfen auch so gekocht würden, wie das eben früher der Fall war. Von allen diesen Verwandten lebt heute noch eine Tante, Elise Sachs, sowie ihr Bruder Ludwig. Diese Tante Elise hat durch alle Jahrzehnte meinem Herzen besonders nahegestanden. Häufig plaudere ich mit ihr von den alten Zeiten. Dabei war ihre Güte besonders deswegen entsagungsvoll, weil sie wohl damit gerechnet hatte, daß mein Vater nach dem Tode seiner ersten Frau, ihrer Schwester, sie heiraten würde, was auch dem jüdischen Gebot der Leviratsehe entsprochen hätte. Es steigen viele Schatten aus der Vergangenheit auf, wenn ich an die Sachsschen Tanten denke. Mein Vater ist vielleicht nie ganz den Gedanken losgeworden, daß er möglicherweise durch seine neue Ehe an der Sachsschen Familie unrecht gehandelt habe. Deswegen hat er den Zusammenhalt mit ihr besonders betont. Er hat in der Regel jeden Sonntagnachmittag große Zusammenkünfte veranstaltet, sei es bei irgendeinem der Verwandten, sei es in der Schweizerei im Scheitniger Park. Abgesehen von den erheblichen Mengen von Streuselkuchen, die es dabei zu vertilgen gab, waren mir diese Zusammenkünfte furchtbar, wie
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Vgl. W . Mitzka: Schlesisches Wörterbuch. Bd. 2. Berlin 1965, S. 1128.
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mir ja bis zum heutigen Tage größere Menschenansammlungen gräßlich sind. Noch mehr hat darunter wohl meine Mutter gelitten, die aber aus unendlicher Liebe zu meinem Vater das immer wieder auf sich genommen hat. Und nun sollte ich begründen, warum das meiner Mutter so schwerfiel, indem ich das Milieu ihres Elternhauses näher beleuchte. Meine Mutter war eine der zahlreichen Töchter des Buch- und Musikalienhändlers Julius Hainauer in Breslau. Julius Hainauer war das, was man im allgemeinen eine Persönlichkeit nennt. Er selbst stammte aus Glogau, wo er als Sohn Abraham Hainauers geboren war. Er hatte eigentlich auch nicht den Vornamen Julius, sondern Ignaz, wie auch der Urgroßvater Abraham den zweiten Vornamen Itzig führte. Julius Hainauer war in Breslau Stadtverordneter, Kommissionsrat und auch Hofmusikalienhändler. Das bedeutete in der kaiserlichen Zeit, die heute weit hinter uns liegt, außerordentlich viel. Er war stolz auf das, was er durch die Gründung der Firma Julius Hainauer geschaffen hatte, einer Firma, die heute noch als Musikalienverlag in London existiert. Gemessen an der Cohnschen Familie in Samter war er in der Stufe der Aneignung europäischer Bildung schon eine Generation voraus, und diese Generation eben machte die Schwierigkeiten aus. Seine Interessen waren, wie sich das aus seinem Berufe ergab, durchaus geistige und im besonderen schöngeistige. Eine Anekdote, die mir meine Mutter oft erzählt hat, ist für ihn vielleicht charakteristisch, zumal ich ihm in diesem Punkte nachgeraten bin. Wenn er Besuch bekam, was sich ja nicht immer vermeiden ließ, und es ihm nicht paßte, sich zu unterhalten, dann zog er sich mit einem Bande der Onckenschen Weltgeschichte 9 in eine Ecke zurück und überließ die Betreuung der Gäste seiner Frau Jenny. Von ihm mag ich wohl auch das große Interesse für Geschichte geerbt haben. Er soll auch ein hervorragender Redner gewesen sein. Lange Jahre hindurch war er Erster Direktor der Gesellschaft der Freunde, für die seine repräsentative Gestalt sich besonders eignete. Er hat auch zum fünfzigsten Jubiläum dieser Gesellschaft ihre Geschichte geschrieben, die beweist, daß er auch mit der Feder gut umzugehen wußte 10 . Seine jüdische Stellung ist damit zu umreißen, daß er der erste Verleger des W . Oncken: Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen. Unter Mitwirkung von Felix Bamberg u.a.. 44 Bände. Berlin 1876-93. 10 Die Gesellschaft der Freunde in Breslau. Erinnerungsblätter für das fünfzigste Stiftungsfest. Gesammelt von Julius Hainauer. Breslau 1871. 9
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radikalen Reformgebetbuches von Abraham Geiger 11 gewesen ist, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verband. Jüdisches Brauchtum lehnte er ab. So war er, wie mir meine Mutter erzählte, nicht einmal bei meiner Brith mila, obwohl ich sein ältester Enkelsohn war. Er kam erst nach der Vollziehung des religiösen Aktes mit der Begründung, daß er sich eine solche Fleischerei nicht ansehe. Man kann sich vorstellen, welche Schwierigkeiten diese seine Einstellung für meinen Vater hatte, der mit ganzer Seele im Judentum verankert war. Es war zum Beispiel auch nicht möglich, die Sachssche und die Hainauersche Familie zusammen einzuladen, zumal mein Onkel Arthur, der Sohn und spätere Nachfolger meines Großvaters in der Buchhandlung, eine besonders mokante Art hatte. Zu einer der vielen Geschmacklosigkeiten, die er sich leistete und die er für besonders geistvoll hielt, gehörte auch, daß er die Sabbatleuchter nahm und eine jüdische Hochzeit imitierte. Er war sich niemals darüber klar, was das für religiös empfindende Menschen bedeutet, wenn man einen ihnen heiligen Brauch in dieser Weise darstellt. Aber das gehört schon einer späteren Zeit an. Zu Julius Hainauer aber, meinem Großvater, ist noch mancherlei zu sagen. Als er 1897 starb, war ich gerade neun Jahre alt, und doch habe ich noch eine sehr genaue Erinnerung an ihn. Die Buchhandlung befand sich Schweidnitzer Straße 52, ehe sie durch Verkauf in arische Hand kam. Ganz hinten in dem langen schlauchartigen Geschäft hatte er sein Kontor, wo ich ihn öfters besuchen durfte. Er war ein Mann mit einem würdigen Bart, der mich mit seinen großen Augen aus goldener Brille musternd anblickte. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, daß er entsetzt gewesen sein soll, daß als er mich fragte, was mir lieber wäre, Geld oder ein Buch, ich lieber das Geld wollte. Nun wird er vielleicht aus der anderen Welt sehen, daß ich diese Scharte wieder ausgewetzt habe und mein Leben zum großen Teil ein Leben in Büchern geworden ist. Ich glaube, daß der Großvater herzensmäßig verhältnismäßig kühl war, während mein seliger Vater von einer besonderen Wärme gewesen ist. Auch diese Kühle barg sicherlich Schwierigkeiten. Inwieweit der Großvater dem Vater gegenüber seine höhere Bildung in den Vordergrund stellte, weiß ich nicht, hoffe aber, es nicht annehmen zu müssen.
" A. Geiger: Israelitisches Gebetbuch für den öffentlichen Gottesdienst im ganzen Jahre, mit Einschluß der Sabbathe und sämmtlicher Feier-und Festtage. Geordnet und mit einer neuen dt. Bearbeitung versehen. Breslau 1854.
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Aus dem Angedeuteten wird man ersehen, wieviel Spannungen und Schwierigkeiten das Leben für eine junge Frau wie meine Mutter in sich barg. Nach damaligen Begriffen war sie, als sie 1888 mit fast achtundzwanzig Jahren heiratete, kein ganz junges Mädchen mehr. Auf der einen Seite wird der Großvater wahrscheinlich froh gewesen sein, daß sie eine so gute und gesicherte Versorgungsehe schließen konnte. Deswegen mag er sich vielleicht auch innerlich damit abgefunden haben, daß sein Schwiegersohn Louis Cohn aus einem ganz anderen Kreise stammte. Denn Julius Hainauer war, als ihm seine zarte Frau eine Tochter nach der anderen schenkte, darüber nicht sehr glücklich. Als wieder ein Mädchen zur Welt kam, nannte er sie Konstanze 12 , um damit anzudeuten, daß mit absoluter Beständigkeit immer Mädchen kamen. Er hat auch zwei Söhne gehabt. Von dem einen sprach ich schon; der andere, Ernst, ist vor meiner Geburt sehr jung an Lungentuberkulose gestorben. Diese schwere Krankheit hat die Zeit der jungen Ehe meiner Mutter sehr bedrückt. Als ich unterwegs war, hatte sie viele trübe Eindrücke. Vielleicht, daß meine ernste Lebensauffassung auf diese Zeit vor meiner Geburt zurückgeht. Wer will das wissen? Durch das Elternhaus, aus dem meine Mutter stammte, war sie natürlich in eine ganz andere Welt hineingekommen. Auch aus dieser Zeit besitze ich noch viele interessante Briefe. Sie war zeitweilig als junges Mädchen in Berlin zu Besuch bei einem Vetter ihres Vaters, der auch den Namen Hainauer führte und der in Berlin ein großes Haus ausmachte. Er war ein berühmter Sammler, dessen sehr bedeutsame Sammlung später in das Kaiser-Friedrich-Museum gekommen ist 13 . Ich nehme an, daß die Tafel, die auf die Sammlung Hainauer hindeutet, heute entfernt ist. Meine Mutter hat dort auch in dem Hause Schwabach verkehrt. Als junges Mädchen und Tochter eines Stadtverordneten hat sie auch einmal
12 Konstanze war eher ein Neckname, denn der bürgerliche Vorname der Mutter Willy Cohns lautete Margarethe. 13 Die Sammlung Oscar Hainauers galt um die Jahrhundertwende als „die bedeutendste Privatsammlung, die Deutschland je an verschiedenartigsten Kunstwerken der Renaissance gehabt hat". Sie gelangte zu einem kleinen, aber bedeutenden Teil an das Berliner Kaiser-Friedrich-Museum. Der weitaus größere Teil wurde 1906 nach England verkauft. Daß seinerzeit eine Tafel zum Dank für die Schenkungen der Witwe Hainauer angebracht wurde, läßt sich heute aus den Unterlagen des Museums nicht mehr bestätigen. Vgl. den Artikel der Vossischen Zeitung, Berlin, Morgenausgabe, vom 13. 7. 1906 (gezeichnet W . B.): Die Sammlung Hainauer und ihr Verkauf nach England.
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bei einem Kaiserbesuch als Ehrenjungfrau mitgewirkt. Das war in der kaiserlichen Zeit das größte Erlebnis, das ein junges Mädchen haben konnte. Es war meinem Großvater eben gelungen, sich zur Oberschicht der Juden in Breslau emporzuarbeiten. Davon ist natürlich manches auf die Kinder übergegangen. Sie erfuhren die in den damaligen Zeiten beste Ausbildung. Meine Mutter hat selbstverständlich Französisch, Englisch, Italienisch gelernt und konnte sehr gut Klavier spielen. Wie schon angedeutet ist aber fraglich, inwieweit für den Großvater zugleich auch die Ausbildung des Herzens eine Sache war. Aber nicht jeder Mensch kann alles besitzen. Meine Großmutter Jenny Hainauer geb. Jaffe gehörte zu den Warmherzigen. Sie hat den Großvater um einige Jahre überlebt, ist aber verhältnismäßig früh einem Herzleiden erlegen. Damals wurden die Frauen rascher alt als heute, da man sich nach außen hin bemüht, die Jahre abzuleugnen, die man hinter sich gebracht hat. Ich habe meine Großmutter nicht anders in Erinnerung als mit einem Häubchen auf dem Kopf und in vornehme schwarze Gewänder gekleidet. Ich glaube, daß sie in der Ehe mit meinem Großvater nicht viel zu Wort gekommen ist, aber sie konnte ihn doch auch auf ihre Art leiten. Sie selbst stammte aus einer der ältesten Breslauer Familien, die sich weit zurückverfolgen läßt. Wie wenig man in dieser Familie von jüdischen Dingen wußte, will ich erzählen. Der Name Jaffe bedeutet natürlich nichts anderes als „schön"; es ist das hebräische Wort dafür. Der Accent aigu hat sich später hinzu gefunden. Meine Mutter hat bis zu ihrem seligen Ende fest geglaubt, daß die Jaffes eine alte französische Emigrantenfamilie seien. Obwohl ich sonst auf sie einen großen Einfluß hatte, konnte ich es ihr doch nicht ausreden. In diesen Kreisen sah man es gern, wenn das Judentum nur in homöopathisch verdünnten Dosen gereicht wurde. So bin ich mit mancherlei Vorbelastungen ins Leben getreten. Wie aus dem, was später zu sagen ist, vielleicht erkenntlich wird, haben alle diese Einflüsse auf mich eingewirkt und haben mich so gebildet, wie ich nun einmal bin. Genug mit der Schilderung der Dinge, die mir mehr oder weniger vom Hörensagen bekannt sind. Ich will zu erzählen versuchen, was mir an Erinnerung an die früheste Kindheit geblieben ist. Auch da ist es nicht einfach, auseinanderzuhalten, was einem erzählt worden ist und was man selbst erfahren hat. Ich sehe mich als Kleinkind auf dem Wickeltisch sitzen. Eben war Fräulein Hirsch bei uns als Kinderpflegerin angetreten, und ich wurde
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von ihr das erste Mal versorgt. Fräulein Hirsch, oder wie die Brüder sie immer nannten, die Hirschin, war der gute Geist unserer Kindheit. In Freud und Leid hat sie uns durch viele Jahrzehnte die Treue gehalten. Den Sehnsuchtstraum ihres Lebens haben wir ihr schließlich auch erfüllen können: ein Stübchen im Altersheim auf der Friedrichstraße, wo ich sie noch in den letzten Jahren häufig besucht habe. Fast achtzig ist sie geworden. Jedes Ereignis in unserer Familie war auch ihr Ereignis. Sie hat nicht nur uns heranwachsen sehen, sie hat auch unsere Kinder in ihrer Entwicklung verfolgt. Sie hat meinen Vater auf dem letzten Gang begleitet und drei der Brüder sterben sehen, für die sie gesorgt hatte. Wenn ich mir den Begriff „Treue" deutlich machen will, so brauche ich in Gedanken nur das Wort „Fräulein Hirsch" auszusprechen, und alles ist gesagt. Aber noch sitze ich ja auf dem Wickeltisch, und meine erste Erinnerung an sie ist keine so erfreuliche. Sie wusch mir mit großer Energie und etwas harten Händen die Ohren. Welches Kind hätte davor nicht Furcht und Schrecken gehabt? Eine frühe Kindheitserinnerung ist auch die Nacht, in der mein Bruder Rudolf geboren wurde. Fräulein Hirsch trug mich und meine jüngere Schwester Erna in ein anderes Zimmer. Am nächsten Morgen war dann der kleine Bruder da, das letzte der Kinder, das meinem Vater geboren wurde. Alle diese Erinnerungen verknüpfen sich mit dem schönen Hause am Ohlau-Ufer 15. Es steht in allen seinen Einzelheiten vor meinem geistigen Auge, auch heute noch, nachdem siebenunddreißig Jahre vergangen sind, daß ich es nicht mehr gesehen habe. Und so soll von diesem guten Hause, dem Hort unserer Kindheit und einem Begriff in Breslau, etwas mehr gesagt werden. Es lag damals in einer stillen Ecke des Ohlau-Ufers, gegenüber der Gasanstalt, die heute nicht mehr existiert. Damals ging im Zuge des Ohlau-Ufers auch noch keine Brücke über den Oderstrom. Wenn man nach der Uferstraße übersetzen wollte, so mußte man mit einer Fähre über die Oder fahren. Als letzte Brücke stromaufwärts über die Oder verband nur die Lessingbrücke beide Ufer. Keinerlei Verkehr flutete also an unserem Hause vorbei, das wie zum Buen Retiro für eine Familie geschaffen war. Es umfaßte außer dem Kellergeschoß, in dem die Küche, die Waschküche, das Diener- und die Mädchenzimmer untergebracht waren, zwei Stockwerke. Im Erdgeschoß lagen keine Schlafzimmer. Es war damals die bürgerliche Zeit, und man brauchte eine Menge Wohnzimmer, um Gäste zu empfangen. Nach der Straßenseite zu waren zwei „gute Zim-
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mer", wie man zu sagen pflegte. Nach der Gartenseite ging ein großes Eßzimmer, von dem man unmittelbar in den Garten gehen konnte, sowie ein kleineres Herrenzimmer, in dem der Schreibtisch meines Vaters stand, derselbe Schreibtisch, an dem ich bis zum heutigen Tage die meisten meiner Bücher diktiert habe. In diesem Herrenzimmer war eine Waschgelegenheit angebracht, damit mein Vater, wenn er müde aus dem Geschäft kam, sich gleich unten säubern konnte. Dort hatte er auch sein Zigarrenschränkchen, in dem jene unendlich bescheidenen Zigarren aufbewahrt waren, die er zu rauchen pflegte. Unser Familienleben spielte sich hauptsächlich in dem großen Eßzimmer ab. Sein Tisch war lang ausziehbar. Das war oft notwendig, denn außer den Eltern waren wir sechs Geschwister und dazu Fräulein Hirsch, das heißt, wenn alle Brüder in Breslau waren, ein Tisch von neun Personen. Mein Vater liebte es, Menschen aus der Familie bei sich zu sehen, und so war es häufig notwendig, viele Platten einzulegen. Am schönsten war immer der Freitagabend, an dem mein Vater in besonders feierlicher Stimmung war. Und was bot uns nicht alles dieser Garten! Unsere jüdischen Kinder von heute, die jetzt in Deutschland ein sehr beschränktes Jugendleben führen müssen, können sich nicht mehr vorstellen, welches Glück ein eigener Garten bedeutet. Man kann nur hoffen, daß die nächste Generation in den Gärten von Erez Israel wieder in Freiheit aufwachsen wird. In der Mitte unseres Gartens befand sich ein kleiner Brunnen, in dem Goldfische schwammen und auf dem wechselnde Aufsätze ein mannigfaches Wasserspiel ermöglichten. Hier hatten wir ein eigenes Beet, das wir selbst bepflanzen durften. So wurde schon früh in unser Herz eine für das Großstadtkind besonders wichtige Liebe zur Natur gelegt. Was für ein Vergnügen machte es, die grünen Nüsse, die der große Baum im Herbst spendete, abzuschälen und ihren süßen Kern zu essen. Noch nach so vielen Jahrzehnten liegt mir der Geschmack gewissermaßen auf der Zunge. Dort hatten wir auch eine eigene Schaukel, konnten in einem großen Sandhaufen herrliche Tunnels für die Eisenbahn bauen, kurz, es war ein Paradies der Kindheit. Einmal nur erlebte dieser Garten einen kleinen Schrecken. Im Erdgeschoß brach ein Brand aus, der aber keinen großen Umfang annahm. Es war Winter. Fräulein Hirsch und der Diener trugen zusammen in mutiger Entschlossenheit das brennende Sofa in den Garten, wo es im Schnee schnell gelöscht wurde. Als die Feuerwehr kam, war die Hauptgefahr schon beseitigt. Wenn aber Winter war, hatten wir im Obergeschoß des Hauses, von dessen Zimmern nun die Rede sein wird, ein nicht weniger gutes Leben.
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Das große Zimmer in der Mitte der Vorderfront war das Schlafzimmer der Eltern, in dem ich zur Welt gekommen bin. Dort sind auch meine Geschwister Erna und Rudolf geboren worden. Links neben dem Schlafzimmer lag unser Kinderzimmer. Nach der Geburt meines Bruders Rudolf aber bekam ich zum Schlafen das kleine Zimmerchen rechts von den Eltern. Unser eigentliches Kinderleben aber spielte sich in dem großen Zimmer auf der Rückseite des Hauses ab. Dort waren nur zwei Zimmer, eben dieses und ein Zimmer für die großen Brüder, in dem Martin und Hugo schliefen. In dem Zimmer von Franz haben wir gespielt. Dort habe ich an einem Pult meine Schularbeiten gemacht, als ich schulpflichtig wurde. Auch hier stand ein großer Tisch, auf dem wir riesenhafte Schlachten mit Bleisoldaten geliefert haben. Besonders in der Zeit des Burenkrieges spielten wir mit großer Begeisterung; nur war es immer schwer, jemanden dazu zu bewegen, Engländer zu sein. Alle Sympathien gehörten dem Burenvolke, das seine Freiheit so traurig an die Engländer verlieren mußte. In diesem Zimmer haben wir auch mit der großen Eisenbahn gespielt, die immer größer wurde, weil wir immer mehr Schienen, Lokomotiven und Wagen geschenkt bekamen. Diese Erinnerungen steigen auch heute noch oft auf, wenn ich meinen Kindern beim Spiel mit ihrer viel kleineren Eisenbahn helfe. Wie schön wäre es, noch einmal so entspannt spielen zu können! Aber das ist ja nun vorbei, und auch die Erinnerung ist schön und tröstlich. In diesem Zimmer fanden auch die großen Aufsatzschlachten meines Bruders Franz statt. Mein Bruder Franz besuchte, wie es die beiden größeren Brüder auch getan hatten, das Elisabethgymnasium 14 . Da war es üblich, daß die höheren Klassen sich vor den Aufsätzen, beziehungsweise wenn Hausaufsätze aufgegeben waren, zu einer Konferenz versammelten, an der ich selbstverständlich nicht teilnehmen durfte. Von dem längst verstorbenen Professor Zimpel wurden im Deutschen große Anforderungen gestellt. Ich weiß noch, welch furchtbarer Qualm das Zimmer bei einer solchen Versammlung erfüllte. Damals war es ja Stil der Gymnasiasten, möglichst schon auf der Schulbank den Studenten zu spielen. Es war die Zeit, da es noch keinen Sport gab, aber Tabak und Alkohol die Würde des jungen Mannes betonten. Mein Bruder Franz war mir, wie das bei älteren Brüdern häufig zu sein pflegt, Vorbild und Ehrfurchtsperson. Wir haben immer sehr
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Zum Elisabethgymnasium vgl. unten S. 292, Anm. 36.
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gut zueinander gestanden. Den Schmerz über seinen im Jahre 1934 erfolgten Tod habe ich niemals ganz überwinden können. Schon als Junge hatte er darunter zu leiden, daß er eine Anlage zur Fettsucht hatte. Der Kampf gegen diese Veranlagung hat sein ganzes Leben sehr beeinflußt. Mit diesem unzureichenden Körper (heute weiß man, daß ein solches Fettleiden eine Störung der inneren Sekretion bedeutet) verband Franz eine besonders hohe Begabung, die sich in den letzten Jahren seines Lebens in bedeutsameren wissenschaftlichen Publikationen und in einer sehr umfangreichen ärztlichen Tätigkeit zeigte 15 . Doch davon erst später. Wie stolz war ich, wenn ich den großen Bruder manchmal vom Elisabethgymnasium abholen durfte! Dieses Gymnasium war damals sehr schlecht untergebracht. Es befand sich hinter der Elisabethkirche. Auf der Rückseite des Gymnasiums waren die sogenannten Fleischbänke, die ein wenig erfreuliches Odeur ausströmten und eine lästige Fliegenplage mit sich brachten. Aber dieses Haus war nun einmal die traditionelle Stätte des altehrwürdigen Gymnasiums zu St. Elisabeth, das neben dem Magdalenengymnasium durch Jahrhunderte den Bürgersöhnen von Breslau höhere Bildung vermittelte. Als ich dort als kleiner Junge ehrfürchtig auf den großen Bruder wartete, hätte ich es mir nicht träumen lassen, daß ich Jahrzehnte später einmal an dieser evangelischen Anstalt als Studienassessor wirken würde. Da befand sich die Anstalt allerdings nicht mehr im Innern der Stadt, sondern in einem schönen Gebäude an den Teichäckern auf der südlichen Seite der Eisenbahn. Die Lehrer, die meinen Bruder unterrichteten, sind mir so lebendig, als ob sie meine eigenen gewesen wären, obwohl ich sie niemals gesehen habe. Direktor war Professor Dr. Paech, der bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amte immer mit einem Gänsekiel schrieb. Er hat besonders Horaz unterrichtet. Da gab es die sogenannte „Überlieferung". Ein feststehender Text der Übersetzung vererbte sich von Generation zu Generation. Geschichte wurde von Professor Schaube unterrichtet, der ungeheuren Wert auf die Beherrschung von Zahlen legte und die Weltgeschichte im wesentlichen von diesem Gesichtspunkte her ansah. Zusammenhänge wurden noch gar nicht unterrichtet. Diese Art des Unterrichtes, so trocken sie heute anmutet, hatte ihre Vorteile. Die jungen Leute, die er ausgebildet hatte, verfügten über ein glänzendes Wissen von Geschichtszahlen. Besonders wurden die Feldzüge von 1864, 1866 Im Katalog der U B Breslau sind mehrere Arbeiten Franz Cohns zur Histologie und Balneologie nachgewiesen. 15
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und 1870 unterrichtet, die der damaligen Generation von Lehrern noch eigenes Erlebnis waren. So hat mein Bruder Franz die Geschichtszahlen stets vorzüglich beherrscht. Als er später jahrzehntelang Badearzt in Kudowa war, machte es ihm immer ein großes Vergnügen, mir zu zeigen, daß er den Aufmarsch der preußischen Armeen gegen Nachod im böhmischen Feldzug von 1866 besser beherrschte als ich. Nach dem Tode von Schaube wurde ich für ein Jahr sein Nachfolger. Die Generationen von Schülern, die damals im Elisabethgymnasium heranwuchsen, wurden fast alle kurzsichtig. Die Schüler saßen im Dunkeln und verdarben sich die Augen. Meine drei Brüder haben sämtlich Augengläser getragen. Es war die Zeit, in der der berühmte Breslauer Augenarzt Hermann Cohn erstmalig den Kampf gegen die Schulkurzsichtigkeit aufnahm 16 und dabei so gar keine Unterstützung von Seiten der Stadtgemeinde fand. Doch davon brauche ich nicht zu erzählen, das hat sein Sohn Emil Ludwig in seinem Buche „Geschenke des Lebens" 17 bereits ausführlich dargestellt. Ich bewahre noch eine persönliche Erinnerung an Hermann Cohn, der am Stadtgraben praktizierte. Er probierte die Sehschärfe daran aus, ob man im Stande war, den Ring, den die Frauengestalt auf der Liebichshöhe in der Hand hielt, deutlich zu erkennen. Wenn eine spätere Zeit einmal die Verdienste der Juden um Breslau gerechter würdigen wird, dann wird auch die Gestalt eines Hermann Cohn in leuchtendem Glänze wieder auferstehen. Unzähligen Menschen hat er das Augenlicht erhalten. Auch auf dem Johannesgymnasium, das ich besuchte, war es im Anfang nicht besser. Die ersten Stunden mußten noch bei offenen Gasflammen abgehalten werden, der Glühstrumpf war noch nicht erfunden. Zu Hause arbeiteten wir bei einer traulichen Petroleumlampe oder, wie man in Schlesien so schön zu sagen pflegt: Petroleumfunze 18 . Dabei mußte man immer aufpassen, daß sie nicht blakte. Erst an einem fürchterlichen Gestank merkte man, daß das Unglück bereits eingetreten war. Dann pflegte Fräulein Hirsch hereinzustürzen und zu sagen: „Willy, da hast du wieder nicht aufgepaßt". Es war eine umständliche Arbeit, wenn am 16
Hermann Cohn (1838-1906) studierte zunächst in Breslau und Heidelberg Physik und Chemie (1857-60), später in Breslau und Berlin Medizin (1860-63). Ab 1866 wirkte er als Augenarzt in Breslau, seit 1868 auch als Dozent und seit 1874 als Außerordentlicher Professor an der Universität Breslau. Mit zahlreichen Veröffentlichungen setzte er sich für eine schulische Augenvorsorge ein. 17 E. Ludwig: Geschenke des Lebens. Ein Rückblick. Berlin 1931. 18 Funze mundartlich für Funzel, d.h. schlecht brennendes Licht; nach: W. Mitzka: Schlesisches Wörterbuch. Bd. 1. Berlin 1963, S.350.
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Morgen alle Petroleumlampen gereinigt werden mußten. Man brauchte damals viel mehr Leute im Haushalt als heute, wo ein Griff an den elektrischen Knipser genügt, um die Stube zu erhellen. Allerdings brauchte man damals die Wohnungen nicht zu verdunkeln! Frühe Jugenderinnerung ist auch mein einziger Gang in den Kindergarten, den ich erlebte. Damit hatte es folgende Bewandtnis. An und für sich befand sich ganz in der Nähe von unserer Wohnung ein städtischer Kindergarten, der recht geeignet gewesen wäre. Doch ließ mich meine Mutter nur einen einzigen Tag dort. Dann packte sie die Angst, daß ich mir eine Infektion holen könnte, und ich durfte nicht mehr hingehen. Dabei hätte der Besuch des Kindergartens meine ganze Entwicklung sehr wohltätig beeinflussen können, denn ich neigte sehr zur Eigenbrödelei und bin immer gern allein gewesen. Wären schon in den Jahren vor der Schule Kinder spielend und lachend um mich gewesen, wäre ich wohl in manchem anders geworden. Die Furcht vor Bazillen, die meine Mutter zeitlebens in starkem Umfang besaß, war in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine ausgesprochene Zeitkrankheit. Sie verfolgte die Menschen. Am liebsten hätten sie die Kinder in einen Glasschrank gesetzt. Da ich im Dezember geboren war, wurde ich im Herbst 1894 schulpflichtig. Damals wurden Lernanfänger alle halben Jahre in die Vorschule des Gymnasiums eingestellt. So hätte auch ich eigentlich vom 1. Oktober 1894 an die Schulbank drücken sollen. Meine Eltern wollten mir aber noch ein halbes Jahr Schule ersparen. Ich bekam zu Hause Privatunterricht. Der Schulweg war nicht sehr weit. Das Johannesgymnasium befand sich auf der Paradiesstraße, wo es bis zu seiner Auflösung in den ersten Jahren des Dritten Reiches geblieben ist 19 .
19 Die Stadt Breslau erbaute in den Jahren 1866/67 in der Paradiesstraße ein neues Gymnasium, das, anders als die bestehenden konfessionellen Schulen der Stadt, als „konfessionsloses" Gymnasium geplant war. Das Vorhaben führte zu einem jahrelangen Streit der Stadt mit dem preußischen Kultusministerium, das seine ablehnende Haltung erst zu Beginn des Kulturkampfes änderte. Im Herbst 1872 konnte das neue Johannesgymnasium eröffnet werden. Es erwarb rasch eine besondere Stellung in Breslau, da es hinsichtlich der Zusammensetzung seiner Lehrerschaft und der Schüler nahezu eine Drittelparität zwischen Protestanten, Katholiken und Juden erlangte und sich als Modellschule für ein konfliktfreies Zusammenleben der Konfessionen bewährte. Wegen seines bedeutenden jüdischen Anteils wurde das Gymnasium 1934 auf Antrag des Oberbürgermeisters aufgehoben und mit dem Realgymnasium am Zwinger vereinigt, wobei letzteres
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Man brauchte nur das Ohlau-Ufer entlangzugehen bis zur Feldstraße und dann die Feldstraße entlang, so war man nach wenigen Querstraßen an der Paradiesstraße. Wenn aber das Wetter einmal schlecht war, bestand meine gute Mutter darauf, daß wir in einer Droschke fuhren, denn auch meine Schwester ging später in eine nahegelegene höhere Mädchenschule. Solche Fahrten mit der Droschke waren mir natürlich höchst unangenehm, denn sie hoben mich aus dem Kreise der anderen heraus. Die Klasse, in die ich eintrat, stand unter der Leitung des Vorschullehrers Häring. Ich bewahre heute noch das Stammbuch, in das er mir für meinen Lebensweg in seiner charakteristischen Handschrift die Worte hineinschrieb: „Immer gerade durch". Ich darf wohl sagen, daß ich diesem Wahlspruch immer treu geblieben bin. Man hätte im Leben vielleicht manches leichter gehabt, wenn man anders gegangen wäre. Doch bedauere ich nicht mit einem Gedanken, daß ich so gehandelt habe. Wir waren eine Klasse mit einer Reihe von Jungen, die den Ruf hatten, ganz begabt zu sein. Über mich selbst steht mir kein Urteil zu, aber der nun lange verstorbene Professor Wohlauer, dessen Nachfolger ich am Johannesgymnasium wurde, hat immer gesagt, daß wir die begabteste Klasse überhaupt gewesen sind. Doch hat sein sonst so sicheres Urteil ihn in diesem Punkte zweifellos getäuscht. Meinen ersten Schulweg machte ich zusammen mit Siegfried Marek, mit dem mich noch viele Jahre später die gemeinsamen sozialistischen Interessen verbanden 20 . Ich sehe mich noch in die Paradiesstraße einbiegen und hinter uns die beiden Mütter. Siegfried Marek hat einen mannigfach bewegten Lebensweg erfahren müssen. Nach der Schule wurde er erst Student der Rechte, dann der Philosophie und brachte es in Breslau bis zum Ordentlichen Professor. Nach 1933 emigrierte er nach Frankreich. Er hatte sich besonders stark sozialistisch betätigt und verlor dann auch das deutsche Bürgerrecht. Er war sicherlich sehr begabt, wenn auch nicht so begabt, wie seine Mutter annahm. Von jüdischen Müttern galt das Wort: „Sie hätten den besten Mann, die schlechtesten Dienstmädchen, ein Zimmer zu wenig, nichts anzuziehen und die begabtesten Kinder". in das Schulgebäude Paradiesstraße verlegt wurde. Bis 1937 waren fast alle jüdischen Schüler aus dieser Schule verdrängt. 2 0 Zu Siegfried Marek (1889-1957), seiner Bedeutung als Philosoph und Soziologe, vgl. F.-M. Kümmel und F. Walter: Zwischen Kant und Hegel, zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung. Siegfried Marek zum 100. Geburtstag; in: JSFUB 3 (1989), S. 185-213. Marek starb 1957 im amerikanischen Exil.
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Mit Siegfried Marek ist in seiner Familie ein furchtbarer Kultus getrieben worden, um seine Karriere zu „managen". Man könnte darüber ein ganzes Buch schreiben, aber mit dieser Andeutung sei es genug. Er war in erster Ehe mit einem mir sehr sympathischen Menschen verheiratet, mit Lola Landau 21 , die unter anderem ein sehr schönes Buch, „Lied der Mutter" 2 2 , geschrieben hat. Lola Landau heiratete dann in zweiter Ehe Arnim T. Wegner, der besonders durch seine Reisebücher bekannt geworden ist. Siegfried Marek soll heute in Amerika sein. Einer meiner Mitschüler war auch Friedrich Ollendorff, der Sohn des Justizrats und Rechtsanwalts Isidor Ollendorff. Die Familie wohnte am Zwingerplatz. Die Mutter von Friedrich Ollendorff war die bekannte jüdische Frauenführerin Paula Ollendorff 23 . Mit ihrem Haushalte verbinden sich bei mir furchtbare Erinnerungen. Er war der schmuddligste Haushalt, den man sich vorstellen kann. Die Unsauberkeit hatte auch den tragischen Tod ihres zweiten Sohnes zur Folge. Als der Junge einmal Durst hatte, griff er nach einer Flasche, in der Annahme, daß sich in ihr etwas Trinkbares befand. Es war eine ätzende Säure darin, an der er qualvoll zugrunde ging. Ist es nicht etwas Tragisches, daß die Frau, die zweifellos große Verdienste um die Organisation jüdischer Sozialarbeit hatte, nicht imstande war, ihren Haushalt in Ordnung zu halten? Aber meine persönliche Erinnerung daran! Es war Sitte der Zeit, daß die Schulkinder ihre Freunde zu einem Geburtstagskaffee einluden. Es gab dann meistens Schokolade, Kuchen und Schlagsahne. In allen Haushaltungen wurde der Geburtstag nett hergerichtet. Nur bei Ollendorffs war das nicht der Fall. Mit Zittern und Zagen ging ich dahin, denn es ekelte mich schon immer, wenn ich an diesen Kakao dachte, in dem alles Mögliche herumschwamm. In meinem ganzen Leben habe ich wenig auf das Essen wert gelegt, und ich bin niemals ein Sklave des Magens gewesen. Doch dem Ollendorffschen Haushalt habe ich es zu verdanken, daß ich die Abneigung gegen Milch nicht mehr habe überwinden können, weil mir immer jener furchtbare Kakao vor Augen stand. Mit Friedrich Ollendorff habe ich niemals die Fühlung verloren. Er hat später in der öffentlichen Sozialarbeit, dann in der jüdischen Sozialarbeit
Vgl. SV N r . 90. L. Landau: Das Lied der Mutter. Charlottenburg 1919. 2 3 Paula Ollendorff (1860-1938) war Stadtverordnete in Breslau und Vorstandsmitglied des Weltverbands für liberales Judentum. 21
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eine große Rolle gespielt 24 . Heute lebt er in Jerusalem im Dienste der jüdischen Stadtverwaltung. Sein religiöser Weg ist ein bemerkenswerter. Sein Elternhaus war sehr liberal; er selbst ist dann ein konservativer und zionistischer Jude geworden. Seine Mutter stand ihr Leben lang in extremstem Kampfe gegen den Zionismus, dem sie oft gehässig gegenübertrat. Als sie ihren Sohn in Palästina besuchte, ist sie dort gestorben und auf dem Ölberg begraben, der Stätte, auf dem der fromme und zionsliebende Jude zu ruhen wünscht. Auch hier zeigte sich vielleicht die Hand des Herrn, der manchen erst im Tode lehrt, was er im Leben nicht gelernt hat. Zu meinen Mitschülern gehörte auch Fritz Ephraim, der Sohn des Breslauer Ohrenarztes Ephraim. Seine Spur aber habe ich verloren. Er soll sich später taufen lassen und einen anderen Namen angenommen haben. Die Zusammensetzung unserer Klasse war, wie der meisten Klassen des Johannesgymnasiums, teils jüdisch, teils christlich, wobei unter den letzteren Schülern das evangelische Bekenntnis überwog. Die christlichen Schüler aber gehörten meist ganz anderen gesellschaftlichen Schichten an. Da das Johannesgymnasium die einzige Anstalt war, an der satzungsgemäß immer jüdische Lehrer anzustellen waren, so schickten die Eltern gern ihre Kinder dorthin, nachdem die anderen Anstalten mehr oder weniger stärker von antisemitischen Strömungen erfüllt waren. Das Johannesgymnasium war aus dem liberalen Geiste der Zeit nach der Reichsgründung geschaffen worden. Es ist auch mit dem Ende der liberalen Epoche zugrunde gegangen. Es war ein guter Geist, der in dieser Anstalt wehte, in der ich meine ganze Schülerlaufbahn und den erheblichsten Teil meines ganzen Lehrerdaseins verbrachte. Gewiß, es gab Spannungen wie überall im menschlichen Leben. Im allgemeinen hat man sich aber gut vertragen, obwohl wir Schüler aus ganz verschiedenen Verhältnissen kamen. Doch war vielleicht gerade das lehrreich, daß man in andere soziale Schichten Einblick bekam. Primus der Klasse war ein christlicher Schüler, Kurt Gruhl, der später auch wie ich Studienrat geworden ist. Er war eigentlich mein liebster Freund. Da er auch am Ohlau-Ufer wohnte, waren wir oft zusammen. Wie stolz war ich, wenn mich unser Diener abholte, der auf den Knöpfen der Livree den Buchstaben C hatte! Damals hat man nicht daran gedacht, daß man vielleicht einem Mitschüler wehtat, der in sehr beschränkten Verhältnissen lebte. Friedrich Ollendorf ( 1 8 8 9 - 1 9 5 1 ) war Leiter der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden in Berlin. 24
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Ich glaube, Gruhls Vater war ein kleiner Beamter. Aber ich habe mich dort immer sehr wohl gefühlt, ebenso wie in der Häuslichkeit meines Mitschülers Walter Jeschal, der auf der Palmstraße wohnte. Man bekam dort einen Einblick in Lebensverhältnisse, die lehrten, daß man auch in einer bescheidenen Wohnung zufrieden sein konnte und es kein eigenes Haus sein mußte. Heute, da für uns Juden die Verhältnisse enger geworden sind, ist es gut, wenn wir dies in unserer frühesten Jugend gesehen haben und in der Lage sind, unseren Kindern den Geist der Bescheidenheit mitzugeben, der für das Leben sehr notwendig ist. Zum Ruhme meines Elternhauses möchte ich aber noch einfügen, daß es bei allem Wohlstand ein vornehmes und kein protziges Haus war, wie man das später in den Jahren der Inflation so häufig sah, als die Kriegsgewinnler regierten. Das ganze Streben meines Vaters ging dahin, all das aus dem Hause fortzuhalten, was man heute unter dem Begriff „neureich" versteht. Doch zurück zu unserer Schulklasse. Während das Schulleben unserer jüdischen Kinder heute von immer neuen Erregungen erfüllt ist, und jeder Tag entweder neue Sensationen bringt oder sie zum mindesten bringen kann, vollzog sich unser Schulleben in einem unbedingten Gleichmaß. Es gab niemals Kohlen-, Grippe- oder Kriegsferien. Wir alle wünschten gelegentlich, daß die Schule einmal abbrennen möge; aber sie brannte nicht ab. Es bestand gar keine Veranlassung, den Unterricht einmal ausfallen zu lassen. Nur wenn im Sommer das Thermometer unwahrscheinliche Höhen erklettert hatte, dann wurde die eine oder andere Stunde gestrichen. Sonst aber ging alles gleichmäßig. Jedes Jahr wurde man versetzt. Jahresring legte sich um Jahresring. Mancher blieb vorzeitig an der Strecke liegen, das heißt sein Name wurde in der Aula nicht verlesen, wenn die Versetzungsresultate bekannt gegeben wurden. Ganz selten trat auch der Tod in unseren Kreis. Das erste Mal war es, als ein Sohn des später in Breslau sehr berühmt gewordenen Frauenarztes Geheimrat Rosenstein in ganz jungen Jahren starb. Noch heute werde ich niemals auf den Friedhof Lohestraße gehen, auf dem ich schon mehr Bekannte habe, als unter den lebenden Breslauern, ohne sein Grab zu besuchen. Es starb auch manchmal der eine oder andere im Dienst ergraute Lehrer. Ich glaube es war der Zeichenlehrer Biller, an dessen Beerdigung ich mich erinnere. Ihm und dem Gesanglehrer Hiller habe ich wenig Freude bereitet 25 , da meine zeichnerischen und musikalischen 25
Die Namen der beiden Lehrer Biller und Hiller wurden oben nach den
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Fähigkeiten keine großen sind. Ich gehörte zu den sogenannten Brummern und wurde in der Regel jedes Jahr bereits bei der Stimmprüfung herausgeworfen. Einmal hat das der Gesangslehrer aber verabsäumt, und so wurde ich nachmittags zur Singstunde bestimmt. Aber als der erste Ton dem Gehege meiner Zähne entströmte, bemächtigte sich sowohl des unglücklichen Musiklehrers als auch der Schüler furchtbares Entsetzen. So schnell wie damals bin ich weder als Schüler noch als Lehrer aus der ehrwürdigen Aula des Gymnasiums herausgekommen. Drei Jahre blieb ich auf der Vorschule. Dann kam man auf das Gymnasium. Mein erster Klassenlehrer war der schon genannte Professor Wohlauer, dessen Unterricht in den Oberklassen mich später so stark beeinflußte, daß ich Geschichte studierte. Ich war als Schüler furchtbar ehrgeizig und pflichteifrig und redete mir immer ein, daß ich meine Schularbeiten nicht gut genug gemacht hätte. Das war der Grund, daß meine Eltern mich am Nachmittag in die Hände des Oberlehrers Flössel legten. Schon bei meinen großen Brüdern war es üblich, daß nachmittags jemand zur Beaufsichtigung der Schularbeiten kam. Es war dies der Oberlehrer Schnobel. Die Schullaufbahn meines Bruders Hugo war nicht sehr erfolgreich, und auch die anderen mußten wohl etwas zur Arbeit angehalten werden. Bei mir war eigentlich der Grund zur Beaufsichtigung umgekehrt. Mit Flössel habe ich wunderbar gestanden. Er war ein prachtvoller Charakter, das Ideal eines deutschen Mannes, wissenschaftlich nicht so sehr interessiert, aber sauber und aufrecht. Vor allem war er Reserveoffizier und immer glücklich, wenn er als Sommerleutnant bei seinem Infanterieregiment Nr. 19 in Görlitz üben konnte. Bei diesem Regiment ist er dann auch zu Beginn des Weltkrieges gefallen, wie ja der Krieg stets die Besten mit sich nimmt. Auch sein Sohn ist als Fahnenjunker gefallen. Wenn wir in der Sommerfrische im Riesengebirge waren und Flössel in einem benachbarten Dorf war, dann ging ich mit Rucksack und Büchern über das Land, um noch in den Ferien zu arbeiten. Wenn er mich am Nachmittag abhörte, hatte ich das beruhigende Gefühl, daß ich abends einschlafen konnte, ohne mir den Kopf über die unregelmäßigen Verba zu zerbrechen.
gedruckten Schulprogrammen berichtigt. Cohn war sich seiner Erinnerung nicht sicher. Im Typoskript wird der Zeichenlehrer irrtümlich Willer genannt, während der Name des Gesanglehrers Hiller von Cohn handschriftlich zu Biller korrigiert wurde.
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Mein Ehrgeiz wurde noch von dem meiner guten Mutter übertroffen und dieser wiederum von dem Ehrgeiz meiner Tante Paula. Als ich in den Pubertätsjahren gesundheitliche Schwierigkeiten hatte, die dann zu einer noch zu erwähnenden Operation führten, gingen zeitweise die Leistungen zurück. Einmal kam ich mit einer schlechten Arbeit nach Hause. Die Eltern wollten gerade wegfahren. Meine Mutter geriet in eine große Aufregung und ließ Flössel herbeizitieren, der gerade beim Rasieren war. Alle diese Dinge kommen mir heute nicht so wesentlich vor. Sie sind mir ein Beweis dafür, daß jede Zeit ihre Sorgen als die wichtigsten ansieht. Als ich in das Johannesgymnasium kam, ging die Amtszeit des Direktors C.F.W. Müller zu Ende. Es folgte dann eine Zeit des Interregnums, bis Geheimrat Laudien, ein gebürtiger Ostpreuße, an die Spitze der Schule trat. Ich will mich auf das beschränken, was ich selbst erfuhr. Von dem ersten Direktor der Anstalt, der ein berühmter klassischer Philologe und hervorragender Herausgeber von Texten war, lief so manches Wort um, von denen ich nur eines festhalten möchte. Als Gelehrter war er ein erbitterter Feind der unzähligen Verfügungen der Schulverwaltungsbehörden. Er sabotierte diesen Papierkrieg, soweit es irgend ging. In diesem Zusammenhang soll er einmal gesagt haben: „Es ist nichts so eilig, daß es nicht durch Liegenlassen noch viel eiliger werden könnte." Geheimrat Laudien war eine gütige Persönlichkeit, ein echter Scholarch der alten Schule. Immer werde ich ihn vor Augen sehen mit seinem gewaltigen weißen Bart, wie er zu Beginn der Pause würdig und schrittweise die Treppen herunterstieg und in ostpreußischer Aussprache durch den Korridor rief: „Vorwärts, vorwärts auf den Schulhof!" Es bestand nämlich der lebhafte Wunsch, bei denjenigen Schülern, die ihre häuslichen Aufgaben nicht sorgsam gemacht hatten, dies in den Pausen im Klassenzimmer nachholen zu dürfen. Auch konfiszierte Laudien gern in den Pausen Bücher, die die Schüler zu dem gleichen Zweck auf den Schulhof hinunterschmuggelten. Soll ich nun von den vielen Lehrergestalten erzählen, die nun wieder auferstehen? Da war die sehr unappetitliche Gestalt des Professor Speck, der so gefräßig war, daß er auch in den Stunden aß, wobei die Brocken seines Frühstücks in der Klasse herumflogen. Er diktierte die geschichtlichen Ereignisse in ein Büchel. Ich höre noch, wie er die Schlacht bei Cannae durchnahm und in die Gegend rief: „Lucius Aemilius Paulus, Strichel, Gajus Terentius Varro, Punkt". Aber die meisten der Lehrer waren angenehme Menschen und nicht aus dem Witzblatt geschnitten. Erwähnen möchte ich den Professor Habel,
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der uns frühzeitig die Liebe zur Kunst einflößte und uns dazu anregte, Kunstblätter zu sammeln. Er bevorzugte die Antike, für deren klassisch reine Formen auch ich stets eine große Vorliebe gehabt habe. Mit ihm habe ich noch, später als Studienrat am Johannesgymnasium, zusammen amtiert und ihm immer wieder für das gedankt, was er mir als Lehrer gewesen ist. Wie oft habe ich als Schüler sehnsüchtig vor dem Lehrerzimmer gestanden. Wer hätte mir damals prophezeit, daß ich dann lange darin sitzberechtigt sein würde, bis das Jahr 1933 meiner Schullaufbahn ein plötzliches Ende bereitete. Vor dem Lehrerzimmer stand ich damals allerdings in der Fülle eines schönen Lockenkopfes, darin im wesentlichen ohne natürlichen Hauptschmuck. Ich möchte auch den Professor Fritz Weis nennen, einen korrekten Deutschen konservativer Grundrichtung, der heute längst im Ruhestande lebt. Er wohnt erheblich über siebzig ganz in meiner Nähe und sooft ich ihn spreche, versichert er mir, daß er trotz allem der Alte geblieben ist. Es steigt auf die Gestalt des jüdischen Professors Edmund Rieß, der leider sehr jung an einem bösen Krebsleiden zugrunde ging. Ein etwas eitler Mann, der stolz darauf war, sich aus kleinsten Anfängen in die Höhe gearbeitet zu haben. Der dritte jüdische Professor war der Mathematiker Professor Toeplitz. Ich habe bei ihm keinen Unterricht gehabt, aber er war ein ziemlich merkwürdiger Mann. Von ihm liefen unzählige Anekdoten. Es wurde nämlich am Johannesgymnasium von den Schülern das sogenannte „Blödsinnsbuch" geführt, in dem alle klassischen Äußerungen der Lehrer verzeichnet waren. Leider war dieses Buch, als ich Lehrer an der Schule war, schon nicht mehr vorhanden. Toeplitz hatte eine Vorliebe für einen Ohrlöffel, mit dem er sich während des Unterrichts bearbeitete. Mit der Mathematik pflegen die Schüler ja mehr oder weniger auf dem Kriegsfuß zu stehen, und so kam es, daß er einmal während der Tätigkeit mit dem Ohrlöffel sagte: „Und da quält man sich, und da quält man sich, und das sind die Früchte davon!" Mein Mathematiker war der Professor Depene, ein sehr prächtiger Mann, nur von einer großen Grobheit. Zu einem Unbegabten pflegte er im Unterricht zu sagen: „Werden Sie Schusterjunge, wenn Sie einer nimmt, aber es nimmt Sie keiner." Beim Abschiedsbesuch, den wir ihm als Abiturienten machten, sagte er zu uns: „Ich weiß, daß Sie, soweit Sie nicht Mathematik studieren, alle Formeln, die Sie bei mir gelernt haben, wieder vergessen werden, aber wenn Sie bei mir denken gelernt haben, so genügt das schon".
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Wenn ich auch weiß, daß ich damit nicht erschöpfend gewesen bin, so möchte ich des Mannes gedenken, der neben Wohlauer auf mich den stärksten Einfluß ausübte. Es war dies Professor Benno Badt, der sowohl Rabbiner und jüdischer Religionslehrer als auch vor allem klassischer Philologe war. Dadurch, daß er einen großen Teil des Religionsunterrichtes in seiner Hand hatte, wurde für viele Klassen die unglückliche Einrichtung eines besonderen Religionslehrers vermieden. Badt war ein Mann, der durchaus im konservativen Judentum verankert war, eine kompromißlose Erscheinung. So wie er von seinem Judentum sich nichts abzwacken ließ, so schenkte er auch uns im Unterricht nichts. Er war mein Ordinarius in Oberprima. Es war gewiß keine Kleinigkeit, ihn in Formen und Phrasen, die damals sehr im lateinischen Unterricht verlangt wurden, zu befriedigen. Ihm verdanke ich es vor allem, wenn mir später auf der Universität beim Studium lateinischer Quellen so gar keine Schwierigkeiten erwuchsen. Was ich ihm jüdisch verdanke, ist in Worten nicht wiederzugeben. Da ich das Unglück hatte, meinen guten Vater schon im Alter von vierzehn Jahren zu verlieren, so habe ich in seinem Hause, in das ich besonders zu den Sederabenden eingeladen wurde, das jüdische Milieu gefunden, das mir meine Mutter nach ihrer ganzen Herkunft und Erziehung nicht bieten konnte. Diese Pessachabende werden mir stets unvergeßlich sein. Ich habe mich auf sie sorgsam vorbereitet. Auf meine jüdische Entwicklung hat auch Julius Wolfsohn einen außerordentlichen Einfluß geübt, ein Student am Breslauer JüdischTheologischen Seminar. Ich war in mancher Beziehung ein schwieriger Junge, der sich sehr auf sich selbst zurückzog. Möglicherweise hing dies auch mit einem körperlichen Leiden zusammen, auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Um mir etwas Ablenkung zu verschaffen und damit ich jemanden hätte, mit dem ich mich über alles Bedrückende aussprechen könnte, verpflichtete mein Vater den genannten Herrn, sich meiner anzunehmen. Mein Vater konnte auf diese Weise einer doppelten Pflicht genügen, indem er gleichzeitig einem bedürftigen Studenten des Rabbinerseminars half. Aus diesem Umgang mit Julius Wolfsohn wurde eine Freundschaft von entscheidender Bedeutung. Julius Wolfsohn war der Sohn des Dresdner Oberkantors. Der damalige Rabbiner in Dresden, Professor Dr. Winter, war durch die Fürsprache meines Vaters in diese Stellung gekommen. Mein Vater war ihm wohl auch durch persönliche Freundschaft verbunden. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, daß ihr erster Besuch auf der
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Hochzeitsreise in Dresden Rabbiner Winter galt. Vielleicht, daß dieser Herr Julius Wolfsohn meinem Vater empfohlen hatte. Wie auch immer die Dinge waren, er hätte keinen Besseren für mich finden können. Auf Spaziergängen, die wir meist nach Tisch unternahmen, sei es auf die nahegelegene Promenade, sei es nach dem schönen Scheitnig hinaus, wurde das in mir stets vorhanden gewesene religiöse Empfinden gefestigt und mir die Werte gegeben, die den positiv jüdischen Charakter des Religiösen verstärkten. Damals erfuhr ich, daß Religion nicht nur ein allgemeiner Gottesglaube sei, sondern daß Religion etwas historisch Gewachsenes ist. Ich erfuhr aber auf diesen Spaziergängen auch vieles aus der jüdischen Geschichte, dieser einmaligen Geschichte, die mir während meines ganzen Lebensweges als leuchtendes Beispiel vorschwebte. Leider ist Julius Wolfsohn, nachdem er glänzend seinen Doktor gemacht hatte und nachdem eine Schrift von ihm über Chasdai Crescas preisgekrönt worden war 26 , sehr früh einem schweren Gehirnleiden erlegen, ebenso wie sein Bruder. Auch dieser hatte seine Universitätsstudien abgeschlossen. Auch er wollte Rabbiner werden. Beiden war es nicht vergönnt. Julius Wolfsohn ist es auch gewesen, der mich für diese Sederabende im Hause von Benno Badt sorgsam vorbereitete, so daß ich in dessen Umgebung bestehen konnte, die mit diesen Dingen ganz anders verwachsen war als ich. Ich glaube nicht, daß ich die Fähigkeit habe, so einen Sederabend im Hause von Benno Badt auf der Paradiesstraße, in unmittelbarer Nachbarschaft unseres Gymnasiums zu schildern. Aber eins kann ich nur sagen. Wenn ich später das Glück hatte, in meinem eigenen Hause Sederabende veranstalten zu dürfen, wenn ich mit dem weißen Käppchen geschmückt, in die Kissen gelehnt, die Haggada verlesen durfte, dann stand mir an jedem dieser Abende die Gestalt meines seligen Lehrers Benno Badt vor Augen. Auf seinem Grabstein finden sich die Worte: „Er war ein treuer Sohn seines Volkes." 2 7 Nichts kann ihn vielleicht besser charakterisieren. Benno Badt, mit hebräischem Vornamen Hillel, ist bereits 1909 gestorben. Er war schon damals ein glühender Zionist, J. Wolfsohn: Der Einfluß Gazäli's auf Chisdai Crescas (Preisgekrönt mit dem Josef Lehmannschen Preis des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau). Frankfurt a. M. 1905. 27 Abgebildet bei M. tagiewski: Macewy möwi^. Wroctaw 1991, S. 135. 26
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wie ja im Grunde Zionismus nichts Neues bedeutet, sondern nur die Verwirklichung der Zionsidee, die in einem wahrhaften Juden immer lebt. Aber versenken wir uns einmal in diese Pessachstube bei Benno Badt. Wie einfach und bescheiden war es dort! Aber welcher Hauch jüdischen Bewußtseins stieg aus dieser Stube auf! Wie wundervoll sang man die uralten Melodien der Haggada, welcher Frohsinn, gedämpft durch die Würde des Tages, erfüllte den Raum! Seine Frau Martha war harmonisch auf ihn abgestimmt. Sie hat ihn um Jahre überlebt. Auch ihr Witwendasein war erfüllt von dem Gedanken, die Frau dieses Mannes gewesen zu sein. Drei Kinder gehörten zu der Familie. Ein Sohn Hermann, der später nach 1918 eine sehr große politische Rolle gespielt hat, die 1933 ein jähes Ende fand. Hermann war etwa anderthalb Jahre älter als ich, ein hervorragender Schüler, daneben aber auch ein ausgezeichneter Sportsmann. Hermann Badt lebt heute in Erez Israel. Die älteste Tochter Bertha hat später in der Literatur mancherlei geleistet; sie besitzt eine besonders feine Feder, und es war immer eine Freude, ihre Skizzen, vor allem über die Zeit der Romantik, zu lesen 28 . Die jüngste Tochter Lotte heiratete den Nervenarzt Dr. Prager. Auch sie lebt heute in Palästina. Eines ihrer Kinder hat den Namen des Großvaters Benno wieder auferstehen lassen, so wie das ein altjüdischer Brauch will. Was für mich das entscheidende Jugenderlebnis war: ich lernte im Hause Badt eine Familie kennen, die in gleicher Weise das Bewußtsein des Judentums mit dem der höchsten geistigen Werte verband. An diesen Sederabenden wurde nicht nur über Judentum gesprochen. Es wurden auch andere geistige Dinge erörtert. Hier brauchte man keine Flucht in das Judentum antreten, wie das so häufig bei Menschen nach 1933 der Fall war, die im Grunde keine inneren Beziehungen zum Judentum besaßen. Hier war das Judentum selbstverständlich, und alles war harmonisch. Neben dem Hause von Benno Badt möchte ich das Haus unseres Gemeinderabbiners Jakob Guttmann erwähnen, das mir auch viel gegeben hat 29 . Benno Badt gehörte der orthodoxen, Jakob Guttman gehörte der Vgl. SV Nr. 295. Jakob Guttmann (1845-1919) war seit 1891 Rabbiner an der Neuen Synagoge in Breslau. Er verfaßte wesentliche Arbeiten zur Religionsphilosophie, darunter: Der Einfluß der Maimonidischen Philosophie auf das christliche Abendland. Hg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums. Leipzig 1908; Das Verhältnis des Thomas von Aquino zum Judenthum und zur 28
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liberalen Richtung an. Aber um 1900 bedeutete das keinen so furchtbaren Gegensatz, wie sechzig Jahre vorher, als in Breslau der Streit zwischen Salomon Tiktin und Abraham Geiger tobte 30 . Jahrzehnte später, als Jakob Guttman und Benno Badt nicht mehr am Leben waren, hat der Streit in Breslau wieder unangenehmere Formen angenommen. Damals aber war es ein Gegensatz von Brüdern, die nicht derselben Meinung waren, aber deswegen nicht gegeneinander Feindschaft hegten. Dazu kam noch, daß Guttmann einer gemäßigten liberalen Richtung angehörte und Benno Badts Orthodoxie nicht die der Trennungsorthodoxie Frankfurter Richtung war 31 . Die einen gingen eben in den „Storch" beten, so nannte man die alte Synagoge in Breslau 32 , die auch die Katastrophentage des Novembers von 1938 überdauert hatte, und die anderen in den neuen Tempel. Auch im Hause von Jakob Guttmann wehte eine abgeklärte Stimmung. Jakob Guttmann war ein hervorragender Religionsphilosoph; er war vielleicht auf diesem Gebiete größer denn als Kanzelredner, vor allem aber ein Mann reinsten Charakters. Etwas, was ich damals nicht gut verstand, aber heute um so besser verstehe. Er pflegte nach dem Abendbrot nur kurze Zeit im Kreise seiner Gäste zu verweilen und sich dann in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Aber auch in diesen kurzen Minuten gab er viel. Ich habe mich dort stets sehr wohl gefühlt. Die Warmherzigkeit der Eltern ist auf seinen Sohn, den Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, Julius Guttmann, nicht übergegangen 31 . Jakob Guttmann hat ein hohes Alter erreicht. Ich durfte
jüdischen Literatur. Göttingen 1891; Die Scholastik des 13. Jahrhunderts in ihren Beziehungen zum Judenthum und zur jüdischen Literatur. Breslau 1902. 3 0 A. Herzig: Die unruhige Provinz; in: N . Conrads (Hg.), Schlesien. Berlin 1994, S. 534ff (= Deutsche Geschichte im Osten Europas). 31 Vertreter dieser neoorthodoxen Frankfurter Richtung waren die Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888) und Salomon Breuer (1850-1926). 3 2 Nach dem Emanzipationsedikt für die preußischen Juden von 1812 errichtete die Breslauer jüdische Gemeinde ihre erste repräsentative Synagoge in der Wallstraße. Sie wurde nach einem Entwurf von Karl Ferdinand Langhans in den Jahren 1827 bis 1829 erbaut und trug den volkstümlichen Namen „Zum weißen Storch". Nach der Spaltung der Gemeinde versammelten sich hier die orthodoxen Juden Breslaus. 31 Julius Guttmann ( 1 8 8 0 - 1 9 5 0 ) war zwischen 1910 und 1919 Dozent am Jüdisch-Theologischen Seminar und Privatdozent an der Universität Breslau. E r wanderte 1934 nach Palästina aus.
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ihm in der Allgemeinen Zeitung des Judentums einen ausführlichen Nachruf schreiben 32 . Während er an der Neuen Synagoge amtierte, amtierte Ferdinand Rosenthal an der Alten Synagoge 33 . Der Breslauer jüdische Lokalwitz pflegte zu sagen: „Ferdinand Rosenthal ist der Rabbiner mit dem Charakterkopf, Jakob Guttmann der Rabbiner mit dem Charakter." Beide Rabbiner haben vielleicht den Fehler gemacht, daß sie länger amtierten, als es ihre Körperkräfte gestatteten. Sie wollten offenbar zu ihren Lebzeiten nicht neben ihrem Nachfolger in der Synagoge sitzen. Sie waren beide in ihrer Art ein Stück Diktator. So mußte zum Beispiel in der Neuen Synagoge der zweite Rabbiner, der sehr jung verstorbene Rabbiner Fabian 34 , ohne Talar unter den anderen Besuchern sitzen. Er durfte nicht auf der Empore neben dem Gemeinderabbiner Platz nehmen. Würde mir die Feder eines Sammy Gronemann zur Verfügung stehen (ich bedaure übrigens nicht, daß es nicht der Fall ist), so könnte ich die unzähligen Anekdoten wiedergeben, die besonders über die Predigten und noch mehr über die Gelegenheitsreden, die sogenannten Kasualien Rosenthals, im Umlauf waren. Aber viele entziehen sich eigentlich der Wiedergabemöglichkeit und wahrscheinlich wird auch manches dazu erfunden sein. Nur etwas sei von Jakob Guttmann festgehalten, das mir selbst widerfahren ist. Als ich 1913 heiratete, machte ich ihm den üblichen Besuch und wollte ihm die notwendigen Aufklärungen über die beiderseitigen Familien geben. Das aber ließ er sich nicht gefallen, er fuhr auf und sagte: „Das weiß ich alles ganz genau, ich kenne Sie ja von frühester Jugend an". Es blieb mir also nichts anderes übrig, als stille zu sein, obwohl ich wußte, daß er gern mancherlei verwechselte. So geschah es also auch bei der Traurede, als er sagte: „Die gute Mutter des verehrten Bräutigams schaut aus dem Himmel herab auf das Glück ihres Sohnes". Meine Mutter aber saß neben mir. Es war eine sehr peinliche Situation. Diese vorzeitige Todeserklärung von Seiten des Rabbiners (Guttmann hatte angenommen, daß ich noch aus der ersten Vgl. SV Nr. 93. Ferdinand Rosenthal (1838-1921), aus Ungarn stammend, war bereits 19 Jahre Rabbiner in Beuthen/OS gewesen, ehe er von 1887 bis 1921 Rabbiner der konservativen „Storchsynagoge" in Breslau wurde. A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 37f. 3 4 Leo Fabian war von 1900 bis 1909 stellvertretender Rabbiner und starb 1918 als Direktor der israelitischen Waisenanstalt Breslau. A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 9. 32 33
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Ehe meines Vaters stammte) hat übrigens meiner guten Mutter nichts geschadet, sie hat diese Rede noch um sechsundzwanzig Jahre überlebt. Seitdem habe ich aber vor diesen Gelegenheitsreden einen gewissen Respekt. Im allgemeinen sind sie für die Geistlichen aller Konfessionen eine sehr schwierige Aufgabe. Die meisten Menschen, denen sie eine sogenannte Trauerrede zu halten haben, haben sie nie gekannt. Ich habe mir oft die Frage vorgelegt, wieso das alles Edelmenschen gewesen sein sollten, die nun still und ruhig ihre Grabrede anhören mußten. Im Leben gibt es so viele unangenehme Zeitgenossen; aber unter den Worten des Geistlichen verschwindet das alles. Nur das Gute bleibt übrig. Das alte Judentum vergangener Zeiten war darin viel vernünftiger. Eine Hesped, eine Trauerrede, hielt man nur geistig bedeutsamen Persönlichkeiten. Die andern wurden mit den herkömmlichen Gebeten zu Grabe geleitet. Die letzten Jahre haben im Judentum in Deutschland teilweise auch hier zu diesem Gebrauche zurückgeführt. Heute wird nicht mehr an jedem Grabe gesprochen. In den Zeiten meiner Jugend war es übrigens noch üblich, daß der Rabbiner für diese Sonderleistung ein Honorar erhielt, während jetzt alles in seinem Gehalt inbegriffen ist. Jakob Guttmann zeigte sich auch darin als Charakter. Als ihm jemand einmal den allgemein üblichen Satz von hundert Mark mit einer Kritik an seiner Rede zusandte, schickte er das Geld postwendend zurück. Die G'ttesdienste in der Neuen Synagoge, die ich regelmäßig besuchte, erhielten ihre besondere Prägung durch die einmalige Stimme des Oberkantors Cerini. Diesen Namen hat er selbstverständlich nicht von Geburt an geführt; er hieß viel prosaischer Steifmann35. Eigentlich war er Opernsänger und ist erst später zum Kantorat gekommen. Daß so etwas überhaupt möglich war, hing auch mit der Einstellung des liberalen Judentums zusammen. Die ganze Trennung von Gemeinde und Funktionären machte den G'ttesdienst bis zu einem gewissen Grade zu einer Art Vorstellung. Während im alten Judentum vor allem die Gemeinde betete, wurde hier etwas vorgetragen. Im alten Judentum und in den Synagogen konservativer Richtung sollte der Schiliach zibbur, der Bote der Gemeinde, vor allem ein Mann sein, der von tiefster Religiosität erfüllt war. Es war aber ein imposanter Anblick, wenn Cerini die Stufen von seinem Platz bis zum Vorbeterpult herabstieg. Und wenn ich ehrlich sein Selmar Cerini-Steifmann war wegen der russischen Judenverfolgungen nach Preußen geflohen. In Berlin studierte er Gesang, 1891 engagierte ihn die Breslauer Oper als ersten Tenor. A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 6. 35
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soll, so habe ich damals nicht empfunden, daß diese Gebräuche, wie sie in der Neuen Synagoge gehandhabt wurden, letzten Endes unjüdisch waren. Damals war ich von der Feierlichkeit völlig in Bann geschlagen und habe auch mit großer Begeisterung den Gesängen des Chors gelauscht. In meiner empfänglichen Knabenseele war glücklicherweise für Kritik noch wenig Raum. Der Jude von heute, der durch so viele Schickungen gegangen ist, kann eben nicht verstehen, daß aus einer anderen Zeit heraus gesehen das alles nicht so unharmonisch war. In meinem Elternhaus brannte der Weihnachtsbaum, es brannten auch die Chanukkaleuchter. Manchmal kam es natürlich vor, daß beide Feste am gleichen Tage waren. Immerhin gab das Stilgefühl ein, den Chanukkaleuchter in einem anderen Zimmer anzuzünden. Warum das so kam, brauche ich nicht mehr auseinanderzusetzen. Ich habe genug über den Gegensatz der Atmosphären Hainauer in Breslau und Cohn in Samter gesprochen. Was es vielleicht meinen Vater gekostet hat, diesen Reformen in seinem Hause zuzustimmen, weiß ich nicht. Er hatte selbstverständlich ursprünglich auch einen streng koscheren Haushalt, bis man ihm von liberaler Seite einredete, daß das koschere Essen seiner Konstitution nicht zusage. Die liberalen Juden stellten es sich nämlich so vor, als ob der koscher lebende Mensch geradezu von Gänsefett triefe. Jetzt im Jahre 1940 sind es gerade die koscher lebenden Menschen, die die schwersten Opfer auf sich nehmen, um das Religionsgesetz nicht zu verletzen, auf den Fleischgenuß gänzlich verzichten und ebenso auf jedes Fett mit Ausnahme von Butter. Ich gehöre leider nicht zu ihnen. Ich habe nicht mehr die Konsequenz aufgebracht, meinen Haushalt auf diese Lebenshaltung umzustellen. Doch zurück zu den Weihnachts- und Chanukkaabenden im Hause Ohlau-Ufer 15. In dem großen Zimmer, in dem auch der Flügel stand über seine Mißhandlung durch mich wird noch zu berichten sein - , brannte die hohe Tanne. Eine große Reihe von Geschenktischen für die Kinder und für das Dienstpersonal waren aufgebaut. Es war immer ein feierlicher Augenblick, wenn wir hineindurften und an unsere Geschenktische herankonnten. Ich sehe alles vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. Die beiden Hausmädchen in feierlicher Kleidung, der Diener in seiner Livree, Fräulein Hirsch mehr auf der Familienseite, wir sechs Geschwister und die Eltern. Im letzten Augenblick steckte immer noch mein Vater einen Hundertmarkschein in einen Umschlag, den er mit der Aufschrift „meiner lieben Alten" versah. Diese Umschläge hat meine Mutter bis zu ihrem Lebensende aufbewahrt. Es ist selbstverständlich, daß an dem
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Weihnachtsbaum kein christliches Symbol zu sehen war. Der deutsche Jude aus der Zeit der Jahrhundertwende rechtfertigte sein Tun, indem er betonte, daß das eben kein christliches, sondern ein deutsches Fest war. Das stimmt selbstverständlich nicht, aber der Mensch versuchte sich auf diese Weise mit seiner so schwierigen Situation abzufinden. Wenn man auf dem Standpunkt steht, daß alles Gewordene irgendwie sein Recht hat, dann soll man den erwachsenen Menschen von damals keine Vorwürfe machen für etwas, was sie nicht anders kannten. Umso bedeutsamer ist es doch, wenn das deutsche Judentum seine Teschuwa vollzogen hat, allerdings nach schmerzlichsten Erfahrungen. Alle diese Probleme wird der Historiker des deutschen Judentums später einmal zu untersuchen haben. Wir stehen heute den Ereignissen noch zu nahe, und überdies ist es nicht die Aufgabe dieser Erinnnerungen. Hier steigen im Geiste lediglich die verklärten Gesichter der Kinder wieder auf und das große Glück der Eltern, uns diese Freude bereiten zu dürfen. Mit gleicher Begeisterung, womöglich am selben Abend, sangen wir dann auch das Moaus zur, unser altes jüdisches Kampflied, das uns immer wieder den Hauch der Makkabäerzeit vermittelt. Es gibt keine Stimmung im Jahr, in der das Moaus zur mir nicht immer neue und andere Werte vermittelt hat. Es würde eine schöne Aufgabe sein, allein diese Chanukkaabende in den langen Jahren zusammen darzustellen. Da ich von den Festen des Elternhauses spreche, möchte ich auch ein wenig von der Konfirmation meines Bruders Franz erzählen, dem ersten großen Fest, das ich mit Bewußtsein miterlebte. Meine Jungens sind später Barmizwah geworden, Söhne der Pflicht. Jungens aus liberalem Hause wurden aber konfirmiert. In dem Gegensatz des lateinischen und des hebräischen Wortes liegt eine ganze Welt. Bei meinen älteren Brüdern war der Vater übrigens noch sehr viel strenger hinter den Erfüllungen der religiösen Gebote her. Inwiefern das pädagogisch richtig war, ist eine Frage für sich. Bei meinem Bruder Hugo zum Beispiel, der überhaupt schwer lenkbar war, führte das in späteren Jahren zu einer geradezu fanatisch antijüdischen Haltung; in meinen Brüdern Franz und Martin sind die jüdischen Werte aber lebendig geblieben. Es wurde mir erzählt, daß der Vater bei den großen Brüdern, wie wir sie immer nannten, das Tefillimlegen persönlich überwachte. Auch ich habe es selbstverständlich gelernt und nach meiner Konfirmation noch jahrelang ausgeübt. An dem Ehrentage meines Bruders Franz trugen meine Schwester Erna und ich schöne Gewänder aus Samt, so nach dem Stil der Kinder Karls I. bei van Dyck. Mein jüngerer Bruder Rudolf ist übrigens in einem derartigen Anzug von dem später bedeutend gewordenen Maler Spiro
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porträtiert worden. Das Bild hängt seit dem Tode meiner Mutter in meiner Wohnung. [...] Als mein Bruder also seine Segenssprüche über die Thora in der Neuen Synagoge sagte, stand mein Vater auf der Höhe seiner Mannskraft und auf der Höhe seines Ansehens. Es war im Winter 1894. Man benutzte in Breslau diesen Tag, um weniger dem Jungen als dem Vater Glück zu wünschen. Bei diesem Fest wie auch bei meiner Konfirmation, dem letzten großen Feste, das in unserem Hause gefeiert wurde, strömten die Menschen in einer ganz bestimmten Ordnung in die Wohnung. In der guten Stube betraten sie die Wohnräume, luden die Geschenke ab, was für die beteiligten Jungens natürlich die Hauptsache war, und wurden dann in die anderen Räume geleitet, wo es ein Frühstück gab. Für den Zwiespalt der damaligen Zeit war vielleicht charakteristisch, daß es einen besonderen koscheren Tisch gab. Dieses Essen wurde angemietet und mit dem gesamten Geschirr geliefert. Es muß ein riesiger Personenkreis gewesen sein. Es waren nicht nur mehrere Familien, sondern auch die vielen Gesellschaften und Vereine, in denen der jüdische Bürger von damals verkehrte: die Gesellschaft der Freunde, die verschiedenen Brüdergesellschaften, der Kegelklub und alle die unzähligen Wohltätigkeitsvereine, in denen der Vater war. Ich glaube kaum, daß er einen ausgelassen hat. An solchen Tagen pflegten diese Gesellschaften und Brüderbünde durch würdige Dekorationen vertreten zu sein. In jener Zeit trug man noch Bärte. Die Würde des Mannes zeichnete sich in einem braunen Vollbart aus, wie ihn Kaiser Friedrich III. getragen hatte. War dieser Vollbart womöglich grau meliert, so war der Träger noch zuverlässiger. Sanitätsräte und Buchhalter waren geradezu zum Barttragen verpflichtet. Der alte Sanitätsrat Schnabel, dirigierender Arzt am Barmherzigen Brüderkloster, der bei meiner Geburt mitwirkte, trug einen solchen Bart, wobei ich nicht etwa behaupten will, daß ich ihn - den Bart bei der Geburt bemerkt hätte. Inwieweit Buchhalter mit Bart um die Jahrhundertwende weniger defraudierten als ohne Bart, ist wohl auch nicht statistisch erfaßt. Es sind nur Schlaglichter aus einem glücklichen Familienleben, die ich zeichnen konnte. An Konflikten auch zwischen den Eltern mag es mitunter nicht gefehlt haben, wie das ja auch bei Menschen so verschiedener Art nach Herkunft und Alter nicht verwunderlich ist. Dazu
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kommt noch, daß beide sehr temperamentvoll waren, aber die Grundlage ihrer Gemeinsamkeit war doch eine unendliche Liebe. Jetzt dürfte es auch am Platze sein, etwas von meinen großen Brüdern zu erzählen, so wie sie damals am Ohlau-Ufer gewesen sind. Mein Bruder Martin war vierzehn Jahre älter als ich, Hugo elf und Franz sieben. Martin hatte sich nach bestandenem Abiturium technischen Studien zugewandt und im besonderen dem Maschinenbaufach. Da sich in Breslau noch keine technische Hochschule befand, bezog er nach einem Semester an der Breslauer Universität die Münchener Technische Hochschule 36 . In Breslau war er dem Akademisch-Medizinischen Verein (AMV) beigetreten und bekam dort den Biernamen „Lehmann". Es war nämlich Sitte, daß in dem stark assimilatorischen Studentenverein jeder Jude, der einen so „anrüchigen" Namen wie Cohn oder Levy führte, einen Biernamen bekam, der ihn verdeckte. Damit sollte verhindert werden (furchtbar, es auszudenken) daß man beim offiziellen Frühschoppen im Rizzi-Bräu Sonntagvormittag durch das Lokal rief: „Prost Cohn". Das waren die Sorgen der jungen Juden von anno dazumal. Mein Bruder Martin ist dann aus dem Verein wieder ausgetreten, weil er in München einer farbentragenden Verbindung beitrat. Nachdem er dem AMV den Rücken gekehrt hatte, wurde er dort zum Alten Herrn ernannt. Später wurde sein Biername, als auch die anderen akademischen Brüder aktiv wurden, in „Original-Lehmann" umgewandelt. Ich besitze noch ein Studentenbild aus seiner Münchner Zeit, wo er in feierlichem Wichs abgebildet ist. Er sieht aber darauf nicht sehr gesund und furchtbar aufgeschwemmt aus. Über das Verhältnis des Juden zum Alkohol ließe sich mancherlei sagen. Im Grunde sagt der Alkohol unserer Rasse nicht zu. Es gibt ein Wort, das ich oft gehört habe: „Bei einer jüdischen Hochzeit kann man nur an Selterswasser bankrott werden". Aber der jüdische Student aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit seinen ewigen Minderwertigkeitskomplexen gegenüber arischen Studenten fühlte sich zum Trinken verpflichtet, auch wenn es ihm nicht bekam. Ähnlich stand es mit den Bestimmungsmensuren in einer Zeit, da es als höchste Würde des Akademikers galt, mit einem Gesicht herumzulaufen, das wie Beefsteak ä la tatar aussah. Mein Bruder Martin war der Älteste. Mein Vater sonnte sich geradezu darin, daß er es sich leisten konnte, ihn studieren zu lassen. Ich besitze noch fast lückenlos alle Studentenbriefe von Martin, die immer besonders liebenswürdig geschrieben waren, von einer großen Herzlichkeit und
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Die Technische Hochschule Breslau wurde erst 1910 gegründet.
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Flüssigkeit des Stils. Aber Martin kam niemals mit seinem Wechsel aus. Er verstand es in netter Weise, den Vater durch Extrarechnungen zu erleichtern. Dadurch, daß er an einer fremden Hochschule studierte, war er nicht so oft in Breslau. Er war von einer bestrickenden Liebenswürdigkeit, die den Vater immer wieder entwaffnete. So hielt der Vater zum Beispiel auf pünktlichste Tischzeit, damit er sich danach einige Minuten hinlegen konnte. Martin kam aber in der Regel verspätet zu Tisch. Wir saßen immer mit einem beklemmenden Gefühl, ob sich nicht ein großes Donnerwetter über ihn entladen würde. Aber wenn er die Tür zum Eßzimmer öffnete, trat er so sieghaft auf, daß sich alles in Wohlgefallen auflöste. Eine meiner frühesten Erinnerungen an Martin ist, daß er mich einmal auf die Kneipe des A M V mitnahm, wo ich die Bierreste austrank und vollständig betrunken nach Hause kam. Es ereigneten sich die schlimmsten Folgen, aber unser gutes Fräulein Hirsch beseitigte alles, ohne einen Ton zu sagen und packte mich ins Bett. Sie hat immer schweigend solche unangenehmen Pflichten erfüllt. Ich glaube, daß sich damals doch über Martin ein Donnerwetter entladen hat. Er war mir in späteren Jahren der treueste und aufopferndste Bruder. Da er zu meinen Geburtstagen selten zu Hause war, so schrieb er mir stets schöne Briefe. Mit Hugo war es schwieriger. Ich deutete schon an, daß seine Schullaufbahn keine besonders glückliche war, obwohl er eigentlich nicht weniger begabt gewesen ist als die anderen Brüder. Er litt an einer Sprachhemmung, die ihn sein ganzes Leben lang quälte. Heute wäre so etwas bei einem Kinde mit psychischer Behandlung in Kürze zu beseitigen. Damals aber wußte man von diesen Dingen nichts. Er litt sehr darunter, daß er nicht immer im richtigen Augenblicke alles sagen konnte. So mußte er die Schule mit dem Einjährigen-Zeugnis verlassen. Er kam in die Lehre nach Berlin, wurde Kaufmann und nach dem Tode des Vaters Mitinhaber der Firma. Als ich vor einigen Jahren eine Kiste erhielt, in der die Skripturen der alten Firma die Jahrzehnte überdauert hatten, fand ich zwei Goldstücke in einem Umschlag, auf dem von der Hand meines Vaters geschrieben war: „Hugos erstes verdientes Geld." Hugo hatte ihm diese Goldstücke von Berlin eingesandt, und der Vater hat sie ihm sicher überreichlich vergütet. Als ich die Goldstücke fand, war meine Mutter in keiner besonders guten pekuniären Lage. Der Gegenwert des Goldes, das ich selbstverständlich auf der Bank ablieferte, kam ihr recht zustatten. So belohnt sich ein pietätvolles Aufbewahren manchmal noch nach Jahrzehnten. In seiner Lehrzeit in Berlin hat Hugo bei dem Onkel Georg Goldstücker gewohnt, dessen Frau Johanna, in der Familie Tante Hannchen
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genannt, heute noch im Alter von neunzigeinhalb Jahren in einem Berliner Altersheim lebt. In diesem Kriege überlebte sie sogar noch einen Luftangriff der Engländer auf ihr Haus, worüber sie eigenhändig berichtete. Die Familienüberlieferung erzählt, daß Hugo sein Leben sonst zu genießen verstand. Das Berliner Pflaster war ja für einen jungen, nicht unbegüterten Mann nicht ungefährlich. Auch Hugo war mir ein guter und treuer Bruder. In den letzten Jahren haben wir leider nicht mehr so gut harmoniert. Dadurch, daß mit der Verheiratung von uns Geschwistern Frauen ganz anderer Art in die Familie kamen, wurde manches kompliziert. Aber das ist wohl überall so. Hugo hatte übrigens viele schöngeistige Interessen. Dabei nahm er den nicht geliebten Beruf des Kaufmanns sehr ernst. Pflichttreue kennzeichnete sein ganzes Wesen. Mein Bruder Franz hat im Jahre 1900 das Abiturium gemacht und sich aus innerster Neigung zum Studium der Medizin entschlossen. Daß auch er im AMV aktiv wurde, ist selbstverständlich. Seine Körperkonstitution machte ihm bei diesem Studium von Anfang an Schwierigkeiten. Er hat sie mit bewundernswerter Energie überwunden. Er war der geborene Arzt. Nur seinen Herzenswunsch, Frauenarzt zu werden, konnte er nicht durchführen, weil er die Narkosen nicht ertrug. Franzens Studentenzeit habe ich mit vollem Bewußtsein miterlebt. Ich war zwölf Jahre, als er zu studieren begann. Ich war stolz, wenn ich dabei sein durfte, wenn er seine Präparate ordnete. Einen Teil seines Studiums hat er in Heidelberg verbracht, jener unvergleichlichen Stadt deutschen Studententums, wo auch ich später studieren durfte. Unter seinen Heidelberger Lehrern machte der Philosoph Kuno Fischer auf ihn besonderen Eindruck. Sonst hörten Mediziner, deren Stundenplan recht reichlich ist, nur Männer des eigenen Faches. Von Kuno Fischer liefen unzählige Anekdoten um, die mir Franz häufig erzählte. Fischer gehörte zu den eitlen Männern. So soll er einmal gesagt haben: „Es gibt nur zwei große Goetheforscher; der andere wohnt in Jena". Oder eine andere Anekdote, die gern erzählt wurde: Er soll einmal im Kolleg gesagt haben: „Alle Söhne großer Männer sind Inferioritäten. Mein Sohn ist auch eine Inferiorität, deswegen habe ich ihn Corpsstudent werden und Jura studieren lassen". Von Küno Fischers wissenschaftlichem Werk ist wenig übrig geblieben. Seine hauptsächlichste Wirksamkeit lag in dem, was er den Menschen mündlich gegeben hat. Er hatte damit eine Verwandtschaft mit meinem Lehrer Eugen Kühnemann, von dem noch die Rede sein wird 37 . Ganz wenigen akademischen Lehrern ist ja in 37
Vgl. unten S. 114 f.
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gleicher Weise die Gabe der Forschung und des fesselnden Vortrages eigen. Mein Bruder hat seine Heidelberger Studententage zu genießen verstanden. Von denen, die mit ihm studierten, möchte ich seinen Freund Kalischer nennen, der aus einfachsten Verhältnissen stammte. Sein Vater betrieb in Breslau am Karlsplatz ein Restegeschäft. Er war unglaublich stolz auf den Sohn, der es zum Akademiker gebracht hatte. Auch der Herr Studiosus Kalischer kam nie mit dem Geld aus. Einmal schrieb er seinem Vater, er müsse bei der Universität unbedingt dreihundert Mark zur Fütterung der Protozoen einzahlen. Bekanntlich sind aber die Protozoen einzellige Lebewesen, die gewiß nicht gefüttert werden müssen. Ein anderer Trick der damaligen Heidelberger Studenten, wenn sie mit dem Wechsel nicht auskamen, bestand darin, in das benachbarte Ludwigshafen zu fahren. Ludwigshafen gehört zur bayrischen Pfalz, und infolgedessen wurden dort nur bayrische Briefmarken geklebt. Die Herren Studenten pflegten dann eine bayrische Postkarte in die Bahnpost zu werfen und zu schreiben: „Wie Du siehst, befinde ich mich in München, und ich habe leider für die Reise so viel von meinem Wechsel verbraucht, daß ich Dich bitten möchte, mir noch etwas nach Heidelberg zu schicken." Das waren so piae fraudes der damaligen Zeit. Franz hat in Heidelberg Physicum und auch Staatsexamen gemacht. In Breslau konnte er sich mit dem damals sehr bekannten Anatomen Hasse nicht gut vertragen. Hasse war ein Original, übrigens ein erbitterter Feind des Frauenstudiums, das er aber nicht verhindern konnte. Wo es irgend angängig war, ärgerte er die Mädel, die bei ihm in den ersten Semestern Anatomie belegen mußten. So soll er einmal in Bezug auf das Präparieren gesagt haben: „Fräulein, haben Sie schon ein Kind gehabt? Sonst setzen Sie sich mit dem Anatomiediener Kleinen in Verbindung." Hasse sagte übrigens nach jedem zweiten und dritten Wort „also". Es war bei den Studenten ein Sport nachzuzählen, auf wieviel „alsos" er es in einer Vorlesung brachte. Wenn er einen Studenten anredete, sagte er immer: „Mein also betreffender Herr Kollege". Diese Scherze hat man so oft erzählen gehört, daß sie mir nach vierzig Jahren in den Ohren klingen wie eben erzählt. Ein Zeitgenosse von Franz und verbummelter Student, der nie ein Examen machte, war der Kunsthistoriker Fuchs. Er war noch in Heidelberg, als ich dorthin kam. Er gehörte zu den Menschen, die auf ihrem Gebiete sogar etwas wußten, die aber niemals die Energie aufbrachten, sich einer Examenskommission zu stellen.
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Zu denjenigen, die sich ein akademisches Leben leisteten, obwohl sie kein Abiturium gemacht hatten, also nur extra ordinem immatrikuliert werden konnten, gehörte mein Vetter Arthur Goldstein. Das ist eine Type für sich. Mit Franz war er immer sehr befreundet. Diese Freundschaft ist eines der wenigen Dinge, die ich Franz in seinem Leben übelgenommen habe. Arthur Goldstein war in einem Punkte genial; er hat es verstanden, Zeit seines Lebens der Arbeit aus dem Wege zu gehen. Trotzdem ist ihm immer alles geglückt. Er ist vor einigen Jahren sogar nach Palästina gegangen und wird dort wahrscheinlich auch nichts tun. Franz hat uns seine Studentenzeit in Brief und Wort geschildert. So war es, als ich dann einmal so weit war, meine größte Sehnsucht, auch dorthin zu gehen, eine Sehnsucht, die ich glücklicherweise auch stillen konnte. Doch davon erst später. Nun noch zurück in das Elternhaus. Viele Interessen kreuzten sich hier, und die Eltern haben immer versucht, allen gerecht zu werden. Es war eine angeregte Atmosphäre, die auch dadurch gekennzeichnet war, daß an jedem politischen Zeitgeschehen Anteil genommen wurde. Dadurch bin ich sehr früh zum Nachdenken über diese Dinge gekommen. Ein jüdischer Kaufmann aus dem Ende des vergangenen Jahrhunderts gehörte politisch selbstverständlich zu jenen Kreisen, die von den Gedanken Eugen Richters 38 geprägt waren. Eugen Richter war der Führer des Freisinns. Er stand im Gegensatz zu Konservativen und Zentrum. Sehr fromme Juden der damaligen Zeit wählten übrigens lieber Zentrum, weil sie bei den Katholiken eine stärkere Förderung der Glaubensinteressen erhofften. Die liberaleren Juden aber neigten zum Freisinn. Dies geschah auch aus ökonomischen Gründen; denn der Freisinn bekämpfte im Gegensatz zur Sozialdemokratie jeden Versuch des Staates, auf die Wirtschaft überzugreifen. Der jüdische Kaufmann von damals aber sah auch im wirtschaftlichen Liberalismus die Möglichkeit des Emporkommens. Zum preußischen Landtag wurde bekanntlich für das Abgeordnetenhaus in indirektem Verfahren nach dem sogenannten Dreiklassenwahlrecht gewählt. Dabei waren die Wähler nach ihrer Steuerzahlung Eugen Richter (1838-1906) führte 1893 den größeren Teil der gespaltenen Deutschfreisinnigen Partei an. Die 1884 gegründete Partei spaltete sich wegen des Militäretats, den die Gruppe um Eugen Richter ablehnte, dem die zweite Gruppe unter Albert Hänel (1833-1918) jedoch zustimmte. Aus: H . Neubach: Der Beitrag des ostdeutschen Judentums zur deutschen Politik; in: G. Rhode (Hg.), Juden in Ostmitteleuropa. Marburg/Lahn 1989, S. 139. 38
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abgestuft. Da die Straße am Ohlau-Ufer zu einer verhältnismäßig armen Gegend gehörte, so kam es manchmal vor, daß der Vater die erste Klasse fast ganz für sich allein hatte und zum Wahlmann gewählt wurde. Damit bekam er das Recht, bei der Wahl der Abgeordneten, die im großen Saale des Konzerthauses stattfand, mitzuwirken. Darauf war man als Sohn natürlich stolz. Das erste außenpolitische Ereignis, das ich mit Bewußtsein erlebte, war das Zusammentreffen Kaiser Wilhelms II. mit dem Zaren Nikolaus II. in Breslau im Jahre 1897. Anläßlich der Anwesenheit dieser beiden Monarchen fand eine große Truppenparade in Gandau statt, dort, w o heute sich der Flugplatz befindet. Alle Straßen waren selbstverständlich sorgsam abgesperrt. Es war wohl auch russische Geheimpolizei da. War es doch das furchtbare Los der Zaren, ihr Leben lang vor der Ermordung zu zittern. Nikolaus II. ist diesem Schicksal nicht entgangen. Professor Wohlauer pflegte im Schulunterricht zu sagen: „In Rußland herrscht der Absolutismus, gemildert durch Meuchelmord." Von all diesen Dingen wußte ich natürlich nichts, als die Kaiser in Breslau waren. Wir bauten uns mit den Eltern auf der Straße auf und genossen das militärische Schauspiel. Diese Mächte schienen damals für die Ewigkeit geschaffen. Nach wenigen Jahrzehnten war das alles vorbei. Ich ahnte nicht, daß anläßlich dieses Kaiserbesuches Theodor Herzl als Korrespondent der „Neuen Freien Presse" in Breslau war, der mir später das leuchtendste Symbol für eine wirkliche Erneuerung des Judentums geworden ist. Herzl schrieb ein besonders schönes Feuilleton über Breslau, wobei er auch des Grabes von Lassalle gedachte, der auf dem jüdischen Friedhof auf der Lohestraße ruht. Lassalle und Herzl haben mir in verschiedenen Epochen meines Lebens als Vorbild geleuchtet. Ein anderes politisches Ereignis, an das ich mich aus meiner Jugend erinnere, war der spanisch-amerikanische Krieg. Damals haben die Vereinigten Staaten ohne besonderen Grund (ich glaube, die Veranlassung war angeblich schlechte Behandlung amerikanischer Untertanen) den Spaniern ihre Kolonien weggenommen, vor allem Kuba und die Philippinen. Wenn es auch auf der einen Seite gewiß ist, daß die Vereinigten Staaten aus diesen Kolonien in den letzten vierzig Jahren viel gemacht haben, so hatte man damals doch das Gefühl eines Rechtsbruches. Als Historiker habe ich mir später oft die Frage vorgelegt, w o bei den Völkern das Recht aufhört und das Unrecht anfängt. Heute erscheinen die Vereinigten Staaten manchem als der Hort der Demokratie. Wahrscheinlich ist es so, daß jedes Unrecht, wenn es sich erst einige Jahrzehnte abgelagert hat, im Rechtsbewußtsein verschwindet. Damals stand man immer auf Seiten der
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Unterdrückten und derer, denen der Stärkere etwas wegnahm. Vielleicht liegt das uns Juden besonders im Blut, wie wir immer wieder in unseren Gebeten die Worte sagen: „Und denke daran, daß wir Knechte gewesen sind im Lande Mizrajim."39 Von dem andern großen Unrecht aus der Zeit um die Jahrhundertwende war schon andeutungsweise die Rede, dem Burenkrieg. Jeder Junge litt damals mit Ohm Krüger. Jeder verurteilte die Engländer auf das Schärfste. Man hatte Mitleid mit diesen beiden so tapfer kämpfenden Staaten Transvaal und dem Oranje-Freistaat, dem die Engländer den Garaus machten. Später merkte ich beim Studium dieser Frage, daß die Burenstaaten ziemlich antisemitisch gewesen sind und also vom jüdischen Gesichtspunkt aus die Sympathien besser der andern Seite gehört hätten. Ich vermag auch nicht zu beurteilen, ob die Engländer diesen Ländern einen größeren Fortschritt gebracht haben, als es die Buren gekonnt hätten. Diese Dinge sollen hier lediglich als Beleg dafür erzählt werden, wie man all das in unserem Elternhause beurteilte und diskutierte. Ein anderes außenpolitisches Ereignis, das meine Jugend beeindruckte, war der russisch-japanische Krieg. Auf der einen Seite empfand man diese Geschehnisse als sehr weit entfernt. Man fühlte sich geborgen in dem Frieden Deutschlands, von dem man sich nicht vorstellen konnte, daß er überhaupt noch einmal gebrochen werden könnte. Uber die Niederlage Rußlands freute sich jeder Jude. Den russischen Zarismus haßte man auf das glühendste wegen all dessen, was er den Juden immer wieder angetan hatte. Niemand wußte damals etwas von der konstruktiven Idee Theodor Herzls, der lieber eine Aussiedlung der Juden vorgenommen hätte. Die Namen der Männer, die in jener Zeit eine Rolle spielten, sind mir stets in Erinnerung geblieben, auch noch ein Witzwort, das mit ihnen zusammenhängt. Der Führer der japanischen Marine hieß Kuroki, der Führer der Russen hieß Kuropatkin. Als die Russen eine vernichtende Niederlage mit ihrer Ostseeflotte erlitten, die sie durch den Stillen Ozean dorthin geschickt hatten, sagte man in Bezug auf den Russen: Kuroki packt ihn. Man hörte damals auch das erste Mal etwas von der neuartigen Form des Schützengrabenkriegs bei den Kämpfen um Port Arthur. Wer von uns Jungens hätte sich damals träumen lassen, daß er diese Gräben später aus eigener Anschauung gründlich kennenlernen würde. Der russisch-japanische Krieg war gewissermaßen der erste Versuch eines modernen Krieges dieses so blutigen 20. Jahrhunderts.
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Deuteronomium 24,18.
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Dabei eine persönliche Erinnerung an die Jahrhundertwende. Wilhelm II. hatte befohlen, daß das neue Jahrhundert am 1. Januar 1900 beginnt, nicht wie es eigentlich richtiger gewesen wäre, am 1. Januar 1901. Ich war damals gerade zwölf Jahre alt geworden. Wenn es ein gewöhnlicher Silvesterabend gewesen wäre, so hätte ich selbstverständlich ins Bett gehört. Meine Eltern aber waren der Meinung, daß es die Erinnerung an ein so außerordentliches Ereignis wert wäre, es wachend zu erleben. Sie nahmen mich deshalb zu Kaims mit. Die Familie Robert Kaim wohnte am Ohlau-Ufer 10, also in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Zwischen den Familien bestand eine sehr alte Freundschaft, die auch durch verwandtschaftliche Beziehungen unterstrichen wurde. Vor allem aber waren auch die Söhne Robert Kaims meist mit meinen älteren Brüdern gleichaltrig. Der Chef des Hauses war Holzkaufmann und eine ziemlich derbe Persönlichkeit. Seine Frau Hulda, geb. Gottstein, ein sehr gütiger und liebenswürdiger Mensch, ist verhältnismäßig früh gestorben. Zur Familie gehörte noch ihre Schwester Mathilde. Sie war die damals übliche Tante. In früheren Jahrzehnten gehörte so etwas zu den meisten Familien. Irgendwie war das Leben an ihr vorbeigegangen. N u n aß sie bei Kaims das Gnadenbrot. Dafür durfte sie in dem riesigen Haushalt erheblich mitarbeiten. Sie saß an den großen Gästetafeln immer am untersten Ende, und so kam ich als der Jüngste an jenem Silvesterabend neben sie zu sitzen. Wie sich bei Kindern manchmal eine Kleinigkeit fest einprägt, so auch hier. Sie bediente mich natürlich mit allen guten Sachen aufs reichlichste, aber da sie nicht sehr reinliche Fingernägel hatte, war mir das wieder sehr unangenehm. Sonst aber war sie ein guter Mensch und außerordentlich bescheiden. Robert Kaim war ein ziemlicher Tyrann und im Gelde sehr genau. Manchmal gingen die befreundeten Familien auf die Liebichshöhe, um dort an Sommerabenden zu essen. Es wiederholte sich dann stets das gleiche Schauspiel. Kaims studierten eingehend die Speisekarte, um schließlich Kalbsleber zu bestellen, die zwanzig Pfennig billiger war als Wiener Schnitzel. Ich glaube, der Aussichtsturm auf der Liebichshöhe wäre vor dem Donnerwetter zusammengebrochen, das Robert Kaim über die arme Mathilde Gottstein ausgeschüttet hätte, wenn es einmal nicht Kalbsleber gewesen wäre. D o c h zurück zu jener Silvesternacht. Auch Juden von damals empfanden die Feier des Silvesterabends nicht als ungehörig. Wer wußte schon, daß es Papst Silvester gewesen war, der um die Trennungslinie zum Judentum zu ziehen, auf dem Konzil von Nikäa 325 den Sabbat für die Christen auf den Sonntag verlegt hatte. Man machte diesen Brauch eben mit. Es war ja nicht zu leugnen, daß das Ende des bürgerlichen Jahres auch im Leben des jüdischen Menschen einen Einschnitt bedeutete.
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Als es damals kurz vor zwölf war, traten wir auf den schönen Balkon hinaus, um den Klang der Glocken deutlicher zu hören, die das neue Jahrhundert begrüßten. Sonst war draußen in der Vorstadt in den ruhigen Promenaden nicht allzuviel los. Aber ich weiß noch, wie meine Mutter die Frage stellte: Was wird uns das neue Jahrhundert bringen? Jetzt sind vierzig Jahre schon davon vergangen, zwei Weltkriege hat es der Erde gebracht. Es verspricht blutiger zu werden, als es das vorige Jahrhundert war. Damals nannte man das neue Jahrhundert stolz „das Jahrhundert des Kindes" 4 0 . Nun, ein erheblicher Teil der Kinder, die es zur Welt gebracht hat, hat ihr Leben dem Kriege auf blutdurchtränkten Schlachtfeldern zum Opfer bringen müssen. Aber das konnte man damals nicht wissen, wie man ja erfreulicherweise nie etwas von der Zukunft weiß. D e r zwölfjährige Junge, der ich damals war, war stolz, dabeigewesen zu sein. Unter den Ereignissen, die tiefen Eindruck machten, muß an erster Stelle das furchtbare Pogrom von Kischinew erwähnt werden, mit dem eine besonders blutige Judenverfolgung in Rußland verbunden war 4 1 . Damals hat besonders der Hilfsverein der deutschen Juden eine gewaltige Tätigkeit entfaltet. Es sind riesige Summen aufgebracht worden. U n d doch hat etwas gefehlt, das wir Juden von heute erst empfinden, nachdem wir in eine ähnliche Lage gekommen sind: Man hat Geld gegeben, man hat riesige Durchwandererheime gegründet, man hat dafür gesorgt, daß die Flüchtlinge nach Amerika geschafft wurden, aber man hat den russischen Juden nicht unsere Häuser geöffnet. Heute hören wir immer wieder aus Briefen deutscher Emigranten die Klage, daß man zwar draußen in der Welt versucht, sie vor der äußersten N o t zu bewahren, daß es aber fast ganz unmöglich ist, in die sogenannte jüdische Gesellschaft hineinzukommen. So leiden wir unter dem Gleichen, worunter russische Juden damals gelitten haben. Mancher deutsche Jude möchte hier vielleicht einwenden, daß das russische Judentum nicht auf der Höhe des deutschen gestanden habe; aber der Einwand ist nicht richtig. Zu jenem russischen Judentum gehörten Persönlichkeiten wie Bialik, Nahum Sokolow, Schemaryahu Lewin, Motzkin, Weizmann und viele andere. D e r russische Jude war 40
N a c h einem Buchtitel der schwedischen Pädagogin Ellen K e y : Das J a h r -
hundert des Kindes, dt. Ausgabe 1 9 0 2 u.ö. 41
In der russischen Stadt Kischinew, deren jüdischer
Bevölkerungsanteil
damals 6 0 % betrug, kam es 1903 und 1905 zu blutigen P o g r o m e n gegen Juden, die zahlreiche T o t e und Verletzte forderten.
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nur andersartig als der deutsche, und als so andersartig werden wir heute von den angloamerikanischen Juden empfunden. O f t mögen es die Kinder jener Pogromopfer von Kischinew sein, die heute draußen in der Welt die Mittel aufbringen, um den Juden aus Deutschland zu helfen. D o c h genug von diesen Bildern und zurück zu erfreulichen Eindrücken der Jugendzeit. Das große Ereignis, auf das man sich jedes Jahr freute, war die sommerliche Reise mit den Eltern. Man verreiste damals nur einmal im Jahre, ebenso gab es nur einmal einen Schulspaziergang. Deshalb wurden die Pläne für beides lange und sorgsam vorbereitet. Wenn keine besondere medizinische Notwendigkeit vorlag, so suchte man am liebsten das schöne Riesengebirge auf, in dem ich später unzählige Male gewesen bin. Mit ihm fühlte ich zeitlebens eine besondere Verbundenheit. Aus ihm habe ich immer wieder in Zeiten geistiger Erschlaffung und nach übermäßiger Arbeit Frische und Kraft geholt. Daß es mir heute wie so vieles andere verschlossen ist, empfinde ich als besonders schmerzlich. Meine Mutter hat mir erzählt, daß ich schon einmal in frühester Jugend in Johannisbad war, aber daran vermag ich mich nicht mehr zu erinnern. Die erste bewußte Erinnerung knüpft sich an die Reise nach Krummhübel im Jahre 1897, eine dunkle auch noch an eine Reise nach Schreiberhau zuvor. Heute fährt man mit einem schönen elektrischen Zuge von Breslau bis nach Krummhübel durch. Damals war das etwas umständlicher. In Hirschberg und Zillerthal mußte man umsteigen, das letzte Stück von Zillerthal nach Krummhübel wurde von einer Privatbahn betrieben, deren Lokomotiven an asthmatischer Schwäche litten. D a kam es manchmal vor, daß die letzte Steigung von der einen Lokomotive nicht genommen werden konnte, der Zug dann liegen blieb und die andere zur Unterstützung herbeigeholt werden mußte. Aber angekommen sind wir schließlich doch. Wir nahmen in Unterkrummhübel im Haus Hubertus Wohnung; damals wurde mein Bruder Rudolf als das süße J ö r 4 2 von Hubertus besonders bewundert. Ich spielte viel in dem trockenen Tal der Lomnitz. Dieses Flüßchen war so harmlos, daß man von Stein zu Stein hüpfen konnte. D a ereignete sich eine furchtbare Naturkatastrophe. Als wir am Morgen aufwachten (man hatte noch den glücklichen Schlaf der Jugend, der über alles hinweghalf und weder Baldrian noch Phanodorm brauchte) war ein Teil unseres Gartens plötzlich weg. Aus dem harmlosen Bergflusse war
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Etwas berlinernd für „ G ö r " , kleines Kind.
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ein reißender Strom geworden, auf dem Hausrat, Tiere und was sonst noch unglücklichen Menschen gehörte, trieb. Im oberen Gebirge hatte es vorher sehr geregnet. So hatte sich diese Katastrophe ereignet, die die größte war, die jemals das Riesengebirge heimsuchte. Unter anderem war auch die Brücke, die Krummhübel mit Brückenberg verband, weggerissen, die Landstraßen waren fortgespült, die Eisenbahnverbindung nach Zillerthal unterbrochen. Wenn wir mittags in das Gasthaus zum Goldenen Frieden essen gingen, so mußten wir mühsam einen Pfad am Rande der Landstraße suchen. Es kamen dann bald Eisenbahner und Pioniere, um die notwendigsten Arbeiten zu leisten und eine behelfsmäßige Brücke zu bauen. Für das Unglück der Bewohner interessierte sich besonders die Erbprinzessin Charlotte von Sachsen-Meiningen, die die Schwester Kaiser Wilhelms II. war und in Breslau wohnte. Sie war Chefin des berühmten Breslauer 11. Regiments, und ihr Mann war Kommandierender General. Trotzdem es seine sauer verdienten Sommerferien waren und er auch schon kein Jüngling mehr war, lief mein Vater damals in Krummhübel unermüdlich von Haus zu Haus, um bei den Sommerfrischlern Beträge für die unglücklichen Einwohner zu sammeln. Ich bin sicher, daß er selbst eine namhafte Summe gegeben hat. Zahlen hörten wir niemals. Mein Vater hat seine Wohltätigkeit an keine konfessionellen Grenzen gebunden; er half, wo es zu helfen galt. Ich bin überzeugt, daß so wie er, auch viele andere Juden gewesen sind. Auch das ist ein Teil der jüdischen Geschichte auf deutschem Boden, der heute nicht mehr erwähnt wird. Man spricht heute immer wieder von Einsatzbereitschaft. Das jüdische Herz hat sie stets gekannt, ohne vielleicht den Namen dafür zu wissen. Krummhübel war damals noch ein recht bescheidener Ort. Es fehlte ihm alles Protzige, glücklicherweise auch sogenannte moderne Vergnügungsstätten. Der Sommerfrischler von damals wollte nichts anderes, als die Lunge voll Tannenduft bekommen und wandern. Welch stolzes Gefühl war es, wenn man auf den Kamm des Riesengebirges kam und weit ins Tal hinunterschauen konnte. Auch mein Vater war ein großer Naturfreund und war schon oft im Gebirge gewandert. Das Riesengebirge war uns vor allem ein Stück Heimat, auf das wir Schlesier besonders stolz sind. Andere Reisen führten uns in verschiedene Bäder. So waren wir einmal in Homburg vor der Höhe. Mein Vater neigte etwas zur Fettleibigkeit. So war es gut, wenn er von Zeit zu Zeit von einem glaubersalzhaltigen
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Brunnen trank. Homburg vor der Höhe liegt bekanntlich unweit von Frankfurt am Main. Damals lernte ich Rosette Lewy kennen. Ihre Mutter war die Schwester einer guten Freundin unseres Hauses, der Tante Marie, deren Mann, Onkel Wilhelm, Vaters bester Freund gewesen ist. Onkel Wilhelm ist am Jom Kippur 1902 gestorben, Tante Marie hat ihn um Jahrzehnte überlebt. Diese Jugendfreundschaft mit Rosette Lewy, die viele Jahrzehnte später den Schweizer Juden Léon Ruf heiratete, hat durch alle Jahre meines Lebens auf das Innigste gehalten. Wir haben immer im Briefwechsel miteinander gestanden und nie die Fühlung miteinander verloren. Weder ich, noch meine Kinder werden es ihr jemals vergessen, daß sie uns die Möglichkeit zu einem Wiedersehen gegeben hat, als mein ältester Sohn Wolfgang schon lange in der Emigration in Paris war. Damals durfte ich mich in ihrem Haus mit ihm treffen. Auf der zweiten Reise nahm ich meine Tochter Susanne mit, die erst auf dieser Reise ihren Bruder kennengelernt hat. Diese Freundschaft ist damals 1898 geschlossen worden, als wir durch Frankfurt kamen. Hunderte, ja Tausende von Menschen hat man im Laufe seines Lebens kennengelernt, aber die meisten sind doch Schatten geworden, sei es in übertragener Bedeutung, daß sie bereits den Weg in die andere Welt angetreten haben, sei es, daß sie einfach aus dem Gesichtskreis schwanden. Diese Freundschaft aber hat ihre Bewährung gefunden, und sie wird uns sicher verbinden, solange wir leben. Ich weiß, daß ich damals in Frankfurt auch schon im Goethehaus gewesen bin und im Römer. Eine so weite Reise haben wir auch nicht auf einmal gemacht, denn die Reise war weiter, als sie es heute wäre. Wir übernachteten dann meistens in Dresden. So konnte ich dort die Schönheiten der Stadt in mich aufnehmen: Zwinger, Brühische Terrasse, Großer Garten. Das waren schon Begriffe meiner Jugendzeit, Kulturwerte, die um so tiefer saßen, weil sie eben früh an uns herangebracht wurden. In Homburg vor der Höhe besichtigten wir auch die Saalburg, die damals noch nicht restauriert war. Das fesselte meinen schon früh erwachten geschichtlichen Sinn. Die Eltern haben auch niemals verabsäumt, uns auf solche Dinge aufmerksam zu machen, damit eine Reise auch ihren Bildungswert bekam. Homburg vor der Höhe war an und für sich ein sehr modisches Bad. Ich erregte dadurch Aufsehen, daß ich gern auf der Kurpromenade saß und Kreuzstickereien machte. Ich glaube, daß sich sogar noch einige von ihnen erhalten haben. Das war eine Beschäftigung, die mir zusagte und mir die Möglichkeit zum Nachdenken gab. Nur konnte ich ungemütlich werden, wenn man mich zwang, das sommerliche Kinderfest mitzumachen, das die Kurverwaltung
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regelmäßig veranstaltete. Das bedeutete erstlich einmal, daß ich feine Sachen anziehen mußte, etwas, was ich in den Tod haßte, und bedeutete ferner, daß ich einem Mädel die Hand geben mußte. Die erste Abneigung hat sich niemals gelegt, die zweite hat sich später gegeben. Die Generation meines Vaters hatte noch nicht viel Sinn für den damals aufkommenden Sport, den in H o m b u r g vor der H ö h e besonders die Engländer betrieben. Dieses Bad hatte einen gewissen englischen Anstrich, weil in der Nähe der Witwensitz der Kaiserin Friedrich war, die bekanntlich eine englische Prinzessin und Tochter der Königin Viktoria gewesen ist. Als mein Vater einmal dem Golfspielen zusah, nahm er seinen Regenschirm und machte es den Leuten nach, wobei er die Krücke abbrach. Ich habe noch nach Jahrzehnten die Stelle im Kurpark wiedergefunden, w o sich diese Szene abgespielt hat. Eine andere Reise führte uns nach Bad Elster im sächsischen Erzgebirge. Damals wurde bei mir das erste Mal eine Affektion des Herzens festgestellt, die mich später immer wieder heimsuchte, mich aber nicht gehindert hat, Soldat zu werden. Man hat wohl so etwas auch damals nicht richtig behandelt. Mir wurde jede sportliche Betätigung untersagt, und so konnte ich nicht einmal das geringe Maß von Schulturnen mitmachen, das damals üblich war. Zweimal war ich mit den Eltern in Marienbad und zwar in den Jahren 1900 und 1902. 1901 waren wir wieder in Krummhübel, wohin der Vater später nachkam. Solche Badereisen brachten, wenn sie nicht ins Riesengebirge führten, immer den Zwang zu einem sehr unjugendlichen Leben. Man mußte auf der Kurpromenade flanieren, nachmittags artig und gesittet in ländlichen Cafés sitzen oder spazieren gehen. Aus Marienbad sind mir noch besonders die unheimlich dicken Leute in Erinnerung. So hat es damals einen Ägypter gegeben, der wohl drei Zentner wog. Auch gab es dort viele Glaubensgenossen aus dem Osten in ihren Kaftanen. Der Jude tut gerne etwas für seine Gesundheit. Der Erinnerung an diese Gestalten haftet auch immer etwas Ehrwürdiges an. Der Jude, der ganz Jude ist, ist viel weniger lächerlich als der, der sein Judentum zu verbergen sucht. Marienbad war übrigens landschaftlich sehr schön gelegen, bis tief in die Wälder verstreut waren Häuschen, die die Kurgäste eilig aufsuchten. Es fiel mir auf, daß es in Breslau Sitte war, seinen Groschen vor Besuch jener Anstalt, die nach meinem Monogramm genannt ist, zu entrichten, während in Marienbad die Sitte bestand, erst nachher zu bezahlen. Ich
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nehme an, daß der durchschlagende Erfolg des Brunnens vorherige Kasse nicht zuließ. Ich habe übrigens in Marienbad niemals ein tschechisches Wort gehört. Der Ort lag im deutschen Teile Böhmens. Die Erfindung der Tschechen, die Marienbad in Mariariske Läzne umtauften, war ja nur von kurzer Dauer 4 3 . Wunderschön war die Tracht der egerländischen Mädchen, die in ihr auch in den Cafehäusern bedienten. Der Sommer 1902 war der Abschluß jener schönen Reisezeit, so weit sie mit dem Leben meines Vaters verknüpft war. Es ist nur ein Bruchteil dessen, was ich von Reisen erzählen könnte; aber der mannigfaltige Stoff fordert eine gewisse Beschränkung. Im Winter 1901 feierte ich meine Konfirmation in der Neuen Synagoge. Vorbereitet hatte mich der Kandidat der Theologie, Arnold Lazarus, der später verhältnismäßig jung als Rabbiner in Frankfurt am Main gestorben ist, eine sehr gediegene Persönlichkeit 4 4 . Auch mit ihm habe ich immer die Fühlung aufrecht erhalten, wenn er mich auch nicht so nachdrücklich beeinflußte wie mein Freund Julius Wolfsohn. Lazarus war das Bild des modernen Rabbiners aus bester Familie, dieses Rabbinertyps, den das deutsche Judentum als etwas Eigenartiges hervorgebracht hat. Es war ein feierlicher Augenblick, als ich oben auf der Empore der Neuen Synagoge stand und der eigene Vater in der Thora die Stelle zeigte, über die ich den Segensspruch zu sprechen hatte. Damals war es nicht üblich, daß man in diesem G'tteshaus den ganzen Thoraabschnitt vorlas, so wie das später bei meinen Jungens Brauch wurde. Ich wurde als Maftir aufgerufen, das heißt ich hatte auch den Segensspruch über den Prophetenabschnitt zu sagen. Den Gebetsmantel trug man in der Neuen Synagoge nicht offen, wie es sich eigentlich gehörte und wie ich es heute selbstverständlich tue, sondern nur als schmalen Streifen, gewissermaßen angedeutet. Das entsprach der Haltung der liberalen Juden: homöopathisch verdünntes Judentum. Ich erinnere mich noch, daß Franz von der Synagoge in Eilmärschen nach Hause geschickt wurde, damit die Brühe heiß auf den Tisch kam. Es war ja Dezember und ein kalter Wintertag. Neben dem bei uns schon Cohn urteilt hier aus der Sicht des Jahres 1940, zwei Jahre nach dem Münchener Abkommen von 1938. 4 4 Arnold Lazarus (1877-1932) entstammte einer traditionsreichen Breslauer bzw. Posener Rabbinerfamilie. E r wurde 1905 nach Frankfurt am Main berufen, wo er bis zu seinem Tode eine große Wirkung als liberaler Rabbiner hatte. P. Arnsberg: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Bd. 3. Darmstadt 1983, S.266. 43
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sehr zahlreichen Hauspersonal war noch ein Aufgebot von Lohndienern bestellt, unter denen der Lohndiener Vulkan mir immer in Erinnerung bleiben wird. Die riesige Tafel war schon am Tage vorher gedeckt worden. Zu jedem Gedeck mußte natürlich eine Serviette gelegt werden. Dabei hat Vulkan den klassischen Ausspruch getan: „So wie ich brech die Servietten, brecht sie keiner". Diese Lohndiener waren überhaupt eine eigenartige Erscheinung dieser bürgerlichen Zeit. Damals wird wohl auch der Lohndiener Böhm dagewesen sein, eine besonders repräsentable Erscheinung, der in Freud und Leid niemals fehlte. Mit demselben unbeweglichen Gesicht und derselben stets empfangsbereiten Hand stand er da, ob es sich darum handelte, die Gäste zu einer Konfirmation zu begrüßen, einem jungen Paar den Wagenschlag zur Fahrt nach dem Standesamt aufzureißen oder den Trauergästen den Weg zu weisen. Man erzählte sich (ob es wahr ist, habe ich nicht nachzuprüfen gewagt), daß die Taschen seines Frackes mit Wachstuch gefüttert waren, damit er in der Lage war, auch Gänsebraten und Ahnliches einstecken zu können, ohne den Frack zu beschädigen. Diese Lohndiener waren gewissermaßen ein Symbol. Meine Konfirmation spielte sich unter denselben Voraussetzungen ab wie die meines Bruders Franz. Damals war mein Interesse für Bücher schon ein besonders großes. Ich bekam eine prachtvolle Bibliothek, die den Grundstock für meine spätere große Büchersammlung gebildet hat. Es war eigentlich ganz schön, daß man auch Bücher bekam, die man noch nicht alle verstand, aber die man doch besitzen wollte, vor allem die Klassiker. Die jüdischen Gebetbücher waren verhältnismäßig spärlich vertreten. Auch das paßte zum Geiste jener Zeit. Später hat sich das erfreulicherweise sehr geändert. Von meiner Großmutter bekam ich ein Joeisches Gebetbuch45, in das sie mir in deutscher Sprache, aber mit hebräischen Kursivbuchstaben, eine Widmung geschrieben hatte. Die Sitte, einen religiösen Vortrag zu halten, eine Sitte, die damals für den Barmizwahknaben verbindlich war, bestand zu meiner Zeit in den liberalen Kreisen nicht mehr. Nun war man ein vollberechtigtes Mitglied der jüdischen Gesellschaft, mit allen religiösen Pflichten. Ich ahnte damals noch nicht, daß leider sehr bald die vornehmste Pflicht des Juden an mich herantreten würde, für seinen Vater Kaddisch zu sagen. Alles war noch voll strahlendem Glück.
4 5 Manuel Joel: Israelitisches Gebetsbuch für die öffentliche Andacht des ganzen Jahres. 2 Teile. Berlin 1872.
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Ein Jahr später mußte ich mich einer Art Bruchoperation unterziehen. Ich litt sehr lange unter furchtbaren Schmerzen und konnte nicht mehr gerade gehen. Dieser Operation aber verdanke ich die Bekanntschaft mit der edelsten Ärztepersönlichkeit, die ich jemals kennengelernt habe, obwohl mich das Leben mit vielen Ärzten zusammengeführt hat; dem Geheimrat von Mikulicz-Radecki 46 . Mikulicz war besonders bei den Ostjuden beliebt, die in Massen über die nahe Grenze kamen, um ihn zu konsultieren. Dabei hatte er sich eine ausreichende Kenntnis der jiddischen Sprache erworben. Ein neuer Patient aber wußte das nicht und brachte sich einen anderen Juden mit, der auch hochdeutsch konnte. Als nun aber Mikulicz sich unmittelbar mit dem neuen Patienten unterhielt, sagte dieser zu seinem Dolmetscher: „Cohn, geh' nach Hause, der Herr Perfesser versteht Deitsch". Mikulicz zwinkerte ununterbrochen mit den Augen. Er war sehr nervös und ungeheuer überlastet. Aber man sagte, daß in dem Augenblick, wenn er das Messer in die Hand nahm, jede Nervosität schwand und er nur noch Konzentration war. Das konnte ich übrigens nicht nachkontrollieren, weil ich narkotisiert wurde. In Erinnerung ist mir noch, daß jener Arzt, der die Narkose ausführte, Dr. Totenhoefer hieß. Für einen Arzt ein wenig ermutigendes Omen, aber wie man sieht, hat es mir nichts geschadet. Es herrschte übrigens bei der Operation eine große Aufregung, weil der Geheimrat schon fertig zum Operieren dastand und der Narkotiseur noch nicht eingetroffen war, ein unerhörtes Ereignis. Mikulicz war am Krankenbett von herzlichster Güte. Er erlaubte mir, daß ich mir unter seiner Anleitung den Silberdraht, mit dem die Wunde zugenäht war, selbst herauszog. Ich bin damals während meines Aufenthaltes in der Privatklinik von Mikulicz unendlich verwöhnt worden. Ich verlebte auch meinen vierzehnten Geburtstag draußen, umhegt und gepflegt von elterlicher Güte. Es war damals ein sehr kalter Winter. Riesige Schneeberge lagen auf der Straße. Aber kein Tag verging, ohne daß nicht mein Vater zu mir herausgekommen wäre, immer in seiner kargen Mittagspause, denn das Geschäft hat er natürlich nicht vernachlässigt. Mein Geburtstagstisch am Krankenbett war besonders reich. Es war das letzte Jahr, in dem ich Eisenbahnwagen geschenkt bekam. Mit fünfzehn war man schon über diese Dinge erhaben. Unwillkürlich vergleicht man diesen vierzehnten Geburtstag aus der 4 6 Johann von Mikulicz-Radecki (1850-1905), Professor für Chirurgie in Breslau und Lehrer Ferdinand Sauerbruchs, war einer der berühmtesten Chirurgen seiner Zeit.
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bürgerlich friedlichen Zeit mit den Geburtstagen der Kinder von heute im gleichen Alter. Meine Tochter Ruth ist mit vierzehn Jahren schon im Ausland auf Hachscharah gewesen und hat den fünfzehnten Geburtstag schon in Selbständigkeit verlebt. Meinen Sohn Ernst habe ich zum fünfzehnten Geburtstag auch auf Hachscharah auf dem Gut Winkel besucht. Doch bin ich überzeugt, daß die Kinder ihren Weg gehen, auch wenn es den Eltern schwerfällt, manchmal vielleicht besser als wir, die gehegten und gepflegten jener vergangenen Zeit. Es wächst heute ein härteres Geschlecht heran, das den Kampf mit dem Dasein anders führen muß. Doch zurück zu meiner Jugendzeit. Folge dieser Operation war, daß ich noch jahrelang ein Bruchband tragen mußte und an Turnen erst recht nicht zu denken war. Als ich 1914 in den Krieg zog, habe ich das Bruchband weggeworfen. Es ist auch so gegangen. Von Krankheiten habe ich sonst g'ttlob nicht allzuviel zu berichten. Die üblichen Kinderkrankheiten hat man natürlich gehabt. In solchen Erinnerungen ist jeder verpflichtet, auch von seiner ersten Jugendliebe zu berichten. Es ist merkwürdig oder vielleicht doch verständlich, daß dieses Ereignis so tief in der Erinnerung verwurzelt, daß, auch wenn man nachher vielen Frauen nahegestanden hat, die erste in der Erinnerung unauslöschlich bleibt. Sie war die Schwester eines meiner Mitschüler, der im Weltkriege gefallen ist, ein Mädchen aus bestem jüdischen Hause. Nennen wir sie nur bei dem Vornamen: Helene. Der Jugend einer späteren Zeit sei gesagt, daß wir Jungens der Zeit um die Jahrhundertwende in dieser Beziehung noch sehr bescheiden waren. Es bedeutete schon höchstes Glück, wenn man hinter der Auserwählten seines Herzens auf dem Nachhauseweg hinterhergehen durfte, selbstverständlich ohne sie anzusprechen. Und da ich auf die Paradiesstraße in die Schule ging, sie aber zu Knittel auf die Feldstraße, ich am Ohlau-Ufer wohnte und sie am Ohlauer Stadtgraben, so kann man sich vorstellen, daß dieses Glück im günstigsten Falle fünf Minuten dauerte. Eine besondere Auszeichnung aber war es, wenn ich bei ihrem Bruder war, bei ihm mit Bleisoldaten den trojanischen Krieg spielte, und sie dann geruhte mitzuspielen. Auch verstand ich es, wenn ich mit meinem Freunde Wolfsohn spazierenging, den Weg so zu lenken, daß ich an ihrer Sommerwohnung in Scheitnig vorüberging. Als ich ihr einige Jahrzehnte zu spät von meiner Jugendliebe zu ihr erzählte, sagte sie mir: „Schade, daß ich das nicht vorher gewußt habe". Sie war inzwischen längst an einen Arzt in Ludwigshafen am Rhein verheiratet, wie ich glaube, nicht besonders glücklich. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, so war es ein getaufter Jude. Was aus ihr geworden ist, weiß ich
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nicht. Ihren Bruder traf ich kurz vor seinem Heldentode in St. Quentin in Frankreich, einer Schwester bin ich noch einmal auf einer Vortragsreise in Frankfurt am Main begegnet. Wie schön war es damals, wenn man ein solches Geheimnis hatte, von dem natürlich niemand etwas wußte. Auch sonst schwärmte ich hier und da für eine Freundin meiner Schwester, das paßte ja sehr gut im Alter, da meine Schwester gerade zwei Jahre jünger ist. Ein nahes Freundschaftsverhältnis verband mich auch mit meiner Cousine Helene Cohn, die nur ein Jahr älter war. Sie wohnten auf der Palmstraße, also auch nicht weit von unserem Hause. Wir waren sehr viel zusammen. Ihre Schwester Toni war etwas älter, aber damals machte ein Jahr mehr oder weniger schon außerordentlich viel aus. Diese beiden Cousinen sind sehr früh nach kurzer Ehe gestorben. Mit Lene habe ich mich gut verstanden; ich soll sie einmal in der Wut in die Backe gebissen haben, denn manchmal konnte ich auch ziemlich heftig werden. Die Zeit, in der ich vom Knaben zum Manne heranreifte, die sogenannte Übergangszeit, war für mich ziemlich schwer. Damals kam es noch gar nicht in Frage, daß man mit Eltern über die drängenden Fragen des Jünglings sprach. Man machte das alles mit sich ab und hat dadurch oftmals körperlichen und seelischen Schaden gehabt. Am 19. Februar 1903, wenige Monate nach meiner Operation, feierte mein Vater seinen sechzigsten Geburtstag. U m allen Ovationen zu entgehen, die für ihn als so bekannten Manne in Breslau unvermeidlich gewesen wären, und auch, um diesen Tag mit seiner greisen Mutter begehen zu können, fuhr er nach Berlin, wohin ihn auch die Mutter und die drei älteren Brüder begleiteten. Ich wurde noch nicht mitgenommen. So weiß ich über die Feier dieses Geburtstages, die in einem Hotel vonstatten ging, nur vom Hören. Mutter erzählte mir oft, daß der Vater damals in besonders festlicher Stimmung war und sogar Sekt bestellte, etwas, was er sonst nie tat, weil er immer alles, was protzig aussehen konnte, vermied. Es war ein Tag großen Glückes für ihn. Nicht das Geringste deutete darauf hin, daß dieser blühende Mann, noch auf der H ö h e des Schaffens, wenige Wochen später nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. Er fuhr Ende März 1903 mit meinem Bruder Franz zur Erholung nach Wiesbaden, nicht wie es nachher in einer Zeitungsnotiz stand, um von seinem Leiden Erholung zu suchen, sondern um etwas auszuspannen. Er tat das in den letzten Jahren gern, da die Sommererholung nicht mehr ganz ausreichte. Mein Bruder Franz begleitete ihn. Er wohnte dort in dem bekannten Sanatorium von Dr. Plessner. Dort bekam er eine Bronchitis und Lungenentzündung, der er in wenigen Tagen erlag, obwohl beste ärztliche Hilfe zur Stelle war. Auch
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unser bewährter Hausarzt und Onkel Dr. Perls fuhr noch hin. Aber es nützte alles nichts, die Tage seines Lebens waren vorbei. Mit Hangen und Bangen warteten wir in Breslau täglich und stündlich auf Nachrichten. Die furchtbare Nachricht brachte mir dann Dr. Ludwig Ittmann bei, ein Arzt, der mit der einzigen Tochter von Robert Kaim, Hedwig, verheiratet war und der in der Abwesenheit von Dr. Perls diesen vertrat. Ich hatte damals gerade eine Bronchitis überwunden. Als die Beisetzung in Breslau stattfand, durfte ich meinem Vater nicht einmal das letzte Geleit geben. In unserem schönen Eßzimmer, das so viele freudige Stunden gesehen hatte, wurde der Sarkophag aufgebahrt unter Bergen von Blumen. Niemals werde ich den Augenblick aus der Erinnerung verlieren, als ich in das Zimmer hineingeführt wurde und mir nicht vorstellen konnte, daß dieser gute Vater nicht mehr lebte. Eine ungeheure Menge von Menschen erschien in unserem Hause, um ihn in das Erbbegräbnis auf der Lohestraße zu begleiten, wo schon seine erste Frau ruhte 47 . An seinem Grabe sprach Rabbiner Jakob Guttmann. Der Tod meines Vaters brachte einen furchtbaren Riß in unser Leben. Dadurch, daß der Vater keine Krankheit gehabt hatte, war meine Mutter auf dieses Ende in keiner Weise vorbereitet. Es hat Jahre gedauert, bis sie überhaupt wieder zu sich selbst gefunden hat. Sie, die eine so fürsorgliche Hausfrau war und nur für die Kinder und den Haushalt lebte, kümmerte sich die ersten Monate überhaupt nicht um den Haushalt und um uns. Damals hat sich Fräulein Hirsch über alles Lob erhaben bewährt. Es war aber noch notwendig, für diesen Villenhaushalt eine Hausdame anzunehmen. Mutter war fest entschlossen, das Haus so schnell wie möglich zu verkaufen. Sie wollte nicht mehr dort bleiben, wo sie mit dem Vater glücklich gewesen war. Uns ist der Abschied aus dem Hause unendlich schwer geworden. Wir konnten die Beibehaltung des Hauses aber nicht durchsetzen, obwohl es richtig gewesen wäre, es als Familienbesitz zu erhalten. Das Haus kaufte der Sanitätsrat Dr. Malachowski, der es dann lange besessen hat und in ihm Freud und Leid erlebte. Nach ihm kaufte es eine Studentenverbindung. Jetzt hat es wieder ein Arzt. Manchmal steigt in mir der Wunsch auf, wenn die Zeiten einmal andere wären, es wieder zurückzuerwerben. Aber das dürfte nur ein ferner Traum sein, vielleicht wäre es auch besser, drüben in Palästina 47
Von der Anteilnahme u n d d e m gesellschaftlichen Ansehen Louis C o h n s zeugen die verschiedenen Todesanzeigen in der „Breslauer Zeitung" N r . 226, Beilage 2 vom 31. 3. 1903. Z u den Trauernden gehörten die „Gesellschaft der F r e u n d e " u n d die „Gesellschaft der Brüder".
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ein Häuschen auf dem Karmel zu haben, doch auch dazu besteht nicht die geringste Aussicht. Man braucht ab und zu einen Wunschtraum, auch wenn man sich sagt, daß seine Verwirklichung kaum jemals in Frage kommt. Meine Mutter hat mir oft gesagt, daß es für sie vielleicht ein Unglück war, daß sie in so sehr guten materiellen Verhältnissen zurückblieb. Sonst hätte sie wie so viele andere Witwen im Geschäft mitarbeiten müssen, und die Sorge um das tägliche Brot hätte ihren Schmerz gelindert. So lebte sie nur diesem Schmerz und wurde mit ihm schwer fertig. Im Sommer 1903 sind wir zur Erholung nach Kolberg gefahren. Ich glaube aber nicht, daß Mutter nur einmal am Strande gewesen ist. Wenn ich mich nicht täusche, so hat sie einen einzigen Blick auf das Meer geworfen und ist sonst nie aus dem Hause gegangen. Tante Marie hat uns begleitet, und die Mutter nie aus den Augen gelassen. Mutter hat sich oft draußen auf den Friedhof in den größten Zug gestellt, um sich eine tödliche Krankheit zu holen. Wenn ihr damals jemand gesagt hätte, sie würde den Vater um sechsunddreißig Jahre überleben, so hätte sie das als die furchbarste Beleidigung angesehen. Dieses gehäufte Leid hat mich zu einem besonders ernsten Menschen gemacht. Ich saß sehr viel bei Mutter. Franz war ja außerordentlich tüchtig und bewährte sich in jeder Beziehung. Aber das Sitzen bei Mutter zu Hause, um das Klagen anzuhören, lag ihm weniger. Martin ging wieder von Breslau fort. H u g o hatte das Geschäft, und er war nur in den Abendstunden mit Mutter zusammen. Dieser gehäufte Schmerz hat meine Jugend sehr beeinflußt. Nachdem die Familie Jahrzehnte am Ohlau-Ufer seßhaft gewesen war, konnte sich Mutter jetzt in einer Mietwohnung nicht heimisch fühlen. Wir sind mehrfach umgezogen. Es war damals der sogenannte Zug nach dem Süden. Wenn einer einmal die Geschichte der Breslauer Juden zu schreiben haben wird, so wird er aufzeigen müssen, wie die Juden zuerst in ihrer Masse am Karlsplatz wohnten und dann allmählich in die neue Stadtgegend im Süden vordrangen. Zuerst war die Höfchenstraße besonders beliebt, vorher schon die Freiburger Straße, dann ging es nach der Körnerstraße und allmählich nach Kleinburg. Seit 1933 stehen die Möbelwagen, soweit es überhaupt noch Möbelwagen sind und nicht nur Handwagen, mit der Richtung entgegengesetzt. Wir mieteten damals also eine Wilhelm-Straße, die sehr schöne auch ein eigenes Arbeitszimmer. auf, daß sie an einer sehr belebten Ruhe am Ohlau-Ufer besonders
Wohnung Ecke Viktoria- und Kaiserund große Zimmer hatte. Ich bekam Die Wohnung wies aber den Nachteil Verkehrsecke lag. Wir waren in puncto verwöhnt. N u n empfanden wir es als
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lästig, daß hier an unserem Hause die Kreuzungen von Straßenbahnen waren und man besonders nachts, wenn die Wagen in den Bahnhof einfuhren, jedes Geräusch hörte. Die modernen Kreuzungen sind viel schallsicherer angelegt. Von dort zogen wir nach drei Jahren nach der Kaiser-Wilhelm-Straße 186 und dann nach der Villa Eichendorff, Eichendorffstraße 57, beide schon in Kleinburg gelegen. Dort war es damals noch viel ländlicher. In der Erinnerung stehen mir die einzelnen Räume nicht mehr so vor Augen wie die vertrauten Zimmer am Ohlau-Ufer. Man wohnte zur Miete und nicht mehr im eigenen Hause. Wir empfanden das als einen großen Abstieg. Ich lebte jetzt immer mehr in der Schule, bei der das Abiturium in die Nähe rückte und der Weiterbildung meines inneren Menschen. Ich habe damals unendlich viel gelesen und mir fast jedes Buch notiert, das ich gelesen habe. Ich bin viel spazierengegangen, besonders in den Südpark, der damals noch in den Anfängen steckte. Mit dem Scheitniger Park, in den wir unsere Spaziergänge als Kinder zu lenken pflegten, war er in keiner Weise zu vergleichen. Der Südpark ist übrigens eine Schenkung des Rittergutsbesitzers Schottländer. Dieser hätte es sich gewiß nicht träumen lassen, daß in dem von ihm gestifteten Park auf den Bänken einmal stehen würde: „Für Juden verboten". Jene Jahre zwischen Herbst 1903 und Herbst 1906 waren für mich nun schon sehr mit den Vorbereitungen für das herannahende Abiturientenexamen ausgefüllt. Das Einjährigenexamen war zu meiner Zeit schon abgeschafft. Man bekam das Zeugnis der Berechtigung für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst ohne weiteres mit der Versetzung nach Obersekunda. Dieses Zeugnis spielte im Leben eines jungen Mannes deutscher Staatsangehörigkeit oder, wie es korrekter im Sinne der damaligen Zeit heißt, preußischer Staatsangehörigkeit, eine ziemliche Rolle. Es galt als eine ziemliche Schande, wenn man zwei, oder bei der Kavallerie gar drei Jahre dienen mußte. Das Freiwilligen-Zeugnis gab also ein sehr wesentliches Privileg. Glücklich der, der es auf dem normalen Wege der Schullaufbahn bekam. Ich selbst war, als ich es erhielt, noch nicht einmal vierzehn Jahre alt. Für die unglücklicheren Zeitgenossen, denen die Schule große Schwierigkeiten machte, die aber Wert darauf legten, dieses Zeugnis zu bekommen, gab es Privatanstalten, im Volksmunde sehr zutreffend „Pressen" genannt. Sie bereiteten auf diese Prüfung vor einer Kommission vor. Mancher schaffte es noch nicht einmal dann. Ich erinnere mich, daß einem Grafen Matuschka, der zwar aus einem uradligen Hause stammte, aber mit den Schätzen des Geistes nicht übermäßig gesegnet war, von Kaiser Wilhelm II. das Einjährigen-Zeugnis
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auf dem Gnadenwege verliehen wurde. Mit der Erreichung der Obersekundareife wurde der Unterricht zunehmend interessanter. Es schieden ja dann diejenigen Schüler aus, die das Gymnasium nur zum Zwecke des Einjährigen-Zeugnisses besucht hatten und für die wirkliche geistige Arbeit einen großen Ballast darstellten. Wer die drei letzten Jahre blieb, wollte wirklich studieren, wobei allerdings auch zu sagen ist, daß dazu noch nicht jeder geeignet war, der sich soweit hinaufgearbeitet hatte. Immerhin war die Zahl der Schüler der drei letzten Klassen erheblich geringer. Es war überhaupt erstaunlich zu beobachten, wie wenige der Schüler, die in Nona, der letzten Vorschulklasse, eingetreten waren, noch in den Oberklassen vorhanden waren. Es würde den Rahmen dieser Erinnerungen sprengen, wenn man sich darüber ausließe, worauf das beruht. Die ganze Einrichtung des Abiturientenexamens war eine Art mittelalterlicher Tortur. D o c h gibt es gewiß keine Methode, die jegliche Prüfung ersetzt. Die schwerste Prüfung ist allerdings das Leben selbst. Mancher hat diese Prüfung bestanden, der in den Schulprüfungen restlos versagt hat. Einen grundlegenden Unterschied zwischen damaliger und heutiger Jugend muß man unbedingt feststellen. Die damalige Jugend bemühte sich, älter zu sein, als sie war. Spätere Jahrzehnte brachten den umgekehrten Vorgang der künstlichen Verjüngung, der von Amerika her beeinflußt war. Aber wenn man die heutige sportgestählte Jugend sieht, so mutet die Erinnerung ein wenig grotesk an, wie wir mit siebzehn, knapp achtzehn Jahren, eingezwängt in einen langen schwarzen Gehrock und mit hohem steifen Kragen das Prüfungszimmer betraten. Solche Prüfung wurde ja von einer besonderen Feierlichkeit umgeben. Ich persönlich bin niemals ein großer Examensmensch gewesen. Man kann eine ganze Menge wissen und doch nicht die Fähigkeit haben, es auf Kommando von sich zu geben. Meine Mitschüler behaupteten, daß ich viel mehr wüßte als die Lehrer. Zeit meines Lebens bin ich stets als eine Art Konversationslexikon benutzt worden. D o c h war mir das auf eine Minute Abgestelltsein nie sehr sympathisch. Man kam in den letzten drei Jahren aus den Schulaufregungen nicht mehr heraus. Dauernd gab es Klassenarbeiten, Specimina genannt. Entweder wartete man auf die Rückgabe einer Arbeit, die bereits geschrieben war, oder es stand das Schreiben einer Arbeit bevor. Vor allem waren es die Ubersetzungen aus dem Deutschen in das Lateinische, die besondere Schwierigkeiten machten. D e r Professor Badt, von dem ich schon in anderem Zusammenhange gesprochen habe, suchte die ausgeklügeltsten Phrasen heraus, die man dann in das Lateinische zu übersetzen hatte. Es
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war sicherlich eine sehr gute Schule des Geistes, aber damals machten diese Arbeiten viel Sorge. Ganz auf dem ehrlichen Wege war das einfach nicht zu schaffen. In den letzten Primajahren war mein getreuer Nebenmann der später verhältnismäßig jung gestorbene Rechtsanwalt Hans Kempner. Immer wieder stand am Rande meiner lateinischen Klassenarbeiten von der Hand Benno Badts: „siehe Kempner", und bei Kempner: „siehe C o h n " . Badt zerbrach sich den Kopf, wer von uns beiden abgeschrieben habe. Mir traute er das Abschreiben nicht zu, weil ich der Frömmere war. In Wirklichkeit (jetzt kann ich es ja verraten) hatte keiner von uns abgeschrieben, sondern wir haben gemeinsam den Text der Übersetzung festgestellt. Es war also eine Leistung (so würde man sich heute ausdrücken) kameradschaftlicher Gemeinschaftsarbeit. Wir bemühten uns sogar, von Zeit zu Zeit einen Fehler hineinzubringen, damit es nicht zu sehr auffiel. Diese letztere Taktik war besonders bei den griechischen Arbeiten des Professors Heinrich Winkler am Platze. Dieser, ein sehr gelehrter Mann, der die Schule als unliebsame Störung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ansah, gab seit Jahrzehnten dieselben Arbeiten. Diese vererbten sich selbstverständlich von einer Schülergeneration auf die andere. Hier mußte man also, damit man nicht immer nur fehlerlos schrieb, ab und zu einen Fehler hineinbringen. Heinrich Winkler war eine eigenartige Persönlichkeit, die auf mich tiefsten Eindruck gemacht hat. Man hatte das Gefühl, daß er geistig absolut aus dem vollen schöpfte und sich nicht mühsam für eine Unterrichtsstunde vorbereiten mußte. Er war außerdem auch Universitätsprofessor für ural-altaische Sprachen und auf diesem Punkte ein Genie 4 8 . U m sich am Nachmittag vor unliebsamen Elternbesuchen zu schützen, öffnete er niemals die Wohnung, wenn jemand klingelte. E r verbarg hinter einer rauhen Außenschale ein außerordentlich gütiges Herz. Ein gewisses Brüllen (so meinte er) gehörte unter allen Umständen zum Schulmeister. Mit dem Direktor Geheimrat Laudien stand er sehr schlecht, weil er ihn für einen kleinen Geist hielt. Man erzählte sich, daß er, als Laudien einmal den Unterricht revidierte und ihm irgendwie hineinsprach, gesagt haben soll: „Unterrichten Sie oder unterrichte ich, Herr Geheimrat?" Si non e vero, bene e trovato. Auch eine andere Anekdote ist von ihm zu berichten, für deren Wahrheit ich mich ebensowenig verbürgen kann. In patriotischer Weise wurde jedes Jahr das Sedanfest begangen. Abwechselnd hatten die Lehrer die Pflicht, die Festrede zu halten. Die Reserveoffiziere mit dem üblichen Denken machten das sehr gern. Diese Reden glichen sich dann wie ein H. Winkler verfaßte unter anderem: Der Uralaltaische Sprachstamm, das Finnische und das Japanische. Berlin 1909. 48
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Ei dem anderen. Winkler soll einmal eine derartige Rede mit den Worten angefangen haben: „Wenn einer Veranlassung hat, Sedan zu feiern, so sind es die Franzosen". Wie recht er hatte, wurde uns erst nach dem Verlust des Weltkrieges klar, denn offenbar wollte er sagen (wenn er das überhaupt gesagt hat), daß die Franzosen durch die Sedanfeiern immer wieder an die Revanche erinnert wurden. Während ich dies schreibe, steht Deutschland in einem neuen Krieg gegen Frankreich. Es sieht so aus, als ob dieser tausendjährige Kampf zwischen den beiden Nationen niemals zu einem Ende kommen soll. D e m Professor Winkler war einmal das Unglück passiert, daß ein Schüler, nachdem er von ihm angebrüllt war, einen glücklicherweise erfolglosen Selbstmordversuch im Scheitniger Park gemacht hat. Seitdem brauchte man nur, wenn man angebrüllt war, am nächsten Tage zu fehlen, und er geriet in größte Ängste. Das wurde besonders von gewissenlosen Schülern sehr ausgebeutet. Folgender Fall ist noch für diese und die ganze Zeit charakteristisch. Einmal stürzte er in die Klasse, in der sich ein Schüler namens Carsen befand. E r brüllte, wie es seine Art war: „Carsen, Sie müssen Däne sein, widersprechen Sie nicht, ich weiß das ganz genau." Worauf Carsen schlicht und einfach sagte: „Mein Vater hieß früher Krakauer." Dieser Krakauer war Professor an der späteren Bender-Oberrealschule am Lehmdamm. Wieviele Juden mögen so in einen möglichst arischen Namen eingetaucht sein! Dieser Carsen entwickelte sich später, wie wurzellose Menschen häufig, zu einer wenig erfreulichen Erscheinung. In den philosophischen Seminaren von Kühnemann zeichnete er sich im Verein mit einigen anderen besonders durch spitzfindiges Diskutieren aus, so daß man in der Regel nach kurzer Zeit gar nicht mehr wußte, worum es eigentlich ging. Carsen ist dann in Berlin Leiter der Karl-Marx-Schule geworden, wo er radikalste Reformen einführte. Nach der nationalsozialistischen Revolution von 1933 habe ich ihn aus den Augen verloren. D o c h zurück zu jenen letzten Schuljahren und Reisen. Im Sommer 1904 waren wir mit der Mutter in dem Sanatorium des Dr. Schweinburg in Zuckmantel in Osterreichisch-Schlesien. Es war noch der alte Schweinburg, der diese Anstalt betreute, die man im Städtchen Zuckmantel schlicht und einfach „das Narrenhaus" nannte. D e r alte Schweinburg war ein ganz tüchtiger Arzt. Später übernahm die Anstalt sein Sohn, der mit mir gleichaltrig war. Wir erhofften uns von dem Aufenthalt in dem Sanatorium für Mutter eine durchgreifende Besserung ihres nervlichen
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Zustandes, denn sie hatte 1904 noch nicht im geringsten den Tod des Vaters überwunden. Allzuviel hat ihr der Aufenthalt im Sanatorium nicht genützt. Im allgemeinen ist ein Sanatoriumsaufenthalt vor allem für den Besitzer einer derartigen Anstalt bekömmlich. Was wird da nicht alles an Verordnungen und Besuchen geleistet, die sich am Wochenende in einer ganz schön aufgelaufenen Rechnung präsentieren. Der Hauptheilfaktor von Zuckmantel aber ist zweifellos stets das einzigartige Waldklima und die Kaltwasserkur gewesen. Einer Kaltwasserkur habe ich mich noch Jahrzehnte später einmal unterzogen. Es gibt einen alten Ausspruch der Medizin, in dem es heißt: „Was das Feuer nicht heilt, heilt das Wasser." Alle nervöse Vielrednerei, alles Angeben mit den eigenen Krankheiten hört auf, wenn der Patient von zwei starken Männern (beziehungsweise die Patientin von zwei starken Frauen) in ein Laken geschlagen wird, das von dem Gefrierpunkt nicht weit entfernt ist und dann mit erheblichen Schlägen bearbeitet wird. Ich möchte den sehen, der in diesem Zustande noch in der Lage ist, nur einen Ton von sich zu geben. Nach dieser Prozedur aber fühlt man sich wie neu geboren, man wird in den Wald gejagt und darf sich frühestens nach einer Stunde zu dem ersten Imbiß sehen lassen. Diese Prozeduren vollzogen sich in den frühesten Morgenstunden. Wer nicht gutwillig aus seiner warmen Molle herausging 49 , wurde von dem Badepersonal, das keiner geldlichen Beeinflussung zugänglich war, herausgeholt. Am Nachmittag gab es noch kalte Halbbäder. Für ganz hartnäckige Sünder gab es Schläuche, die gegen den Leib gespritzt wurden. Für mich war es häufig spaßig, die anderen Leute zu beobachten, wenn es auch nicht zu den erfreulichsten Eindrücken gehörte, die von der Zivilisation degenerierten Körper im Adamskostüm zu sehen. Ich war damals fünfzehneinhalb Jahre, und es war verständlich, daß man sich auch noch ein wenig andere Zerstreuungen suchte und auch jüngere Gesellschaft fand. Zu jeder Sommerreise gehörte ein Mädchen. Der Schwärm dieses Sommers war ein nettes Mädchen mit dem schönen Namen Helene Sonnenschein aus Troppau. Mit ihr und merkwürdigerweise mit einer Frau Mondschein habe ich oft Tennis gespielt. Als ich nach Jahrzehnten wieder einmal in Zuckmantel war, habe ich mich auch nach ihr erkundigt und gehört, daß sie nicht geheiratet hat.
Molle schlesisch für „Backtrog", bzw. Molla für „Bett". Vgl. W . Mitzka: Schlesisches Wörterbuch. Bd. 2. Berlin 1965, S. 891. 49
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Im Sommer 1905 waren wir in Flinsberg. Aus diesem O r t e ist mir noch die etwas merkwürdige Gestalt des Badearztes Dr. Siebelt in Erinnerung. Hier darf eine Bemerkung über jüdische und nichtjüdische Badeärzte eingeschaltet werden. Die wohlhabenden jüdischen Patienten verlangten von ihren Ärzten, daß sie auf ihre mehr oder weniger eingebildeten Leiden unter größten Zeitopfern eingingen und immer etwas Neues verordneten. Wehe dem Arzte, der das alles nicht ernst genug nahm! Von ihm hieß es dann, daß er nichts tauge. Die sogenannten Kapazitäten ließen sich solche Beichtstunden sehr anständig bezahlen. Dr. Siebelt, ein alter knorriger Arzt, der mit seinem Flinsberg verwachsen war, vertrat die Meinung, daß man, wenn man die normale Kur gebrauche und vernünftig lebe, sich schon erholen würde. E r machte nicht viel her, war wohl auch am Geldverdienen nicht übermäßig interessiert. Siebelt hat sich übrigens in der Bäderforschung einen Namen gemacht. Ich glaube nicht, daß er ein Arzt ganz nach dem Herzen meiner Mutter gewesen ist. Mutter hat in diesen Jahren nach dem Tode des Vaters unendlich viel Ärzte konsultiert. Ich glaube, daß sie einmal sehr böse war, als ihr der Breslauer klinische Mediziner Professor Strümpell mehr oder weniger deutlich zu verstehen gab, daß ihr eigentlich nichts Besonderes fehlte. Die permanente Sorge um die Gesundheit, die die bürgerlichen Juden in den großen Städten beherrschte, ist wohl erst in viel späteren Jahrzehnten gewichen, als das Leben auch von den Juden eine größere Härte beanspruchte. Wenn ich vergleiche, wie ich selbst in dieser Beziehung erzogen oder, um einen üblichen Ausdruck zu gebrauchen, „verpimpelt" worden bin 5 0 und wie ganz anders wir unsere Kinder erzogen haben, so merkt man eben den Abstand der Zeiten. [...] Im Sommer 1906 waren wir in dem landschaftlich besonders herrlich gelegenen Oberschreiberhau, wo wir im Haus Brunnenquelle wohnten. Hier hatte ich die Möglichkeit, unbeengt von allen Kurvorschriften, möglichst viel zu laufen und in den Bergen herumzuklettern. Das war sicherlich gesünder, als über Kurpromenaden zu zotteln. Übrigens hatte ich auch von Flinsberg aus manche Tour gemacht und war einmal auf einem besonders schönen Marsche mit Franz bis weit ins Böhmische vorgestoßen, bis zum Wallensteinschloß Friedland. Auf allen solchen Wanderungen interessierte mich immer, wie die Landschaft geworden und was sich in ihr abgespielt hatte. Damals in der paßlosen Zeit war ein Grenzübertritt keine große Angelegenheit. Das einzige, wonach ein Zöllner gelegentlich fragte, war Tabak. 50
Mundartlich für „verweichlicht". Vgl. W . Mitzka: Schlesisches W ö r t e r b u c h .
Bd. 1. Berlin 1963, S . 2 8 6 .
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1906 beeindruckte mich besonders der Zackenfall und der Aufstieg zur Neuen Schlesischen Baude. Auch am Kochelfall, der nicht so großartig war, kletterte ich gern herum. Ich betonte ja schon, wie vertraut mir das Riesengebirge seit frühester Jugend war und wie gern ich es durchstreifte. Schreiberhau war damals auch noch eine einfache Sommerfrische ohne modisches Getriebe. Wie dankbar wäre ich, wenn ich auch jetzt noch einmal in den Tannenwäldern untertauchen könnte und oben auf den Bergen durch das Knieholz wandern dürfte. Sehr häufig wanderte man auch auf dem sogenannten Leiterweg nach Agnetendorf. Dieser Ort war allen Schlesiern besonders dadurch heilig, daß Gerhart Hauptmann dort wohnte. Die Gestalt dieses Dichters war für uns schon in frühester Jugend die Verkörperung des Geistes des Riesengebirges. Wenn man am Kleinen Teich vorbeikam, glaubte man, die Gestalt des Glockengießers Heinrich zu sehen. Wenn man in der Dämmerung über eine Bergwiese ging, schien es immer so, als ob Rautendelein auf ihr tanzte. Mit welcher Ehrfurcht wanderte man als junger Mensch nach Agnetendorf in der stillen aber unerfüllten Hoffnung, den Dichter wenigstens einmal in seinem Garten zu sehen. Der Jugend meiner Zeit lag es noch fern, berühmte Gestalten um Autogramme anzubetteln. Man hatte eine solche Ehrfurcht vor ihnen und ihrer Arbeit, daß man niemals gewagt hätte, sie mit so etwas zu belästigen. Und überhaupt ein Dichter! Es ist hier nicht meine Sache zu sagen, was Schreiberhau für die schlesische Dichtung bedeutet hat. Namen wie Carl Hauptmann, dem mit Gerhart verfeindeten Bruder 51 , der in seinem Dichten so tief ist, Namen wie Wilhelm Bölsche steigen auf! Schreiberhau und Agnetendorf besaßen eine eigenartige Verknüpfung von Natur und Geist, die auch dem jungen Menschen aufging, der das alles mit der scheuen Ehrfurcht ansah, vielleicht auch einmal dazugehören zu dürfen 52 . Wenn man einsam durch die Berge wanderte, so verdichtete sich das alles in der Phantasie auf das stärkste. Solche Wochen wurden zu einem Jungbrunnen, wenn auch der Sommer 1906 für mich besonders durch den Alpdruck des bald nach den Ferien einsetzenden Abituriums belastet 51 Das spannungsreiche Verhältnis der Brüder Hauptmann ist Gegenstand des Buches von Jean Jofen: Das letzte Geheimnis. Eine psychologische Studie über die Brüder Gerhart und Carl Hauptmann. Bern 1972. 52 Der nähere Umkreis dieser Riesengebirgsorte bis hin nach Warmbrunn und Hirschberg ist nicht nur wegen seiner Naturschönheit einzigartig, sondern war von der Romantik bis zur Gegenwart ein Anziehungspunkt f ü r Kunstund Kulturschaffende jeder Art. In diesem geistigen Umfeld entstanden mehrere Künstlerkolonien.
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war. Damals wanderte ich auch zu meinem Lehrer Flössel, der sich in der Nähe auf der Sommerfrische befand. Von anderen Reisen jener Jahre möchte ich noch die Fahrten nach Berlin nennen, wo ich meist bei Goldstückers wohnte, und mich mit den Geistesschätzen der Berliner Museen anzufreunden versuchte. Mein besonderes Interesse gehörte damals vor allem der Antike. Das Pergamon-Museum war noch in erster provisorischer Aufstellung. Ich sah es dann später in seiner endgültigen Gestaltung. Ich erinnere mich, daß mich auch schon damals die Frage bewegte, wie es kommen konnte, daß eine so gewaltige Kultur einfach untergehen konnte und die Schätze im Boden versanken. Goldstückers haben mir den Besuch der Museen immer sehr erleichtert. Wenn auch selbst aus einer anderen Welt kommend, haben sie dafür viel Verständnis gehabt. Selbstverständlich machte man auch manchen Ausflug, besonders lockte mich der Tiergarten mit der Siegesallee. Es war mein Ehrgeiz (ganz habe ich es niemals geschafft) sämtliche Regierungszahlen aller brandenburgischen Kurfürsten von Albrecht dem Bären bis zur Gegenwart auswendig zu kennen. Auch im Zeughaus war ich oft, wo ich die Masken sterbender Krieger von Schlüter bewunderte. Das alles kam meinen historischen Interessen entgegen, wie auch das Studium der Schlachten, die damals im Zeughaus mit Bleisoldaten aufgebaut waren. In jenen friedlichen Jahren hätte man sich gewiß nicht träumen lassen, daß man einmal selbst aktiv am Kriege würde teilzunehmen haben. Daß bei den Berliner Besuchen selbstverständlich der Zoologische Garten nicht ausgelassen wurde, ist klar. Außer Goldstückers gab es auch andere Verwandte. Vor allem lebte bis zum Jahre 1910 noch meine Großmutter, die Mutter des Vaters, äußerlich ganz zusammengeschrumpft, aber geistig sehr regsam. Von seiten meiner Mutter lebte die Familie Schweitzer in Berlin, deren ältester Sohn nur ein Jahr jünger war als ich. Hier aber habe ich keinen allzu starken Kontakt gefunden. Es war dort immer sehr nett, aber eben nur nett. Verwandte Saiten klangen nicht auf. Genug mit diesen Erinnerungen an schöne Reisetage. Jetzt sitzen wir in einem dumpfen Prüfungszimmer und müssen schriftliche Examensarbeiten liefern. Die Arbeit im Lateinischen hatte sich die Klasse durch irgendwelche Manipulationen teilweise vorher beschafft. Man wußte, daß Professor Badt die Phrasen, die in der Arbeit vorkamen, in seinem Notizbuch, dem sogenannten Kunze-Kalender, liegen hatte. Während einer Stunde, als man ihn durch irgendwelche Fragen in einem anderen Teile des Klassenzimmers festhielt, wurden sie aus dem Kalender entfernt, rasch abgeschrieben und wieder hineingetan. Später wurden sie dann von
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einem Schüler zu Hause hektographiert, so daß jeder die Möglichkeit hatte, sich auf die Klassenarbeit vorzubereiten. Sonst wäre auch die Badtsche Arbeit nicht zu leisten gewesen. Im mündlichen Examen kam ich nur im Lateinischen und Griechischen dran. Wenn ich in diesem Augenblicke mein Reifezeugnis zur Hand nehme, so bemerke ich, daß von all denen, die es unterzeichnet haben, nur noch einer lebt, mein Lehrer im Französischen Professor Schmidt. Auch mit ihm habe ich später noch als Kollege zusammengearbeitet. Jahrelang war es mir noch ein Alptraum, daß ich sämtliche Särge Napoleons in französischer Sprache auswendig wissen mußte. Napoleon ruht bekanntlich seit seiner Uberführung aus St. Helena im Invalidendom in Paris. Ich glaube, daß man seine sterblichen Reste in sieben Särgen übereinander verpackt hat, die aus seltensten Materialien bestanden. Wenn ich mich recht erinnere, war für einen Sarg Mahagoni verwendet worden. Wir unglücklichen Prüflinge von 1906 mußten das alles auf Französisch wissen. Viele Jahrzehnte später stand ich mit meiner Frau und meinem ältesten Sohne, der in Paris studiert hatte, vor dem Grabe Napoleons, und ich erzählte beiden von jenen Alpdrücken. Wir hatten übrigens schon seit frühester Jugend eine Französin, Mademoiselle Thomas, die öfters nachmittags zu mir kam. Dadurch wurde mir das Französische, auch als Umgangssprache, schon früh vertraut, denn der Schulunterricht war wenig dazu geeignet, einen zum Sprechen zu bringen, wenn auch kleine Redeübungen gemacht wurden. Glücklicherweise hat uns Professor Schmidt die Grammatik so eingezwiebelt, daß sie eisenfest saß, und vielleicht hatte das auch sein Gutes. Mein Reifezeugnis war ein durchschnittliches. N u r in Geschichte und Erdkunde hatte ich gut, selbstverständlich auch in Betragen und Fleiß. Es wurde bemerkt, daß meine Handschrift sehr ungefällig war, was sie wohl auch geblieben ist, wenn sie sich auch im einzelnen veränderte. Im Gänsemarsch hatten wir Jünglinge, in lange feierliche Gehröcke gekleidet, das Prüfungszimmer betreten. Vorsitzender war der Geheimrat Thalheim vom Provinzialschulkollegium, ein durch seine Grobheit gefürchteter Mann. E r war auch Vorsitzender der wissenschaftlichen Prüfungskommission, als ich mein Staatsexamen bestand. Von Seiten der Stadt war der Stadtschulrat Pfundtner Beisitzender, der, soweit ich mich erinnere, immer den Eindruck machte, als schliefe er bei der Prüfung. Die Stellung des Vertreters der städtischen Patronatsbehörde war eine eigenartige. E r hatte zwar Stimmrecht, durfte aber sonst nicht viel mitreden. Später am Johannesgymnasium, als ich nicht mehr Geprüfter, sondern Prüfender war, hatte diese Funktion des stillen Gastes öfter Stadtrat Less
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sehr repräsentativ und ruhig ausgeführt. Less ist jetzt Vorsitzender der Synagogengemeinde, wo er auch in seinem Amtszimmer einen überaus dekorativen Eindruck macht. Auch so ein Prüfungstag geht zu Ende. Nachdem in feierlicher Weise das Ergebnis verkündet worden war, hatte man das Gefühl, nun ein freier Mann zu sein. Mein erster Gedanke war, wie sich der geliebte Vater gefreut hätte, wenn er das noch hätte erleben können. E r hatte immer viel von mir gehalten. Das Zeichen eines freien Mannes war es, daß er nun am Abend allein, ohne Aufsicht von Erwachsenen, in ein Lokal ausgehen durfte. Ich ging also zusammen mit meinem Freunde Kempner in das Rizzi-Bräu am Zwingerplatz, wo sich heute ein Bankgeschäft befindet. Stolz bestellten wir ohne Zuhilfenahme wirklich Erwachsener unser erstes Abendbrot. Natürlich folgte später auch ein Abiturientenkommers im Vinzenzhaus, wo die Damenwelt von der Galerie zusah. Bei diesen Kommersen glänzte immer Professor Wohlauer, sowohl als Redner wie auch als Trinker. E r soll einmal in früherer Jugendzeit Corpsstudent gewesen sein und hatte die unglückliche Liebe zum Alkohol beibehalten. D a ß ich in den Akademisch-Medizinischen Verein eintrat, war selbstverständlich, nachdem zwei meiner älteren Brüder ihm angehörten. Mein Leibbursche wurde Ludwig Laband, der auch mein Schwager war. Damals zog der A M V immer von einer Kneipe in die andere. Solch ein wissenschaftlicher Verein verfügte natürlich nicht über ein eigenes Corpshaus wie die feudalen Verbindungen; ja, wir hatten nicht einmal eine gemietete Wohnung wie das in späteren Jahrzehnten der Fall war. In der Regel kneipte man in einem Hinterzimmer eines mehr oder weniger düsteren Lokales. Die erste Kneipe, an die ich mich erinnere, war auf der Friedrich-Wilhelm-Straße. Besonders flößte mir die Gestalt von Joseph Reich Furcht und Schrecken ein. E r gehörte zu der sogenannten scharfen Richtung, die unnachsichtlich darauf hielt, daß Füchse in die Kanne geschickt wurden und dieses gräßliche Zeug trinken mußten, das man Bier nennt. Es gab beständig Kämpfe, bis ich mich einigermaßen durchgesetzt hatte. Unter den Alten Herren des A M V gab es bedeutende Erscheinungen 5 3 . Der Verein war im Jahre 1873 als wissenschaftliche Vereinigung Das Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg verfügt über Unterlagen zur Geschichte des A M V in Breslau. Hervorzuheben ist ein handschriftlicher „Bericht des Akademisch-Medicinischen Vereins zu Breslau über das X X X I . Semester (WS 1887/88)". Dieser Bericht führt die Aktiven, Inaktiven und Alten Herren des A M V namentlich mit Angabe des Berufes und Wohnortes an, darunter die meisten der bei Cohn genannten. 53
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gegründet worden, und er war ursprünglich interkonfessionell. Ich habe später zu einem Stiftungsfest seine Geschichte geschrieben 54 . Nach der Stoeckerzeit 55 zogen sich aber die christlichen Studenten immer mehr aus ihm zurück. Bis auf einen gelegentlichen Renommierchristen waren nur noch Juden vorhanden. Aus der Gründerzeit des A M V lebte bis vor kurzem noch der Sanitätsrat Richard Kayser, ein kleiner, aber von geistigem Leben sprühender Mann. Seine Rednergabe war nicht alltäglich. Er hatte übrigens schon in frühester Jugend der sozialdemokratischen Partei angehört, was man ihm in den bürgerlichen Kreisen Breslaus übel nahm, und ihm auch bei seiner Eheschließung mit der Tochter des Hals-Nasen-Arztes Gottstein 56 Schwierigkeiten machte. Nach 1918, als die Sozialdemokratie in die Regierung kam, ist er dann noch politisch hervorgetreten. Von anderen Alten Herren-Gestalten sei noch der Sanitätsrat Malachowski mit seinem gewaltigen roten Bart genannt. Ich habe ihn in diesen Erinnerungen schon einmal als Käufer unseres Hauses erwähnt. Zu der sogenannten Kommission des Alten Herrenbundes gehörte als Dritter der Zahnarzt Treuenfels, der Leibbursche meines Bruders Martin. Treuenfels war ein sehr liebenswürdiger und gepflegter Mann. Mit besonderer Hochachtung sprach man immer von dem bedeutendsten Alten Herrn, dem Dermatologen Professor Neisser 57 . Ich weiß nicht, ob ich ihn einmal zu Gesicht bekommen habe. Medizinisch war er der Stolz des AMV. Diejenigen von uns, die sich als bewußte Juden fühlten, hatten sehr viel gegen ihn einzuwenden. Nicht nur, daß er sich aus Karrieregründen hatte taufen lassen. Er veranlaßte auch die Taufe vieler seiner Assistenten. Als ich Jahrzehnte später das Universitätsarchiv auf Judenstämmlinge nachzusehen hatte, bemerkte ich mit Entsetzen, wie
5 4 Nicht nachweisbar. Keine Erwähnung in der Jubiläumsschrift: Studentisches Festbuch zum 100jährigen Jubiläum der Universität Breslau 1811-1911. Breslau 1911, w o S. 121f der A M V kurz vorgestellt wird und S. 166-169 einige seiner Lieder zum Abdruck kommen. 5 5 Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909) gehörte als Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstages zu den Wortführern des Antisemitismus. 5 6 Wohl Jakob Gottstein (1832-1895), Professor für Kehlkopf- und Ohrenheilkunde in Breslau. A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 15. 5 7 Albert Neisser (1855-1916) wurde 1882 als Professor der Dermatologie und Direktor der Klinik für Hautkrankheiten nach Breslau berufen. 1879 entdeckte er den Erreger der Gonorrhoe, den Gonococcus und bewies auch die Existenz eines Leprabazillus. Neisser war auch ein bedeutender Kunstmäzen in Breslau.
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viele unter dem Einfluß von Neisser dem Judentum untreu geworden waren. Auch der Nachfolger von Neisser, der aus seiner Schule hervorgegangen war, war getaufter Jude. Für die Assimilationsstimmung des AMV war charakteristisch, daß ein Weihnachtsbaum geschmückt wurde, etwas, zu dem auch die Vereinsschwestern herangezogen wurden. Ich hätte wohl meiner ganzen Gesinnung nach mehr in einen ausgesprochen jüdischen Verein gehört. Es gab damals die Verbindung im K C „Thuringia", die Nachfolgerin der aufgelösten Verbindung „Viadrina", sowie den Verein jüdischer Studenten, der zionistische Tendenzen hatte 5 8 . Dem Zionismus stand ich allerdings damals ganz fern. Diese Halbheit in der Gesinnung empfand ich oftmals sehr störend, wie mir überhaupt der Verein nicht so sehr viel gegeben hat. Mir waren das ewige Witzemachen und die häufige Zoterei nicht sehr sympathisch. Unter den Festdichtern ragte durch seine Begabung, mit der er allerdings nicht immer hauszuhalten wußte, einer besonders hervor, das war Georg Tarnowsky. Ihm bin ich in einem Punkte zu großem Dank verpflichtet. Als der Verein 1903 in dem schon genannten Vinzenzhaus sein dreißigjähriges Stiftungsfest feierte, hatte Tarnowsky das Festspiel gedichtet. Es war so eine Mischung, die zwischen einer Parodie auf das rührselige Stück Alt-Heidelberg von MeyerFörster 59 und einer dichterischen Verwertung des Bibel-Babel-Streites von Delitzsch 60 lag. Ich wohnte, da ich damals noch Schüler war, dem Stiftungsfest auf der Galerie bei und war sehr beeindruckt durch das Couplet, das ich mit für das Schönste halte, was Tarnowsky gedichtet hat: „Ich bin der Wissenschaft so tief ergeben, Sie war stets meine ganze Leidenschaft." Dieses Gedicht und der Geschichtsunterricht hatten mich vor allem dazu bewogen, mein Leben der Wissenschaft zu weihen, der ich niemals untreu geworden bin. Es ist nun schwer zu sagen, was dabei das Primäre
5 8 Die „Thuringia", gegründet 1901, war eine jüdische studentische Verbindung im K C . Ihr Ziel war „Kampf gegen den Antisemitismus und Erziehung ihrer Mitglieder zu selbstbewußten Juden, die im Bewußtsein, daß sie einen mit dem deutschen Vaterland unauflöslich verbundenen Völksteil bilden, jederzeit bereit sind, für die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden einzutreten". Die „Viadrina" bestand von 1886 bis 1894 und galt „als Ausgangspunkt der jüdischen Organisation gegen die antisemitische Bewegung". Im „Verein jüdischer Studenten", gegründet 1899, trafen sich Studenten, „die sich bewußt als Juden fühlen und an der Erhaltung-eines lebendigen Judentums mitarbeiten wollen". Studentisches Festbuch, S. 126-128. 59 60
W . Meyer-Förster: Alt-Heidelberg. Schauspiel in 5 Aufzügen. Berlin 1902. F. Delitzsch: Bibel und Babel. 3 Bände. Leipzig 1902-1905.
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gewesen ist: die ursprüngliche Veranlagung oder eben diese Eindrücke. Ich meine, daß die Bereitschaft zur Wissenschaft durch beides ausgelöst worden ist. In jenem Festspiel hatte übrigens mein Bruder Franz die Gestalt von Bodo Odoaker verkörpert. Das Festspiel bestand nämlich aus zwei Akten. Vor dem zweiten Akt mußte die Damenwelt verschwinden, weil das nicht für ihre zarten Ohren bestimmt war. In dem Gedicht, das Franz vorzutragen hatte, ließ ihn Tarnowsky immer als Refrain sagen: „Und dann verschwind ich fein mit zartem Takte, im zweiten Akte". Franz, der damals schon über eine ziemliche Körperfülle verfügte, sah in dem Anzug eines Kindes urkomisch aus und hatte eine gewaltige Wirkung. Man muß es der Muse von Tarnowsky lassen, daß sie trotz aller Bierdichtung immer wirklich etwas zu sagen wußte. Sein Mitarbeiter und Nachfolger auf diesem Gebiete war Ernst Grünbaum, der nach seiner Auswanderung nach Chile erst vor kurzer Zeit einem Autounfall erlegen ist. Aber die Grünbaumsche Muse war weniger dezent. Ich selbst habe mich auch in gelegentlichen Bierliedern versucht, aber ich glaube nicht, daß sie besonders großen Beifall gefunden haben. Das lag mir weniger. Der AMV verfügte schon damals neben dem offiziellen Kommersbuch über ein besonderes Liederbuch, in dem die wesentlichsten Lieder gedruckt waren, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden sind. In einem zum Beispiel war von sämtlichen Krankheiten des Menschen die Rede unter Anspielung auf die Ärzte, die dem AMV angehörten, die man natürlich in einem solchen Falle zu konsultieren hatte. Der eine Reim ist mir da noch in Erinnerung geblieben. Hier hieß es ungefähr: „Wer totaliter ist demens, den schicken wir zum Clemens". Damit war Clemens Neisser gemeint, der langjährige Direktor der Provinzial-Irrenanstalt in Bunzlau. Er hat übrigens trotzdem ein hohes Alter erreicht und ist erst vor kurzem gestorben. Was mir im AMV besondere Freude gemacht hat, war das Liedersingen, wobei ich aber nicht behaupten will, daß der Genuß auf Seiten meiner Zuhörer gelegen hat. Das kam ja auch nicht so darauf an, wenn wir alle mit den Bierstimmen mehr oder weniger grölten. Jede Kneipe wurde mit dem Liede geschlossen: „Der Sang ist verschollen, der Wein ist verrauscht, stumm irr ich und schweigend umher". Zweifellos liegt in diesen alten Studentenliedern eine große Poesie, die der heutigen Jugend nach der Auflösung sämtlicher Studentenvereine verloren gegangen ist. Inwieweit die Kampflieder der heutigen Zeit dichterisch höher zu werten sind, will ich hier nicht untersuchen. Der Winter 1906 brachte mir auch die Tanzstunde. Es gab damals zwei
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Tanzlehrer in Breslau, den getauften Juden Reif und den nichtgetauften Juden Baer. Reifs Tanzstunde galt als die feinere. In diese ist auch meine Schwester gegangen. Ich selbst habe mich aber aus jüdischen Gründen geweigert und bin zu Baer gegangen, selbst auf die Gefahr hin, als nicht so fein zu erscheinen. Ehrlich muß ich bekennen, daß der einzige Lehrer, dem ich in meinem Leben wirklichen Kummer bereitet habe, der Tanzlehrer Baer gewesen ist. Es scheint ihm aber nicht so sehr viel geschadet zu haben. Er lebt heute noch in außergewöhnlich hohem Alter. Ich weiß nicht, wie es kam, aber daß ich bei jedem Rundtanze auf den Füßen meiner Partnerin landete, war selbstverständlich. Ich glaube, daß die Mädchen damals immer mit weißen Schuhen in die Tanzstunde kamen, also Gelegenheit hatten, meine Eindrücke zu bewundern. Außerdem kam ich immer durch eine magische Anziehung des Kronleuchters mit meiner unglücklichen Gefährtin unter diesen. Kurz und gut, es war schon beinahe eine Katastrophe. Nachdem Baer sich diese Versuche am untauglichen Objekt eine Zeitlang angesehen hatte, sagte er zu mir: „Herr Cohn, so werden Sie es nicht lernen. Kommen Sie einmal Sonntagvormittag." Der Sonntagvormittag war die Stunde der Sünder. Dann setzte sich seine Frau ans Klavier, und ich mußte mit ihm tanzen. Immerhin hat er mir auf diese Weise soviel beigebracht, daß es ohne größere Unfälle abging. Tanzstunde von 1906! Das bedeutete (heute kann sich das die Jugend nicht mehr vorstellen), daß auf dem „Drachenfels" die Mütter zuguckten, mit Stielaugen bewaffnet, ob eine ihrer Töchter etwa sitzen blieb. Tanzstunde von 1906 bedeutete, daß die Jünglinge bis zu dem Augenblick, wenn die Tore des Tanzsaales sich öffneten, in einem Nebenraum zu warten hatten, wo sie sich andere Schuhe aus Lack anziehen mußten nebst den dazugehörigen weißen Glacehandschuhen. Dann öffnete sich der Zwinger, und man durfte das Parkett betreten und sich ein Mädchen auswählen. Es galt als sehr anstößig, wenn man immer mit derselben tanzte, als absolut unanständig, wenn man es wagte, sie ohne Handschuhe anzufassen. Selbstverständlich bildeten sich aber trotz der Handschuhe gewisse Neigungen. Auch ich hatte meine Tanzstundenliebe. Sie ist im Laufe der Jahrzehnte etwas umfänglich geworden. Wenn ich ihr heute begegne, so bemerke ich, daß die Jahre nicht spurlos vorübergegangen sind. Sonntagvormittag wagte man manchmal mit seiner Angebeteten draußen auf dem Krieterner Teich zu rudern. Natürlich mußte man in den Häusern, in denen man verkehren wollte, am Sonntagvormittag Besuch machen. Dort erschien man mit dem Zylinder bewaffnet, den man in die gute Stube mit hineinzubringen hatte und umgekehrt auf die Erde stellen mußte. Es war gar nicht so einfach, die Sitten und
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Gebräuche des feinen gesellschaftlichen Lebens zu erlernen und sich ihrer ohne Unfälle zu bedienen. Aber ich erinnere mich nicht, einen größeren Fauxpas begangen zu haben. D a ß man das alles gelernt hat, ist mir später oftmals zugute gekommen. D e r Tanzstundenwinter brachte natürlich auch viele Einladungen, und manche heiratswütige Mutter hätte gern die Begüterteren unter den Jünglingen, zu denen auch ich gehörte, schon damals fest geangelt. Ich gehörte aber nicht zu den sehr Treuen und habe öfters die Flamme gewechselt und vielleicht sogar manchem Mädchen damit weh getan. Das erotische Leben jener Zeit war natürlich etwas verlogen. Ich weiß, daß mancher der Tanzstundenjünglinge, nachdem er seine Tanzstundendame nebst Mutter nach Hause begleitet hatte, noch andere Wege gegangen ist, die zu dunklen Gassen Breslaus führten, von denen eine den Namen Freiheitsgasse trug. Die wirklich freiheitsliebenden Bürger Breslaus haben sich stets darüber empört, daß gerade eines der scheußlichsten Gäßchen den Namen der Freiheit trug. O b das damit zusammenhängt, daß der Freiheit im alten Preußen nicht viel Raum gegeben war, will ich hier nicht untersuchen 6 1 .
Freiheit war der Name eines Vorstadtgutes der ehemaligen Johanniterkommende Breslau. Danach führte diese Gasse in der Nähe des Hauptbahnhofes ihren Namen. 61
II. A K A D E M I S C H E L U F T
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„Glücklicherweise sah man nicht die apokalyptischen Reiter, die damals schon sattelten, um die Welt in ein Unheil zu stürzen." Es ist ein Unterschied, ob man aus innerster Neigung studiert oder ob man nur die Universität bezieht, weil einem im Grunde nichts Besseres einfällt. Mit dem Studium nahm ich es vom ersten Augenblick an sehr genau. Es war ein arbeitsreicher Winter. Das, was die Juristen in der Regel taten, ein oder zwei Semester gänzlich zu verbummeln, war für mich ausgeschlossen. Die Überfüllung der juristischen Fakultät mit Juden zog ja auch mancherlei Mißstände nach sich, die sich 1933 sehr ausgewirkt haben. In der philosophischen Fakultät waren verhältnismäßig wenig Juden. In Breslau stellten die Studenten des Jüdisch-Theologischen Seminars ein gewisses Kontingent, die nach dem Statut dieser Anstalt verpflichtet waren, die akademische Doktorwürde zu erlangen und dafür meist die philosophische Fakultät wählten 1 . Meine Fächer waren vor allem Geschichte und Germanistik, daneben Erdkunde und Philosophie. Wenn es auf mich angekommen wäre, so hätte ich mich vor allem und ausschließlich mit Geschichte beschäftigt. Doch mußten die Fächer so gewählt werden, daß für das Doktorexamen gewisse Fächer zusammenklangen und auch für das Staatsexamen die erforderliche Fachzusammenstellung gegeben war. Vom ersten Augenblick des Eintritts in das Studium konnte man zwei Gruppen von Studenten unterscheiden. Ein größerer als ich hat das einmalig gesagt, Friedrich Schiller. In seiner berühmten Antrittsvorlesung 2 arbeitete er wundervoll klar heraus, welcher Unterschied zwischen dem Das Jüdisch-Theologische Seminar war eine Stiftung des Breslauer Kaufmanns Jonas Fränckel. An dieser bedeutenden jüdischen Hochschule studierten zwischen 1834 und 1939 angehende Lehrer und Rabbiner aus ganz Europa. 2 Schillers Antrittsvorlesung von 1789 hatte zum Thema: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? 1
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II. Kapitel
philosophischen Kopf und dem Brotstudenten besteht. Nicht anders war es auch, als ich mein Studium begann. Die einen studierten, weil sie so rasch wie möglich in ein Amt hineinkommen wollten, das sie ernährte. Sie belegten nur diejenigen Vorlesungen, die unbedingt notwendig waren und lehnten ab, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen als mit denjenigen Dingen, die sie zur Prüfung brauchten. Sie hatten kein höheres Streben. Zu ihrer Entschuldigung muß man allerdings sagen, daß diese Brotstudenten meist aus sehr kleinen Verhältnissen stammten und ihr Studium entweder mühsam mit Privatstunden fristeten oder sich durch Stipendien ernährten. Es ist sehr schwer, wenn man den Daseinskampf führt, dann noch den Auftrieb zu bewahren. Mancher hat es trotzdem geschafft, und mancher blieb eben ein nüchterner Alltagsmensch. Dabei sollte man sich gerade als Jude vor der Auffassung hüten, daß die Juden geistig begabter seien. Im allgemeinen konnte man wie auf der Schule, so auf der Universität feststellen, daß die Gründlichkeit beim arischen Menschen häufig ausgeprägter war, während wir rascher faßten. Mit welcher Begeisterung stürzte man sich in die Vorlesungen. Ich habe den gleichen Fehler gemacht, den wohl jeder junge Student begeht, ich habe zuviel Vorlesungen belegt. Man bekam dann nach kurzer Zeit eine Art geistiger Uberfütterung. Mehr als vier Vorlesungsstunden hätte man nicht belegen sollen, weil man mehr nicht verdauen kann. Aber diese Erfahrungen hieß es sammeln, und so zahlte man sein Lehrgeld. Die allererste Vorlesung, die ich hörte, und deswegen ist sie mir auch trotz der Jahrzehnte in Erinnerung geblieben, war bei dem jungen Privatdozenten Dr. Ziekursch. Es imponierte mir ungeheuer, daß er sich vor das Katheder hinstellte und ohne irgendeinen Zettel vor sich zu haben, in einem ungeheuren Tempo seinen Vortrag hielt. Damals schien mir das als der Höhepunkt der Leistung, und ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich das auch einmal selbst ziemlich spielend bewältigen würde. Ziekursch vertrat das Fach der neueren Geschichte. E r hatte politisch eine liberale Weltanschauung, die sich selbstverständlich auch in den Vorlesungen ausprägte. Bei dieser Gelegenheit darf ich vielleicht etwas über meine eigene politische Stellung in meiner Jugendzeit einflechten. Bereits sehr früh fesselte mich die Gestalt von Ferdinand Lassalle. Wir durften schon als Primaner die Breslauer Stadtbibliothek benützen. Zwischen meinem Mitschüler Fried Marek 3 und mir entbrannte dann immer ein Kampf um 3
D e r oben S. 36 erwähnte Siegfried Marek.
Akademische Luft (1906-1911)
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die Werke von Ferdinand Lassalle. Dieser Breslauer Jude schien uns in seinem Freiheitsdrang ein unübertreffbares Vorbild zu sein. Ich habe ihm auch später eine für die Arbeiterjugend bestimmte Biographie gewidmet 4 , die sogar zwei Auflagen erlebt hat und eine ziemliche Verbreitung fand, bis dann der Rest der zweiten Auflage 1933 den Feuertod erlitt 5 . D e r junge Mensch sieht in seinem Helden immer das unbedingte Vorbild. Die Risse, die mir heute in Lassalles Wesen deutlich erscheinen, habe ich damals selbstverständlich nicht erkannt. Es ist ganz klar, daß der junge Jude aus jenen ersten Jahren nach der Jahrhundertwende in Deutschland politisch links stand. Die konservative Partei, zu der wir eigentlich unserer religiösen Grundhaltung nach gehörten, war ja gegen die Gleichberechtigung der Juden, soweit sie sich in Streben nach Amtern und dergleichen ausprägte. Aber wir jungen Juden von damals waren doch von einem riesigen Ehrgeiz gepackt. Liberal oder sozialistisch zu sein bedeutete auch gleichzeitig die Möglichkeit des Vorwärtskommens. D o c h war diese Einstellung nicht die grundlegende, denn sie wäre ja eine egoistische gewesen, und so waren wir nicht. Unser Herz gehörte den Unterdrückten, und wir sahen in den Arbeitern die unterdrückte Klasse, wenn sie es vielleicht auch gar nicht in dem Maße war, wie wir es glaubten. Im Grunde fehlte uns jüdischen Jungens aus den begüterten Häusern damals jede lebendige Querverbindung zur Arbeiterschaft, wie ich sie später in reichem Maße gefunden habe. U m sie zu bekommen, stellte ich mich schon in meinem ersten Semester dem akademischen Zweigverein des Humboldtvereins zur Verfügung 6 . Dieser unterhielt auf der Anderssenstraße, einer Nebenstraße der Friedrich-Wilhelm-Straße, der sogenannten Tschepine, ein Volksheim. Hier wurden Vorträge und Kurse veranstaltet, die für die Industriearbeiterschaft gedacht, aber wenig von ihr besucht wurden. Die Arbeiterschaft hatte ein gewisses Mißtrauen gegen diese bourgeoisen Jünglinge,
Vgl. SV N r . 123. Auch in Breslau geschah am 10. Mai 1933 auf Veranlassung der Deutschen Studentenschaft eine Bücherverbrennung „undeutscher" bzw. „marxistischjüdischer" Bücher. 4 5
Der Humboldtverein für Volksbildung wurde 1869 gegründet und bemühte sich um Popularisierung der Wissenschaften. Der Akademische Zweigverein des Humboldtvereins organisierte seit 1900 Vorträge und Elementarkurse für die Arbeiterschaft, vgl. H. Wendt: Die wissenschaftlichen Vereine Breslaus; in: ZVGS 38 (1904), S. 106f. 6
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die sie belehren wollten. Abgesehen von schwärmenden Tanzstundenmädchen erschienen Postschaffner und andere aus verwandten Berufen, die hier ihre allgemeine Bildung etwas aufbesserten. Wir setzten natürlich unsere besten Kräfte ein, und wenn uns diese Kurse und Vorträge, die wir im Alter von achtzehn Jahren leiteten, auch nicht die gehoffte Verbindung mit der Arbeiterschaft brachten, so nahmen sie uns doch die Scheu vor der Öffentlichkeit. Ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich schon sehr früh das Lampenfieber überwunden habe. Ich sprach damals über deutsche Städte und dann wohl auch über die Ereignisse des Jahres 1806, dessen hundertjähriger Wiederkehr man sich damals erinnerte. Aber nun zurück zu der Aura académica, der Luft der Alma mater Viadrina. Vielleicht darf an dieser Stelle ein Wort eingefügt werden über dieses einzigartige Gebäude, über das die Breslauer Universität verfügt. Es liegt an der Stelle, w o einst im Mittelalter das Schloß der Piasten gestanden hat, an dessen Stelle die Jesuiten im 18. Jahrhundert ein herrliches Gebäude schufen. Die Aula Leopoldina, der Musiksaal, künden von dieser barocken Pracht. Durch die gewaltigen dicken Mauern drang kein Geräusch der Außenwelt. Hier war es leicht, Sammlung zu finden; hier war es leicht, seinen Wissensdurst zu befriedigen. Bei den großen akademischen Lehrern allerdings war Breslau nicht übermäßig beliebt. Die Breslauer Universität galt als ausgesprochene Provinzialuniversität. Die großen Leuchten blieben ihr nicht lange treu, sondern waren froh, wenn sie einen Ruf woandershin bekamen. Heute steht man der Ostuniversität ganz anders gegenüber und behandelt den Osten viel pfleglicher, als man es damals getan hat 7 . Doch gab es immerhin eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten, und für mich krassen Fux waren sie gewiß mehr als ausreichend. Eine hervorragende Persönlichkeit war der Ordinarius für alte Geschichte Konrad Cichorius, bei dem ich im ersten Semester Römische Geschichte vom Ende des Zweiten Punischen Krieges an belegte. Bei ihm habe ich auch später noch häufig gehört, sehr viel haben mir seine Übungen gegeben. Wir standen auch nach dem Doktorexamen lange im Briefwechsel. Er hat später einem Ruf an die Universität Bonn Folge geleistet. Von ihm wurde erzählt, daß er in so begüterten Verhältnissen war, daß er sich jedes Buch in zwei Exemplaren anschaffen konnte, eines für seine Breslauer 7
In diesem Urteil mischen sich wohl Ironie und Genugtuung. Vgl. den Artikel der Schlesischen Zeitung vom 20. 4. 1941 „Einst Leopoldina - jetzt Ostuniversität".
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Bibliothek und eines für seine Villa in Friedrichsroda. So hatte er in den großen akademischen Ferien nicht allzuviel Bücher mitzunehmen. Akademische Ferien bedeuten ja für den Gelehrten die wesentlichste Arbeitszeit. Dann hörte ich bei Georg Kaufmann: Die Anfänge Kaiser Wilhelms I. Georg Kaufmann war eine sehr interessante Persönlichkeit, ein wundervoller Kopf. Politisch war er ein leidenschaftlicher Anhänger des nationalliberalen Gedankens, sehr antiklerikal eingestellt, einer derjenigen, die am Zeitalter Wilhelms I. noch mitgeschaffen haben. Wissenschaftlich war er damals nicht mehr auf der Höhe. Seine Kollegs entbehrten der straffen Diskussion; er kam leicht von einem Gegenstand auf den anderen. Ich weiß, daß mich das damals recht gestört hat. Schließlich hörte ich von geschichtlichen Vorlesungen noch Colmar Grünhagen: Neuere Geschichte Schlesiens von 1526 an. Mit diesem Kolleg hatte es eine eigene Bewandtnis. Grünhagen war ein uralter Herr, auf dem Gebiete der schlesischen Heimatgeschichte bahnbrechend 8 . Seine Werke sind auch heute noch nicht ersetzt. Damals aber war Heimatgeschichte bei den Studenten nicht sehr beliebt, sie wurde auch nicht im Examen gefragt. Grund genug, daß nur drei oder vier Studenten das Kolleg belegten. Außerdem las Grünhagen am Nachmittag von drei bis vier, eine Zeit, die sehr unbeliebt war, weil sie normalerweise dem Mittagsschläfchen gehörte. Damals war mein Wissensdrang so groß, und glücklicherweise die Gesundheit so zureichend, daß ich auf so etwas nicht Rücksicht zu nehmen hatte. Hatte man aber einmal diese Vorlesung belegt, so durfte man auch nicht schwänzen, denn es gab ein akademisches Wort: tres faciunt collegium. Wäre man weggeblieben, so hätte der alte Herr ja nicht lesen können, und das wäre eine große Kränkung gewesen. Ich hatte übrigens seine Art vorzutragen recht gern. Sie erinnerte an mittelalterliche Chroniken, es wehte so eine historische Luft. Für die germanistischen Fächer standen die beiden Professoren Siebs und Koch zur Verfügung. Sie waren, was unter akademischen Lehrern häufig vorkommt, gänzlich untereinander verfeindet. War man Schüler Der 1828 geborene Grünhagen stand damals im achtzigsten Lebensjahr. Seine verschiedenen Amter hatte er in den letzten Jahren nur widerstrebend geräumt. Es war nicht ohne Tragik, wie sich dieser verdiente Historiker am Ende selbst isoliert hatte, weil er sich einer umfassenden Erneuerung der schlesischen Landesgeschichte widersetzte. 8
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von Siebs, so mußte man mit tödlicher Gewißheit damit rechnen, daß man bei Koch durchfiel, ebenso umgekehrt. Siebs vertrat die Germanistik. Bei ihm hörte ich „Einführung ins Althochdeutsche" und „Erklärung von Ottfrieds Evangelienbuch" und außerdem „Deutsche Syntax". Bei ihm hatten unendlich viele Leute belegt, denn das waren Pflichtvorlesungen. Aber es waren sehr wenig Leute da. Dieser tödlichen Langeweile konnte auf die Dauer kein Mensch standhalten. Siebs war ein hervorragender Sprachforscher. Er hat sich besonders um die deutsche Bühnensprache sowie um die Erforschung der Helgoländer Mundart große Verdienste erworben. Später habe ich in meinem Leben häufig leider Schlafmittel nehmen müssen, aber die Wirkung von ihnen konnte an diese grammatikalischen Kollegs nicht heranreichen. Auch die Vorlesung von Professor Drescher über deutsche Metrik war ähnlich. Ich hatte große literarische Interessen und seit frühester Jugend viel gelesen. Der metrischen Zergliederung der Gedichte aber konnte ich wenig Geschmack abgewinnen. Innerhalb der deutschen Philologie war schon seit längerer Zeit ein Streit, ob die Literaturwissenschaft stärker nach ästhetischer oder stärker nach der zergliedernden Seite sich entwickeln sollte. Es ist das wohl ein unlösbares Problem, da beide Aufgaben nebeneinander herzugehen haben. Für die ästhetische Seite maßgebend war die Schule, die der Berliner Professor Scherer begründet hatte. Drescher las auch über Ibsen. Die Lektüre von Ibsen bewegte die jungen Menschen von damals sehr stark. Gerade an dem Schaffen dieses nordischen Dichters kann man feststellen, wie außerordentlich rasch Dichtungen dem Veralten ausgeliefert sind. Es gab damals kaum einen Kreis von Gebildeten, in dem nicht eifrig über die Probleme dieser Dramen diskutiert wurde. Vor allem war es „Nora" mit der Frage der Stellung der Frau, die „Gespenster" mit ihrer Vererbungstheorie, die „Stützen der Gesellschaft" mit der Frage der inneren Verlogenheit menschlicher Beziehungen, über die man immer wieder sprach. Heute haben diese Fragen wenigstens teilweise eine gewisse Lösung gefunden, und damit ist auch das Schaffen des Dichters in den Hintergrund getreten. Vielleicht ist das ganz in seinem Sinne, daß das Werk seine Bedeutung verliert in dem Augenblick, wo es das erreicht hat, was es erstrebte. Bei Professor Max Koch hörte ich Geschichte der deutschen Literatur von 1790 bis zu Goethes Tod. Zu diesem Gelehrten kam ich in ein ziemlich nahes Verhältnis. Der Universitätsklatsch behauptete, daß Max Koch jüdischer Abstammung sei und eigentlich Kohn geheißen habe. Etwas Näheres hat sich darüber nicht ermitteln lassen, ich konnte auch im
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Jahre 1939 im Universitätsarchiv nichts feststellen. Mit seinem Sohn war ich viele Jahre auf dem Johannesgymnasium zusammen, er war ein sehr lieber Junge mit einem außerordentlichen Gedächtnis, er konnte schon als Schüler weite Teile des „Faust" auswendig. Der junge Koch hatte die Eigentümlichkeit, immer zu spät zu kommen, sogar zur Entlassung der Abiturienten. Damals wußte man noch wenig von Psychologie, sonst hätte man schon zu jener Zeit angenommen, daß irgend etwas in seinem seelischen Haushalt nicht in Ordnung wäre. Ich begegnete ihm später im Felde, wo er Feldunterarzt war. Nach Jahren hörte ich zu meinem Entsetzen, daß er sich das Leben genommen hat. Ich glaube, daß er seelisch die Geschehnisse nach 1918 nicht ertrug. Die Familie Koch war nämlich außerordentlich deutschnational gesinnt. Professor Koch war seiner landsmannschaftlichen Einordnung nach Bayer und seinem Glauben nach katholisch. Seine Gesinnung reihte ihn unter die Alldeutschen ein. Er war ein glühender Verehrer Richard Wagners und stand auch in persönlichsten Beziehungen zu dem Hause Wahnfried. Ein Teil seines Schaffens gehörte der Erforschung der Wagnerschen Schriften. In seinen Kollegs breitete er eine ungeheure Fülle von Einzelwissen vor uns aus. Er liebte sehr die assoziativen Fragen. In seinem Seminar, an dem ich natürlich erst in späteren Semestern teilnahm, konnte nur der bestehen, der mit einem außerordentlichen Gedächtnis und noch größerem Fleiß belastet war. Den letzteren habe ich stets gehabt, und das Gedächtnis habe ich mir im Laufe der Jahre durch fortgesetztes Training erworben. Unter den Studenten der älteren Semester kursierte die sogenannte „Kochkiste". Hier waren sorgsam sämtliche Fragen gesammelt, die er im Laufe seiner langen Dozentenlaufbahn gestellt hat. Man mußte sich bemühen, sie alle im Kopfe zu haben. Ich möchte nur die eine oder andere anführen, um zu zeigen, nach welcher Seite seine Methode ging. „Wer hat alles Shakespeare übersetzt? Wer schrieb sich in das Koppenbuch ein?" Für Nichtschlesier sei hier gesagt, daß die Schneekoppe bekanntlich den höchsten Berg des Riesengebirges darstellt. Dort lag jahrhundertelang ein Koppenbuch aus, in das sich alle Besucher eintrugen. Es befindet sich heute in dem bedeutenden Archiv der Grafen Schaffgotsch in Warmbrunn. Wir unglücklichen Kandidaten mußten also sämtliche literarischen Persönlichkeiten kennen, die jemals ihre Schritte auf die Schneekoppe gelenkt hatten und dort sich verewigten. Koch war in seinen Vorlesungen stark von seinen Zetteln abhängig. Er stand darin ganz im Gegensatz zu Ziekursch. Ich erinnere mich, daß Koch, der im ganzen nur vier große Vorlesungen abhielt, die sich
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im Laufe der Semester wiederholten, als er einmal am Nachmittag sein Kollegheft zu Haus vergessen hatte, sich sehr entschuldigte und das, was er vorzutragen hatte, recht unbeholfen zusammenstoppelte. Man hat trotzdem bei ihm sehr viel gelernt. Im Seminar saß ich meistens neben ihm und war immer seine Hilfe, wenn irgendwann bei einem anderen das Gedächtnis versagte. Ich habe das alles, als ich viel später in der Oberstufe des Johannesgymnasiums gerade Deutsch mit großer Begeisterung vorzutragen hatte, gut verwerten können. Hier darf ich vielleicht noch etwas über das gesellschaftliche Leben an der Universität einschalten. Ein Teil der Professoren lud ihre Seminarmitglieder ein- oder höchstens zweimal im Winter zu sich in die Wohnung. Koch machte das auch. Allerdings kam ich damals im Winter 1906 dafür noch nicht in Frage. Er hatte eine schöne Wohnung auf der KaiserWilhelm-Straße. Die Einladung war auch mit Essen verbunden. Es war einem eingeschärft worden, daß man mindestens zehn Minuten vor der angesetzten Zeit anwesend zu sein hatte. Um Punkt acht wurde zu Tisch gegangen. Wer dann zu spät kam, kam in die peinliche Situation, an der Tischgesellschaft vorbei seinen Platz suchen zu müssen. Vielleicht könnte moderne Rassenforschung auf Grund dieser Bemerkung feststellen, ob Koch jüdischer oder nichtjüdischer Abstammung war. Denn abgesehen von Beerdigungen fingen unsere gesellschaftlichen Veranstaltungen, sogar Hochzeiten, meist mit sehr großer Verspätung an. Zum Schluß möchte ich noch einen meiner akademischen Lehrer erwähnen, den Philosophen Jakob Freudenthal 9 . Dieser Professor war bewußter Jude, er war auch früher Dozent am Breslauer JüdischTheologischen Seminar gewesen und hatte sich vor allem als Spinozaforscher einen Namen gemacht. Als ich bei ihm hörte, war er schon recht alt. Alles, was er vortrug, war auf das feinste ziseliert. Nur nahm er von der Erfindung der Buchdruckerkunst, wie so mancher akademische Lehrer, keinerlei Notiz. Er diktierte alles und jedes in die Kolleghefte, wodurch sehr viel wertvolle Zeit verloren ging. Bei den kleinen Geistern unter den Studenten war übrigens dieses Verfahren außerordentlich beliebt, weil es für das Examen eine sehr große Sicherheit gab. Ich habe bei ihm keine Prüfung mehr zu bestehen gehabt. Als ich so weit war, bekleidete das Amt des ordentlichen Philosophieprofessors bereits Eugen Kühnemann, der in allem und jedem ein ausgesprochener Antipode von Freudenthal
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Der 1839 geborene Philosoph bekleidete seit 1888 eine ordentliche Professur an der Universität Breslau. A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 12.
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war, worüber noch zu sprechen sein wird. Auch als junger Fux konnte man beobachten, daß mancher berühmte Gelehrte ein gewaltiger Forscher vor dem Herrn war und doch im Kolleg versagte. Es sind das eben zwei Begabungen, die sich sehr häufig nicht miteinander vereinigen lassen. Kurz vor den Weihnachtsferien ging ich nach Berlin, wohnte wieder bei Goldstückers und benutzte die Zeit, um wenigstens einen Hauch von den ganz großen Berliner Professoren mitzunehmen. Selbstverständlich wehte an der Universität der Reichshauptstadt eine andere Luft. Es war nicht so provinziell wie in Breslau, das ist ja selbstverständlich. Bei den Größen hatten die Kollegs schon äußerlich einen anderen Anstrich, wenn die Menschenmassen zusammenströmten. Ich erinnere mich an eine Vorlesung von Schmoller, dem Schöpfer der modernen Nationalökonomie, einer europäischen Berühmtheit. Bei diesen großen Zuhörermassen konnte man zwanglos hospitieren, auch ohne immatrikuliert zu sein. Nachdem ich mich also hier ein wenig an den Brüsten dieser Alma mater, wie man damals zu sagen pflegte, mit Weisheit vollgesogen hatte, hatte ich fürs erste genug und wollte etwas an die frische Luft. Nach außerordentlich langen und heftigen Kämpfen hatte ich meiner guten Mutter und ihrer Ängstlichkeit die Erlaubnis abgerungen, ins Riesengebirge zu fahren. Selbstverständlich durfte ich das mit meinen achtzehn Jahren nicht allein. Heute kommt einem das alles merkwürdig vor, aber damals lag das noch auf der Linie. Zu meiner Begleitung hatte sie meinen guten Freund Julius Wolfsohn bestimmt, was mir an und für sich recht lieb war. Selbstverständlich wurde er dazu eingeladen und ihm auch die Reise vergütet. Er war in Dresden, ich selbst also in Berlin, und wenn ich mich recht erinnere, trafen wir uns schon unterwegs. Im allerletzten Moment hatte meine Mutter ihm noch ein Telegramm geschickt, daß wir nicht fahren sollten. Der Kegelklub, dem mein Onkel Moritz angehörte, der Bruder meines seligen Vaters, hatte behauptet, es sei zu gefährlich. Selbstverständlich war die Autorität des Kegelklubs nicht zu übertreffen. Wolfsohn kam in einen schweren Gewissenskonflikt, denn da er zu der Reise eingeladen war, war es für ihn fast unmöglich, sie gegen den Willen der einladenden Dame zu unternehmen. Aber diesmal streikte auch das gute Söhnchen Willy, das sonst immer darauf bedacht war, der Mutter, die wir alle wie ein weiches Ei behandelten, keine unnötigen Aufregungen zu bereiten. Ich erklärte Wolfsohn, daß ich unter allen Umständen fahren würde, wir quartierten uns auch wieder in der „Brunnenquelle" in Schreiberhau ein.
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Wenn man die Bilder damaliger Wintersportreisender ansieht und sie mit den Bildern aus späteren Jahrzehnten vergleicht, so hatte man den entschiedenen Eindruck, noch Polarreisende vor sich zu haben. Damals waren in Schlesien die allerersten Anfänge des Wintersportes zu bemerken. Ganz langsam setzte er sich durch und besiegte die Auffassung, daß der Winter eine feindliche Macht sei. Bis dahin glaubte man, daß man ihn am besten am Ofen verbrachte, so wie der selige Voß: „Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofen" 1 0 . Heute, da ich diese Erinnerungen niederschreibe, bin ich leider bald schon wieder bei Johann Heinrich Voß angelangt. Mit einem so feinempfindenden Menschen wie Julius Wolfsohn war eine Reise in das winterliche Gebirge ein tiefes Erlebnis. Wolfsohn konnte sehr gut schweigen. Einmal kletterten wir zum Beispiel auf die Neue Schlesische Baude und stiegen von dort nach der böhmischen Seite, nach Neuwelt hinab oder rodelten wohl auch. Dort mieteten wir uns einen Pferdeschlitten und fuhren über den Paß von Böhmen nach Schlesien zurück. Es war vielleicht mit das größte Erlebnis einer Winternacht, die ich jemals gehabt habe. Die Natur hüllte sich in tiefstes Schweigen. Auch wir sprachen kein Wort. Man hatte das Gefühl, daß hinter jedem Baum Rübezahl selbst hervortreten könnte oder daß auf diesen verschneiten Waldwiesen Rautendelein erscheinen würde 11 . Die Fahrt ging an der Josephinenhütte vorbei, wo Gerhart Hauptmanns Märchendrama „Und Pippa tanzt" 1 2 spielt. Dieses Drama, das sehr viele dunkle Stellen hat, das aber doch von einer großen Innigkeit und Zartheit war, wurde von respektlosen Menschen, die es nicht verstanden, „Und Tante piepst" genannt. In späteren Jahren war ich noch sehr häufig im winterlichen Riesengebirge, und ich habe die Stimmungen auf der einsamen Baude, so wie Gerhart Hauptmann sie nachdichtend geschaffen hat, gut verstanden. Wolfsohn und ich hielten uns selbstverständlich, soweit es ging, aus dem gesellschaftlichen Leben heraus. Am Nachmittag, wenn man durchfroren war, ging man wohl in eine Konditorei. Aber sonst hatten wir genug damit zu tun, die Eindrücke, die wir beide das erste Mal Zitiert nach dem Gedicht „Der siebzigste Geburtstag" (1785) von Johann Heinrich Voß. 11 Rautendelein, eine Nymphe in G. Hauptmanns Märchendrama von 1896 „Die versunkene Glocke". 12 G. Hauptmanns Glashüttenmärchen „Und Pippa tanzt" war 1906 uraufgeführt worden. 10
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empfingen, zu verarbeiten. Vielleicht ist das eine Reisekunst, die nur sehr wenige beherrschen: N u r so viel in sich aufzunehmen, wie man wirklich verarbeiten kann, und nicht sich zu überlasten. Immer wieder schön war der winterliche Spaziergang nach dem Zackenfall und der Josephinenhütte. Nach dieser Reise war der Alltag wieder in seine Rechte getreten. Das Universitätsstudium wurde bis zum Semesterschluß fleißig gepflegt. Dann setzten die Vorbereitungen für ein Sommersemester in Süddeutschland ein. Nachdem, was ich früher geschildert habe, war es selbstverständlich, daß ich nach Heidelberg ging, so wie es mein Bruder Franz gemacht hatte und womöglich auch zur selben Wirtin. In Familien ist es ja oft so, daß der ältere Bruder das unerreichbare Vorbild darstellt. Ich teilte mir die Reise in eine ganze Reihe von Stationen ein, ähnlich wie die jungen Männer im 18. Jahrhundert ihre große Kavaliersfahrt gemacht haben. Die erste Station machte ich in Dresden, das mir schon von früher her bekannt war, w o ich mir aber noch einmal alle die Schönheiten ansah, die diese Stadt an Natur und Kunst zu bieten hatte. Von dort fuhr ich nach Leipzig, w o mich vor allem Auerbachs Keller anzog, der damals noch im ursprünglichen Zustande vorhanden war. Ich erinnere mich, dort sogar in einem Zustand leiser Besäuseltheit ein Gedicht in das Gästebuch eingetragen zu haben. Abends sah ich dort im Theater Ibsens „Nora". Von Leipzig ging die Reise nach Weimar. Man war ja doch besonders mit Goethe erfüllt, wenn man Literatur studierte und auch das Abiturium noch nicht so weit zurücklag. Ich wohnte im Hotel „Zum Erbprinzen", dem alten Gasthof, der noch aus der Zeit Goethes stand. In ausführlichen Briefen berichtete ich an Mutter, was mich beeindruckte. Ich habe stets in meinem Leben über alles, was ich erfuhr, schriftlich Rechenschaft geben müssen, bin aber später in steigendem Umfange vom Brief zum Tagebuch übergegangen. Hier soll nur das angedeutet werden (denn ich will keinen Führer durch Weimar schreiben), was mich besonders ergriff. Es war vor allem Goethes Gartenhaus, das viel stärker auf mich wirkte als sein Stadthaus. Ich schrieb in einem Brief nach Hause: „Denn hier war Goethe jung, im Weimarer Goethehaus alt."
Wenn man so durch den herrlichen Park ging, so stieg dieser junge Goethe aus allen Büschen auf, seine Freundschaft zu Frau von Stein, aber auch eine Gestalt wie Corona Schröter. Meine Generation hatte so viel an Bildung mitbekommen, daß alles in einem derartigen Augenblick zum Leben erwachte. Ich war im Grunde froh, daß ich das allein auf
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mich wirken lassen konnte. Denn ein Reisegefährte, der nicht im richtigen Augenblicke verstummt, ist ein kaum zu lösendes Problem. In Weimar bin ich noch öfters gewesen und war besonders glücklich, daß ich das, was ich mir an diesem Ort an innerem Erleben vermitteln durfte, noch im Jahre 1923 meiner Frau zeigen konnte. An einem Nachmittag ging ich nach Ettersburg bei Weimar, wo das alte Naturtheater Goethe in seiner Geniezeit noch einmal lebendig machte. Von Weimar machte ich einen kurzen Abstecher nach Jena, der alten Studentenstadt und wanderte nach der Saaleck und der Rudelsburg hinaus. In Lichtenhain trank ich aus hölzernem Schoppen das berühmte Graue Bier, das mir in keiner Weise schmeckte. Es war ein Opfer an den Genius loci. Jena habe ich damals nur flüchtig gesehen, aber 1923 bei einem Ferienkurs ein wenig tiefer in das dortige akademische Leben hineinblicken können. Von Weimar ging es nach Nürnberg, das einen jungen Historiker, der sein Leben besonders der Erforschung des Mittelalters widmen wollte, in stärkstem Maße reizen mußte. Mit Schrecken stand ich vor der Folterkammer. Damals hat man noch nicht gewußt, daß auch unsere Zeit Foltern anderer Art ersinnen würde, die vielleicht nicht weniger qualvoll sind als die jener Zeit. Höhepunkte in Nürnberg: Der Blick von der Burg über die alte Stadt, das Schlendern durch die alten Gassen, das Eintreten in das eine oder andere Haus. Als in späteren Jahren, besonders auf meine Initiative hin, vom Johannesgymnasium aus die Schülerfahrten durch Deutschland gemacht wurden, fuhr ich auch einmal mit einer Klasse, die ich sorgsam vorbereitet hatte, nach Nürnberg. Für diese Studentenfahrten zum Antritt des süddeutschen Semesters hatte sich im AMV eine bestimmte Tradition herausgebildet. Dazu gehörte, daß man in Nürnberg den Dr. Epstein aufsuchte, der immer froh war, wenn ihm ein junger Student etwas von seiner alten Universitätsstadt berichtete. Man wurde dort sehr gut aufgenommen und hatte das Gefühl, willkommen zu sein. Eine Steigerung der Reise und gewissermaßen einen Abschluß bedeutete der Besuch von Rothenburg ob der Tauber. In Nürnberg hatte immerhin die spätere Zeit mancherlei an dem Stadtbilde geändert, da Nürnberg stets eine gewerbefleißige Stadt gewesen ist. Anders in Rothenburg, das nach seiner mittelalterlichen Blüte abseits vom großen Verkehr lag und wo man wirklich glaubte, aus jedem Gäßchen die mittelalterlichen Menschen heraustreten zu sehen. So ein Spaziergang
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um die alte Stadtmauer in Rothenburg mit einem Blick herunter auf das Taubertal ist etwas, was man sein Leben lang nicht vergißt. Ich bin seitdem niemals wieder nach Rothenburg gekommen. Doch ist mir jeder Augenblick, den ich dort verlebte, noch deutlich vor Augen. Vom mittelalterlichen Judentum dieser Stadt kündete ein Haus, in dem einmal Juden gebetet hatten. Das Zimmer meines Gasthauses „Zum Eisenhut" ging auf den Marktplatz heraus. In gleichem Lichte lag das alte Rathaus. Ich schrieb damals auf einen Bogen: „Die Sonne ist untergegangen. Ihre letzten Strahlen erhellen noch den Horizont, und schon wandert von Osten her der Mond herauf und wirft sein klares Licht über die Erde ... Vieles sah er, vieles sieht er, vieles wird er sehen. Doch nur einmal sieht er ein Rothenburg". In einem alten Hotelomnibus, der selbstverständlich mit Pferden bespannt war, rumpelte man in die Stadt und aus ihr wieder heraus. Wenn ich später im Unterricht und in Vorlesungen eine mittelalterliche Stadt lebendig zu machen hatte, dann stiegen vor meinem geistigen Auge immer wieder diese Stunden auf. Und nun ging es nach Heidelberg, der schon im voraus geliebten Studentenstadt. Wer kann das Glücksgefühl eines jungen Mannes ermessen, der aller Sorgen ledig in Heidelberg aus dem Zuge steigt und voll Stolz dem Dienstmann sagt: „Bringen Sie meine Sachen in meine Bude"; denn so lautet ja der Fachausdruck für das Studentenzimmer. Ich hatte brieflich dasselbe Zimmer gemietet, in dem auch mein Bruder Franz vor einigen Jahren gewohnt hatte, bei der gleichen Wirtin Frau Waitzmann, einer erprobten Studentenmutter, wo ich es sehr gut hatte. Meine erste Behausung bei ihr war Rohrbacher Straße 35, etwas außerhalb der alten Stadt. Als sie dann nach der Anlage umzog, zog ich natürlich mit. Dort war es womöglich noch schöner und näher zur Universität. Zu der Übernachtung gehörte auch das erste Frühstück, das ich zu Hause einnahm. Mittags ging ich in die Fleischerei von Bollerer auf der Hauptstraße, wo ich den Schoppen meines Bruders und auch seinen Biernamen Lehmann übernahm und so behandelt wurde, als ob ich immer dagewesen wäre. Diese Gaststuben, die sich im Hinterzimmer einer Fleischerei befanden, waren eine besondere süddeutsche Spezialität. Es gab ein einfaches ausgezeichnetes Essen, das keine Massenküche darstellte, dazu ein Glas Gespritzten, das heißt eine Mischung von Selterswasser und Pfälzer Wein, die einem nicht die Arbeitsfähigkeit für den Nachmittag nahm. Dort aßen fast nur Studenten. Auch lag diese Gaststube in nächster Nähe der Universität, wie überhaupt die ganze Stadt ihr Dasein auf Studenten abgestellt hatte. Man sah auch den Studenten jeden Unfug
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nach, weil man wußte, daß das letzten Endes alles zum W o h l e der Stadt war. Unmittelbar neben der Universität befand sich eine Konditorei, in der es am Vormittag zu bestimmten Stunden heiße Pasteten gab und nachmittags K a f f e e . A m A b e n d aß man in seiner Stube, wenn man es nicht v o r z o g , in die U m g e g e n d hinauszuwandern, um sein A b e n d b r o t in frischer L u f t angesichts einer unvergänglichen N a t u r einzunehmen. D o c h mag es damit genug sein mit den leiblichen Dingen, die nun einmal dazu gehören, w e n n das Leben behaglich sein soll. V o r allem aber konnte ich es nicht erwarten, auch hier in das L e b e n der Universität einzutauchen. So möchte ich hier davon zuerst erzählen, ehe ich v o n dem berichte, was ich außerhalb der Universität an Schönem und Festhaltenswertem erfahren habe. Es w e h t e eine andere L u f t an der A l m a Mater Ruperto-Carola, der Ruprecht-Karls-Universität, die damals genau fünfhundertzwanzig Jahre bestand. 1886 hatte sie ihr fünfhundertjähriges Jubiläum gefeiert, das klang noch gewissermaßen nach. I m Mittelpunkt jenes Jubiläums hatte K u n o Fischer gestanden, v o n dem ich schon gesprochen habe, der aber damals, als ich nach Heidelberg kam, in unheilbarer
Geisteskrankheit
dahinsiechte. In H e i d e l b e r g amtierten Männer v o n europäischem Ruf. Wenn ich in diesem A u g e n b l i c k e mein altes A n m e l d e b u c h der Universität
vor
A u g e n habe und die Unterschriften dieser Männer v o r mir sehe, die ja die A n m e l d u n g e n zu unterschreiben hatten, dann steigt mit ihrem Namenszuge
auch das Bild der Vergangenheit
wieder
auf. Welches
Erlebnis w a r die kunstgeschichtliche Vorlesung v o n H e n r y T h o d e über die Renaissance. A u c h er gehörte z u m Kreise v o n Richard Wagner. Er w a r nicht ein Forscher nach dem H e r z e n der Philologen, sondern ein M a n n künstlerischer Beschwingtheit, der in den Vorlesungssaal den Hauch einer Andersartigkeit hineinbrachte. Er besaß am Gardasee eine herrliche Besitzung, der er das Buch „Vita somnium breve" 1 3 gewidmet hat. Viele Jahre später stand ich einmal dort. I m [Ersten] Weltkriege ist die Besitzung beschlagnahmt w o r d e n und dann in die H ä n d e v o n d'Annunzio gekommen. In der Vorlesung v o n T h o d e saßen nicht nur Studenten aller Semester; es saßen auch die Mädchenpensionate, mit denen Heidelberg gesegnet war und die nach der Sitte der Zeit zu z w e i und z w e i züchtig durch
13 H . Thode: Vita somnium breve Somnii explanado. Traumbilder vom Gardasee in S. Vigilio. Berlin 1909.
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die Straßen zogen. Es saßen in dieser Vorlesung aber auch die Fremden, die Heidelberg besichtigten und zu deren Reiseprogramm auch das Anhören einer Vorlesung von Thode gehörte. Seitdem das Stück von Meyer-Förster „Alt-Heidelberg" seinen Siegeszug durch die Welt angetreten hatte, hatte sich die Zahl der Fremden immer mehr gesteigert, insbesondere der Engländer. Schon Goethe sagt ja, daß die Briten schrecklich viel reisen. Man sah natürlich sofort, wer zünftig war und dazu gehörte und wer gewissermaßen einen Outsider darstellte. Und nun zu den Männern, in deren Hände meine spezielle Ausbildung gelegt war. An erster Stelle will ich da den Historiker Bismarcks, Erich Mareks nennen. Er las allgemeine Geschichte im Zeitalter Bismarcks, und jede Vorlesung war ein Hymnus auf den Altreichskanzler, den ich in Breslau unter einem anderen Gesichtspunkte kennengelernt hatte. Besonders wir Juden von damals standen Bismarck nicht allzu freundlich gegenüber. Seine Gestalt schien uns sehr verknüpft mit dem alten Stoeckerschen Antisemitismus. Später habe ich gelernt, daß Bismarck durchaus nicht zu den typischen Antisemiten zu rechnen ist. Und heute würde so mancher Jude in Deutschland zufrieden sein, wenn er den alten ehrlichen Risches von anno dazumal noch einmal hätte. Jede Vorlesung von Mareks war aber auch ein ästhetischer Genuß. Mareks stand damals auf der Höhe seines Schaffens, auf der Höhe seiner Gestaltungskraft. Es war ihm ja leider nicht vergönnt, sein Bismarckwerk zu einem Abschluß zu bringen; er hat nur die Jugendzeit behandelt. Erich Mareks ist auch mit andern Werken im ersten Bande steckengeblieben. Vielleicht reizte ihn das Persönliche stärker als das Politische. Die Begabung eines Max Lenz lag stärker nach der politischen Seite. Erich Mareks las damals sein letztes Semester in Heidelberg. Er nahm am Schluß des Semesters einen Ruf an die Universität nach München 14 an und veranstaltete für seine Studenten eine unvergeßliche Abschiedsfeier in seiner Villa am Neckar. Es war für mich eine Auszeichnung, daß ich, obwohl ich ja erst zweites Semester war, schon an seinen Übungen teilnehmen durfte. Ich habe dort die Methode der neueren Geschichte gelernt und damals besonders die Fragen des Kriegsausbruches von 1870 vorgeführt bekommen. Mein Promotionsvortrag über die Emser Depesche war noch das Ergebnis der Studien in Heidelberg 15 . In den Seminarübungen war Mareks durchaus kritisch eingestellt und setzte 14 Erich Mareks ging 1907 nach Hamburg und 1913 nach München. Der erste Band seiner Bismarckbiographie erschien in seiner Hamburger Zeit 1909. 15 Vgl. unten S. 145.
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seinen Ehrgeiz hinein, uns jungen Studenten unter Heranziehung der Quellen der verschiedensten Sprachen die Methode nahezubringen. Mir kam hierbei sehr zugute, daß ich besonders im Französischen keine Schwierigkeiten hatte. Man hat mich in diesen Seminaren, wo ich in der Regel der einzige Jude war, zeitweise etwas mißtrauisch angesehen. Es lag nicht im Stile der Zeit, daß jemals irgendeine Bemerkung gefallen wäre. Aber man hatte das Gefühl, daß die Kommilitonen meinten, ein Jude täte besser daran, Jura oder Medizin zu studieren. Später hat sich dann rasch das Verhältnis geändert, als die Kollegen sahen, daß man etwas konnte. Dann ist es mir in Heidelberg nicht anders gegangen als auch im späteren Berufsleben. Man wurde von denen, die einem zuerst besonders kritisch gegenüberstanden, am meisten um Rat gefragt. Die Grundlage meiner mittelalterlichen Ausbildung erfuhr ich in den Übungen zur mittelalterlichen Geschichte, die der Privatdozent Dr. Otto Cartellieri abhielt. Sie waren so recht für mein Semester bestimmt. Ich kann vielleicht ehrlicherweise sagen, daß ich die Grundlagen meiner wissenschaftlichen Arbeit und meiner eigenen produktiven Tätigkeit auf diesem Gebiete ihm vor allem zu verdanken habe. Er zeigte uns, wie man mittelalterliche Texte kritisch las. Mit Cartellieri haben mich viele Jahrzehnte briefliche und freundliche Beziehungen verknüpft. Als ich 1922 zu einem Ferienkurse in Heidelberg war, war ich in seinem Hause eingeladen. Cartellieri hat meines Erachtens nach nicht die Karriere gemacht, die er verdiente 16 . In Universitätskreisen wurde behauptet, er könne nichts, ein Urteil, dem ich in keiner Weise je zustimmen konnte. Cartellieri hat unter anderem ausgezeichnete Untersuchungen über die Herzöge von Burgund veröffentlicht 17 . Er hat es niemals zu einem Ordinariat und damit zu einer wirtschaftlich gesicherten Position bringen können. Er ist später Archivrat in Karlsruhe geworden und auch als solcher gestorben. Daß er eine so wenig umfangreiche Karriere gemacht hat, hat mich deswegen noch besonders erstaunt, weil er der Bruder eines sehr berühmten Historikers, Alexander Cartellieri in Jena, war. Jedenfalls gab er sich mit uns jungen Studenten die größte Mühe, und ich habe ihm immer die Treue gewahrt. O. Cartellieris Werdegang in W . Leesch: Die 1945. München 1992, S. 99f; N D B 3, Berlin 1957, S. 17 O. Cartellieri: Geschichte der Herzöge von Philipp der Kühne, Herzog von Burgund. Leipzig Herzöge von Burgund. Basel 1926. 16
deutschen Archivare 1500160f. Burgund 1363-1477. Bd. 1: 1910; Ders.: A m Hofe der
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Die große Leuchte der mittelalterlichen Geschichte im damaligen Heidelberg war Karl Hampe. Er las ein Kolleg über Geschichte und Kultur Europas im 13. Jahrhundert, in dessen Mitte die Gestalt des Stauferkaisers Friedrich II. stand, der auch später meine eigene wissenschaftliche Arbeit durch viele Jahre beherrschte. Hampe war damals noch ein recht junger Mann, der immer auf dem Fahrrad in die Universität kam und frisch und beschwingt, auch ohne Notizen, seine Vorlesung hielt. Das, was er uns damals vortrug, ist später in seinem immer wieder aufgelegten Buche „Deutsche Kaisergeschichte im Zeitalter der Salier und Staufer" 1 8 durch Jahrzehnte Gut der Studenten geworden und zu allen Prüfungen gelernt worden. Er hat für diese Dinge eine einmalige Form des Ausdrucks gefunden. Durch Hampe bekam ich auch meine Doktorarbeit, aber davon wird erst im Sommersemester 1908 zu sprechen sein. Mit den Historikern konnte ich es also gar nicht besser treffen, als ich es in Heidelberg getroffen habe. Auch mein zweites Hauptfach Germanistik und Literaturgeschichte war sehr gut besetzt. Besonders das erstere war in Wilhelm Braune durch eine der bedeutendsten Persönlichkeiten vertreten. Er las „Historische Grammatik der neuhochdeutschen Schriftsprache". Außerdem hörte ich gotische und mittelhochdeutsche Grammatik bei Ehrismann, der etwas trockener war, aber bei dem man sehr viel lernte. Grammatische Dinge lassen sich ja nicht so fesselnd wie Kunstgeschichte oder Ahnliches vortragen. Für die gotische Sprache habe ich eine besondere Vorliebe gehabt, die mir immer geblieben ist. Diese gotischen Worte wirken wie hingeblockt; aus ihnen spricht noch die ganze Kraft eines unverbrauchten Volkes. Sie scheint mir eine seelische Verwandtschaft mit dem Hebräischen zu haben; eine wirkliche Verwandtschaft kommt natürlich nicht in Frage. Es ist etwas Eigenartiges um die Sehnsucht des jüdischen Menschen nach dem Verständnis der germanischen Welt. Immer wieder las ich die Evangelien in der gotischen Sprache, wobei ich betonen möchte, daß ich überhaupt auf diesem Wege erstmalig das Neue Testament kennen lernte, das im Grunde ein Dokument jüdischer Weltanschauung ist, wie es Leo Baeck erst jüngst in einem Buche gezeigt hat 19 . An Sprachen gab es in Heidelberg vieles zu bewältigen; denn neben dem Gotischen und dem Mittelhochdeutschen stürzte ich mich auch noch 18 K. Hampe: Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer. Leipzig 1909. Vgl. Cohns Rezension SV Nr. 71. 19 L. Baeck: Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte. Berlin 1938.
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in das Sanskrit. Hier nahm ich an einem Elementarkurs des Professors Lefmann teil. Das war ein uralter Herr, übrigens auch Jude, auch auf der Rohrbacher Straße wohnend. Alte Leute können bekanntlich mit sehr wenig Schlaf auskommen. Infolgedessen legte er seine Vorlesungen in eine sagenhaft frühe Morgenstunde. Ich war immer glücklich, wenn ich aus dem Haus kam und ihn auftauchen sah, weil ich wußte, daß ich da nicht zu spät kam. Hinter Lefmann munkelten die Klatschzungen von Heidelberg, die es dort wie überall in der Welt gab, allerhand her. Er hatte nämlich noch einmal geheiratet und ein ganz junges Kind, und so zerbrach man sich den Kopf, ob er oder ob er nicht ... Das Römische Recht hat solche Dinge sehr schön ausgedrückt, wenn es sagt: „Mater semper certa, pater Semper incertus." In diesem Sanskritkolleg waren natürlich nur ganz wenige Hörer, denn wer studierte schon so eine ausgefallene und brotlose Sprache? Dabei aber ist interessant und verdient festgehalten zu werden, daß sich unter den wenigen Hörern (ich weiß nicht mehr, ob es drei oder vier gewesen waren) zwei Juden befanden, außer mir noch eine Dame Agathe Lasch, die später eine außerordentliche Leuchte auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachwissenschaften wurde und es bis zur Professorin in Hamburg gebracht hat 20 . Sie hat auf allen Tagungen des Niederdeutschen Sprachvereins Vorträge gehalten. Dem Schicksal des Abbaus 1933 ist sie selbstverständlich nicht entgangen. Daß sie es so weit gebracht hat, hat sie einer Eigenschaft zu verdanken, über die Frauen im allgemeinen nicht glücklich sind: sie war von einer abschreckenden, geradezu einmaligen Häßlichkeit. Es gab für sie nichts anderes als die Grammatik. Wir anderen waren doch junge Menschen, die Heidelberg mit allem Möglichen lockte, und denen doch manchmal über den Ablautreihen und manchen anderen Finessen der Sprachwissenschaft die Gedanken hinweggingen zu dem herrlichen Frühling da draußen und zu dem Wein und den Mädchen. Ich begehe keine Indiskretion, wenn ich sage, daß ich mit Agathe Lasch niemals in einer Sommernacht spazierengegangen bin.
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Im Manuskript steht irrtümlich der Vorname Auguste. Agathe Lasch (18791942) studierte in Heidelberg Philologie und wurde 1923 die erste Professorin an der Hamburger Universität. Sie verfaßte u. a. die richtungsweisende „Mittelniederdeutsche Grammatik", das „Hamburgische Wörterbuch" und das „Mittelniederdeutsche Handwörterbuch". Lasch wurde 1934 trotz Petitionen aus dem In- und Ausland aus dem Staatsdienst entlassen. Seit ihrer Verhaftung 1942 ist sie verschollen. Vgl. N D B , Bd. 13, Berlin 1982, S. 645f.
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Am Schluß möchte ich noch zweier akademischer Lehrer gedenken, die mich weniger beeinflußten. D a war einmal der Kunsthistoriker Peltzer, der über Albrecht Dürer las, aber von der Sonne Henry Thodes verdunkelt wurde, und schließlich eine ganz merkwürdige Erscheinung, der Journalist Professor Koch, der über Geschichte, Wesen und Bedeutung der öffentlichen Meinung, der Presse und des Journalismus in Deutschland sowie Geschichte und Kritik der politischen Parteien in Deutschland las. E r nahm für seine Vorlesungen keinerlei Honorar, er hielt das für unwürdig. Es war ein ganz kleiner alter, aber sehr beweglicher Herr, der wohl innerhalb der Universität nicht ganz voll genommen wurde. E r dürfte aus dem Journalismus hervorgegangen sein. D a ich auch journalistische Neigungen in mir verspürte, hatte ich bei ihm belegt und mancherlei gelernt. E r machte auch mit seinen Studenten einen Ausflug nach Frankfurt am Main, wo wir Gelegenheit bekamen, die Frankfurter Zeitung zu besichtigen und, was bei solchen Besichtigungen immer eine schöne Zugabe war, auch zu einem schönen Frühstück eingeladen wurden. Ich bekam bei dieser Besichtigung zum ersten Mal einen Einblick in einen journalistischen Betrieb; gehörte ja die Frankfurter Zeitung zu den angesehensten liberalen Zeitungen Deutschlands, deren kultureller Teil sich auch auf einer bemerkenswerten Höhe befand. Bei dieser Besichtigung hat mich die „Totenkammer" am stärksten beeindruckt. Es wurde uns gesagt, daß in diesem Archivraum sich bereits die Nachrufe auf alle bedeutenden lebenden Personen befanden, weil man bei dem Hetzbetrieb einer Zeitung im Falle des Todes keine Zeit hätte, sich das Material zusammenzusuchen und dann nur eben einiges ergänzte. Ich sah das wohl verstandesmäßig ein, aber im Grunde war mir das doch gräßlich. Meine Verehrung des Journalismus bekam einen gewaltigen Stoß. Es mag das so ähnlich sein, wie wenn man im Theater das erste Mal einen Blick hinter die Kulissen tut. Das Leben ist eben häufig anders, als wie es sich ein junger Mensch in seinem Idealismus vorstellt. Frankfurt am Main, das ich ja schon als Junge kennenlernte, hat mich aufs neue sehr beeindruckt. Damals war es neben dem Goethehaus vor allem die Paulskirche, wo die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 getagt hatte, wo gewissermaßen die Freiheit geboren wurde, die ja nur ein kurzfristiges Dasein führte. Wir sahen damals gern die Freiheit unter dem Blickwinkel der Demokraten von 1848.
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II. Kapitel
Aber nun mag es genug sein mit der akademischen Luft von Heidelberg. Unmöglich, all das, was man lernen wollte, wirklich in diesen kurzen Sommermonaten zu lernen. Aber wie ich schon andeutete, habe ich auch sonst mich bemüht, nichts zu versäumen. Alkoholische Exzesse allerdings habe ich nicht mitgemacht. Ich war im Grunde froh und glücklich, daß der AMV keine Verbindung in Heidelberg besaß. So konnte ich mir mein Leben so aufbauen, wie ich wollte und brauchte nicht auf Kommando irrsinnigerweise ganze Gläser von Bier austrinken. Ich hatte es mit der Gesellschaft, die mich verstand, sehr gut getroffen. Eine Studentin Grete H. war mir mit ihrer Mutter dorthin gefolgt 21 . Es war übrigens eine ganz nette Mutter, auf die ich das Wort von Christian Morgenstern anwenden möchte, das er auf das Huhn des Bahnhofsvorstehers angewendet hat: „Sagen wir es offen, daß ihr unsere Sympathie gehört auch an dieser Stelle, wo sie stört". Und sie störte wirklich manchmal. Wenn zwei junge Menschen am Sonntag durch den Odenwald wandern wollen und sich mancherlei zu erzählen haben, dann ist eine Mutter nicht nur flüssig, sondern überflüssig, auch wenn sie noch so nett ist. Jedenfalls habe ich mir damals gelobt, wenn ich einmal Kinder haben sollte, ihnen nicht im Weg zu sein, und bisher habe ich auch dieses Gelöbnis getreu gehalten. Grete H. war die beste Kameradin, die man sich vorstellen konnte, und wir haben all das, was wir geistig erlebten, miteinander ausgetauscht und uns gegenseitig viel Anregungen gebracht. Sie war auch menschlich ein feiner Kerl. Ich habe schon öfters erwähnt, daß meine gute Mutter leider sehr ängstlich war. Unter den Bedingungen, unter denen ich nach Heidelberg gehen konnte, gehörte auch die, daß ich täglich schreiben mußte. Das war an sich nicht so schlimm, und ich habe es auch gern getan, aber aus diesen Post- und Ansichtskarten mußte auch einwandfrei hervorgehen, daß ich Ausflüge machte. Nun bekam ich damals eine ziemlich unangenehme eitrige Halsentzündung, die mich zwang, im Bett zu liegen. Grete H. besorgte Karten aus Neckargemünd, brachte sie mir zum Anschreiben, dann fuhr sie wieder nach Neckargemünd und steckte sie dort in den Kasten, damit Mutter beruhigt war. So konnte ich wenigstens krank sein, ohne noch durch die zusätzliche Angst von zu Hause belästigt zu werden. Vor allem wollte ich ja auch Mutter keine Sorge machen. Nun ist das Stichwort schon gefallen: Neckargemünd.
Der vollständige Name wurde im Manuskript getilgt, läßt sich aber noch als Grete Henschel lesen. 21
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Und drücken mich die Sorgen, und wird mirs drauß zu kahl, geb ich dem R o ß die Sporen und reit ins Neckartal. 2 2 Selbstverständlich habe ich keinem R o ß die Sporen gegeben und bin auch nicht ins Neckartal geritten. Zum Reiten gaben mir später das Feldartillerie-Regiment von Peucker und der Weltkrieg ausreichend Gelegenheit, aber dann war es nicht das Neckartal, sondern das der Somme, wo es erheblich weniger freundlich zuging. Auch ging die Straßenbahn noch nicht nach Neckargemünd. So ritten Grete H . und ich meistens auf Schusters Rappen, mit oder ohne Mutter H., in die griechische Weinstube zu Menzer. Das war ein Lokal besonderer Art. Auf einer herrlichen Terrasse, die zum Neckar herausging, saß man abends und trank diesen einmaligen griechischen Wein, der einen auch in kleinsten Mengen schon in einen angenehmen Zustand versetzte. Bei einer Marke (sie führte den schönen Namen „Mavrodaphne") stand auf der Weinkarte „Von Nichtkennern nur mit Vorsicht zu genießen". Aber in Nekargemünd wurde man schon durch die Atmosphäre ein wenig trunken. Sommer, Jugend, nette Gesellschaft, den Kopf voll Rosinen und riesigen Hoffnungen für die Zukunft, da brauchte es nicht vielen griechischen Weines. Abends fuhr man dann immer mit dem letzten D - Z u g , der von Würzburg kam und von ehrsamen Reisenden gefüllt war, die eine Station nach dem Heidelberger Hauptbahnhof zurück. Ich erinnere mich, daß ich einmal beim Warten auf diesen Zug der Kellnerin auf der Station Neckargemünd eine lateinische Ansprache gehalten habe. Ich weiß nicht, ob sie davon viel verstanden hat, aber diese Kellnerinnen in und um Heidelberg waren ja Kummer und Schlimmeres gewöhnt. Wie wunderbar waren auch die Spaziergänge zur Stiftsmühle, wo einstmals auch Goethe eingekehrt war. Die Stiftsmühle lag auf dem rechten Ufer des Neckars, während Neckargemünd auf dem linken liegt. Von dort konnte man abends auch mit einem B o o t e zurückfahren. D o r t habe ich eine Kellnerin glühend geliebt, ohne ihr das je zu sagen. Soweit getraute ich mich wieder nicht. N u r photographiert habe ich sie. Inzwischen mag sie auch schon längst Großmutter geworden sein.
Etwas frei zitiert nach Josef Viktor von Scheffels „Der Trompeter von Säkkingen", Ende des 2. Stückes, w o der erste Vers jedoch lautet: „Und stechen mich die Dornen ...". 22
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Hier im Norden Deutschlands hat das Wort Kellnerin einen ganz anderen Klang. Im Süden Deutschlands sind das oft Mädchen aus gutem Hause, in der Schweiz nennt man sie ja sogar „Saaltöchter". In der Pfalz konnte man sich mit allen von ihnen auch immer vernünftig unterhalten. Die Stiftsmühle war nicht sehr weit von Heidelberg, und dorthin konnte man an jedem Wochentag auch abends gehen, wenn die Kollegs und die Seminare zu Ende waren. Von diesen Sommerabenden nahm man immer wieder die Kraft für die geistige Arbeit des nächsten Tages mit. Sonntag aber ging es dann meist hinaus in die weitere Umgebung, in das Neckarbergland und in den Odenwald. Unmöglich, sie alle zu beschreiben; nur einige Höhepunkte im Rückerleben. Zwischen Neckargemünd und Nekarsteinach liegen am rechten Neckarufer die Burgen der Landschade von Steinach 2 3 . Heute sind sie nur Ruinen bis auf die Minneburg, die wieder einigermaßen restauriert worden ist. [...] O d e r auf der anderen Seite des Neckars der Dilsberg, schon im Hessischen gelegen. N o c h bestanden ja 1907 die kleinstaatlichen Grenzen. Heidelberg und Neckargemünd waren badisch, und dort flaggte man rot-gelb, während man sich in Neckarsteinach schon im Hessischen befand und rot-weiß zu flaggen hatte. Beim Wandern erkannte man auch die Grenzen am Straßenpflaster, denn jeder Staat bewies auch auf diesem Gebiete sein eigenes Dasein. Auf dem Dilsberg hatte man den Eindruck, daß das Mittelalter noch ganz vorhanden sei, gewissermaßen ein verkleinertes Rothenburg, nur auf einem Berge gelegen. [...] Auf all diesen Ausflügen führte ich in reichlichem Umfange schönes Schreibpapier mit mir, und selten kam ich ohne ein Gedicht heim. Ein Teil dieser Gedichte ist in einem Bändchen, das 1910 unter dem Titel „Singen und Wandern" erschien, veröffentlicht worden 2 4 . Ein Teil der Gedichte ist auf unerklärliche Weise abhanden gekommen. In meinem jugendlichen Dichterehrgeiz bildete ich mir ein, daß, berauscht von ihrer Schönheit, das Hausmädchen der Frau Waitzmann sie an sich genommen hat. [...] Schön waren Wanderungen im Odenwald. Die Menschen jener Landschaft machten sehr viel her von der H ö h e des Malchen oder Melibocus. Für uns aus Schlesien, die wir an die H ö h e n des Riesengebirges gewöhnt waren, waren das natürlich keine Berge, sondern nur Hügel. Aber das Liebliche der Landschaft hielt gefangen. Dazu kam noch, daß auch der Odenwald voll von historischen Erinnerungen war. D a lag irgendwo im Walde eine Riesensäule. Wir erfuhren, daß römische Steinmetzen sie
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Die Landschad von Steinach waren eine Familie der alten Reichsritterschaft. Vgl. SV N r . 3.
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mitten in der Arbeit hatten liegen lassen, weil die Germanen einbrachen. Seitdem war diese Säule nicht mehr vom Platze gerückt worden. Betrachtete man sie, so hatte man geradezu das Gefühl, im Beginn der Völkerwanderung zu stehen, wie wenn die Jahrtausende zurückwichen. Oder es ging hinaus zum Rodensteiner. Wem steigen da nicht sofort Scheffels unsterbliche Verse auf: „Raus da, raus da, raus aus dem Haus da!" 2 5 Man sah den wildgewordenen Rodensteiner durch die Gegend toben und rufen: „Gibts nirgends mehr einen Tropfen Wein, des Nachts um halber zwölf?" Uberhaupt war Victor von Scheffel ein guter Wanderkamerad. Ich habe viele Denkmäler gesehen, im allgemeinen gleichen sie ja einander wie ein Ei dem anderen. Aber das Scheffeldenkmal auf dem Heidelberger Schloßberg ist doch in seiner Art etwas Besonderes. Ist es nicht so, als ob der Dichter eben im Begriff wäre, wieder herunterzugehen und durch sein geliebtes Land zu wandern? Es gibt in Deutschland noch ein zweites derartiges Denkmal, das mich ähnlich berührt hat. Es ist das des Joseph von Eichendorff im Breslauer Scheitniger Park, auch er ein begeisterter Künder des Wanderns. Es gibt doch keine bessere Möglichkeit, Landschaft zu erleben, als sie sich zu erwandern. Bei solchen Wanderungen durch Odenwald und Neckarbergland winkten immer wieder schöne und stimmungsvolle Einkehrstätten. Eine der berühmtesten die Krone in Auerbach an der Bergstraße. Überhaupt diese Bergstraße! Im Blütenschnee des Frühjahrs! Mitten im Odenwald lag einstmals ein souveräner Staat der Grafen von Erbach-Erbach. Er ist wohl dem Reichsdeputationshauptschluß zum Opfer gefallen, der alle diese kleinen Staatswesen von der Landkarte strich. Aber bis zu einem gewissen Grade schien man davon keine Kenntnis genommen zu haben, denn noch immer gab es in den Sommern 1907 und 1908 gräflich Erbachsche Hofschuster, noch immer träumte diese Residenz ein besonderes Dasein. Manchmal legt man sich die Frage vor, ob die Menschen in diesem kleinen Staatswesen ohne Technik und ohne „Errungenschaften der Neuzeit" nicht erheblich glücklicher waren als wir. [...] Manchmal aber lockte nicht nur die Natur. Die badische Staatsbahn hatte die segensreiche Einrichtung der Kilometerhefte geschaffen. Man konnte einfach tausend Kilometer kaufen, und wenn man verreiste, wurde die entsprechende Kilometerzahl abgebucht. Die Eltern bewilligten ein solches Kilometerheft in der Regel außerhalb des Wechsels, wobei ich J. V. von Scheffel: Die Lieder vom Rodenstein; in: J. V. von Scheffels Gesammelte Werke in sechs Bänden. Mit einer biographischen Einleitung von Johannes Proelß. Stuttgart o. J., S. 203-213. 25
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betonen will, daß meiner so ausgiebig bemessen war, daß ich ihn nicht aufbrauchte und einen erheblichen Teil in Büchern anlegen konnte. Ich bin in meinem Leben immer mit dem Geld ausgekommen, was mir vieles erleichterte. Es lockten also auch die herrlichen, nahegelegenen, von Geschichte erfüllten Städte des Umkreises. Jede Stadt ein Sonntag, jede Stadt eine Welt. Damals war ich unter anderem in Straßburg, das noch deutsch war und heute ja wieder deutsch ist26. Dort, wo Johann Wolfgang von Goethe den Eindruck des Straßburger Münsters geschildert hat, habe ich nur zu schweigen27. Als Juden ergriff mich besonders die Gestalt der Synagoge, die neben der Gestalt der Kirche [der „Ecclesia"] am Portal des Münsters angebracht ist. Ein anderer Ausflug ging nach Speyer. Während es in Straßburg die Welt der Gotik war, die die Seele erfüllte, war es in Speyer der romanische Dom der salischen Kaiser, der in seiner gewaltigen Geschlossenheit mindestens so stark wirkte. Und wenn ich zu den Kaisergräbern hinabging, die 1689 geschändet wurden, dann wurde jede Gestalt lebendig, keine vielleicht stärker als die Heinrichs IV., von dem wir im Seminar aus der Chronik Lamperts von Hersfeld28 soviel erfuhren. Speyer beherbergt aber auch nicht unwesentliche Erinnerungen jüdischer Geschichte. Es war eine der ältesten Gemeinden auf deutschem Boden29. Wenn auch das alles naturgemäß sehr viel bescheidener war, denn unsere Vorfahren waren klug und türmten ihre Bauwerke nicht gen Himmel, so machte es gerade in dieser Bescheidenheit einen die Seele bewegenden Eindruck: das Judenbad in Speyer und der Raschi-Stuhl in Worms. Gewiß, damals sagte mir der Name Raschi noch nicht allzuviel.
2 6 Straßburg war vom 19. Juni 1940 bis 25. November 1944 von deutschen Truppen besetzt. 2 7 In seiner Straßburger Studentenzeit 1770/71 verfaßte Goethe unter dem Eindruck des Münsterbaues seine erste Prosaschrift: „Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach". 2 8 Der Mönch Lampert aus dem Kloster Hersfeld verfaßte eine Chronik der Jahre 1040 bis 1077, die zu den wichtigsten Quellen der Regierungszeit Kaiser Heinrichs IV. zählt. 2 9 Im Jahr 1084 wurde den Juden in Speyer durch ein bischöfliches Privileg innerhalb ihres Siedlungsbereichs ein Leben nach jüdischen Gesetzen garantiert. Vgl. Geschichte der Juden in Speyer. Speyer 1990 ( = Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte, Heft 6).
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Erst viele Jahrzehnte später, als ich frei von den Amtspflichten, mich stärker rein jüdischen Stoffen zuwandte, habe ich zu der großen Gestalt Raschis, des Kommentators der Tbora, nähere Fühlung bekommen30. Unseren Vorfahren war Chumisch mit Raschi ein Begriff. Das Fünfbuch mit der Erklärung des größten Gelehrten, den die Zerstreuung hervorgebracht hat. Und wenn über sie irgendeine Not kam, so fanden sie immer ein Wort von Raschi, das ihnen weiterhalf. Wenn ich auch damals als junger Student alles das noch nicht wußte, als ich den Raschi-Stuhl sah, wo er einst in Worms gelehrt haben soll, so blieb doch in der Seele der Samen, der später aufging. Unweit von Speyer lag Schwetzingen; Speyer in der bayrischen Pfalz, Schwetzingen schon im Badischen, nicht so sehr berühmt durch seine historischen Erinnerungen, als durch ein reizvolles Schloß und durch seine berühmte Spargelzucht. Auch befindet sich im Park von Schwetzingen eine Moschee, von der uns erzählt wurde, daß französische Kriegsgefangene 1870 und 1871 überaus glücklich waren, als sie hier beten durften. Konnte die Seele eines jungen Menschen das alles bewältigen? Mag sein, daß es manchmal ein wenig viel war. Aber damals empfand man das nicht. Man trank das in sich hinein, froh und dankbar, daß man es sehen durfte. Die Pfingstferien brachten die erste Reise nach Italien. Mit einem gleichgestimmten Kommilitonen, Karo, fuhr ich los. In Basel betrat ich Schweizer Boden. Ich stand auf der Rheinbrücke, ohne damals zu ahnen, was mir diese Brücke später einmal bedeuten würde, als ich das Erlebnis der Herzischen Schöpfung des Zionismus haben durfte31. Damals sah ich das Böcklin-Museum. Dann ging es weiter nach Luzern, wo ich an einem Regenabend, aber noch eindrucksam genug, Thorwaldsens berühmtes Denkmal des Löwen von Luzern sah, jenes Denkmal der Schweizer Treue, errichtet für die Söldner, die während der großen französischen Revolution für Ludwig XVI. starben. Die Axenstraße am Vierwaldstätter See sind wir zum Teil gewandert. Hier begleitete uns [der Schöpfer des] Wilhelm Teil, der diese Dichtung schuf, ohne jemals den Vierwaldstätter See gesehen zu haben. Dann trug uns die Gotthardbahn in unzähligen Kehren hinauf nach Göschenen. In Göschenen waltete damals Der Rabbi Salomo ben Isaak (Raschi) hatte Mitte des 11. Jahrhunderts an der Wormser Synagoge studiert. Seine Bedeutung als Exeget erlangte er aber erst an der von ihm gegründeten Talmud-Hochschule in Troyes. 31 Basel war der Tagungsort zahlreicher Zionistenkongresse seit 1897. 30
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der Schweizer Dichter Ernst Zahn seines Amtes als Bahnhofswirt, ohne daß wir das wußten. Vielleicht hat er uns eigenhändig einen Teller Suppe eingeschenkt, als wir dort im Schneegestöber ankamen. Ernst Zahn hat sehr lange zu meinen Lieblingsschriftstellern gehört. Wir haben in Göschenen übernachtet, was nur die wenigsten taten; die eiligen Reisenden blieben im durchgehenden D-Zug. Aber ich finde immer, daß gerade das, was nicht alltägliches Reiseerlebnis ist, oft zum Schönsten werden kann. So standen wir ergriffen vor dem Denkmal, das den Opfern errichtet wurde, die bei der Schaffung dieser ersten Tunnelverbindung zwischen Deutschland und Italien ihr Leben gelassen hatten. In einem bescheidenen Gasthaus blieben wir zur Nacht, um am nächsten Tage durch die Schöllenenschlucht nach Andermatt heraufzusteigen. Vielleicht muß man dem heutigen Leser sagen, daß das noch eine völlig autolose Zeit war und man nirgends beiseite springen mußte [wie später], wenn so ein stinkendes Ungetüm einem den Schmutz der Landstraße ins Gesicht blies. Durch diese Schlucht tobte die Reuss. Man sah Schweizer Soldaten bei der Übung; man sah die Löcher, wo die Geschütze in den Fels hineingebettet waren. Wachsam hütet die Schweiz ihre Neutralität, die bis zum heutigen Tage noch nicht verletzt worden ist. Aber in dieser Schlucht hat in den Zeiten der Koalitionskriege auch einmal eine Schlacht gewütet; viele Russen sind in das tobende Wasser hinabgestürzt worden. Ein Kreuz, das den eigenartigen russischen Doppelbalken aufweist, kündete von diesem vergangenen Ereignis 3 2 . Von Andermatt wanderten wir wieder nach Göschenen herunter, und nun ging es durch den Gotthard. Damals waren die Züge noch nicht elektrisiert, und die Fahrt beanspruchte eine gewisse Zeit. In Airolo, das zum Schweizer Kanton Tessin gehörte, aber doch schon ein Stückchen Italien war, schien, wie es sich gehörte, programmäßig die Sonne. Ich möchte nur einzelne Stationen dieser Italienfahrt nennen: Locarno mit der Madonna del Sasso und dem weiten Blick über den See, die Fahrt über diesen, die italienische Zollkontrolle an Bord. Wie harmlos waren damals die Grenzübertritte! Mailand war eine gewisse Enttäuschung. Der riesige Marmordom konnte mir wenig sagen, und von dem Abendmahl Leonardo da Vincis war kaum noch etwas zu sehen. Ziemlich entsetzt war ich von dem C a m p o santo, denn die Italiener pflegen ihre Toten auf den Grabdenkmälern wie im Leben darzustellen. Diesem Eindruck war meine junge 1799 errangen die R u s s e n unter General S u w o r o w hier einen vielbeachteten Sieg über die F r a n z o s e n . D e r v o n Stalin 1942 gestiftete S u w o r o w - O r d e n erinnerte an jenen K r i e g s r u h m . 32
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Seele kaum gewachsen. Selbstverständlich wollte ich auch in die Synagoge gehen. Es muß wohl gerade ein Sabbat gewesen sein, als ich dort war. Als ich mich nach vielen Mühen soweit durchgefragt hatte, war der G'ttesdienst zu Ende. Bei meiner jüdischen Einstellung war es selbstverständlich, daß, wo immer ich war, ich auch den Spuren nachging, die das Judentum der Gegenwart oder Vergangenheit in dem Orte gelassen hatte. Der Rückweg führte nach Como und dann über den Corner See. In Bellagio erlebte ich das erste Mal gänzlich südliche Natur. Vom Corner See wanderten wir auf Schusters Rappen hinüber nach dem Luganer See, wo wir wieder Schweizer Boden betraten. Den Schluß der Reise krönte ein Sonnenaufgang auf dem Rigi. Wir übernachteten nicht auf Rigikulm, weil das unsere Kasse zu sehr belastet hätte, sondern ein wenig tiefer auf Rigistaffel, wodurch wir gezwungen waren, noch vor Sonnenaufgang auf die Bergspitze zu steigen, um das Wunder der aufgehenden Sonne zu erleben. Ein alter Schweizer wollte mir die einzelnen Gipfel erklären und war sehr gekränkt, als ich ihn bat, dies nicht zu tun. Lag mir doch mehr daran, das Gesamtbild in mir aufzunehmen, als Namen zu hören, die man doch vergaß. Ich vermag über die Größe dieses Sonnenaufgangs nichts zu sagen; es gibt Dinge, die auch dem Beredten unaussprechbar bleiben und vor denen man in Ehrfurcht verstummen muß. In Gedanken begleite man uns zwei junge Studenten, im Geschwindschritt den Berg hinuntereilend, über diese Nagelfluhblöcke, um den Zug zu erreichen. Am nächsten Tage wollte man wieder im Kolleg sein. Aber eine Rückkehr nach Heidelberg bedeutete ja nicht die Rückkehr in den Alltag, wie von mancher anderen Reise. So ging das Semester weiter und allzu schnell seinem Ende entgegen. Aber ich kehrte als ein anderer Mensch heim, hatte ich mich ja zum ersten Mal frei gemacht, zum ersten Mal längere Zeit wirklich auf eigenen Füßen gestanden. Ich fuhr von Heidelberg über Breslau direkt nach Zuckmantel. Am Hauptbahnhof erwartete mich mein Bruder Martin, wenn ich mich recht erinnere, um mich mit etwas Geld auszustatten, weil ich wahrscheinlich alles in Büchern angelegt hatte. Ich glaube, Mutter war ein wenig entsetzt, als ich in Zuckmantel eintraf, denn ich hatte mich sehr verändert und war wohl auch äußerlich ein anderer geworden, hatte etwas die Eierschalen des bürgerlichen Daseins abgestreift. Zuckmantel war mir ein vertrautes Milieu, auch wenn es mir jetzt nach Heidelberg nicht mehr das war, was es mir vor Jahren gewesen ist. Kaum war ich dort angekommen, so korrespondierte ich eifrig mit dem schon genannten Dr. Cartellieri wegen einer Arbeit, denn ich hatte bald das
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Bedürfnis zu eigenem wissenschaftlichen Schaffen und wollte nicht nur rezeptiv tätig sein. Er wies mich auf die Gestalt des unglücklichen Sohnes Kaiser Friedrichs II., Heinrich VII. hin. Ich habe auch einige Quellensammlungen angelegt, ohne daß daraus etwas geworden ist. Das Wintersemester 1907/08 verbrachte ich wieder in Breslau. Hier hatten an der Universität innerhalb meiner Fakultät einige wichtige Änderungen Platz gegriffen, die für meine Entwicklung und mein Studium von größter Bedeutung waren. Anstelle des Professors Freudenthal war Eugen Kühnemann auf den Lehrstuhl für Philosophie berufen worden. Kühnemann war bis dahin Professor an einer hochschulähnlichen Institution in Posen gewesen. Mit ihm bekam ich einen akademischen Lehrer von einem ganz neuen Zuschnitt. Ich weiß wohl, daß die Gestalt Eugen Kühnemanns wissenschaftlich sehr umkämpft ist, ich weiß, daß man ihm immer wieder nachsagte, er habe außer seinem Buch „Vorsokratiker" 33 nichts geschrieben, was auf eigenen Forschungen beruhte. Der Grund aber, warum die Kollegen so hinter ihm her waren, war ein ganz anderer. Er gehörte nicht zu den zünftigen Gelehrten, die alles, was sie vortrugen, nur aus dem Zettelkasten holten. Er war der geborene Führer der Jugend. Wenn er ein Kolleg ankündigte: „Aus dem modernen Kampf um die Lebensanschauung", dann strömten zu diesem fortreißenden Lehrer die Hörer aller Fakultäten. Der Neid ist nun einmal eine nicht unwesentliche Eigenschaft des Menschen. Auch Universitätsprofessoren sehen es nicht gern, wenn der andere es sehr voll hat. Kühnemann mußte häufig im Auditorium maximum der Universität lesen, das im ausgebauten Dachgeschoß des herrlichen Gebäudes an der Oder liegt. Er gab eben den jungen Seelen etwas, denen es nicht nur darauf ankam, sämtliche Philosophen mit ihren Systemen aufzählen zu können, sondern die sich auch darum bemühten, zu ihnen innerlich Stellung zu nehmen. Es ist kein Wunder, daß für eine so hinreißende Persönlichkeit auch die weiblichen Studenten schwärmten und ihn geradezu anhimmelten. Man hat es nicht gern, wenn jemand aus der Reihe marschiert. Da überall geklatscht wurde, so sprachen sich auch diese Beziehungen herum. Man nahm an seinem Lebenswandel Anstoß. So ist Kühnemann niemals Rektor der Breslauer Universität gewesen, was einen riesigen Affront bedeutete, da es im allgemeinen üblich war, daß jeder ordentliche Professor nach einem bestimmten Turnus zu dieser Würde herangezogen wurde.
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E. Kühnemann: Grundlehren der Philosophie. Studien über Vorsokratiker, Sokrates und Plato. Berlin 1899.
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Kühnemann zog auch die Studenten, besonders seine Seminarmitglieder, zu denen ich auch in diesem Semester gehörte, in sein Haus. Er wohnte im sogenannten „Alten Schloß" in Krietern, einem etwas altmodischen Gemäuer, das aber so recht zu ihm paßte. Dort traf man sich Sonntagnachmittag. Es herrschte in diesem Hause eine Geselligkeit edelster Art. Immer ging man von dort weg, reich an Anregungen. Vielleicht war es für die Frau Professor nicht so einfach zu sehen, wie ihr Mann von seinen weiblichen Schülerinnen vergöttert wurde. Das ist nun auch ein Teil des Schicksals, das eine Frau tragen muß, deren Mann ein wenig über den Durchschnitt hinausragt. Ich habe mit der nun schon lange verstorbenen Frau Professor Kühnemann besonders während des Weltkrieges in einer regen Korrespondenz gestanden, und ich habe sie immer sehr gern gehabt. Kühnemann hat übrigens im hohen Alter noch einmal geheiratet, und aus dieser Ehe ist auch noch ein Kind hervorgegangen. Ich möchte nicht ins Schwärmen geraten, aber ich bin immer für Kühnemann eingetreten, wenn die andern von ihm abrückten. Mit seiner Fähigkeit des Sichbegeisterns für alle neuen Gedanken mag es wohl auch zusammenhängen, daß er politisch sehr wandlungsfähig war. Ich möchte nicht falsch verstanden werden, wenn ich sage, daß er den Mut zur Inkonsequenz hatte. Ist es nicht im Grunde sehr einfach, sich verhältnismäßig früh auf eine sogenannte Weltanschauung festzulegen und sie dann sein Leben lang durchzuhalten? So war Kühnemann 1918, als das Kaiserreich abgewirtschaftet hatte, begeistert für die deutsche Revolution, für die er sich in Vorträgen einsetzte, wie er auch während des Weltkrieges für Deutschland durch Amerika gefahren war, wo er in unzähligen Orten gesprochen hatte. Als dann 1933 die nationalsozialistische Revolution kam, da lag es auf seiner Linie, auch für diese zu wirken 34 . Ich weiß wohl, daß man all das verschieden sehen kann. Das, was ich hier andeute, soll keine Anklage und keine Verteidigung sein, sondern nur der Versuch der Erklärung seines Wesens. In seinem philosophischen Seminar drang er in die letzten Tiefen menschlicher Erkenntnis ein, was mich, der ich stark vom Gefühlsmäßigen her zu diesen Dingen kam, häufig störte, und was ich schon an anderer Stelle angedeutet habe, war nur die
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Kühnemann hatte zur Machtergreifung Hitlers einen offenen Brief verfaßt, der im „Völkischen Beobachter" abgedruckt wurde. Danach erkannte er im jugendlichen Heldentum Hitlers die Urkraft eines Siegfried wieder oder auch die eines George Washington. Nachzulesen in Kühnemanns Lebenserinnerungen: Mit unbefangener Stirn. Mein Lebensbuch. Heilbronn 1937, S. 310.
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Tatsache, daß diese Diskussionen mitunter ins Uferlose gingen und dann unfruchtbar wurden. Der andere Wechsel von Bedeutung für mich war, daß Georg Friedrich Preuß den Lehrstuhl für neuere Geschichte an Stelle des emeritierten Professors Kaufmann erhalten hatte. Dieser akademische Lehrer kam aus München. Er war noch ein junger Mann, äußerlich der Typ des ehemaligen Corpsstudenten mit einem sehr zerhauenen Gesicht. Man erzählte sich, daß er auch als Professor keine Mensur ausließ und immer zuguckte. Preuß gehörte zu den sehr sauberen Menschen preußischer Prägung, vielleicht daß er seinen Namen als besondere Verpflichtung empfand. Er ist übrigens als Offizier zu Beginn des Weltkrieges gefallen. Sicherlich hat Georg Friedrich Preuß nicht zu den ganz großen Erscheinungen deutscher Wissenschaft gehört; dazu ist ja leider auch das Ende seiner Karriere durch seinen Heldentod zu früh gekommen, aber seine Arbeitsund Vortragsweise war eine in jeder Beziehung saubere und angenehme. Wir haben sehr gut miteinander gestanden. In jenem Semester hörte ich bei ihm nicht nur ein sogenanntes Publikum über „Seeherrschaft und Welthandel im Mittelalter", das dazu beitrug, daß ich mich später im besonderen marinegeschichtlichen Forschungen widmete, sondern auch ein großes Kolleg über die Entwicklung des preußischen Staates von 1640-1740. Vor allem aber nahm ich an seinen historischen Übungen teil, die er über die Schlacht auf dem Lechfelde abhielt. Diesem Seminar verdankte ich meine ersten wissenschaftlichen Publikationen, die ich (eine gewisse Seltenheit) schon als Student herausbringen konnte. Da ich noch keinerlei Namen hatte, hatte sich Preuß die größte Mühe gegeben, sie unterzubringen. So erschien einer dieser beiden Aufsätze in den Forschungen zur Geschichte Bayerns35, ein anderer in der wissenschaftlichen Beilage zur Allgemeinen Zeitung 36 . Es waren beides sehr angesehene Organe, und ich war natürlich sehr stolz auf diese Veröffentlichungen, die ja auch das erste von mir in der Wissenschaft verdiente Geld darstellten. Sachlich handelt es sich um folgendes: Die Quellenüberlieferung für die Schlacht auf dem Lechfelde, die im Jahr 955 stattgefunden hat, war eine sehr unsichere, und die verschiedensten Meinungen waren dazu geäußert worden. Die Hauptstreitfrage war, ob sie auf dem rechten oder linken Ufer des Lech stattgefunden hat. Ich weiß wohl, wenn mir 35 36
Vgl. SV Nr. 1. Der erneute Abdruck dieses Artikels konnte nicht ermittelt werden.
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in diesem Augenblick der berühmte kleine Moritz über die Schulter gucken würde, wenn ich das jetzt anno 1940, im zweiten Jahre dieses furchtbaren Krieges, diktiere, im achten Jahre des Dritten Reiches, so würde er sagen: „Herr Lehrer, haben Sie sonst keine Sorgen?" Doch mag der kleine Moritz ein sehr kluger Junge sein, hier hat er doch nicht recht. Alle wissenschaftliche Erkenntnis baut sich eben aus dieser selbstlosen Kleinarbeit auf, und gerade von der Historie hat man ja oft gesagt: Historia magistra vitae. Für den jungen Studenten aber bedeutete die selbständige Abfassung einer derartigen Untersuchung auch eine außerordentliche Schulung, denn nur an der eigenen Arbeit kann man Beherrschung der Methode lernen. Ich machte übrigens bei der Veröffentlichung dieser Arbeit auch die erste Bekanntschaft mit einem gewissen wissenschaftlichen Antisemitismus, der übrigens damals zu den Seltenheiten gehörte. Ich hatte im Einverständnis mit Professor Preuß unter anderem auch gegen die Auffassung eines Obersten a.D. von Wallmenich polemisieren müssen 37 . Wie das nun im Laufe solcher Polemiken üblich ist, nahm er dann noch einmal das Wort und leitete seine Antwort ein etwa mit den Worten: „Nachdem Dietrich Schäfer und andere hierzu Stellung genommen haben, äußert sich nun auch ein Herr Cohn" 3 8 . Mir erschien es gewiß unwürdig, daß man die Religion (heute würde man sagen die Abstammung) mit diesen Dingen in Zusammenhang brachte. Aber seither haben wir ja anderes reichlich erlebt, wenn ich auch überzeugt bin, daß einmal wieder eine Zeit kommen wird, w o nur die wissenschaftliche Leistung zählt. Zur Ehre der deutschen Wissenschaft muß auch gesagt werden, daß auch heute noch viele Gelehrte, soweit sie es irgend dürfen, auf dem Standpunkt stehen, daß die Arbeit entscheidet, und nicht die Abstammung. Man wäre vielleicht geneigt zu fragen, warum Georg Friedrich Preuß, den man übrigens nicht mit dem Professor H u g o Preuß, dem jüdischen Schöpfer der Reichsverfassung vom 1919, verwechseln darf, gerade an mir einen solchen Narren gefressen hatte. Ich glaube, daß die Antwort nicht in der Richtung meines bescheidenen Könnens liegen würde. Es hing wohl auch mit der Tatsache zusammen, daß an der Breslauer Universität 37
Karl von Wallmenich: Die Ungarnschlacht auf dem Lechfelde; in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München), Nr. 179 (8. 10. 1907), S. 33-36; Nr. 180 (9. 10. 1907), S. 43-46; Nr. 181 (10. 10. 1907), S. 51-53. 38 Die Reaktion von Wallmenichs auf den Artikel Cohns konnte nicht ermittelt werden.
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nicht viele Geschichte studierten, deren wissenschaftliche Interessen so groß waren. Bei mir mag er den wissenschaftlichen Eros schon früh gespürt haben. Ich bin dann Georg Friedrich Preuß' erster Doktorand geworden; doch darüber erst später. Immerhin war es doch recht interessant, daß zwei Menschen wie wir beide, die gänzlich verschieden waren, sich so gut verstanden. Weiter hörte ich bei Cichorius und nahm diesmal auch an seinem althistorischen Seminar teil, habe wohl auch schon Referate übernommen. Hier kam mir sehr zugute, daß ich am Johannesgymnasium eine sehr gründliche Schulung in den klassischen Sprachen erfahren hatte. Cichorius hielt uns zu einer sehr korrekten Behandlung der Quellen an, etwas, was ich später, als ich am Jüdisch-Theologischen Seminar vorübergehend eine akademische Aufgabe zu erfüllen hatte, stets auch von meinen Studenten verlangte. N u r der kann ein guter Historiker sein, für den die Quelle den Ausgangspunkt jeder Erkenntnis darstellt. Die in Heidelberg begonnenen Sanskritstudien führte ich in Breslau weiter, wobei ich wiederum das Glück hatte, in den Kreis einer bedeutenden Persönlichkeit zu treten. Es war dies Alfred Hillebrandt 39 . Hillebrandt war Vertreter der Universität im preußischen Herrenhaus, ein Mann altkonservativer Prägung, von einer Vornehmheit der Gesinnung, wie sie wenige aufzuweisen haben, dabei eine internationale Berühmtheit. Das Studium des Sanskrit ist für einen Gelehrten vielleicht das Entsagungsvollste. Als wir (natürlich auch nur wenige Leute) in der Bibliotheca Linckiana 40 hörten, sagte er uns gleich zu Beginn: „Ich warne Sie, sich das Studium des Sanskrit als Hauptfach zu wählen, Sie werden auf diese Weise niemals zu einem Broterwerb kommen." Ein solcher Ausspruch bedeutet für einen Gelehrten die letzte Selbstbescheidung, will doch der Universitätsprofessor vor allem einen Nachwuchs schulen, damit sein Name nach seinem Tode geistig fortgepflanzt wird. Welch großen Schülerkreis hat zum Beispiel mein Lehrer Hampe hinterlassen! Hillebrandt ist besonders durch seine Bearbeitung der Veda berühmt geworden. Es ist interessant, daß er seine ganze wissenschaftliche Arbeit
39
Vgl. E. Kornemann: Alfred Hillebrandt und die Universität Breslau. Breslau 1928 sowie den biographischen Abriß von C. Appel in: Schlesische Lebensbilder. Hg. von der Historischen Kommission für Schlesien. Bd. 3. Breslau 1928, S. 402412. 40 Die Bibliotheca Linckiana war eine Schenkung von Dr. Lincke, Dresden, an das Institut für Sanskrit.
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dem jüdischen Verlag M. & H. Marcus anvertraute 41 , dessen Chef damals Max Marcus, der sogenannte alte Marcus war 42 . Dieser Max Marcus war konservativer Jude, so wie Hillebrandt konservativer Preuße gewesen ist. Mit Max Marcus hatte ich auch später, als dort mein erstes Buch erschien, sehr viel zu tun. Er war ein etwas eigenartiger Mensch, aber sehr sauber und nicht nur von dem Gedanken erfüllt, Geld zu verdienen, was ja auf der anderen Seite schließlich das Recht des Verlegers ist. Doch zurück zu Alfred Hillebrandt. Wir lernten bei ihm nicht nur die gewiß nicht einfache Sanskritgrammatik; wir bekamen auch einen Einblick in die einzigartige Welt indischen Denkens, indischer Philosophie, indischer Dichtung. Ich saß sehr gern in diesen weltabgeschiedenen Räumen des Seminars für orientalische Sprachen. Es war in einem besonders alten Nebengebäude der Universität untergebracht, wo sich unten der Fechtsaal befand. In diesem Hause hatte einstmals 1813 der Professor Steffens die Studenten zur Teilnahme an den Freiheitskriegen begeistert 43 . Unten in dem Fechtsaal war ich auch tätig, denn wir waren vom AMV aus verpflichtet, uns mit Mensurdegen gegenseitig auf den Kopf zu schlagen, wobei man ja eine eiserne Haube aufhatte. Es gab einen ausgezeichneten Fechtlehrer, und wenn der einen verkloppte, so war für die nächste Stunde an ergiebige Sanskritstudien nicht zu denken. Lieber, als dieser Beschäftigung nachzugehen, träumte ich mich in die Welt des Hitopadega 44 , der freundlichen Belehrung, las ich das schöne Gedicht von Nal und Damajanti oder die Sakuntala, jenes Drama, das einst auch Goethe begeistert hat 45 . Dem Historiker fiel bei der Beschäftigung mit indischem Wesen vor allem die Tatsache auf, daß die
41 Die Breslauer Verlagsbuchhandlung M. & H . Marcus wurde 1862 von Max und Hermann Marcus begründet. Seit 1898 war Max Marcus (1862-1929) alleiniger Inhaber, seit 1922 bis zu dessen Auswanderung 1936 auch dessen Sohn Theodor Marcus (geb. 1894). Zu den letzten bedeutenden Veröffentlichungen des Verlages gehörte 1934 die Germania Judaica. Uber den Verlag und seine Familie siehe Theodor Marcus: Als jüdischer Verleger vor und nach 1933 in Deutschland; in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 7 (1964), S. 138-153. 4 2 Uber seine Stellung in der jüdischen Gemeinde Breslaus vgl. A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 31. 4 3 Das 1734-1755 erbaute Universitätskonvikt (Josephskonvikt) in Breslau. 4 4 Hitopadescha, ein altindisches Fabelbuch. 4 5 Sakuntala. Drama des indischen Dichters Kalidasa aus dem 5. Jahrhundert. Goethe schrieb darauf das Gedicht „Sakontala".
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Inder gänzlich geschichtslos sind. Man besitzt die herrlichsten ihrer Dichtungen und weiß mitunter nicht, in welcher Zeit sie entstanden sind. Dadurch erklärt sich wohl auch das Geheimnis der Erhaltung des indischen Volkes durch alle Wechsel der Jahrtausende. Ich war damals in einer gewissen Versuchung, zum Sanskrit überzugehen, bedauere aber nicht, daß mein Schicksal einen anderen Weg gegangen ist. Mein Sohn hat sich dann auch dem Sanskrit verschworen, was mir Freude bereitet hat. Ich glaube, daß, wenn man zum Sanskrit übergeht, eine gewisse Gefahr besteht, in dieser Welt zu versinken. Mein ältester Sohn Wolfgang ist aber in anderer Beziehung ein aktiverer Mensch, als ich es gewesen bin. Für ihn bestanden diese Gefahren nicht in dem Umfang wie für mich. Von der gütigen Persönlichkeit Alfred Hillebrandts habe ich auch menschlich außerordentlich viel gehabt. Wie stolz war ich, daß ich durch ihn eine Sanskritprämie der Universität bekam. Das ist vielleicht kein so großes Verdienst, wie es zunächst scheinen möchte, da wir ja nur wenige des Sanskrit Beflissene waren. So kam schließlich jeder, der sich Mühe gab, einmal zu dieser Prämie. Aber es war trotzdem ein stolzes Gefühl, als ich mir den Betrag von der akademischen Quästur abholen durfte. N o c h eine letzte Bemerkung zu diesem Lehrer. Auch er lud seine Studenten einmal zu einem kleinen gemütlichen Zusammensein ein und zwar in die Räume der Zwingergesellschaft 4 6 . Als er uns diese Absicht mitteilte, sagte ich ihm: „Herr Geheimrat, da kann ich nicht mitkommen." „Warum?" „Die Zwingergesellschaft ist eine christliche Gesellschaft, die Juden nicht aufnimmt." „Wenn Sie als mein Gast hinkommen, ist das etwas anderes." „Auch dann möchte ich bitten, von meiner Anwesenheit Abstand zu nehmen." Daraufhin lud uns Hillebrandt in ein anderes Lokal ein. E r wollte mich nicht in einen Konflikt bringen. Ich fand sein Vorgehen besonders taktvoll. Hillebrandt ist (und das galt als eine besondere Ehre) im Jubiläumsjahr [1911] Rektor der Universität geworden. Ich bin noch einmal mit ihm in Berührung
Die Kaufmännische Zwinger- und Ressourcen-Gesellschaft war ein Zusammenschluß der christlichen Kaufleute. Ihr Gesellschaftsgebäude, der Zwinger, stand auf einem gleichnamigen Gelände der früheren Stadtbefestigung. H . Wendt: Das erste Jahrhundert der Kaufmännischen Zwinger- und Resourcen-Gesellschaft in Breslau 1805-1905. Breslau 1905. 46
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gekommen, als ich anläßlich dieser Feier die Geschichte des AkademischMedizinischen Vereins verfaßte und dazu auch die Akten der Universität benutzen wollte 47 . Bei Professor Heilborn, einem getauften Juden, hörte ich Deutsches Reichs- und Preußisches Staatsrecht, was für den Historiker ja von Bedeutung ist. Die Vorlesung aber hat keinen besonderen Eindruck bei mir hinterlassen, ebensowenig wie die Allgemeine Geographie bei Passarge. Das war für mich ziemlich der Höhepunkt des Stumpfsinns, wobei ich allerdings sagen muß, daß Passarge nach Tisch las und ich häufig eingeschlafen bin. Wir wohnten damals in Kleinburg. Die Zeit reichte nicht, mittags nach Hause zu gehen, so daß ich im Studentenheim aß. Das war übrigens für mich sehr lehrreich, weil ich, der wohlbehütete Sohn aus bürgerlichem Hause, einmal sah, wie die Kommilitonen lebten, die gezwungen waren, mit dem knappsten Wechsel auszukommen und deswegen auch mit diesem Essen vorlieb nehmen mußten, das an Kümmerlichkeit kaum seinesgleichen hatte. Man bedenke, es waren damals die reichsten Zeiten des kaiserlichen Deutschlands. Einen derartigen Mittagstisch sah man schon als den Höhepunkt sozialer Fürsorge an. Viel ist damals an dem Nachwuchs gesündigt worden, der schließlich doch einmal die Führerschicht des Volkes darzustellen hat. Passarge, um zu ihm zurückzukommen, las Geographie, vor allem vom Standpunkt des Naturwissenschaftlers. Das erschwerte seine Vorlesungen für mich sehr, da ich ehrlich genug bin zu sagen, daß ich von der Naturwissenschaft eben niemals etwas Ausreichendes verstand, was sicher ein Manko ist. Aber es ist nun einmal dem Menschen nicht gegeben, auf allen Gebieten gleichmäßig zu Hause zu sein. Auch bei Professor Drescher hörte ich wieder, diesmal über deutsche Aussprache, ebenso wieder bei Siebs über Geschichte der deutschen Literatur bis zum 12. Jahrhundert. [...] Zu Gesellschaften wurde ich viel eingeladen, und das hat mir auch Freude gemacht. Die Dame meines Herzens war in diesem Winter natürlich schon eine andere, vielleicht waren es auch mehrere, und die eine, an die ich in diesem Augenblick denke, ist schon lange nicht mehr auf dieser Erde, von der sie freiwillig abgetreten ist.
47
Vgl. unten S. 164.
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Den AMV mußte ich weiter mit meiner Anwesenheit beglücken und die älteren Bundesbrüder durch die Tatsache zu geringen Alkoholkonsums ärgern. Ich versuchte dieses erhebliche Manko dadurch auszugleichen, daß ich, so oft man es verlangte, einen wissenschaftlichen Vortrag hielt. Der AMV war ja eine wissenschaftliche Vereinigung. Wenn das auch keine allzugroße Rolle mehr spielte, so verlangten es die Statuten, daß dieser Brauch durchgehalten wurde. Mir war es immer noch lieber, „Spiritus" zu verspritzen, als ihn zwangsweise in mein Inneres zu vergießen. Sehr viele konnten ja auch diese Mengen gar nicht bei sich behalten und mußten sie wieder von sich geben. Ich habe niemals eingesehen, warum es nicht bequemer war, das Bier direkt in den Ausguß zu gießen, als diesen oft schmerzlichen Umweg zu machen. Allerdings muß ich betonen, daß ich in den Fragen des Gottes Gambrinus jeglicher Zuständigkeit ermangle. Die kleinen wissenschaftlichen Referate im AMV haben mir Freude gemacht. Man konnte sich das Thema selbst wählen, und ich suchte mir gern Grenzgebiete zwischen Geschichte und Medizin. So sprach ich zum Beispiel einmal im Anschluß an Untersuchungen des Breslauer Stadtbibliothekars Professor Markgraf über das „Breslauer Sanitätswesen im Mittelalter". Im Elternhaus ging das Leben seinen Gang weiter. Viel Sorge machte uns der jüngste Bruder Rudolf. [...] Ich bemühte mich, soweit ich es konnte, ihm den Vater zu ersetzen. Alles, was ich an Zeit aufbringen konnte, stellte ich ihm zur Verfügung, und ich bin mit ihm, so wie es einst Wolfsohn mit mir gemacht hatte, viel spazieren gegangen, um ihn dadurch zu beeinflussen. Aber alle meine Erziehungsversuche scheiterten besonders an meiner Schwester Erna. Wenn ich einmal etwas energischer durchgreifen wollte, um zu verhindern, daß er stets und an jeder Stelle seinen Willen durchsetzte, dann erschien sie immer mit den stereotypen Worten: „Laß doch den Jungen!" [...] Als das Frühjahr nahte, packte mich aufs neue der Wandertrieb, und ich konnte es durchsetzen, daß ich noch einmal nach Heidelberg zurückkehren durfte [...], w o ich diesmal bei einer anderen Wirtin, Plöck 101, meine Zelte aufschlug. Bei ihr hatte einstmals auch mein Bruder Franz gewohnt. Sie war die Frau eines Universitätsbuchbindermeisters und hatte, was nicht zu unterschätzen war, eine sehr nette filia hospitalis. Ich war aber damals noch so schüchtern, daß ich ihr nicht näher getreten bin. U m nicht unnötig bemitleidet zu werden, möchte ich betonen, daß ich das später bei einem Ferienkurse nachgeholt habe, wenn auch in bescheidenem Umfange. Ich hatte es auch mit diesem Quartier gut
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getroffen. Es hatte darüber hinaus den Vorteil, daß es noch näher an der Universität und unmittelbar neben der Universitätsbibliothek lag. Bei meinem Biereifer (so pflegte man damals in Studentenkreisen übermäßigen Eifer zu bezeichnen) rechnete ich selbst in Heidelberg, w o an sich schon die Entfernungen nicht groß waren, auch noch damit. An der Universität fühlte ich mich selbstverständlich sofort wie zu Hause. Im Lehrkörper hatte es manche Veränderungen gegeben, wie das bei dem Wandertrieb, der auch die Professoren zu packen pflegt, nicht vermeidlich war. So möchte ich zunächst von diesen meinen akademischen Lehrern im Sommersemester 1908 sprechen. Diesmal machte auf mich der Philosoph Wilhelm Windelband einen besonderen Eindruck. Man nannte seine Schüler im engeren Sinne, zu denen ich übrigens nicht gehörte, die Windelbanditen. Er las Einleitung in die Philosophie und besaß die Fähigkeit, schwierigste Probleme verständlich zu machen. Er legte Wert darauf, daß seine Studenten wirklich ein Stück Weltanschauung mit ins Leben hinausnahmen und stand damit in Gegensatz zu manchem der Neukantianer, bei denen es mehr auf die Begriffsspaltung als auf die Begriffszusammenfassung ankam. Windelband besaß nicht nur die Fähigkeit des Vortrags; er besaß auch die Fähigkeit der Darstellung. Sein Buch „Präludien" 4 8 hat mir manche philosophischen Skrupel geklärt. Die Gegenseite nahm ihn nicht so ganz ernst, vielleicht deswegen, weil er die Dinge nicht unnötig komplizierte. Ich bekenne, daß auch ein Buch wie Paulsens Einleitung in die Philosophie 49 mir sehr viel gab, ebenfalls ein Buch, über das die ganz Zünftigen mit einem Lächeln hinweggingen. Für den Studenten, der Philosophie nicht als Lebensberuf gewählt hat, ist es aber doch sehr wichtig, als akademischen Lehrer eine Persönlichkeit zu haben, die mehr zusammenfaßt als zergliedert. So setzte Windelband in Heidelberg auf das glücklichste die Tradition fort, die einst Kuno Fischer begonnen hatte. In meinem engeren Fachkreise war anstelle von Erich Mareks, von dessen Abschied aus Heidelberg ich im Sommersemester 1907 berichtet hatte, Hermann Oncken getreten. Hermann Oncken war der zweite berühmte Historiker, der diesen Namen trug. Er wurde von Menschen, die in der Geschichte der Geschichtsschreibung wenig Bescheid wußten, gern mit Wilhelm Oncken verwechselt, der damals schon lange tot war. 48
W . Windelband: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. Freiburg i. Br. 1884. 49 F. Paulsen: Einleitung in die Philosophie. Berlin 1892.
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Hermann Oncken hatte die Professur für neuere Geschichte und kam aus einer ganz anderen Weltanschauung als sein Vorgänger Erich Mareks. Das war ja das Schöne am akademischen Studium, daß man so verschiedene Menschen auf sich wirken lassen konnte. Hermann Onckens berühmtestes Buch war damals seine große Biographie über Ferdinand Lassalle 50 . Das bedeutete für mich besonders viel, da ich ja zu diesem Manne, der wie ich ein Jude aus Breslau war, schon seit frühester Jugend eine gewisse Zuneigung empfand. Oncken hat diese Biographie nicht als Sozialist geschrieben, der er parteimäßig nicht war, sondern als Geschichtsforscher. Es ist aber ein Werk entstanden, das bis zur Gegenwart nicht überholt worden ist. Hermann Oncken war nicht so sehr Künstler, wie das Erich Mareks gewesen ist. In unseren Studentenkreisen wurde häufig die Frage erörtert, ob der Historiker mehr Künstler oder mehr Wissenschaftler sein soll. Von seiten der Naturwissenschaften wurde uns ja überhaupt häufig der wissenschaftliche Charakter abgesprochen, was uns damals ärgerte, was ich aber heute verstehe. Letzten Endes hat eben jede Wissenschaft ihren eigenen Charakter. Die Begabungen der Menschen sind auch durchaus verschieden. Der eine Historiker bringt die Fähigkeit zur Analyse mit, der andere die zur Darstellung. N u r ganz wenige besitzen beides. Es ist von großer Bedeutung, wenn man schon frühzeitig seine Grenzen mehr oder weniger kennt. Am schwersten haben es vielleicht die, die glauben, beides zu besitzen und sich nicht gänzlich für die eine oder andere Seite entscheiden. Beim Historikerberuf bleibt auch die große Gefahr, daß man in seinem Zettelkasten erstickt und Zeit seines Lebens nicht aus den Exzerpten herauskommt. Uber mich selbst möchte ich hier kein Urteil abgeben und nicht sagen, was mir gelungen, was mir nicht gelungen ist. Das müssen einmal andere tun. Hermann Oncken las in einem großen Kolleg Allgemeine Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation. In einer einstündigen Vorlesung behandelte er Demokratie und Sozialismus, ein Gegenstand, den damals nur sehr wenige zum Thema einer akademischen Vorlesung zu wählen wagten. Im allgemeinen liebte man es, gerade um diese Dinge möglichst herumzugehen, um die oberen Kreise Deutschlands nicht zu verstimmen. Baden aber war ein Musterländle. Damals war anstelle des Großherzogs Friedrich I., der ein Schwager Kaiser Wilhelms I. war und sehr lange
50
H . O n c k e n : Lassalle. Eine politische Biographie. Stuttgart 1904.
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regiert hatte, sein Sohn Friedrich II. getreten. Heute gehört diese deutsche Kleinstaaterei längst der Geschichte an. Im allgemeinen ist es üblich geworden, über sie ein mehr oder weniger absprechendes Urteil zu haben. Doch hat auch das eine andere Seite. Ich möchte mich hier nur darauf beschränken, was sich vom Standpunkt der Universität dazu sagen läßt. Diese beiden Friedriche, Vater und Sohn, faßten die Universität als eine sehr persönliche, verpflichtende Angelegenheit auf und bemühten sich, für sie bedeutende Persönlichkeiten zu erhalten und zu verhindern, daß nicht alle Großen im Reiche des Geistes nach dem Wasserkopf Berlin abwanderten. Oft brachten sie große Opfer, denn manchmal machte einer der Professoren sein Bleiben davon abhängig, daß man ihm größere Mittel zum Ausbau seines Institutes, seines Seminars zur Verfügung stellte. So hatten die badischen Großherzöge aus der Heidelberger Bibliothek eine Musteranstalt gemacht. Sie lebten auch nicht in dieser unnahbaren Entfernung vom Volke, wie das letzten Endes bei Wilhelm II. der Fall war. Wenn sie kamen, gab es keine Absperrungen. Sie konnten sich unter ihrem Volke bewegen, ohne Angst vor einem Attentate haben zu müssen. Sie waren im besten Sinne Landesväter. So war es auch nicht verwunderlich, daß im badischen Staate auch die damalige Oppositionspartei, die Sozialdemokratie, nur einen sehr gemäßigten Charakter hatte und sogar zu Hofe ging, was ihr sehr übel genommen wurde. Vielleicht ist England dadurch groß geworden, daß man auch dort zwar Opposition als notwendig erachtete, aber sie nicht als eine Sache der Feindschaft, sondern nur als eine Sache der Gegnerschaft ansah. An dieser Stelle darf noch angemerkt werden, daß einer der ersten, der im Weltkriege für Deutschland fiel, der badische, jüdische und sozialdemokratische Abgeordnete Frank gewesen ist, ein Beweis, welchen Unsinn das Gerede von der angeblich vaterlandslosen Sozialdemokratie bedeutet. Aber 1908 war man noch weit vom Weltkriege entfernt, wenn auch hier und da, besonders in der Marokkofrage, schon Flammenzeichen am Horizont aufleuchteten. Aber man konnte und wollte es sich nicht vorstellen, daß die Menschheit in ein Blutbad hineingerissen werden könnte. Kehren wir aber in unsere friedlichen Hörsäle zurück und zunächst in das Seminar für neuere Geschichte, in dem Professor Oncken Übungen abhielt. Ich gehörte diesem Seminar als ordentliches Mitglied an und lenkte, ohne es zu wollen, die Aufmerksamkeit des Professors auf mich, weil ich über mehr Sprachkenntnisse verfügte als viele andere
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der Teilnehmer. Gerade bei Übungen zur neueren Geschichte, wo häufig diplomatische Schriftstücke Gegenstand der Untersuchung waren, war das von Bedeutung. Die Studenten, die aus einem sehr kleinen Milieu kamen, brachten diese Kenntnisse von Haus aus nicht mit, ohne daß ihnen daraus ein Vorwurf zu machen wäre. Immerhin gab es in Heidelberg eine ganze Reihe von Studenten beziehungsweise von jungen Doktoren, die es später in der Geschichtswissenschaft zu einem bedeutenden Namen gebracht haben. Nennen möchte ich Wolfgang Windelband, den Sohn des Philosophen, heute ordentlicher Professor und Nachfolger von Erich Mareks in seinen Arbeiten über Bismarck, und dann Willy Andreas, der sich auch einen bedeutenden Namen zu machen verstanden hat. Im Mittelpunkt meines Heidelberger Semesters aber stand vor allem die Gestalt Karl Hampes, in dessen Seminar ich arbeitete und von dem ich ja schon bei der Darstellung des Sommersemesters 1907 ausführlich berichtet habe. Ich fühlte mich nun schon so weit, daß ich von ihm eine selbständige Arbeit erbitten konnte. Er wies mir als Thema meiner Untersuchung die Erforschung der sizilischen Flotte unter der Regierung Kaiser Friedrichs II. zu, und damit hat er meiner ganzen wissenschaftlichen Arbeit für Jahrzehnte die Richtung gegeben. Hampe versammelte einen großen Schülerkreis um sich, da er als akademischer Lehrer sehr beliebt war. Viele von diesen Schülern bekamen Arbeiten, die, wie es im Mittelalter unvermeidbar war, häufig Beziehungen zu den religiösen Streitfragen zwischen Staat und Kirche hatten. Ich hatte das Gefühl, daß mir Hampe aus Gründen des Taktes gerade dieses Thema zugewiesen hat, in das ich mich mit großer Liebe versenkte. Ich erinnere mich noch, wie er dann die Arbeit, die ich ihm einreichte, im Seminar sehr wohlwollend und eingehend durchsprach. Damals reifte in mir der Entschluß, dauernd in Heidelberg zu bleiben und dort auch zu promovieren. Wieso es dann nicht dazu gekommen ist, muß später dargestellt werden. In diesem kurzen Sommersemester habe ich die Methode wissenschaftlicher Forschung, in die ich ein Jahr vorher durch Cartellieri aufs gründlichste eingeführt wurde, zu beherrschen gelernt. Ich bin gerade dieser Hampeschen Methode immer treu geblieben. Bei allem, was ich jemals geschrieben habe, habe ich mich immer gefragt, welche Stellung Hampe dazu nehmen würde. Ich habe ihm auch alles, was ich veröffentlicht habe, zugeschickt. Es waren außerordentlich fruchtbare Stunden in diesem Seminar. Ich bin ihm auch persönlich nähergetreten, soweit das die große Zahl seiner Schüler ermöglichte.
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Von den anderen akademischen Lehrern, soweit ich über sie nicht schon anläßlich des Sommersemesters 1907 berichtet habe, sei vor allem der Geograph Alfred Hettner genannt. Hettner war in seiner Jugend ein großer Forschungsreisender gewesen, und das, was er uns vortrug, vermittelte uns wirklich ein Stück der weiten Welt, in die wir als junge Menschen noch nicht hineingeschaut hatten, und viele vielleicht niemals hineinschauen würden. Hettner war eine andere Persönlichkeit als der trockene Passarge in Breslau. Für Hettner waren die Länder etwas Lebendiges. E r versuchte, sie uns von allen Seiten her gegenwärtig zu machen, und das gelang ihm auch. Man wanderte mit ihm in Gedanken durch die Anden Südamerikas, durch die weiten Ebenen des Amazonas. E r verstand es, das Fernweh nicht nur zu erwecken, sondern auch zu befriedigen. Im Sanskrit hörte ich den Nachfolger Lefmanns, Osthoff, in neuerer deutscher Literatur den Professor Freiherrn von Waldberg, der ein Schöngeist war und bei dem ich ein Referat über die Studentendichtung der Romantik übernahm, für das ich wohl viel Material gesammelt hatte, das ich aber nicht zum Abschluß brachte. Ich hatte mir neben dem großen Referat bei Hampe doch wohl ein wenig zuviel zugemutet. Von Bedeutung waren für mich die Übungen, an denen ich bei Professor Petsch teilnahm. Sie nannten sich Lektüre und Interpretation alter Handschriften. Es war ein großes Erlebnis, als wir diese kostbaren Handschriften der Heidelberger Universitätsbibliothek nun wirklich in die Hand bekamen. An ihrer Spitze die berühmte Manessische Liederhandschrift mit den Gedichten Walthers von der Vogelweide, aber auch mit den Gedichten des jüdischen Minnesängers Süßkind von Trimberg. In späteren Jahren ist das Original dieser Handschrift nicht mehr zu Übungszwecken herausgegeben worden, weil die Gefahr der Beschädigung zu groß war. Ich bekam damals Gelegenheit zum Studium mittelalterlicher Schriftzeichen, einer Hilfswissenschaft des Historikers, die ich später leider nicht mehr gepflegt habe. Wenn mein Eintritt in die Monumenta Germaniae Histórica geglückt wäre, den ich zeitweise beabsichtigte 51 , hätte ich vielleicht diese Lücke noch nachholen können. [...] Die Pfingstreise führte mich diesmal nicht nach Italien, sondern nach dem Bodensee. [...] Auf der Reise dorthin sah ich Freiburg im Breisgau, 51
Vgl. unten S. 170.
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fuhr durch den Schwarzwald, am Hohentwiel vorbei, wo mich die Erinnerungen an Ekkehard packten 52 und traf am 1. Juli in Konstanz ein. Auch hier war historischer Boden, die Erinnerung an Johannes Hus, den man vor einem halben Jahrtausend verbrannt hatte. Drüben vom Schweizer Ufer grüßten die gewaltigen Berge, deren Erlebnis ich noch nicht kannte. Dann fuhr ich mit dem Dampfer über den See bis nach Lindau. Die Fahrt ging an Friedrichshafen vorbei, dessen alter Graf Zeppelin dort unablässig an der Vervollkommnung seines Flugzeuges 53 arbeitete. Damals ahnte man noch nicht, was einmal der Luft im Kampfe der Menschen untereinander für eine Zukunft beschieden sein würde. Damals war es noch mehr der Ikarustraum, der die Menschen erfüllte. Diese Tage in Lindau waren ein vergnügtes Zusammensein. Wenn ich mir in meinem Notizbuch die Namen ansehe, so kommt mir in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß ich der einzige von all den damaligen jungen Menschen bin, der sich in diesem Augenblick noch in Deutschland befindet, soweit sie es nicht überhaupt vorgezogen haben, diese Welt schon mit der anderen zu vertauschen. Seitdem sind immerhin 32 Jahre ins Land gegangen, eine gewaltige Zeitspanne im Leben eines Menschen, eine noch größere Zeitspanne im Hinblick auf das, was das Judentum in Deutschland seitdem erlebte. [...] Das Städtchen Lindau, das mitten im Bodensee liegt, war in seiner historischen Geschlossenheit ein Erlebnis eigener Art. In einer knappen halben Stunde konnte man durch den ganzen Ort hindurch gehen. Ich habe übrigens später noch zweimal ein Wiedersehen mit Lindau gefeiert, aber dann war es nicht mehr die fröhliche Entspanntheit der Jugend, damals hatte die Reise einen ernsteren Hintergrund. Im Jahre 1934 sah ich an einem kalten Wintertag Lindau wieder, als ich über den Bodensee fuhr, um in St. Gallen meinen ältesten Sohn nach seiner Auswanderung wiederzusehen. Noch einmal fuhr ich vor drei Jahren zu dem gleichen Zweck über den Bodensee, begleitet von meiner Tochter Susanne. Dabei beherrschte uns vor allem der Gedanke, ob man mit dem Paß glücklich durch die Kontrolle kommen würde, oder ob sich noch im letzten Augenblick unvorhergesehene Schwierigkeiten ergeben würden. Glücklicherweise war das beide Male nicht der Fall. Hinreise wie auch
Vgl. den historischen Roman von Josef Viktor von Scheffel: Ekkehard. Eine Geschichte aus dem 10. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1855. 5 3 Eigentlich: „seines Luftschiffes". Das erste Zeppelin-Luftschiff war hier im Jahr 1900 aufgestiegen. 52
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Rückreise gingen glatt vonstatten, so daß Lindau in meiner Erinnerung immer seinen freundlichen Charakter behalten wird. [...] Noch ein Wort zu den damaligen politischen Verhältnissen am Bodensee. Drei Staaten hatten an ihm Anteil: Das Deutsche Reich, Osterreich und die Schweiz. Da es noch besondere bayerische [Brief-]Marken gab die württembergischen Marken waren im Jahre 1902 abgeschafft worden, - so konnte man auf dem Bodensee selbst, w o alle Marken gültig waren, mit 5 verschiedenen Marken frankieren. Es war das vielleicht ein Symbol für die damalige Zerrissenheit. Heute im Jahre 1940 gibt es nur noch deutsche und schweizerische Marken am See. An dem Tage, an dem wir damals am Bodensee waren, fand übrigens ein Verbrüderungsfest der Garnisonen am Bodensee statt. Man sah neben den bayrischen Uniformen aus Lindau die preußischen aus Konstanz, denn das badische Kontingent des Reichsheeres hatte keine große Selbständigkeit, ferner die württembergischen aus Friedrichshafen und schließlich die österreichischen aus Bregenz. Die schweizerische Armee hielt sich fern. Man sagte in Lindau, daß diese Offiziere, die ja dem Sinne der Schweizer Demokratie entsprechend aus allen Kreisen hervorgegangen waren, gesellschaftlich nicht für voll genommen wurden. Damals gingen deutsche Offiziere, bedeckt mit den österreichischen Käppis, durch die Straßen Lindaus, und österreichische Offiziere trugen zum Scherz deutsche Mützen. Alles das ist nun längst vorbei. Heute ist es der gleiche feldgraue Rock, der sie alle im Leben und Sterben eint. Wenn ich auch in dieser Beziehung an jene vergangenen Tage denke, so kommt es mir manchmal vor, als ob seitdem nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte vergangen wären. Der Abschluß der Pfingstreise brachte mir ein Wiedersehen mit meiner Mutter und den jüngeren Geschwistern, die sich zur Kur in Kissingen aufhielten. Die Reise dorthin führte mich bei Augsburg und am Lechfeld vorbei, das in mir meine erste wissenschaftliche Arbeit lebendig machte. In Kissingen selbst kam ich wieder in die sogenannte Badeluft hinein, die mir schon ein wenig fremd geworden war. Mir als gesundem Menschen schien es ein wenig komisch, wenn die Leute ihre Leiden, die oft mehr oder weniger eingebildet waren, auf dem Kurplatz spazieren führten und das, was sie im Laufe des Jahres zuviel gegessen hatten, unter Anwendung von Glaubersalz und unter Bezahlung von sehr viel Geld wieder wegtrugen. Im Sommersemester 1908 hatte ich auch ein Zusammentreffen mit meinem Bruder Martin in Darmstadt, wo eine sehr schöne Ausstellung stattfand. Die Hauptstadt des damaligen Großherzogtums Hessen hatte
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als erste in ihrer Künstlerkolonie den sogenannten Jugendstil verwirklicht 54 ; auch bedeutete diese Kolonie einen der ersten Versuche der Auflockerung der modernen Großstädte durch Gartenvororte. Auf jener Ausstellung war mein Bruder Martin mir ein sehr guter Führer. Sein künstlerisches Verständnis war stets ein sehr großes, und dazu kam noch sein bedeutendes technisches Können. Ein Besuch in Darmstadt bedeutete auch immer zugleich einen Besuch bei dem praktischen Arzt Dr. Holländer. Er war ein Verwandter von meiner Großmutter her, eben aus dieser Familie Holländer, deren Abkunft ich im Eingang meiner Erinnerungen dargelegt habe. Mein seliger Vater hatte ihn in seiner Studentenzeit sehr gefördert, und wir hielten diese Beziehungen aufrecht. Er, im Westen Deutschlands lebend, war immer froh, wenn er wieder einmal jemanden aus Ostdeutschland sprechen konnte. Aus seiner Ehe waren zwei Töchter hervorgegangen, damals noch Kinder, heute bereits verstorben. Mit diesem Dr. Holländer verknüpft sich noch eine eigenartige Erinnerung, die ich hier einflechten möchte. Als wir 1914 an die Front fuhren, hielt unser Transport nachts in Darmstadt. Wir waren schon am Tage unendlich oft verpflegt worden und wollten nicht gern aussteigen. Der Hauptmann aber erklärte, wir müßten heraus, eine Prinzessin sei in der Verpflegungsstation, die uns selbst die Suppe austeilen wollte. Ich bat diese Prinzessin, als sie mir meinen Teller reichte, dem Dr. Holländer einen Gruß zu bestellen, was sie auch prompt ausführte, wie ich später brieflich erfuhr. Es war ja die Zeit, da es keine Parteien und keine Rassen- und Religionsunterschiede gab. Im Sommer 1908 besuchte mich auch mein Bruder Franz mit seiner Frau auf der Hochzeitsreise. Das war für ihn eine Erfüllung eines Stücks seines Lebensprogrammes, seiner jungen Frau auf dieser Reise die geliebte Studentenstadt zu zeigen. Wir suchten alle Stätten auf, die ihm von seiner Studienzeit her lieb und vertraut waren. Da Franz ein sehr großzügiger Mensch war, mietete er sich ein Auto (damals noch eine sehr seltene Angelegenheit) und wir machten einen herrlichen Ausflug durch das Neckartal und den Odenwald. Ich lernte dabei manchen kleinen Ort kennen, den man sonst nie aufgesucht hätte und den ich seitdem auch niemals wiedergesehen habe. Mit dem Auto ist es ja eine solche Sache: Die Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe hatte sich seit ihrer Gründung 1899 durch die Ausstellungen von 1901 und 1904 zu einem Zentrum des Jugendstiles in Deutschland entwickelt. 54
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als Fußgänger schimpft man darüber, wie ich es hier auch schon getan habe, aber sitzt man einmal darin und überwindet Entfernungen, die sonst unüberbrückbar sind, so ist man nicht so unglücklich. Auf diesem Ausflug lernte ich unter anderem Michelstadt im Odenwald kennen, w o einst Einhard, der Kanzler Kaiser Karls des Großen wohnte. Von jener alten romanischen Basilika ist durchaus noch die Anlage erhalten 55 . Überhaupt ist Michelstadt mit seinen Fachwerkbauten ein Stück Mittelalter, wieder ganz anders als Rothenburg ob der Tauber. Und noch von einem anderen Ausfluge des Sommersemesters 1908 möchte ich erzählen. Mein Onkel Moritz fuhr zur Kur nach BadenBaden, und ich wurde von Breslau aus beordert, ihn dort zu besuchen. Selbstverständlich wohnten meine Verwandten in einem fürstlichen Hotel. Ich sehe noch, wie meine Tante Emma, der ich ja schon einmal in diesen Erinnerungen „liebend" gedacht habe, in einem Liegestuhl hingegossen dalag. Sie sprach selbstverständlich auch mit absterbender Stimme, was sie stets getan hat, aber sie nicht hindert, weiter uralt zu werden. Baden-Baden war auch mit historischen Erinnerungen erfüllt, denn Kaiser Wilhelm I. ist dort häufig gewesen und gern im Landauer die Lichtenthaler Allee entlang gefahren. 1908 waren die Glanzzeiten des Bades, das einstmals auch einen Spielsaal gehabt hatte, lange vorbei. Es machte mir an diesem Sonntag Freude, auch ein wenig in die mondäne Welt hineinzugucken. Ich lernte ein junges Mädchen kennen, dem ich im nächsten Jahre in Montreux begegnete. Viel später hörte ich einmal etwas von der sogenannten carte du chic, das ist die Landkarte, nach der die vornehmen Leute, die nichts anderes zu tun haben, während des Jahres reisen. Baden-Baden durfte man im Sommer aufsuchen, Montreux gehörte in den April. N u n , wir haben seitdem gelernt, auch ohne diese Karte zu leben! Das Sommersemester 1908 hatte für mich einen sehr schönen Ausklang: die Rheinreise. Es war ein alter Streit, ob der Rhein schöner war als der Neckar. Auch für denjenigen, der auf die Schönheiten des Neckars eingeschworen war, war es selbstverständlich, daß, wenn sich ihm die Möglichkeit bot, er seine süddeutsche Zeit mit einer Rheinreise abschloß. So fuhr ich von Heidelberg nach Mainz, wo mich der D o m und das Gutenbergdenkmal beeindruckten. Dann bestieg ich den Rheindampfer, um zunächst nach Rüdesheim zu fahren. Von Rüdesheim kletterte ich auf 55 Die Einhardsbasilika in Steinbach bei Michelstadt würde man heute als vorromanischen Bau ansprechen.
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den Niederwald hinauf, besichtigte das Denkmal, das zur Erinnerung an den Sieg von 1871 dort errichtet worden ist, und stieg dann hinunter nach Aßmannshausen. Es war natürlich alles voll von Menschen, die diese berühmte Tour machten, man war nirgends allein. So hatte alles etwas Herdenhaftes. Das Niederwalddenkmal wirkte wohl in seiner Mächtigkeit, machte aber doch einen etwas herausfordernden Eindruck, und so war es ja wohl auch über den Rhein [hinüber] gemeint. Das Schönste waren die Burgen und Burgruinen, die vielen Windungen und Ecken, die der Rhein machte und den Zauber der Romantik gaben, die zu der Rheinreise gehört. Damals habe ich bei jeder Einkehr ein Gedicht niedergeschrieben, um dem dringenden Bedürfnis nach noch mehr Rheinliedern abzuhelfen. In Aßmannshausen trank ich jenen herrlichen roten Rheinwein, von dem die Sage erzählt, König Wenzel habe im Jahre 1400 gegen eine ausreichende Menge von ihm seine Krone verkauft. Dann ging es weiter auf dem Schiff nach Koblenz. Irgendwo muß auf dem Rheindampfer ein hübsches Mädchen gesessen haben, die mich interessierte und die ich heimlich fotografierte. Selbstverständlich habe ich sie nicht kennengelernt. An der Loreley ging es vorbei, und es war unvermeidlich, daß das ganze Schiff Heines Lied sang. Ich möchte anmerken, daß in den heutigen Liederbüchern wohl Heines Lorelei aufgenommen ist, aber mit der Herkunftsbezeichnung: „von einem unbekannten Dichter". Man erzählte sich, daß die Kapitäne der Rheindampfer, weil sie wissen, daß an dieser Stelle die Passagiere unvermeidlich dieses Lied sangen und weil sie das auf die Dauer nicht ertragen konnten, unter Deck flüchteten. Es wird dies aber, wie so manches andere, eine fromme Sage sein, sonst wären ja die Rheindampfer nicht unbeschädigt um die gefährliche Loreley-Ecke herumgekommen.
Auf dieser an sich schönen Reise empfand ich, daß zu einer wirklichen Stimmung das Alleinsein gehört oder das Alleinsein zu zweien, aber nicht das Zusammensein in einer großen Menschenmasse. Ich hatte einige fremde Leute kennengelernt, die ganz nett waren und mich nicht sehr störten. In Koblenz übernachteten wir. Von dort aus besichtigte ich, soweit es möglich war, die gewaltige Feste Ehrenbreitstein. Auf Veranlassung meiner Reisegesellschaft sahen wir uns auch Arenberg an, einen katholischen Wallfahrtsort, den ich sonst wohl nicht gesehen hätte. Der große Eindruck von Koblenz aber war das Deutsche Eck, der Zusammenfluß von Mosel und Rhein. Deutschland ist immer reich an Denkmälern gewesen, aber dieses Denkmal Wilhelms I. schien mir
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besonders in die Landschaft zu passen 5 6 . Wer hätte 1908 gedacht, daß zehn Jahre später das Rheinland besetztes Gebiet sein und vom Ehrenbreitstein die amerikanische Flagge wehen würde! Wenn man damals die „Wacht am Rhein" sang, so war man fest überzeugt, daß Deutschland unbesiegbar sei. Diese patriotische Stimmung gehörte zu einer Rheinreise! Von Koblenz ging es wieder auf dem Schiff bis nach Königswinter, von dort hinauf nach dem Drachenfels. Von ihm hatte man einen schönen Blick über die Landschaft bis hinunter nach Bonn und weiter in die rheinische Tieflandsbucht. In Bonn interessierte mich die Universität und die akademische Luft, die so ganz verschieden von der war, die in Heidelberg wehte. Denn für Bonn war charakteristisch, daß dort die Söhne des Hohenzollernhauses studierten und dem feudalen Corps der Borussen angehörten. Gewiß, auch in Heidelberg gab es Corpsiers und Corps der Saxoborussen. Aber sie spielten dort nicht diese Rolle wie in B o n n . Das war eben doch eine preußische, wenn auch rheinpreußische Stadt. D a ich ja schon nach Semesterschluß ankam und in den akademischen Ferien die Studenten meist nicht in der Sommeruniversität blieben, sah ich nicht mehr den vollen Betrieb. Von Bonn aus fuhr ich mit der Eisenbahn nach Köln. Der gewaltige D o m wirkte mächtig, aber doch nicht so, wie das Straßburger Münster auf mich gewirkt hatte. In Köln hat man sicherlich einen großen Fehler gemacht, als man den Domplatz um den D o m herum freilegte. Ein mittelalterlicher D o m muß unvermittelt aus der Enge der Mauern aufsteigen. N u r so bringt er seinen gotischen Gedanken voll zur Geltung. Es fehlt vielleicht auch dem Innern des Kölner D o m s jenes mystische Halbdunkel, das ich Jahre später im Wiener Stephansdom empfand und das zu einem mittelalterlichen G'tteshaus gehört. N e b e n dem Kölner D o m liegt der Hauptbahnhof, etwas, was nicht nur in der Zeit der Fliegerangriffe, in denen ich das niederschreibe, eine Gefährdung des Domes bedeutet, sondern was auch eine ständige Erschütterung des Bauwerkes mit sich bringt und ständige Reparaturen erfordert. In Köln liegt überhaupt Heiliges und Profanes nebeneinander. D e r Domplatz ist voll von Reklamen für die verschiedenen Eau-de-Cologne-Sorten. Ich sah mir noch den Gürzenich an und fuhr mit der Straßenbahn über den
Ironie oder Zustimmung? Das großdimensionierte Denkmal war 1897 errichtet und 1945 zerstört worden. Nach jahrelangem Streit um seinen politischen und ästhetischen Wert wurde es 1993 wiedererrichtet. 56
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Ring, die Flucht von breiten Straßen, die an die Stelle der mittelalterlichen Wälle getreten war. Dann ging es zur letzten Station der Rheinreise nach Düsseldorf. Sehr viele beendigten diese Reise schon in Köln, aber ich wollte den Ort kennenlernen, w o Heine geboren war, und ich suchte auch in den Straßen nach seinem Geburtshaus. Damals war Heine aufs neue in die Diskussion gerückt worden. Kaiserin Elisabeth, die Gattin Franz Josefs I., hatte ihm in ihrem Schlosse Achilleion auf K o r f u ein Denkmal errichtet, da er in keiner deutschen Stadt ein solches besaß. N a c h der Ermordung dieser unglücklichen Fürstin hat dann Wilhelm II. das Schloß gekauft und das Denkmal entfernen lassen. Eine Zeitlang hatte es dann in Hamburg gestanden, aber nun auch schon nicht mehr 5 7 . Mir scheint es, als ob Dichter steinerne Denkmäler nicht so sehr brauchten. Die Tatsache, daß Heines Lorelei zum Volkslied geworden ist, bedeutet mehr als ein Denkmal. Wenn Heine von der anderen Welt her vielleicht den Kampf um sein Denkmal verfolgt hat, so dürfte er seine überirdischen Hörer gewiß mit einem seiner sarkastischen Gedichte erfreut haben. Von Düsseldorf [...] ging es die weite Reise nach Haus, reich an Erlebnissen, reich an Anregungen, die in mir zum Teil erst nach vielen Jahren befruchtend gewirkt haben. Ich kam mit dem festen Entschluß nach Haus, von meiner Mutter zu verlangen, daß sie mir gestattete, mein weiteres Studium in Heidelberg zu vollenden. Durch die Verheiratung meiner drei älteren Brüder war ich nun der Älteste im H a u s e meiner Mutter geworden. Als ich ihr meinen Gedanken entwickelte, nach Heidelberg dauernd zurückzukehren, war sie sehr unglücklich. So entstand für mich ein Konflikt der Pflichten wie später häufig in meinem Leben. Auf der einen Seite hatte ich das Gefühl, daß gerade die Universität Heidelberg in ihrer damaligen Lehrerzusammensetzung für mich besonders viele Anregungen und Zukunftsmöglichkeiten in sich schloß. Ich habe diesen Gegensatz zwischen Heidelberg und Breslau verschiedentlich betont. Aber auf der anderen Seite glaubte ich, meinem seligen Vater gegenüber eine Pietätlosigkeit zu begehen, wenn ich die Mutter mit den jüngeren Geschwistern allein ließe. Die Mutter hatte sich in allen diesen Jahren besonders an mich angeschlossen. So war es kein D i e 1890 erbaute Villa Achilleion w a r 1907 von Kaiser Wilhelm II. angekauft w o r d e n . D i e H e i n e s t a t u e aus Achilleion erwarb damals der H a m b u r g e r Verleger J u l i u s C a m p e . Seit etwa 1939 steht sie im französischen Toulon. Vgl.: Ein F r a g m a l f ü r H e i n r i c h Heine; in: F r a n k f u r t e r Allgemeine Zeitung v o m 20. 2. 1981. 57
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Wunder, daß ihr der Gedanke schrecklich war, mich jetzt für viele Jahre in die Fremde ziehen zu lassen. So bin ich denn geblieben und habe jahrelang das Gefühl gehabt, wohl eine Sohnespflicht erfüllt, aber andererseits gegen meine wissenschaftliche Zukunft gesündigt zu haben. Später erst, als auch die äußeren Dinge eine andere Wendung genommen haben und vieles so ganz anders kam, als man es sich vorgestellt hatte, wurde mir auch hier das Wort gam su letowa zur Wahrheit. Gewiß, das Bleiben in Heidelberg hätte für mich vielleicht eine akademische Karriere bedeutet, in der ich es aber sicherlich nicht zu einer beamteten Stellung gebracht hätte. Wie leicht hätte ich dann im Jahre 1933 nach jahrzehntelangem Dasein als Extraordinarius mit einer großen Familie mittellos dagestanden. Aber selbst von diesen materiellen Dingen abgesehen, ist es ja nicht einmal sicher, ob ich dort wirklich diese Karriere hätte machen können oder ob mir nicht mancherlei Enttäuschungen beschieden gewesen wären. Man kann das alles nicht mehr nachträglich entscheiden. Aus dem damaligen Gesichtspunkt heraus gesehen, war es für mich ein großes Opfer, das ich der Mutter brachte, das ich aber heute nicht mehr bereue, ebensowenig wie so manches andere Opfer, das ich ihr bis zu ihrem Ende gern und freudig dargeboten habe. Ich weiß, wie Mutter immer sich um uns gesorgt und wie sie jede Krankheit von uns sehr schwer genommen hat. Und schließlich muß man in so einem Augenblick nach dem Gesetz gehen, das man in sich trägt. Voll mit den Anregungen, die ich aus Heidelberg mitbrachte, stürzte ich mich sogleich in die Arbeit. Hampe wollte eigentlich, daß ich die Seminararbeit über die sizilische Flotte unter Kaiser Friedrich II. zur Doktorarbeit ausbaute. Bei dem Vertiefen in das Material aber stellte es sich heraus, daß es zunächst notwendig wäre, sich mit der Geschichte der normannischen Flotte, die im wesentlichen von dem Großvater Friedrichs II., dem König Roger II., aber auch schon von dessen Vater, dem Grafen Roger I., geschaffen worden war, zu beschäftigen. So korrespondierte ich darüber mit Professor Hampe, und er gab auch sein Einverständnis zu dieser Änderung des Themas. Er wollte das Thema über die Flotte Friedrichs II. für einen anderen Schüler frei haben; ich bat ihn aber, es mir noch zu reservieren, was er mir auch zusagte, und es ist mir tatsächlich auch noch möglich gewesen, später dieses Thema zu behandeln und daraus ebenfalls ein Buch zu schaffen 58 .
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J e mehr ich mich in diese Welt der Normannen versenkte, umso größer wurde meine Liebe zu jener zurückliegenden Epoche. Sicherlich war dabei ein großes Stück Romantik: die Liebe des Binnenländers zur See, die Sehnsucht nach dem Süden. Aber das hinderte mich doch nicht, in der kritischen Weise, wie ich sie im Seminar Hampes gelernt hatte, die Quellen durchzuarbeiten und das Bild jener Marine zu entwickeln. Es hat mir immer besonders Freude gemacht, aus verhältnismäßig spärlichen Chronik- und Urkundennotizen eine untergegangene Welt entstehen zu lassen. Aus dieser Beschäftigung mit den Normannen ist noch manch andere Arbeit entstanden, über die zu gegebener Zeit berichtet werden muß; in den Kreisen der Fachhistoriker hat mir diese meine Neigung zu den Normannen den Beinamen „der N o r m a n n e n - C o h n " eingebracht, den Professor Ziekursch erfunden hat. So wurde ich immer auf den Historikertagen vorgestellt. O b dieser klangvoller ist als die Bezeichnung, die mir später meine Schüler im Johannesgymnasium zulegten, „der W C " , weiß ich nicht. In den akademischen Sommerferien 1908 habe ich sehr fleißig gearbeitet, viel in den Bibliotheken gesessen und in den alten Quellen gelesen, was mir die größte Befriedigung gewährte. Ich war ständiger Gast im Lesesaal der Universitätsbibliothek. Ebenso häufig war damals ein Oberlehrer Dr. K. da, heute Universitätsprofessor 5 9 . Man konnte immer wissen, ob er im Saale ist, auch wenn er gerade nicht an seinem Arbeitsplatz war. Sowie er nämlich eintrat, stellte er die Röllchen neben sich auf. Es ist anzunehmen, daß meine Leser, die einem andern Zeitalter angehören, nicht mehr wissen, was Röllchen sind, und darum soll es hier erklärt werden. Würde es sich um eine streng wissenschaftliche Arbeit handeln, so gehörte es in eine Fußnote, so aber soll es in den Text. Der Kavalier von 1900 trug durchaus noch nicht die Manschetten an das Oberhemd angenäht. Die meisten hatten noch die Manschetten besonders, die, steif geplättet, beim Schreiben störten. Deshalb stellte man sie auf. Die Sage erzählt, daß es temperamentvollen Rednern mitunter zustieß, daß diese Röllchen in weitem Bogen in das Auditorium flogen. Nachdem ich einige Monate tüchtig gearbeitet hatte, war es notwendig, daß ich vor Beginn des Wintersemesters noch etwas ausspannte. Ich habe das immer wieder nötig gehabt. Wenn mir einer prophezeit hätte, daß ich nach über dreißig Jahren ohne das auskommen könnte, so hätte ich das für unmöglich gehalten. 59
Vermutlich Joseph Klapper, vgl. unten S. 176.
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Wenn man damals etwas ins Freie hinaus, aber nicht so sehr viel klettern wollte, dann fuhr man zu George Potsdammer ins Parkschlößchen nach Charlottenbrunn. Ich möchte den Zauber dieser Pension samt seinem Besitzer noch einmal aus der Vergangenheit erstehen lassen. E r wird nun schon sicherlich seit vielen Jahren jeden Abend im Garten Eden die „Jüdische Hochzeit" vorlesen. In dem lieblichen Bade Charlottenbrunn, das damals eigentlich noch ein sehr bescheidener Luftkurort war, hatte er ein nettes Häuschen. Diese behaglich geleitete Pension war durchaus altmodisch und so, wie es in einer guten jüdischen Familie sein soll. Man konnte ganz für sich leben und den Tag allein in den lieblichen Bergen Spazierengehen, hinauf zum Liebesbänkel oder gar bis zum Ochsenkopf, durch den der Tunnel nach Dittersbach ging. Aber am Abend pflegte sich dann die nicht übermäßig zahlreiche Zahl der Gäste in der „guten Stube" zusammenzufinden und George Potsdammer, ein nicht mehr junger, liebenswürdiger Junggeselle, verstand es ausgezeichnet, aus diesen verschiedenartigen Menschen, die mehr oder weniger gehetzt aus der Großstadt kamen, eine Familie zu machen. Und wenn der Gesprächsstoff erschöpft war oder man nicht mehr musizieren wollte (es waren ja noch die Vorbridgezeiten), dann fiel das Stichwort: „Würden Sie nicht, Herr Potsdammer, die Jüdische Hochzeit vortragen?" Und nach einigem Zögern, das der Anstand erforderte, ließ sich Herr Potsdammer erweichen. E r verstand es ausgezeichnet, die verschiedenen Typen einer jüdischen Hochzeit lebendig zu machen bis zu dem Onkel Josef, der aus Ersparnisgründen ein Glückwunschtelegramm nur mit dem Inhalt: „Dito. Onkel Josef" schickte, weil er hoffte, daß es nicht gerade als erstes verlesen wurde. Wenn das dann doch geschah, war die Wirkung im Vortrag besonders komisch. Potsdammer machte am Nachmittag gern mit uns weite Spaziergänge. Manchmal nahm sich auch die ganze Gesellschaft zusammen einige Wagen, um in die weitere Umgebung zu fahren. Das waren in Schlesien damals schöne Landauer, mit gepflegten Pferden bespannt. Ich saß meistens oben bei dem Kutscher. Das hatte den Vorteil, daß ich keine Konversation zu machen brauchte und die Eindrücke der Landschaft in mich aufnehmen konnte. So fuhren wir durch das Schlesiertal und wanderten nach der Kynsburg hinauf. Ein anderer Ausflug brachte mich in das Reimsbachtal. Es waren schöne Herbsttage, denen auch ein Schwärm nicht fehlte. Damals hätte ich nicht gedacht, daß Jula M. später die Frau meines Vetters Arthur Goldstein werden sollte, von dem hier schon einmal die Rede war.
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Wenn ich diese Zeilen niederschreibe, so steigt noch einmal der saubere Duft jener Gebirgspension auf und die gütige Gestalt Potsdammers. Sicher wird für ihn vor dem Erdenrichter zu seinen Gunsten in die Waagschale gefallen sein, daß er müden Juden wieder Frische und Lebenskraft gegeben hat. Heute gibt es für uns keine Erholungsstätte mehr in unserem schlesischen Lande, w o wir als Juden Entspannung finden können. Erholt ging es nun in die Arbeit des Wintersemesters. Es ist erklärlich, daß nun das akademische Leben in ruhigeren Bahnen einherging und daß es sich jetzt vor allem darum handelte, wirklich Grund für das Wissen zu legen und bei den Professoren zu bleiben, die man sich für die Prüfungen wählte. So standen im Mittelpunkt für mich Koch, Preuß, Hillebrandt, Cichorius, über die ich nichts mehr hinzufügen möchte. Zwei Namen aber treten neu in Erscheinung: der Privatdozent R. Hönigswald, Philosoph, und der Kunsthistoriker Muther. Über beide darf noch ein Wort verstattet sein. Hönigswald, eigentlich Arzt, war dann zur Philosophie umgesattelt, nachdem er das „Entreebillett zur europäischen Kultur" gelöst 60 , das heißt sich hatte taufen lassen, war er in Breslau Privatdozent geworden. Seine Vorlesung über „Logik und Erkenntnistheorie" war von äußerster gedanklicher Schärfe, aber es fehlte seinen Vorlesungen eben dieses Zusammenfassende, das mir Windelband gegeben hat. Bei Richard Muther hörte ich Kunstwanderungen durch Italien, die für mich ein Erlebnis bedeuteten. U m Muther war auch ein großer akademischer Streit entbrannt. Man behauptete, daß er in seinen Werken mehr, als das üblich war, andere Autoren verwertete. Aber es war vielleicht auch hier nichts anderes als ein gewisser Neid der Zunft, daß er die Fähigkeit zur Zusammenfassung besaß und die Kunstgeschichte nicht als Zergliederung, sondern als Schöpfung auffaßte. Mit einer seiner begabtesten Schülerinnen, Margarete Cohn, war ich sehr befreundet. Sie promovierte bei ihm mit einer Doktorarbeit über den Maler Krüger 61 , für deren historischen Teil ich ihr einiges Material liefern konnte. Sie galt übrigens damals in Breslau als eine der schönsten Studentinnen, bei der die Anmut der Seele mit der des Körpers harmonisch zusammenfloß. Es machte mir immer Freude, wenn ich anderen Anregungen geben konnte. So verdankt zum Beispiel eine Dissertation von Dagobert
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Eine Anspielung auf Heinrich Heines Aphorismen, w o es heißt: „Der Taufzettel ist das Entreebillett zur europäischen Kultur". 61 M. Cohn: Franz Krüger. Leben und Werke. Phil. Diss. Breslau 1909.
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Ehrenhaus, der Musiker war, ihre Entstehung einer solchen Anregung von mir 62 . Wir sprachen einmal darüber, daß die Textbücher, die den Opern zugrunde lägen, doch in keiner Weise literarisch erforscht seien und daß dies eine dankenswerte Aufgabe für eine Untersuchung wäre. Er hat sich auch tatsächlich in diesen Stoff versenkt und damit promoviert. Es ist ja das Schöne wissenschaftlicher Zusammenarbeit, daß, wenn man schon nicht alles selbst machen kann, man eben dem anderen die Anregungen gibt, die er ausführen kann. Von meinem privaten Leben in diesem Wintersemester ist nicht allzuviel Besonderes zu vermerken. Der A M V kostete mich weiter eine Menge Zeit, aber dahinter winkte die Hoffnung, nach diesem Semester inaktiv zu werden, das heißt nicht mehr verpflichtet zu sein, zu jeder Veranstaltung kommen zu müssen. U n d sonst werde ich wohl auch damals noch manchen Einladungen gefolgt sein, werde auch damals im Gespräch noch dem einen oder anderen Mädchen nähergetreten sein und ihr vielleicht Anregung vermittelt haben. Es waren die Jahre, w o man noch ein wenig flatterhaft war und vielleicht nicht immer daran dachte, daß eine solche mit großer Energie zunächst betriebene Freundschaft, nachher plötzlich abgebrochen, dem anderen sehr wehe tun konnte. In den Weihnachtsferien zog mich wieder das Riesengebirge in seinen Bann; das hatte sich schon als eine gewisse Tradition herausgebildet. Ich setzte damals meinen Ehrgeiz hinein, mit sechs Semestern unter allen Umständen meinen Doktor zu machen. Die innere Peitsche, die mich mein Leben lang nicht verlassen hat, zwang mich zu diesem überstürzten Tempo. Die Satzungen der philosophischen Fakultät sahen vor, daß man die Prüfung nach sechs Semestern machen konnte, aber es hat sich doch der Usus herausgebildet, mindestens acht Semester zu studieren. N u r ich wollte das fast Unmögliche möglich machen. So hatte ich also in diesen letzten Semestern die doppelte Aufgabe zu erfüllen, die Doktorarbeit fertig zu machen und außerdem noch regelmäßig die Vorlesungen und Seminare zu hören. Denn die Berührung mit den Professoren durfte ja unter keinen Umständen verloren gehen, zumal im Examen oftmals gerade das gefragt wurde, was in den letzten Seminarsitzungen verhandelt worden ist. Für die Doktorprüfung brauchte man neben dem eigentlichen Hauptfach, das für mich mittelalterliche und neuere Geschichte war, noch 62 D e r Mitstudent hieß vermutlich Martin Ehrenhaus, denn von diesem liegt die Breslauer Dissertation v o n 1911 „ D i e O p e r n d i c h t u n g der deutschen R o m a n t i k " vor.
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drei Nebenfächer. Dazu wählte ich mir alte Geschichte, Sanskrit und Philosophie. Das Thema der Doktorarbeit war, wie ich schon erwähnte, die Geschichte der normannisch-sizilischen Flotte unter der Regierung Rogers I. und Rogers II. Die Arbeit wurde umfangreicher, als für eine bloße Dissertation notwendig war, für die nur zweiunddreißig Seiten gefordert wurden. Als ich die Promotion hinter mir hatte, bemühte ich mich dann, für die Arbeit eine günstige Druckmöglichkeit zu erlangen. Professor Preuß schickte mich zu der Verlagsbuchhandlung M. und H . Marcus, deren Inhaber Max Marcus war, den ich schon kurz erwähnt habe. Meine Arbeit wurde das erste Buch einer neuen Reihe der „Historischen Untersuchungen" 6 3 , die es im Laufe der Jahre später zu einer ganz stattlichen Anzahl von Bänden gebracht hat. Dadurch ist auch mein Buch immer wieder genannt worden, auch nach dem Umschwung von 1933 blieb es weiter im Buchhandel. Weil die Arbeit eben ein ziemlich entlegenes Gebiet behandelte, hat sie vielleicht mehr, als es ihr Verdienst war, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise erregt. Für mich war die Hauptsache aber die Freude daran. Es hat sich übrigens nach dem mündlichen Examen noch die Notwendigkeit ergeben, einiges zu erweitern. Ich hatte ursprünglich nur daran gedacht, die Geschichte der sizilischen Flotte zu schreiben; aber Professor Preuß war der Meinung, daß ich auch hoch die gesondert verlaufende Geschichte der normannisch-unteritalienischen Flotte behandeln soll. Das habe ich dann auch nachgeholt, und es ist für die Arbeit unbedingt von Nutzen geworden. In den Kreis meiner akademischen Lehrer in Breslau im Sommersemester 1909 traten noch zwei Persönlichkeiten, deren ich gedenken möchte. Es war das einmal der Philosoph Professor Dr. Baumgarten. Dieser war katholischer Theologe. Bei der eigenartigen Struktur der Breslauer Universität, die einerseits die Fortsetzung der alten Jesuitenuniversität Breslaus, der Leopoldina, darstellte und andererseits auch die der protestantischen Universität Viadrina, die früher in Frankfurt an der Oder war, hatten die Katholiken den Anspruch, einige Professuren außerhalb der theologischen Fakultät zu besetzen. So war der philosophische Lehrstuhl Baumgartens geschaffen. Dieser war ein sehr lieber Herr, der es seinen Schülern nicht schwer machte. Er brachte die Philosophie in hübsche Lehrsätze, die sich bequem nachschreiben ließen und die man zum Examen auswendig zu lernen hatte. Man brauchte auch nicht hinzugehen,
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denn das, was er sagte, pflegte seit Jahr und Tag dasselbe zu sein, und das hatte sich nun einmal fortgeerbt. Die Versuchung lag an und für sich sehr nahe, zu diesem Professor für die Prüfung überzugehen. Ich tat es dann doch nicht, weil es mir zu stumpfsinnig war und wählte mir Kühnemann zum prüfenden Professor. Man wird hier vielleicht erstaunt die Frage aufwerfen, ob es Sache der Studenten war, die prüfenden Herren zu bestimmen oder ob das nicht vielmehr die Aufgabe des Dekans sein mußte. Dies Rätsel wird sich an dem Sprichwort lösen: „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Doktors nicht wert." Pfennig hieß nämlich der Pedell der philosophischen Fakultät. Er nahm die Wünsche der Studenten entgegen und brachte die Meldungen so in den Fakultätssitzungen vor, daß die Studenten in der Regel den Professor bekamen, den sie gerne haben wollten. Pfennig empfing dafür seinen Lohn, wodurch auch jenes Sprichwort in Breslau zustande gekommen ist. Sein Gedächtnis war oft sehr kurz. Es reichte solange, wie er glaubte, daß das Douceur, das er zuletzt erhalten hatte, abgearbeitet sei. Wenn man dann das nächste Mal erschien und ihn fragte, wann der Prüfungstermin nun wäre, erkannte er einen nicht mehr, woraus man schloß, daß eine neue Goldstützungsaktion unternommen werden mußte. Es waren ja die Zeiten, in denen es noch Goldstücke gab. Pfennig ging immer mit seinen Opfern in eine der tiefen Nischen des alten Universitätsgebäudes und brachte seine Hand in die entsprechende Stellung, worauf dann sofort die bedauerliche Trübung seines Gedächtnisses ohne Eingreifen eines Nervenarztes geheilt war. Was taten die Kandidaten, die mit irdischen Glücksgütern nicht gesegnet waren? Die Antwort ist sehr leicht: sie machten überhaupt nicht den Doktor. In der philologischen Laufbahn war es ja so, daß das Staatsexamen die Hauptsache war, die zur Anstellung berechtigte. Der Doktor war nur eine Verschönerung, wie man ein wenig ironisch in unseren Kreisen sagte, eine Art jüdischer Vorname. Es erschien uns netter, mit „Herr Doktor", als mit „Herr Cohn" angeredet zu werden. Wir hatten eben damals furchtbare Sorgen! Im Sommersemester 1909 habe ich es fertiggebracht, an sehr vielen Seminaren teilzunehmen und dort auch entsprechend mitzuarbeiten. Ich gehörte sowohl den Seminaren von Preuß, Kaufmann, Kampers und Cichorius, sämtlichen vier Historikern an, wie auch dem Anfängerseminar von Supan, trieb weiter den Sanskritkursus von Hillebrandt und machte Übungen zur Philosophie bei Hönigswald mit. Das erforderte eine ungeheure Menge eigener Arbeit neben der Fertigstellung der Dissertation und den notwendigen Wiederholungen. Es ist sicher, daß ich damals zuviel
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gearbeitet habe, aber das ist leider ein Punkt, bei dem ich in meinem Leben niemals rechtzeitig bremsen konnte. Diese intensive Arbeit erfuhr eine angenehme Unterbrechung durch eine sehr schöne und erholsame Frühjahrsreise. Ich hatte mich damals mit Clara Perls angefreundet, der Nichte meines Onkels und Hausarztes Dr. Willy Perls. Sie war Studentin der Staatswissenschaft und Schülerin des Professors Wolf. Ich hielt sie für einen sehr tüchtigen Menschen. Ich glaubte, daß sie eine sehr große wissenschaftliche Zukunft haben würde. Aber wie das bei Frauen so zu sein pflegt, hat sie dann geheiratet und der Wissenschaft im wesentlichen ade gesagt. Sie ist übrigens früh Witwe geworden, hat heute eine erwachsene Tochter in Palästina, die verheiratet und ganz streng fromm geworden ist. Sie ist nun, wie so viele meines Alters, ein einsamer Mensch, der Rest einer Familie, der von der Hoffnung lebt, doch noch einmal mit seinem Kinde zusammenzukommen. Damals, als sie 1909 Nationalökonomie studierte, hätte sie es sich nicht träumen lassen, daß sie einmal die Volkswirtschaft beim Schneeschippen im Kriegswinter 1940/41 von der praktischen Seite kennenlernen würde, wie es überhaupt für unser Judenschicksal charakteristisch ist. Das sieht man auch immer wieder aus der Betrachtung vergangener Jahrhunderte, daß nach jähem Aufstieg plötzlich ein rascher Niedergang kommt, wobei ich noch gar nicht einmal behaupten will, daß der Weg zur praktischen Arbeit nicht in sehr vielen Fällen auch ein Glück sein kann - allerdings nicht, wenn man dazu erst um die zweite Hälfte des sechsten Jahrzehnts kommt. Was uns damals in diesen Frühlingstagen am Genfer See erwartete, war alles andere als Schneeschippen. Sie machte die Reise mit ihren Eltern, und ich fuhr allein. Wir wohnten in einem ausgesprochenen Luxushotel, das einen eigenen Garten hatte, mit einem wundervollen Blick auf den Genfer See, der mir besonders nahe stand, weil er so hieß wie mein Biername: Lac Leman. Während es nördlich der Alpen noch ziemlich rauh war, war es hier schon sehr milde. Abgearbeitet, wie ich von diesem Wintersemester war, war mein Hauptvergnügen, am Strande des Genfer Sees spazierenzugehen, die Frühlingssonne zu genießen und das herrliche Landschaftsbild in mich aufzunehmen. Gewiß gab es auch da manches Geschichtliche. Unweit von Montreux liegt das Schloß Chillon, wo Lord Byrons „Childe Harold" 6 4 spielt, ein Wasserschloß, das seine mittelalter-
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Schloß Chillon w a r lediglich der Ort, an dem Lord Byron im Jahr 1 8 1 6 den
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liehe Prägung unversehrt erhalten hat. Auf der Südseite des Genfer Sees war die französische Grenze. Der O r t St. Gingolph gehörte teils zur Schweiz und teils zu Frankreich. Auf einem Ausflug dorthin war ich das erste Mal in meinem Leben eine Viertelstunde auf französischem Boden, die ich natürlich dazu benutzte, um auf das Postamt zu gehen und eine französische Karte nach Hause zu schicken. Für einen leidenschaftlichen Briefmarkensammler ist so etwas selbstverständlich. Wie hätte ich damals ahnen können, daß ich wenige Jahre darauf vier Jahre ununterbrochen in Frankreich sein würde! Auf der Reise nach Montreux hatte ich auch Lausanne besucht. Als ich in dieser Universitätsstadt war, tat es mir eigentlich leid, daß ich nicht wie viele andere Studenten der damaligen Zeit ein Semester auf dieser Universität verbracht habe, was mir die Möglichkeit geboten hätte, meine sprachlichen Kenntnisse zu vertiefen. Es ging übrigens auch so mit der Sprache sehr gut. Ich hatte ja erzählt, daß wir schon in früher Jugend eine sogenannte Mademoiselle hatten, und so konnte ich mich zwanglos unterhalten. Ich habe übrigens mit Clara Perls auf den Spazierwegen zu unserer Übung immer Französisch gesprochen, und wir waren sehr stolz, wenn wir auch anderen Auskünfte geben konnten. Einen Ausflug unternahm ich einmal mit der Bergbahn hinauf nach Caux, w o sich ein weiter Blick über die Hochalpen bot. Dort war es noch gar nicht frühlingsmäßig, andererseits war die Wintersportsaison schon vorbei. Das alles waren Plätze einer Welt, in der man sich nicht langweilt und für die ein Kreditbrief in anständiger Höhe, den man irgendwo präsentieren konnte, die Eintrittskarte war. Viele von uns Juden haben es inzwischen gelernt, auch anders zu reisen, und mancher hat mit dem Gegenwert von zehn Mark in eine ungewisse Zukunft hinausgehen müssen. Wenn ich selbst vieles verhältnismäßig klaglos hinnehme, was uns die letzten Jahre gebracht haben, dann mag es auch daran liegen, daß ich meinen Teil an dem Schönen, was das Leben uns zu bieten hat, schon in jungen Jahren genießen durfte, und dafür werde ich bis zum letzten Augenblicke dankbar sein. [...] Diese Reise hatte mir auf dem Hinweg noch ein tiefes jüdisches Erlebnis gebracht, nämlich einen Sederabend im jüdischen Restaurant in
dritten Canto seines Epos „Childe Harold's Pilgrimage" verfaßte. Hingegen war Schloß Chillon der Schauplatz einer anderem Dichtung Byrons, „The Prisoner of Chillon", die von der harten Gefangenschaft eines Genfer Bürgers handelt.
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Heidelberg 6 5 . Ich habe in meinem Leben selten eine Gelegenheit verpaßt, mir meine alte geliebte Universitätsstadt wieder anzusehen, wie ich auch keine Gelegenheit versäumte, die innige Berührung mit dem Judentum zu suchen. An diesen Sederabend denke ich heute aus den verschiedensten Gründen mit einer gewissen Wehmut, haben doch gerade die restlichen Heidelberger Juden ihre schöne Stadt in wenigen Stunden verlassen müssen und sind einem ungewissen Schicksal entgegengegangen 66 . So mögen heute längst die Spuren jenes jüdischen Restaurants verweht sein, und wer weiß, ob noch überhaupt einer von denen lebt, die damals an dem Sederabend teilnahmen. D a dieser Abend ja in erster Reihe der Familie gehört, so sind in einem Restaurant dann nur die da, die eben nicht zu Hause sein können, weil sie vielleicht kein Zuhause haben, oder die zu einer Reise gezwungen sind. Es waren Juden von überall her. Aber umso stärker war für mich das Erlebnis, daß alle diese Juden aus den verschiedensten Teilen der Erde verbunden waren durch die Macht der Tradition und daß ihre Seelen bei den Worten der alten Haggada zusammenklangen. Ich stand damals noch sehr im liberalen Judentum, aber die Wandlungen meines religiösen Bewußtseins haben mir zu der Erkenntnis verholfen, daß man so wenig wie möglich an unserer Gebetsordnung ändern soll, weil sie das stärkste Bindemittel für das jüdische Volk darstellt, solange es noch nicht in seiner Gesamtheit in sein Ursprungsland hat zurückkehren können, etwas, was vielleicht niemals ganz der Fall sein kann. Jahrzehnte später habe ich noch einmal an einem öffentlichen Sederabend in Paris teilgenommen, zusammen mit meinem ältesten Sohne. Ü b e r diesen Abend will ich noch an anderer Stelle berichten; er hat mir das Gefühl der Gemeinsamkeit verstärkt, das uns Juden trotz allem Trennenden zusammenhält. Die unangenehme Erinnerung an diesen Sederabend war das Steckenbleiben einer Gräte im Halse. Die Tatsache, daß man Fisch schweigend essen muß, habe ich wohl nicht auf der ganzen Linie beachtet. [...] Im Wintersemester 1909/10 machte ich dann am Anfang das Examen rigorosum, das prädikatsmäßig hätte besser ausfallen können, wenn ich Die folgende Begebenheit wirkt wie eine nachträgliche Ergänzung. Der Schilderung war bisher nicht zu entnehmen, daß die Fahrt in die Schweiz mit einem Umweg über Heidelberg verbunden war. 6 6 A m 22. Oktober 1940 wurde die Mehrzahl der Heidelberger Juden, nämlich 309 Männer, Frauen und Kinder, nach Gurs in Frankreich verschleppt, vgl. A. Weckbecker: Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933-1945. Heidelberg 1985, S. 197ff. 65
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die Wissenschaft etwas mehr hätte ausreifen lassen. Die Gründe, warum ich das nicht gétan habe, habe ich ja schon in einem früheren Abschnitt angedeutet. Meine Kommilitonen hatten damit gerechnet, daß ich summa cum laude bestehen würde und waren nun eigentlich ziemlich entsetzt, daß das nicht der Fall war. Am entsetztesten war meine Mutter, deren Ehrgeiz noch größer war als der meine. Wenn mein Bruder Franz sie nicht auf die Tatsache aufmerksam gemacht hätte, daß ich doch immerhin das Doktorexamen mit noch nicht einundzwanzig Jahren bestanden hatte, so hätte sie mir überhaupt kaum gratuliert. Ich habe mich natürlich auch ein wenig geärgert, mußte mir aber selbst wegen der Überstürzung eine gewisse Schuld beimessen 67 . Meine akademischen Lehrer rieten mir, nun nach bestandener Doktorprüfung bis zum Staatsexamen mir etwas mehr Zeit zu lassen, was ich dann auch tat. Trotz alledem war es immerhin ein schöner Erfolg, da ich doch noch sehr jung war. Den Rest des Wintersemesters benutzte ich zur endgültigen Ausarbeitung der Dissertation und zur Einfügung des von Professor Preuß gewünschten Abschnitts. Im März 1910 habe ich im Musiksaal der Universität feierlich zum Doktor der Philosophie und, wie es so schön im Doktordiplom heißt, zum Magister der Freien Künste, promoviert. Damals verlangte die Universitätsordnung noch, daß man, bekleidet mit einem Frack, einen wissenschaftlichen Vortrag hielt. Ich wählte mir als Thema die Emser Depesche, einen Gegenstand, der eingehend in einem Seminar in Heidelberg behandelt worden war. Die Ausarbeitung des Vortrages hatte mir viel Freude gemacht. Man mußte das Schreibmaschinenmanuskript in einem rot eingebundenen Exemplar mit hinaufnehmen. Hinter dem Doktoranden stand der Dekan der Fakultät im Amtstalar, das Auditorium wurde von den Freunden und Verehrern des Doktoranden gebildet. Da diese Promotionen damals sehr häufig waren, konnten nicht alle akademischen Lehrer kommen; es erschien von ihnen nur Dr. Hönigswald. 6 7 Im Breslauer Universitätsarchiv ist die Promotionsakte Willy Cohns erhalten, die den ganzen Vorgang von der Anmeldung am 30. Juli 1909 bis zum abschließenden Vortrag am 23. März 1910 dokumentiert. In der mündlichen Prüfung am 24. November 1909 erzielte Cohn bei Kühnemann (Philosophie) „ein schwaches magna cum laude (sehr gut)" bei Preuß (Geschichte) ein „cum laude", bei Cichorius (Alte Geschichte) ein „non superávit (nicht bestanden)" und bei Hillebrandt (in Sanskrit) ein „superávit", was zu dem denkbar knappen Gesamtergebnis „superávit (bestanden)" führte. Entsprechend zurückhaltend war die Beurteilung der Dissertation selbst. Dekan Baumgartner notierte: „Die Arbeit erhält im Diplom kein eigenes Prädikat". Archiwum Uniwersytetu Wroclawskiego F 117, F 214, F 505.
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Mit Schluß des Wintersemesters ließ ich mich an der Breslauer Universität exmatrikulieren. Ich beschloß, im Sommersemester 1910 die Universität München aufzusuchen. Vorher aber winkte mir noch als schönste Belohnung eine längere Studienreise nach Rom. Für diese Reise hatte ich mich auf das sorgsamste vorbereitet. Es gab wohl kaum ein Buch über die Ewige Stadt, das die Breslauer Stadtbibliothek besaß, das ich nicht genau durchgesehen hätte. Schon in der Oberprima hatte Professor Badt verstanden, unser Interesse für den Stadtplan des alten Roms wachzurufen. So wußte ich, ohne je in Rom gewesen zu sein, über die Topographie genau Bescheid. Der Absolvent eines humanistischen Gymnasiums kam nach Rom gewissermaßen als Nachfahre Goethes. Deswegen spielte auch bei meiner Reisevorbereitung die Lektüre von Goethes „Italienischer Reise" eine besondere Rolle. U m die Aufnahmefähigkeit nicht zu gefährden, beschloß ich auch, unmittelbar bis Rom durchzufahren und die ganze zur Verfügung stehende Zeit (drei Wochen) nur dem Erlebnis Roms zu widmen. Andererseits hätte es mich sehr gereizt, die vielen kleinen Kulturorte Oberitaliens aufzusuchen, aber beides wollte ich eben nicht machen. Neben dem Rom der Antike fesselte mich schon in der Vorbereitung das Rom des Mittelalters, jenes Rom, in dem die verschiedenen Machthaber sich zum Teil wütend bekämpft hatten und das mir aus meiner Beschäftigung mit dem Zeitalter der Salier und Staufer besonders lebendig war. Ich hatte mich noch von einer anderen Seite her auf Rom vorbereitet. Seit längerer Zeit beschäftigten mich die Dichtungen von Richard Voß 68 . Dieser Dichter, der heute schon leider vergessen ist, hatte einen großen Teil seines Lebens in und bei Rom verlebt. Mit einem besonderen Einfühlungsverständnis hatte er sich auch in das Leben der mittelalterlichen römischen Juden versenkt. Es gibt wohl kaum ein Buch eines deutschen arischen Schriftstellers, das s.ich mit solchem Verständnis in die Seele jenes Juden der Gasse versenkt hat, wie der Roman Dahiel der Convertit 69 . Auch diese Vorbereitung schien mir für meine römische Reise selbstverständlich, denn die Stätten des alten Ghettos, in dem meine Glaubensbrüder gelebt und gelitten hatten, wollte ich mir lebendig machen. Dem Menschen der heutigen Zeit sei es gesagt, daß es für uns von damals innerlich unmöglich war, eine solche Reise zu machen, wenn man sich nicht auf sie intensiv vorbereitet hätte. Nach dem Weltkriege kam 68 69
Vgl. SV Nr. 73. R. Voß: Dahiel, der Konvertit. 3 Bände. Stuttgart 1888.
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dann eine andere Schicht von Reisenden auf, die, mit großem Geldbeutel versehen, ein Programm absolvierten und die auf solch einer Reise jenseits von Essen und Trinken nichts interessierte. Diesen Raffketyp hat man einmal mit folgendem Scherz gut charakterisiert: Raffke wurde abgebildet, als er mit seiner Frau das Colosseum besichtigte. Die „Berliner Illustrierte" stellte als Preisfrage: „Was hat sich Raffke in diesem Augenblick gedacht?" Prämiiert wurde die Antwort: „Was bauste, wenn du kein Geld hast." Raffke war offenbar der Meinung, daß der Bauherr des Colosseums mittendrin pekuniären Bankerott erlitten hat. Aber wer um 1910 reiste, war in der Regel anders gesinnt. Für ihn war die Romreise die große Krönung seines irdischen Daseins, von der alles Stimmungsmordende fernzuhalten war. Aber noch bin ich nicht in Rom. Ich hatte vorher eine andere Pflicht zu absolvieren. Meine Großmutter väterlicherseits war damals in Berlin gestorben. Sie hatte ein außergewöhnlich hohes Alter erreicht und zum hundertsten Geburtstag fehlte nicht mehr allzuviel. Angesichts eines so ausgelebten Menschendaseins war begreiflicherweise die Trauer nicht allzu groß, zumal sie in den letzten Jahren rein körperlich nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Die ewige Ruhe konnte ihr gegönnt werden. Bei dieser Gelegenheit versammelte sich noch einmal die ganze Familie, soweit deren Spuren nach Samter reichten. Meine Großmutter hatte die letzten Jahre ihres Lebens im Hause ihrer Tochter Marie Schwarz verlebt, deren zweiter Mann Ludwig Schwarz damals noch lebte. Es war ein sehr frommes Haus, so daß sie bis zu einem gewissen Grade ihr Leben aus Samter dort fortführen konnte. An diese letzte Zusammenkunft der inzwischen groß gewordenen Familie, deren Abkömmlinge nun die verschiedensten Interessen hatten, erinnere ich mich noch deutlich. Manche Typen steigen vor meinem geistigen Auge wieder auf, und manches wird mir klar, was in seiner letzten Konsequenz mit die Ursache zu dem geworden ist, was wir heute erleben. Aber ich möchte den Rahmen der Erinnerungen, den ich mir hierfür gesteckt habe, nicht überschreiten. So mag es mit dieser Andeutung sein Bewenden haben. Nur bei den wenigsten der Nachkömmlinge jenes frommen Hauses in Samter hatte die religiöse Kraft gehalten. Viele waren ein Opfer des Molochs Berlin70 geworden, der aus ihnen mit seiner Asphaltatmosphäre 70 An anderer Stelle urteilt Cohn positiver über Berlin. Das Bild des Moloch findet sich aber auch sonst. Man vgl. die Dichtungen seines Altersgenossen Georg H e y m (1887-1912).
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im Grunde wurzellose Menschen gemacht hat. Dabei fällt mir das schöne Wort von Georg Hermann ein, das er oft in seinem Jettchen Gebert 71 wiederholt: „Es kam, wie es kommen mußte." Die ältere Generation war noch fromm. Der alte Onkel Ludwig Schwarz legte täglich Tefillin und wohnte so, daß der regelmäßige Besuch des G'tteshauses für ihn mit keinen Unbequemlichkeiten verbunden war. Aber einer seiner Neffen erzählte voll Stolz, daß er, als er bei einer zweifelhaften „Dame" im gegenüberliegenden Hause zu Besuch war, gerade beobachtete, wie der Onkel betete. Besser kann man die Gegensätze vielleicht nicht charakterisieren als durch diese andeutungsweise erzählte Anekdote. Übrigens ist dieser Neffe, der sich früh verbraucht hat, nach seiner Auswanderung in Schanghai gestorben. Meine Großmutter wurde nicht, wie sie es vielleicht selbst gewünscht hätte, an der Seite ihres Mannes Isaak Cohn in Samter beigesetzt, sondern kam auf den Friedhof in Weißensee, den ich bei dieser Gelegenheit das einzige Mal in meinem Leben betreten habe. Und nun saß ich eines Abends im Nachtzuge nach München, der Berlin vom Anhalter Bahnhof verläßt. Um diese Jahreszeit (es war Ende März) wehte im kühlen Berlin schon auf dem Anhalter Bahnhof eine südliche Luft. Jeder dieser Bahnhöfe in der Reichshauptstadt hat seine eigene Atmosphäre. Auf dem Stettiner Bahnhof ist man halb an der Ostsee, auf dem Görlitzer Bahnhof schon fast im Riesengebirge und eben auf dem Anhalter Bahnhof beinahe in Italien. Ich hoffte, von Berlin aus in etwa vierundzwanzig Stunden in Rom zu sein und war auch frühmorgens fahrplanmäßig in München. Dann kam eine herrliche Fahrt über den Brenner, den ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Male erlebte. Es kam mir zum Bewußtsein, mit welcher Reisegeschwindigkeit man im 20. Jahrhundert fuhr. Während Goethe gemächlich in der Kutsche nach Italien herüberglitt. Irgendwie kam ich dann in einen falschen Zug. Anstatt schon abends in Rom zu sein, war ich in Florenz und kam erst im Laufe des Vormittags an mein Reiseziel. Das hatte aber nun wieder sein Gutes, denn auf diese Weise hatte ich das besondere Erlebnis, am Tage durch die Campagna von Rom zu fahren. Als ich noch weiter nördlich am Trasimenischen See vorbeikam, da glaubte ich vom Zuge aus den Kampf zwischen Römern und Puniern mitzuerleben. Für uns, die Abiturienten jener Zeit, war die Antike etwas durchaus Lebendiges. Und dann dämmerte in der Ferne die Kuppel von St. Peter auf. Die
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G. Hermann: Jettchen Gebert. Berlin 1906.
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Reisenden gingen an die rechte Seite des Zuges; wiederholt hörte man den Ruf: Ecco lä San Pietro! Die Wirkung der Kuppel des Petersdoms ist umso größer, je weiter man von ihr entfernt ist. Als ich in Rom die Eisenbahn verließ, glaubte ich, daß ich träumte. Ich hatte das Gefühl, daß es doch gar nicht möglich sei, daß ich, ein kleiner und bescheidener Mann, nun das Glück haben sollte, die Luft der Ewigen Stadt zu atmen. Ich war gewiß alles andere als ein snobistischer Reisender, der mit dem Gefühl in die Welt hinausfuhr, daß das alles für ihn gemacht sei und auf ihn warte. In Rom hatte ich sehr angenehme Reisegefährten, mit denen ich mich von Breslau aus verabredet hatte, und die für mich auch schon Wohnung gesucht hatten. Es waren das Dr. Ludwig Ittmann und seine Frau Hedwig geb. Kaim, die Tochter unserer Nachbarn vom Ohlau-Ufer. Dr. Ittmann stand mir, trotz des Altersunterschiedes, schon seit Jahren sehr nahe. Er hatte sich damals, als mein Vater starb und Onkel Perls in Wiesbaden war, besonders bewährt, als er mir die traurige Nachricht beibringen mußte. Ludwig Ittmann war auch Arzt, daneben aber ein schöngeistig sehr interessierter Mensch, der innerhalb der Gesellschaft der Freunde 7 2 besonders die Bücherei betreute und außerordentlich belesen war. Wir haben in Rom Wochen schönster Harmonie verbracht, die durch nichts gestört waren. Ich war für beide der Cicerone, und wir machten es meist so, daß wir uns eine einspännige Droschke nahmen. Ich setzte mich zum Kutscher und verdolmetschte, wenn es möglich war, was er erzählte. Ittmanns haben wohl durch meine Führung mehr von der Reise gehabt, als wenn sie allein gefahren wären, denn selbstverständlich hatte er als beschäftigter Arzt nicht die Zeit gehabt, sich so vorzubereiten, wie ich es tun konnte. Sie haben mir nach unserer Rückkehr als Dank und zur Erinnerung ein schönes Bild vom Titusbogen geschenkt, der für uns Juden ja eine mehr als schmerzliche Erinnerung darstellt. Doch davon wird noch später zu sprechen sein. [...] Ich habe über jene Wochen ein sehr ausführliches und genaues Tagebuch geführt. Vielleicht überlebt es diese Zeiten. Meine Erinnerungen möchte ich nicht mit den Einzelheiten jener Reise belasten, und ich möchte auch nicht in den Fehler verfallen, nach dreißig Jahren gewissermaßen einen Baedeker zu schreiben. Meine Leser dürfte ja auch weniger interessieren, genau zu erfahren, was ich im einzelnen gesehen habe, sondern vielleicht eher, wie der Gesamteindruck war und was auf mich vor allem wirkte. 72
Vgl. oben S. 26.
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Das ganz große Erlebnis war das Forum Romanum. Ich weiß, wieviele Menschen da enttäuscht sind. Für sie ist das nur ein Trümmerfeld, aus dem hie und da Säulenstümpfe emporragen. Sie müssen sich einer Führung anschließen, um überhaupt nur einen Eindruck zu bekommen, daß an dieser Stelle einmal der Pulsschlag des Imperium Romanum schlug, das von Mesopotamien bis nach England reichte. Aber für mich war das anders. Ich sah Marcus Tullius Cicero auf der Rostra, der Rednertribüne, ich hörte ihn sein „Quousque tandem, Catilina" in die Masse hinausschleudern73. Ich erlebte tief unten bei dem schwarzen Stein, dem Lapis niger, die Gründung von Rom. Ich saß in diesem Forum Romanum gerne auf irgendeinem Steinblock und träumte mich in die Welt der Antike hinein. Ich blickte am Nachmittag um die Zeit des Sonnenunterganges vom Palatin über die Stadt, und ich bemühte mich, mir die Welt der Römischen Kaiser so zu vergegenwärtigen, wie mein Lehrer Cichorius sie mich zu sehen gelehrt hatte. Als ich zuerst an den Titusbogen kam und dort die Abbilder unserer heiligen Tempelgerätschaften sah, die im Innern des Bogens angebracht waren, stand unser jüdisches Schicksal lebendigst vor meinen Augen. Kein frommer Jude geht durch den Titusbogen hindurch, sondern immer um ihn außen herum, ist ja dieser Bogen als Symbol unserer Niederlage errichtet worden. An diesem Bogen kamen auch die Erinnerungen an das mittelalterliche Judenschicksal. Hier erwarteten bei einem Papstwechsel die Juden Roms den Papst-König und hielten ihm die Thorarolle entgegen. Meist wurde sie in den Staub getreten, während der Papst den Juden seinen Schutz versprach. Die jüdische Gemeinde Roms ist die älteste auf dem Festland Europas, und sie hat in den über zweitausend Jahren ihres Bestehens niemals eine Unterbrechung erfahren74. Aber welchen Weg des Auf- und Niedergangs haben die Juden Roms durchgemacht! Und da ich gerade bei jüdischen Erinnerungen bin, so will ich noch eine andere einfügen. In meinen dortigen Aufenthalt fiel der Jahrestag meines Vaters, der erste Nissan. Es war selbstverständlich, daß ich zu seinem Andenken Kaddisch sagte, wie ich das immer getan hatte, wenn sich dazu irgendwie die Gelegenheit bot. Die römischen Juden beteten nach sephardischem Ritus. Damals beherrschte ich erst die aschkenasische Aussprache des Hebräischen. Neu war mir auch die Sitte, die in Breslau in der liberalen Die Catilinarische Verschwörung des Jahres 63 v. Chr. scheiterte unter dem Eindruck der Reden Ciceros. 7 4 Vgl. Jüdisches Lexikon. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1987, S. 1470-1479. 73
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Synagoge nicht üblich war, daß man zum Kaddischsagen vor die Gemeinde zu treten hat. Ich wurde zur Thora aufgerufen und sagte meinen Segensspruch mit aschkenasischer Aussprache. Die Synagoge von Rom, die sehr groß ist, machte auf mich einen imposanten Eindruck. Das alte Ghetto, das sanitär sehr unzureichend war, ist, ähnlich wie in Prag, der Sanierung zum Opfer gefallen. Aber an der Stelle, wo es stand, erhebt sich das große G'tteshaus der römischen Juden. Der Boden spricht zu dem, der die Sprache verstehen will. Der Schammes, vulgo Synagogendiener, sprach natürlich nur italienisch, aber das Wort Jahrzeit war ihm bekannt, und er wandte es an. Dem römischen Judentum bin ich sonst nur noch in der Gestalt der Mosaikenhändler begegnet. Der Andenkenhandel spielt ja in jeder Fremdenverkehrsstadt eine bedeutsame Rolle. Die Händler pflegen einen Bauchladen zu tragen und aus ihm die Andenken, vor allem auch Mosaiken, zu verkaufen. Jahrzehntelanger Umgang mit Fremden hat sie einen untrüglichen Blick für diese gelehrt. So bin ich von ihnen auch immer als Jude erkannt worden, auch auf einer späteren Romreise, als ich 1926 mit meiner Frau die Treppen zur Peterskirche heraufstieg, begrüßte uns ein derartiger Mosaikenhändler mit den Worten: Schema jisrael. Wenn man längere Zeit in Rom war, pflegten einen die Händler zu respektieren, das heißt nichts mehr anzubieten, was die höchste Auszeichnung darstellte. Manch einer grinste verständnisvoll, wenn ich auf das, was er sich zu verkaufen bemühte und wofür Engländer die geeignetsten Opfer waren, vecchio Tinnef sagte. Welches Erlebnis war der Vatikan! Unmöglich, durch die Sammlungen hindurchzukommen. Ist es ja auch nur möglich, Museen so lange zu besuchen, wie die Aufnahmefähigkeit der Seele reicht. Aber das eine oder andere ist doch fest haften geblieben, vor allem die Gestalt des Laokoon, die später immer wieder vor mein geistiges Auge trat, wenn ich Lessings unsterbliche Abhandlung meinen Schülern zu interpretieren hatte 75 . Damals bestand zwischen dem Vatikan und dem Königreich Italien noch Kriegszustand. Es war gewissermaßen eine feindliche Grenze, die man überschritt, wenn man über den Petersplatz kam. Die Schweizer Soldaten in ihren mittelalterlichen Trachten auf der einen Seite, die italienischen Soldaten auf der anderen Seite markierten diese Grenze. Als ich in Rom war, saß auf dem Stuhle St. Peters Papst Pius X . Heute ist es schon der zwölfte Pius, der dort regiert, nun nicht mehr mit dem Lessings Schrift „Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte", erschien erstmals 1766. 75
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Quirinal verfeindet, sondern ausgesöhnt und als selbständiger Herrscher dieses kleinsten Staates der Erde 7 6 . Wie wundervoll war es, vom Monte Pincio über die Stadt hinunterzuschauen, wenn der Abend sich senkte! Damals traf sich dort oben um diese Zeit die elegante Welt. [...] Als ich draußen an der Via Appia die berühmten christlichen Katakomben besuchte, verabsäumte ich nicht, die gegenüberliegenden jüdischen Katakomben aufzusuchen, die nicht so ausgebaut waren, aber die mir erschrecklich deutlich machten, wie assimiliert das damalige Judentum Roms war. Man fand dort unten nirgends mehr eine hebräische Inschrift, erkannte nur an der Menorah, daß es sich um jüdische Grabstätten handelt. Vielleicht haben wir deswegen so häufig durch schwere Epochen der Verfolgung hindurchmüssen, weil wir in der Angleichung an die Umwelt zu weit gegangen waren. Die Nachmittage gehörten immer der Natur. Der schönste Ausflug war der nach Tivoli, dem Geburtsort von Horaz. Ich höre mich noch, wie ich dort dem Droschkenkutscher voll Begeisterung die Oden deklamierte, die ich bei Geheimrat Laudien auswendig gelernt hatte. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er sie verstand, wie ja überhaupt auch der einfache Italiener mit der Kultur seines Landes stärker verwurzelt ist als der Deutsche. Man findet viele Italiener, die ganze Gesänge von Dantes Göttlicher Komödie beherrschen, während das deutsche Volk von seinem Goethe in der Regel nur ein Zitat beherrscht. [...] Zum Abschied, so wollte es die römische Überlieferung, sollte man eine Münze in die Fontana di Trevi werfen und zwar mit abgewandtem Anlitz, dann käme man bestimmt wieder. Mir ist jedenfalls das Glück zuteil geworden, die Ewige Stadt noch einmal wiederzusehen. Es war dies im Jahre 1926, als ich mit meiner Frau eine größere Studienreise nach Sizilien machte, die ich schon kurz erwähnte. Obwohl damals schon sechzehn Jahre vergangen waren, konnte ich doch in kürzester Zeit meiner Frau einen Eindruck der Roma aeterna vermitteln. [...] Manches, was ich in R o m fühlte, hat in meinem Gedichtband „Singen und Wandern" ein bescheidenes literarisches Nachleben feiern können 7 7 , besonders die „Römischen Veilchen", die sogar noch durch den Äther verbreitet worden sind. Diese römischen Veilchen, die an der Spanischen Treppe in herrlicher Pracht verkauft wurden!
Die „Römische Frage" wurde 1929 durch die Lateranverträge zwischen Papst Pius I X . und Mussolini erledigt. Pius X I I . amtierte seit 1939. 7 7 SV N r . 3. 76
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Dann ging es wieder nordwärts, und wenn nicht meine Krankheit gewesen wäre, so hätte ich noch eine sehr schöne Zeit vor mir haben können. [...] München war für mich wieder etwas völlig Neues. Der Charakter dieser Stadt als Universitäts- und Kunststadt war doch grundlegend verschieden von dem Charakter Heidelbergs. In Heidelberg standen damals die Universitätsstudenten durchaus im Mittelpunkt. Aber München war mehr Kunststadt. Hier gaben die Universität und ihre Studenten durchaus nicht der Stadt das Gepräge. Es gab sehr viele Hochschulen in München. Die Universität war nur eine von ihnen. Alles war sehr großzügig organisiert; schon am Bahnhof gab es ein Auskunftsbüro, wo man eine Quartierzuweisung erhielt. Ich hatte damit großes Glück, denn ich bekam eine sehr nette Wirtin auf der Fürstenstraße, unweit der Universität, w o ich ein Arbeits- und Schlafzimmer erhielt. Hier waren mir die Wege vorher nicht so geebnet wie in Heidelberg, w o ich gewissermaßen nur in die Fußstapfen meines Bruders Franz zu treten hatte. Auch in München traf ich einige AMVer, die in den ersten Semestern des medizinischen Studiums waren und die zu meinem Unglück meine aus Rom mitgebrachte Krankheit als ausgezeichnetes Versuchsobjekt ansahen, ihre auf der Anatomie erlernten Kenntnisse an mir zu erproben. Der Erfolg war, wie noch zu zeigen sein wird, ein katastrophaler, doch haben die beiden Hauptschuldigen, Bruno Leichtentritt und Arthur Freund, an der leidenden Menschheit wiedergutgemacht, was sie an mir gesündigt hatten. Arthur Freund leitet heute ein bedeutendes Krankenhaus in Palästina, und Leichtentritt ist ein großer Kinderarzt geworden. In München zog ich mir vor allem die Verachtung der Kellnerinnen zu. Durch meine Erkrankung der Verdauungsorgane konnte ich kein Bier trinken, und mußte mich also zu dem todeswürdigen Verbrechen bekennen, selbst im Hofbräu Selterswasser zu verlangen. Die Kellnerinnen sahen mich nur mitleidig lächelnd an und dachten noch Schlimmeres! An der Universität nahm ich eine etwas eigenartige Stellung ein, weil ich ja schon meine Doktorprüfung bestanden hatte und deswegen in den Seminaren als ein Wundertier angestarrt wurde. Da ich nur wenige Wochen in München bleiben konnte, so sind meine Erinnerungen an das akademische Leben der bayerischen Hauptstadt nicht allzu umfangreich, wenn auch im einzelnen doch nicht ganz oberflächlich. Die große Leuchte auf dem Gebiete der Geschichte war damals Professor Karl von Heigel. Bei ihm hörte ich Geschichte der neuesten Zeit seit dem Wiener
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Kongreß von 1815 und nahm auch an seinen historischen Übungen teil. Er bot den Stoff in einer sehr schönen, abgerundeten Form, die sich sehr von dem unterschied, was wir bei Erich Mareks gehört hatten. Ich hatte den Eindruck, daß es bei Heigel bis zu einem gewissen Grade mehr auf die Form als auf den Inhalt ankam. Für mein geliebtes Mittelalter belegte ich mehrere Übungen bei dem Professor Simonsfeld, von dem ich später erfuhr, daß er ein getaufter Jude war. Er war Spezialist auf dem Gebiete Kaiser Friedrich Barbarossas. Für die Jahrbücher zur deutschen Geschichte hatte er die Fortsetzung übernommen, sie aber nicht fertiggestellt 78 . Die zünftige Wissenschaft machte ihm den Vorwurf, daß er zu sehr in Einzelheiten steckengeblieben wäre, doch glaube ich persönlich, daß man die Jahrbücher ihrer ganzen Anlage nach nicht anders behandeln kann, als daß man bis in die letzten Einzelheiten geht. Die Geschichtswissenschaft scheint es übrigens aufgegeben zu haben, diese Jahrbücher zu vollenden, so daß noch heute große Teile fehlen. Zum Beispiel sind die Jahrbücher für Kaiser Friedrich II., die Winkelmann begonnen hat, auch niemals fertig geworden 79 . Ich hätte sehr gerne den Rest dieser Arbeit geleistet, aber dazu ist es wie zu manchem anderen auch nun eben nicht gekommen. Vielleicht wäre mir sogar einmal diese Aufgabe übertragen worden, wenn nicht der Umbruch von 1933 alle und jegliche Weiterarbeit unmöglich gemacht hätte. Bei Simonsfeld nahm ich an Einführungen in die Urkundenlehre teil, machte Übungen in der lateinischen Paläographie für Fortgeschrittene mit sowie auch historische Übungen im Seminar. Ich hätte hier, wenn ich länger hätte bleiben können, sehr viel gelernt. Auch bei Riezler, dem Spezialisten für bayerische Geschichte, nahm ich an historischen Übungen teil. Ich hatte gerade durch meine Arbeit über die Ungarnschlacht auf dem Lechfelde Beziehungen zur bayerischen Geschichte gewonnen. Abgesehen von den Vorlesungen in der Geschichte nahm ich nur noch an den Übungen des Seminars für deutsche Philologie über Lessings Schriften teil, die Professor Muncker leitete. Er war eine besonders abgeklärte Persönlichkeit, die es verstand, uns die Gestalt Lessings sehr nahe zu bringen. Zu Lessing und seinem humanen Geiste hatte man ja als Jude besondere innere Beziehungen.
H . Simonsfeld: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Friedrich I. Bd. 1. Berlin 1908. Die Fortsetzung des Werkes steht bis heute noch aus. 7 9 E. Winkelmann: Kaiser Friedrich II. Bd. 1-2. Leipzig 1889-97. 78
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Selbstverständlich saß ich auch viel in der herrlichen Universitätsbibliothek, die zwar räumlich nicht so gut untergebracht war wie die Heidelberger, die aber in ihrer Büchersammlung sehr viele Schätze in sich barg. Damals arbeitete ich an der Geschichte der sizilischen Flotte unter der Regierung Wilhelms I. und Wilhelms II. Dies sind die beiden Könige, die Roger II. nachfolgten. Es lag in der Natur der Sache, daß ich jetzt als nächstes Buch gerade dieses schreiben wollte. U n d doch ist es bisher nicht dazu gekommen, daß ich diese Arbeit vollendete, obwohl ich nachher noch eine ganze Menge Flottenarbeit schrieb. Mir hat oft liebenswürdige Fachkritik gesagt, daß ich dieses Zwischenstück, das zwischen meinem Buche über die normannisch-sizilische Flotte und dem über die Flotte Friedrichs II. fehlt, noch liefern müßte. Aber es sind so viele andere Arbeiten dazwischen gekommen, daß gerade das liegenblieb, obwohl die Vorarbeiten aus München noch vorhanden sind. Ich würde mich gewiß freuen, wenn ich noch die Möglichkeit haben würde, dieses nun nach über dreißig Jahren zu schreiben, da nicht anzunehmen ist, daß sich in absehbarer Zeit ein anderer noch einmal in die Flottengeschichte Unteritaliens und Siziliens so hineinknien wird. Abgesehen von dem Leben an der Universität und meinen Studien in der Bibliothek gaben diese kurzen Frühlingswochen in München auch sonst dem jungen Manne unendlich viel. [...] Die Abende waren für den Erlebnishungrigen etwas Besonderes, „'s gibt auf dem ganzen Globus nur eine Kathi Kobus." Das war das Lied, das jeden Abend mit immer erneuter Begeisterung im „Simplizissimus" gesungen wurde. Viele haben versucht, das Bild dieser Künstlerkneipe festzuhalten, und ich bin überzeugt, daß ich diese Schilderungen nicht übertreffen kann. In diesem Lokal wehte eine Luft eigener Art. Es waren noch Zeiten, in denen es nicht wie in der Inflation darauf ankam, den Gast zu neppen, sondern wo das Schwergewicht darauf lag, eine Stimmung zu bieten, wie sie sonst nicht anzutreffen war. Es war eine Künstlerkneipe, die häufig nachgeahmt wurde, aber niemals erreicht worden ist. U n d das lag zweifellos an der einzigartigen Gestalt eben dieser Kathi. Gewiß hat sie es in jahrzehntelanger Arbeit auch verstanden, für ihr irdisches Teil zu sorgen. Sie soll draußen vor München ein Häuschen besessen haben. Aber später habe ich gehört, daß sie es in der Inflationszeit wieder aufgeben mußte. Bei ihr konnte man unter den Gästen zwei Gruppen unterscheiden. Auf der einen Seite die Künstler und Studenten und auf der anderen Seite die Fremden, die dieses Lokal besuchten, weil es eben zum guten Ton gehörte. Diese mußten ganz anders zahlen, und sie wurden von den Stammgästen nicht für voll genommen. Hier im „Simplizissimus"
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wurde am Abend kein vollkommenes Programm abgewickelt. Oftmals trug jemand etwas vor, was ihm der Augenblick eingab, und was aus der Stimmung heraus geboren war. Gewiß, es waren auch Künstler dort, die gegen Honorar auftraten, aber durchaus nicht alle. Man sagte mir übrigens, daß die großen Zeiten des „Simplizissimus" damals schon vorbei waren. Jedenfalls habe ich mich da sehr wohl gefühlt und hatte das Empfinden, daß ich mit zum Bau gehörte. Damals war ich mir über meine Begabung noch nicht so ganz klar, und im Unterbewußtsein träumte ich sicher davon, vielleicht auch noch einmal ein großer Dichter zu werden. Aber der Menschheit ist das zu ihrem Glück erspart geblieben. [...] Als es nun gesundheitlich immer mehr bergab ging, und ich es vor einem gräßlichen Jucken, besonders in den Füßen, nicht mehr aushalten konnte, entschloß ich mich nach Breslau zu fahren, um meinen verehrten Corpus unserm alten Hausarzt Onkel Perls zu zeigen. Er hatte auch sofort die richtige Diagnose. Ich hatte nicht nur eine Gelbsucht, die mich völlig verfärbt hatte, sondern mir als weiteres Andenken aus Rom noch eine unangenehme Leberanschwellung mitgebracht. Ich hielt es überhaupt nur aus, wenn ich die Füße dauernd im Essigwasser hatte, und ich sehe noch, wie mir unser gutes altes Fräulein Hirsch andauernd warme Fußbäder zurechtmachte. Onkel Perls versuchte es mit einer Karlsbader Kur zu Hause. Aber nachdem ich das einige Wochen hatte über mich ergehen lassen, und immer noch keine nennenswerte Besserung eingetreten war, riet er mir, daß ich, wenn ich nicht einen dauernden Schaden haben wollte, unbedingt nach Karlsbad müßte. Es sei das die einzige Möglichkeit, die Sache los zu werden. Ich war auf der einen Seite darüber sehr unglücklich, denn als ich von München nach Breslau fuhr, hatte ich doch die Hoffnung, daß das Semester noch nicht gänzlich verloren sei, daß es noch eine Möglichkeit gebe, es fortzusetzen. N u n war das vorbei, und wie ich mir ehrlich gestehen mußte, im Grunde doch durch meine eigene Schuld. Ich fuhr also nach Karlsbad. Es war nur gut, daß damals wenigstens geldliche Rücksichten keine Rolle zu spielen hatten, auch nachdem ich diese Reise nach Rom vollendet hatte, die doch mancherlei Opfer in materieller Beziehung erforderte. So kam ich also in die Bäderstadt Karlsbad. D o r t erwartete mich unsere gute Tante Marie, die zufällig auch zu einer Kur sich dort aufhielt. Sie nahm mich während der ganzen Zeit unter ihre Fittiche. So eine Kur in Karlsbad ging aufs Ganze, aber voll dankbarer Bewunderung stand ich vor der Heilkraft dieser Quellen. Vor allem war
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es der Sprudel, den man durch seine gewaltige Hitze fast gar nicht zu sich nehmen konnte, der aber dann doch nach Wochen noch seine Wirkung zeigte. Auch da kann ich meinen Lesern nichts Neues bieten, wenn ich ihnen den Verlauf so einer Kur in Karlsbad schildere, bei der man sich zunächst von Tag zu Tag elender fühlt, bei der man das Empfinden hat, Steine im Leib zu haben und dann erst nach Wochen merkt, wenn man den Ort verlassen hat, was sie gewirkt hat. Sprechen wir lieber etwas von dem Leben im Bade selbst und von dem, was ich beobachtete. Da es mir nie in meinem Leben möglich war, gänzlich müßig zu gehen, so habe ich mich auch in Karlsbad geistig betätigt, und zwar war es Richard Voß, der dort im Mittelpunkt meiner Arbeit stand. Das konnte ich machen, ohne eine große Bibliothek zu besitzen. Ich hatte mir nämlich nach und nach sämtliche Werke von Richard Voß, im besonderen die Dramen gekauft und benutzte die Mußestunden in Karlsbad, um mir ausführliche Inhaltsverzeichnisse anzufertigen. Aus dieser Beschäftigung mit Richard Voß sind dann sehr viele Zeitungsaufsätze entstanden 80 , aber auch ein Buch, das vor allem seine Dramen behandelt. Leider ist dieses Buch niemals gedruckt worden, obwohl es sicher bei der nicht allzugroßen Literatur über Richard Voß noch seine Berechtigung gehabt hätte. Ich hatte mit verschiedenen Verlegern darüber korrespondiert. Schließlich standen die Verhandlungen mit dem Breslauer Verleger, dem Konsul Schottländer, gar nicht so unglücklich (ein Jahrzehnt war wohl seitdem in die Lande gegangen), aber ich sollte einen Druckkostenzuschuß leisten, und das wollte ich nicht. Heute bedauere ich das sehr, denn dieser Zuschuß wäre schon in stark entwerteter Mark zu leisten gewesen, Geld, das nachher sowieso verlorenging, während das Buch geblieben wäre. Durch diese Arbeit kam ich aber mit dem Dichter selbst in Korrespondenz und mit mancherlei Bühnen. Richard Voß hat Preisdramen geschrieben, und so kam ich auf den Gedanken, die Akten darüber anzufordern, um interessantes, unveröffentlichtes Material zu gewinnen. Vielleicht ist es für mich nicht als ein Unglück anzusprechen, daß ich nicht bei der Literaturwissenschaft hängen blieb, obwohl ich es auch wieder nicht bedauert habe, daß meine Interessen so vielseitig waren und es im Grunde heute noch sind. Ganz in das Spezialistentum zu kommen, hat mir niemals gelegen.
80
SV Nr. 73.
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Karlsbad lockte gewiß zu literarischen Erinnerungen. Vor Willy Cohn war schon ein berühmter Dichter in Karlsbad regelmäßiger Kurgast gewesen, nämlich Johann Wolfgang von Goethe 8 1 . Mancherlei erinnerte noch an diese Zeit. Besonders eifrig ging ich allen Spuren nach, die sich mir darboten. [...] Bekanntschaften habe ich nicht weiter gemacht; im allgemeinen sagte mir das Badepublikum wenig zu. Ich habe für die skatspielende Menschheit, die das draußen in den Kaffeehäusern erledigte, wenig Sympathie gehabt. Vielleicht war aber dieses Skatspielen draußen in den Kaffeehäusern etwas Zwangsläufiges, weil die dicklichen Kurgäste sich nach Tisch nicht aufs O h r legen durften. Aber es wirkte wenig schön, wenn man besonders auch die Damen mit Ringen an den Fingern da draußen spielen sah. Schon damals hatte sich in mir die Überzeugung gebildet, daß eine stärkere Zurückhaltung durchaus am Platze gewesen wäre. Leider ist es sehr schwer möglich, auf jüdische Kreise dieser Art einen Einfluß zu gewinnen. Ich habe mir gerade in dieser Richtung in meinem Leben außerordentlich viel Mühe gegeben, aber der Erfolg ist kein übermäßig großer gewesen. Oft wird mir in jüdischen Kreisen die Behauptung bestritten, daß manches anders gekommen wäre, wenn gerade die besitzenden Kreise der Juden einfacher nach außen gelebt hätten. Eben in Karlsbad aber habe ich gesehen, wie das wirkt, wenn man sein Wohlleben derartig zeigt. Im Sudetengau ist der Antisemitismus mit besonderer Stärke gewachsen. Inwieweit dazu eben die Orte Marienbad und Karlsbad beigetragen haben, weiß ich nicht. Vielleicht, daß einmal in ruhigeren Zeiten eine Untersuchung gemacht wird, die sich bemüht, diese Zusammenhänge wissenschaftlich zu ergründen. Ich weiß, daß mein guter Vater stets darauf gehalten hat, daß von uns aus, die wir ja auch zu den mit Glücksgütern ziemlich Gesegneten gehörten, alles geschah, um zu vermeiden, daß andere durch unser Auftreten irgendwie gekränkt werden könnten. Für den Historiker ist es eine alltägliche Beobachtung, daß ein geschichtlicher Prozeß zu seiner Entfaltung sehr lange Zeit braucht; für den gläubigen Juden aber kommt dazu noch die Erkenntnis, daß es in unserem Schrifttum heißt: „Der Du heimsuchst die Sünden der Väter an den Kindern usw." 8 2 . Wir Juden haben eine unbeschränkte Haftung füreinander, und deswegen sollten wir uns bemühen, in unserem Auftreten keinen Anstoß zu bieten.
81 82
Goethe weilte zwischen 1785 und 1823 zwölfmal in Karlsbad. Deuteronomium 5,9 bzw. Exodus 20,5.
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Aber zurück zu dem Persönlichen. Die Kur in Karlsbad hatte mich derartig geschwächt, daß leider an eine sofortige Aufnahme der Arbeit nicht zu denken war und ich noch eine Nachkur machen mußte. Darüber war ich natürlich ziemlich unglücklich, aber es war nun nicht zu ändern, und es fand sich sogar eine angenehme Möglichkeit, um diese gut durchzuführen. In diesem Sommer 1910 hatte sich mein Bruder Franz als Badearzt in Bad Kolberg niedergelassen. Damit hatte es eine Bewandtnis, die an und für sich für ihn nicht so erfreulich war. Wie ich ja schon erzählt habe, war er Arzt, und er wäre brennend gern als Schüler des Breslauer Gynäkologen Asch auch Frauenarzt geworden. Aber durch seine Körperkonstitution hielt er die Luft in den Operationssälen nicht aus. So mußte er einen anderen Zweig der Medizin wählen und wurde Badearzt. In Bad Kolberg bot sich für ihn eine Existenzgrundlage. So kam es, daß er sich dort niederließ und ich meine Nachkur dort abhalten konnte. Sein Haushalt bestand aus ihm, seiner jungen Frau Grete und seiner Tochter Anni, die damals erst ein Jahr alt war. Außerdem war dort ein altes Faktotum, die Kinderfrau Anna; ich glaube, Kinderfrauen müssen so heißen. Sie beherrschte unbedingt den Haushalt, denn die jungen Frauen jener Zeit verstanden verhältnismäßig wenig von Kinderpflege und waren ihren Angestellten mehr oder weniger ausgeliefert. Von Karlsbad nach Kolberg konnte man schlecht direkt fahren. Ich übernachtete in Berlin im Hotel „Stettiner Bahnhof", eben an diesem. Damals hätte ich mir auch nicht träumen lassen, daß ich mit dieser Gegend Berlins in den Revolutionstagen von 1918 noch ein unangenehmes Wiedersehen erleben und nachts dort schwerbewaffnet würde Patrouille gehen müssen 83 . In Kolberg, wo ich zwar nicht bei Franz wohnte, aber dort mich viel aufhielt und alle Mahlzeiten einnahm, habe ich mich sehr wohl gefühlt. [...] Ich kam allmählich wieder zu Kräften, immer noch bei sehr strenger Diät. Ich aß dasselbe wie meine einjährige Nichte und merkte dort, daß Karlsbad mir wirklich die Genesung gebracht hatte. Geistig beschäftigte ich mich weiter vor allem mit Richard Voß und machte damals auch den einzigen Versuch meines Lebens, ein Drama zu schreiben. In ihm sollte die Hauptrolle ein normannischer Admiral, Georg von Antiochia spielen, aber dieses Drama ist nie zum Abschluß gekommen, und ich glaube auch, daß die Menschheit daran nichts Übermäßiges verloren hat. [...] 83
Vgl. unten S. 266.
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II. Kapitel
Als ich aus Kolberg zurückkam, bedurfte ich noch einer gewissen Schonung. Aber im wesentlichen war ich nun gesund. Ich konnte an ernste Arbeit wieder herangehen, denn jetzt handelte es sich ja vor allem um die Vorbereitung des Staatsexamens, das für meine spätere Existenz von grundlegender Bedeutung war. Ich war mir darüber klar, daß jetzt nach all den besonders schönen Monaten eine sehr unangenehme Zeit vor mir liegen würde, eine Zeit, bei der es darauf ankam, alles fernzuhalten, was das eine Ziel beeinträchtigte, die Staatsprüfung zu machen. Wenn es auf mich angekommen wäre, so hätte ich vielleicht überhaupt nicht die Staatsprüfung gemacht, weil ich ja am liebsten ganz zur Wissenschaft übergegangen wäre. Ich verdanke es vor allem meiner Mutter, daß sie mir immer wieder zugeredet hat, mir doch diese Tür offen zu halten, weil ja eben nur die Staatsprüfung zu einer Anstellung berechtigte. Ich bin ihr heute nach so vielen Jahrzehnten dafür besonders dankbar. Damals im Jahre 1910 war man ja fest davon überzeugt, daß die materielle Lage von uns Cohnschen Geschwistern eine so gute wäre, daß ein Broterwerb niemals notwendig sein dürfte. Hätte ich aber die Staatsprüfung nicht gemacht, wo wäre ich dann nach der Inflation und nach dem Zusammenbruch der Firma Geschwister Trautner Nachfolger materiell hingekommen! Wenn man sein Leben überschaut, so bleibt immer wieder die Grundauffassung, daß alle Führung unseres Schicksals in der höchsten Hand liegt und daß, wie es auch immer geht, man G'tt dafür dankbar sein muß, daß er uns seine Wege führt, auch wenn sie uns manchmal nicht sofort einleuchten. Es steht in unserem Schrifttum, daß G'ttes Gedanken nicht unsere Gedanken sind 84 . Die Vorbereitung zum Staatsexamen wollte ich besonders gründlich machen und in aller Ruhe, damit es besser würde als die Doktorprüfung. Das hing ja bei mir nicht so sehr von dem Maße des aufgewandten Wissens ab, über das ich wohl ausreichend verfügte, sondern vor allem davon, ob ich im richtigen Augenblick auch das bereit haben würde, was ich wußte. Mit Beginn des Wintersemesters ließ ich mich als Hospitant an der Universität einschreiben. Ich war ja nicht mehr verpflichtet, ordentlicher Studierender zu sein. Es war aber von Bedeutung, die Fühlung mit den Prüfenden aufrecht zu erhalten, weil man ja nur dadurch in die Lage versetzt war zu wissen, was jeweils gefragt wurde. Ich nahm an dem philosophischen Seminar Kühnemanns teil, am germanistischen
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Jesaja 55,8.
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Seminar für Fortgeschrittene bei Max Koch; vor allem aber hörte ich sämtliche Vorlesungen bei dem Geographen Professor Supan, denn hier fehlte noch das meiste in meiner Ausbildung, obwohl ich bei Hettner in Heidelberg eine gute Grundlage erworben hatte. Ich hatte die Absicht, in folgenden Fächern die Lehrbefähigung für das höhere Lehramt zu erwerben: in Deutsch, Geschichte und philosophischer Propädeutik für die Oberstufe und in Erdkunde für die Mittelstufe. Das war ein ziemlich reichhaltiges Programm. Ich hatte mir, wie meist in meinem Leben, das Ziel wieder recht hoch gesteckt. Schließlich habe ich es dann auch wieder geschafft. Im allgemeinen waren zu dieser Staatsprüfung zwei große wissenschaftliche Arbeiten anzufertigen; wenn man aber eine gedruckte Doktorarbeit vorlegen konnte, so brauchte man nur noch eine anzufertigen. Dafür wählte ich mir das Gebiet der Philosophie. Bei den mannigfachen Strömungen an der Universität war es auch bei der Staatsprüfung von größter Bedeutung, die richtigen Prüfenden zu bekommen. Besonders stark tobte der Krieg zwischen den beiden Vertretern der Germanistik, den Professoren Siebs und Koch. Siebs, über den ich ja schon mehrfach berichtet habe, vertrat besonders die sprachliche Seite. Die beiden Professoren waren derartig miteinander verkracht, daß, wenn der eine einen Schüler des andern durchfallen ließ, bei der nächsten Prüfung der andere sich revanchierte und wieder ein Opfer zur Strecke gebracht wurde. Begreiflicherweise wollte man nicht gern dieses Opfer sein. Es hieß also mit den unteren Instanzen des Provinzial-Schulkollegiums (bei dieser Behörde war die Staatsprüfung abzulegen) die richtige Fühlung aufzunehmen. Die Professoren kamen nämlich in einem regelmäßigen Turnus zu dem Prüfungsgeschäft heran, damit keiner überlastet wurde. Wehe also dem, der das Pech hatte, den falschen zu erwischen! Aber so weit war ich noch nicht, denn zunächst handelte es sich darum, die schriftliche Prüfung zu machen. Der eigentliche Paukbetrieb hatte erst nach Ablegung der schriftlichen Prüfung einzusetzen, obwohl man sich ja mühen mußte, das für die mündliche Prüfung notwendige Wissen stets bereit zu halten. Am 21. Februar 1911 meldete ich mich zur Prüfung. Es war gewissermaßen der erste Schritt in das amtliche Leben. Von diesem Augenblicke an durfte ich den schönen Titel „Kandidat des höheren Lehramts" führen. Ich hätte es mir niemals träumen lassen, daß ich gerade diese Amtsbezeichnung würde haben müssen. Im allgemeinen stellte man sich ja doch unter einem Kandidaten eine sehr kümmerliche Erscheinung vor, auf Gütern als Hauslehrer herumgestoßen, bis es dann gelang, irgendeine feste Anstellung zu bekommen. Alles das hat mir die Fürsorge meines
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Vaters über sein Grab hinaus erspart. Ich habe leider durch die Härte der Zeit für meine Kinder nicht die gleichen Möglichkeiten gehabt. So hat mein Sohn Wolfgang lange in Frankreich ein Hauslehrerleben führen müssen. Er hat niemals darüber geklagt, aber ich habe mir doch stets vorstellen können, daß es nicht ganz einfach ist, sich immer wieder in neue Verhältnisse hineinzufinden. Nachdem ich mich also zur Prüfung gemeldet hatte, bekam ich für die philosophische Hausarbeit das Thema „Über Kritizismus und Dogmatismus bei Descartes und die Aufgaben ihrer späteren Auseinandersetzung". Das Thema hatte Kühnemann gestellt, zu dessen engerem Kreis ich nun schon lange gehörte. Er wußte ziemlich genau, wofür man geeignet war und womit man sich beschäftigte. Es war Sache des Wohlwollens des akademischen Lehrers, ob er auf diese Interessen des Schülers einging oder ob er sich gerade ein Thema heraussuchte, das einem möglichst wenig lag und das man womöglich gar nicht bearbeiten konnte. Für diese Hausarbeiten war eine bestimmte Frist gestellt, die nicht überschritten werden durfte. Man konnte sie wohl verlängern lassen, aber wenn man auch dann nicht die Arbeit rechtzeitig abgab, dann war eben die schriftliche Prüfung nicht bestanden. Ich bin rechtzeitig mit der Arbeit fertig geworden. Ich habe niemals in meinem Leben solche Termine bis zum letzten Augenblick ausgenutzt. Von den Rechtskandidaten erzählte man, daß sie oft noch bis zum letzten Augenblick diktieren und dann noch nachts um Zwölf die Arbeit bei den Postschaltern in der Verkehrshalle des Hauptbahnhofs einschreiben ließen, ja womöglich noch nach Zwölf den Schalterbeamten veranlaßten, den Poststempel rückwärts zu drehen. Es gab in Breslau Schreibmaschinenbüros, die auf diese Nachtarbeit eingestellt waren und bei denen die Nerven der jungen Damen es vertrugen, mit der Stoppuhr in der Hand zu arbeiten. Ich habe in meinem Leben nie eingesehen, warum es notwendig ist, so etwas bis zum letzten Augenblicke zu lassen, dafür bin ich aber auch nicht Jurist. Die Arbeit über Descartes hat mir sehr viel innere Befriedigung gewährt, obwohl es eine Examensarbeit war. Dieser französische Denker ist von einer letzten Klarheit. Mit besonderer Freude habe ich mich in seine Meditationen hineingedacht. Die meisten seiner Werke habe ich mir damals gekauft und besitze sie noch heute. Meine spätere wissenschaftliche Entwicklung hat mich dann nicht mehr zur philosophischen Arbeit kommen lassen. Wenn man etwas leisten will, so bleibt ja nichts anderes übrig, als sich zunehmend zu spezialisieren. Der Sommer 1911 sah mich auch wieder als Hospitanten bei der
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Universität. Ich finde, wenn ich das Verzeichnis der belegten Vorlesungen und Übungen durchblättere, neben den schon mehrfach genannten Namen noch den des Privatdozenten Dr. Julius Guttmann, der damals wohl erst seit kurzem diese Stellung innehatte. Ihn habe ich schon in anderem Zusammenhange in meinen Erinnerungen erwähnt als Sohn des Breslauer Gemeinderabbiners Professor Jakob Guttmann. Damals hat er, dem ein bedeutender Ruf als Philosoph voranging, auf mich als akademischer Lehrer keinen so großen Eindruck gemacht. Das kann aber natürlich auch daran liegen, daß ein unglücklicher Examenskandidat nicht mehr der geeignete Mann ist, sich in einen neuen Privatdozenten gebührend hineinzuleben. Der Sommer 1911 aber brachte für mich noch neben diesem mehr oder weniger öden Examensdasein eine angenehme Unterbrechung. Am Schluß des Sommersemesters feierte die Breslauer Universität ihr einhundertjähriges Bestehen. Sie war im Jahre 1811, in der Notzeit Preußens, von Frankfurt an der Oder nach Breslau verlegt worden 8 5 . Dieses Fest wurde mit allem Glänze des kaiserlichen Deutschland begangen. Eigene Münzen wurden geprägt, von denen eine beschränkte Anzahl den Teilnehmern des Festes zur Verfügung standen. Eine große Jubiläumsgeschichte wurde vorbereitet, für die auch die Geschichte der Korporationen zu schreiben war. Damals habe ich eine Geschichte des Akademisch-Medizinischen Vereins geschrieben 86 . Seit meiner Doktorprüfung war ich ja nun Alter Herr, was mir bei meiner Jugend manchmal ein wenig komisch vorkam. Neben der offiziellen Festschrift 87 erschienen allerhand Jubiläumsgaben, vor allem war auch der Verein für Geschichte Schlesiens unter den Gratulanten 88 . Den Gelehrtenkörperschaften Breslaus, dem eben genannten Verein und der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur bin ich damals auch beigetreten 89 , und ich habe
8 5 In Breslau bestand schon seit 1702 eine katholische Universität, die mit der protestantischen Frankfurter Universität 1811 vereinigt wurde. 8 6 Vgl. oben S. 82, Anm. 54. 8 7 G. Kaufmann (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau. 2 Bände. Breslau 1911. 8 8 Der Verein für Geschichte Schlesiens widmete der Universität Breslau zum Jubiläum das Buch Gustav Bauchs: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Breslau 1911. 8 9 Den Beitritt zum Verein für Geschichte Schlesiens melden die Schlesischen Geschichtsblätter 1 (1911), S. 19. Der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur gehörte Cohn seit 1912 an, ebenso übrigens auch seine Bürder Franz (seit 1924) und Rudolf (seit 1929). Vgl. Verzeichnis sämtlicher Mitglieder der
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diesen Organisationen fast ein Vierteljahrhundert angehört, bis es die Zeitverhältnisse unmöglich machten. Aber nun zurück zu dem Universitätsjubiläum. Von den wissenschaftlichen Organisationen wird ja noch öfters zu reden sein. Jubiläumsrektor war mein Lehrer, der Sanskritist Hillebrandt. Das war eine besondere Auszeichnung. Er erschien seinen Kollegen als der Würdigste, und er hat es auch vorbildlich verstanden, dieser Feier die Würde zu geben. Selbstverständlich sind in der damaligen Festschrift auch alle die Großen jüdischen Blutes genannt worden, die zum Ruhme der Breslauer Universität an dieser gewirkt haben. Ebenso selbstverständlich ist es, daß sie bei einer späteren Feier, die nach 1933 stattfand, nicht mehr genannt wurden 90 . Neben den offiziellen Festakten und neben dem großen Kommers, für den ein unbedingter Burgfrieden unter den Korporationen erklärt wurde, war mit das Schönste das große Sommerfest im Südparkrestaurant, zu dem die Stadt Breslau eingeladen hatte. Nicht nur, daß in reicher Fülle leibliche Genüsse zur Verfügung standen, es war auch schön, dieses bunte Bild der Jugend zu sehen und dazu die „Alten Herren", die mit der Jugend wieder jung wurden. Damals herrschte in Breslau vielleicht zum letzten Male die Studentenmütze im Stadtbild vor. Auch das gehört heute längst der Vergangenheit an. Aber hier ist nicht die Stelle, um darüber zu urteilen, ob dieses alte Korporationswesen noch seine Daseinsberechtigung hätte oder ob es besser ist, daß die Zeit es beendet hat. Wer hätte damals, als diese Tausende von Festteilnehmern vergnügt und entspannt an einem herrlichen Sommerabend im Südpark zusammensaßen, daran gedacht, daß ein großer Teil von ihnen in wenigen Jahren irgendwo in der Champagne oder bei Verdun, in Rußland oder in Galizien ihr Leben erfüllt haben würden! Glücklicherweise sah man nicht die apokalyptischen Reiter, die damals schon sattelten, um die Welt in ein Unheil zu stürzen, dessen Folgen wir heute wieder zu tragen haben. Damals herrschte Jubel und Frohsinn
Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur im Anhang des 101. JahresBerichtes. Breslau 1929. 9 0 Die Anspielung bezieht sich auf die 125-Jahr-Feier der Universität Breslau 1936. Der aus diesem Anlaß erschienene Band „Aus dem Leben der Universität Breslau" wurde zwar von dem aus jüdischer Familie stammenden früheren Professor Friedrich Andreae zusammengestellt. Aber weder durfte Andreaes Name genannt werden, noch führte das umfangreiche Register auch nur einen der zahlreichen und angesehenen jüdischen Gelehrten der Breslauer Universität an.
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in Breslau. Diese Universitätsfeier ist eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens und ein harmonischer Abschluß meiner Studentenzeit. Nach ihr trat ich noch eine geographische Studienfahrt an, die Professor Supan für die Hörer seines Seminars veranstaltete. Wir sollten auf ihr den Aufbau der Thüringer Landschaft näher kennenlernen und einige kleinere geologische Untersuchungen selbst durchführen. Auf dieser Reise herrschte eine wundervolle Harmonie. Nicht der geringste Mißton störte das Einvernehmen. Die Zahl der Juden, die sich beteiligten, war sehr gering. Außer mir, wenn ich mich recht erinnere, nur noch Eva Heilberg, die Tochter des berühmtesten der damaligen jüdischen Anwälte, mit der ich mich sehr gut verstand. Wir lernten auf dieser Reise manchen der abseits von der großen Heerstraße gelegenen Thüringer Orte kennen, die ich dann niemals mehr wiedergesehen habe. Wie schön und lieblich war das Schwarzatal! Welchen Eindruck machte auf mich Ruhla, wohin die Sage die Erzählung vom Schmied von Ruhla verlegte. Damals existierten ja noch die thüringischen Kleinstaaten. Uns wurde eine Stelle gezeigt, w o mitten durch ein Haus eine dieser Landesgrenzen ging. Uberall gab es Exklaven und Enklaven. Aber es war im Grunde doch eine recht lustige Kleinstaaterei, und die meisten dieser Landesherren taten für ihre Ländchen das Möglichste. In einem dieser kleinen Orte veranstalteten wir eine große Kneipe auf dem Marktplatz, die ich zu präsidieren hatte. Ich hatte mir schließlich doch im Laufe dieser akademischen Jahre den sogenannten C o m m e n t angeeignet und habe das, glaube ich, ganz ordentlich gemacht. Vielleicht wird das, was ich hier sage, den Lesern wie ein fernes Märchen klingen. Die, die mich nur aus einer späteren Zeit kennen, werden es vielleicht schlecht für möglich halten, daß dem wirklich so war. Darüber hinaus wird es aber all denen, die ein harmonisches Zusammenleben von Juden und Deutschen nicht mehr gekannt haben, im höchsten Grade unwahrscheinlich sein, daß so etwas möglich war. Und doch bestand eben im vollen Umfange diese Harmonie. Wir wurden als durchaus gleichwertig angesehen, und dabei habe ich, was ich nochmals [erwähne], wenn es mir auch durchaus selbstverständlich ist, niemals in irgendeiner Form Mimikry getrieben und mein Judentum stets hochgehalten. Sogenannte Zweckmäßigkeitserwägungen haben für mich niemals existiert. Von Thüringen aus fuhr ich zur Erholung nach [...] Sylt. Es war die erste Seereise meines Lebens, und mit besonderem Stolze schickte man Ansichtskarten nach Hause, auf denen sich der Stempel „auf hoher See" befand. [...] Wie schön war es, auf einem behaglichen Schiff der Hamburg-
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Amerika Linie die Elbmündung abwärts zu gleiten. Man hatte dieses wundervolle Gefühl der Entspannung, des Für-nichts-sorgen-zu-müssen. [•••] An der Südspitze von Sylt angekommen, bestieg man eine der Hamburg-Amerika Linie gehörige Schmalspurbahn und fuhr nach Westerland. In Westerland nahm ich in dem Hause „Villa Marie" Quartier. Heute, da der Hindenburgdamm die Insel Sylt mit dem Festlande verbindet, vollzieht sich ja diese Reise auf einem anderen Weg. Das heißt in diesem Augenblick, da ich diese Zeilen niederschreibe, ist das alles ja Kriegsgebiet. Wo einst friedliche Menschen ihrer Erholung nachgingen, dort schlagen jetzt die Bomben ein, und Tod und Vernichtung regiert. Ich hatte während der ganzen dortigen Wochen an dem Zahnarzt Dr. Paul Rosenstein aus Breslau die beste Gesellschaft. Wir verstanden uns in jeder Beziehung ausgezeichnet. [...] Am meisten liebten wir es, Westerland so rasch wie möglich zu verlassen und auf dem schmalen Saum, den der trockene Sand und das Meer freigibt, dort, wo es feucht war und es sich besser ausschreiten ließ, zu wandern. Kaum war man ein paar hundert Meter gegangen, so verschwand Westerland und sein Badetreiben, man hatte dann auf der einen Seite das gewaltige Meer mit seiner oft mächtigen Brandung und auf der anderen Seite die Dünen in ihrer Einsamkeit. Einmal kamen wir auf so einer Wanderung an dem Friedhof der Heimatlosen vorbei, den Carmen Sylva besungen hat. Hier ruhen die Seeleute, die das Meer freigibt, und von denen man nicht weiß, wer sie sind. Auf diesen Wanderungen wurde unsere Seele weit und groß, und man bekam wieder die Distanz zu den Dingen, die notwendig ist, um das Großstadtleben zu ertragen. [...]
Einer der schönsten Ausflüge, den ich damals machte und der mir den Einblick in eine ganz neue Welt eröffnete, war nach der Hallig Hooge. Man fuhr mit einem kleinen Motorboot der Hamburg-Amerika Linie dorthin, und schon die Fahrt durch das Wattenmeer hatte ihren eigenen Reiz. Diese Halligen sind etwas ganz Besonderes. Es sind bekanntlich Inseln ohne Deiche, w o erhöht auf einer sogenannten Warft ein Haus oder auch mehrere stehen. Bei Sturmfluten ist manchmal die ganze Insel vom Wasser bedeckt, und die Menschen, die in dem Hause wohnen, sind von der Umwelt abgeschnitten. Oftmals sind sie auch zugrunde gegangen. Und doch hängen die Bewohner dieser Insel mit letzter Heimatliebe an ihrer Scholle. [...] Auch für mich war Heimatliebe immer etwas Großes und Heiliges. Den Satz „ubi bene ibi patria" habe ich immer bekämpft.
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Unsere östlichen Brüder haben auf ihren Wanderungen manchmal sehr rasch das Land gewechselt und sind immer dann weitergezogen, wenn eine Krise kam und die Verdienstmöglichkeiten geringer wurden. Gewiß, man kann zur Entschuldigung der Ostjuden sagen, daß sie in Rußland keine Gelegenheit hatten, wirkliche Heimatliebe kennenzulernen. Für sie ist der Ort, wo sie sich befinden, eben nur eine Stelle, die ihnen Nahrung gibt. So hat mir einmal ein Ostjude, für den ich eine Menge getan habe, gesagt, Deutschland sei ihm eine gute Kuh gewesen. Er hat nicht hinzugesetzt, aber wohl gemeint, daß er eben nun, da das Land sich nicht mehr von ihm melken läßt, am besten tut, seinen Koffer zu packen. Wir Juden, die wir in Deutschland groß geworden sind, haben aber stets anders gedacht, und wenn manche von uns sich aus bewußtester Überzeugung zum Zionismus durcharbeiteten, so war das eben nicht eine Konjunkturangelegenheit, sondern die Uberzeugung, daß nur der Zionismus unseren Kindern einmal eine endgültige Heimat geben kann. Gerade weil wir in unserem deutschen Heimatbewußtsein bis zu einem gewissen Grade Schiffbruch erlitten haben, kamen wir zum Zionismus. [...]
III. P R E U S S I S C H E L E H R J A H R E
(1911-1914)
„Für mich aber war diese Schule preußischen Beamtentums eine ganz ausgezeichnete." Die nächsten Monate gehörten ernster Arbeit; aber der Erfolg war auch vorhanden. Ich bestand am 1. Dezember die Prüfung für das höhere Lehramt in Preußen und erhielt die Lehrbefähigung in allen Fächern, die ich beantragt hatte. Damit war gewissermaßen meine bürgerliche Existenz gesichert und die Jugendzeit zu Ende. Es war wieder ein Rekord an zeitigem Fertigwerden, wenn ich mir auch etwas mehr Zeit gelassen hatte als zur Doktorprüfung. Denn erst am 12. Dezember wurde ich dreiundzwanzig Jahre alt. Diese frühe Staatsprüfung aber hat sich für mein späteres Leben als sehr segensreich erwiesen und mir auch nach dem Umbruch von 1933 die äußere Existenzsicherung gewährleistet. Doch ist es sicher besser, alles hübsch der Reihe nach zu erzählen. Und so möchte ich meine Leser in das Haus des Provinzialschulkollegiums führen, w o ein erwartungsvoller, mit Frack bekleideter Kandidat vor der hohen Kommission zu erscheinen hat. Vorsitzender der wissenschaftlichen Prüfungskommission war der Geheime Regierungsrat Dr. Thalheim, ein wegen seiner Grobheit gefürchteter Scholarch. Diese Grobheit war ziemlich äußerlich. Im allgemeinen sind gerade grobe Menschen die gütigsten. Eine kleine Anekdote ist mir da noch in Erinnerung geblieben. Als ich mich zur Prüfung meldete, mußte ich ihn persönlich aufsuchen, um ihm meine Wünsche hinsichtlich der prüfenden Herren vorzutragen, wovon ich ja schon gesprochen habe. Dabei hatte ich das Pech, über die Schwelle zu stolpern, worauf mir Thalheim wörtlich sagte: „Stolpern Sie nicht, das gehört auch dazu!" In der Prüfung hatte ich für Geschichte den Professor Kampers, den Inhaber der katholischen Geschichtsprofessur. Zu ihm hatte ich wenig Beziehungen; ich hatte zwar ein Semester lang sein Seminar belegt, aber er hat es meist ausfallen lassen. Kampers gehörte auch zu den Mitherausgebern der „Historischen Untersuchungen", in
Preußische Lehrjahre (1911-1914)
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denen meine Doktorarbeit als Buch erschienen war 1 . Ich hatte mir ja schon einen gewissen wissenschaftlichen R u f erworben, und so bedeutete die Geschichtsprüfung kein besonderes Ereignis. Es ging das alles glatt und ordentlich vonstatten. Das gleiche war auch in der philosophischen Propädeutik bei Kühnemann der Fall und ebenso auch im Deutschen bei Max Koch. Hier hatte ich mich mit Hilfe der „Kochkiste" ausgezeichnet vorbereitet 2 . [...] Seine Art der Fragenstellung erforderte ein ungeheures Training des Gedächtnisses. Auf diesen Teil der Prüfung hatte ich mich zusammen mit einem Kollegen, Dr. Richter, vorbereitet, mit dem ich später auch noch nach Jahrzehnten im Amt am Johannesgymnasium zusammentraf und der leider verhältnismäßig früh einem Krebsleiden erlegen ist. Damals vor dem Staatsexamen kam er sehr viel zu mir. Zu meinem eigenen Erstaunen entwickelten sich auch in mir allerhand pädagogische Fähigkeiten. Ich konnte sogar später einmal, was mir in einer kritischen Zeit eine Hilfe war, ein Repetitorium für Doktoranden und Staatsexamens-Kandidaten einrichten. Aber nun noch einmal zurück ins Haus des Provinzialschulkollegiums, das sich damals am Magdalenenplatz befand. Am wenigsten gut ging es in der geographischen Prüfung, wo ich nur die Lehrbefähigung für die Mittelstufe erhielt. Wäre es in diesem Teile der Prüfung noch besser gegangen, so hätte ich das Prädikat „gut" erhalten. Aber auch ohne dieses Prädikat hat sich meine Karriere als Lehrer normal abgewickelt. Als ich aus der Prüfung herauskam, die sich über zwei Tage erstreckte, erwarteten mich mein Bruder Franz mit seiner Frau. N u n ging es im Taxameter (nicht umsonst hieß ja Franz der „Taxameter-Cohn") nach Hause. Auch Mutter war zufrieden, so daß eine bessere Stimmung herrschte als nach dem Doktorexamen. Für mich standen nun entscheidende Entschlüsse auf dem Spiele. An die schulmännische Karriere hatte ich nur ganz hilfsweise gedacht. Am liebsten wäre ich akademischer Lehrer geworden und hätte ganz der Wissenschaft gelebt. Inzwischen hatte ich übrigens auch wieder eine größere wissenschaftliche Arbeit gemacht, die in der Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertum erschienen ist 3 . Ein Kollege, Dr. Paul Lazarus, später Rabbiner in Wiesbaden, hatte seine Doktorarbeit über das Basler Konzil gemacht. Dabei war ihm aufgefallen, daß dieses Konzil eine eigene Flotte ausgerüstet hat. Lazarus machte mich auf diesen Stoff 1
N o c h im selben Jahr 1910, vgl. SV Nr. 2.
2
Siehe oben S. 93. Vgl. SV Nr. 9.
3
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III. Kapitel
aufmerksam, und ich kniete mich mit Begeisterung hinein. Ich war wohl in Deutschland ziemlich der einzige, der ein Spezialinteresse für mittelalterliche Schiffahrt auf dem Mittelmeer hatte. Die Arbeit brachte mich wieder mit anderen Gelehrtenkreisen in Korrespondenz, unter anderem mit Dr. Wackernagel, dem bedeutenden Archivar der Stadt Basel. Es ergab sich auch eine Korrespondenz mit einem südfranzösischen Archiv, weil diese Flotte an der Riviera entlang gesegelt war, besonders aber, weil Nicodemus aus Mentone stammte. Die wissenschaftliche Fühlung mit Professor Preuß hatte ich selbstverständlich aufrecht erhalten. Als ich ihm einmal schrieb, daß ich ihn gerne wieder einmal sprechen möchte, bestellte er mich, wie das so üblich war, in die Universität an den Schluß seiner Vorlesung, und er stürzte dann aus dem Dozentenzimmer, ehe ich noch irgend etwas gesagt hatte, mit den Worten auf mich zu: „Cohn, ich weiß, was Sie wollen. Sie wollen sich habilitieren; aber lassen Sie sich taufen." Ich habe ihm selbstverständlich sofort das Notwendige eröffnet und ihm klarzumachen versucht, was für mich das Judentum bedeutet. Innerlich verstanden hat er es wohl nicht; denn er selbst war kein religiöser Mensch, und für ihn schien das Ganze eine Frage der Zweckmäßigkeit zu sein. Leider gab es an der Breslauer Universität (ich habe ja schon darauf hingewiesen, als ich über Neisser sprach) genug Menschen, die ihrer Karriere zuliebe den Glauben ihrer Väter opferten. Für mich war es selbstverständlich, daß das nicht in Frage kam, und es verlohnt sich nicht, darüber noch viele Worte zu verlieren. Preuß hat sich übrigens dann noch große Mühe gegeben, mich anderweitig unterzubringen. Ich wäre gern zum Staatsarchiv gegangen oder auch zu den „Monumenta Germaniae Historica". Das letztere war (das sage ich dem Nichtfachmann) das große Quellenwerk für mittelalterliche Geschichte, das von dem Freiherrn vom Stein begründet, damals schon fast einhundert Jahre am Werke war, um die mittelalterlichen Chroniken zu sammeln und herauszugeben. Es gab keine bessere Ausbildung für den jungen Historiker, als dort unterzukommen. Aber das ist mir nicht geglückt, ebensowenig wie eine Annahme bei den Preußischen Staatsarchiven. Man bekommt ja bei solchen Gelegenheiten niemals zu erfahren, wo die wirklichen Gründe liegen. Vielleicht war es mein alter heiliger Name, der aber den anderen nicht so heilig in die Ohren klang. In jenen Jahren war ja das schöne Lied „Haben Sie nicht den kleinen Cohn gesehn?" in aller Ohren 4 . Vielleicht lag es auch daran, daß bei diesen
Zu diesem Couplet des Jahres 1900 vgl. D. Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812-1933. Stuttgart 1988, S. 208. 4
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beiden Institutionen Schüler bestimmter Historiker bevorzugt wurden, zu denen ich eben nicht gehörte. So redete mir schließlich Preuß selbst zu, zunächst einmal die zwei Ausbildungsjahre als Kandidat des höheren Lehramts durchzumachen, die vorgeschrieben waren, um mir die Anstellungsfähigkeit an höheren Schulen zu erwerben. Wenn ich das nicht getan hätte, so hätte das Staatsexamen seine Bedeutung verloren. Da man während dieser Ausbildungszeit noch nicht vollen Unterricht zu geben hatte, so sah ich in dem Antritt des Amtes auch keine Gefahr für meine wissenschaftliche Arbeit; außerdem hatte ich damals eine durch nichts zu erschütternde Arbeitskraft. Ich meldete mich also zum Antritt des Dienstes. Da aber neue Lehramtsanwärter immer nur zum 1. Oktober beziehungsweise zum 1. April eingestellt wurden, so hatte ich noch einige Monate der Muße vor mir. N u n hieß es auch noch, die Militärverhältnisse regeln. Solange man noch im Studium begriffen war, wurde man von der Militärbehörde zurückgestellt, aber nun mußte man sich bei einem Regiment melden. Das konnte man ganz nach seinem Belieben tun, und so meldete ich mich bei dem Feldartillerie-Regiment von Peucker, dem Breslauer Artillerieregiment Nr. 6. Die ärztliche Untersuchung ergab meine Militärtauglichkeit, worüber ich mich sehr freute. Daß allerdings meine Militärdienstzeit so umfangreich sein sollte, wie sie es dann tatsächlich wurde, konnte ich mir nicht träumen lassen. Die Feldartillerie stellte Freiwillige nur zum Oktober ein. So mußte ich mich bis dahin gedulden. Da die Militärangelegenheit vor dem zivilen Dienste an Bedeutung den Vorrang hatte, so konnte man sich dann während des Seminarjahres von der Zivilbehörde zur Ableistung des Einjährig-Freiwilligenjahres beurlauben lassen. Es wird vielleicht aufgefallen sein, daß ich schon seit längerer Zeit so wenig von meinem Privatleben erzählt habe. Das hatte schon seine Gründe. Innerlich hatte ich mich damals mit meinem Herzen festgelegt, und ich, der ich eine Reihe von Jahren etwas flatterhaft gewesen bin, hatte mich schon damals entschlossen zu heiraten. Auf einer wunderschönen Winterreise habe ich mich verlobt. Es war eine große Liebe, wenigstens von meiner Seite, und ein Rausch der Jugend. Ich war noch sehr jung. Vielleicht ist ein so junger Mensch nicht in der Lage zu ermessen, welche Voraussetzungen der gegenseitigen Ubereinstimmung vorhanden sein müssen, damit ein solcher Bund ein ganzes Leben hält. Bei uns ist das nicht der Fall gewesen. Aber heute, da Jahrzehnte vergangen sind und wir beide andere Lebensbündnisse eingegangen sind und glücklich wurden, möchte ich diese alten Dinge nicht mehr aufwühlen, auch wenn hier vielleicht eine Lücke bleibt, die mancher mit Bedauern feststellen
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mag5. Auch ist es müßig, in solchen Dingen von Schuld oder Unschuld zu sprechen; es sind das Schicksale des Menschenherzens, und Schicksale müssen eben als solche hingenommen werden. Von der materiellen Seite war ja die Möglichkeit zur Ehe vorhanden, etwas, was nur wenigen Kandidaten des höheren Lehramtes möglich war. Die meisten konnten erst an eine Heirat denken, wenn sie eine Anstellung gefunden hatten; aber auch das war nicht einfach. Viele mußten jahrelang als Hilfslehrer oder, wie der Volksmund sagte, als „Hilfsbremser" dahinleben und kamen schon ziemlich alt und müde in die Ehe. Es bleibt ein beschämendes Zeichen für das reiche kaiserliche Deutschland, daß es seine jungen Beamten stellte, daß diese erst spät an die Ehe denken konnten. Hier hat - das muß man wahrheitsgemäß feststellen - die neue Zeit nach 1933 gründlich Wandel geschaffen. Da ich also erst meiner Militärpflicht zu genügen hatte, so konnten wir vor Oktober 1913 nicht an Heiraten denken. Ein so langer Brautstand hat aber seine großen Nachteile. Ostern 1912 machte ich mit meiner Braut und meinen Schwiegereltern eine Reise ins Riesengebirge, und dann trat ich meinen Schuldienst an. Ich wurde der Oberrealschule am Lehmdamm zur Ausbildung überwiesen. Die Anstalt leitete damals Direktor Unruh, der auch an der Spitze des Seminars stand, das unsere Ausbildung verantwortlich überwachte. Damit war ich nun königlich preußischer Beamter und wurde das erste Mal auf den König von Preußen vereidigt. Weil so etwas heute für den Juden in Deutschland unerreichbar geworden ist und weil das alles für meine Kinder, an die ich bei dem Niederschreiben dieser Erinnerungen besonders denke, aus einer Welt kommt, die sie nicht mehr kennen, so möchte ich auf diese Anfänge meiner Beamtenzeit ein wenig näher eingehen. Im allgemeinen ist in Deutschland der Jude von damals nicht gern Beamter geworden. Die Gründe dazu sind mannigfacher Art. Es waren die Zeiten, in denen das Geldverdienen ganz groß geschrieben wurde, denn die pekuniären Möglichkeiten des Beamten waren gering. Schon der mittlere Kaufmann verdiente viel mehr als je das Höchstgehalt des Beamten betragen konnte. Aber es kam noch ein anderer Grund hinzu. Cohn legt sich in diesen Erinnerungen, die er seiner zweiten Ehefrau in die Maschine diktierte, eine solche Zurückhaltung auf, daß im ganzen Buch nicht ein einziges Mal der N a m e seiner ersten Frau, Ella Proskauer, später wiederverheiratete Brienitzer, genannt wird. 5
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Der Jude war nicht gerne abhängig, sein Ideal war meist: „etablieren". Er blieb gern eine Reihe von Jahren „in Kondition", dann aber wurde er selbständig. So kamen die unzähligen jüdischen selbständigen Kaufleute zustande. Irgendeine Planung des jüdischen Schicksals hat leider den meisten Menschen von damals ferngelegen. So ist eben viel Unheil entstanden. Vielleicht hätte sich manches abwenden lassen. Andere werden allerdings sagen, daß dies eine „vaticinatio post eventum", eine „Weissagung nach dem Ausgang", darstellt. Vielleicht aber kommt noch ein dritter Grund hinzu. Als Beamter muß man den Mund halten. Das scheint mir auch eine schwache Seite unserer Gemeinschaft zu sein: warten zu können, bis man angeredet wird, den Mund zu halten, auch wenn man glaubt, es besser zu wissen. Das widerstrebt sehr häufig jenem Typ des Juden, der auf seinen Verstand, auf seine Chochme, stolz war. Vielleicht hat das Wort eine gewisse Wahrheit, wenn man sagt, „der liebe Gott weiß alles, und mancher von uns weiß alles besser". Das hat sich oft traurig für unsere Gemeinschaft ausgewirkt. Wir haben auf unserem schmerzensvollen Wege sehr viel Lehrgeld zahlen müssen und müssen es wohl auch noch weiter zahlen. Selbst nach 1933 ist nichts schwerer, als einen Juden davon zu überzeugen, daß er nicht recht hat, daß ein anderer Jude vielleicht etwas mehr weiß als er selbst. Für mich aber war diese Schule preußischen Beamtentums eine ausgezeichnete. Auch das gesellschaftliche Leben, zu dem man herangezogen wurde, war so ganz anders als in unseren Kreisen üblich. Andeutungsweise habe ich schon davon gesprochen, als ich einmal von einer Einladung bei Professor Koch 6 erzählte. Auch wenn man bei Direktor Unruh zu Gaste war, ging alles streng nach der Anciennität. Man bekam dann ein nettes junges Mädchen zu Tisch, die aber auch von großer Bescheidenheit war. Auf das bescheidenste und einfachste war auch die Bewirtung. Ein Wort möchte ich hier auch über die Atmosphäre in einem Lehrerzimmer sagen. Oftmals ist das, was in der Literatur darüber gesagt war, eine Karikatur und entspricht nicht der Wahrheit. Wie wenig weiß das durchschnittliche Publikum zum Beispiel, welch ungeheure Energien der Lehrerberuf verbraucht. Wie oft habe ich solch törichte Aussprüche gehört wie: „Ach Gott, der Lehrer gibt vier Stunden oder fünf am Tag, und dann ist er fertig". Als ob man geistige Arbeit mit der Stoppuhr messen kann! Der Lehrerberuf erfordert aber vor allem zwei Eigenschaften, die eines Tierbändigers und die eines Professors. Denn
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Siehe oben S. 94.
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solange es eine Jugend geben wird, wird diese den Lehrer zunächst als etwas Feindliches ansehen, und jeder Lehrer hat sich in einem oft nicht einfachen Kampfe die Liebe und den Respekt der Jugend zu erwerben. So spielt in einem solchen Lehrerdasein die Erholungspause eine gewisse Rolle. Es ist wichtig, welche Luft in einem Lehrerzimmer weht. Es ist eben ein Unterschied, ob diese kurzen Minuten in Behaglichkeit vergehen oder ob sie dazu ausgenützt werden, Gegensätze zu verschärfen. 1912 waren die Gegensätze im deutschen Volk nicht so groß wie dann in den Jahren vor 1933. Politische Diskussionen wurden nicht geführt; man hatte nicht den Ehrgeiz, den anderen zu seiner Meinung zu bekehren. Einen Gegensatz bemerkte ich an der Oberrealschule am Lehmdamm, die später nach dem sehr verdienten Breslauer Oberbürgermeister den Namen Bender-Oberrealschule erhielt, nämlich den zwischen Katholiken und Protestanten. Hier bestanden gewisse Gegensätze, die aber keineswegs zu einer Feindschaft ausarteten. Für uns, die jungen Lehrer, war es aber Pflicht, im Lehrerzimmer so zurückhaltend wie irgend möglich zu sein, Gespräche mit den älteren Kollegen nicht zu suchen, sondern zu warten, bis man ins Gespräch gezogen wurde. In all dem lag eine große erzieherische Bedeutung. Der Unterricht als solcher machte mir von vornherein sehr große Freude. Ich entdeckte zu meinem eigenen Erstaunen, daß ich vielleicht das Zeug zu einem Lehrer in mir hätte. Im Grunde hatte ich damit nicht gerechnet, weil ich der Meinung war, daß ich vor allem für die Wissenschaften begabt wäre. Aber nur die wenigsten Menschen sind sich über ihre Veranlagungen gänzlich im klaren. Zunächst hatten wir sehr wenig Gelegenheit zu unterrichten. Unsere Haupttätigkeit bestand darin, daß wir dem Unterricht anderer beiwohnten. Man nannte das: hospitieren. Dabei kann man übrigens eine Menge lernen. Sehr schnell bildet man sich ein Urteil, ob der Lehrer, der vor der Klasse steht, das Zeug zum Unterrichten mit sich bringt, ob er geistig aus dem vollen schöpft oder kümmerlich den Unterricht hinzieht und nur darauf wartet, daß es klingelt. Bei der Wertung fremden Unterrichts muß man übrigens noch in Betracht ziehen, daß die meisten Menschen sich mehr zusammennehmen, wenn Fremde im Zimmer sind, weil sie ja beobachtet werden. Schon damals wie auch später, als ich selbst bei der Ausbildung junger Lehrer mitzuwirken hatte, hat sich in mir die Erkenntnis gebildet, die schon Salzmann in seinem Ameisenbüchlein" 7 7 Christian Gotthilf Salzmann wirkte Ende des 18. Jahrhunderts als Reformpädagoge in Sachsen-Gotha. E r schrieb das „Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher". Schnepfenthal 1806.
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betonte, daß man entweder zum Lehrer geboren ist oder es niemals lernt. In späteren Zeiten, als die pädagogischen Seminare besonders beliebt waren, hat man sich bemüht, Lehrer gewissermaßen am laufenden Bande auszubilden. Das hat alles wenig Sinn. Ebenso ist es mit der Frage der Disziplin, mit der ich selbst niemals Schwierigkeiten gehabt habe. Wer eben unterrichten kann, wer es versteht, der Jugend etwas zu bieten, bei dem benehmen sich auch die rüpelhaftesten Jungen anständig. Gewiß, es wird immer Schüler geben, die der Meinung sind, daß der Kampf einmal durchgefochten werden müsse und die besonders einen jungen Kandidaten als geeignetes Objekt für so einen Kampf ansehen. Aber gerade diese Jungens können dann auch einen Lehrer sehr lieben, wenn sie sehen, wie gut er es mit ihnen meint und daß er wirklich ihr Freund ist. Man muß die Jungens zu nehmen wissen, dann regelt sich alles von selbst. Wenn man im Lehrerberufe so wenigen Persönlichkeiten begegnet, die man sich als Ideal vorstellt, so hängt das zweifellos mit der ganzen sozialen Stellung des Lehrers zusammen. Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen darzulegen. Müßten nicht diejenigen Menschen, denen der wertvollste Besitz der Nation, die Kinder, anvertraut sind, wirtschaftlich besonders gut dastehen? Das aber ist nicht der Fall. Der Kampf um das tägliche Brot, der Gedanke, daß die Familie in Not gerät, wenn einmal etwas Außergewöhnliches eintritt, nahm manchem Kollegen frühzeitig die Schwungkraft, die er für seinen Beruf so nötig hat. So sind denn eine große Anzahl von Kollegen, denen ich begegnete, gewissermaßen Handwerker ihres Faches geworden. Sie sahen ihren schönen Beruf als Dienst an, den man absolvierte, um sich und seine Familie zu ernähren. Wie oft im Leben, so kam ich auch hier zu der Erkenntnis, daß es außerordentlich schwer ist, bei der Wertung dieser Dinge gerecht Schuld und Unschuld abzuwägen. Ich bin übrigens schon an der Oberrealschule am Lehmdamm einer Reihe wertvoller Menschen begegnet, die es auch im Unterricht verstanden, ihren Schülern etwas zu bieten und bei denen es eine Freude war zuzuhören. Da war unter anderem der sehr gütige Professor Garösch, der auch an unserer Seminarausbildung beteiligt war. Ebenfalls war Professor Gutwein mit unserer speziellen Unterweisung befaßt, mit dem ich auch später immer in Fühlung geblieben bin. Er war für die Ausbildung der Historiker und Germanisten verantwortlich. Mit sehr großem Takte verstand er es, den jungen Lehrer in die Obliegenheiten seines Amtes einzuführen. Die damalige Ausbildung ließ in stärkerem Maße als später die junge Lehrerpersönlichkeit sich nach ihrer eigenen Gesetzlichkeit
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entfalten und bevormundete nicht allzusehr. Trotzdem schien mir diese Bevormundung auch noch groß genug. Da in diese Zeit auch meine ersten journalistischen Versuche fielen, über die noch zu sprechen sein wird, äußerte ich mich zu dieser Frage einmal in den „Blättern für höheres Schulwesen" ausführlich 8 . Der Typ des Lehrers, der neben dem Lehrer auch Gelehrter war, war an der Oberrealschule vor allem in der Person des Oberlehrers Klapper vertreten, der später auch neben seinem Lehrerberufe noch die Universitätskarriere einschlug und ein bedeutender Gelehrter wurde. Über andere Eigenschaften hier von ihm zu sprechen, liegt keine Veranlassung vor. In früheren Jahrzehnten war es selbstverständlich, daß der Lehrer auch Gelehrter war. In der Zeit aber, in der ich mein Amt antrat, war das nur noch eine Ausnahme. Die Kollegen behaupteten, daß jetzt anderes im Vordergrunde zu stehen habe und daß man nicht dazu käme. Ich habe ihnen immer widersprochen und glaube auch, durch meine Arbeit bewiesen zu haben, daß es durchaus möglich ist, beides zu vereinigen. Es gab auch noch Anstalten, wo der Direktor diese wissenschaftliche Betätigung von seinen Lehrern durch mehr oder minder gelinden Druck verlangte. O b das der richtige Weg ist, bleibt zu bezweifeln, weil der wissenschaftliche Eros dem Menschen angeboren sein muß und nicht unter Druck erzeugt werden kann. Mir persönlich erschien es immer so, als ob derjenige Lehrer, der nicht selbst wissenschaftlich arbeitete, sich auf die Dauer verausgaben müsse und von seinem „alten Fett" lebte. Was zum Beispiel mein Lieblingsfach Geschichte anbelangt, so stehe ich auf dem Standpunkt, daß nur ein ununterbrochenes selbständiges Arbeiten die Methode des Unterrichts auf der Höhe halten kann. Es genügt auch nicht, die Literatur zu verfolgen, was übrigens auch nur die wenigsten tun. Man muß selbst eigene Untersuchungen anstellen, um sein historisches Urteil immer wieder zu erproben. Ich habe es stets für ein Unglück erachtet, daß diese Art des wissenschaftlichen Lehrers, zum Teil auch unter dem Einfluß des Sportes, zum Aussterben kam. Wenn mir als Juden vielleicht auch ein Urteil über Deutschland nicht zusteht, so hatte ich schon damals das Gefühl, daß man von einem Extrem in das andere fiel. War man sehr lange Zeit hindurch nur das Volk der Dichter und Denker gewesen und hatte den Körper vielleicht über Gebühr vernachlässigt, so schob sich nun diese körperliche Ausbildung so vor, daß sie zum
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Vgl. SV Nr. 18.
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Selbstzweck wurde. Damit mußte aber notwendigerweise die geistige Arbeit leiden. In dem Augenblick, in dem ich jetzt diese Dinge niederschreibe, ist das Geistige noch stärker in den Hintergrund getreten und scheint überhaupt nur noch insoweit eine Berechtigung zu haben, als es der Technik dient. Doch gerade in den letzten Wochen sind auch in Deutschland Stimmen laut geworden, die die Parole ausgeben: Zurück zur Leistung. Aber ich fürchte, dort, wo der Faden einmal abgerissen ist, wird sich eine Anknüpfung sehr schwer wieder ermöglichen lassen. Aber ich möchte zu meinen Eindrücken aus meiner ersten Lehrerzeit zurückkehren. Der Oberrealschule war auch eine Vorschule angegliedert, eine Einrichtung, die bekanntlich später abgeschafft worden ist. Damals war es noch üblich, daß die Schüler, die später die Absicht hatten, die höhere Schule zu besuchen, nicht der allgemeinen Volksschule zugeführt wurden, sondern bereits in besonderen Vorbereitungsklassen, die derselben Anstalt angehörten, unterrichtet wurden. Die Lehrer, die hier tätig waren, waren Mittelschullehrer, die auch in einzelnen Fächern an der Oberrealschule Unterricht gaben. Mitunter wurden wir jungen Lehrer, wenn mal einer der Herren fehlte, auch zum Unterricht bei den ganz Kleinen mit herangezogen, etwas, was mir stets eine besondere Freude bereitete. Dabei habe ich einen großen Respekt vor der Kunst dieser Vorschullehrer gewonnen, die dem Menschen die allerersten Anfänge des Wissens beizubringen hatten. An der höheren Schule bekamen wir doch die Kinder bereits für das Geistige vorgeschult. Aber die Vorschullehrer arbeiteten gewissermaßen mit völligem Rohmaterial. Ich habe es übrigens nie begriffen, warum der Vorschullehrer, ebenso wie der Volksschullehrer, schlechter bezahlt wurde als der Lehrer an höheren Schulen. Man hat mir dann immer eingewendet, daß der sogenannte höhere Lehrer eine längere Ausbildung hinter sich hätte, für die ein größerer Aufwand an Geld notwendig war. Selbst wenn dieser Einwand richtig ist, konnte ich trotzdem nicht begreifen, warum sich das ein ganzes Leben lang auswirken muß und eine so hohe Leistung wie die des Unterrichtes der Anfänger mit dem Stigma der geringeren Besoldung belastet sein muß. Es war immer etwas sehr Schönes, wenn ich allein in eine Klasse gehen durfte, um ohne Aufsicht an mir selbst zu erproben, wie es mit dem Unterricht klappte. Dies gab ein eigenartiges Gefühl der Spannung zwischen Lehrer und Schüler. Auch für die Jungen war es etwas Besonderes, wenn mal ein anderer in die Klasse kam. Da das meistens einzelne in sich abgeschlossene Stunden waren, so hatte ich mir Themen zurechtgelegt, die für eine Stunde paßten und die etwas Abgeschlossenes
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boten. Dadurch kam man auch niemals in Verlegenheit und war nicht gezwungen, den kümmerlichen Ausweg zu suchen, etwas vorlesen zu lassen oder Schularbeiten anzufertigen. Das habe ich nur später getan, wenn man neben dem vollen Unterricht, also neben den vier Stunden, noch plötzlich eine fünfte übernehmen mußte. Innerhalb des Unterrichts galt mein besonderes Interesse vor allem der Bürgerkunde. Aus diesem Gebiete habe ich mir dann auch das Thema für die Seminararbeit gesucht, die man anzufertigen hat. Die Erziehung zum Staatsbürger schien mir besonders für den Geschichtslehrer eine würdige Aufgabe zu sein. Man lebte ja damals noch in der Zeit des Untertans, der im allgemeinen den Standpunkt vertrat, daß die Regierung zum Regieren da sei und er sich um nichts zu kümmern hatte. Mir schien dieser Standpunkt sehr überholt. Ich glaubte, daß man die Jugend zur Teilnahme am Staate zu erziehen hatte, wie das auch in den westlichen Staaten, vor allem in Frankreich und England, der Fall war. Auch darüber ließe sich sehr viel sagen. Es würde aber den Rahmen des Persönlichen sprengen. Wir führten als Kandidaten ein Tagebuch über unseren Unterricht, in das ich sorgsam jede einzelne Stunde eintrug, die ich selbst gegeben hatte oder an der ich teilnahm. So wuchs ich in meinen Lehrerberuf hinein. An einem Nachmittag hatten wir Sitzung des Pädagogischen Seminars. Hier wurde von den überwachenden Herren das durchgesprochen, was der Unterricht brachte und auf die Fehler hingewiesen. Auch erhielten wir eine Grundlegung in der theoretischen Pädagogik, von der ich übrigens stets ziemlich wenig behalten habe. Wir mußten aus solchen Büchern kleine Referate liefern, die nicht allzuviel Arbeit machten. Im Anschluß an diese Seminarsitzungen, die in der Regel in keiner Beziehung etwas Aufregendes brachten, fand eine Nachsitzung in der Brauerei von Sternagel-Haase auf der Breiten Straße statt, oder wie diese Brauerei im Breslauer Volksmunde genannt wurde: Sternhagel-Besoffen. Dieser Teil des beruflichen Lebens war für mich schon schwerer zu bewältigen, weil ich ja, bedingt durch meine rassische Veranlagung, nur ein sehr geringes Verhältnis zum Alkohol gewonnen habe. Und doch war es wichtig, mit den Kollegen auch einmal außerdienstlich zusammenzusein und über dies und jenes zu sprechen. Ich deutete schon an, daß meine geistige Tätigkeit mit der Schule nicht erschöpft war, auch nicht erschöpft sein konnte, denn ich hatte nur einige Stunden zu geben und keine bezahlte Vertretung. Darüber war ich nicht unglücklich, während dies für die Kollegen, die nun endlich ins Verdienen hineinkommen wollten, ein schwierigeres Problem war.
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Meine theoretische Liebe zum Journalismus hatte ich schon in Heidelberg entdeckt, als ich an den Übungen und Vorlesungen des Professor Adolf Koch teilnahm. Nun aber probierte ich das auch in der Praxis aus, und es ging überraschend gut. Das Blatt der liberalen Demokratie in Breslau war die „Breslauer Zeitung", ein sehr altes Blatt, das auch auf ein gutes Feuilleton hielt. Hier gelang es mir, Mitarbeiter auf dem geschichtlichen Gebiete zu werden 9 . Das Jahr 1912, in dem ich begann, war der Auftakt zu der großen Erinnerung an die Befreiungskriege. Es war für Schlesien auch die Erinnerung an den russischen Feldzug Napoleons, der sich gewissermaßen im Angesicht Schlesiens abgespielt hatte. Ich habe dann im Jahre 1913 viele Erinnerungsartikel über die großen Schlachten des Freiheitskrieges geschrieben. Wie diese Mitarbeiterschaft aber ihr Ende fand, wird noch an einer späteren Stelle zu zeigen sein10. Ich hatte eine gewisse Leichtigkeit des Stiles auf den Lebensweg mitbekommen. Durch die Übung hat sich dann auch der Stil zunehmend verbessert. Im allgemeinen ist es mir so gegangen, daß nur das, was auf den ersten Wurf glückte, eben geworden ist. Es gibt verschiedene Methoden. Mancher feilt an dem, was er schreibt, sehr lange und gießt es immer wieder um. So habe ich niemals schaffen können. Welche Methode die richtige ist, wird sich schwer entscheiden lassen, es ist eben das Sache der Veranlagung. Neben der Arbeit für die „Breslauer Zeitung" und der schon erwähnten für die „Blätter für höheres Schulwesen" kam ich dann sehr bald zur besonderen jüdischen Journalistik, der ich seitdem immer treu geblieben bin, so daß ich wahrscheinlich heute innerhalb des nur noch kleinen Kreises der geistig schaffenden Juden wohl einer der ältesten aktiven jüdischen Journalisten bin. Bei diesen jüdischen Journalisten muß man sehr wohl zwei Typen unterscheiden. Weitaus die Mehrzahl von ihnen war nur Jude dem Blute nach, viele von ihnen auch Jude der Konfession nach. Aber sie vermieden es ängstlich, für jüdisch-religiöse oder jüdisch-nationale Zeitungen zu schreiben. Sie fühlten sich nur als Deutsche und vermieden ängstlich jede Berührung mit dem Judentum. Es störte sie [die Ersteren] auch nicht, daß die Umwelt sie [die Bekenntnisjuden] nur als Juden ansah und Blätter wie das „Berliner Tageblatt" und die „Frankfurter Zeitung" als Judenblätter brandmarkten. Mich zog es auch dazu, dem bewußten 9
Diese Beiträge konnten bisher nicht ermittelt werden. Diese Ankündigung wird nicht eingelöst, doch dürfte dieser Wechsel mit Cohns Eintritt in die SPD 1919 und seiner Mitarbeit an der sozialdemokratischen „Volkswacht" zusammenhängen. 10
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Juden, der vor allem am Sabbatnachmittag seine jüdische Zeitung las, etwas zu geben. Das beliebteste jüdische Blatt jener Tage war das „Israelitische Familienblatt", an dem ich vom Jahre 1913 bis zu seinem Verbot am 9. November 1938 in Krieg und Frieden unentwegt als freier Mitarbeiter gewirkt habe11. Auch hier bot die Jahrhundertfeier der Freiheitskriege, über die noch mancherlei bei Schilderung des Jahres 1913 zu erzählen sein wird, den äußeren Anlaß. Selbstverständlich vernachlässigte ich außer der journalistischen Tätigkeit und der Arbeit in der Schule nicht die Wissenschaft. Ich schrieb eifrig wissenschaftliche Besprechungen für die „Mitteilungen aus der historischen Literatur", die damals Professor Hirsch leitete. An dieser Zeitschrift habe ich auch von 1912 bis zu ihrem Aufhören nach 1933 mitgearbeitet 12 . Ihr Zweck war, vor allem dem Lehrer an höheren Schulen, der nicht alles selbst lesen konnte, in kritischen Referaten ein Bild von den Fortschritten der Wissenschaft zu geben. Für mich bedeutete diese Tätigkeit nicht nur ein sehr beträchtliches Anwachsen meiner Bibliothek, sondern auch den Zwang, neben der Lektüre zu den Büchern gleich wertend Stellung zu nehmen. Später bin ich noch an sehr vielen wissenschaftlichen Organen Mitarbeiter geworden und habe so manche Zeitschrift bis zu ihrem seligen Ende begleitet. Besonders nach 1933 kam für viele dieser wissenschaftlichen Arbeiten ein allzufrühes Welken. Meine eigenen Untersuchungen förderte ich nach Kräften. Nachdem mein Buch über die normannisch-sizilische Flotte erschienen war, wandte ich mich der Aufgabe zu, die ich im Heidelberger Seminar Hampes übernommen hatte, nämlich der Erforschung der Flotte unter der Regierung Friedrichs II. Hieraus erwuchsen zunächst eine Reihe selbständiger Untersuchungen, die in den nächsten Jahren in der Zeitschrift „Überall" erschienen13. Diese Zeitschrift vertrat besonders Marine- und Verkehrsinteressen, und ich dürfte wohl der einzige jüdische Mitarbeiter gewesen sein. Die Zusammenarbeit mit diesem Blatte erwies sich in jeder Beziehung als sehr angenehm. Ich bekam auch für meine marinegeschichtlichen Arbeiten wiederholt Anerkennungsschreiben von der Hauptbibliothek des Reichsmarineamts. Für denjenigen, der in die Wissenschaft neu hineinkommt, bedeutet natürlich eine jede solche Anerkennung eine geistige Aufmunterung.
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Vgl. SV ab Nr. 10. Vgl. SV ab Nr. 5. Vgl. SV Nr. 27, 80-82.
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Bei einem so abwegigen Studiengebiete, wie ich es mir als Lebensaufgabe gestellt hatte, war es ja natürlich, daß die Resonanz in dem engeren Familienkreise nicht so groß sein konnte. Ich habe darunter häufig gelitten, wie auch unter der Tatsache, daß die Familien, in die ich hineingeheiratet habe, sich wenig Mühe gaben, von meiner Arbeit ein Bild zu bekommen. Es mag aber sein, daß das, was einen selbst erfüllt, dem anderen nicht so wichtig ist. Auch läßt die mehr oder weniger große Zuneigung zu dem hineingeheirateten Schwiegersohn es nicht immer zu Opfern zeitlicher Art kommen. Man hat sich als Student vielleicht manchmal darüber lustig gemacht, daß Universitätskreise so untereinander heirateten. Sicherlich bedeutete das auf der einen Seite geistige Inzucht, aber auf der anderen Seite fand eben auch der junge Gelehrte das Verständnis für seine Arbeit und die Möglichkeit der Aussprache am Familientisch. Das waren Dinge, die mir versagt blieben. So ist vielleicht verständlich, wenn ich nicht allzugern Familienbesuche machte, weil ich ja wußte, daß dabei niemals über Dinge gesprochen wurde, die mich interessierten. Als ich noch jung und noch nicht so sehr gewöhnt war, meine Zunge zu beherrschen, ist es natürlich häufiger zu Aussprachen darüber gekommen, die nicht immer erfreulich sein konnten. Auch hier will ich nicht werten. Ist es nicht verständlich, daß der junge Gelehrte, der von seinem Schaffen erfüllt ist, auch ein wenig davon erzählen möchte? Wie oft habe ich auch den Einwand hinnehmen müssen, daß alle diese Dinge nicht zum Geldverdienen führten! Und dabei hat doch die Zukunft bewiesen, obwohl mir das niemals die Hauptsache war, daß über Krieg und Inflation hinweg der Geist ein noch größeres Kapital darstellt, als manche einst faßbare Summe, die ins Nichts zerflossen ist. Auch das sind Fragen, die hier nur angedeutet werden sollen, vielleicht, um meinen Kindern oder gar Enkelkindern einen Hinweis zu geben. Heute erscheint einem das alles vielleicht nicht so wichtig. Aber jedes Lebensalter hat seine eigenen Probleme. Immer ist das wichtig, was einen im Augenblick schmerzt. Gerade diese Dinge haben häufig sehr weh getan. Für mich waren es immer Stunden höchster Beglückung, wenn ich in meinem Arbeitszimmer und in der Stadt- oder Universitätsbibliothek sitzen konnte und wenn ich das Gefühl hatte, mir eine neue Erkenntnis erarbeitet zu haben. Manchmal war man schon hochbeglückt, wenn man einen Zusammenhang sah, den man bis dahin nicht erfaßt hatte. Die Republik des Geistes ist etwas, was in seiner Gesamtheit nie zu Ende kommt und woran immer geschaffen werden muß. Der Nichtwissenschaftler begreift sehr schwer, daß hier auch das kleinste Steinchen einen Beitrag zur Ewigkeit bedeutet. Dem Nichtwissenschaftier ist das alles
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nicht packbar genug. Er möchte handfestere Dinge sehen und ahnt nicht, daß ohne diese Welt des Geistes die Menschheit hoffnungslos in einen völligen Stumpfsinn verfallen würde. Doch nun zurück zu diesem Sommer 1912, der mir noch eine sehr schöne Reise [nach Belgien] brachte, die letzte große Reise, die ich mit meiner Mutter unternahm. [...] Die Rückreise machten wir am Rhein entlang, den ich nun das zweite Mal sah. Es machte mir große Freude, dieses Erlebnis auch meinen Lieben zu vermitteln. Seitdem ich das letzte Mal dort gewesen war, waren erst vier Jahre verstrichen, aber was lag nicht alles für mich in diesen vier Jahren an Erleben! Den allerletzten Abschluß der Reise bildete der Besuch von Heidelberg, das ich ja das Glück hatte, öfters sehen zu dürfen, und dann ging es nach Hause in das Gleichmaß der Schularbeit zurück. Dazu boten mir aber noch die nächsten Monate die Notwendigkeit, mich auf meinen Militärdienst vorzubereiten und vor allem tüchtig Reiten zu lernen. Gewiß, richtig reiten lernt man nur beim Militär, wo man etwas härter angepackt wird. Aber immerhin war es schon wichtig, ein wenig mit dem Pferde vertraut zu werden. Dazu gab es die Einrichtung der Tattersäle 14 . Hier nahm mich der Stallmeister Scholz, ein alter Artilleriewachtmeister, unter seine Fittiche. Ich bin ihm heute noch dankbar, daß er mich nicht übermäßig zart angepackt hat. Alles Glück der Erde Liegt auf dem Rücken der Pferde, In der Gesundheit des Leibes Und an dem Herzen des Weibes. Dieser schöne Spruch 15 steht über dem Eingang vieler Reitsäle. Was gibt es auch Befreienderes, als auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und früh am Morgen in die Natur hinauszureiten! Gerade während der Zeit, da ich reiten lernte, merkte ich immer mehr, welch grundverkehrtes Leben doch oft der Großstädter führt. Für uns junge Juden hatte das Militärjahr und die Vorbereitung darauf noch einen besonderen Wert. Wer aus den Kreisen des Landadels stammte, wie viele Offiziere der berittenen Waffen, dessen ganzes Leben hatte sich draußen in der freien Natur abgespielt. Für ihn war selbstverständlich, was für uns ein 14 Eigentlich: Tattersalls. Reitbahnen, benannt nach dem englischen Reitlehrer Richard Tattersall. 15 Etwas frei zitiert nach den Liedern des Mirza Schaffy von Friedrich von Bodenstedt (1851), w o der erste Vers beginnt: „Das Paradies der Erde...".
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besonderes Erlebnis war. Es mag vielleicht sein, daß der Mensch sich immer nach dem sehnt, was er nicht besitzt. Es ist ja richtig, daß man nicht alles in sich vereinigen kann: ein Gelehrter zu sein, ein Lehrer und dann noch das erdverbundene Dasein des Landwirts führen. Wenn man so das erste Mal auf einen Pferderücken stieg, hielt man es weniger mit dem Spruch, den ich oben zitiert habe, sondern eher mit dem Scherzwort, das mitunter in Reiterkreisen umlief: „Das Pferd ist ein böses Tier, das dem Menschen schaden will". Doch konnte man das von diesen harmlosen Reitsaalgäulen eigentlich nicht sagen. Sie wußten ganz genau, was sie wollten. Sie mögen wahrscheinlich mit einer leisen Verachtung auf diese Reiter geguckt haben, die auf ihnen ihre ersten Künste lernten. Man erzählte sich von diesen Pferden (für die Wahrheit kann ich natürlich nicht garantieren), daß sie ganz genau wußten, an welchen Stellen sie zu traben, an welchen Stellen sie Galopp zu gehen hatten. Wenn sie am Sonntagvormittag von dem Reitsaal Viktoriastraße nach dem Gasthaus zur Lohe in dem gleichnamigen Orte hinausgingen, machten sie dort draußen unabhängig von dem Willen des Reiters Halt, denn sie waren gewöhnt sich auszuruhen, während der Reiter zu seinem Frühschoppen einkehrte. Diese Gäule wußten auch, daß ihr Reiter in der Regel nicht in der Lage war, ihnen seinen Willen in einwandfreier Form zu vermitteln. In der Reitbahn selbst lernte man aber Ordentliches, denn der Stallmeister legte Wert darauf, sich mit seinen Schülern nicht zu blamieren, wenn diese beim Militär zeigen sollten, was sie bei ihm gelernt hatten. Ich habe mich in den Reitstunden sehr zusammengenommen und mich bemüht, das Angstgefühl, das wohl jeden Anfänger zuerst beherrscht, zu überwinden. Vielleicht darf ich hier eine Bemerkung allgemeinerer Art einflechten. Es ist so, daß man das, was man wirklich will, wenn man sich nur bemüht, mit äußerster Energie auf sein Ziel loszugehen, wirklich erreicht. Ich habe es oft gesehen, dann auch während des [Ersten] Weltkrieges, daß von Natur schwächliche Menschen, die den eisernen Willen hatten, keinesfalls klein beizugeben, sehr viel mehr schafften als die Großen und Starken, die einen schwachen Willen besaßen. Wenn ich zu dem Persönlichen zurückkehre: von Haus aus brachte ich leider, ganz im Gegensatz zu der heutigen Jugend, eine sehr geringe sportliche Eignung mit. Es rächte sich jetzt bitter, daß ich so lange vom Turnen dispensiert worden war und außer dem zahmen Tennisspiel und allerdings vielem Wandern in der freien Natur so wenig Sport getrieben hatte. Als ich nun aber zum Militär
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kam, da lebte in mir der eiserne Wille, unter gar keinen Umständen schlapp zu machen. Ich fühlte im besonderen jene Solidarhaftung des Juden, der sich sagt, daß er an der Stelle, w o er steht, für sein ganzes Volk einzutreten hat. Mit dieser Einstellung habe ich oft das Äußerste aus mir herausgeholt. Ich bedauere auch heute noch nicht, da wir gewiß einen schlechten Dank erfahren haben, daß ich so gehandelt habe. Das möchte ich vor allem den Generationen sagen, die nach mir kommen, daß das eigene Handeln niemals davon abhängig sein darf, ob es eine Belohnung in sich schließt oder nicht. Sittlich handeln bedeutet, eine Sache tun, weil man sie für recht erkannt hat, auch dann, wenn die gesamte Umwelt entgegengesetzt handelt. Es steht mir nicht an, darüber ein Urteil zu haben, ob ich mit dieser Einstellung dem Judentum genützt habe, aber ich hoffe doch, daß das der Fall gewesen ist. Und nun kam dieser 1. Oktober 1912. Wir standen auf dem Kasernenhofe des Feldartillerie-Regiments N r . 6 auf der Bürgerwerderinsel. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir neun Einjährige, die der 3. Batterie zugeteilt wurden. Ungefähr hatte man schon vorher gewußt, welche Batterie mehr oder weniger angenehm war. Es kam darauf an, wie der etatsmäßige Wachtmeister, die „Mutter der Batterie", gesinnt war und was für ein Mann der Hauptmann war. Mit beiden Persönlichkeiten hatte ich Glück. Der Hauptmann führte den in der preußischen Kriegsgeschichte berühmten Namen von Roon 1 6 . Dieser alte preußische Adel ist mit das Beste, was Deutschland hervorgebracht hat. Für diese Männer gab es nur ein eisernes Gesetz, und das war unbedingteste Pflichterfüllung, w o immer man stand. Diese alten adligen Familien hatten in jeder Generation der preußischen Kriegsgeschichte große und schwere Blutopfer gebracht. Sie haben nicht danach gefragt, ob die Regierung, für die sie kämpften und fielen, ihnen sympathisch war, sie ließen ihr Leben für Deutschland und taten ihre Pflicht. Auch das Schicksal des Hauptmanns von Roon ist kein anderes gewesen; er ist im Weltkriege gefallen. Im Dienst war er von einer unerbittlichen Strenge, er schenkte uns nichts, aber er war unbedingt gerecht. Es gab für ihn nur etwas, das war die Sache, und es gab kein Ansehen der Person. Meine jüdischen Leser möchten hier vielleicht die Frage beantwortet haben, ob er ein Antisemit war oder nicht. Darauf ist folgendes zu
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Die Heeresreform des preußischen Kriegsministers Albrecht Graf von Roon gehörte zu den Voraussetzungen für die erfolgreichen Feldzüge von 1866 und 1870/71.
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sagen, was sicherlich für viele andere seiner Art paßt. Gewiß, er hätte einen Juden nicht in seine Wohnung eingeladen. Gesellschaftlich hat er auch dem jüdischen Akademiker gegenüber die Grenzen gezogen, die zu ziehen waren. Aber niemals hätte er, wenn es sich um eine sachliche Entscheidung drehte, sich von diesen Dingen beherrschen lassen. Gerade das ist ja eine Einstellung, wie sie eine spätere Zeit nicht mehr kennt und die vielleicht deswegen manchem heute schon nicht mehr recht verständlich erscheint. Wir Juden in Deutschland, soweit wir nicht den übertriebenen Ehrgeiz hatten, auch die letzten gesellschaftlichen Schranken zu durchbrechen, sind mit dieser Einstellung gewiß nicht schlecht gefahren. Ich glaube nicht, daß Hauptmann von Roon sich jemals mit mir privatim unterhalten hat, das lag ganz außerhalb der Möglichkeit. Man fühlte, daß man sehr scharf beobachtet wurde und daß er rasch bemerkte, ob man sich Mühe gab oder nicht. Daran habe ich es gewiß nicht fehlen lassen, mir war Drückebergerei in jeder Form verhaßt, und sie ist es mir auch noch heute. Ich kann mir vorstellen, daß manchem das als eine Nachricht aus einer untergegangenen Welt anmutet. Der Wachtmeister Müller war ein Mensch ganz anderer Art, ein tüchtiger Soldat, freundlich und sachlich. Aber das Problem des Einjährigen schloß für ihn manche Gefahren in sich, denen er mitunter unterlegen ist. Über diese Gefahren und über die Stellung des Einjährigen im damaligen Heere möchte ich wenigstens ein Wort sagen. Diese Einrichtung ist ja heute nicht mehr da, heute muß jeder zunächst mit der Mannschaft leben, auch wenn er später die Absicht hat, Offizier zu werden. Wer damals aber als Einjähriger bei einer berittenen Waffe dienen wollte, mußte ein begüterter Mann und in der Wahl seiner Eltern ein wenig vorsichtig gewesen sein. So ein Einjährigenjahr kostete schon einige Mark. Lag es da nicht für schwache Charaktere im Unteroffizierskorps nahe, den Einjährigen als eine zu melkende Kuh anzusehen und zu versuchen, ein wenig von diesem Reichtum in die eigene Tasche gleiten zu lassen? Wir Einjährigen der 3. Batterie des Jahrganges 1912/13 wußten natürlich von den Dingen, wie sie üblich waren. Deswegen hatten wir beschlossen, das nicht zu tun und keinerlei Erpressungsversuche an uns ausüben zu lassen. Eine Zeitlang hielten wir durch, dann aber erlebten wir ein blaues Wunder. Jeden Tag hatte man mit den Mannschaften in frühester Morgenstunde im Stall anzutreten und sein Pferd zu pflegen. Hier führten Stallgefreite die Aufsicht, denen es nun eine große Freude machte, den Sohn aus besserem Hause ordentlich heranzunehmen. So wurde uns zum Beispiel nicht gestattet, den Pferdemist mit der Gabel aus den Ständen
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herauszuholen, mit der Begründung, daß wir die königlich preußischen Kommißpferde verletzen würden. Die Folge davon war, daß wir nach kurzer Zeit sehr unangenehme und eitrige Entzündungen an den Fingern bekamen. Man kann zum Beispiel stundenlang einen Gaul mit Striegel und Kandare bearbeiten und das Gefühl haben, daß er restlos sauber ist. Wenn aber der Vorgesetzte will, dann findet er immer noch irgendwelchen Staub. Dann kann man die ganze Arbeit noch einmal machen. So machten wir nichts recht, und allmählich merkten wir, wie der Hase läuft. Als wir also mehr oder weniger alle (wir waren sehr solidarisch und es herrschte zwischen uns beste Harmonie) mit unseren Kräften fertig waren, mußten wir uns entschließen, von unserem Vorhaben zurückzutreten und die Gewohnheiten, die nun einmal üblich waren, mitzumachen. Dann aber wehte sofort ein anderer Wind. N u n wußte man, daß die Einjährigen eben so waren, wie Einjährige zu sein haben: wir spendierten ab und zu in dem sogenannten Gummiwagen, das war eine Kantine, die in einem alten Eisenbahnwagen eingerichtet war und neben den Ställen stand, Knoblauchwurst oder einen Korn. Wenn ein Gefreiter kam und fragte: „Einjähriger, geben Sie was aus?", dann stellten wir uns nicht mehr grundsätzlich taub. U n d nun schadete es den Gäulen nicht mehr, wenn wir in ihren Stand mit der Mistgabel hineinkamen. N u n fand sich auch öfters ein Bauernbursche (denn die berittenen Truppen rekrutierten ja ihre Soldaten zumeist vom Lande), der schnell mal etwas für uns machte. Alles war in schönster Ordnung. Man müßte unzählige Seiten füllen, wenn man all diesen Dingen nachgehen würde. Mag es mit diesen Andeutungen genug sein, sapienti sat. Unsere Ausbildung mußte rasch vorwärts gehen, denn in einem kurzen Jahre war nicht nur der Dienst als Reiter zu lernen, sondern auch der als Kanonier. [...] Ein großes Erlebnis war das erste Scharfschießen auf dem historischen Schlachtfelde bei Leuthen an einem eisigen Wintertage. Überhaupt diese Fahrten auf der Kanone, die man als Kanonier zu machen hatte, waren nicht ganz einfach, wenn draußen scharfer Frost herrschte. A u f diesen Kanonen standen die Worte: ultima ratio regis, die letzte Zuflucht des Königs. Wer von uns ahnte damals, daß nur wenige Monate ins Land gehen würden, bis diese Kanonen vier Jahre hindurch ununterbrochen ihre eherne Stimme ertönen lassen würden. Wer hätte gar damals geahnt, daß kaum ein Vierteljahrhundert später die ganze Welt wiederum von ihrem Halle erzittern würde. Damals auf dem Schlachtfeld von Leuthen hörten wir zum ersten Male den Ton der sausenden Geschosse, aber wie das im Ernstfalle sein
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würde, davon konnten wir uns letzten Endes doch keine Vorstellung machen. Vielleicht ist es ganz gut, daß man niemals weiß, was die Zukunft bringt. N o c h einmal lernten wir das Reiten von der Pike auf. Das war etwas anderes als im Tattersall, wenn wir hier auf ungesatteltem Pferde, das nur Decke und Sitzkissen trug, durch den Sprunggarten gejagt wurden und dann noch die Hände hochzuhalten hatten. Dabei aber lernten wir, wie man wirklich auf dem Pferde sitzt und wie man das Pferd durch den Druck der Schenkel beherrscht. So wurde allmählich aus dem Zivilisten ein Soldat. Wie stolz war man, wenn man am Nachmittag nach Beendigung des Dienstes oder am Sonntag in schöner Extrauniform, die in der Uniformschneiderei Meyer angefertigt war, durch die Straßen stolzierte. Damals war es Mode, ganz hohe Mützen zu tragen, die eigentlich verboten waren, die aber für besonders chic galten. Wenn nun Appell für Extramützen war, so besaßen wir alle noch eine vorschriftsmäßig niedrige, die wir vorzeigten. Wir hatten natürlich das Bestreben, äußerlich möglichst wie Offiziere auszusehen und waren stolz, wenn wir einmal aus Versehen gegrüßt wurden. Der Mensch von heute kann sich wahrscheinlich nur sehr schwer in diese kleinen Freuden und Leiden der damaligen Zeit hineindenken. Fast über jeden Tag der Militärzeit ließe sich etwas erzählen, aber dann würden die Erinnerungen ungebührlich anschwellen, und so muß ich mir eine gewisse Beschränkung auferlegen. Abgesehen von kleineren Unfällen war ich das ganze J a h r gesund. An der Verlängerung dieser Unfälle, das heißt an möglichst langer Krankheitsdauer, waren die sogenannten Revierunteroffiziere nicht unerheblich interessiert, nachdem sie herausbekommen hatten, daß ich in einer U n fallversicherung war und daß sie die von dieser zu zahlenden Gebühren einziehen könnten. So teilten sie mir eines schönen Tages mit, ich sei in das Lazarett überführt worden, was gar nicht der Fall war. Dann bekamen sie eben mehr von der Versicherung bezahlt. Selbstverständlich habe ich an einem derartigen Betrugsversuch nicht mitgewirkt, aber ich hatte auch keine Möglichkeit, ihn zu verhindern. Wahrscheinlich hätten sie sonst jeden Eid geschworen, daß ich doch der Schuldige wäre. [...] Wir Einjährigen hatten, wenn wir uns gut führten, das Recht, außerhalb der Kaserne zu wohnen; doch mußte natürlich das Zimmer ganz in der Nähe liegen, denn sonst bestand keine Möglichkeit, früh um vier oder fünf im Stall zu sein. So vermieteten die Anwohner der Straße an den Kasernen Zimmer an Einjährige. Ich hatte mit der Wirtin sehr viel Glück,
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und sie war auch mit mir sehr zufrieden, weil ich ein sehr solider Mieter war und keinen Damenbesuch in die Bude mitbrachte. U b e r dieses Thema wäre mancherlei zu sagen. Bei jungen Menschen spielte bei Tisch die Unterhaltung über die Damenwelt eine große Rolle. Wir aßen alle gemeinsam in einem kleinen Restaurant auf dem Bürgerwerder, das gänzlich auf die Einjährigen abgestellt war. Ich habe im Laufe des Lebens gelernt, daß die meisten, wenn sie über ihre Erfolge bei den Damen sprechen, ungeheuer übertreiben. Immerhin ist manches wahr gewesen. Einer unserer Einjährigen war sogar so kühn, daß er dieselbe Freundin hatte wie ein Batterieoffizier. Im Schatten dieser Einjährigen lebten natürlich auch mehr oder weniger lockere Mädchen, die von dem goldenen Segen der jungen Leute profitieren wollten und ihr Leben mit ihnen genossen. Ich bekam dadurch Einblick in eine Atmosphäre, die mir vielleicht zum Glück sonst unbekannt war. D a ich verlobt war, als einziger von den Kameraden, hatte ich eine Sonderstellung und wurde immer damit aufgezogen. Wenn ich heute über diese Zeit nachdenke und die Gespräche bei diesem Mittagstisch wieder aufsteigen, so denke ich auch an manchen Kameraden, der damals glaubte, ein langes und lustiges Leben vor sich zu haben und der doch kaum anderthalb Jahre später irgendwo gefallen ist. Unser Jahrgang war der letzte Einjährigenjahrgang, der die volle Friedensausbildung genoß, der nächste Jahrgang wurde schon mitten aus der Ausbildung in den Krieg geschickt. D o c h über all das, was damit zusammenhängt, soll erst später gesprochen werden. So wurde man immer mehr Soldat. Man merkte an sich selbst, wie diejenigen Dinge, die einem zuerst noch fremd und feindlich erschienen, allmählich selbstverständlich wurden. Ich möchte noch einmal betonen, daß ich durchaus nicht der geborene Soldat war, sondern daß ich alles und jedes mit äußerster Energie und in einem stetigen Kampf mit mir selbst und einem nicht sehr geeigneten Körper herausholen mußte. D a ß es mir doch einigermaßen gelungen ist, gab mir ein Gefühl großer Befriedigung. Da war zum Beispiel der Einjährige Simon, Corpsstudent - schon beim ersten Antreten, als wir noch in Zivil waren, fragte der Hauptmann von R o o n , wer Corpsstudent wäre. Dieser Einjährige mit seiner starken Gestalt, mit seinem blonden Aussehen, war vielen von uns, insbesondere uns drei Juden, um viele Pferdelängen voraus. Vom ersten Tage an wußten wir, daß er Reserveoffizier werden würde, ganz gleich, was er leistete. E r wußte das auch und hat sich natürlich im Dienst nicht diese ungeheure Mühe gegeben, die wir einsetzen mußten, um einigermaßen zu bestehen.
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Hier darf vielleicht ein Wort über eines dieser Geheimnisse eingeschaltet werden, die die Erhaltung unseres Judentums in sich schließt. Gerade weil wir bei jeder Gelegenheit, wenn wir es überhaupt durchsetzen wollten, mehr leisten mußten als die andern, haben wir, so glaube ich, die Jahrtausende überdauert. Wer aus diesem Kampfe ausschied, sei es, weil er durch die Taufe die Fahnenflucht ergriff, sei es, weil er durch Verzicht auf Heirat und Fortpflanzung seinerseits nichts zur Erhaltung des Judentums beitragen wollte, oder schließlich jeder, der freiwillig von der Lebensbühne abtrat, hat unsere Gemeinschaft letzten Endes im Sinne des Ausleseprinzips gestützt. Vielleicht ist das Judentum in dieser Zusammensetzung durch unzählbare Verfolgungen im Laufe der Jahrtausende die stärkste adlige Gemeinschaft dieser Erde. Vielleicht liegt darin gerade die höchste göttliche Führung. Ich weiß wohl, daß die meisten Juden nicht geneigt sein werden, sich diesen Gedankengängen anzuschließen, weil sie alles und jedes nur unter dem Gesichtspunkt anzusehen gewöhnt sind, was ihnen im Augenblick nützlich ist. Aber vielleicht lohnt es sich doch einmal, die Richtigkeit dieses Gedankens nachzuprüfen. Jedenfalls habe ich nicht nur während meiner Militärzeit, sondern auch später immer wieder diese Feststellung machen können, und alles, was wir seit 1933 erlebt haben, scheint mir ein Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung zu sein. Zurück zu dem, was mir dieses Dienstjahr gebracht hat. Als der enge Kasernenhofdienst, der den Winter im wesentlichen ausfüllte, zu Ende war, wurde das Leben in mancher Beziehung angenehmer. Nachdem wir die Ausbildung als Kanonier hinter uns hatten, wurden wir zum Geschützführer geschult, taten also beim Gespannexerzieren Unteroffiziersdienste. Unsere Geschütze waren mit sechs Pferden bespannt. Es handelte sich dann darum, wenn die Batterie aufmarschierte, haargenau an der richtigen Stelle zu sein, sei es vor den Geschützen, sei es neben dem Stangenreiter. Das war oft nicht ganz einfach, und wehe, wenn es mißglückte. Wir alle, und ich im besonderen, waren von einem großen Ehrgeiz gepackt. Stand man mit den Fahrern seines Geschützes einigermaßen ordentlich, dann halfen sie einem durch Zurufe, denn man durfte sich ja während des Gespannexerzierens nicht umsehen. Die Fahrer waren diejenigen Soldaten, die auf den Pferden ritten, besaßen also eigentlich ihren Namen nicht ganz zu Recht. Das waren meist Leute, die von Jugend an mit den Pferden verwachsen waren. Viele von ihnen dienten schon im zweiten Jahre. Sie hatten also eine ganz andere Erfahrung als wir, die wir meist aus der Studierstube oder aus einem Kontor kamen. Diese Übungen des Gespannexerzierens vollzogen sich meist in Carlowitz auf dem Gelände, wo heute sehr viele Kasernen
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stehen, manchmal auch in Gandau auf dem Gelände des heutigen Flugplatzes. Manchmal mußte die Batterie im Galopp aufmarschieren. In sehr großer Geschwindigkeit mußten dann die Gechütze feuerbereit gemacht werden und die Pferde mit den Protzen in Deckung fortfahren, nachdem die notwendigen Munitionskörbe abgeladen waren. Als Geschützführer mußte man dann mit größerer Geschwindigkeit von seinem Pferde herunter, dem Vorderreiter den Zügel zuwerfen und sich um die richtige Aufstellung des Geschützes kümmern. War die Batterie gut im Schwünge (und Hauptmann von R o o n verstand es gewiß, das zu erreichen), dann klappte es ausgezeichnet. O f t ertönte das Kommando „Allgemeine Richtung: D e r Jude". Damit hat es folgende Bewandtnis: Gandau war damals noch sehr leer. Es fehlte an Festpunkten im Gelände, nach denen man die Geschütze einrichten konnte. D e r einzige erhöhte Punkt im Gelände war die Kuppel der Halle des jüdischen Friedhofes, der damals erst verhältnismäßig kurze Zeit im Betriebe war 1 7 . Wahrscheinlich war dieser Ausruf nicht bösartig gemeint; aber im Moment gab er doch einen kleinen Schock, und das Gefühl, daß wir als etwas andersartiges empfunden wurden. Auch wenn assimilatorische Juden sich einredeten, nichts anderes als Deutsche zu sein, so haben sie ja doch bis zur Gegenwart immer verstärkt die Erfahrung gemacht, daß es nicht so sehr darauf ankommt, was man selbst empfindet, sondern auf das, was die anderen über uns denken. Heute ist der Exerzierplatz in den Flughafen verwandelt, heute könnte dort auch nicht mehr das Kommando „Allgemeine Richtung: Der Jude" ertönen. Denn etwa vor Jahresfrist 1 8 ist von einem niedergehenden Flugzeug, das die Entfernung zu kurz nahm, die Kuppel niedergerissen worden. Die gesamte Mannschaft dieses Flugzeugs kam dabei ums Leben. Ich ziehe keinen inneren Zusammenhang zwischen dem Kommando in jener Zeit und dem hier zuletzt Geschilderten. Bleiben wir lieber bei jenem Exerzieren auf der Sandwüste des Gandauer Platzes. Wir lernten bei diesen Übungen auch die ganzen Schwierigkeiten der Schießkunst. Denn es war nicht so, wie sich das vielleicht der Laie vorstellt, daß man ein Geschütz einfach auf das Ziel ausrichtet. Mit Hilfe komplizierter Instrumente wie Richtkreis und Scherenfernrohr wurde das Ziel ausgemacht. Artillerieoffizier konnte schließlich nur der sein, der ein gewisses Maß von mathematischem Verständnis mitbrachte. D e r jüdische Friedhof im Stadtteil Cosel war 1902 eingeweiht worden. Sein Areal ist noch größer als das des älteren jüdischen Friedhofes, der 1856 an der Lohestraße eröffnet worden war. 18 Also 1939. 17
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Wer aus adligem Hause war, ein guter Reiter, aber nicht mit Geisteskräften gesegnet, ging lieber zur Kavallerie. Für uns Einjährige war es dann auch wichtig, eben die Bedienung dieser Instrumente kennenzulernen. Auf das Aufmarschieren der Batterie im Galopp wurde damals noch großer Wert gelegt. Es war ja ein schöner Anblick, aber oft wurde auch darüber diskutiert, ob das für einen zukünftigen Krieg noch einen rechten Sinn hätte. Verschiedene Auffassungen standen sich gegenüber. Die einen glaubten, daß in einem zukünftigen blutigen Zusammentreffen Schneid und Geschwindigkeit den Ausschlag geben würden. D i e anderen aber meinten, gestützt auf die Erfahrungen im russisch-japanischen Kriege, daß ein Stellungskrieg, ein Schützengrabenkrieg kommen würde. Die Vertreter des sogenannten Schneides waren die beliebteren, zumal auch der damalige oberste Kriegsherr Wilhelm II. gern diese glänzenden Aufmärsche und Kavallerieattacken sah. Man erzählt sich, daß es über diese verschiedenartige Auffassung auch zu Auseinandersetzungen mit Hindenburg gekommen ist und daß die frühzeitige Pensionierung von Hindenburg darauf zurückgehen soll, daß er den Kaiser bei den Manövern nicht immer gewinnen ließ. D o c h habe ich über diese Dinge letztlich wohl kein Urteil. Was das eigene Erleben dazu beitragen kann, ist höchstens dies: Wir haben nur ein einziges Mal in Carlowitz geübt, wie man ein Geschütz einzugraben hat, und das auch noch ziemlich oberflächlich. Und doch hat das dann im Weltkrieg die größte Rolle gespielt, und es ist schließlich so gekommen, wie der in meiner aktiven Dienstzeit nicht so sehr geschätzte Teil der Offiziere das voraussah. Ein wichtiges Ereignis in diesem Jahre der Ausbildung war auch der Besuch des Schießplatzes in Neuhammer. Hier verbrachten wir mehrere Wochen, und hier wurde nun ernstlich scharf geschossen. Man konnte sich nun wenigstens ein schwaches Bild davon machen, wie der Krieg einmal wirklich aussehen würde. Für alle die, die in ihrem Leben weder einen Krieg mitgemacht, noch einen Schießplatz gesehen haben, sei folgendes gesagt: Die Heeresverwaltung hatte ein ganzes Gelände zum Scharfschießen freigemacht. Neuhammer am Queis, in sandiger Gegend gelegen, war dazu besonders geeignet. Ein ganzes D o r f war, wie man heute sagen würde, ausgesiedelt worden. Die Häuser, beziehungsweise ihre Ruinen, waren nun die O b j e k t e zum Zusammenschießen. Es war das etwas anderes als das Schießen auf irgendwelche Scheiben. Ü b e r alle diese Dinge tat man am besten, nicht viel nachzudenken, denn sonst kam einem die Sinnlosigkeit des modernen Menschendaseins immer mehr zum Bewußtsein. Auch auf dem Schießplatze hatten wir Einjährigen ein Sonderprivileg. Wir brauchten nicht im Lager zu wohnen, sondern konnten uns ein
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Zimmer im D o r f e mieten, das darauf eingerichtet war. Damals empfanden wir das als eine besondere Auszeichnung. Als wir aber im nächsten Jahre in den Krieg zogen, zeigte es sich, um wieviel besser es gewesen wäre, wenn wir alle Strapazen bei der Truppe mitgemacht hätten. Wir konnten uns auch selbst verpflegen und aßen in einem Restaurant, das dem Schießplatz gegenüber gelegen war. Die große Ansammlung von Männern gab diesem Lagerleben einen eigenartigen Akzent. Unsere Funktion auf dem Schießplatz war eine mannigfaltige. O f t hatte man am Nachmittag den Oberfeuerwerker zu begleiten, wenn es hieß, die Ziele aufbauen und das Gelände abzureiten. Manchmal saß man auch in den bombensicheren Beobachtungsstellen, u m die Einschläge aufzuschreiben. Es wurden über jeden Schuß genaue Listen geführt. Für die Offiziere und ihre Karriere war es von größter Bedeutung, wie sie geschossen hatten. Man war dann zu den Listenführern recht nett. Ich habe übrigens den Schießplatz Neuhammer zweimal kennengelernt, denn 1914, kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges, wurde ich zu einer achtwöchentlichen Übung eingezogen und machte das alles noch einmal mit. Kurz vorher hatte ich eine Handverletzung gehabt und war eine Zeitlang krank geschrieben, konnte auch selbst nicht schreiben. Damals hatte ich gerade eine größere Anzahl Artikel für die „ B r e s l a u e r Zeitung" zu verfassen, weil das hundertjährige Gedenken der Freiheitskriege war. Doch fand ich einen Ausweg. Kurz entschlossen diktierte ich (selbstverständlich gegen entsprechende Vergütung) diese Zeitungsartikel unserem Büroschreiber in die Hand. So sind sie alle pünktlich erschienen. Als wir wieder nach Breslau zurückkamen, ergab sich natürlich im Laufe des Sommers häufig Gelegenheit, diese Jahrhundertausstellung zu besuchen, über die ich nun ausführlich berichten will. Die Stadt Breslau hatte für diese Ausstellung die Jahrhunderthalle gebaut, von der man sagte, daß ihre Kuppel die größte Kuppel der Welt wäre. Dieses Gebäude bestand ganz aus Eisenbeton. Sein Schöpfer war der Breslauer Stadtbaurat Berg. Wilhelm II. war ein abgesagter Gegner des Baus, und er soll ihn auch bei seinem Besuch der Breslauer Ausstellung nicht beachtet haben. Da man damals ganz in der Ausdrucksweise der Freiheitskriege lebte, variierte der Breslauer Lokalwitz jenes Wort „Gold gab ich für Eisen", mit dem der Opfermut der Freiheitskriege gekennzeichnet wurde, in jenes andere „Gold gab ich für Eisenbeton". Damit wollte wohl der Steuerzahler seinem Unwillen darüber Ausdruck geben, daß man dahinein soviel Geld verbaut hatte. Der Zeitgenosse hinkt ja immer ein wenig nach, und der Breslauer ist in dieser Beziehung wohl besonders schwerfällig.
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Seitdem hat die Jahrhunderthalle mancherlei erlebt. Wieviel Kundgebungen sind nicht in ihr veranstaltet, wieviel Meinungen sind nicht aus ihr in die Welt hinausgeschickt worden. Ein Kampf in dieser Jahrhunderthalle war immer um die Akustik; aber ich glaube, daß schließlich auch dieses Problem noch von den Fachleuten gelöst worden ist. Für mich als Historiker war das Schönste natürlich die Ausstellung. Den Katalog der Ausstellung hat Professor Hintze meisterhaft verfaßt 19 . Derselbe Professor Hintze hat Jahrzehnte später auch den Katalog für die Ausstellung „Das Judentum in der Geschichte Schlesiens" geschrieben 20 , ein Katalog, der das kurze Dasein des Breslauer jüdischen Museums einleitete. Solche Kataloge überleben ja die Ausstellungen und im letzteren Falle auch das Museum. Auf der Breslauer Jahrhundertausstellung waren die Kriegserinnerungen Preußens, Österreichs und Rußlands zu sehen. Besonders das, was Rußland zu bieten hatte, war der übrigen Welt im wesentlichen unbekannt. Denn das zaristische Rußland lebte ja gänzlich abgeschlossen von der übrigen Welt. Es ist auch anzunehmen, daß so mancher Ausstellungsgegenstand, den wir damals in Breslau erblickten, später, als die Stürme der russischen Revolutionen über das Land gingen, zu Grunde gerichtet wurde. Ich war in diesem historischen Teil der Ausstellung sehr häufig, wenn es der Dienst nur irgend zuließ. Was die Ausstellung an jüdischen Kriegserinnerungen bot, interessierte mich besonders. Mit Rührung sah ich ein hebräisches Gebetbuch, das ein Soldat während des ganzen Feldzuges bei sich getragen hatte. Damals ahnte man noch nicht, daß man über Jahresfrist auch mit einem Gebetbuch im Tornister hinausziehen würde. Über all das, was sich an Erinnerungen jüdischer Kriegsteilnehmer fand, schrieb ich meinen ersten Artikel für das Hamburger „Israelitische Familienblatt" und machte damit meinen Sprung in den jüdischen Journalismus 21 , wovon ich ja auch schon oben berichtet habe. Es gab übrigens 1813 auch eine jüdische Kriegsfreiwillige, die Jüdin Esther Grafemus. Auf dem alten Breslauer Friedhof auf der Claassenstraße ruht der Leutnant Meier Hilsbach, der in der Schlacht bei Groß-Görschen die tödliche Verwundung erhielt. Ich habe mich damals und später noch oft mit den jüdischen Kriegsteilnehmern aus der Zeit E. Hintze u. K. Masner (Hg.): Die Historische Ausstellung zur Jahrhundertfeier der Freiheitskriege Breslau 1913. Breslau 1916. 2 0 Vgl. unten S. 362 und S. 511. 21 Vgl. SV Nr. 10. 19
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der Freiheitskriege befaßt. Ihre Zahl war verhältnismäßig groß. Man muß immer im Auge behalten, daß sie erst wenige Monate vollberechtigte Staatsbürger waren, denn die Judenemanzipation war erst 1812 durch den Staatskanzler von Hardenberg verkündet worden 22 . Religiös steckte ich damals noch ganz im jüdischen Liberalismus und war ein eifriges Mitglied des jüdisch-liberalen Jugendvereins, des sogenannten Iii 23 . Aber gerade auch die Betrachtung dieser jüdischen Kriegserinnerungen in der Jahrhunderthalle hat mein völkisches Gefühl sicherlich gestützt, wenn ich es auch noch nicht wahrhaben wollte. Demjenigen, der das Judentum nur religiös werten wollte, mußte klar werden, welche starken Bindungen über das Religiöse hinaus das Volkstum bedeutete. So war mein Einjährigenjahr nicht nur vom Kommiß erfüllt, sondern brachte mir auch geistiges Leben, ohne das ich nun einmal nicht sein kann. Ein großes Ereignis im Sommer 1913 war das „Festspiel in deutschen Reimen", das Gerhart Hauptmann im Auftrage des Breslauer Magistrats geschrieben hatte. Um dieses Festspiel tobte damals ein großer Kampf. Gerhart Hauptmann sah die Weltgeschichte nicht mit den Augen des königlich preußischen Historiographen, sondern er betonte auch die Größe Napoleons. Das war aber damals an allerhöchster Stelle nicht erwünscht. Überhaupt hatte ja Gerhart Hauptmann als Verfasser der „Weber" etwas durchaus „Anrüchiges". So erging auch ein Verbot, das Festspiel in Uniform zu besuchen. Da wir in Zivil nicht ausgehen durften, so habe ich es niemals gesehen 24 . Abgesehen von dem Politischen ist übrigens zu sagen, daß diese Dichtung, die gewissermaßen auf Bestellung geschrieben war, durchaus nicht zu den großen Leistungen Hauptmanns gehörte. Hauptmann hat das, was ihn wirklich unsterblich gemacht hat, in früher Jugend verfaßt. Das, was später kam, hat dann nur schwer das halten können, wozu die Hoffnungen von früher berechtigten. Doch würde eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen den Rahmen, den ich mir gesteckt habe, sprengen, und deswegen soll es hier mit dieser Andeutung sein Bewenden haben. Durch das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in den Preußischen Staaten" vom 11. März 1812. 2 3 Eigentlich: Jüdisch-liberaler Jugendbund (gegründet 1910). E r gehörte der Jugendbewegung an. 2 4 Zum Eklat um G. Hauptmanns Festspiel: Das Breslauer Festspiel 1913. Aktenmäßige Darstellung seiner Entstehung und Absetzung; in: Die Literatur (1932), Heft 2, S. 69-74. 22
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Damals war Breslau von einem großen Leben erfüllt. Im allgemeinen liegt ja unsere schöne Stadt abseits von der großen Verkehrslinie. Wenn die Schönheiten, die wir dem Fremden im besonderen auf der Dominsel zu zeigen haben, in Rothenburg oder Nürnberg lägen, dann würde der Strom der Fremden nicht abebben. Dazu kommt noch, daß mancher Journalist seine Minderwertigkeitsgefühle durch mehr oder weniger törichte Bemerkungen über Breslau abzureagieren versuchte. Es ist damals erstaunlich viel geschehen, um aus diesem Ausstellungsgelände ein einzigartiges Bild zu schaffen. Es ging unmittelbar in diesen herrlichen Scheitniger Park über, einen Park, wie ihn wenige Städte aufzuweisen haben. Es ist nicht nur Lokalpatriotismus, wenn ich das hier sage, sondern der Ruhm des Scheitniger Parkes ist weit gedrungen. U m das Ausstellungsgelände selbst wurde ein Umgang geschaffen, die Pergola. Es war ein Erlebnis, wenn das alles abends in Licht getaucht wurde und aus dem Dunkel emporstieg. Den Höhepunkt der Soldatenzeit bildete das Manöver. Es war diesmal ein Kaisermanöver, also ein besonderes Ereignis. Kaiser Wilhelm II., der sich auf der H ö h e seines Ruhmes fühlte, hätte es sich gewiß nicht träumen lassen, daß das sein letztes Manöver sein würde, das er abnahm. Nicht nur, daß dann blutiger Ernst an die Stelle des Scheinkampfes treten würde, nein, darüber hinaus auch noch, daß die Stunde seines Abtretens von der Weltgeschichte nicht mehr fern war. 1913 standen die drei Kaiserreiche Deutschland, Österreich und Rußland fest begründet. Wer damals gesagt hätte, daß nur fünf Jahre ins Land gehen würden und dann keiner der drei Kaiser mehr auf seinem Thron sitzen würde, der wäre sicher nicht einmal als Hochverräter, sondern nur als Wahnsinniger behandelt worden. Die Weltgeschichte macht manchmal die sonderbarsten Sprünge. Deshalb sollte man sich auch abgewöhnen, irgendwelche Prophezeiungen abzugeben. Niemand weiß, was kommen kann, und meist kommt alles anders. Deswegen hat der Talmud vielleicht recht, wenn er in Baba Batra sagt25, daß seit der Zerstörung des zweiten Tempels die Prophetie auf Kinder und Narren übergegangen ist. Im Ablauf der Weltgeschichte hat es manchmal die überraschendsten Wendungen gegeben. Dieses Kaisermanöver fand in unmittelbarer Nähe von Breslau statt. Wir waren soviele Einjährige, daß wir nicht alle das Manöver beritten 25
Der Babylonische Talmud. N e u übertragen durch L. Goldschmidt. Bd. 8. Berlin 1933, Baba Bathra 1,6., S. 48.
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mitmachen konnten, zumal zu diesen Manövern noch Reserveoffiziere eingezogen wurden. So wurde das Manöver wieder zu einem kleinen Attentat auf unser Portemonnaie benutzt. Die Batterie brauchte dringend einen Krümperwagen. Einem Teil von uns wurde in Aussicht gestellt, daß, wenn wir diesen Krümperwagen beschafften, wir dann als Quartiermacher Verwendung finden dürften. Eine solche Andeutung war natürlich so gut wie ein Befehl, und wir „besorgten", wie es in der militärischen Sprache heißt, eben den Krümperwagen. Für die Offiziere hatte der Besitz dieses Wagens auch seinen Vorteil, denn dann konnten sie, wenn mal ein manöverfreier Tag war, schnell mit dem Wagen nach Breslau oder wenigstens zur nächstgelegenen Eisenbahnstation fahren. Für uns, die wir den Wagen bezahlt hatten, war es dann mitunter ein komisches Gefühl, wenn die Herren an uns vorbeisausten und wir die Ehre hatten, den Staub unseres eigenen Wagens zu schlucken. An dieser Stelle muß auch noch etwas über die Beförderung der jüdischen Einjährigen eingeschaltet werden. N a c h dem ersten Halbjahr wurde eine Auswahl zwischen denjenigen getroffen, die als Offiziersaspiranten in Frage kamen und den übrigen. Die Mediziner schieden sowieso nach einem halben Jahre aus. Sie brauchten nur diese Zeit mit der Waffe zu dienen und erledigten den zweiten Teil der Dienstpflicht, wenn sie approbierte Arzte waren, als Sanitätsoffiziere. Sanitätsoffizier wurde auch jeder Jude, der einwandfrei sein erstes Halbjahr abgedient hatte; aber kein J u d e wurde in Preußen Reserveoffizier. Trotzdem gab es aber offiziell keine Zurücksetzung. So mußte anderweitig ein Grund geschaffen werden, um das Ausscheiden aus diesem Unterricht, der zum Offizier berechtigte, entsprechend zu motivieren. Man konnte doch nicht wissen, ob sich nicht einer beschweren würde und diese Beschwerde gar bis zum Reichstag durchfechten möchte. Mir ist ein einziger Fall bekannt, daß eine solche Beschwerde tatsächlich bis zur letzten Instanz ging, natürlich ohne einen Erfolg zu haben. U n d zwar hat dies ein Breslauer Rechtsanwalt, der Geheime Justizrat Feige getan, konnte aber nichts anderes erreichen, als daß man ihm in bezug auf seinen Sohn mitteilte, daß es selbstverständlich rein sachliche Gründe gewesen sind, die dazu veranlaßten, ihn nicht zum Offiziersaspiranten zuzulassen. O b w o h l diese Dinge wie so viele andere heute längst abgeklungen sind, so mag es vielleicht interessieren, wenn ich hier festlege, was bei mir der Grund war, warum ich nicht Offiziersaspirant wurde. An meinem militärischen Eifer und wohl auch an dem, was ich leistete, konnte man nichts aussetzen. Wir mußten damals eine Art Prüfungsaufsatz schreiben. Ich bekam als Thema „Die Einteilung des deutschen Heeres". Diese
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Arbeit wurde als ungenügend erachtet. Man muß bedenken, daß ich damals schon Kandidat des höheren Lehramts war, selbst unterrichtete und daß mich jeder bessere Obertertianer ausgelacht hätte, wenn ich mit diesem Thema vor die Klasse getreten wäre. Denn das wußte im militaristischen kaiserlichen Deutschland jeder Junge. Aber nun war ein Grund geschaffen, und es war aktenmäßig festgelegt, daß ich wegen meiner schriftlichen Leistungen zum Offizier ungeeignet war. Selbstverständlich fand sich natürlich nirgends in den Akten ein Hinweis, daß ich als Jude keinesfalls Offizier werden konnte. Ich finde, daß die heutige Zeit, mag man sonst zu ihr stehen wie man will, wenigstens ehrlicher ist, und alle Bemäntelungen wegfallen. Der kleine Moritz würde vielleicht jetzt sagen: „Sehr wichtig, ob D u Offizier geworden bist oder nicht. Sorgen habt Ihr gehabt!" Daraufhin ist diesem sehr klugen, kleinen Moritz zu sagen, daß es im Wesen des Menschen liegt, daß man das als Sorge ansieht, was einen im Augenblick bedrückt. Natürlich waren es keine Sorgen gemessen an dem, was wir heute erleben, oder was die russischen Juden damals erst vor kurzem erlebt hatten. Und wenn wir selbst heute vielleicht oftmals mit Kopfschütteln die Haltung unserer überseeischen Glaubengenossen ansehen, die nicht in unserem Interesse die Opfer bringen, von denen wir glauben, daß sie notwendig sind, so sollen wir eben nicht vergessen, daß auch wir selbst im Glück nicht anders waren und es uns wirklich sehr wichtig erschien, ob wir Reserveoffiziere wurden oder nicht. Ich bin aber dann pünktlich zu dem Termin, da es für Nichtoffiziersaspiranten möglich war, Gefreiter geworden und hatte damit, wie man damals zu sagen pflegte, die höhere Stufe der Gemeinheit erreicht. Die Manöverzeit verlief für mich ganz angenehm und brachte, abgesehen von gelegentlicher Verwendung als Meldereiter und dergleichen, keine aufregenden Ereignisse. Wir wurden in den Quartieren zum Teil maßlos verwöhnt. Manche Orte hatten schon seit vielen Jahren kein Manöver gehabt. Nun war das ein Fest für die ganze Gegend. Am größten war die Verwöhnung in der Stadt Nimptsch. D o r t mußten wir von Zeit zu Zeit um Erlaubnis bitten, nicht mehr essen zu dürfen, weil wir es einfach nicht mehr schaffen konnten. Was würden meine ehemaligen Quartiergeber sagen, wenn ich heute dort hereintreten würde? Manchmal war es natürlich auch außerordentlich bescheiden. Ich erinnere mich noch, wie ich das erste Mal Ziegenmilch trinken mußte, als wir bei Bauern einquartiert waren, denen es nicht so gut ging. Selbstverständlich durfte man, um die Menschen nicht zu kränken, nicht merken lassen, daß man dies Getränk nicht gewöhnt war. Nachdem das Manöver hinter uns lag, war im wesentlichen das Miltärjahr abgeschlossen. Dann
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gönnte sich die Truppe eine gewisse Ruhe. Die alten Leute (so nannte man die, die zwei Jahre gedient hatten) wurden schon Mitte September entlassen, während wir den bunten R o c k erst am 30. September ausziehen durften. Damals war es wirklich noch ein bunter Rock, nicht feldgrau wie heute. Welche sorgsame Pflege war zum Beispiel für die Knöpfe notwendig, die mit der Knopfgabel blankgeputzt werden mußten! Uns Einjährigen stand ein besonderer Putzer zur Verfügung, der dafür verantwortlich war, daß wir ordentlich aussahen. Auch die Pflege des weißen Koppelzeuges machte sehr viel Arbeit. Wir wußten, daß in der Kammer für jeden Soldaten bereits die feldgraue Uniform bereit lag; aber wir konnten nicht ahnen, daß nur wenige Monate vergehen würden, bis wir sie nun zum blutigen Ernste tragen würden. Am letzten Tage meines Dienstjahres wurden wir drei jüdischen Einjährigen zu Unteroffizieren befördert. Für meine Beförderung hatte sich ganz besonders der Wachtmeister Müller eingesetzt, der dem Hauptmann klar machte, daß es unmöglich wäre, mich unbefördert ausscheiden zu lassen. Es war das für damalige Zeiten immerhin etwas Besonderes, wenn man im aktiven Dienstjahre als Jude Unteroffizier wurde. Die meisten erreichten das erst bei der ersten Reserveübung. Ich war außerordentlich stolz darauf, und ich bitte meine Leser, darüber nicht zu lächeln. Wenn man ehrgeizig ist und man hat das ganze Jahr seine Pflicht getan, dann würde es doch schmerzen, wenn man das nicht erreicht, was man sich vorgenommen hat. Was für ein stolzes Gefühl war es, als ich mir die Tressen, die goldenen Tressen, die damals die Unteroffiziersabzeichen bildeten, um den Kragen und um die Armelaufschläge nähen lassen konnte. Der erste Soldat, der mich grüßte, bekam die fürstliche Ehrengabe von einer Mark. Selbstverständlich ging ich auch sofort zum Fotografen Weich, um dieses Ereignis auf der Platte festhalten zu lassen. Man hatte auch noch das Recht, am ersten Tage des Monats Oktober die Uniform zu tragen, und ich machte von diesem Rechte ausgiebig Gebrauch, um möglichst viel gegrüßt zu werden. Vielleicht wird eins meiner Enkelkinder, die ja voraussichtlich das Hebräische als Muttersprache haben werden, wenn sie diese Stelle einmal lesen sollten (falls sie das noch können), leise, aber vernehmlich vor sich hermurmeln: Schote gadol. Für diejenigen aber, die nicht das moderne Hebräisch beherrschen, will ich es auch auf Deutsch sagen „großer Narr". Aber wenn das einmal meine lieben Enkelkinder (hoffentlich werden es sehr viele sein) sagen sollten, so täten sie mir unrecht. Man muß das alles
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mit den Augen der Zeit sehen, aus der es zu beurteilen ist, nicht mit den Augen einer anderen Zeit, die das nicht mehr begreift. Letzten Endes haben wir diese Freuden, diese harmlosen Freuden am bunten Rock, doch schwer bezahlen müssen. So kann man uns die Freude lassen, sich an diesen Tag der Beförderung zu erinnern. Schon während der letzten Militärwochen waren für mein Privatleben aber andere Ereignisse wichtig geworden. Wir wollten in den ersten Tagen des April heiraten, da bald die Schule wieder anfing, und ich meinen Dienst selbstverständlich pünktlich antreten mußte. Andererseits kamen aber durch die jüdischen Feiertage für die Trauung nicht alle Tage in Frage. So war der Zeitpunkt eigentlich von vornherein festgelegt 26 . Auch die übliche Hochzeitsreise konnte nur ein paar Tage umfassen. Zuerst mußte die Wohnungsfrage gelöst werden. Das war damals 1913 gewiß kein Problem. Uberall entstanden neue Straßen im Süden der Stadt. Die Hauswirte waren froh, wenn ein junges Ehepaar als Trockenwohner hineinzog. Man bekam dann sogar noch Mietefreiheit für einige Monate. Ich suchte eine stille Straße, die andererseits nicht allzuweit von der Straßenbahn entfernt lag. Denn mein Leben sollte sich ja nicht in der Stille der Studierstube allein, sondern auch in der Schule abspielen. Außerdem war für meine wissenschaftliche Arbeit der Gang zur Bibliothek oder besser gesagt, zu den Bibliotheken, von großer Wichtigkeit. Die stille Wölflstraße erfüllte alle Bedingungen, die ich mir gestellt hatte. Sie lag im Süden der Stadt, unweit der Hauptverkehrslinie, der Kaiser-Wilhelm-Straße. Sie war mit Asphalt bepflastert und machte wenig Geräusche. Sie konnte niemals eine große Durchgangsstraße werden, weil sie an ihren beiden Enden nicht auf andere Verkehrslinien stieß. Die Wohnung lag im zweiten Stock in der Hausnummer 17. Wir waren die höchsten Herrschaften in diesem Hause, denn über uns war der Boden. Damals rechnete man noch nicht damit, daß einem einmal das Treppensteigen große Beschwernisse machen könnte. Es war eine Fünfzimmerwohnung, also gewiß sehr viel für den Bedarf eines jungen Ehepaares. In der äußersten Ecke der Wohnung richtete ich mir mein Studierzimmer ein. Für die Einrichtung der Wohnung hatte mir meine gute Mutter über mein Vatererbe hinaus eine sehr große Summe zur Verfügung gestellt, so daß wir in der Lage waren, wirklich gediegene Möbel zu kaufen, die ich auch heute mit Ausnahme des Biedermeierzimmers,
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Oben S. 172 nennt Cohn den Oktober 1913 als Termin der Eheschließung.
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das ich seinerzeit bei Aber erstanden habe, noch alle besitze. Dieses Biedermeierzimmer hat sich vor sieben Jahren, als wir uns nach den Ereignissen von 1933 bescheidener einrichten und verkleinern mußten, im wesentlichen in eine goldene Uhrkette verwandelt, die ich meinem Sohne Ernst nach Palästina mitgeben konnte. Damals war das gestattet, während nunmehr jeder Besitz goldener Schmuckstücke verboten ist 27 . Im wesentlichen waren es neue Möbel, die wir uns anfertigen ließen. Nur in meinem Arbeitszimmer war das Hauptstück jener alte Schreibtisch, der schon meinem Vater gehört hatte, den später mein Bruder Franz benutzt hatte und den dieser mir zur Verfügung stellte, als er sich einrichtete. Ich finde, daß an solchem Hausrat, der die Generationen überdauert, viel Tradition hängt und daß man sich ihn solange wie möglich bewahren soll. Ich habe in dieser Beziehung immer sehr konservativ gedacht. In diesem Zimmer fanden auch meine Bücherregale Aufstellung, die ich mir im Laufe der Zeit angeschafft habe. Sie sind dann ständig ergänzt worden; denn meine Bibliothek ist bis zum heutigen Tage immer weiter gewachsen. Gegenwärtig müßte ich, wenn die Bücher wirklich ordentlich aufgestellt wären, sehr viel mehr Regale besitzen, als es der Fall ist. Die religiöse Trauung fand in der Neuen Synagoge statt. Bei den großen Beziehungen, die unsere Familie in Breslau hatte, war dieser Riesenraum sehr gefüllt. Trauungen in der großen Synagoge waren damals keine Alltäglichkeit. Die Menschen benutzten so etwas, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Im Anschluß daran fand die Hochzeitsfeier bei Hansen statt, in dem großen bürgerlichen Stile, welcher der damaligen Zeit eigen war. Die ganze Verwandtschaft war eingeladen, die Musik stellten die Trompeter von der 3. Batterie des Feldartillerie-Regiments 6. Auch dieses alles klingt selbst mir heute wie ein fernes Märchen. Ich könnte mir heute kaum noch vorstellen, mich unter so vielen Menschen zu bewegen. O b ich bei meiner Jugend damals schon die Reife für einen Ehemann mitbrachte, ist eine Frage, die ich mir später oftmals vorgelegt habe, als alles ganz anders kam, als ich dachte und mir mancherlei Leid erwuchs. Vor allem war es wohl auch meine Besessenheit in bezug auf die Arbeit, die durch das Militärjahr, als ich nicht allzuviel wissenschaftlich arbeiten konnte, eher noch gewachsen war, die Schwierigkeiten in sich schloß, wenn man einen jungen lebenslustigen Menschen an sich fesselt. Mit dem Optimismus der Jugend hoffte man, daß das alles gut gehen würde, beziehungsweise Laut Anordnung vom 21. 2. 1939 hatten alle deutschen Juden binnen zwei Wochen alle Gegenstände aus Gold usw. bei öffentlichen Ankaufsstellen abzuliefern. 27
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hatte die Schwierigkeiten überhaupt nicht erkannt. Mir scheint etwas Gutes darin zu liegen, daß es dem Menschen in der Regel versagt ist, die Schwierigkeiten zu sehen, die später auf ihn einstürmen. Würde das der Fall sein, so würden die wenigsten den Mut zum Leben haben. In der Tat gibt es so viele gehemmte Menschen, die aus diesen Gründen den Weg in die Ehe nicht finden. Doch glaube ich, daß wir Juden mit unserem ausgeprägten Familiensinn und mit der Sehnsucht nach dem Kinde vor allem für die Ehe bestimmt sind. [...] Die kurze Hochzeitsreise führte uns nach München, wo wir in dem Regina-Palast-Hotel wohnten. Ich zeigte meiner jungen Frau die Stellen, wo ich vor drei Jahren als junger Doktor gewesen war. Es war für München keine so sehr glückliche Jahreszeit. Es regnet dort das ganze Jahr sehr viel und im Herbst natürlich noch mehr. Da einer unserer großen Feiertage (ich glaube, der Versöhnungstag) in die Zeit der Hochzeitsreise fiel, besorgte ich mir selbstverständlich auch eine Karte für die Synagoge in der Herzog-Max-Straße, die vor einigen Jahren abgerissen wurde, weil sie gegenüber dem Gebäude für die Deutsche Kunst lag 28 . So brauchte sie nicht erst verbrannt zu werden. Rabbiner war damals in München Dr. Werner, der einen gewissen Namen in der jüdischen Welt hatte. Und dann war man wieder zu Haus. Es war gewiß ein eigenartiges Gefühl, in der eigenen Wohnung zu sein. Dieser Wohnung gegenüber habe ich immer ein großes Treuegefühl gehabt. Gewiß habe ich in ihr auch sehr viel Leid erfahren, aber das wird von der Tatsache überdeckt, daß mir in ihr durch G'ttes Gnade drei von meinen fünf Kindern gesund geboren wurden, daß ich in ihr die größte Anzahl meiner Bücher schreiben durfte, von denen hoffentlich das eine oder andere in der Wissenschaft wenigstens in bescheidenem Umfange fortleben wird. Ich habe in diesen über siebenundzwanzig Jahren, in denen ich einen eigenen Hausstand besitze, bisher nur in zwei Wohnungen gelebt. Ich finde, wenn es irgend geht, soll man nicht unnötig seine Wohnung wechseln. Gerade der geistige Mensch ist doch stark von dem Milieu abhängig, in dem er lebt. Besonders ideal wäre es mir erschienen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, mir irgendwo in den Bergen ein Häuschen zu bauen, das
Die Münchener Hauptsynagoge, eine der größten in Deutschland, wurde auf Weisung Hitlers bereits im Juni 1938 abgebrochen. Sie lag in der Nachbarschaft des Künstlerhauses, nicht des Hauses der Deutschen Kunst. H . HammerSchenk: Synagogen in Deutschland. Teil 1. Hamburg 1981, S. 387. 28
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mir die Muße des geistigen Schaffens gegeben hätte. Aber das Leben kann gewiß nicht alle Wünsche restlos erfüllen. Der Winter 1913/14 (wer konnte damals ahnen, daß es der erste und für lange Zeit auch der letzte Winter im eigenen Heim sein würde) brachte mir zunächst die Fortsetzung meines ersten Jahres als Lehramtskandidat an der Oberrealschule. Ich kam nun in einen anderen Jahrgang hinein. Von meinen Kollegen ist mir keiner besonders in Erinnerung geblieben. Die Leitung der Schule hatte auch gewechselt. Der Direktor Unruh, von dem ich berichtet hatte, war Provinzialschulrat geworden, und an seine Stelle war ein jüngerer Mann getreten, Direktor Fox, der sich übrigens auf dem Gebiete der Schulgeographie einen Namen gemacht hat. So ein Direktorenwechsel hat oft auch sein Gutes. Es kommt dann etwas frische Luft in den Betrieb, womit ich aber durchaus nicht sagen will, daß dies in der Oberrealschule am Lehmdamm notwendig war. Der Seminarbetrieb ging weiter seinen Gang. Man konnte jetzt schon selbständiger unterrichten, was mir zusehends mehr Freude machte. Am Ende des Seminarjahres wurde man dann einmal von dem zuständigen Provinzialschulrat besucht, der festzustellen hatte, ob das Seminarjahr als erfolgreich beendigt anzusehen war. Dieser Provinzialschulrat hatte den Namen Dr. Klau. Er war ein älterer, sehr wohlwollender Mann und fand wohl auch bei mir nichts auszusetzen. Selbstverständlich hing nicht alles von dieser einen Lehrprobe ab. Ich bin auch später, als ich dann selbst an der Ausbildung junger Kollegen mitzuwirken hatte, niemals ein Freund dieser Lehrproben gewesen. Die Lehrerpersönlichkeit kann sich nicht frei entfalten, wenn eine mehr oder weniger große Gruppe von Herren im Schulzimmer ihren Einzug hält. Auch die Schüler verändern sich dann sehr rasch und sind häufig sehr befangen. Selbstverständlich zieht das ein vernünftiger Aufsichtsbeamter bei seiner Beurteilung in Erwägung. Übrigens war das damals, als ich Lehramtskandidat war, noch keine so wesentliche Angelegenheit. Wichtiger als die Inspektion durch den Direktor waren schließlich die Berichte der ausbildenden Herren über das, was man während des Jahres geleistet hatte. So war ich also auf der Leiter der pädagogischen Karriere wieder eine Stufe weiter gekommen, mit der ich mich fürs erste abzufinden hatte. Man soll keinesfalls später einmal sagen, daß man das, was man getan hat, vielleicht anders hätte machen können. Das Gesetz, nach dem man angetreten, ist sicherlich doch wirksamer als man glaubt. Gleichzeitig eine Familie gründen und (was eine Universitätskarriere bedeutet hätte) gänzlich Verzicht leisten auf das materielle Ergebnis der Arbeit, war nicht möglich. In mir hat der Wunsch, eine Familie zu gründen, das andere überdeckt. Dabei habe ich wohl noch viele Jahre im Unterbewußtsein
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die Hoffnung gehabt, daß es mir doch noch einmal gelingen würde, mich außerdem zu habilitieren und zur Universität zu kommen. Von einem Versuch, den ich viele Jahre später machte, wird noch zu reden sein. Im zweiten Jahr der Ausbildung hieß man nun Probekandidat und wurde einer anderen Schule überwiesen. Jetzt hatte man schon unter eigener Verantwortung zu unterrichten. Wenn man Glück hatte, bekam man sogar eine bezahlte Vertretung. Das letztere wäre mir gar nicht übermäßig lieb gewesen, weil es mich so in Anspruch genommen hätte, daß ich dann nur noch sehr wenig zur Arbeit gekommen wäre. Ich wurde einer Anstalt überwiesen, die heute auch nicht mehr existiert und zwar der Evangelischen Realschule II, die sich auf der Vorwerkstraße befand. Für die Schüler war das natürlich eine Sensation, einen jüdischen Lehrer zu bekommen. Gleich der erste Gang in die Klasse brachte mir ein Erlebnis, das mir wert erscheint, festgehalten zu werden. Bei den Schülern ist es, besonders wenn sie voll gespanntester Erwartung sind, wie der neue Lehrer aussehen wird, üblich, einen Wachtposten vor die Tür zu stellen, der dann in die Klasse seine Beobachtungen hineinruft. Als ich den großen Korridor zu der Klasse betrat, hörte ich, wie der Schüler, der das „Vorsteheramt" ausübte, hineinrief: „Der Jude kommt". Ich überlegte mir blitzschnell, was ich zu tun hatte. Aus der Sache einen großen Disziplinarfall zu machen, wäre sehr t ö r i c h t gewesen, und er hätte mir meine Stellung in dem neuen Kollegium sehr erschwert. Denn ein solcher Disziplinarfall bedeutete Konferenzen, und nichts hassen die Menschen und besonders die Lehrer, wenn sie zu einer gewissen Bequemlichkeit neigen, mehr als eine zusätzliche Belastung. Außerdem pflegt bei solchen Untersuchungen in der Regel sehr wenig herauszukommen, weil dann meist alles geleugnet wird. Ich sagte mir also, daß es zunächst am besten wäre, so zu tun, als wenn man nichts gehört hätte, dann aber die Jungens so an die Kandare zu nehmen, daß sie einem wirklich aus der Hand fräßen. Schließlich hatte man ja nicht umsonst ein Jahr beim K o m m i ß Disziplin gelernt, und manches davon konnte man auch als Schulmeister verwerten. Ich habe also diese Jungens ordentlich gezwiebelt, wie der fachmännische Ausdruck lautet, und der Erfolg war so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mit jungen Menschen ist es so wie mit Pferden (manche sagen übrigens, daß es auch bei Frauen nicht anders sein soll) sie müssen merken, daß man der Stärkere ist. Diese Jungens von der Evangelischen Realschule II haben mich dann sehr geliebt, und obwohl ich an dieser Schule nur wenige Wochen amtieren sollte, haben sie mich während des Feldzuges, solange es in der Heimat überhaupt noch etwas zu kaufen gab, mit Liebesgaben geradezu überschüttet. Dabei war das Menschenmaterial dieser Schule
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gewiß kein so einfaches. Auf der Paradiesstraße, also in derselben Gegend, lag ja das Johannesgymnasium. Eine solche Realschule, die nur bis zum Einjährigen führte, wurde von nicht allzu Begabten besucht. Die Kreise, aus denen die Jungens stammten, waren noch einfacher als die der Oberrealschule am Lehmdamm. Vor allem brachten sie keinerlei geistige Einstellung in den Unterricht mit, was gerade für meine Fächer von besonderer Bedeutung war. Als Lehrer lernt man natürlich bei einem solchen Menschenmaterial sehr viel. Auch in dem Kollegium fühlte ich mich während dieser kurzen Wochen sehr wohl. An der Spitze der Anstalt stand der Direktor Peche, ein schon etwas alter Herr, der in festen Gewohnheiten befangen, aber recht wohlwollend war. Im allgemeinen war dieses Lehrerkollegium, was mit dem Charakter der Anstalt zusammenhing, nicht sehr frisch. Durch seine Publikationen zur Breslauer Schulgeschichte hatte sich der Professor Bauch einen Namen gemacht 29 . Er war aber damals auch schon ein überaus alter Herr, der die Schule als eine unangenehme Unterbrechung seiner wissenschaftlichen Arbeit ansah. Mit den Herren, die wissenschaftlich tätig waren, habe ich mich übrigens immer sehr rasch verstanden. Man ging von der gleichen Einstellung aus. Als ich das Probejahr dort antrat, hoffte ich, es in Ruhe durchführen zu können. Doch bekam ich bald darauf die Einberufung zu einer achtwöchentlichen Übung als Reserveunteroffizier zum FeldartillerieRegiment N r . 42 in Schweidnitz. Diese Übung sollte ich am 18. Juni 1914 antreten. Ich konnte gewiß nicht damit rechnen, daß ich von ihr erst im November 1918 würde nach Hause kommen können. So war meine Existenz als junger Ehemann und als Zivilist eigentlich nur von sehr kurzer Dauer, im Grunde nur einige Monate. Ehe ich nun dazu übergehe, zu schildern, wie ich den bunten Rock wieder anzog, den ich allzubald mit einem feldgrauen vertauschen sollte, möchte ich doch über diesen Winter von 1913/14 noch das eine oder andere Persönliche nachtragen. Wir pflegten auch ein wenig Verkehr und legten zu diesem Zweck ein Gästebuch an, von dem sich aber nur einige wenige Seiten gefüllt haben. In dem Hause Wölflstraße 17 wohnten fast nur jüdische Mieter, unter mir ein gleichnamiger Herr, der dann im Weltkriege gefallen ist. 29
Bis heute sind die zahlreichen Arbeiten Gustav Bauchs zur Geschichte des Humanismus und des älteren Schulwesens in Schlesien unübertroffen. Vgl. die Würdigung Bauchs durch Otfried Schwarzer; in: ZVGS 59 (1925), S. 180-187 (mit Schriftenverzeichnis).
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Es ist manchmal bemerkenswert, festzustellen, wie die Juden, auch w o kein äußerer Zwang vorlag, immer wieder zusammenzogen. Dazu bot auch die Wölflstraße einen geeigneten Beitrag. Psychologisch kann man das übrigens durchaus verstehen. Es zeigt sich ja auch, daß dieser Hang zum Zusammenwohnen auch in den fernsten Ländern immer wieder in Erscheinung tritt, w o von seiten der Machthaber nicht die geringste Veranlassung vorliegt, daß dies geschieht. [...] Mein Bruder Martin hatte damals eine sehr große Aufgabe zu bewältigen gehabt. Die königlich preußische Eisenbahnverwaltung litt an einem Mangel eigener Werkstätten, in denen sie die Lokomotiven reparieren konnte. So wurde beschlossen, daß in dem Städtchen Oels bei Breslau eine neue derartige Werkstätte gebaut werden sollte und mein Bruder wurde mit ihrer Errichtung beauftragt 30 . Es war ein gewaltiges Bauvorhaben. Man war wohl auf ihn aufmerksam geworden, weil seine große Staatsexamensarbeit dieses Thema behandelt hat. Er hat diese Werkstätten auch fertiggestellt und kurz bevor sie ihrer Zweckbestimmung übergeben wurden, hat er uns einmal hindurchgeführt. Für ihn selbst war eine eigene Villa als Dienstwohnung vorgesehen, in der er auch mit seiner Familie eine Zeitlang gewohnt hat, aber diese Villa hat nicht viel Freudiges gesehen, da ja leider die Ehe meines Bruders von vornherein eine sehr unglückliche war. Für die Geschichte der Stadt Oels bedeutete die Werkstätte sehr viel, denn ihre Eröffnung zog einen großen Stab von Arbeitern und Beamten in diese Gegend, die sonst still und ruhig dalag. Ich nehme aber an, daß auch diese Verdienste eines Juden um die Entwicklung einer schlesischen Stadt heute in einer Stadtgeschichte nicht mehr erwähnt würden. Mein Bruder war übrigens von einer großen Bescheidenheit und hat niemals von dem, was er leistete, viel hergemacht, wenn es ihm vielleicht auch manchmal weh tat, daß die Familie daran keinen so großen Anteil nahm. Das heißt, wir waren alle eigentlich sehr stolz auf ihn, der immerhin sehr viel auf einem Gebiete geschafft hatte, das Juden sonst mehr oder weniger verschlossen war. Von den technischen Dingen verstanden wir eben herzlich wenig und konnten deshalb in die Einzelheiten kaum eindringen. Übrigens hätte diese Werkstätte beinahe wenige Monate nach ihrer Eröffnung ein tragisches Ende haben können. Als der Weltkrieg ausbrach, mußte man damit rechnen, daß die Russen 30
Vgl. auch: Das Buch der Stadt Oels in Schlesien. Hg. vom Magistrat der Stadt Oels, bearb. von Bürgermeister Schlitzberger. Berlin 1930, S. 31 und 50.
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unter Umständen bis nach Schlesien vordringen würden. Es war alles zur Sprengung der Werkstätten vorbereitet worden, auch waren die Beamtenfamilien teilweise schon von Oels fortgegangen. Martins Frau und den Kindern hatten wir unsere Wohnung auf der Wölflstraße zur Verfügung gestellt. Meine Frau war während des Feldzuges zunächst zu ihren Eltern gezogen, und ich selbst war in Frankreich. Die Erfolge der deutschen Truppen machten es aber dann ja erfreulicherweise überflüssig, diese schöne Werkstätte in die Luft zu sprengen. Ich bin dann häufig an ihr, wenn ich zu Vorträgen nach Bernstadt oder Kreuzburg fuhr, vorbeigefahren, immer mit einem sehr wehmütigen Gefühl des Gedenkens an meinen Bruder, der schon 1922, mitten auf der H ö h e seiner Arbeit, von dieser Welt abberufen worden ist. Ich hatte auch im Winter 1913/14 tüchtig wissenschaftlich gearbeitet, unter anderem auch eine größere Untersuchung über den Admiral Kaiser Friedrichs II., Heinrich von Malta, geschrieben, die dann während des Weltkrieges in der sehr angesehenen Historischen Vierteljahresschrift 31 erschienen ist. Die Gestalt dieses Heinrich von Malta wurde mir dann wieder lebendig, als ich 1937 auf unserer schönen Palästinareise einige Stunden auf Malta sein durfte. So gewinnt manchmal etwas noch nach Jahren und Jahrzehnten Gestalt, was einstmals in den Büchern erst gelebt hat. Es war nicht die einzige Abhandlung, die ich in dem Winter fertig machte, auch die anderen waren meist auf dem gleichen Gebiete. Sie erschienen, wie schon erwähnt, dann auch während des Weltkrieges und kurz nachher in der Zeitschrift „Überall" 3 2 . Meine Frau hat mir damals auch bei meinen Arbeiten geholfen und sich bis zu einem gewissen Grade bemüht, sich in die ihr fremde Welt hineinzufinden. Aber für ein Gelehrtendasein muß man vielleicht geboren sein. So stand ich also eines schönen Tages mit einer Reihe anderer Herren vor dem Bezirkskommando auf der Ohlauer Straße, wo heute wohl das Versorgungsamt untergebracht ist, in der Nähe des Stadtgrabens. Wir wurden, wie es so schön in der militärischen Sprache heißt, „in Marsch gesetzt", mit Reise- und Verpflegungsgeldern ausgestattet. Einer von uns wurde zum Transportführer ernannt. Nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen waren, machten wir die aufregende und welterschütternde Reise nach Schweidnitz. Es wurde uns gesagt, daß wir uns schon von diesem Augenblicke an wieder als Soldaten zu betrachten hätten und der 31 32
Vgl. SV N r . 33. Vgl. SV N r . 80-82.
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militärischen Disziplin unterstanden. Diese saß uns übrigens so sehr in den Knochen, daß sowieso nichts anderes in Frage gekommen wäre. So lernte ich unter dem Vielfachen, das mir das Leben zu bieten hatte, nun auch noch das Leben in einer kleinen Garnison kennen. Kleinstädte haben mir eigentlich immer gefallen. Ich habe mich diese paar Wochen in Schweidnitz sehr wohl gefühlt. In der Kaserne brauchte ich auch diesmal nicht zu wohnen. Ich nahm mir ein Zimmer Äußere Kirchstraße 42, unmittelbar gegenüber dem Eingang zur Artilleriekaserne. Der Dienst war nicht weiter aufreibend. Man hatte in der Batterie nicht auf unsere Tätigkeit gewartet, und der Wachtmeister sagte ganz bescheiden (jeder Batterie wurden etwa zwei Reserveunteroffiziere zugeteilt), wir möchten uns doch jeden Tag wenigstens einmal zeigen. Während übrigens das Einjährigenjahr von uns bezahlt werden mußte, bekamen wir jetzt als Reserveunteroffiziere eine fürstliche Löhnung. Viel Freude machten mir wieder die Ritte, zumal die Umgebung von Schweidnitz sehr schön war und es eine Erholung bedeutete, frühmorgens in das Schlesiertal hinauszureiten. Am Nachmittag war dann großer Bummel auf dem Ring, wie das in den kleinen Städten so üblich ist. Man lief auf einer Ringseite hin und her, und die Schweidnitzer Welt bewunderte sich gegenseitig. An den schönen Sommerabenden tat man ein gleiches in der sogenannten Brau-Kommune, einem großen Gartenrestaurant vor den Toren von Schweidnitz. Hier kosteten wir das große Glück aus, von den einfachen Soldaten gegrüßt zu werden. Der Aufenthalt in Schweidnitz dauerte nur ein paar Wochen. In diese Zeit fiel schon das Sturmzeichen der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajewo. Von diesem Augenblick an wußte man, daß ein Weltbrand entstehen konnte. Ich selbst habe übrigens bis zum letzten Augenblicke daran geglaubt, daß der Frieden trotz alledem erhalten bleiben würde. Es liegt im Wesen der preußischen Prägung, daß man auch in solchen Situationen bis zum letzten Augenblick so tut, als ob gar nichts vorliegt. Die Batterie wurde planmäßig nach dem Schießplatz Neuhammer verladen, mit dem ich also nach Jahresfrist Wiedersehen feiern durfte. Hier hatte sich nichts verändert, was des Berichtens wert wäre. Den Dienst kannte ich ja, und ich hatte hauptsächlich Schießlisten zu schreiben. All unser Interesse konzentrierte sich auf die tägliche Zeitungslektüre; aber die paar Exemplare, die ihren Weg nach Neuhammer fanden, waren täglich rasch ausverkauft. Radio gab es noch nicht, und so war man eigentlich in dem kleinen Nest von dem großen Weltgeschehen ziemlich ausgeschlossen. Aber man fühlte, daß die ganze Erde in fieberhafter Aufregung war und daß das Leben
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von Millionen an der Entscheidung einiger weniger hing. Wir konnten an diesen Entscheidungen in keiner Weise mitwirken; wir hatten nur unsere tägliche Pflicht zu tun. Da aber wurde plötzlich die Batterie alarmiert und im Sonderzuge nach dem Garnisonsort Schweidnitz zurückgebracht. Wenn sich das Generalkommando zu einem solchen Entschluß durchgerungen hatte, so wußte nun auch der letzte Mann in der Batterie, daß es ernst wurde und das rollende Verhängnis nicht abzuwenden war. Wir, die wir mit der Führung der Schießlisten beauftragt waren, brachen diese Tätigkeit kurz entschlossen ab und sagten, daß draußen im Feld wohl kaum noch Schießlisten geführt werden würden. Die Rückfahrt nach Schweidnitz bot nun schon ein etwas kriegsmäßiges Bild. Überall waren die Brücken von bärtigen Landsturmleuten besetzt; man lebte damals in ständiger Spionenangst, und Schlesien war nicht weit von der russischen Grenze. In Schweidnitz habe ich dann die Verkündigung der drohenden Kriegsgefahr und den Mobilmachungsbefehl erlebt. Ein Offizier ritt, begleitet von einem Trompeter, durch das Städtchen und verkündete, was geschehen war. Dadurch, daß ich nur in einer kleinen Stadt lebte, habe ich an diese oft geschilderten Tage nationaler Erhebung nicht die Erinnerung wie diejenigen, die das in der Großstadt erlebten. Für mich selbst war im Augenblick nicht klar, ob ich mit dem Regiment, bei dem ich stand, ins Feld rücken würde oder ob mein Mobilmachungsbefehl, der für das Feldartillerie-Regiment 6 in Breslau lautete, weiter Kraft behielt. Weil das auch meine Familie nicht wußte und sie in Sorge war, ob sie noch Gelegenheit haben würde, sich von mir zu verabschieden, erschienen meine Frau, meine Mutter und ich glaube auch mein Bruder Rudolf im Auto in Schweidnitz. Für meine Mutter war diese Fahrt ein sehr aufregendes Erlebnis, abgesehen von der inneren Erschütterung, die ihr der Gedanke brachte, sich sofort von einem Sohne trennen zu müssen. Sie ist in ihrem Leben nie sehr gern Auto gefahren, und 1914 war das Auto doch noch etwas Besonderes. Übrigens waren auch damals die Straßen häufig von flugs aufgerichteten Sperren unterbrochen, weil allerlei von Goldautos erzählt wurde, die angeblich versuchten, sich von Frankreich nach Rußland durchzuschlagen. Es wurde übrigens dann entschieden, daß mein Mobilmachungsbefehl in Kraft bliebe. So wurde ich wieder mit meinem Militärpaß versehen, erhielt die Qualifikation zum Vizewachtmeister und fuhr nach Breslau. Hier traf ich natürlich alles in großer Aufregung an. Da meine Mobilmachungsorder für den dritten Mobilmachungstag lautete, so hatte ich noch ein wenig Zeit, das Notwendigste in Ordnung zu bringen, zum Notar zu gehen, um meiner
Rabbiner im Gebet. Ölgemälde des Breslauer Malers Heinrich Tischler von 1914.
Kolorierte Federzeichnung des Architekten Edwin Oppler für die Neue Synagoge zu Breslau, in der Willy Cohn 1901 seine Barmizwah feierte. In der Pogromnacht von 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt und kurz danach abgerissen.
Querschnittzeichnung des Architekten Edwin Oppler durch die von ihm in den Jahren 1865-1872 erbaute N e u e Synagoge von Breslau.
In späteren Jahren zog es Willy Cohn mehr zum Gotteshaus der orthodoxen Juden, der 1827-1829 von Carl Ferdinand Langhans erbauten alten Storch-Synagoge. Auch sie wurde 1938 verwüstet, und nur ihre eingebaute Altstadtlage bewahrte sie vor einer Brandstiftung. Der baufällige Zustand dieser einzig erhaltenen Synagoge des alten Breslau ist beklagenswert. Ihre Sicherung und Wiederherstellung sollte eine gemeinsame Aufgabe für Polen und Deutsche sein.
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F r a u eine Vollmacht auszustellen, u n d w a s s o alles z u tun ist, w e n n m a n im B e g r i f f ist, eine R e i s e z u u n t e r n e h m e n , v o n der m a n i m m e r h i n nicht weiß, o b m a n z u r ü c k k o m m e n w i r d o d e r nicht.
IV. IM E R S T E N W E L T K R I E G
(1914-1918)
„Das Leben ist wie ein Ringkampf; es kommt eben darauf an, wer oben liegt. Damals lag ich oben, nun liege ich unten." In dem allgemeinen Rausch jener Tage, der ja oft genug geschildert worden ist, trat das Einzelschicksal sehr zurück. Man war froh, dabei zu sein. Viele von uns Juden beherrschte auch die Vorstellung, daß nun mit einem Schlage und für ewige Zeiten alle Judennot in Deutschland ihr Ende haben würde, zumal nachdem der Kaiser gesagt hatte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." 1 Ich möchte an dieser Stelle alle bitteren Bemerkungen unterlassen, die einem in diesem Augenblick leicht aus dieser Feder fließen könnten. Es war wirklich ein ganz großer Rausch, der uns alle gepackt hatte. D a ich aber hierzu nichts sagen könnte, was nicht schon oft gesagt worden ist, so will ich lieber das schildern, was mir die ersten Tage brachten. Es war eine gewaltige Menge von Zivilisten, die sich am dritten Mobilmachungstage in der Bürgerwerderkaserne einfanden, um den feldgrauen R o c k zu empfangen, der nun anstelle der üblichen Friedensuniform zu treten hatte. Es war selbstverständlich, daß wir Reserveunteroffiziere, die wir ja erst vor wenigen Monaten aus der Batterie ausgeschieden waren, wieder zu der Batterie kamen, zu der wir gehörten. Ich war also wenige Stunden später bereits wieder bei meiner dritten Batterie, hatte auch schon meine feldgrauen Ausrüstungsgegenstände erhalten und glaubte bestimmt, mit dieser Batterie in wenigen Tagen vor dem Feind zu stehen. D a kam der Befehl, daß die damaligen aktiven Einjährigen im Kriege etatsmäßig als Unteroffiziere zu führen wären. So waren wir Reserveunteroffiziere des vorigen Jahrganges überzählig. Wir mußten also wieder unsere Ausrüstungsgegenstände abgeben, noch einmal Zivil anziehen, auf den Einteilungsplatz gehen und uns für eine andere Formation, die das Feldartillerie-Regiment aufzustellen hatte, zur Verfügung halten. 1
1914.
Wilhelm II. in seiner Thronrede bei Eröffnung des Reichstages am 4. August
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Inzwischen war der Tag schon ziemlich fortgeschritten. Die mit jüngeren Mannschaften auszurüstenden Formationen waren bereits planmäßig aufgefüllt. Da kam der Wachtmeister Tschentscher auf mich zu und fragte mich, ob ich zu der Formation wollte, die er mit neuaufzustellen hatte, die vierte Feldhaubitzenmunitionskolonne. [...] Wenn ich jenen Vormittag des dritten Mobilmachungstages noch einmal überdenke, so scheint es mir, als ob damals ezba baschem, der Finger G'ttes, auf mich gewiesen hätte, indem der Ewige vielleicht wollte, daß ich aus diesem Kriege wiederkam. Alles schien nach einem gewissen Gesetz abgelaufen. Ich möchte hier an dieser Stelle nur einmal sagen, obwohl mir das selbstverständlich war und ist, daß ich mich einerseits niemals gedrückt habe und daß ich andrerseits als Ehemann und vielleicht auch schon als werdender Vater mich nicht freiwillig zu Dingen gemeldet habe, die besonders gefährlich waren. Aber um nicht mißverstanden zu werden, auf dem ersten Teil dieses Satzes lag der stärkere Akzent. Man soll das Schicksal nicht herausfordern, aber man muß überall da, wo man hingestellt ist, unter bedingungslosem Einsatz seiner Person seine Pflicht tun. Das war für mich Leitsatz während des ganzen Feldzuges, das war für mich aber auch Leitsatz in allen späteren Jahren, und selbst bis in die Gegenwart hinein, als viele auch aus unserem engern Kreise ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit den Standpunkt vertraten, vor allem die eigene Person zu retten. Als am 9. November 1938 die großen Verhaftungen von Juden stattfanden 2 , die dann zu den Transporten nach Buchenwald führten, wovon so viele nicht zurückgekommen sind, habe ich mich nicht versteckt, ich bin auch nicht verreist, sondern ich habe gewartet, ob ich geholt werde oder nicht. Auch damals hat mich die Hand G'ttes beschirmt, aber ich habe nicht gewollt, daß für mich unter Umständen ein anderer zu leiden hätte. Stolz bin ich darauf, daß auch meine drei großen Kinder, die heute nun schon draußen in der Welt sind, diese selbe Grundeinstellung haben, ihre Pflicht zu tun und nicht andere für sich vorzuschicken, damit diese die unangenehme Arbeit für sie machen. Ich glaube, daß es eben doch das Beste ist, vor seinem eigenen Gewissen bestehen zu können, selbst auf die Gefahr hin, es schwerer zu haben als die, die sich drücken und nur an sich denken. Ich weiß aber auch, daß es hier keine Brücke des Verständnisses gibt und daß es vielleicht am besten ist, mit den Menschen
2
Im Verlauf der sogenannten Reichskristallnacht. Die Ereignisse in Breslau
schildert Walter Tausk in seinem Breslauer Tagebuch 1 9 3 3 - 1 9 4 0 . Berlin S.180ff.
1988,
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IV. Kapitel
der andern Gesinnung nicht zu diskutieren, wenn es sich nicht überhaupt vermeiden läßt, mit ihnen zusammenzukommen. Aber nun zurück zu diesen Tagen, w o wir diese Formation gewissermaßen aus dem Nichts aufgebaut haben. Wie wundervoll damals der Mobilmachungsplan klappte, und wie alles am Schnürchen lief! Pünktlich trafen die Pferde ein. Als ich mit den Säbeln zum Schleifen fuhr, wußte der Schmied genau, um welche Zeit wir zu kommen hatten. Pünktlichst lieferte die Apotheke den vorgesehenen Medikamentenkasten und so fort. Ich half dem Wachtmeister Tschentscher so gut es ging, vor allem auch bei dem vorläufigen Aufstellen der notwendigsten Listen von Mann und Pferd. Dabei hatte ich ein unangenehmes jüdisches Erlebnis, das ich, weil es erfreulicherweise das einzige in seiner Art war, doch nicht verschweigen möchte. Als sich die Reservisten und Landwehrleute meldeten und ich half, ihre N a m e n aufzuschreiben, kam auch ein Jude, der mir, als er mich als solchen erkannt hatte, sofort erzählte, wie krank er wäre und daß er für den Feldzug nicht in Frage käme. Selbstverständlich habe ich ihm meinen Standpunkt gesagt. Was aus ihm weiter geworden ist, weiß ich nicht. Wir bekamen dann eine ganze Anzahl von Juden, Unteroffiziere und Mannschaften, die sich alle draußen sehr bewährt haben. Unser Aufenthalt in der Bürgerwerderkaserne dauerte nur wenige Tage. Vor allem kam es hier darauf an, sich aus den Mobilmachungspferden möglichst ordentliche auszusuchen. Wir waren eine berittene Truppe. Alles hing davon ab, daß die Pferde einigermaßen im Stande waren. Diese Pferde wurden vom Lande pünktlich gestellt, da ja auch jedes Pferd seinen Mobilmachungsbefehl hatte. Mit ihnen und mit dem gesamten Material zogen wir dann nach Bischofswalde hinaus, w o unser Mobilmachungsquartier war. Heute ist Bischofswalde ein bedeutender Vorort von Breslau geworden. Damals war es nur eine Villenkolonie. Auch Zimpel bestand noch nicht als Siedlung. Ein Teil unserer Leute waren in Bischofswalde untergebracht, ein Teil in einer Ziegelei in Zimpel. Ich selbst hatte Glück und bekam Quartier bei der Gutsverwaltung in Bischofswalde. Ich habe dann sogar noch vom Felde aus mit meinem Quartiergeber eine ganze Zeit lang in Briefwechsel gestanden. Jetzt begannen arbeitsreiche Tage, denn nun hieß es, aus diesen Gäulen und den Mannschaften eine einheitliche Formation zu bilden, die draußen eine Einheit darstellten. Was ließe sich davon nicht alles erzählen! Aber nur das Notwendigste sei gesagt. Auf einem Teil des ehemaligen Rennplatzes gegenüber dem Gelände der Jahrhunderthalle, das heute teilweise zum Zoologischen Garten gehört, haben wir die
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Kolonne einexerziert und die Pferde soweit gebracht, daß sie zu sechs vor den Munitionswagen gingen und ordentlich zogen. Das sagt sich so leicht, war aber in Wirklichkeit eine sehr mühsame Arbeit. Ich hatte als Zugführer zwei solcher Wagen unter mir, also zwölf Pferde, sechs Fahrer und etwa acht bis zehn Kanoniere. Ich bekam auch selbst ein eigenes Reitpferd, einen Gaul, der bisher gewöhnt war, mit H ü und Hott regiert zu werden und der sehr allmählich erst dazu gebracht werden konnte, auch auf den Druck des Schenkels zu reagieren. Aber schließlich hat man das wie so manches andere auch geschafft. An der Spitze unserer Formation stand als Oberleutnant der Landwehr der Staatsanwalt von Gellhorn aus Glatz, Rechtsritter des Johanniterordens. Auf diese Würde war er sehr stolz, und da es sich vielleicht um etwas handelt, was nicht mehr allgemein bekannt ist, so sei ein kurzes Wort darüber gestattet. Der ehemalige souveräne Johanniterorden, bis zu den Tagen Napoleons auf Malta heimisch, war nun ohne die Aufgabe, die er einst im Mittelalter gehabt hatte. Er betätigte sich durch Unterhalten von Krankenhäusern, stellte auch im Kriege Lazarettzüge und Ähnliches. Rechtsritter konnten nur Adlige werden. Sie hatten damit das Recht, auf der linken Brustseite den weißen Johanniterstern zu tragen. So zog Oberleutnant von Gellhorn schon dekoriert in den Krieg. Ich habe mit ihm, solange er unsere Truppe geführt hat, immer sehr gut gestanden, besonders da er kein Wort der französischen Sprache beherrschte, das heißt er wird schon einmal in ferner Vorzeit in der Schule etwas Französisch gelernt haben, konnte sich aber nicht verständigen. So war er zu mir immer sehr nett, denn in Frankreich war er stark auf mich angewiesen. Diese Tage in Bischofswalde waren natürlich auch ein beständiges Abschiednehmen von der engeren Familie, da man nie wissen konnte, wann der Alarmbefehl kam und jeden Augenblick das Ausrücken befohlen werden konnte. Meine Angehörigen besuchten mich häufig. Wir trafen uns dann meistens in dem benachbarten Schaffgotschgarten, einem an der Oder gelegenen Restaurant, das nur wenige Schritte von unserem Mobilmachungsquartier entfernt war. Ich habe mich selbstverständlich bemüht, wie immer die Haltung zu bewahren und die anderen aufzurichten. Besonders bei meiner Mutter war das nicht ganz einfach. Sie hat ja alles im Leben sehr schwer genommen, und außerdem wollte sich ja auch Rudolf, der Jüngste, sofort kriegsfreiwillig melden. Da auch mein Bruder Hugo bald zum Landsturm eingezogen war, so kamen von uns fünf Brüdern drei für den Felddienst in Frage. Mein Bruder Martin, der auch gedienter Feldartillerist war, setzte alles daran, an die Front zu kommen, aber die Eisenbahnen gaben grundsätzlich die höheren Beamten nicht
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frei. Er hat es immer wieder versucht, aber ohne Erfolg. Mein Bruder Franz kam aus gesundheitlichen Gründen (seine starke Kurzsichtigkeit und sein großer Körperumfang) nicht in Frage. Für mich waren diese Tage gewiß nicht leicht: der Abschied von einer jungen Frau und von dem, was man sich eben aufzubauen versucht hatte. Aber andererseits (und das Gefühl überwog selbstverständlich jedes andere) war man doch unendlich stolz, dabei sein zu dürfen. Man wäre unglücklich gewesen, wenn man hätte zuhause hinter dem Ofen sitzen müssen. Eines Tages war es also soweit, und die Truppe bekam den Abmarschbefehl. Im Schritt ging es von Bischofswalde bis zum Odertorbahnhof. Oft ist ja geschildert worden, mit welcher Begeisterung damals die Einwohner die Soldaten begleiteten. Man hatte nur Angst, daß die Pferde, die sowieso schon wenig an die Großstadt gewohnt waren, gänzlich scheu würden. Uberall zwischen den Waffenrockknöpfen hatte man Zigarren und was es sonst noch Gutes an die Soldaten zu verteilen gab. Das deutsche Volk war ja reich und wollte die, die zur Verteidigung des Landes hinausgingen, bis zum letzten Augenblicke verwöhnen. Da wir nur im Schritt vorwärts kamen, war es den Angehörigen möglich, wenn sie die Straßenbahn benutzten und auf Umwegen fuhren, immer wieder an einer anderen Stelle auf uns zu warten, um uns noch einmal zuzuwinken. Bei jedem war ja das Gefühl übermächtig, wann und ob man sich überhaupt einmal wiedersehen werde. Am Odertorbahnhof angelangt, begann nun die Arbeit des Verladens. Sorgsam mußten die Munitionswagen und die übrigen zur Ausrüstung gehörigen Fahrzeuge auf den offenen Eisenbahnwagen vernagelt werden. Die Pferde kamen in Güterwagen, immer so, daß in der Mitte des Wagens ein Gang blieb, in dem die Stallwache sich einzuquartieren hatte. Für den Rest der Mannschaften, der Unteroffiziere und Offiziere standen Personenwagen zur Verfügung. Es blieb noch Zeit, im Bahnhofsrestaurant eine letzte Mahlzeit einzunehmen. Dann ging es in die Nacht hinein. [...] Es war uns nicht bekannt, ob unsere Truppe im Westen oder im Osten eingesetzt werden sollte. Wir wären alle lieber nach dem Osten gegangen, denn wir wußten, daß die Bedrohung der Heimat durch die russische Dampfwalze eine große war. Wir dachten an das Schicksal der Angehörigen, wenn etwa der Russe ins Land käme. Als aber die erste Nacht vorbei war, wußten wir, daß es nach Westen ging. Diese Reise wird jedem, der sie mitgemacht hat, immer in Erinnerung sein. Was das für eine Verwöhnung war, die uns zuteil wurde. Nicht nur die vorgesehene Verpflegung an den dazu bestimmten Stationen klappte
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tadellos; wir wurden mit Liebesgaben geradezu überschüttet; niemanden durften wir kränken und gar etwas zurückweisen. Aber manchmal hatten wir das Gefühl, daß es nun genug sei. An jeder Station bekamen wir auch Feldpostkarten und konnten immer wieder nach Hause schreiben. So ging es tagelang durch Deutschland; die Geschwindigkeit solcher Militärtransporte ist ja eine außerordentlich geringe. In diesem gegenwärtigen Kriege, da nun das meiste sich auf der Autobahn vollzieht, bewegt sich die Truppe erheblich rascher. So kamen wir also durch ganz Deutschland. Als wir über den Rhein fuhren, brauste das alte Trutzlied von der „Wacht am Rhein" aus allen Kehlen. Wir wurden in der südlichen Rheinprovinz, unmittelbar an der Mosel ausgeladen und bezogen in Sierck Nachtquartier. Dieser Ort lag schon in Lothringen 3 . Den nächtlichen Ritt von der Eisenbahn nach Sierck werde ich nicht vergessen. Die Pferde waren durch das lange Stehen in den ungewohnten Güterwagen sehr unruhig geworden. Es war nicht einfach, mit ihnen fertig zu werden. Aber wir kamen schließlich doch gut an, und nun hieß es, Quartiere zu beschaffen. Der Bürgermeister des Ortes war sehr unfreundlich, man hatte in Lothringen wohl wenig für die Deutschen übrig. Ich mußte sehr energisch sein, um mit meinen Leuten unterzukommen. In Sierck hatte ich ein eigenartiges Erlebnis. Ich bezog als Wachthabender die Ortswache, plötzlich brachten mir meine Leute einen Soldaten mit einem großen schwarzen Bart hereingeschleppt mit der Behauptung, sie hätten ihn verhaftet, das sei bestimmt ein Spion. Die Spionenfurcht grassierte damals überall in Deutschland. Mein verehrter Lehrer, Professor Heinrich Winkler, von dem ich auf diesen Blättern öfters erzählt habe, hat auf dem Breslauer Neumarkt wegen seines schwarzen Bartes das gleiche Schicksal erlitten. Der Soldat aber, den man mir damals in Sierck auf die Wache schleppte, entpuppte sich sehr rasch als ein harmloser jüdischer Glaubensbruder, der gewiß glücklich war, daß in diesem Augenblick gerade ein Jude das Wachtkommando hatte. Ich kann mir immerhin vorstellen, welchen Schrecken er gehabt haben mag, ehe er mir vorgeführt wurde. [...] Von Sierck aus überschritten wir die luxemburgische Grenze. Das kleine Großherzogtum Luxemburg hatte natürlich keine Möglichkeit, 3
Das Urteil über die Stimmung in Sierck, dem heutigen Sierck-les-Bains, ist bemerkenswert, da der Ort noch auf Reichsgebiet lag.
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sich dem deutschen Einmarsch zu widersetzen. Es wich der Gewalt. Damit fuhr es besser als Belgien. Die Schäden, die der deutsche Durchmarsch durch Luxemburg verursachte, sind sehr bald wieder geheilt worden. Ich habe auf diesem Marsche durch Luxemburg angefangen, mein Kriegstagebuch zu führen, das ich schon während der Eisenbahnfahrt begonnen hatte. Dieses Kriegstagebuch, das bisher die Zeiten überdauert hat, ist vielleicht neben diesen Erinnerungen das unmittelbarere Dokument dieser Zeit, die man damals die große nannte, und von der wir heute wissen, daß seitdem die Welt nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. [...] Was das Tagebuch anbelangt, so mußte man damit rechnen, daß es bei einer eventuellen Gefangennahme dem Gegner in die Hand fallen könnte. Deswegen bemühte man sich, es mit aller Vorsicht zu verfassen. Es wurde übrigens später überhaupt verboten, Tagebücher zu führen. Es ist dies vielleicht die einzige militärische Vorschrift, die ich bewußt übertreten habe. Ich konnte das Bedürfnis, das, was ich erlebte, schriftlich niederzulegen, nicht überwinden. Ich habe diese Tagebücher immer nach Hause geschickt, wo sie auch gut angekommen sind. Nach dem Kriege habe ich sie mit der Schreibmaschine abschreiben lassen. Diese Erinnerungen würden unförmig anschwellen, wenn ich die ganzen vier Jahre des Feldzuges noch einmal darstellte. Das möchte ich darum nicht tun, und es würde vielleicht auch den Anschein erwecken, als ob ich diese meine Teilnahme am Kriege übermäßig wertete. So will ich versuchen, aus der „Fülle der Gesichte" auszuwählen 4 und einzelnes hervorzuheben, von dem ich glaube, daß es seine Bedeutung hat. Bis zur Marneschlacht Anfang September 1914 war der Krieg ein Bewegungskrieg. Für uns, die wir mit unseren Munitionswagen nicht die Aufgabe hatten, vorneweg zu reiten, waren diese Marschtage, solange sie durch Luxemburg gingen, ganz angenehm. Biwakleben, Ubernachten in Zelten, das war etwas Neues, und wenn man so will, auch etwas Romantisches. Jenes kleine Büchlein von Rainer Maria Rilke, „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" 5 , schwebte uns, die wir zu den Gebildeten gehörten, ein wenig vor. In meinem Gepäck befand sich aber auch ein kleines hebräisches Gebetbuch, in das mir mein Schwiegervater eine Widmung geschrieben hatte. Warum ich das erwähne? Mit dem doppelten Erbteil des Jüdischen und des Deutschen zogen wir hinaus. In der Stadt Luxemburg traf ich einen 4
Anspielung auf Goethes Faust, erster Teil, Vers 520. Das Prosagedicht Rilkes von 1899 „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" spielt in der Zeit des Türkenkrieges von 1664. 5
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jüdischen Marketender, irgendwo auf dem Marsche haben wir Juden unserer Truppe die sogenannten hohen Feiertage im Gedenken an die Heimat begangen. Das Angesicht des Krieges, wie er wirklich war, begegnete uns zum ersten Mal auf dem Schlachtfelde von Tintigny. Das war die erste große Schlacht, an der das schlesische Armeekorps teilnahm und bei der wir unsere Munition auf dem Schlachtfelde abzugeben hatten. Zum ersten Male erblickten wir den Sensenmann aus der Nähe. Immer, wenn ich einen toten Kameraden sah, verstärkte sich in mir das Gefühl, daß die leibliche Hülle nicht das Wesentliche an uns ist und daß das nicht alles sein kann, was von uns übrig bleibt. Schwer blieb es, sich vorzustellen, daß für diese jungen Menschen nun das Leben so plötzlich abgeschnitten war. Aber die Zeit ließ uns nicht viel Muße zum Nachdenken, und das war vielleicht gut so. Heute noch, seitdem schon fast dreiundzwanzig Jahre ins Land gegangen sind, steigt, wenn ich an diese Dinge denke, noch immer jener furchtbare Geruch auf, der über dem Schlachtfelde liegt. Es liegt in dem Wesen jeder Kriegsberichterstattung, daß sie das alles nicht schreibt, und wenn man glaubt, daß der Krieg immer wieder der furchtbare Gefährte der Menschheit sein wird, dann kann man verstehen, wie man gegen Bücher wie zum Beispiel das Buch von Remarque „Im Westen nichts Neues" 6 Front macht, weil gerade diese Bücher den Krieg auch in den Kleinheiten so schildern, wie er eben gewesen ist. Ich sehe vor meinem geistigen Auge eine Kirche irgendwo in Frankreich, die voll war von verwundeten Franzosen, die dort auf Stroh untergebracht waren. Ich habe in den Ärzten und Krankenschwestern grundsätzlich immer Menschen gesehen, die mit einem besonderen Heroismus erfüllt waren. Was herrschte da nicht auch für ein Brodem, und wie wenig kann man einem Unglücklichen helfen, der mit einem Bauchschuß darniederliegt und dem sogar jedes Trinken verboten ist. Und immer wieder hat man sich gefragt, wenn man diese Bilder sah, warum die Menschheit sich soviel Leid antun muß. Glücklicherweise aber war ich noch jung genug, um mit solchen Eindrücken verhältnismäßig rasch fertig zu werden. Ich hatte wohl ein empfindendes Herz, leider wohl ein zu weiches Herz, aber das Leben war glücklicherweise stärker, und der Tag stellte seine Anforderungen.
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E. M. Remarque: Im Westen nichts Neues. Berlin 1929.
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Als der Übergang über die Maas erzwungen war, da glaubten wir, daß es nur verhältnismäßig kurze Zeit dauern würde, bis wir nach Paris kämen. [...] Ein Erlebnis besonderer Art war der Ritt durch den Argonnerwald, vorbei an Varennes, wo einstmals Ludwig X V I . auf seiner Flucht von dem Postmeister erkannt worden war 7 und nach Paris zurückgeschickt wurde, um unter der Guillotine zu sterben. Denn wenn ich auch Soldat war, so begleitete mich doch auf meiner ganzen Kriegsfahrt mein geschichtliches Interesse. Und wie war dieses Frankreich voll von geschichtlichen Erinnerungen, ein Land alter Kultur! Wenn ich auch darüber selten mit jemandem sprechen konnte, so war ich doch froh, auch dieses Erlebnis mit ausschöpfen zu dürfen. Wie es später auch literarisch seinen Niederschlag fand, davon wird noch zu erzählen sein. Anfang September ritten wir durch den Argonnerwald. Noch ahnte niemand, daß später einmal dieser Argonnerwald Schauplatz der furchtbarsten Stellungskämpfe werden und zu den blutgetränktesten Stellen des Westens gehören würde. Als wir dort vorbeizogen, dröhnte der Donner von Verdun herüber, das bekanntlich während des Weltkrieges niemals erobert worden ist. In der Mitte des Argonnerwaldes lag ein kleiner Platz, der den Namen Four-le-Paris führte. Dort bestürmten mich die Kameraden mit Fragen, ob wir nun bald in Paris wären. Während des ganzen Vormarsches bin ich meistens neben dem Kommandanten geritten und habe ihm vom Sattel aus französischen Unterricht gegeben. Außerdem war er auch schlecht imstande, die Generalstabskarten zu lesen, denn wir waren ja oft gezwungen, selbständig zu marschieren und den Weg zu erkunden, was nicht immer ganz einfach war, da die Franzosen alle Wegweiser entfernt hatten. Schlimmer als der Marsch durch Frankreich war der durch Belgien mit seinen Franctireurs-Unruhen und mit seinen brennenden Dörfern gewesen. Manchmal bekam man auch sehr unangenehme Aufträge, unangenehm, nicht weil sie gefährlich waren, sondern weil sie gegen das eigene Gefühl gingen. Ein solches Erlebnis will ich für alle schildern. Der zweite Offizier bei der Truppe war ein Leutnant Lange. Abends, wenn es zum Lagern kam, dann hieß es: „Unteroffizier Cohn, reiten Sie noch einmal ins Dorf zurück, nehmen Sie zwei Mann mit und besorgen Sie Wein, aber nicht so schlechten wie gestern." Nicht nur, daß man an sich froh war, wenn man durch ein solches Dorf hindurch war, denn es war kein ganz angenehmes Gefühl, hoch auf dem Pferde sitzend, Ziel für Dach- oder
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A m 22. Juni 1791.
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Kellerschützen zu sein, bedeutete ein solcher Auftrag doch, daß man mit vorgehaltenem Revolver einen Eingeborenen herausholte und ihm den Wein abnahm. Deswegen vor allem waren mir solche Aufträge gräßlich und widersprachen meinem Rechtsgefühl. Wie oft habe ich zum Beispiel Eier, die die Leute oft weinend herausgaben, heimlich aus meiner Tasche bezahlt, ohne daß das die Offiziere wußten. Vielleicht, daß wir Juden durch das Schicksal, das wir auf diesem Erdenwege erfahren haben, uns leichter in die Seele der Menschen hineindenken können, denen es schlecht geht, und daß wir selten den Mut zur Brutalität haben. Der Vormarsch sollte rascher ein Ende haben, als wir glaubten. [...] Wir waren ja gewöhnt, eine ganze Anzahl Kilometer täglich hinter uns zu bringen. Mit einem Schlage war das vorbei. Der Vormarsch stockte und der Gefechtslärm kam immer von derselben Stelle. [...] Aber als wir nun plötzlich die Verwundeten auf unsere Munitionswagen aufgepackt bekamen, diese Munitionswagen, die völlig ungefedert waren und auf denen zu fahren für einen Verwundeten eine furchtbare Qual sein mußte, so wußten wir, daß es nicht vorwärts ging, sondern zurück. Es wurde uns gesagt, daß eine Umgruppierung vorgenommen wurde. Die militärische Sprache ist ja reich, wenn es sich darum handelt, einen einfachen Sachverhalt zu verschleiern und ihn anders darzustellen. Ich weiß nicht, ob meine Verwundeten damals lebendig angekommen sind, ich habe sie irgendwo hinten in einem Lazarett abgegeben. In Ste. Menehould, das wir zweimal durchkreuzten, einmal auf dem Hinweg und einmal auf dem Rückweg, blieb ein ganzes Lazarett zurück, das auch dann in Gefangenschaft kam. Auf einem dieser Nachtmärsche verlor ich eins meiner Pferde. Es blieb nichts anderes übrig, als mein Reitpferd einzuspannen und mich selbst auf die Protze zu setzen. Damit war ich ziemlich bewegungsunfähig und konnte mich nicht mehr darum kümmern, wohin die Fahrt ging. Ich erinnere mich, daß ich damals in dieser Nacht auch mit meinen beiden Munitionswagen von der Truppe abkam und auf eigene Faust meinen Weg suchen mußte. Wir haben aber schließlich den Anschluß an die Truppe gefunden. Nichts ist deprimierender als ein solcher Rückzug, bei dem man schon teilweise das Gefühl hatte, daß er mehr als ein einfacher Rückzug war. Wie oft habe ich später im Unterricht diese Marne-Schlacht darzustellen gehabt, über die meines Erachtens auch heute noch nicht das letzte Wort gesagt ist. Der Soldat hat nicht Zeit, lange nachzudenken, denn immer wieder treten ja neue Aufgaben an ihn heran. Nachdem wir unsere Truppe wieder gesammelt hatten, ging es jetzt in die Gegend von Reims. Der Stellungskrieg begann, und wir fühlten, daß keine Rede davon sein konnte, daß wir Weihnachten wieder zu Haus wären. So hatte man uns
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das nämlich anfänglich gesagt. Man hatte übrigens vorsichtigerweise nicht hinzugefügt, welches Weihnachten das sein würde. Schließlich sind es vier Weihnachtsfeste geworden, die die deutschen Soldaten in Frankreich verlebten. Oft habe ich auf den Munitionsfahrten die Kathedrale von Reims gesehen. Aber bis Reims sind wir nicht gekommen. Es war auf dem Vormarsch vorübergehend in der Hand deutscher Truppen. Wenn man auf der gewaltigen Straße ritt, die schon aus der Römerzeit vorhanden war (sie führt von Rethel aus westlich), dann erblickte man die Kathedrale, etwa von der Mitte des Weges, tief unten liegend. So richteten wir uns nun in diesen Dörfern und Städtchen in der Champagne ein. La Champagne pouilleuse (die Läuse-Champagne), wie sie der Volksmund dort nannte. Das Leben kam nun in ein gleichmäßigeres Tempo. Der Dienst bestand in dem Vorschaffen von Munition in die Feuerstellungen. Gelegentlich auch wurden wir zu Schanzarbeiten eingesetzt. Allmählich mußte sich die Truppe eingraben, da sich der Krieg nun anschickte, ganz anders zu verlaufen, als man das gedacht hatte. Diese ersten Feuerstände im Stellungskrieg waren noch sehr behelfsmäßig. Ausdrücke wie „Bunker" und ähnliche gab es noch nicht. Im Winter 1914/15 mußte auf beiden Seiten sehr mit Munition gespart werden, und doch hat noch mancher auch in diesem Winter sein Leben lassen müssen, auch wenn wir ganz von der Winterschlacht in der Champagne absehen, die nicht in unserem Abschnitt lag. Im Leben des Alltags kamen wir nunmehr mit der Bevölkerung in Berührung. Die reichen Leute waren natürlich ausgekratzt, wie ja immer die Armen das Schicksal in seiner ganzen Schwere zu tragen haben. Auch waren die geblieben, die an ihrer Scholle hingen und die das Schicksal ihres Dorfes als ihr Schicksal empfanden. Unsere Soldaten waren von einer außerordentlichen Findigkeit, wenn es sich darum handelte, vergrabene Weinvorräte ausfindig zu machen. In der Regel gingen sie folgendermaßen vor, da man wußte, daß die Franzosen ihren Wein vor der Flucht in der Regel in Gärten vergraben hatten. Sie nahmen eine lange Stange, befestigten auf dieser eine eiserne Spitze, und dann stießen sie in die weiche Gartenerde, und wo es einen klirrenden Ton gab, wußte man, daß Wein zu finden war. So haben wir manchen Tropfen hinter die Binde gegossen. Durch meine französischen Sprachkenntnisse habe ich es in diesen Quartieren immer sehr gut gehabt. Die Leute waren glücklich, wenn sie jemanden ins Quartier bekamen, mit dem sie sich verständigen konnten.
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Die Lage der französischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten war ja gewiß keine einfache. Im Stellungskrieg kam man ihnen nun erheblich näher. Es machte mir oft Freude, den Menschen ein paar tröstliche Worte zu sagen, wofür sie sehr dankbar waren. Wo sie konnten, zeigten sie sich auch dafür erkenntlich. In Seiles, in der Nähe von Pontfaverger in der Champagne, sagte mir die Frau, bei der ich im Quartier lag, sie würde mir das Essen kochen. Ich habe während des ganzen Feldzuges selten so gut gegessen wie bei dieser Frau, die das mit unendlicher Liebe und französischer Kochkunst zubereitete. Wenn ich von den nächtlichen Munitionsfahrten an die Front durchfroren zurückkam, dann hatte sie mir immer mein Bett mit Ziegelsteinen ausgewärmt. Ich fand das sehr rührend, denn konnte diese Frau wissen, ob die Munition, die ich nach vorn geschafft hatte, nicht dazu diente, ihre eigenen Söhne oder Enkelsöhne zu töten? Durch meine Sprachkenntnisse aber wurden mir auch manchmal sehr unangenehme Aufträge zuteil. Einen von ihnen will ich schildern. Wir lagen in Neuflize, ebenfalls unweit von Pontfaverger 8 . Da kam der Befehl, daß ein großer Teil der Zivilbevölkerung abtransportiert werden sollte. Ich wurde zum Transportführer ernannt und hatte die Aufgabe, die Verladung in die Eisenbahn zu überwachen, ein Stück in die Etappe mitzufahren und den Transport dann dem Etappenkommando zu übergeben. Ich werde niemals die herzzerreißenden Szenen vergessen, die sich dabei abspielten. Ich mußte in unserem Dorfe allen Betroffenen klarmachen, daß es keinen Zweck hatte, sich diesem Befehl, von dem wir nicht wußten, warum er erlassen wurde, zu widersetzen. Alte Frauen baten mich flehentlich, ich möchte sie in ihrem Dorfe sterben lassen, sie würden uns nichts wegessen. Sie nahmen wohl an, daß der Abtransport befohlen war, damit die deutsche Heeresverwaltung Lebensmittel sparte. Damals habe ich meine Sprachkenntnisse verflucht. Die anderen hatten bei diesem Transport nur körperliche Arbeit zu leisten, ich aber mußte dieses Leid anhören und konnte es nicht ändern. In meinen Augen waren diese Menschen ja alle schuldlos. Was konnten sie für Clémenceau oder für Poincaré? Es war nicht viel, was ich zur Milderung ihres Leides tun konnte. Auch die mir unterstellten Soldaten gaben sich alle Mühe, wie ja überhaupt der Deutsche, soweit ich das während des Weltkrieges beobachten konnte, im einzelnen immer gut ist und Grausamkeiten nicht macht. Wir hoben die alten Leute, die sich teilweise nicht mehr selbst fortbewegen konnten, in die Abteile des Zuges und sahen zu, daß sie 8
Zwischen beiden Orten liegt Le Mesnil-Lépinois. Vgl. SV Nr. 62.
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sich einigermaßen einrichteten. [...] Diesen Transport werde ich nicht vergessen. Damals gehörte ich zu jenen, die die traurigen Anordnungen durchzuführen hatten. Heute fühlt man mit denen unserer Juden, die nun selbst in die gleiche Lage kommen, abtransportiert zu werden, und weiß nicht, ob das Schicksal für uns etwas Ahnliches in Bereitschaft hat wie damals für die unglücklichen Einwohner von Neuflize. Durch meine Sprachkenntnisse wurde ich auch häufig im Dienste der jeweiligen Ortskommandanturen verwandt. Ich hatte dann Ansprachen an die Bevölkerung zu halten, Passierscheine auszustellen, vor allem auch darauf zu achten, daß keine Spionage geübt wurde. Manchmal ergab sich daraus eine Zusammenarbeit mit der Geheimen Feldpolizei, bei der ich eben durch diese Sprachkenntnisse angesehen war. Aber auch da war es menschlich manchmal schrecklich, wenn die Menschen aus ihrem Hause vertrieben werden mußten, weil man das Gefühl hatte, sie spionierten. Mitunter gab es auch scherzhaftere Erlebnisse. Da hatte ich zum Beispiel einen sehr cholerischen Hauptmann als Ortskommandanten. Er hatte sich über irgend etwas bei den Franzosen geärgert und befahl, sofort eine Versammlung sämtlicher Einwohner auf dem Dorfplatz anzuberaumen. Er würde eine Rede halten, und ich solle sie übersetzen. N u n wußte ich, daß der Mann kein Wort Französisch verstand. Er war wie viele Reserve- und Landwehroffiziere des Feldartillerie-Regiments 6 in Zivil Rittergutsbesitzer und bebaute in Schlesien ein Gut oder, wie man hier zu sagen pflegte, eine Klitsche 9 . Aus meinem Umgang mit den Franzosen wußte ich, daß man viel mehr erreicht, wenn man ein wenig nett zu ihnen ist, als wenn man furchtbar lospulvert. Ich ließ also den guten Hauptmann ruhig in deutscher Sprache nach Herzenslust toben. Als ich die Ansprache dann ins Französische übersetzte, kam etwas ganz anderes heraus. Ich sagte den Leuten, daß nun einmal Krieg wäre und daß es besser für sie wäre, dem Hauptmann keine Schwierigkeiten zu machen, er meine es auch gar nicht so schlimm. Man konnte sich übrigens auf die Franzosen verlassen; sie hätten sich niemals nur durch das Zucken eines Gesichtsmuskels verraten, daß sie merkten, daß aus meinem Munde doch etwas anderes herauskam. Ich konnte immer wieder bei ihnen eine über den Durchschnitt hinausgehende Intelligenz feststellen, wobei doch aber zu betonen ist, daß der gehobenere Teil der Bevölkerung sich nicht in den besetzten Gebieten befand. 9
Klitsche, schlesisch: „kleines ärmliches L a n d g u t " . W . Mitzka: Schlesisches W ö r t e r b u c h . Bd. 2. Berlin 1965, S. 675.
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Wenn ich so eine wütende Rede etwas abmilderte, so diente ich übrigens dabei auch durchaus der Sache; denn nichts ist unangenehmer, als gegen Zivilbevölkerung mit Zwangsmaßnahmen vorgehen zu müssen. In einem Punkt war ich vielleicht nicht immer gerecht. Wenn ein hübsches Mädchen kam, um einen Passierschein in den nächsten O r t zu ihrer sterbenden Großmutter zu erbitten, dann ließ ich mich schnell breitschlagen, obwohl man allmählich das Gefühl bekam, daß so viele Großmütter niemals gelebt haben und deswegen auch nicht sterben konnten. Später sind übrigens diese Passierscheine für die Bevölkerung nur noch in sehr geringem Umfange ausgestellt worden. Die Einwohner durften dann ihren O r t nicht mehr verlassen. Damals hätte ich mir gewiß nicht träumen lassen, daß mir altem Frontsoldaten später einmal das gleiche Schicksal zuteil werden würde, nämlich meinen Heimatort Breslau nicht ohne Genehmigung zu verlassen. Das Leben ist wie ein Ringkampf; es kommt eben darauf an, wer oben liegt. Damals lag ich oben, nun liege ich unten, also ist für einen gerechten Ausgleich gesorgt. Als der Frühling 1915 ins Land zog, lernten wir die Champagne auch von einer angenehmeren Seite kennen. Wie schön waren dann häufig die Ritte durch die weiten Wälder. Ich hatte den Winter auch dazu benutzt, um meine geistige Tätigkeit wieder aufzunehmen und hatte, soweit es der Dienst zuließ, sehr viel schriftstellerisch gearbeitet. Ich schrieb nicht nur weiter für die Blätter, deren Mitarbeiter ich schon vor dem Kriege gewesen war, sondern vor allem auch für die Feldzeitungen, die damals entstanden. Besonders nahe Beziehungen unterhielt ich zu der Champagne-Kriegszeitung, für die ich sehr viel geschrieben habe. Das Blatt war künstlerisch gut ausgestattet. Ich freue mich, daß ich es heute noch gebunden besitze. Es kam fast keine N u m m e r heraus, ohne daß sie einen Beitrag von mir brachte 10 . Grundsätzlich war diese Mitarbeit ohne Honorar, aber ab und zu gab es Preisausschreiben, die ich auch meistens gewonnen habe. Natürlich freute ich mich mehr über die Anerkennung als über das Geld. Ich hatte immer gehofft, daß diese Feuilletons (meist waren es Stimmungsskizzen) einmal in einem Bande hätten gesammelt werden können. Viele von diesen Arbeiten sind mehrfach nachgedruckt worden, sei es in anderen Feldzeitungen, sei es in heimischen Blättern. Ich hörte häufig auch aus dem Kameradenkreise, daß meine Skizzen gut gefallen haben.
10
Vgl. SV Nr. 38-66.
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IV. Kapitel
Mit dieser Journalistik hat es eine ähnliche Bewandtnis wie mit der gegenwärtigen Mitarbeit an jüdischen Blättern. Man mußte sehr auf die Zensur Rücksicht nehmen, denn es durfte selbstverständlich in keinem Artikel etwas angedeutet werden, was dem Feinde einen Hinweis auf die Verteilung der Truppen, die Stellungen oder ähnliches gegeben hätte. Da ich meine wissenschaftliche Arbeit draußen nicht fortsetzen konnte, suchte ich mir andere geistige Beschäftigung. Sehr häufig fand ich in französischen Schulgebäuden, die von unseren Truppen belegt waren, alte französische Schulbücher, die die Soldaten im Winter, wenn kein anderes Papier zur Stelle war, gern zum Feuermachen verwandten. Soweit tunlich, rettete ich solche Bücher und las in ihnen. Am meisten interessierte mich, wie die Franzosen Geschichte unterrichteten. Dabei fiel mir auf, wie einseitig sie besonders den deutschen Soldaten ansahen und wie alle ihre Bücher von dem Geist der Revanche erfüllt waren. Ich schrieb über dieses Material mehrere Arbeiten für die „Blätter für höheres Schulwesen" 11 . Es kam dabei auch zu einer Korrespondenz mit Professor Rühlmann, der später ein Buch „Die französische Schule und der Weltkrieg" 12 herausbrachte, in dem er meine Forschungen erwähnte. Ich habe auch nach dem Kriege mit Rühlmann bis zu seinem Tode in Beziehungen gestanden. Als dann die militärische Lage die regelmäßige Feldpostverbindung zuließ, bekam ich von den „Mitteilungen aus der historischen Literatur" weiter wissenschaftliche Rezensionsexemplare zugeschickt 13 , ebenfalls von der „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums", die damals Professor Marcus Brann leitete 14 . In meinem Leben habe ich immer sehr viel und gern geschrieben, so pflegte ich auch im Felde eine rege Korrespondenz. Sehr viel dachte ich über jüdische Probleme nach. Der Rausch der Begeisterung und der Konfessionen, oder wie man heute sagen würde, der „Rassen", war rasch verflogen. Dieser Rausch hat den Stellungskrieg nicht überdauert. Allmählich merkte man, daß wieder ein Unterschied gemacht wurde. Zwar betraf mich das nicht so sehr persönlich, weil man mich eben sehr brauchte, aber man merkte das auch so. Einmal gab es mit der Beförderung Schwierigkeiten, und dann kam auch jene demütigende Zählung der jüdischen Frontkämpfer, die 11 12 13 14
Vgl. SV N r . 19-21. P. Rühlmann: Die französische Schule und der Weltkrieg. Leipzig 1918. Vgl. SV N r . 35ff. Vgl. SV N r . 28.
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das Kriegsministerium angeordnet hatte. So merkte man allmählich, daß uns das alte Judenschicksal wieder packte, daß letzten Endes alle die Opfer, die unsere Gemeinschaft brachte, umsonst sein sollten. Unter diesem Eindruck vollzog sich in meiner jüdischen Entwicklung eine grundsätzliche Änderung. Ich war in den Krieg gezogen, zwar gewiß schon als bewußter Jude, aber doch als Vertreter der Assimilation, nämlich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Unter dem Eindruck dessen, was man draußen erfuhr, wurde ich im Laufe der Kriegsjahre, nicht von heute auf morgen, nach sehr langem und ernstem inneren Kampfe Zionist. Es würde zu weit führen, wenn ich jede Stufe dieser Entwicklung schildern möchte. Ich habe damals sehr schwer mit mir gerungen. Im ersten Kriegsjahre habe ich noch so manchen Aufsatz, besonders für die Zeitung „Liberales Judentum", die der Frankfurter Rabbiner Cäsar Seligmann herausgab, geschrieben 1 5 , der eine weitgehende Assimilation empfahl 1 6 . Dann aber wurde es anders. Meine Aufsätze aus den späteren Kriegsjahren sagten das Gegenteil. Vielleicht wird jetzt mancher sagen: Welche Inkonsequenz. Dazu aber ist zu bemerken, daß nur die stumpfsinnigen Menschen sich zu Beginn ihres Lebens eine fix und fertige Weltanschauung zulegen, so wie einen Konfektionsanzug von der Stange. D e r ringende Mensch aber hält es lieber mit den Maßanzügen, die sich der veränderten Gestalt anpassen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch der jüdischen Seelsorge im Felde gedenken. Jede Armee hatte ihren Feldrabbiner. D e r Feldrabbiner unserer Armee war Reinhold Lewin, der etwa so alt war wie ich selbst und den ich von seinem Studium in Breslau her sehr gut kannte. Soweit es irgend möglich war, fanden jüdische G'ttesdienste statt, im ersten Teil des Krieges in Ermangelung anderer Räume häufig in Kirchen. Überhaupt haben sich damals in der Zeit der gegenseitigen Hilfe und Duldung die Feldgeistlichen der verschiedenen Konfessionen gegenseitig sehr unterstützt. Nicht immer war es möglich, zu der Beerdigung eines Soldaten den entsprechenden Geistlichen zu holen. Wohl niemals ist, wenn ein Geistlicher eines anderen Glaubens sprach, 15
Vgl. SV N r . 25ff.
16
Rabbiner
Cäsar Seligmann ( 1 8 6 0 - 1 9 5 0 )
von der F r a n k f u r t e r
Westend-
Synagoge stand zu seiner Zeit an der Spitze des religiös-jüdischen Liberalismus in Deutschland. Seine „ E r i n n e r u n g e n " , herausgegeben v o n seinem Sohn E r w i n Seligmann, erschienen 1975 in Frankfurt im D r u c k .
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IV. Kapitel
ein Taktfehler begangen worden. Die Feldgeistlichen hatten sämtlich die gleiche Uniform, nur daß die christlichen Geistlichen ein Kreuz um den Hals trugen. Rabbiner Lewin gab sich auch große Mühe, die verstreut liegenden jüdischen Soldaten aufzusuchen. Er hatte ein kleines Wägelchen und natürlich einen Burschen. Nie werde ich vergessen, welche Freude es für mich bedeutete, als er am ersten Chanukkafest, das wir in Frankreich begingen, in dem Dorfe, in dem wir lagen, vorfuhr und in meinem Quartier die Menorah anzündete 17 . Er brachte dazu einen kleinen Holzleuchter mit, den er mir auch daließ, damit ich an den anderen Tagen selbst die Lichte zünden konnte. Oft habe ich später mit Lewin über meine Seelenkämpfe gesprochen, und er hat mich sehr in meiner zionistischen Wandlung bestärkt. Nach dem Kriege ist Lewin, als er erster Rabbiner in Königsberg wurde, wieder vom Zionismus abgerückt. Gegenwärtig steht er dem Zionismus näher und betont das immer in seinen Predigten. Damals in der Champagne hätte ich auch nicht geglaubt, daß ich einmal den Sohn von Lewin in einem Hachscharah18 Kibbuz (es war in Schniebinchen ) unterrichten würde. Als der Frühling 1915 ins Land kam, bekam ich die sehnlichst erwartete Nachricht, daß mir mein erster Junge geboren war. Die ganze Truppe hatte das mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Mit der Rauheit, die dem Soldaten eigen ist, rechneten die Kameraden genau nach, wie lange wir von Breslau fort waren, und sie waren beruhigt, als der Sohn in der vorschriftsmäßigen Zeit eintraf. Wir lagen damals in Warmeriville, einem Orte, nicht sehr weit weg von den anderen schon genannten. Da kam einer meiner Kameraden, der Unteroffizier Sternberg, in Zivil Rechtsanwalt, und brachte mir das Telegramm. Ich war unendlich glücklich, wenn es auch ein gewisses wehmütiges Gefühl war, bei der Geburt des ersten Sohnes nicht anwesend zu sein. Aber das war damals auch ein allgemeines Schicksal, das Millionen trugen. Es war g'ttlob zu Haus alles sehr gut gegangen. Uber den Namen korrespondierten wir eine ganze Zeit. Zuerst hatte ich den Wunsch, daß er meinen eigenen Namen führen sollte, weil ich glaubte, aus dem Feldzug nicht wiederzukommen; aber letzten Endes war das unjüdisch, ein Kind nach einem Lebenden zu nennen. So gaben wir dem Jungen den Namen Wolfgang und als zusätzliche Namen, in Erinnerung an zwei seiner Großväter, die Namen Robert und Louis. Bei der Brith Milab, der Beschneidung, bekam er den jüdischen Namen Reuben. Nun gab es in den Feldpostbriefen ein 17 18
Vgl. SV Nr. 26. Schniebinchen: Dorf im Kreis Sorau/Niederlausitz.
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neues Thema. Man verfolgte wenigstens brieflich mit größter Spannung die Entwicklung des kleinen Menschleins. Für die Entbehrungen beim ersten Kind bin ich wenigstens dadurch entschädigt worden, daß ich bei allen vier späteren Kindern jede Phase ihres Werdens verfolgen konnte. Es gibt nichts Schöneres, als wenn so ein kleines Menschlein von Tag zu Tag Fortschritte macht. Wie herrlich ist es, wenn das Kind das erste Mal die Eltern erkennt. Da ich erst sehr spät und sehr selten überhaupt auf Urlaub kam, mußte ich mir die Liebe meines Sohnes Wolfgang ganz allmählich erringen. 1918, als er etwas über drei Jahre war, sagte er zu mir kurz und eindeutig: „Vati, geh wieder in Krieg und laß Dich totschießen." Aber gerade dieser Sohn hat mir seine große Liebe in späteren Jahren immer bewiesen. Damals, als ich in Warmeriville war, habe ich mir gewiß nicht träumen lassen, daß die Dinge nach Jahrzehnten geradezu umgekehrt liegen würden; nämlich daß ich in Deutschland, mein Sohn aber in Frankreich sein würde. Damals schrieb ich aus Frankreich an ihn und seine Mutter, und nun gehen die Briefe in umgekehrter Richtung. Niemand weiß, ob es uns noch einmal vergönnt sein wird, am gleichen Orte zu leben. Im Jahre 1915, nicht allzulange nach seiner Geburt, schickte mich unser Kommandeur von Gellhorn für ein paar Tage nach Trier, w o ich einiges einkaufen sollte. Da ich mit ihm sehr gut stand, teilte er mir diese seine Absicht rechtzeitig mit, so daß ich die Möglichkeit hatte, meine Angehörigen zu benachrichtigen. Meine Frau, die den Jungen nährte, konnte nicht kommen, aber meine Mutter kam und natürlich auch mein Bruder Martin, der immer zur Stelle war, mochte die Reise auch noch so weit sein. Wir wohnten damals in dem besten Hotel in Trier, in dem Hotel „Porta Nigra". Das kam mir reichlich komisch vor. Ich fand mich in dieser Umgebung zunächst überhaupt nicht zurecht. Aber der Mensch gewöhnt sich schließlich an alles, der Feldsoldat sogar an ein gutes Quartier. Meine gute und so vornehme Mutter war zunächst über meinen äußeren Menschen außerordentlich entsetzt. Ich glaube, ich bin damals ohne Nachthemd angekommen, und sie mußte mir erst alles besorgen. Vom Kriege hatte sie doch nicht die richtige Vorstellung. Und es hat damals trotz aller Freude des Wiedersehens auch manchen kleinen Zusammenstoß gegeben, denn Mutter war immer gewöhnt, Belehrungen zu geben, wie: „Zieh Dich nur warm an" oder „Erkälte Dich nuc nicht", und sie konnte sich nicht vorstellen, daß bei einem alten Feldsoldaten das durchaus nicht mehr am Platze war. Einmal haben wir auch in diesen wenigen Tagen eine schöne Droschkenfahrt an das andere Ufer
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IV. Kapitel
gemacht. Mein Bruder Martin hatte mich auch unter der Porta Nigra fotografiert. Mein Leibesumfang war erheblich zurückgegangen. In den ersten Monaten des Feldzuges hatte man immer genug damit zu tun, sich neue Löcher in das Koppel machen zu lassen, weil man sonst den Leibriemen nicht eng genug stellen konnte. Aber im Grunde fühlte man sich mit jedem Pfunde, das dahinschwand, wohler. Für den Reiter bedeutete das auch, leichter in den Sattel zu kommen und beweglicher zu sein. Diese Tage in Trier waren eine schöne Unterbrechung des Feldlebens und hatten mir wieder eine Verbindung mit der Heimat gebracht, ich konnte auch meine Frau wenigstens telefonisch sprechen. Aber nun möchte ich in etwas rascherem Tempo erzählen. Im Sommer 1916 kamen wir aus der Champagne nach der Somme. In dieser furchtbaren Materialschlacht des Weltkriegs habe ich mir durch Munitionsfahren an die Front das Eiserne Kreuz verdient. Damals stand an der Spitze unserer Truppe nicht mehr der Hauptmann von Gellhorn, sondern der Leutnant Beyerhaus, in Zivil Königlicher Domänenpächter in Oberschlesien. Er war ein tadelloser Mann, und wir waren sehr befreundet. Ich aß damals auch an seinem Tische mit. Zu jener Zeit gehörte zu unserer Truppe der Feldwebelleutnant Gerstel, in Zivil Mitinhaber der sehr angesehenen Modefirma dieses Namens in Breslau. Er war auch Jude und führte den scherzhaften Beinamen „Fürst von Liebenstein". Damit hatte es folgende Bewandtnis. Die Firma Gerstel war Herzoglich Meiningischer Hoflieferant. Der Herzog von Meiningen, der mit der Schwester Wilhelms II. verheiratet war, war lange Kommandierender General in Breslau gewesen. Gerstel bekam die meiningische Kriegsauszeichnung. Für ordenssüchtige Menschen war das im Weltkrieg geradezu ideal. Deutschland verfügte ja über eine große Anzahl von Kleinstaaten, und jeder dieser Fürsten vergab mindestens eine Kriegsauszeichnung. Wer also gute Beziehungen hatte oder nicht preußischer Untertan war, konnte also neben dem Eisernen Kreuz noch andere Kriegsauszeichnungen auf seine Heldenbrust heften. An der Front dachte man über diese Orden etwas skeptisch. Oft wurde folgender Vers zitiert: Von vorne kommt der Kugelregen, Von hinten kommt der Ordenssegen. Auch das Eiserne Kreuz ist leider durch diese Art der Verleihung außerordentlich entwertet worden. Jeder Offizier bekam neben dem Eisernen Kreuz II. Klasse im Laufe des Feldzuges auch noch das Eiserne Kreuz I. Klasse. Diejenigen, die glaubten, sich ihre Auszeichnung wirklich verdient zu haben, waren darüber recht ärgerlich. Als ich
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Jahre später schon bei der Infanterie war und wir in einer sehr bösen Stellung, die nicht einmal richtige Schützengräben, sondern nur Löcher aufzuweisen hatte, bei Chäteau-Thierry lagen, ließ mich der Leutnant, der unsere Kompanie führte, einmal in sein Loch rufen und sagte wörtlich: „Cohn, ich habe schon wieder Eiserne Kreuze bekommen, aber alle Leute haben schon welche, was soll ich tun?" Worauf ich kurz, knapp und militärisch antwortete: „Auf Vorrat legen, Herr Leutnant". [...] 1916 an der Somme waren die Sommernächte in ihrer Kürze für uns sehr böse. Nur im Dunkel der Nacht war es möglich, die Munition nach vorn zu schaffen. Sie mußte über die Brücken der Somme hinübergebracht werden. Der Franzose, der ja im eigenen Land kämpfte, kannte selbstverständlich jede Brücke und war auf jede Entfernung eingeschossen. Die Infanterie, die es vorn in der Stellung gewiß unendlich schwer hatte und damals furchtbare Opfer bringen mußte, hatte es aber, was den Anmarsch anbelangt, entschieden leichter. Sie hatte sich Laufstege über den Fluß gebaut, die für unsere schweren Munitionswagen natürlich nicht in Frage kamen. Wir hatten nur eine Chance, über die unter schwerstem Beschuß liegenden Brücken hinüberzukommen; sie bestand darin, daß man den Augenblick abwartete, der zwischen zwei schweren Einschlägen lag. Man wußte ja etwa, welche Zeit drüben ein Kanonier brauchte, um wieder zu laden. In diesen kurzen Augenblicken mußte man versuchen, in rasendem Tempo mit den schweren Wagen über die Brücke zu kommen. Ich als Zugführer hatte dann möglichst im Galopp vornwegzureiten, und die Fahrer mußten aus den Gäulen das Letzte herausholen, damit es glückte. In solchen Sekunden drängte sich dann noch einmal das ganze Leben zusammen. War man glücklich in der Stellung angelangt, dann mußte die Munition so rasch wie möglich ausgeladen werden, um im Schutze der Nacht, die ja eben nur wenige Stunden umfaßte, über die Somme zurückzufahren. Wir fuhren dann sofort zum Munitionsdepot, um neue Ladung aufzunehmen und kamen im Laufe des Morgens nach Hause. Jetzt hieß es, auch noch die Pferde besorgen, von deren Gesundheitszustand das Gelingen der nächsten Nachtfahrt abhing, dann konnte man sich schlafen legen. Wenn man Glück hatte und die bis zum äußersten angespannten Nerven gestatteten es, dann schlief man auch bald ein19. Aber bekanntlich hält ja der Mensch viel mehr aus, als er sich zunächst zutraut. So haben wir diese Leistung lange Zeit hintereinander vollbracht, 19
Vgl. SV Nr. 64.
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ohne daß wir schlapp machten. Gewiß gab es auch Leute, die sich gern vor diesen Nachtfahrten drückten. Gerstel und ich waren übrigens immer beim Fahren dabei, aber mancher bekam Diarrhoe oder ähnliches, so daß er am Abend nicht fahren konnte. Ich habe hier wieder nicht nur an mir selbst, sondern auch an anderen die Beobachtung gemacht, daß wir Juden in einem solchen Augenblick keinesfalls uns blamierten. Wir hatten dann immer das Gefühl in verstärktestem Maße, doppelt unsere Pflicht tun zu müssen. Wenn man nachts zur vordersten Artilleriestellung fuhr, und allmählich, je weiter man nach vorn kam, alles Leben erlosch, wenn man in jenen Materialschlachten des Weltkrieges ununterbrochen den Donner der Geschütze hörte, dann war jede Faser angespannt. Und doch bestand da noch eine andere Gefahr, an die der Zivilmensch gewiß nicht denkt: die Gefahr des Einschlafens auf dem Pferde. Manchmal packte einen eine unwiderstehliche Müdigkeit, mit der man nicht fertig wurde. Immer wieder sank der Kopf herunter, und immer wieder riß man sich zusammen. Außerdem hatte man das Gefühl, daß man völlig auf sein Pferd angewiesen war. In der Dunkelheit konnte man die Granatlöcher nicht sehen; aber das Pferd, das noch den natürlichen Instinkt besaß, fiel in kein Granatloch. Ein solches Hineinfallen in ein Granatloch hätte unter Umständen bedeutet, daß die ganze Kolonne über einen hinweggegangen wäre, denn wenn die schweren Wagen in Fahrt sind, dann sind sie kaum zu bremsen. Auch der, der mit Pferden nie in seinem Leben etwas zu tun hatte, wird vielleicht verstehen, wie dankbar man seinem Tiere war. Selbstverständlich gehörte ihm nach der Rückkehr von einem solchen Ritt alle Fürsorge, und der Reiter kam erst viel später. Ich habe jahrelang ein Pferd geritten, das den Namen „Cortez" führte. Wieso es zu diesem Namen des mexikanischen Eroberers gekommen ist, weiß ich nicht, aber es war ein sehr gutes Pferd, auf das man sich verlassen konnte. Wir waren sehr miteinander befreundet. Wer weiß, wie sein Ende gewesen sein mag. Ich selbst konnte sein Schicksal nicht mehr verfolgen, da ich später zur Infanterie kam. Die Dörfer an der Somme machten einen recht trostlosen Eindruck. Jahrelang war der Krieg über sie hinweggegangen, viel Zivilbevölkerung war nicht mehr da. Alles war schon kahl und leer geworden. Weiter hinten bemühte man sich immer wieder, die Landbestellung in Gang zu bringen, zumal es ja auch im letzten Kriege, genauso wie jetzt, darauf ankam, gegenüber der englischen Blockade alle Reserven an
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Lebensmitteln zu mobilisieren. Auch wir haben uns mit unseren Pferden, wenn eigentlicher Kriegsdienst nicht zu leisten war, in dieser Richtung betätigt. Damals aber, während der Somme-Schlacht, trat das alles zurück. N u n hatten wir unsere eigentliche Aufgabe, Munition nach vorn zu schaffen, zu erfüllen. Manchmal sind einem aus den vielen Schreckensbildern, die der Krieg mit sich brachte und von denen glücklicherweise manches schon im Laufe der Jahrzehnte vergessen ist, das eine oder das andere besonders in Erinnerung geblieben. So werde ich niemals den zusammengeschossenen Kinderwagen vergessen, den ich auf einer der Sommebrücken in der Dämmerung erblickte, ebensowenig wie ich jenes angeschossene Kind vergessen werde, das ich auf dem Schlachtfelde von Tintigny 1914 sah. Das ist mit das Allerschlimmste, wenn man das Leiden der Unschuldigen nicht mildern kann. Gewiß, wir waren schon abgestumpft, aber immer wieder erschütterte es doch, wenn man die Flüchtlingskolonnen auf der Landstraße sah und die Eingeborenen beobachtete, wie sie in der Todesangst meist irgend etwas Wertloses zusammengerafft hatten, mit dem sie sich flüchteten. In solchen Augenblicken kann der Mensch wohl schlecht das Wichtige von dem Unwichtigen unterscheiden.^..] Mitten in dem umkämpften Gebiet lag die kleine Stadt Peronne, oder wie sie von unseren oberschlesischen Soldaten genannt wurde, Pieruna 20 . Ich bin bei diesen nächtlichen Fahrten oft auch in dieses Städtchen gekommen, das einst zur Zeit Ludwigs XI. seine Rolle in der Geschichte gespielt hat 21 . Diese Wochen an der Somme waren ein düsteres Inferno, dessen Erinnerung immer bleiben wird. Jene Zeit wurde dann abgelöst von einer anderen weiter hinten, wo wir die Pferde wieder pflegten, und die Truppe wieder „in Schuß" brachten. Damals hatten unsere Kanoniere Ehrendienst bei den Beerdigungen. Im gleichen Orte lag ein Feldlazarett, und täglich wurden junge Menschen dem Erdboden übergeben. Wenn es sich irgend vermeiden ließ, so bin ich in ein solches Feldlazarett nicht gegangen. Diese Eindrücke waren doch die grausigsten, wenn überhaupt eine Steigerung möglich war. Die Verwundeten, die irgendwie transportfähig waren, wurden ja möglichst bald an die Kriegslazarette weiter 20 „Pieruna" ist ein oberschlesisches Fluchwort, das sich vom harmloseren Kraftwort „Pieronie" unterscheidet. Zu letzterem gehört der durchaus anerkennende Neckname des Oberschlesiers „Pieron". 21 1468 wurde Ludwig XI. von Frankreich hier von Karl dem Kühnen gefangengenommen.
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rückwärts abgegeben. In den Feldlazaretten blieben die Hoffnungslosen und die, bei denen man dachte, daß eine sofortige Operation ihnen noch helfen könnte. Es war gut, wenn der Soldat, der noch weiter Kriegsdienste tun sollte, nicht in diese Lazarette kam. Einmal, ich glaube es war in Douai, hörte ich, daß mein Freund und Vereinsbruder Lubinski schwer verwundet in einem Kriegslazarett lag, wo ich ihn auch besuchte. Er hatte einen bösen Schuß durch den Arm bekommen. Der Arm war über dem Bette befestigt, und ununterbrochen lief aus ihm der Eiter, da die Wunde offen gehalten wurde. Lubinski war Soldat bei dem 51. Infanterie-Regiment, auch einem berühmten Breslauer Regiment, das schwere Verluste im Kriege gehabt hat und bei dem auch mein Vetter Gerhard Schöps an der Lorettohöhe gefallen ist. Lubinski war glücklich, als ich zu ihm kam. Der Arm ist übrigens niemals ausgeheilt. Eine chirurgische Laufbahn, an die er dachte, war unmöglich geworden. Nach dem Kriege ging er zur Hygiene über, hat sich in diesem Spezialfach habilitieren können und Bedeutendes geleistet. Der Sommer 1916 hatte mir vorübergehend ein Idyll gebracht. Wir lagen in einem Dorf Hargicourt in der Nähe von St. Quentin, ziemlich weit hinten, gerade an der Grenze der Etappe. Ich lernte ein junges Mädchen kennen, die gerade am 1. Mai sechzehn Jahre alt wurde und sich zum Lehrerinnenexamen vorbereitete. Es war ein liebes Geschöpf, voll des Charmes, den die Französinnen so oft haben und den ich auf meinem Lebensweg nicht mitbekommen habe. Bei dieser Vorbereitung zum Lehrerinnenexamen half ich ihr; meine schulmännischen Instinkte erwachten, die übrigens immer gern lebendig wurden, wenn es galt, hübsche Mädchen zu unterrichten. Ich will mich nicht besser machen, als ich nun einmal bin, und man soll sich nicht nachträglich mit einem Heiligenschein umgeben. Gerade heute nacht las ich in einem Buche, daß der liebe G'tt geneigt ist, seinen Menschen viel durch die Finger zu sehen. Hoffentlich macht er bei mir keine Ausnahme. Also zurück nach Hargicourt. Jeanne Harle (so hieß meine Schülerin) saß mit mir häufig in den Abendstunden zusammen. Ich paukte ihr die Kenntnisse ein, die sie zum Examen brauchte. Manchmal war es gar nicht so einfach, Mathematik auf Französisch zu unterrichten, aber es klappte ganz gut. Die alte Großmutter saß als Tugendwächter dabei, aber ich hatte ihr zu ihrer Ablenkung eine sehr große französische Zeitung mitgebracht. Von Seiten der Heeresverwaltung erschien nämlich während des Weltkrieges die „Gazette des Ardennes" für die besetzten Gebiete oder, wie die Einwohner sie nannten, die „Gazette des Menteurs". Les
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Gazettes sont tous menteurs! Wie oft habe ich das gehört. Jedenfalls damals in Hargicourt war mir diese französische Zeitung, unabhängig von ihrem Inhalt, sehr erwünscht. Die ehrwürdige Großmutter hatte eine abendfüllende Beschäftigung, so daß wir beide uns zum Lehrerinnenexamen vorbereiten konnten, wenn eben auch nicht ausschließlich. Solche Wochen des Idylls aber gingen schnell vorbei, und es ist dann immer schwer, aus einem Dorfe fortzureiten. Das Schicksal macht manchmal merkwürdige Sprünge. Im Jahre 1939 war mein ältester Sohn, eben der, der 1916 ein Jahr alt war, in der Gegend von St. Quentin Hauslehrer. Ich bat ihn damals, doch einmal Nachforschungen zu halten, was aus Jeanne Harle geworden ist. Das Dorf Hargicourt war, als der große Hindenburgrückzug von 1917 kam, auch geräumt worden 22 . Als mein Sohn, wie er schrieb, sich gerade um Erkundigungen bemühte, brach der neue Krieg aus, und er mußte von dort fort. So ist die Spur von Jeanne Harle wieder verschwunden, und wer weiß, ob ich sie noch einmal werde packen können. Vielleicht ist es auch besser, daß nur die Erinnerung bleibt an das freundliche Idyll; man soll vielleicht die Menschen nicht wiedersehen, die man jung und lieblich in der Erinnerung hat. Jene Zeit brachte mir noch eine eigenartige Aufgabe. Hargicourt lag ziemlich weit hinten. Die deutsche Besatzungsbehörde war von einem großen Eifer gepackt und interessierte sich damals auch für den Zustand des französischen Schulwesens. So wurde ich (beim Militär gehen solche Dinge außerordentlich rasch) zum Schulinspektor ernannt, bekam einen kleinen Wagen und ein Pferd und mußte durch die umliegenden Dörfer sausen, um mich von dem Zustand der Schulen zu unterrichten. Das war für mich natürlich recht interessant 23 . Es gab eine Möglichkeit der Verhandlungen mit dem Oberbürgermeister, was nicht ganz einfach war, denn begreiflicherweise mißtrauten sie den Deutschen und sahen in jeder Maßnahme immer nur den Anfang eines neuen Drucks und waren deshalb überaus zurückhaltend. Selbstverständlich haben sie ernsthafte Schwierigkeiten nicht gemacht und waren äußerlich immer sehr höflich. Ich habe über diese Inspektionsfahrten einen sehr sorgsamen Bericht angefertigt und ihn eingereicht. [...]
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Die von Hindenburg und Ludendorff 1917 veranlaßte Rücknahme der Front auf eine Linie Arras-St. Quentin-Soissons bedeutete zugleich den Rückzug in die militärische Defensive. 23 Vgl. SV Nr. 21.
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1916 brachte mir aber auch infolge meiner Sprachkenntnisse ein sehr gefährliches Kommando, und weil dieses doch etwas Besonderes darstellt (nicht durch meine persönliche Leistung, sondern als solches), möchte ich darüber ein wenig ausführlicher erzählen. Eines schönen Tages kam der Befehl, daß alle sprachkundigen Leute sich an einem bestimmten Orte bei der Gardefernsprech-Abteilung zu melden hatten. So kam der Unteroffizier Cohn (Sohn des Trautner-Cohn aus Samter) zur Garde, übrigens nicht das letzte Mal im Krieg. Wir wurden also in das Dorf gebracht. Unsere Munitionskolonne hatte nur zwei sprachkundige Leute aufzuweisen, nämlich Gerstel und mich, also beides Juden. In diesem Dorfe wurden wir sehr nett behandelt. Das bedeutete für die Kundigen Alarm. Denn die Nettigkeit beim Militär ist davon abhängig, ob man jemanden braucht oder nicht. Ist man nur unus ex multis, einer aus der Masse, so wird man nicht besonders nett behandelt; aber hier wurden wir geradezu gräßlich nett behandelt. Wir trafen dort Leute der verschiedensten Truppen, die wegen ihrer französischen Sprachkenntnisse hingeschickt waren und die ahnten, worum es sich handelte, während ich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, keine Ahnung hatte und infolgedessen die Dinge an mich herankommen ließ. Nachdem wir nun glücklich versammelt waren, erschien ein sehr netter Offizier, redete uns mit „meine Herren" an und sagte: „Ich werde Ihnen jetzt französisch etwas erzählen und bitte Sie, den Inhalt entweder schriftlich niederzulegen oder mündlich wiederzugeben." Wer das Unglück von meinen Lesern hat, mich persönlich zu kennen, wird ahnen, was sich in den nächsten Minuten abspielte. Kaum war der Leutnant mit seinen Erzählungen fertig, meldete ich mich mit affenartiger Geschwindigkeit und raspelte den Inhalt des Vorgetragenen herunter. Unter den meisten der Kameraden hatte sich inzwischen ein Wunder vollzogen. Aus den als sprachkundig hingeschickten Leuten waren im Laufe weniger Minuten Halbidioten geworden. Die meisten erklärten, sie hätten nichts verstanden und hätten nicht folgen können. Nun kann man einem ja sehr leicht nachweisen, ob das Schwindel ist oder nicht. In Erwartung, daß das so ausgehen würde, hatte sich auch die Garde-Fernsprechabteilung viel mehr Leute kommen lassen, als sie brauchte. Diese „Idioten" wurden also wieder zu ihrer Truppe entlassen und kehrten strahlend zurück. Gerstel und ich aber gehörten zu den Auserwählten. Worum es sich handelte, war nicht gesagt worden. Die Schlaueren ahnten eben, daß es sich auch auf Grund der Behandlung um etwas ganz Besonderes handeln müßte. Das auserwählte Häuflein der gut Französisch Sprechenden kam nun nach Roye. Roye war ein kleines
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Städtchen ganz vorn unmittelbar hinter den Schützengräben. Es war fürchterlich zusammengeschossen. Am Tage durfte sich niemand sehen lassen, da es von der anderen Seite aus eingesehen werden konnte. Hier hauste der Krieg in seinem ganzen Umfange. N u n erfuhren wir allmählich, worum es ging. Im Schützengraben war ein neuartiger Abhörapparat eingebaut worden, für den wir ausersehen wurden. Wenn ich das heute erzähle, so verrate ich kein militärisches Geheimnis, weil ja die Technik über diese Dinge längst hinweggegangen ist. Es wurde damals von den Franzosen in ihren Stellungen mit einfachen Feldapparaten telefoniert; als Rückleitung wurde die Erde benutzt. Dadurch ergab sich eine Chance, die Gespräche zwischen den französischen Befehlsstellen abzuhorchen, wenn man einen geeigneten Apparat besaß. Ein solcher Apparat war geliefert und in die Stellung eingebaut worden. Aber der Apparat blieb wertlos, wenn sich nicht Leute fanden, die am Mikrophon in der Lage waren mitzuhören, das Gehörte aufzuschreiben und es sofort weiterzugeben. Es bestand die Chance, daß man Feuerbefehle der Franzosen auf diesem Wege hörte und, wenn man es rasch weitergab, Verluste verhindern konnte. Auch konnten unter Umständen größere Kampfhandlungen durch den Leichtsinn der Gegner vorzeitig zu unseren Ohren kommen. Auf deutscher Seite war man schon vorsichtiger geworden. Die Gespräche wurden möglichst getarnt. Aber der temperamentvolle Franzose verhaspelte sich rasch. Das alles erfuhr ich natürlich noch nicht in Roye, sondern erst, als ich vorn war. [...] Wir waren nun gruppenweise für den Dienst nach vorn eingeteilt und gehörten jetzt zu der Garde-Fernsprechabteilung. Mit Tornister und Gasmaske ausgerüstet, zog man nach vorn. Eigentlich sollte man immer in Zickzackwegen laufen, die als Annäherungsgräben ausgebaut waren, manchmal aber lief man dann doch anders, wenn es einem zu lange dauerte. Wir kamen in einen sehr gut ausgebauten Unterstand und hatten abwechselnd das Mikrophon zu bedienen. Mindestens einer, möglichst zwei, mußten ständig hören. Sowie etwas Bemerkenswertes war, wurde es auf einen Meldezettel geschrieben. Sofort spritzte ein Meldegänger zum Abschnittskommandeur, damit dieser seine Maßnahmen traf. Der Dienst erforderte eine ungeheure geistige Konzentration, denn das war ja nicht so wie an einem guten Telefon. Was man hörte, war mit sehr viel Geräuschen durchsetzt, in einer fremden Sprache und häufig auch noch im Dialekt. Trotzdem habe ich eine Menge wertvoller Nachrichten gehört, von denen -ich die eine oder andere, soweit sie mir in Erinnerung ist, wiedergeben möchte. „Maintenant nous voulons bombarder les boyaux des boches", das hieß also auf Deutsch: N u n wollen wir die Annäherungsgräben der Deutschen be-
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schießen. Die Franzosen unterschieden zwischen tranchées und boyaux. Das erstere waren die Schützengräben, das zweite die Annäherungsgräben. Kaum hörte ich diese drüben leichtsinnig gemachte Äußerung, so war mir auch klar, was es bedeutete. Wenn es noch rechtzeitig gelang, den Abschnittskommandeur zu unterrichten und dieser auch wieder die Truppe in Kenntnis setzen konnte, so konnten größere Verluste vermieden werden, ehe der „Segen" von drüben ankam. Einige Minuten mußten ja vergehen, ehe die französischen Batterien feuerbereit waren. Man kann sich vielleicht vorstellen, mit welcher Hast man die Meldung auf das Papier warf, handelte es sich ja um die Rettung des Lebens der Kameraden. Wir alle sahen ja von diesen Dingen nichts, denn unser Dienst war das Ausharren an diesem Apparat, also eine ähnliche Situation, wie sie jetzt oft von dem Dienst der Funker auf den Schiffen geschildert wird. Einmal hörte ich auch das Folgende: „L'Italie a déclarée la guerre à l'Allemagne." Worauf eine andere Stimme antwortete: „Ça va bien". An diesem Abend merkte man aus den Geräuschen, daß drüben eine ziemliche Bezechtheit herrschte. Allmählich bekam ich eine solche Routine, daß ich auch die dialektischen Unterschiede heraushörte, was oft wichtig war, weil man auf diese Weise feststellen konnte, wer gegenüber lag. Wir hatten dann auch noch die Aufgabe, alle deutschen Gespräche mitzuschreiben, denn es gab auch auf deutscher Seite Leichtsinnige, die sich durch das Telefon über Dinge unterhielten, die dem Feind einen Hinweis geben konnten. Die Wochen dieses Kommandos gehörten trotz aller Brenzlichkeit der Situation zu den interessantesten der Kriegszeit. Wir verbrachten immer eine Reihe von Tagen im Unterstand und hatten dann einige Tage Ruhe in Roye. Das Leben im Unterstand war natürlich eintönig. Im Grunde hatte man ja fast vierundzwanzig Stunden Dienstbereitschaft. Die Behandlung auch durch die höchsten Vorgesetzten war eine besonders gute, weil wir ja, soweit man das von Menschen sagen kann, unersetzlich waren. Der Unterstand war besonders tief und gut ausgebaut, was mit dem Apparat zusammenhing, den wir zu bedienen hatten; er mußte möglichst tief in der Erde eingebettet sein. Eine gräßliche Plage waren die Ratten, die in großer Zahl vorhanden waren. Eine lief mir mal nachts, als ich mich gerade in mein Drahtbett gelegt hatte, über das Gesicht. Auch fraßen sie alle Lebensmittel an, und da das Brot etwas sehr Kostbares war und man, wenn man lange wach ist, natürlich besonderen Hunger hat, so halfen wir uns dadurch, daß wir es in einem Sack in der Mitte der Decke des Unterstandes aufhingen, denn Ratten können nicht springen. [...]
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In den drei Kriegsjahren 1915 bis 1917 habe ich sehr viel vom besetzten Frankreich kennengelernt. Wir waren teils in der Champagne und teils in der Picardie eingesetzt. Manchmal gingen die Truppenverschiebungen mit der Bahn vor sich, aber manchmal auch auf dem Rücken der Pferde. Das letztere bedeutete mitunter auch eine gewisse Erholung und das Durchqueren ruhigerer Landstriche, in denen die Bevölkerung schon wieder ihrer friedlichen Beschäftigung nachging. Der Zivilist wird vielleicht sagen, daß es keine Erholung bedeutete, wenn man täglich vierzig bis fünfzig Kilometer ritt. Das war, soweit ich mich erinnere, die übliche Marschleistung. Aber das Reiten war einem zur Gewohnheit geworden. Hirschtalg habe ich zwar mitgeführt, aber später nicht mehr benutzt. Allmählich bekam man eine Haut wie Schuhleder. Auf diesen Ritten gab es jeden Tag ein anderes Quartier, und da ich mit den Offizieren zusammen lebte, bedeutete das meistens die Einquartierung in einen sogenannten „Chäteau". Diese französischen Schlösser waren von alter Kultur, aber es fehlte ihnen meistens jene wichtige Einrichtung, die durch mein Monogramm gekennzeichnet wird, auch hatten sie kein Badezimmer. Gern blätterte ich oft in den Bibliotheken, die mitunter einen Bestand von Jahrhunderten aufzuweisen hatten. Ich stellte immer auch die Querverbindung zu den Bewohnern her. Die Unterhaltungen waren oft sehr stereotype. Wollte man seine Quartiergeber günstig stimmen, so war es gut, das Gespräch mit den Worten zu beginnen: „Quel malheur, cette guerre!" Worauf die Schloßdame in der Regel antwortete: „ O h lä lä!" Die Leute konnten einem ja oft leid tun, denn sie wußten doch niemals, welcher Gesinnung diese neuen unerwünschten Gäste für eine Nacht waren. Ich habe damals einen Blick in das Leben Frankreichs tun können, der dem üblichen Reisenden versagt ist. Wenn man sonst an Frankreich denkt, so steigt doch höchstens das Bild von Paris auf, vielleicht von Marseille und einiger luxuriöser Kurorte an der Riviera, der Cöte d'Azur, vielleicht auch noch einiger ebenso eleganter Seebäder in der Bretagne. Aber was wissen wir, wie der Franzose sonst lebt? Ich habe immer wieder beobachtet, daß die Masse des französischen Volkes sehr kleinbürgerlich eingestellt ist. Sie wünschen sich nichts Besseres als ein kleines Landgütchen, eine Rente und einen Gemüsegarten. Paris ist für sie eine ferne Welt. Sie sind mit sehr wenigem zufrieden. Man fühlt aber auch überall, daß sie auch hinter der Zeit zurückgeblieben sind, eben ein müdes, altes Volk. Welches Vergnügen, mit ihnen zu plaudern, festzustellen, wie ihre geistige Beweglichkeit unserer jüdischen Mentalität sehr nahe steht. Man wollte mir oft nicht glauben, daß ich ein „sale Prussien" wäre, weil ich so anders war als die ihnen bekannten Typen im
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feldgrauen R o c k . Mindestens hielt man mich für einen Pfarrer, was wohl auch mit meinem schon damals sehr gelichteten Haare zusammenhing. Ich wurde häufig mit „Monsieur le C u r é " angeredet. In der Gegend von Douai, wo wir uns auch eine Zeitlang aufhielten, lernte ich den französischen Kohlenarbeiter kennen. Die Gegend dort war ziemlich trostlos, es sah aus wie in den meisten Grubenbezirken. Ich habe später auf Vortragsreisen oft Oberschlesien gesehen. In dem französischen Kohlengebiet fiel mir besonders die Ode der Wohnhäuser für die Bergarbeiter auf. Es liegt ja im Wesen des Kapitalismus, daß er denen, die die schwerste Arbeit zu leisten haben, die geringste Bezahlung gönnt. Aber ich weiß heute, nachdem ich an so vielem irre geworden bin, nicht mehr, ob es jemals eine Weltordnung geben wird, die das gerechter verteilen kann. In diesen Bergbaubezirken war für die Arbeiter die einzige Entspannung die Kneipe, dort meist „estaminet" genannt. Zu der wechselnden Tätigkeit, die ich bei der Munitionskolonne auszuüben hatte, gehörte unter anderem auch das Werben für die Kriegsanleihe. D a ß ich selbst mit meinem Privatvermögen bei dem Zeichnen der Kriegsanleihen bis zur Grenze meiner Leistungsfähigkeit gegangen bin, war selbstverständlich und braucht nicht betont zu werden. Darüber hinaus setzte ich meinen Ehrgeiz hinein, in dem Bezirk, dem ich jeweils zugewiesen war, ein möglichst hohes Gesamtergebnis zu erzielen. Zu Beginn des Feldzuges hatte ich mir auch ein paar Goldmünzen in den Uniformrock einnähen lassen, aber diese hatte ich längst abgegeben. Lieber Leser, schüttle nicht den Kopf, das gehörte alles zu dieser Gesinnung, die doch den größten Teil des Krieges erfüllte. [...] Als der Krieg ausbrach, hatte kein Mensch mit einem Urlaub gerechnet. So etwas hat es ja auch in früheren Feldzügen nicht gegeben. Als aber dieser Krieg zu einer Dauereinrichtung wurde, da stellte sich auch die Notwendigkeit heraus, die Soldaten auf Urlaub zu schicken. Ich selbst habe das erste Mal verhältnismäßig spät Urlaub bekommen. Diese Urlaube der Frontsoldaten bedeuteten ein nicht ganz einfaches Problem. Ich meine damit nicht die Frage des Transportes von Millionen Soldaten hin und zurück, sondern ich meine das Seelische. Ich selbst war fünf Vierteljahre nicht zu Hause und war in dieser Zeit begreiflicherweise ein ganz anderer Mensch geworden. Das große Erleben, das man da draußen gehabt hat, hatte wenigstens mich, und ich weiß, daß es auch anderen so gegangen ist, für die kleinen Dinge des Lebens verständnislos werden lassen. Daß meine Erfahrung auf diesem Gebiete nicht eine einzelne ist, bewies mir die Tatsache, daß ich in vielen Kriegsbüchern gelesen habe, daß der Urlauber im Grunde nicht wußte, wie er die Gespräche
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zu Hause führen sollte, weil der Faden abgerissen war. Es ist das ein Problem, das uns Juden von heute wieder besonders beschäftigt, wenn wir an unsere Kinder draußen denken, die wir so lange nicht gesprochen haben. Wird es möglich sein, so fragt man sich, wenn man das Glück haben sollte, noch einmal mit ihnen am gleichen Orte zusammen zu sein, dort wieder anzuknüpfen, wo man einstmals aufgehört hat? Gewiß, man bemüht sich, und das haben auch die Angehörigen während des Krieges getan, durch den Brief die Beziehungen nicht erkalten zu lassen. Ich bin überzeugt, daß dort, w o wirklich die tiefsten Beziehungen vorwalten, auch die Anknüpfung wieder möglich ist, sei es nach einer längeren Trennung in der Gegenwart oder damals im Kriege. Doch möchte ich zunächst bei dem bleiben, was ich aus eigenem Erleben weiß und es so wiedergeben, wie es sich eben wiedergeben läßt. Zunächst aber will ich das Erfreuliche sagen. Ich hatte das Glück, nun das erste Mal meinen Sohn zu sehen, und konnte mir eigentlich gar nicht vorstellen, daß dieses kleine Menschlein mein eigenes Kind war, weil man ja eben doch sein Werden nicht gesehen hat und um die ganze Zeit gebracht worden ist, wo man auch schon vor der Geburt das Entstehen eines Menschen mit Liebe verfolgt. Mein Junge sah mir übrigens außerordentlich ähnlich, und ich war glücklich, wenn ich mit ihm in dem Garten auf der Wölflstraße zusammen sitzen oder spielen konnte. Ein Urlaub umfaßte immer vierzehn Tage außer der Reise, und schon nach wenigen Tagen stand der Schatten des Abschiednehmens wieder vor einem. Inzwischen war man bemüht, sich in einen Kulturmenschen zurückzuverwandeln. Vor allem fiel es einem schwer, daran zu glauben, daß man nachts nicht alarmiert werden könnte. Nach dem Kriege ist es mir noch lange so gegangen, daß ich mir nachts rein mechanisch alles zum Anziehen zurecht legte. Jetzt im Jahre 1941, wo wir mit nächtlichen Fliegerangriffen rechnen müssen, sind wir im Grunde wieder an der gleichen Stelle angelangt. Aber auch diese äußeren Dinge sind eigentlich nicht die, die von diesen Urlaubsreisen her wert sind, erzählt zu werden, wenn sie auch in ihrer Art zweifellos manche Farbe auf das Bild aufsetzen. Mit Schrecken mußte man vor allem aber feststellen, daß man sehr schwer in der Lage war, diesen Gesprächen zu Hause zu folgen. Ich meine damit nicht gerade mein engeres Heim auf der Wölflstraße, sondern auch die weitere Familie und alles, was so damit zusammenhing. Es ist nicht ganz einfach, diese Dinge richtig auszudrücken. Aber ich kam aus einem Erleben, das einen doch sehr oft vor die Daseinsfrage als solche gestellt hat. Ich hatte lange gelernt, auch mit Primitivstem zu leben,
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und ich mußte nun feststellen (ich sage dies ohne Anklage), daß die Kleinlichkeiten des Lebens zu Hause oder besser gesagt in der Heimat weiter ihren Gang gegangen waren. Man sprach über die Nöte des Alltags, wobei zu sagen ist, daß der Mensch von Natur geneigt ist, seine persönlichen Nöte immer als die vordringlichsten anzusehen. Als ich das erste Mal auf Urlaub kam, war schon nichts mehr von jener Hochstimmung zu spüren, die den August 1914 erfüllt hat. Der Alltag hatte seine Rechte gefordert, und man sprach vor allem über das, was einem fehlte, denn je länger der Krieg dauerte, umso schärfer wurde die Rationierung, und umso spürbarer waren die Eingriffe in das Alltagsleben. Und wie hätte man es fertigbringen können, in diese Gespräche hinein etwas von dem zu sagen, was man draußen erfahren hatte, etwa darauf hinzuweisen, was das alles demgegenüber bedeutete, daß Menschen draußen um alles und jedes gekommen sind, oder daß junge Menschen auf der Höhe des Lebens ihre Gesundheit geopfert haben und daß man selbst auch damit rechnete. In der Heimat blieb eben das Leben nach diesen eigenen Gesetzen, und wir gehörten eben nicht mehr dazu. Und so ist es manchem so gegangen, daß er die Truppe, mit der er durch die Jahre Freud und Leid geteilt hat, in viel stärkerem Maße als Heimat ansah, als die Menschen zu Hause. Niemand kann bei seelisch so schwierigen Dingen von Schuld oder Unschuld sprechen. So manche Ehe war ja auch sehr rasch geschlossen worden, und die Menschen wären vielleicht, wenn sie beieinander geblieben wären, mehr zueinander gewachsen. Nun aber, wo der Krieg kam und sie in dem Augenblick auseinanderriß, wo die Beeinflussung am stärksten hätte sein müssen, war diese Entfremdung, die in vielen Fällen zu einer unüberbrückbaren Kluft wurde, unvermeidlich. Gewiß, Menschen, deren Seele gänzlich aufeinander abgestimmt ist, können Jahre und Jahrzehnte getrennt sein, sie werden immer wieder zueinander finden. Und vielleicht bin ich auch selbst immer ein Mensch gewesen, der allzu erfüllt war von dem, was ihn selbst bewegte. Ich versuchte, in diesen kurzen Urlaubstagen auch aus tiefster Sehnsucht nach den geistigen Werten, die mir Lebensinhalt waren, manchen Faden anzuknüpfen und nahm vielleicht Zeit in Anspruch, auf die die engere Familie ein Recht gehabt hätte. So suchte ich alle die auf, mit denen ich vom Felde her geistige Fühlung behalten hatte und sprach über Fragen der Geistesarbeit nach dem Kriege. Ich weiß nicht, ob mir meine Leser hier folgen können. Vielleicht werden sie sagen, es wäre richtiger gewesen, das alles bis nach Kriegsende zu lassen und gar nicht erst an das Leben vorher anzuknüpfen. Aber das konnte ich eben nicht. Dazu war ich zu stark mit meiner Arbeit verwachsen.
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So besuchte ich auf diesen Urlaubsfahrten immer meinen Verleger Max Marcus, von dem schon auf diesen Blättern die Rede war. Wenn er mir eine Liebesgabe ins Feld geschickt hatte, so war diese immer ein wertvolles Buch gewesen. Wir sprachen dann meist über die Lage der Wissenschaft im Kriege und von der Unmöglichkeit, während des Krieges die wissenschaftliche Produktion fortzuführen. Marcus verließ aber seine Linie nicht und gab keinerlei Konjunkturliteratur heraus. Ich habe von seiner klugen Unterhaltung immer sehr viel Anregung mit hinausgenommen. Zu meinen regelmäßigen Besuchen gehörte auch, besonders in den letzten Kriegsjahren, ein Vorsprechen bei der Redaktion von „ N o r d und Süd". Das war eine besonders angesehene Monatsschrift, für die ich seit einiger Zeit regelmäßige Sammelberichte über neuere geschichtswissenschaftliche Literatur verfaßte 2 4 . Herausgeber dieser Monatsschrift war ein Professor Stein, der in Berlin lebte, Redakteur in Breslau Dr. Sylvius Bruck, ein sehr bescheidener Mann, mit dem es aber einfach war zu verhandeln. Besitzer der Zeitschrift und Verleger war der Konsul Schottländer 25 . Dieser gehörte zu der weitverzweigten Familie der Schottländers und zwar zu der Linie, die auf Wessig saß. Ich hatte später mit ihm (das hatte ich schon angedeutet) wegen des Verlages meiner Arbeit über Richard Voß verhandelt. Der Konsul Schottländer (Konsultitel waren bei den Juden sehr beliebt) hatte auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht. Heute, wenn man das Werden dieser nun abgelaufenen jüdischen Epoche überdenkt, fällt einem, wenn man an eine Gestalt wie den Konsul Schottländer denkt, auch auf, wie verhältnismäßig rasch sich das Judentum bis zu solchen Persönlichkeiten emporgearbeitet hat. Sehr gern auch saß ich in meiner schönen Studierstube auf der Wölflstraße und sah mir meine Bücher an. O f t fragte ich mich, ob mir das Schicksal noch gestatten würde, in diese stille Welt zurückzukehren. In den schlimmsten Lagen hat mich oft die Erinnerung an diese Häuslichkeit seelisch aufrecht erhalten. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich von dieser Stube aus noch etwas würde leisten können. Meine Mutter hat sich den Abschied immer wieder furchtbar schwer gemacht. Es lag ja nicht in ihrer Natur, sich etwas überhaupt leicht zu machen, wie das ja auch in der meinen nicht liegt. Aber sie sah alles immer von der trübsten Seite, und so sehr sie sich auch bemühte, das während der Urlaubstage so wenig wie möglich zu zeigen, man fühlte es doch, daß sie mit jedem Augenblick an den Abschied dachte. Sie wohnte 24 25
Vgl. SV N r . 72 u.ö. Salo Schottländer (1844-1920), aus Schlesien stammender Berliner Verleger.
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damals Ecke Eichendorff- und Kurfürstenstraße. Wenn man wegging, schaute sie einem noch die lange Straße nach, und ich selbst blickte mich unzählige Male um. Was gäbe ich heute darum, wenn ich sie noch einmal so am Fenster stehen sehen könnte. Immer hat es auch mein Bruder Martin ermöglicht, daß ich ihn auf Urlaub sah. Einmal bin ich auch mit ihm zusammen bis Berlin gefahren. Es war ja von Frankreich über Belgien nach Breslau eine ziemlich weite Reise, aber schon im Eisenbahnabteil wehte die Luft der Front. Damals bedeutete auch der Grenzübertritt keine Schwierigkeit. Ich bin dann diese Strecke noch in Nachkriegszeiten gefahren. Aber da gab es schon Devisenkontrollen und Mißtrauen gegen den reisenden Juden. Der Jude im feldgrauen Rock hatte keine Schwierigkeiten und durfte unbedenklich wieder nach Frankreich hinein. Vielleicht fuhr man von diesen Urlaubsreisen nicht ganz so befriedigt zurück, wie man es in tiefster Seele gewünscht hatte. Man dachte mit einer gewissen Besorgnis an kommende Tage, w o man vor der Schwierigkeit stand, das Friedensleben wieder aufzunehmen. Jedenfalls wußte man, daß von beiden Seiten eine sehr große Bereitschaft dazu gehörte, damit die Brücke der Jahre überschritten werden könnte. Da ich es mir vorgenommen habe, mich in diesen Blättern nicht besser darzustellen, als ich nun einmal bin, so will ich sagen, daß mir häufig Bedenken gekommen sind, ob ein Mensch, der so wie ich ganz an seine geistige Aufgabe verhaftet ist, das Recht hat, das Schicksal eines anderen Menschen an sich zu binden. Andererseits bin ich immer ein großer Familienmensch gewesen, das heißt ich hätte mir nie vorstellen können, ohne Kinder zu sein. Mehrere Jahre hatte ich bei der Munitionskolonne gestanden, und ich hatte wohl eigentlich geglaubt, bei ihr bis zum Ende des Feldzuges zu sein. Aber im Kriege pflegt immer alles anders zu kommen, als man denkt. [...] Wir kamen zum Feldrekrutendepot der 231. Infanterie-Division, wo wir nicht gerade allzu freundlich empfangen wurden. Man dachte, daß Leute, die von einer Munitionskolonne kamen, nicht allzuviel taugten. Neben allem anderen war dies auch ein Abschied vom Pferd, der mir sehr schwer gefallen ist. Jetzt war man auf seine eigenen Füße abgestellt. Man konnte nur soviel Gepäck haben, wie man selbst zu tragen in der Lage war, und das war nicht viel. Ich schickte alles Uberflüssige nach Hause, w o es auch gut angekommen ist. Mit wie wenig kann der Mensch auskommen! Das habe ich nun in den nachfolgenden Monaten erfahren. Seitdem habe ich mich immer weniger an die irdischen Dinge geklammert.
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Dieser Winter 1917 zu 1918 war in jeder Beziehung ein außerordentlich harter. Der Dienst war mehr als anstrengend. Wir Unteroffiziere wurden besonders vorgenommen, und wir mußten Doppeltes erreichen: auf der einen Seite Infanterist und auf der anderen Seite Führer. Ich glaube, wir haben dann doch im Laufe dieser Zeit es verstanden, unseren Ausbildern durch die Art und Weise, wie wir an den Dienst herangingen, zu imponieren. Wir hatten als Instrukteur einen Feldwebelleutnant, der ungezählte Friedensdienstjahre hinter sich hatte und der den Dienst aus dem Effeff beherrschte. Er holte von uns das letzte heraus, aber er war doch im Kern seines Herzens ein sehr anständiger Mann. An mir nahm er auch ein gewisses persönliches Interesse. Aber wehe, wenn es einmal nicht klappte! So verlangte er, wenn wir auch noch so ermüdet vom Dienste zurückkamen, daß wir auf dem Nachhausewege sangen, und als wir das einmal nicht taten, ließ er die ganze Truppe zurückmarschieren, bis wir uns zum Singen bequemten. Das ging natürlich von der kurzen Mittagspause ab. So wurden wir Infanteristen, wurden vertraut mit Gewehr und Handgranate und lernten, soweit das theoretisch möglich war, alle Finessen des Schützengrabenkrieges, zum Beispiel wie man einen Graben mit Handgranaten aufrollte und was dergleichen Dinge mehr waren. Als wir soweit ausgebildet waren, daß wir den Infanteriedienst einigermaßen beherrschten, kamen wir dann noch zu einem besonderen Unteroffizierskurs, wo wir nun all das lernten, was für einen Truppführer notwendig war. Ich bemühte mich damals noch, zu einem Offiziersaspirantenkurs zu kommen, was mir aber nicht geglückt ist. Damals habe ich mich darüber gekränkt; aber wenn ich dieses Kommando erreicht hätte, wer weiß, ob ich dann lebend aus dem Feldzuge heimgekehrt wäre. Auch während dieser ganzen Zeit habe ich mich bemüht, mit äußerster Energie meine Pflicht zu erfüllen. Es war nicht immer einfach, zumal in diesem Winter die Verpflegung außerordentlich schlecht war und ich die Meinen zu Hause nicht auf noch knappere Rationen setzen wollte. Von einem großen Paket, das ich zu Weihnachten 1917 bekam, war mir mit Ausnahme der Bücher alles gestohlen worden, und ich mußte noch zusätzlich einen großen Marsch durch einen weiten Wald machen, um zu Protokoll zu geben, daß ich keine Ersatzansprüche stellte. Das hätte ja auch keinen Zweck gehabt, es wäre doch nichts wieder gekommen. In diesem Winter bin ich auch sehr viel dünner geworden, was aber im Hinblick auf meine zukünftige Tätigkeit bei einem Infanterie-Regiment gewiß nur gut sein konnte. Als wir also nunmehr fertig gemacht waren, wie man das militärisch ausdrückte, kam man zu der Truppe. Ich selbst
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kam zum Infanterie-Regiment 443. Es waren einige Regimenter neu aufgestellt worden, das heißt sie waren auch schon eine ganze Zeit an der Front, und auf diese wurden wir verteilt. Diese Regimenter gehörten zu der gleichen Division, zu der auch das Feldrekrutendepot gehörte, bei dem wir ausgebildet worden waren. Die ganze Division war eine Neuaufstellung des Gardekorps, und so bekam ich auch für das letzte Kriegsjahr die Gardelitzen. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich noch einmal Garde-Infanterist werden würde und mit Stolz nach dem Marsch marschieren würde, dem der Text zu Grunde lag: „Das ist die Garde, die unser Kaiser liebt". Ich habe mich übrigens bei dem Infanterie-Regiment rasch eingelebt und hier erfahren, was wirkliche Kameradschaft bedeutet. Bei der Infanterie weiß jeder, daß sein Leben oft in der Hand der Kameraden liegt. Es ist von größter Wichtigkeit, daß jeder von dem anderen nur das Beste denkt, und so gibt sich jeder Mühe, die Kameraden nicht zu verärgern. Schwer ist auch die Stellung des Unteroffiziers gewesen, besonders im Frühjahr 1918, als die Kriegsbegeisterung gewiß keine sehr große mehr war und andererseits doch von uns Unteroffizieren verlangt wurde, daß wir der Mannschaft nichts nachsahen. Andererseits aber durfte man unter keinen Umständen etwa mit den Allüren des Kasernenhofunteroffiziers kommen. Wer bei seinen Leuten einen schlechten Namen hatte, etwa als „Schnicker" verhaßt war 26 , war ein toter Mann. Ich habe es einmal erlebt, daß, als ich am Chemin des Dames lag, an einem Nachbarabschnitt bei einer Patrouille alle zurückkamen, nur der Leutnant nicht. Niemand hat erfahren, was aus ihm geworden ist, nur wußte man, daß er die Mannschaften sehr „gezwiebelt" hatte. Da mir aber die Kunst der Menschenbehandlung glücklicherweise stets bis zu einem gewissen Grade eigen gewesen ist, so habe ich keine Schwierigkeiten gehabt und bin mit meiner Gruppe bald gut Freund geworden. Bei der Infanterie war es ja üblich, daß jede Gruppe nach dem Namen ihres Unteroffiziers genannt wurde. So gab es also jetzt bei einem Garderegiment eine Gruppe Cohn. Ich hoffe, daß sie nicht schlecht ihren Mann gestanden hat, mindestens nicht schlechter als die anderen Gruppen. Wir lagen damals mit dem Regiment in der Nähe von Givet in Nordfrankreich. Das war ein sehr lieblicher Ort im Maastal, an dem der Krieg schon lange vorbeigegangen war. In jener Zeit haben wir, wenn ich mich recht erinnere, auch noch eine große Parade vor dem Kronprinzen „Schnicker" von „schnicken", schlesisch: „scharf zur Arbeit antreiben, schlagen, peinigen". W . Mitzka: Schlesisches Wörterbuch. Bd. 3. Berlin 1965, S. 1234. 26
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gehabt, der eine Ansprache hielt. Der letzte Kronprinz des Deutschen Reiches hat sich einer sehr geringen Beliebtheit erfreut. Das hing stark mit seinem Privatleben zusammen, das er in Charleville führte. In seiner Ansprache sagte er unter anderem in seiner schnarrenden Sprechweise: „Kameraden, Ihr geht jetzt in den Tod". Wir dachten uns dabei: Und Du gehst jetzt zu Deinen „Damen" nach Charleville. Gerade die Person des Kronprinzen hat wohl viel dazu beigetragen, daß die Hohenzollern in Deutschland stark an Boden verloren. Jedenfalls legten wir ihm einen ganz anständigen Parademarsch hin. Dann aber ging es in Gewaltmärschen nach vorn. Selbstverständlich wußte niemand, was gespielt wurde; alles war sehr geheimnisvoll. Wir marschierten nur in der Nacht, damit die Truppenbewegungen gänzlich geheim blieben, jede Nacht dreißig bis vierzig Kilometer mit vollem Gepäck, voller Munition, Schanzzeug, Handgranaten und was sonst noch zur Kriegsbemalung gehört. Man kann sich vorstellen, daß man unter diesen Umständen sein Privatgepäck auf das knappste beschränkte, und daß immer mehr Dinge aus dem Tornister herausflogen, die nicht unbedingt notwendig waren. Man trennte sich sogar von der Zahnbürste, obwohl man sich ja doch bemühte, solange es ging den Kulturmenschen zu bewahren. Längst hatte man auf die Wäsche zum Wechseln verzichtet. Manchmal habe ich mir die Füße durchgelaufen und mußte stückweise fahren. Oft mußte man sich dann beim Rasten die Wasserblasen von dem Sanitätsoffizier aufschneiden lassen. Wir hatten es damals viel schlechter als die feindliche Infanterie, die auf Kraftwagen soweit wie möglich nach vorn gefahren wurde. Aber das Deutschland von 1918 hatte keine Gummibereifung und war noch sehr wenig motorisiert. In einer jener Nächte bin ich, ohne daß ich es damals wußte, an meinem Bruder Hugo vorbeimarschiert, der trotz seiner Jahre noch einmal zu einem Infanterie-Regiment nach dem Westen gekommen war. Wir haben das später erst aus unseren Briefen und Tagebüchern feststellen können. Allmählich merkte man, in welcher Linie wir uns bewegten. Wir näherten uns der Umgegend von St. Quentin, die mir aus früheren Kriegsjahren bekannt war. Aber als ich damals in jener Gegend war, lag St. Quentin weit in der Etappe, und seine Kathedrale war das Ziel vieler frommer Menschen. Nun aber nach dem Hindenburgrückzug lag der Ort unmittelbar hinter der Front. Selbstverständlich rechnete ich damit, daß ich den Durchbruch durch die feindliche Front im Sturm mit den anderen mitmachen würde. Und wenn man auch nicht daran dachte, was die Zukunft bringt, so mußte man in diesem Augenblick mit dem Leben abgeschlossen haben.
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Da trat im letzten Augenblick noch eine Wendung ein, mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich erinnere mich noch genau, wie es zuging. Todmüde war ich irgendwo auf dem Marschquartier in ein Stückchen Drahtbett gekrochen, um die „Knochen", wie man so schön sagte, auszuruhen. Da kam der Gefreite, der die schriftlichen Sachen beim Kompaniestab erledigte, zu mir und sagte mir, daß die Division nach sprachkundigen Leuten angefragt hatte und daß ich gemeldet worden wäre. Ich persönlich nahm nicht an, daß daraus etwas würde. Es war einem übrigens schon alles mehr oder weniger Wurst geworden, und man hatte doch eben mit allem abgeschlossen. Aber da kam schon am nächsten Tage der Befehl, daß ich mich sofort zum Divisionsstab zu begeben hätte. Man trennte sich mit gemischten Gefühlen von seiner Truppe. Es kam mir nicht richtig vor, daß man seine Gruppe im letzten Augenblick im Stiche ließ. Aber Befehl ist Befehl. Der Divisionsstab war in einem tiefen Keller in St. Quentin untergebracht. Der Ort selbst war kaum wiederzuerkennen. Alles Leben war unterirdisch, die herrliche Kathedrale war ziemlich zugerichtet. Ich erfuhr auch, wozu ich ausersehen war; man rechnete nach dem Durchbruch mit sehr viel Gefangenen, die ich vernehmen sollte. Das war immerhin eine recht wichtige Aufgabe, denn aus der Gefangenenvernehmung (darüber wird noch zu sprechen sein) sollte sich das Bild ergeben, in welchem Umfange der Gegner seine Reserven eingesetzt hatte. Noch aber war der Durchbruch nicht Tatsache geworden, und so wurde ich inzwischen als Melder verwendet, und während ich noch eben als kümmerlicher Infanterist mit schwerem Gepäck und oft durchgelaufenen Füßen über die Landstraße gegangen war, saß ich plötzlich jetzt in einem eleganten Divisionsauto, das einen Wimpel trug, der mir überall freien Durchlaß verschaffte, und sauste in der Gegend herum. Ich glaubte immer, daß das alles ein Traum sei, und daß ich irgendwie aus ihm erwachen würde. Auch dieses Erlebnis wie so viele andere hat mich gelehrt, daß man letzten Endes alles und jedes der höchsten Führung anvertrauen sollte. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß ich nichts getan habe, um zu diesem Kommando zu kommen. In den entscheidenden Minuten, als vorne die Infanterie stürmte, lagen wir unmittelbar hinter der Linie in St. Quentin. Es ist ja bekannt, daß dieser Durchbruch vor allem mit der Anwendung von Kampfgasen geglückt war. Über St. Quentin selbst lag eine Wolke des zurückströmenden Gases. Immer noch scheint es mir, als ob der Geruch des Gases in den Atmungsorganen zurückgeblieben wäre. Als der Sturm geglückt war, rückten wir mit dem Divisionsstabe nach.
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Ich wünschte, daß allen meinen Lesern erspart bliebe, was es heißt, ein Schlachtfeld unmittelbar nach einem derartigen Sturme zu sehen. In Reihen lagen die Menschen wie hingemäht, die eben noch blühend und jung gewesen waren. Manchmal war es eine ganze Gruppe, die ein Maschinengewehr umgelegt hat. Es ist nur gut, daß das menschliche Herz Grenzen der Aufnahmefähigkeiten hat. Es legt sich dann wie ein Panzer um die Seele. Man glaubt, nichts mehr zu empfinden. Ich kam durch eine Landschaft, die mir aus früheren Kriegsjahren noch vertraut war, aber die jetzt ihr Antlitz völlig geändert hatte. Ich sprach schon andeutungsweise von dem Hindenburgrückzug von 1917. Inzwischen war dieses Gebiet hauptsächlich von den Engländern besetzt gewesen. Die Deutschen hatten auf ihrem Rückzug keinen Baum, keinen Strauch, keinen Brunnen unbeschädigt gelassen. Die Engländer hatten sich durch Aufrichtung von Baracken und ähnlichem behelfsmäßig eingerichtet. Eine meiner ersten Aufgaben als Dolmetscher beim Divisionsstabe bestand darin, daß ich eine englische Brieftaubenbotschaft entziffern mußte. Eine englische Brieftaube war verwundet in unsere Hände gefallen, und man hatte ihr ein Zettelchen entnommen. Das wurde mir vorgelegt. Ich las die folgenden erschütternden Worte: „Wir sind gänzlich eingeschlossen und völlig vergast." Man kann sich ungefähr vorstellen, wie die Menschen zugrunde gegangen sein werden. Ich hatte es mir immer noch nicht abgewöhnt, auch in dem Feind den Menschen zu sehen. Besonders der Gaskrieg erschien mir das Grausigste, was sich überhaupt denken läßt. Nach dem Durchbruch ging unser Vormarsch in Richtung auf Amiens. Ich bekam jetzt sehr viel zu tun, da ziemlich viel Gefangene gemacht worden waren. Ich arbeitete unter einem sehr netten Generalstabsoffizier und bekam auf diese Weise auch einmal Gelegenheit, in den wirklich geistigen Apparat eines Feldzuges hineinzublicken. Diese Generalstabsoffiziere der alten Armee waren die Auslese preußischen Soldatentums. Der Divisionär, der an der Spitze der 231. Infanterie-Division stand, war ein jovialer Herr, der es ausgezeichnet verstand, mit den Mannschaften umzugehen, aber der eigentliche Kopf war der Generalstabsoffizier. Er stellte mir die folgende Aufgabe: „Wir müssen versuchen, aus den Gefangenen herauszubekommen, ob Foch seine Reserven eingesetzt hat oder nicht. Wie Sie das machen, ist Ihre Sache." Meine Aufgabe erforderte nun einen gewissen Takt und eine Einfühlung in die französische Mentalität. Die letztere hatte ich mir in den vergangenen Jahren reichlich erworben. An und für sich war uns selbstverständlich bekannt, daß die französischen Kriegsgefangenen wie alle Gefangenen berechtigt waren, jede Aussage
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unter Berufung auf das internationale Recht zu verweigern. Doch ist es überall üblich, aus den Gefangenen soweit wie möglich Aussagen herauszufragen. Als ich damals einmal unter anderem eine Gruppe französischer Offiziere zu vernehmen hatte, beriefen sie sich auf das ihnen zustehende Recht und verweigerten jede Aussage, worauf ich ihnen sagte, daß ich ihren Standpunkt verstehe. Ich ließ sie abtreten. Ich habe mir oft über die Berechtigung der mir übertragenen Aufgabe Gedanken gemacht. Aber der Soldat hat ja nur zu gehorchen und ist überdies durch den Befehl seiner Vorgesetzten gedeckt. Bei den Soldaten, soweit es sich um Franzosen handelte, ging ich nach kurzer Überlegung folgendermaßen vor. Ich vermied den Eindruck, daß sie vernommen wurden, und mischte mich einfach unter ihre Gruppe. Der Generalstabsoffizier ließ mich, nachdem er gesehen hatte, wie ich das machte, auch völlig selbständig handeln. Ich unterhielt mich zunächst mit ihnen über Allgemeines, über ihre Familie, und daß der Krieg nun für sie zu Ende wäre. Und dann sagte ich so beiläufig: „Bei Ihnen war doch gewiß das soundsovielste Artillerie-Regiment?" Ich nannte ganz willkürlich irgendeine Zahl. Und sofort reagierten die Franzosen in der gewünschten Art und Weise; sie sagten dann: „Ach, monsieur, das ist ganz falsch, bei uns lag das soundsovielste Regiment." Und nun ging es in der Regel mit affenartiger Geschwindigkeit los. Sie nannten alle möglichen Regimenter, die in ihrer Gegend waren, und wenn einer nicht weiter konnte, so fiel der andere ein. Man hatte immer den Eindruck, daß sie hofften, durch möglichst umfangreiche Angaben sich ihr Schicksal zu erleichtern. Für mich lag die Schwierigkeit jetzt im folgenden: Ich durfte mir in ihrer Gegenwart keinerlei Notizen machen, das hätte sofort ihr Mißtrauen erregt. Ich mußte mir alles im Kopf behalten und dann nur von Zeit zu Zeit verschwinden, um dem Generalstabsoffizier zu berichten. Da mich aber die Vorsehung mit einem verhältnismäßig guten Gedächtnis ausgestattet hat, machte mir das keine nennenswerten Schwierigkeiten. Die Haltung der Franzosen empfand ich als sehr wenig soldatisch, und wenn sie in dem gegenwärtigen Krieg im Grunde so völlig versagt haben, so sind mir die Zusammenhänge schon einigermaßen verständlich. Schon nach den Vernehmungen der ersten Tage hatte ich den Eindruck, daß Foch seine Reserven in keiner Weise eingesetzt hatte. Er hatte offenbar den Plan, die deutsche Offensive, die ungeheure Opfer gekostet hatte, sich totlaufen zu lassen und dann erst, wenn der deutsche Stoß verpufft war, mit dem Gegenstoß einzusetzen. Selbstverständlich war es nicht meine Aufgabe, als Dolmetscher beim Stabe die Konsequenzen zu ziehen.
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Ich hatte nur das Gehörte zu berichten. Aber man machte sich doch sein Bild. Eine gewisse Fühlung hatte ich mit dem sehr klugen und sehr menschlichen Generalstabsoffizier. Im Grunde war das Ergebnis der Vernehmungen ein niederschmetterndes. Das ungeheure Blutopfer der Offensive war umsonst. Aus Deutschland waren in diesem Winter 1917/18 die letzten Reserven an Menschen und Material herausgeholt worden, und jetzt sollte das alles umsonst sein! Aber wir hatten es ja schon nicht mehr allein mit den Franzosen, sondern in immer steigendem Maße mit den Engländern und dann auch mit den Amerikanern zu tun. Einige Male hatte ich auch Gelegenheit, mit englischen Kriegsgefangenen in Verbindung zu treten. Aber der Engländer war als Gefangener von heroischer Haltung. Nicht nur, daß er keinerlei Fragen beantwortete, so trug er auch die Schmerzen geradezu vorbildlich. Ich habe Verwundete gesehen, die sehr böse Wunden gehabt haben müssen und die doch keine Miene verzogen. Wenn sie noch etwas Tabak hatten, so zündeten sie sich eine Pfeife an, kauerten sich irgendwo in eine Ecke und gaben keinerlei Zeichen von sich. N u r einen Wunsch hatten sie, nicht mit den Franzosen zusammen sein zu müssen. Die Bundesgenossen konnten sich in des Wortes wörtlicher Bedeutung nicht riechen. Der Engländer war durchschnittlich viel sauberer, und wenn irgendwie dazu die Möglichkeit bestand, so rasierte er sich sofort. Immer wieder fanden wir im Gepäck gefallener Engländer gute Rasierseife. Ich bekam damals einen Eindruck von der ungeheuren Zähigkeit der angelsächsischen Rasse, die, wenn sie erst einmal in eine Sache hineingeht, dann auch versucht, bis zuletzt durchzuhalten. Sehr gelegentlich hatte ich mit italienischen Kriegsgefangenen zu tun, und dabei einmal ein Erlebnis, das mir für die Italiener charakteristisch zu sein scheint. Ein italienischer Soldat trat mir freudestrahlend entgegen, so als ob er eben das große Los gewonnen, nicht als ob er in Kriegsgefangenschaft gefallen wäre. Er sagte, er hätte in Deutschland früher gearbeitet, er wisse Bescheid und würde sich einfach auf die Bahn setzen und wieder dorthin fahren, w o er früher gewesen ist. Er wird wohl wenig erfreut gewesen sein, als er dann in ein Kriegsgefangenenlager kam. Aber dieses Erlebnis war mir doch für italienisches Soldatentum charakteristisch. Wenn man auch nicht verallgemeinern darf, so hatte ich immerhin das Gefühl, daß den italienischen Soldaten die Härte fehlte. Es ist häufig nur ein Rausch der Begeisterung, der ebenso schnell verfliegt, wie er gekommen ist. Am meisten aber hatte ich mit Franzosen zu tun. Ich lernte dabei auch die französische Kommandosprache. Nach der Vernehmung
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war es meine Aufgabe, sie in Gruppenkolonne antreten und nach rückwärts marschieren zu lassen. Der Franzose hat eine gute soldatische Disziplin und ein rasches Auffassungsvermögen, so ging das sehr schnell. All das, was ich erzählt habe, klingt viel harmloser, als es sich wirklich abgespielt hat. Der Divisionsstab lag auf einem Gehöft, das während dieser Vernehmungen unter schwerem Beschuß lag. Der eine verfügbare Keller war für den Stab reserviert, der von dort unten die Leitung des Gefechtes weiter zu führen hatte. Man mußte also sehen, wenn wieder einige schwere Brocken ankamen, wo man irgendwo Deckung nehmen konnte. Dazu kam noch, daß ununterbrochen von vorn (wir waren unmittelbar hinter der Linie) Verwundete gebracht wurden. Wie war mir zumute, wenn ich die Kameraden meiner Kompanie, die ich noch vor wenigen Tagen frisch und gesund gesprochen hatte, nun mit hoffnungslosen Schüssen auf einer Bahre sah und ihnen nicht helfen konnte. Soweit sie mich erkannten, haben sie sich immer gefreut, mich zu sehen. Ich war glücklich, daß ich ihnen wenigstens die Hand drücken konnte. Ich hatte immer ein Schuldgefühl, weil ich nicht bei ihnen war; aber dafür konnte ich nun wirklich nichts. Bei einer solchen Offensive muß nach einer gewissen Zeit die Truppe abgelöst und durch andere ersetzt werden. So wurde auch unsere Division herausgezogen. Damit war meine Aufgabe als Dolmetscher beim Stabe erledigt. Ich wurde zu meiner Kompanie in Marsch gesetzt, die ich irgendwo in einer Scheune sehr dezimiert fand. Es war im Grunde ein trauriges Wiedersehen. Aber der Soldat spricht in keiner Weise über seine Gefühle. Niemand von uns wußte ja schließlich, wer der Nächste sein würde. Nachdem ich gerade bei der Kompanie wieder eingegliedert war, kam der Divisionsgeneral und dankte der Truppe für das, was sie geleistet hatte. Ich bekam also beim Antreten diesen Dank auch, obwohl ich ja die Offensive nicht im Sturm mitgemacht hatte. Zu diesen Tagen beim Divisionsstab möchte ich noch ergänzend bemerken, daß es mir aufgefallen ist, wie außerordentlich verschieden die Verpflegung dort gegenüber dem war, was die Mannschaft erhielt. Die Burschen des Generals waren noch aktive Gardesoldaten, die sehr gut hätten durch ältere Mannschaften abgelöst werden können. Wenn ich auch selbst in diesen Tagen an der soviel besseren Verpflegung teil hatte, so wollte mir doch nicht recht in den Kopf, warum der Frontsoldat schlechter verpflegt wurde als der Stab. Nicht umsonst ging unter der Mannschaft damals das Wort: Gleiches Geld und gleiches Essen, Wär der Krieg schon lang vergessen.
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Es ist immer sehr gefährlich für eine Armee, wenn eine solche Stimmung unter der Mannschaft Platz greift, und sicher haben diese Empfindungen auch zu dem Zusammenbruche beigetragen. Unsere Division wurde nun, abgekämpft wie sie war, an einem etwas ruhigeren Abschnitt der Front eingesetzt, und zwar am Chemin des Dames. So bekam ich also jetzt Gelegenheit, wirklich wieder das Schützengrabenleben mitzumachen, wie ich es schon einmal 1916 bei der Gardefernsprechabteilung kennengelernt habe, aber diesmal nicht mit dem Telefon am O h r , sondern wirklich mit der Waffe in der Hand. Der Chemin des Dames (der Damenweg) ist eine Prachtstraße, die einstmals Ludwig XV. für die Damen des Hofes angelegt hat, damit sie hier die bequeme Möglichkeit zur Erholung und zu Spazierfahrten hätten. N u n war diese Stelle eine der blutgetränktesten Flecke Frankreichs geworden, wenn es auch damals dort etwas ruhiger war. Uns trennte von dem Gegner das kleine Flüßlein der Aillette. Wir lagen eingegraben auf der einen, die Franzosen auf der anderen Seite. Am Tage war nichts zu sehen. Der damalige Krieg war ja immer mehr ein unsichtbarer Krieg geworden. Aber nachts erwachte das Leben. N u r nachts war es möglich, die notwendigste Verpflegung nach vorn zu bringen. So etwa gegen zwei Uhr aß man die einzige warme Mahlzeit des Tages. Wenn man über eine sehr große Energie verfügte, so teilte man sich das Brot und was es sonst noch an Zukost gab ein und hob es sich für den übrigen Tag auf. Aber viele brachten diese Energie nicht auf, sondern aßen alles auf einmal, sehr viel war es nicht, und fasteten den restlichen Tag. Da das Nachvornbringen der Verpflegung auch ziemlich schwierig war, so konnte nur das Notwendigste geschafft werden. Die Aufgabe der Kompanie war eine doppelte; einmal mußte in den Schützenlöchern vor dem Graben Posten gestanden und jede Bewegung auf der anderen Seite genau verfolgt werden. Ich hatte als Unteroffizier die Aufgabe, meine Posten nachts zu revidieren. Selbstverständlich stand nirgends mehr einer allein; aber es ist keine kleine Aufgabe, zwei Stunden unbeweglich in einem Loche zu stehen und angestrengt in die Dunkelheit zu starren. Da bedeutet es sehr viel, wenn der Unteroffizier vom Dienst ab und zu kommt, ein paar Worte flüstert und der Soldat das Gefühl hat, nicht gänzlich verlassen zu sein. Ich habe es selbstverständlich mit dieser Pflicht sehr ernst genommen und niemals eine Runde ausgelassen. Man mußte dann schon rechtzeitig die Parole flüstern, sonst konnte es einem passieren, daß man bei der Nervosität, die in der ersten Linie immer herrscht, von seinen eigenen Leuten einen Schuß bekam. Selbstverständlich durfte man bei diesen Gängen keinerlei elektrische Taschenlampen benutzen. Man mußte
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jedes Loch seines Abschnittes, jede Ecke des Grabens genau kennen, um sich zurechtzufinden. Das einzige Hilfsmittel, das zur Verfügung stand, war ein Stock, mit dem man vorher tasten konnte. Nun bestand aber durchaus die Möglichkeit, daß durch Einschläge der Graben sein Aussehen änderte. Selbstverständlich wäre man rascher vorwärts gekommen, wenn man nicht den Graben entlang ging, sondern quer über das Feld, wo keine Deckung war. In klaren Nächten war das unmöglich. Aber wenn Nebel über der Landschaft war, riskierte man es einmal doch. Dabei hatte ich einmal ein Erlebnis, das mir für einige Minuten fast das Herz stillstehen ließ. Ich war aus der Deckung herausgekrochen, um im Schutze des Nebels rascher vorwärts kommen zu können, und wie das so eben geschieht, hatte ich plötzlich die Orientierung verloren. Ich wußte einfach nicht mehr, wo wir lagen beziehungsweise die Franzosen. Ich wußte nicht, ob der nächste Schritt, denn ich befand mich ja vor unserer Stellung, mich zur Kompanie zurückführen oder zum Gegner hinbringen würde, wie man zugeben wird, keine angenehme Situation. Da tauchte plötzlich aus dem Nebel die Gestalt eines Soldaten auf, und an der Art des Stahlhelms erkannte ich, daß es einer der unseren war, so hatte ich die Richtung wiedergefunden. Der Dienst damals am Chemin des Dames war so eingeteilt, daß wir immer eine gewisse Zeit im vordersten Graben lagen, dann eine Zeit in Ruhe zurückgezogen waren und die dritte Zeit in der Bereitschaftsstellung. In der letzteren hatte ich ein Sperrfeuerkommando. Das will wohl für den Laien näher erklärt werden. Wenn die Infanterie unter starkem feindlichen Beschuß lag und die Gefahr bestand, daß ein Sturmangriff des Gegners einsetzte, dann brauchte sie eigenes Sperrfeuer, das heißt die eigene Artillerie mußte veranlaßt werden, an die Stellen, wo man vermutete, daß der Gegner seine Sturmreserven aufbaute, Sperrfeuer zu legen. Dieses Anfordern des eigenen Sperrfeuers geschah mit Leuchtmunition, und dafür waren wir in der Bereitschaftsstellung da. Denn an solchen kritischen Tagen pflegten in der Regel alle anderen Verbindungen zur eigenen Artillerie abzureißen, das Telefon war dann zerschossen, Meldegänger kamen nicht durch. Die Sperrfeuermunition wies verschiedene Farben auf, und es war natürlich eine große Verantwortung, wenn man dafür eingesetzt war. Der Unterstand der Bereitschaftsstellung war in ganz schöner Lage. Ich hatte von ihm aus noch einige andere Stellen abzugehen, und einige Punkte auf dem Wege zu ihnen waren nur mit einer gewissen Vorsicht zu betreten, weil sie stark vom Feinde eingesehen waren. Manchmal, wenn man so in ruhigen Stunden von der Höhe des Chemin des Dames über das Tal der Aillette sah, dachte man sich, wie
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schön es hier sein müßte, wenn man im Frieden spazieren ging. Es war eine besonders liebliche Landschaft, die nun aber der jahrelange Stellungskrieg in unvorstellbarer Weise zerpflügt hatte. [...] Es hatte sich herumgesprochen, daß unsere Division bei der kommenden Offensive an dieser Stelle zu stürmen haben würde. Wir Unteroffiziere waren einmal zu einem Scherenfernrohr geführt worden, und wir waren dabei genau mit der Stelle vertraut gemacht worden, an der der Angriff angesetzt werden würde. Jeder von uns war sich darüber klar, was ein Angriff gegen die Stellung der Franzosen am Chemin des Dames bedeutete. Darüber sprach man selbstverständlich nicht; denn keiner hätte dem anderen das Herz schwergemacht, und es wäre ja auch eine unsoldatische Haltung gewesen. U m noch sicherer zu gehen, wie es drüben aussah, wurde eine Unteroffizierspatrouille unter Führung der Offiziere angesetzt. An dieser Fernaufklärung nahm ich auch teil. U m gut klettern zu können, ließen wir die Gewehre zu Hause, denn es kam ja nicht darauf an, mit dem Feinde ein Gefecht aufzunehmen, da es sich ja eben um eine Aufklärungspatrouille handelte. Wir mußten also die Aillette überschreiten und an unserer vordersten Linie vorbeikommen, die verständigt war. Es ist ein eigenartiges Gefühl um so einen Gang durch das Niemandsland, das von den Granaten zerwühlt war. Wir standen nun, als wir die Aillette überschritten hatten, ganz allein auf uns selbst gestellt und waren darauf gefaßt, einen Zusammenstoß mit dem Gegner zu haben, den wir nicht suchen sollten. Wegen der kurzen Nächte stand nur sehr wenig Zeit zur Verfügung, und wir mußten uns beeilen, um mit unserm Auftrag fertig zu werden. Die Patrouille gelang aber, und wir bekamen einen ausreichenden Einblick in die Stellung des Gegners. Als wir unsere eigenen Linien nachher wieder überschritten hatten, hatten wir das Gefühl, daß uns das Leben gewissermaßen neu geschenkt war. In solchen Augenblicken empfindet man es besonders herrlich. In den Morgenstunden kamen wir zurück und wurden natürlich beglückwünscht, als wir uns wieder zurückmeldeten. D a es nun einmal meine Art ist, mich mit starken Eindrücken, die ich empfangen habe, schriftlich auseinanderzusetzen, so habe ich später, aber immerhin noch unter dem frischen Eindruck des Erlebten, als die Armeezeitung der III. Armee ein Preisausschreiben erließ, in dem ein eigenes Erlebnis wahrheitsgemäß geschildert werden sollte, diese Patrouille beschrieben und dafür dann auch einen Preis bekommen 2 7 . O f t , wenn ich später
2 7 SV N r . 67 und 68 sind Beiträge Cohns in der Zeitschrift „Der ChampagneKamerad". Ein Preisausschreiben dieser Zeitschrift konnte nicht ermittelt werden.
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gerade diesen Aufsatz zur Hand nahm, stiegen jene Stunden jenseits der Aillette vor meinem geistigen Auge immer wieder auf. So kam der Juni heran und damit die zweite Offensive des Feldzuges des Jahres 1918. Wenn ich auch an dieser Stelle im wesentlichen nur das schildern will, was ich selbst erlebt habe, so darf ich hier für diejenigen, denen die Ereignisse dieser Zeit im einzelnen nicht mehr vor Augen stehen können, etwas zu der allgemeinen Lage bemerken. Nachdem die Märzoffensive nicht das Resultat gehabt hatte, das man von ihr erwartete, mußte man den Versuch machen, an einer anderen Stelle der gegnerischen Front durchzukommen; denn die Zeit arbeitete für die Gegner. Immer mehr machte sich der Einsatz der Amerikaner bemerkbar, und auf noch einen Kriegswinter wollte man es, wenn irgend möglich, nicht ankommen lassen. Die Stimmung bei uns war gewiß nicht mehr jene himmelstürmende des August 1914, sondern eben von jener eisernen Verbissenheit des langjährigen Frontsoldaten, der seine Pflicht tat, auch wenn er schon nicht mehr so davon überzeugt war, w o die Reise hinging. Man hatte schon zuviel gesehen und gehört, um so gänzlich davon überzeugt zu sein, daß alles zum besten stand. Trotzdem aber wußte jeder von uns, daß, wenn es darauf ankam, man eben das täte, was von uns verlangt war. Es wurde gewiß schon viel raisonniert, aber die Kampfkraft der Truppe war in keiner Weise erschüttert. Man wird vielleicht heute bei denen, die, schon aus einer anderen Zeit stammend, den Dingen ferner stehen, nicht mehr begreifen, daß die Tradition eines Garderegimentes etwas Besonderes in sich schloß. Und doch war das so. Ich habe oft später vor dem Denkmal in Potsdam gestanden, w o auf dem Sockel eines Gardedenkmals (ein fridericianischer Soldat ist einem Soldaten des Weltkrieges gegenüber gestellt) die lateinischen Wort stehen: Semper idem (immer derselbe). Diese preußische Garde hat wenig gefragt, wofür und weswegen; sie hat eben das getan, was man von einem Soldaten erwartet. [...] Wir waren schon angetreten, um zum Sturme eingesetzt zu werden, da kam plötzlich der Befehl, es sollten von den Unteroffizieren einige zurückgestellt werden, aus denen eine Führerreserve zu bilden war. Offenbar rechnete man mit hohen Verlusten, gerade aus der Zahl der Unteroffiziere, und wollte deswegen einige für die nächsten Gefechte bewahren. Ich wurde zu dieser Reserve eingeteilt und habe infolgedessen den Sturm auf den Chemin des Dames nicht mitgemacht. Ich weiß nicht, ob man begreifen wird, daß mir das doch sehr schwer fiel, wenn ich auch wußte, welchem Schicksal ich unter Umständen entging. [...] N u n nahte auch für mich die Zeit, w o ich noch einmal zeigen konnte, was ich soldatisch zu leisten imstande war. Ich wurde als Zugführer
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eingeteilt, obwohl das eigentlich Dienst eines Offiziers bedeutete. Aber wenn es nach vorn ging, nahm man es damit nicht so genau. Anders war es schon, wenn es sich um die Beförderung handelte, die ich nicht erreichte. Da traten die religiösen oder, wie man heute sagen würde, die rassischen Bedenken in den Vordergrund. Wir marschierten in der Richtung nach der Marne. Es war alles noch ziemlich im Fluß, und die Orientierung war schwierig; unter schwerstem Beschuß näherten wir uns der vordersten Linie. Unsere Kompanie war ganz auf sich gestellt, und wir waren gerade bei sehr heftigem Granatfeuer zu einer Atempause in den Kellern eines gänzlich zerschossenen Dorfes für wenige Augenblicke untergekommen. Wir waren ja alle auf das Schwerste bepackt, denn selbstverständlich nahm man an Munition so viel mit, wie man irgendwie schleppen konnte. Kaum saß ich mit meinem Zuge in dem Keller, so holte mich ein Melder zum Kompanieführer. Er erklärte mir, er hätte die Orientierung völlig verloren und wüßte nicht mehr, w o er sei. Ich sollte mir zwei Leute aussuchen und mit ihnen auf Patrouille gehen, um die Lage festzustellen. Wir hatten keine Ahnung, ob das nächste Dorf schon in den Händen der Franzosen war oder nicht. Es ist sehr leicht, sich auf Grund einer Landkarte zurechtzufinden, wenn man eben einen Anhaltspunkt hat; es ist aber sehr schwer, dies zu tun, wenn man überhaupt nicht weiß, w o man ist. Außerdem konnten wir in der Lage, in der wir uns befanden, kein Streichholz anstecken, um die Gegend abzuleuchten. Ich kletterte also mit meinen Leuten in der Gegend herum und tat mein Möglichstes; aber der Erfolg war negativ. Es war mir nicht geglückt, genau festzustellen, in welchem Orte wir lagen. Als ich mich wieder zur Kompanie zurücktastete, war dort inzwischen ein Verbindungsoffizier eingetroffen, der uns Bescheid sagen konnte, und so war die Kompanie in der Lage, sich nach der richtigen Seite in Marsch zu setzen, w o wir eigentlich hin sollten. Wir landeten in den Kellern eines Vorortes von Château-Thierry, der sich an die Höhen des nördlichen Marneufers anlehnte. Damals gehörte uns nur ein Teil dieses Ortes; die Marne, die nun schon so oft Deutschlands Schicksalsfluß geworden war, bildete die Grenze. Wie sich später herausstellte, lagen wir genau an der Schnittstelle der amerikanischen und der französischen Front. Einem Teil der Kompanie gegenüber lagen die Amerikaner, einem anderen Teil die Franzosen. Bei den letzteren war es nur eine sehr geringe Entfernung. Zunächst aber blieben wir, ehe wir unsere Schützenlöcher bezogen, in den Kellern. Auch diese lagen dauernd unter schwerem Geschütz, und wir bekamen all das
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zu spüren, was Präsident Wilson damals in reicher Fülle über den Ozean schickte. Wie es so im Soldatenleben geht, auch die größte Gefahr ließ die Sorge oder die Freude auch an den täglichen Dingen nicht untergehen. Unsere Leute hatten ein Schwein entdeckt und ihm den Garaus gemacht. Außerdem hatten sich in diesen Kellern nicht unerhebliche Mengen von gutem französischem Wein gefunden, wie überhaupt ja diese Offensiven Genüsse brachten, die wir schon lange nicht mehr kannten. Was für herrliche Büchsen von Corned beef hatten zum Beispiel die Engländer! Die Folgen dieses Schweineschlachtens waren furchtbare: Selbstverständlich hat kein Fleischbeschauer das Tier auf Trichinose untersucht; wer dachte damals an so etwas, und wenn einer daran gedacht hätte, so hätte er sich gesagt, daß er die Folgen dieser Krankheit wahrscheinlich nicht erleben würde. Trotz des Rotweins bekamen wir meistens, eben wohl auch als Folge der Unterernährung der letzten Zeit, gräßlichen Durchfall, aber jedes aus dem Keller Herauskriechen, um seine Notdurft zu verrichten, bedeutete auch äußerste Lebensgefahr. Ich möchte es mir ersparen, auf diese kleinen Dinge einzugehen, die aber im Augenblick doch eben auch ihre Bedeutung hatten. Vor jenem Keller von Chateau-Thierry bin ich auf eine Patrouille gegangen, die den Zweck hatte, festzustellen, wie weit der Gegner war. Die Aufgabe war insofern damals nicht leicht; ging man vor seinen Soldaten, so war man nicht sicher, wer nachkam, ging man hinter seinen Soldaten, so mußte man dauernd drücken, daß die Vorngehenden auch wirklich vorgingen. Man mußte rechts und links an der Chausseeseite in Deckung bleiben. Jene Juninacht werde ich auch niemals vergessen. Es lag ein schwerer Duft von Rosen in der Luft, gemischt aber mit den schaurigen Hauchen des Todes und der Verwesung. Wer hatte damals Zeit, die Toten zu begraben. Ich bin in späteren Jahren, als ich nach Paris fuhr, im D - Z u g an Chateau-Thierry vorbeigesaust. Von dort sind es etwa nur noch achtzig Kilometer bis Paris, und der Zug hält nicht mehr. Ich habe vom Gange des D-Zuges genau die Stelle wiedererkannt, wo wir damals gesteckt haben. Es war immer meine Sehnsucht gewesen, noch einmal dorthin zu kommen und diese Stätte, die mir durch den Einsatz des Lebens vieler Kameraden teuer geworden ist, zu betreten. Mein ältester Sohn ist dann, als er in Paris Student war, häufiger in Chateau-Thierry gewesen und hat mir darüber berichtet. Nach den Tagen in jenem Keller kamen wir dann noch in Schützenlöcher. Es gab keine ausgebauten Stellen mehr, keine Schützengrabensy-
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steme mit tiefen Unterständen und Annäherungsgräben, so wie das am Chemin des Dames in vielen Jahren ausgebaut worden war. Es waren nur Löcher, in denen man liegen konnte und die, wenn man fiel, über einem zugeschaufelt wurden, falls dazu Zeit war. Ich war glücklich, als ich in einem solchen Loch noch einen Mantel fand, den jemand dort liegengelassen hatte, der ihn vielleicht für seine Reise in die andere Welt nicht mehr brauchte. Ich richtete mich so gut es ging ein. Einige Meter vor den Löchern lagen unsere Posten. Es war nun wieder meine Aufgabe, zu ihnen zu kriechen und bei ihnen zu sein, wofür sie mir unendlich dankbar waren. Manchmal sagten sie, daß sie es gar nicht erwartet hätten, aber ich sagte ihnen, daß das doch selbstverständlich wäre. Dabei ist übrigens zu erwähnen, daß die Lage gegenüber dem Feinde solche Reden nicht gestatteten, sondern daß man sich das nur andeutungsweise mitteilen konnte. Wir mußten übrigens damals mit den Parolen besonders vorsichtig sein, denn uns gegenüber lagen Deutschamerikaner, die die gleiche Muttersprache hatten. Wir waren extra darauf hingewiesen worden. Den ganzen Tag sausten die Maschinengewehrkugeln, aber wir wußten, daß die Kugeln, die wir hörten, uns nicht mehr galten. Die Kugel, die für einen selbst bestimmt ist, kann man nicht hören. O f t saß man auf der Latrinenstange, denn das ließ sich ja auch nicht vermeiden, und die Kugeln schwirrten. Da es eine Waldstellung war, gab es sehr viel Querschläger, die sehr unangenehme Verletzungen zur Folge hatten. Am bösesten hatten es damals die Essenholer. Das Wenige, was der Kompanie zugeführt werden konnte (es war nur ein halbes Kochgeschirr von warmem Essen für vierundzwanzig Stunden und sehr wenig zum Trinken), mußte nachts herangeschafft werden. Nachts aber lagen alle diese Wege unter schwerem Beschuß. Die Neigung, die Kochgeschirre wegzuwerfen, war groß, aber das Essenholen mußte erzwungen werden, sollte nicht die Kampfkraft der Kompanie auf ein Minimum zusammensinken. Sie war sowieso nicht mehr sehr groß, denn anstelle der planmäßigen Stärke von 250 Mann hatten wir nur noch 100. Zeitweise war man so erschöpft, daß man sogar einen Angriff verschlief. Ein Angriff richtete sich nicht gegen meinen Zugabschnitt, sondern eben gegen den des Nachbarzuges der Kompanie. Ich habe davon nichts gehört. Ich machte nachher dem Kompanieführer, mit dem ich sehr gut stand, Vorwürfe, warum er mich nicht geweckt hatte, aber er sagte, daß er das nicht über das Herz gebracht hätte. Wir lagen in dieser Stellung eine ganze Zeit. Bei der Knappheit an Truppen mußten wir verhältnismäßig länger dort liegen als es beim Gegner der Fall war. Die Franzosen und Amerikaner wurden in kürzeren
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Zwischenräumen abgelöst und wurden auch mit Lastautos bis an die vorderste Linie gebracht. Als wir abgelöst wurden, erschien ein Regiment, das bisher in Rußland gestanden hatte, w o ja nach dem Waffenstillstand die Truppen überflüssig geworden waren. Aber diese Infanteristen, die aus Rußland kamen, wußten nicht mehr, was Schützengrabenkrieg im Westen bedeutete. Sie wollten sich auf einer Entfernung von achtzig Meter vom Feind Zigaretten anzünden. Wir hatten in diesen Löchern auf jener H ö h e genau gewußt, wie wir uns zu benehmen hatten. Denn der Franzose, der außerordentlich wachsam war, reagierte auf jedes Geräusch mit Feuer. Durch die Ungeschicklichkeit der uns ablösenden Truppen und dadurch, daß Geräusche entstanden, merkte man drüben, daß Ablösung kam, und infolgedessen wurde sofort vom Gegner auf die Wege, über die wir wegmußten, Sperrfeuer gelegt. Wir hatten beim Rückmarsch Verluste, obwohl wir in Kolonne zu einem, das heißt einer hinter dem anderen liefen. Ich werde nie vergessen, wie aus dem Dunkel der Nacht immer wieder die Rufe der verwundeten Kameraden ertönten: „Sanitäter, Sanitäter!" [...] Jener nächtliche Rückmarsch fand uns dann, die wir übrig geblieben waren, irgendwo auf einer Waldwiese. Es ist dann ein merkwürdiges Gefühl, wenn man die Blicke durch die Kompanie gehen läßt und sich fragt, wer übrig geblieben ist und wer nicht. Zuerst braucht man einige Minuten, um überhaupt zu wissen, daß man noch da ist und um Atem zu holen. U m während der ganzen Infanteriezeit nicht schlapp zu machen, hatte ich mir immer Cola-Pastillen von zu Haus schicken lassen, die einen frisch erhielten. Die negativen Wirkungen auf das Herz habe ich dann bis zur Gegenwart nicht überwunden. Aber danach fragte ich damals gewiß nicht, w o mir alles darauf ankam, unter gar keinen Umständen schlapp zu machen. Und das habe ich ja schließlich auch damit erreicht. Wie wir in den nächsten Tagen aus dem Heeresbericht lasen, hat das Regiment, das uns ablöste, die Höhe, die wir gehalten hatten, dann nicht mehr halten können. So waren unsere O p f e r umsonst. [...] Wir lagen also jetzt in einem kleinen Dorfe, und ich hatte unter anderem die Aufgabe, das, was wir vorne erfahren hatten, in das amtliche Kriegstagebuch einzuschreiben, das jede Truppe zu führen hatte. Diese Kriegstagebücher der kämpfenden Truppen aus dem Weltkriege befinden sich heute in dem Reichsarchiv in Potsdam, und vielleicht ist einmal für später nicht ganz uninteressant, daß den Bericht über die Kämpfe bei Chäteau-Thierry der Unteroffizier C o h n verfaßt hat. In diesem Dorfe endete nun meine Frontkämpferzeit nach fast vier Jahren, und damit hatte es folgende Bewandtnis. Ich hatte eine sehr unangenehme Vereiterung am Fuß, von der ich aber hoffte, daß sie bei
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der Truppe ausheilen würde. Ich dachte nicht im entferntesten daran, deswegen in ein Lazarett zu gehen. Als ich im Dorfe im Quartier lag, erschien plötzlich der Feldwebel bei mir und überbrachte mir einen Überweisungsschein für das Lazarett. Ich wollte durchaus nicht gehen, aber der Feldwebel sagte mir, daß ich gehen müßte. Ich sollte auch an meine Familie denken, befördert würde ich doch nicht, trotz aller Mühe, die ich mir gegeben habe. Der Kompanieführer hätte einmal gesagt, er möchte nicht zur Verjudung des deutschen Offizierskorps beitragen. Dieser Kompanieführer hatte uns übrigens nicht in die Stellung in Chäteau-Thierry begleitet. Es kam öfters vor, daß manche Herren, wenn es besonders brenzlich war, nicht anwesend waren. Immer opferten sich die Besten auf, und die Drückeberger verschwanden rechtzeitig. So ist zum Beispiel der erste Kompanieführer, den ich bei der 7. Kompanie des Infanterieregiments 443 kennenlernte, gleich in den ersten Kämpfen im März gefallen. D e r Offizier, von dem ich erzählte, daß ich in den Löchern am Chemin des Dames mit ihm besonders gut stand, war nicht der eigentliche Kompanieführer. Der, der jene Äußerung getan haben soll und sicherlich auch getan haben wird, war ein Apotheker Heinemann aus Berlin. Vielleicht war es gar ein getaufter Jude oder ein Judenstämmling. Unsere jüdische Geschichte hat ja häufig genug bewiesen, daß die „Pfefferkorns" die allerschlimmsten waren 2 8 . D e r etatsmäßige Feldwebel war ein prachtvoller Kerl. Wir haben menschlich sehr gut harmoniert, und er hat immer anerkannt, welch ungeheure Mühe ich mir gab, manchmal mehr, als meine Körperkräfte erlaubten. Als ich dann von der Truppe schon längst weg war, hat er sich auch die größte Mühe gegeben, noch nachträglich meine Beförderung wegen Tapferkeit vor dem Feinde zu erreichen. Dies ist ihm aber eben bei der Einstellung dieses Kompanieführers nicht geglückt. So nahm ich sehr ungern von der Truppe Abschied. Die anderen lachten mich wohl deswegen aus und sagten mir, daß ich nun wohl doch genug vom Kriege haben dürfte. Aber mir war gerade dieses Infanterieregiment im stärksten Sinne Heimat geworden. Ich glaubte wohl damals, daß die Verletzung am Fuß verhältnismäßig rasch ausheilen würde. Ich machte den üblichen Weg durch die Leichtkrankenstelle und verschiedene Feldlazarette, bis ich in ein großes Lazarett kam, das in einem eroberten englischen riesigen Zelte untergebracht Johannes Pfefferkorn (1469-1522/23); getaufter Jude, antijüdischer Schriftsteller. 28
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war. Hier packte mich nun, unabhängig von dieser Fußverletzung, jene böse spanische Grippe, die 1918 die Menschheit heimsuchte und die so sehr viele Opfer erforderte. U m die Zustände in jenem Lazarett war es zunächst böse bestellt. Die Kranken und Verwundeten entbehrten einer ordnungsmäßigen Pflege. Die Rote-Kreuz-Schwestern, die dort beschäftigt waren, kümmerten sich herzlich wenig. Da wurde es mit einem Schlage anders, als bayerische Nonnen das Lazarett übernahmen. O h n e irgendeinen Ton zu reden, schufen sie Ordnung. Sie sorgten zunächst dafür, daß die Soldaten das ihnen zustehende Essen bekamen und daß es nicht irgendwie verschwand. Ich habe vor diesen Frauen, die diese schwere Pflege ganz vorn leisteten und die das ohne materielle Entlohnung aus Treue für ihren Glauben taten, immer die größte Achtung gehabt. Wenn ich an jene Krankheitstage denke, so packt mich noch oft nachträglich ein Gruseln. Bei furchtbar hohem Fieber mußte man nachts aus dem Zelt herauskriechen, um seine N o t d u r f t zu verrichten, bis schließlich ein Kamerad sich meiner erbarmte und mir eine alte Konservenbüchse für diese Zwecke verschaffte. Damals hat sich meiner besonders ein Berliner Munitionsarbeiter angenommen. Mit ihm hatte es folgende Bewandtnis. Es war ja, wie ich wohl erst damals von ihm erfuhr, zu einem Streik der Munitionsarbeiter gekommen, die Schluß mit dem Kriege machen wollten. Es ist hier nicht der Ort, um über diese Zusammenhänge zu sprechen, von denen ich ja auch aus eigenem Erleben nichts sagen könnte. Jedenfalls wurden diese Munitionsarbeiter strafweise an die Front geschickt. Für diejenigen von uns, die die Front als Ehrendienst ansahen, war es ein merkwürdiges Gefühl, daß man Menschen strafweise an die Front schickte. Dieser Munitionsarbeiter erzählte mir nun einiges von den Zuständen zu Hause und wie es wirklich aussah. Er war ein rührend gutmütiger Mensch und tat alles, was er für mich tun konnte. Wie die meisten Menschen aus Berlin so hatte er gewiß ein großes Mundwerk, hinter dem sich aber eine Seele von einem Menschen verbarg. Wenn ich überhaupt diese spanische Grippe damals durchmachte, so habe ich es vielleicht nebst meiner guten Konstitution in erster Linie ihm zu verdanken. Ich erinnere mich nicht, irgendeinen Arzt an meinem Krankenbett gesehen zu haben. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich die notwendige Menge Aspirin bekam. Wenn es der Fall gewesen sein sollte, so hat sie mir sicher jener Kamerad gebracht. Vor allem aber sorgte er dafür, daß ich etwas zu essen bekam. Es ist das eines jener stummen Heldenlieder guter Kameradschaft, die man nie vergißt und für die man immer dankbar bleibt. Ich weiß seinen Namen heute nicht mehr,
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weiß nicht, was aus ihm geworden ist, aber halte auch so sein Andenken, ohne daß ich den Namen kenne, gewiß hoch. Als es mir dann besser ging, wollte mich der Oberstabsarzt dazu verwenden, daß ich bei den Operationen, die er vornahm, Protokoll schrieb. Aber schon bei der ersten Operation klappte ich zusammen. Von da an ging es eigentlich mit der Gesundheit rasch bergab. [...] Und zwar versagte das Herz. Ich bekam einen geradezu irrsinnig raschen Puls; eine unangenehme Herzneurose entwickelte sich. Das Wasser lief mir dauernd aus den Achselhöhlen. Ich war restlos fertig und heimatreif. Es ist ja wohl häufiger im Leben so, daß, solange man in einer Strapaze steht, man es schafft, aber in dem Augenblick, wo man nicht mehr den äußeren Impuls in sich fühlt, daß es sein muß, dann hört es eben auf. So ist es auch mir gegangen. So landete ich schließlich in einem Leichtkrankenzuge, der mich nach Deutschland bringen sollte. Selbstverständlich wußte man nicht, wohin die Fahrt ging; wahrscheinlich bekamen auch diese Lazarettzüge erst unterwegs ihre Befehle. Was war das für ein Gefühl, als man nun wieder auf deutschem Boden war! Wir fuhren durch die Eifel hindurch, eine Gegend, die ich Jahrzehnte später noch einmal flüchtig auf einer Vortragsreise sah und die mir aus der Literatur durch das schöne Buch der Clara Viebig „Die Kinder der Eifel" bekannt war 29 . Dann ging es über den Rhein. Die großen Städte wurden meist umgangen. Ich sehe noch in Gedanken vor mir, wie ein altes Mütterchen, als unser mit den Zeichen des Roten Kreuzes gekennzeichneter Zug langsam durch das Gelände fuhr, mit dem Taschentuch betrübt winkend am Wege stand. Als sich dazu Gelegenheit ergab, telegrafierte ich nach Hause. Das war eigentlich verboten; aber ein Eisenbahner beförderte mir aus Gutmütigkeit das Telegramm. Mit solchen Verboten nahm man es nicht genau. Um Berlin fuhren wir nachts herum, und nun ging es immer weiter nach Osten. Ich hatte schon gehofft, daß es Schlesien sein würde; aber es ging noch weiter. Ich kam in die äußerste Ecke des Deutschen Reiches. Auch durch die Stadt Posen kamen wir hindurch, die ich ebenfalls erst später auf einer Vortragsreise kennenlernte, als der Ort schon polnisch geworden war. Schließlich stellte es sich heraus, daß unser Lazarettzug für Ostpreußen bestimmt war. Wie wurden auf mehrere Orte verteilt. Ich gehörte zu dem Transport, der an dem letzten in Frage kommenden Ort 29
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Clara Viebig (verheiratete Cohn): Die Kinder der Eifel. Novellen. Berlin
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ausgeladen wurde, und zwar in Insterburg. Es wäre eigentlich nur noch ein oder zwei Orte weitergegangen, dann war Deutschland zu Ende. Ich kam in Insterburg in die Reservelazarettabteilung Augustastraße. Das war ein ehemaliges Lyzeum, das für Lazarettzwecke eingerichtet worden war. Ich selbst kam in die Aula. Selbstverständlich habe ich meine Ankunft sofort nach Hause telegrafiert, und meine Frau kam auch gleich hin. Die Kriegerfrauen durften nach den Lazaretten fahren und bekamen auch für diese Reisen eine Fahrermäßigung von fünfzig Prozent. Sofort erschien auch mein Bruder Martin, dem keine Reisestrapaze zu groß war, wenn es hieß, die Geschwister zu besuchen. [...] An jene Zeit in Insterburg denke ich gerne zurück. Man tut in der Regel Insterburg mit dem Scherzwort ab: „Was gibt es Neues in Insterburg?" N u n für mich gab es da sehr viel Neues. Nach jahrelangem Kriegsdienst endlich einmal eine friedliche Landschaft. Als es mir dann besser ging und ich die Erlaubnis dazu hatte, ging ich auch öfters in der Umgegend spazieren. Ich freute mich an den lieblichen Wegen und an der schönen Natur; es war ja Hochsommer. Auch in die Synagoge bin ich natürlich gegangen. Es war üblich, daß man solche Wege sogar in Lazarettkleidung machte. Die Uniform lag unter Verschluß und wurde nur selten ausgehändigt. Vielleicht fürchtete man, daß einzelne Soldaten sich „verkrümelten". Manchmal wurden wir auch zu irgendeiner Zerstreuung in Lazarettkleidung geführt. Ich hatte immer darauf gewartet, daß von der Synagogengemeinde einmal jemand kommen würde, um sich zu erkundigen, ob jüdische Soldaten im Lazarett wären. Das ist aber niemals geschehen. Es war eben schon Sommer 1918 und der Krieg mehr oder weniger zu einer Alltäglichkeit geworden, von der man nicht mehr Notiz nahm, als unbedingt notwendig. Es war eben doch ein großer Unterschied zu den Augusttagen von 1914, als wir auszogen. Wir hatten uns das ganz anders vorgestellt. Auch damit mußte man sich nun wie mit so vielem anderen abfinden. Aber vielleicht ist auch das Folgende ganz charakteristisch. An jedem Sonntag fanden wir auf unserem Bett ein Ei und ein Stück Butter vor, das der Landadel für die verwundeten und kranken Soldaten brachte. Ich war ja damals in jener Hochburg des Preußentums, jenes Preußentum, das Deutschland letzten Endes, wenn es noch so dick kam, immer wieder gerettet hat. Ich habe mich allmählich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß in jenen Kreisen mit die besten Kräfte des deutschen Volkes liegen. Ich bitte mir aber zu glauben, daß diese Erkenntnis in mir nicht groß geworden ist, weil ich damals ein Stückchen Butter und ein Ei bekam. Ich glaube,
Im Ersten Weltkrieg (1914-1918)
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daß ich mich in meinem Leben in der Beurteilung der Dinge soweit wie möglich immer fern von dem Materiellen gehalten habe. Als meine Frau mich damals in Insterburg besuchte, haben wir auch gemeinsam hier und da ein Gartenlokal besucht; aber schon entstanden am Horizont des Lebens neue Fragen, wie man sich mit einer mehr oder weniger defekten Gesundheit nun in das Leben und in das Leben mit einer jungen Frau zurückfinden sollte. Unser Leben ist nun einmal so eingerichtet, daß, wenn ein Problem zu Ende ist, dann ein anderes aufsteigt. Auch das ist etwas, dem wir Menschen nicht entgehen können.
V. M E I N W E G Z U M Z I O N I S M U S
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„Die Rechtfertigung vor der Geschichte ist etwas, um dessentwillen sich zu leben lohnt." Von Insterburg aus nahm ich auch vorsichtig die Fäden zu meinem Zivilberuf wieder auf, aber das konnte sich alles erst entscheiden, wenn ich nach Breslau zurückkam. Zunächst betrieb ich meine Verlegung in das Jüdische Krankenhaus nach Breslau 1 . Das ist mir nicht geglückt. Dafür kam ich in das Kloster der Borromäerschwestern nach Trebnitz. Wenn ich auch zuerst darüber traurig war, daß es nicht Breslau sein konnte, so habe ich später jenen Tausch gewiß nicht bedauert. Die Borromäerinnen haben uns mit rührender Liebe gepflegt, und es wurde viel besser für uns gesorgt, als das in Insterburg der Fall war, wo uns weltliche Schwestern zu pflegen hatten. Wieder einmal sah ich, was es bedeutete, wenn man sich seinem Berufe aus tiefster religiöser Kraft hingab. Es war eben Dienst am Kranken und Verwundeten, den man hier leistete, aus der Kraft des Glaubens heraus. Man war auch zu uns Andersgläubigen außerordentlich taktvoll. Niemals ist der Versuch gemacht worden, auf unsere Seelen irgendwie einzuwirken. Von den katholischen Mannschaften wurde erwartet, daß sie dem G'ttesdienst in der Klosterkirche beiwohnten; an uns ist man aber deshalb nie herangetreten. An jedem Morgen erschien eine Novizin und stellte sich an die Tür des Krankenzimmers und betete für uns. In diesem Lazarett bin ich nun allmählich zur Ruhe gekommen. Das Herz fing an, sich ein wenig zu beruhigen und nicht mehr in diesem irrsinnigen Tempo zu klopfen. Ich bin damals selten spazierengegangen. Noch war ich nicht so weit, daß ich die Berührung mit dem Leben allzusehr suchte. Wir hatten auch einen herrlichen großen Klostergarten innerhalb der Mauern zur Verfügung, so daß wir nichts von der Welt Zum Breslauer Jüdischen Krankenhaus, der größten jüdischen Einrichtung dieser Art im Deutschen Reich vgl. A. Reinke: Stufen der Zerstörung: Das Breslauer Jüdische Krankenhaus während des Nationalsozialismus; in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 5 (1994), S. 379-414. 1
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sahen. Dort saß ich sehr gerne. Da es nun schon Herbst war, brachte mir eine Schwester ab und zu einen Apfel. Auch mit der Verpflegung war es in Trebnitz nicht schlecht bestellt. Dieses Kloster ist seit ungezählten Jahrhunderten tief mit der Bevölkerung verwachsen. Was das Land für seine Nonnen und ihre Pfleglinge erübrigen konnte, das brachte man schon herein. In Trebnitz bestand auch eine kleine jüdische Gemeinde, in der ich in späteren Jahren oft gesprochen habe. Auch hier hatte ich gehofft, daß mich einmal jemand besuchen würde. Zwar behauptete später der Vorsteher der Gemeinde, daß seine Frau regelmäßig die jüdischen Soldaten besucht hat, doch habe ich persönlich davon nichts gemerkt. Bei der Nähe von Trebnitz zu Breslau bekam ich nun häufiger Besuch von zu Hause. Auch mein kleiner Sohn Wölfl begleitete meine Frau einmal auf einem solchen Besuche. Er hat, woran er sich selbst noch lange erinnerte, auf meinem Bett im Lazarett geschlafen. Wir gingen an diesem Tage nach dem schönen Buchenwalde hinaus. Es hat dem kleinen Manne sehr viel Spaß gemacht. [...] Allmählich gewöhnte er sich daran, daß nun ein Vater, von dem er bisher nicht allzuviel gewußt hatte, in sein Leben trat. Ich habe auch von Trebnitz dann einmal Urlaub nach Breslau gehabt, wie das am Schluß der Lazarettzeit üblich zu sein pflegte. Schließlich wurde ich im Oktober als dauernd dienstunfähig zu meinem Ersatztruppenteil entlassen. Dieser Ersatztruppenteil war das 4. Garderegiment zu Fuß in Berlin-Moabit. So kam es, daß ich am Ende meines bewegten Militärdienstes noch einmal bei einem aktiven Garderegiment Dienst tat, soweit ein solcher überhaupt in Frage kam. Ich wurde zunächst der Verwundetenkompanie zugeteilt, und wir wurden noch als Genesende behandelt. Ich bekam auch die Erlaubnis, außerhalb der Kaserne zu wohnen und mietete mir unweit von ihr ein möbliertes Zimmer. So bin ich also auch einmal „möblierter H e r r " in Berlin gewesen. Die Unteroffiziere dieses Garderegiments besaßen ein sehr schön eingerichtetes Unteroffizierskasino, w o wir unsere Mittagsmahlzeiten einnahmen. Ich bekam damals zum ersten Mal auch einen Einblick, wie außerordentlich knapp es mit der Verpflegung der Zivilbevölkerung aussah, während ja für uns Soldaten immer noch ganz ordentlich gesorgt wurde. Von nahestehenden Verwandten lebten vor allem Onkel und Tante Goldstücker in Berlin. Als ich der Tante einmal mitteilte, daß ich ein halbes Kommißbrot übrig hätte, da kam sie zu mir gefahren. Die Ausgabe für zwei Verkehrsmittel stand in keinem Verhältnis zu dem Werte eben eines halben Kommißbrotes. Dieser Hunger, der die Berliner Bevölkerung zunehmend quälte, hat sicher zu einem erheblichen
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V. Kapitel
Teile den Verlust des Krieges herbeigeführt. Ich habe niemals an die Dolchstoßlegende geglaubt2. Die kurze Zeit meines Aufenthalts in Berlin sollte aber ziemlich stürmisch zu Ende gehen. Damals bereitete sich die Revolution vor. Mit äußerster Spannung verfolgte man Tag für Tag die Zeitungen. Ich will mich hier nur auf das beschränken, was ich persönlich erlebte. Als Anfang November 1918 alles auf irgendeine Lösung hindrängte (es waren die Tage der Kanzlerschaft des Prinzen Max von Baden) und die Revolution schon in der Luft lag, kamen wir wenig aus der Kaserne heraus. Aus uns Unteroffizieren bildete man einen Stoßtrupp. Wir übten noch einmal mit Übungshandgranaten im Hofe der Kaserne des 4. Garderegiments. Die Vorgesetzten erwarteten von uns, daß wir, wenn es zu einer Revolution kam, gegen die Bevölkerung gehen würden. Es war aber nicht einer unter uns, der dazu entschlossen war. Bei aller militärischen Disziplin lebte in uns die Überzeugung, daß wir kein Recht hatten, gegen Deutsche mit der Waffe vorzugehen. In jenen Nächten vor dem 9. November mußte ich im nächtlichen Berlin schwer bewaffnet Patrouille laufen. Jedoch riskierte man schon nicht mehr, einen Einzelnen hinauszuschicken; wir gingen immer zu zweien. Es war keine angenehme Mission, zumal diese Patrouillen durch Gegenden führten, die von der Berliner Bevölkerung bewohnt waren. Sie sah in dem Soldaten, der bewaffnet durch die Straßen ging, ihren Feind. So bin ich damals in der Gegend um die Putlitzbrücke Patrouille gegangen und durch die Gegend nach dem Stettiner Bahnhof. Als ich dort in den frühen Morgenstunden ankam, strömte die Bevölkerung gerade aus dem Bahnhof wieder heraus, es ging kein Zug mehr. In diesen Tagen tauchten auch in Berlin die ersten revolutionären Matrosen aus Kiel auf, die verhaftet wurden. Da ich in meinem Leben immer gerade zu allem Besonderen zurecht kam, war ich gerade wachthabender Unteroffizier, als sie eingeliefert wurden. Es war eine ziemlich brenzliche Situation, es mit diesen etwas rabiaten Burschen nicht zu einem Zusammenstoß kommen zu lassen. Noch bestand ja offiziell das Kaiserreich, dessen Gardesoldaten wir waren. Immerhin wurden wir mit der Situation insofern rasch fertig, als wir ihnen etwas zu essen gaben und damit zunächst zur Beruhigung der Gemüter beitragen konnten. Als Wachthabender braucht man bekanntlich nicht selbst Wache zu Dolchstoßlegende: Politisches Schlagwort der Rechtsparteien, demzufolge das Volk in der Heimat das „im Felde unbesiegte" deutsche Heer im Stich gelassen habe. 2
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stehen, sondern muß nur im Wachtlokal sitzen, um alle Vorgänge zu kontrollieren und die Leute rechtzeitig auf Posten zu schicken. Ich vertrieb mir damals die Zeit, indem ich einen Chanukka-Artikel für die Allgemeine Zeitung des Judentums schrieb, für die ich damals gerade besonders eifrig arbeitete3. Dieser Artikel war von glühender zionistischer Gesinnung erfüllt; ich habe ja über diese meine Wandlung schon andeutungsweise gesprochen. Gerade in diesem Augenblicke, als ich im besten Zuge war, kamen die roten Kieler Matrosen. Ich mußte mich nun, wie man heute sagen würde, auf eine andere Wellenlänge umschalten. In diesen Nächten vor dem 9. November durften wir, die wir sonst Genehmigung hatten, außerhalb der Kaserne zu schlafen, dies nicht tun und mußten in der Kaserne bleiben, wo ich zum letzten Mal im Kriege mit dem Ungeziefer Bekanntschaft machte. In den schicksalsreichen Minuten des 9. Novembers waren wir in der Kaserne. Man ahnte wohl, was in der Stadt los war. Bei der Größe Berlins wußte man in dem einen Stadtteil niemals genau, was in den anderen vorging. Wir standen an den Fenstern der Kaserne, da kam ein Auto, das die rote Fahne trug und forderte die Kaserne zur Übergabe auf. Es war wohl schon damals die Anweisung gekommen, daß Blutvergießen unter allen Umständen vermieden werden sollte. Befehlshaber in der Kaserne war ein schwer kriegsverletzter Offizier, der die Verhandlungen mit Würde führte, dann aber der Gewalt wich. Das Ende der Kaiserzeit war gekommen. Man weiß ja, wie sich diese Dinge vollzogen haben. In wenigen Minuten verschwanden die Achselstücke. Die Kokarden verschwanden ebenfalls. Am nächsten Tage waren sie überall in den Militäreffektengeschäften mit roter Umhüllung zu haben. Die meisten machten sich eine rote Armbinde um den rechten Arm. Die Offiziere verschwanden aus dem Stadtbilde. Die Truppe stand eigentlich ohne Kommando da. Es drohte die Gefahr, daß alles auseinanderlief. An dem ersten Nachmittag ging jeder seiner Wege. Damals lebte meine Schwägerin Eva, die Frau meines Bruders Hugo, mit ihrer Familie in Berlin. Ich suchte sie auf. Auch Hugo tauchte in Berlin auf, ebenso wie Rudolf, der sich kurz zuvor in Gardelegen befunden hatte. Da meine Mutter zu ihm auf Besuch gefahren war, so erschien sie wohl, wenn ich mich recht erinnere, auch damals in Berlin, so daß schließlich ein großer Teil der Familie zusammen war. 3 Vgl. SV Nr. 78. Cohns Mitarbeit bei der Allgemeinen Zeitung des Judentums erstreckte sich von 1914 (SV Nr. 17) bis 1922 (SV Nr. 135).
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V. Kapitel
An jenem Nachmittag des 9. Novembers ging in Berlin kein Verkehrsmittel, es war ja Generalstreik. So mußte ich den weiten Weg von Moabit nach der Passauerstraße hin und zurück zu Fuß gehen. Aber was war das schon für einen alten Krieger, der in Frankreich ganz andere Entfernungen bewältigt hatte. Am nächsten Tage mußte bei der Truppe irgend etwas geschehen, damit sie zusammenblieb. Ein Offizier war, wie gesagt, nicht zu sehen. Es ist hier, wie schon angedeutet, gewiß nicht der Ort, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dieses Verschwinden des Offizierskorps richtig oder falsch war. Es wurde ja damals jeder, der sich mit Achselstücken auf der Straße sehen ließ, angepöbelt. Bei dem 4. Garderegiment nahm ein altbewährter Unteroffizier die Leitung des Ersatzbataillons in die Hand. Nach den Anordnungen, die jetzt maßgebend waren, mußte zur Wahl eines Soldatenrates geschritten werden; er wurde zum Kommandanten des Ersatzbataillons gewählt, und ich selbst wurde zum Kompanieführer und Soldatenrat meiner Kompanie ausersehen. Ein merkwürdiges Schicksal! Der Jude Cohn, der es draußen trotz aller Mühe, die er sich gegeben hat, nicht zum Offizier bringen konnte, wurde dies nun auf dem Wege über den Soldatenrat. Ich hatte mich über diese Wahl, ehe ich sie annahm, mit einem Offizier besprochen, der in der Pension lebte, wo auch ich mein Zimmer hatte. Ich fragte ihn, ob es richtig wäre, daß ich die Wahl annähme. Er aber sagte mir, daß man alles tun müsse, um den völligen Zusammenbruch Deutschlands zu verhindern. Er meinte, vielleicht machen wir es jetzt besser. So war es also von mir aus gesehen wieder ein Stück Pflichtbewußtsein, daß ich das tat. Gewiß schien es mir im Augenblick wohl Freude zu machen, eine Rolle zu spielen; aber ich muß bekennen, daß diese Freude nur wenige Tage gedauert hat. Damit hatte es folgende Bewandtnis. Man meldete mir, als ich die Geschäfte übernommen hatte, daß alles aueinanderlief, daß die Soldaten das Eigentum des Staates, im besonderen die Bettwäsche, über den Zaun der Kaserne an die Bevölkerung verkaufte. Unsere Kompanie war damals nicht in dem eigentlichen Kasernengebäude des 4. Garderegiments untergebracht, sondern unweit davon entfernt in Baracken, die ursprünglich wohl für Schulzwecke gedacht waren. Ich ließ, als mir das gemeldet war, die ganze Kompanie antreten und versuchte den Leuten klarzumachen, wie sinnlos ihr Verhalten wäre. Sie würden nur sich selbst bestehlen, denn es sei alles ja Volkseigentum. Ich glaube aber nicht, daß ich mit meinen Ausführungen auf sehr viel Gegenliebe gestoßen bin. Das Material bei diesem Ersatzbataillon war nun gewiß kein gutes mehr. Ich erkannte schon nach drei Tagen, daß es sinnlos wäre, hier
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noch zu bleiben. Damals hat mir ein guter Stern den richtigen Weg gewiesen. Vielleicht hätte ich damals als einer der leider sehr zahlreichen Juden eine politische Karriere im Arbeiter- und Soldatenrat machen können. Ich glaube nicht, daß es an Cohns dort gefehlt hat. Vielleicht hatte das auch eine gewisse Berechtigung, denn die christliche Intelligenz hatte sich zurückgezogen. Der einfache Mann spürte, daß er einen Führer aus anderer Schicht brauchte. Jedenfalls ist es uns Juden in Deutschland ja nicht zum Segen ausgeschlagen, daß wir damals so hervorgetreten sind. Ich jedenfalls habe das damals nicht getan, sondern meine Machtvollkommenheit als Kompanieführer dazu benutzt, um mir beim Bataillon einen Urlaubsschein nach Breslau zu verschaffen. Ich trug ja seit dem 18. Juni 1914 die Uniform und hatte nun das Gefühl, es sei genug. Als ich in Breslau war, kam dann der Befehl, daß die Soldaten auf Urlaub sich dort entlassen lassen konnten, wo sie sich gerade befanden. So ging ich nach der Kaserne des 11. Infanterieregiments, die sich damals am Stadtgraben befand und bekam dort meine Entlassungspapiere ausgehändigt. N u n blieb mir nur noch der Gang zum Bezirkskommando übrig, wo ich mich anzumelden hatte. Damit hatte ich meine letzte soldatische Pflicht erfüllt. Ich zog den grauen Rock aus, den ich so viele Jahre getragen hatte. Gewiß, es war nicht mehr wörtlich genommen das gleiche Kleid, mit dem ich ausgerückt war, aber noch dasselbe Gewand. Jetzt hieß es den Anschluß an das bürgerliche Leben zu gewinnen, etwas, was nicht leicht war. Aber ehe ich davon erzähle, möchte ich gewissermaßen das Fazit jener Jahre ziehen, so wie ich es sah. Gewiß, ich kam mit einer sehr vernichteten Gesundheit nach Hause. Ich konnte mich nicht sofort meiner vorgesetzten Schulbehörde zur Verfügung stellen, sondern mußte noch um Urlaub bis zum ersten Januar bitten. Diese Urlaubszeit habe ich auf Anordnung unseres Hausarztes Dr. Perls, beziehungsweise seines Vertreters Dr. Ittmann, hauptsächlich im Bett verbracht. Er war der Meinung (und sicher der richtigen Meinung), daß mein Organismus zunächst einmal ruhig gestellt werden mußte, nicht arbeiten und so dahindämmern sollte. Das letztere besonders ist mir bei meinem lebhaften Geist immer sehr schwergefallen. In diesen Wochen und Monaten hatte ich Zeit genug, darüber nachzudenken, ob ich richtig gehandelt habe, daß ich den Krieg so bis zuletzt auskostete. Und doch habe ich keinen Augenblick daran gezweifelt, daß mein Verhalten für einen anständigen Menschen das einzig mögliche war. An dieser Stelle habe ich vor mir selbst die Trennungslinie zu denen gezogen, die sich bei jeder Gelegenheit nach Möglichkeit drückten. Es
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kam mir auch bei dem Rückwärtsschauen auf diese Kriegsjahre nicht darauf an, was ich von ihnen gehabt habe. Ich habe mich oft darüber gekränkt, daß ich nicht befördert worden bin, obwohl ich rückschauend auch sagen muß, daß, wäre ich Infanterieleutnant geworden, die Aussicht auf Wiederkehr noch geringer gewesen wäre. Das aber erschien mir immer alles nebensächlich. Die Hauptsache war doch die Pflichterfüllung. Leider ist unser jüdisches Schicksal so, daß wir weniger nach den Menschen beurteilt werden, die geräuschlos ihre Pflicht tun, als nach denen, die, viel von sich hermachend, unnötig im Vordergrund der Ereignisse wandeln. Wer spricht heute noch von den vielen Juden, die im Kriege Leben und Gesundheit geopfert haben! Als ich nach Hause kam, mußte ich auch feststellen, daß ein großer Teil meiner jüdischen Altersgenossen nicht wiedergekehrt war. Ihre Namen stehen im Gedenkbuch des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten 4 . Es ist oft bitter, daran denken zu müssen, daß alle ihre Opfer scheinbar umsonst waren. Ich sage scheinbar, denn für die Pflichterfüllung gibt es im Grunde diesen Maßstab nicht. In der Erinnerung des deutschen Volkes aber ist, wenn man Juden und Weltkrieg zusammenstellt, viel stärker das unglückselige Andenken jener geblieben, die am Kriege verdient haben. Gewiß, wir wissen, das waren nicht nur Juden, sondern auch viele andere. Aber man verbucht bei uns immer gern vor allem das Negative. So möchte ich am Schluß dieses Teiles meiner Erinnerungen, die dem Weltkrieg gewidmet sind, mein Schicksal dem eines Jugendfreundes gegenüberstellen, der die andere Seite des Lebens vertrat. Dieser Freund Hans B. war in der Schule mein geschätzter Vordermann, da er einen sehr breiten Rücken hatte. Als der Krieg ausbrach, war er über diesen Rücken, der sonst als Schönheitsfehler galt, wohl nicht sehr unglücklich. E r hat ihn vor dem Militärdienst bewahrt. Zunächst arbeitete er in der Pelzfabrik seines Vaters; später aber, als offenbar das nicht mehr ausreichte (ich bin da nicht so im Bilde, vielleicht galt die Pelzfabrikation nicht mehr als kriegswichtiger Betrieb), richtete ihm der Vater, um das gute Söhnchen vor dem Schützengraben zu bewahren, in Berlin eine Munitionsfabrik ein. So hat Hans B. wenigstens auf diese Weise Gelegenheit gehabt, mit Munition in Berührung zu kommen. Sonst dürfte er von technischen Dingen herzlich wenig verstanden haben. Aber das spielte wohl damals auch keine Rolle, wenn die Mittel vorhanden waren, eine solche Munitionsfabrik einzurichten. Vielleicht befand sich auch der Die jüdischen Gefallenen ... des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914 bis 1918. Ein Gedenkbuch. Hg. vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. 3. Aufl. Berlin 1933. 4
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Stab in einer Zwangslage, ich kann das jedenfalls nicht ermessen. Hans B. hat dann während des ganzen Krieges in Berlin ein vergnügliches Dasein geführt. Er wird nicht der einzige gewesen sein. Diese meine Betrachtung hat nichts damit zu tun, daß Hans B. sich mir gegenüber oft als Freund bewährt hat. Es handelt sich hier nur um das Grundsätzliche, und ich bin ja oft genug wegen meines Standpunktes nicht verstanden worden. Aber ich kann mir schon vorstellen, daß es eben auf die Bevölkerung keinen guten Eindruck machte, wenn so viele dieser Art gerade in der Reichshauptstadt sichtbar waren. Wenn man erst einmal diesen grundsätzlichen Standpunkt als den maßgebenden vor seinem eigenen Gewissen erarbeitet hat, dann ist man nicht imstande, sich von ihm zu trennen. Auch in der Gegenwart, wo wir Juden unter so anderen Verhältnissen leben, habe ich mich nicht entschließen können, ihn aufzugeben. Wie oft habe ich in der Umwelt sehen müssen, daß man gegenüber Devisengesetzgebung und ähnlichem einen durchaus egoistischen Standpunkt einnahm, nur daran dachte, etwas für sich zu retten, ohne Rücksicht darauf, ob man mit seinem Verhalten andere Juden schädigte oder nicht. Es hat oft harte Zusammenstöße gegeben, wenn ich versuchte, anderen diesen Standpunkt klarzumachen, bis ich es aufgab, Menschen der anderen Art zu überzeugen. Für mich waren und sind, genau so wie im Weltkriege, zwei Gesichtspunkte maßgebend: einmal, das Rechte zu tun, ohne Rücksicht darauf, ob es im Augenblick nützlich oder schädlich ist, die Gesetze des Staates auch dort zu erfüllen, wo wir sie nicht billigen und dann aber auch vor allem der Gesichtspunkt, daß bei der jüdischen Solidarhaftung, die wir haben, der eine für die Vergehen des anderen büßen muß. Ich weiß, wenn Menschen der anderen Art, diese Stelle überhaupt lesen sollten (ich nehme an, daß sie das Buch inzwischen mit ermüdetem Interesse aus der Hand gelegt haben), daß sie lächeln und vielleicht sagen werden: Armer Tor, wieviel wohler ist mir, der ich mein Geld oder meine Goldstücke nach dem Ausland verschoben habe! Mag sein, aber es gibt eben noch so etwas wie Gewissen und vor sich selbst ordentlich dastehen. U n d ich glaube auch, daß eine Zeit kommen wird, die diese Art des deutschen Juden begreifen wird, wenn wir vielleicht schon längst nicht mehr auf dieser Erde wandeln. Die Rechtfertigung vor der Geschichte ist etwas, um dessentwillen sich zu leben lohnt. Zunächst also lag ich einmal auf der Nase und war gesundheitlich fertig. Ich vertrat auch in meinem Haushalt den Standpunkt, daß man sich unter keinen Umständen hintenherum Lebensmittel zu besorgen hatte. Aber Dr. Ittmann erklärte, daß ich dann restlos kaputtginge. So
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habe ich mich dann damit abfinden müssen, daß etwas Mehl und Butter auch ohne Marken besorgt würde. In mancher Beziehung wäre es besser gewesen, wenn ich gesund nach Hause gekommen wäre. Eine junge lebensdurstige Frau wollte nun etwas von ihrem Leben haben. Ich selbst konnte mich überhaupt nur furchtbar schwer wieder zurechtfinden. Vom ersten Augenblick an, wo ich gesünder war, setzte ich mich an den Schreibtisch um nachzuholen, was ich in den Kriegsjahren versäumt hatte. Es schien mir so, als ob ich mit der Wissenschaft nie mehr auf die H ö h e kommen würde, wie ich ja immer das Gefühl hatte, nicht fertig zu werden. [...] Ich fand an die Gespräche keinen Anschluß, die sich immer mehr um das Essen drehten, denn die Blockade dauerte noch weiter. Ich wurde mit den bald anschwellenden Zahlen für Butterpreise nicht fertig, wie es mir überhaupt schwer wurde, mich in die Gelddinge hineinzufinden. Man hatte ja jahrelang mehr oder weniger bargeldlos gelebt. Zwei innere Erlebnisse waren es, die mein Leben von jetzt an für Jahrzehnte bestimmten: Zionismus und Sozialismus. Wie ich zum Zionismus gekommen bin, habe ich schon andeutungsweise geschildert. Die Erkenntnis, daß unser jüdisches Volk seinen leidvollen Weg solange fortsetzen müsse, bis es eine grundsätzliche Umstellung seines Daseins vorgenommen haben würde, war in mir immer stärker geworden. Inzwischen war die Balfour-Deklaration 5 erschienen, und die Rückkehr nach Palästina schien aus dem Bereiche der Utopie in die Wirklichkeit versetzt. Diesem Gedanken, für den Palästinaaufbau zu wirken, gehörte nun ein Teil meines Daseins. Ich habe hier immer wieder betont, wie ich ohne ein Ideal niemals auszukommen vermochte. Ein anderes Ideal, das mir lange als solches erschienen war, war durch das Kriegserlebnis zusammengebrochen: die Vereinigung von Deutschtum und Judentum. Draußen habe ich Zeit genug gehabt, darüber nachzudenken, und vor allem war es die sogenannte doppelte Buchführung, die mir den letzten Anstoß brachte. Darunter verstand ich das folgende: Alles Gute, was wir leisten, wird auf das K o n t o des Gastvolkes geschrieben, dem wir angehörten, alles Schlechte aber, was aus unserer Mitte hervorgeht, wird dem Judentum zur Last gelegt. Balfour-Deklaration: Erklärung des britischen Außenministers Arthur J. Balfour in einem Brief vom 2. November 1917 an den Zionistenführer Lord Rothschild, in dem den Juden für die Gründung einer „nationalen Heimstätte" (national home) in Palästina britische Hilfe zugesagt wurde. Durch die Aufnahme der Deklaration in das Palästinamandat wurde sie völkerrechtlich anerkannt. 5
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So einige Beispiele: Henri Bergson ist der berühmte französische Philosoph; aber Barmat ist der jüdische Schieber 6 , wobei ich sagen möchte, daß diese Gestalt ja erst in den sogenannten Inflationsjahren in den Vordergrund trat, die Gegenüberstellung also für 1919 noch einen Anachronismus darstellt. Die Erkenntnis war in mir groß geworden, daß alle Opfer, die wir für unsere Gastvölker brachten, immer wieder umsonst waren. Wenn ich nun im Zivilanzug durch die Straßen ging, da sah ich manchen Juden nicht mehr, den ich vor 1914 zu treffen gewohnt war. Wieviele meiner Mitschüler waren aus dem großen Weltkriege nicht mehr wiedergekommen. Ihre Namen waren in dem Gedenkbuch des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten verzeichnet. Aber rasch waren diese Opfer vergessen. Auch die Erinnerung des deutschen Volkes hatte diese doppelte Buchführung. Wenn man an den Juden im Kriege dachte, so eher an den in den Kriegsgesellschaften, als an den im feldgrauen Rock. So schien mir die Rückkehr nach Palästina das einzig Mögliche zu sein. Die zionistische Literatur schlug mich damals in einen gewaltigen Bann, vor allem die edle Gestalt Theodor Herzls, dessen Reinheit ich bewunderte. Wenn man sich einem Ideal neu gelobt, so liegt es in der Natur der Sache, daß man die Schwierigkeiten nicht sieht oder nicht sehen will, die es in sich schließt. Nicht anders ging es auch mir. Die BalfourDeklaration erschien uns als das Zauberwort zur Lösung der Judenfrage. Nur ganz allmählich arbeitete man sich in die wirklichen Verhältnisse Palästinas hinein. Wie wenige von uns hatten zum Beispiel damals gemerkt, daß es in Palästina auch Araber gab, und daß die arabische Frage gar nicht so einfach zu lösen war. Herzl erwähnt die Araber bekanntlich nirgends. Auch machten uns die Raumverhältnisse wenig Sorge. Das jüdische Volk war in den letzten Jahren sehr angewachsen, wie ja überhaupt alle Judennöte, auch in der Vergangenheit, unsere Volkskraft niemals geschwächt haben. Allmählich wurde einem klar, daß eine Rückkehr sämtlicher Juden nach Palästina gar nicht in Frage käme; aber es erschien uns ein besonders erstrebenswertes Ziel, einen jüdischen Staat zu errichten und damit den Begriff des Bindestrich-Juden
Eine Anspielung auf den Zusammenbruch des Barmat-Konzerns 1925. Die fünf Brüder Barmat aus einer Petrikauer Rabbinerfamilie hatten nach dem Ersten Weltkrieg einen Finanzkonzern mit zahlreichen Industriebeteiligungen aufgebaut. Sein Zusammenbruch führte zu einem Reichstagsuntersuchungsausschuß und dem Prozeß von 1927. Die Rechtspresse benutzte die Affaire nicht nur gegen die Weimarer Regierungsparteien, sondern vor allem zur antisemitischen Agitation. Für sie wurde Barmat der Typ skrupellosen, jüdischen Geschäftsmannes. 6
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zu beseitigen, der so viele unlösbare Probleme in sich schloß wie eben der Begriff Deutsch-Amerikaner, von dem er herstammt. Was ein Jude in Palästina leistete, das kam im Guten wie im Bösen nur dem Judentum zugute. Ein selbständiger jüdischer Staat mußte auch den Juden in der Zerstreuung den moralischen Rückhalt geben. Das etwa waren die Gedankengänge, die man sich immer wieder vorführte, und die so übermächtig in mir wurden, daß ich von diesem Augenblick an kaum einen jüdischen Vortrag halten konnte, ohne am Schluß darauf hinzuweisen. So wurde man zu einem Fanatiker der Idee. Wenn eine Idee keine Fanatiker mehr findet, so ist sie eben keine Idee mehr. An Gestalten wie Chajim Weizmann 7 und Nahum Sokolow 8 , den ich einmal in Berlin sprechen hörte, oder an einem Schemarjahu Levin 9 begeisterte man sich immer wieder. Dieser Zionismus von 1919 hatte so gar nichts mit einer persönlichen Rettung zu tun und unterscheidet sich deshalb grundlegend von manchem sogenannten Zionisten, der unter dem Zwange seiner persönlichen Judennot behauptet, er sei schon immer Zionist gewesen. Gewiß kann man sagen, daß man vielleicht 1919 alles hätte stehen und liegenlassen sollen, um nach Palästina zu gehen und um für das Ideal zu arbeiten, zu dem man sich bekannte. Aber so weit war man noch nicht. So weit war man noch nicht aus seiner Umwelt gelöst und vor allem lag für mich auch das schwere Problem der Verankerung in der Wissenschaft, auf die ich mich ja unendlich freute. Auch stand meine Frau dem Ideal gänzlich fern. Ich füge das nur alles hier andeutungsweise an, damit man mir nicht
7 Chajim Weizmann (1874-1952) war als Repräsentant des Zionismus in England maßgeblich an der Entstehung der Balfour-Deklaration 1917 und an der Gründung der Hebräischen Universität Jerusalem 1918 beteiligt. Von 1920-1931 sowie 1935-1946 war er Präsident der Zionistischen Weltorganisation. 1948 wurde er der erste Staatspräsident Israels. Chajim Weizmann besuchte anläßlich seiner Fahrt zum Zionistenkongreß in Basel 1927 auch Breslau und Beuthen, wobei ihm die Breslauer Behörden einen ehrenvollen Empfang bereiteten und Weizmann hier auf einer öffentlichen Kundgebung sprach. Dazu J. Walk: Die „Jüdische Zeitung für Ostdeutschland" 1924-1937. Hildesheim 1993, S.29ff.
Nahum Sokolow (1861-1937) war neben Weizmann an der Durchsetzung der Balfour-Deklaration beteiligt. E r war in zahlreichen Ämtern als zionistischer Politiker tätig, zuletzt 1931-1935 als Präsident der Zionistischen Weltorganisation. 9 Schemarjahu Levin (1867-1935), zionistischer Politiker. Seine Lebenserinnerungen erschienen 1932/33 in deutscher Sprache. Levin sprach 1931 auch in Breslau. Vgl. J. Walk: Die „Jüdische Zeitung für Ostdeutschland", S. 59, ferner SV N r . 437. 8
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den Vorwurf der Inkonsequenz macht. In diesem Augenblick der Rückkehr aus dem Weltkriege war man andererseits zu sehr abgekämpft, als daß man in der Lage gewesen wäre, große innere Kämpfe aufzuführen. Seitdem ich mir aber diesen Weg zum Zionismus innerlich erkämpft hatte, war meine Verankerung im Judentum eine immer stärkere geworden. Das Judentum wurde mein Haupterlebnis, und ich entdeckte in ihm ständiges Neuland. Neben den Männern, die ich schon nannte, hat mich damals besonders Martin Buber 1 0 geistig beeinflußt. In jener Zeit schrieb er noch ein gemeinverständliches Deutsch, von dem er sich später, als er mit Franz Rosenzweig zusammen seine Bibelübersetzung schrieb 1 1 , abwandte. Für uns Westjuden ist Buber auch der Entdecker des Ostjudentums geworden. Mit den Augen Bubers sahen wir in jedem Ostjuden einen Vertreter wirklicher jüdischer Art. Wir glaubten in ihnen Träger des chassidischen Gedankens zu sehen, den er uns so nahezubringen verstand, wenn er uns zum Beispiel von dem Baal-Schern 12 erzählte. Dem Ostjuden gegenüber hatten wir damals, jüdisch gesehen, einen Minderwertigkeitskomplex. Während wir mühsam um die Erlernung der hebräischen Sprache kämpften, selbst in der Synagoge manchmal auch schwer folgen konnten, schienen unsere östlichen Brüder das alles mit der Muttermilch eingesogen zu haben. Ihnen war das Judentum etwas Selbstverständliches. Es ist ja bekannt, daß 1919 und noch lange in den folgenden Jahren große Mengen von Ostjuden nach Deutschland hineinkamen. Es gab damals sehr viele deutsche Juden, die gegen diese Überschwemmung Stellung nahmen. Ich gehörte zu denjenigen, die sich rückhaltlos für die Gleichberechtigung der östlichen Brüder einsetzten, eben aus den Gedankengängen heraus, die ich dargelegt habe. Dazu möchte ich aber ergänzend sagen, ich habe die Ostjuden damals gar nicht gekannt. Wenn ich in dem großen Saale der Lessing-Loge sprach, so saßen sehr viele von ihnen unter meinen Hörern, die natürlich über das, was ich ausführte, sehr begeistert waren. Aber in persönliche Berührung bin
Martin Buber (1878-1965) gehörte bis 1933 zu den bedeutendsten Vermittlern jüdischen Geistesgutes in Deutschland. Seit 1938 lehrte er in Jerusalem. Zu seinen vielen Ehrungen gehört der Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1963. 11 M. Buber und F. Rosenzweig (Hg.): Die Schrift und ihre Verdeutschung. Berlin 1936. 12 Baal-Schem Tow war der Beiname des Israel ben Elieser, der im 18. Jahrhundert die religiöse Bewegung des Chassidismus begründete. Von seiner Legende handelte ein Buch Bubers von 1908. 10
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ich mit ihnen nicht gekommen. Es war das sicher ein Fehler, vielleicht hätte sich schon damals manches Urteil anders gebildet. Aber das hängt mit der Lebensweise zusammen, der ich immer treu blieb: die Welt oft allzusehr vom Büchertisch und von der Studierstube anzusehen. Als ich später Gelegenheit hatte, mit Ostjuden auch in persönliche Fühlung zu kommen, da mußte ich zu meinem Bedauern oft feststellen, daß sie dem Ideal, das ich mir von ihnen gebildet hatte, in keiner Weise entsprachen. Wir deutschen Juden waren doch sehr preußisch, das heißt in uns lebte und lebt die unaustilgbare Vorstellung, in allen Dingen dem Staate gegenüber korrekt zu sein. Preußische Pünktlichkeit und Ordnung erschienen uns eine Grundlage des Lebens. D e r Ostjude aber kam aus anderen Verhältnissen. F ü r ihn war der Staat etwas Feindliches, der gerade Weg das Außergewöhnliche und Pünktlichkeit etwas Ungehöriges. Es gibt viele Juden in Deutschland, die heute meinen, daß unser Schicksal seit 1933 nicht dieses gewesen wäre, wenn Deutschland nicht die Überschwemmung mit Ostjuden gehabt hätte. Darüber möchte ich heute kein Urteil abgeben; dazu stehen wir noch viel zu sehr mitten in den Ereignissen, als daß wir gerecht urteilen können. Das muß einmal dem Historiker von später überlassen bleiben. Jedenfalls sah der Ostjude im Leben ganz anders aus als in den Büchern von Martin Buber. D o c h darüber machte ich mir 1919 keine Gedanken. Wo man etwa hier und da schon aufmerksam wurde, so sagte man sich, daß wir umso stärker mit der Erziehungsarbeit unseres Volkes Ernst machen müßten und daß eben manche Teile unserer Gemeinschaft durch das jahrtausendelange Leben in der Zerstreuung nicht mehr so seien, wie sie sein müßten. Als Pädagoge lagen mir diese Gedankengänge natürlich nahe; damals glaubte ich überhaupt noch sehr an die Erziehbarkeit der Menschen, während später in mir andere Gedanken wie zum Beispiel der der Erbmasse in der Veranlagung überwog. Aber das kann alles hier nur angedeutet werden, denn über alle diese Probleme ließe sich auch jüdisch gesehen so mancher Band füllen. Neben dem Zionismus fand ich damals auch den Weg zu einem anderen Ideal, zum Sozialismus. In gewissem Sinne standen beide in engster Verbindung. Ich stand damals der Bewegung des Hapoel Hazair13 sehr nahe, deren Breslauer Ortsgruppe von Josef Marcus geleitet wurde. Der Hapoel Hazair (wörtl.: „der junge Arbeiter") war eine 1906 in Palästina begründete Arbeiterpartei, nach deren Vorbild sich in Europa gleichnamige Gruppen bildeten, die insgesamt einen Teil der internationalen jüdischen Arbeiterbewegung ausmachten. 13
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Für uns hatte der Palästinaaufbau unter sozialistischem Gesichtspunkte stattzufinden; wir wollten drüben eine neue Weltordnung aufbauen. Unter den Menschen, die damals in Deutschland den Weg zum Sozialismus fanden, kann man deutlich zwei Gruppen unterscheiden: zunächst die eine, der ich nicht angehörte. Das waren jene, die erkannten, daß jetzt, nachdem Deutschland eine Republik geworden war, die Sozialdemokratie die Posten zu vergeben hatte. Für diese Karrieremacher war das Problem sehr einfach. Sie behaupteten, schon immer rot gewesen und im früheren Staate nur nicht in der Lage gewesen zu sein, ihrer Gesinnung Ausdruck zu geben. Sie erkannten jetzt eine große Konjunktur und stiegen von Stufe zu Stufe. Das Jahr 1933 hat ihnen dann ein plötzliches Ende bereitet. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß ich mit diesen Menschen nichts zu tun hatte, ich bin mit reinen Händen zum Sozialismus gegangen und habe ihm bis zu seinem Untergange auch da die Treue gehalten, als ich innerlich schon nicht mehr mitkonnte. Darüber dürfte aber doch noch ein Wort am Platze sein. Nachdem der Weltkrieg mit diesen furchtbaren Blutopfern geschlossen hatte (man sprach von zehn Millionen Menschen, die durch ihn ihr Leben verloren hatten), schien es uns Jüngeren von damals an der Zeit, für ein Ideal zu kämpfen, das einen Krieg unmöglich machte. „Nie wieder Krieg", das war die Parole, unter der man kämpfte: eine neue bessere Weltordnung schaffen bis zum Anbruch des messianischen Zeitalters, bis es möglich wäre, die Schwerter in Sicheln umzuschmieden. Wie das im einzelnen zu machen wäre, das wußten wir natürlich nicht; aber daß es gemacht werden müßte, das war uns klar. So wie ich in der Erziehung zum Zionismus die große Aufgabe für den Juden erblickte, so in der Erziehung zum Sozialismus für die Menschheit im allgemeinen. Ich kam auch hier von der Theorie zur Praxis, nicht wie der Gewerkschaftssekretär von der Praxis zur Theorie. Im Grunde hatte ich ja mit dem deutschen Arbeiter in seiner Masse noch kaum Fühlung gehabt, denn im Kriege spielte die Klassenlage des Einzelnen keine Rolle. Nachdem ich nun in die Sozialdemokratische Partei eingetreten war, widmete ich ihr sehr viel von meiner freien Zeit. Ich vertiefte mich in die Theorie des Sozialismus und habe in den nachfolgenden Jahren besonders für die Arbeiterjugend bestimmte Biographien über Ferdinand Lassalle, Karl Marx und andere geschrieben14, von denen vielleicht noch gesprochen werden wird. Gerade in der Arbeiterjugend fand ich
14
Vgl. SV Nr. 123, 149, 159, 179, 230, 340.
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Verständnis für Ideale. Die Arbeit in der Partei selbst enttäuschte mich sehr häufig. Gewiß hörte man sich die Vorträge über die letzten Ziele des Sozialismus an, weil das eben mit dazu gehörte und weil es auch nicht gut vermerkt wurde, wenn man sich nicht zeigte. Aber im Grunde fühlte ich bald heraus, daß sehr viele der Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei diese Mitgliedschaft als eine Art Versicherung zur Hebung ihrer persönlichen Lebenshaltung ansahen. Vor allem ging es damals ja um die Erhöhung des Lohnes, damit dieser sich der schwindenden Kaufkraft der Mark anpaßte. Ich bemühte mich auch, dafür Verständnis zu haben, zumal ja die wirtschaftlichen Dinge auch mein eigenes Leben berührten; aber es erschien mir doch oft unverständlich, wie man Fragen des Sozialismus damit verknüpfen konnte. Oft kam ich in das Gewerkschaftshaus in der Margarethenstraße 15 mit dem ganzen idealen Schwung und ging aus einem sehr verqualmten Saale ohne Illusionen hinaus. Die Atmosphäre der Gewerkschaftssekretäre gefiel mir im Laufe der Jahre immer weniger. Man hatte immer das Gefühl, daß diese für sich erreicht hatten, was zu erreichen war, nämlich den Aufstieg aus der Arbeiterschaft zu einer sozial höher stehenden Schicht. Mancher von ihnen hat es ja auch zu hohen Beamtenstellen gebracht. Ich will durchaus nicht sagen, daß das falsch war, denn viele von ihnen verdienten den Aufstieg durchaus; aber es schien mir so, als ob wir auf diesem Wege dem Ideal einer klassenlosen Gesellschaft nicht näher kämen. Also auch hier mußte ich im Laufe der Zeit bemerken, daß die Dinge sich härter im Räume stießen als im Kopf; aber ich freute mich dann an den kleinen Erfolgen, die ich davontrug, wenn zum Beispiel die Jugend in irgendeinem einfachen Arbeiterjugendheim für Stunden alles Elend vergaß und sich von meinen Gedanken zu reineren Höhen emportragen ließ. Ich bin in den nachfolgenden Jahren auch öfters in die Provinz hinausgefahren. So erinnere ich mich, als Oppeln schon von den Franzosen besetzt war, in einer Baracke der Eisenbahnerwerkstätten gesprochen zu haben. Ein schöner Abend war es auch einmal in Bunzlau, wo ich nach dem Vortrag mit dem Vorsitzenden des dortigen Arbeiterbildungsausschusses und seiner Frau in seiner Küche zusammensaß. Ich habe das Ideal des Sozialismus, das mir vorschwebte, nie mit persönlichem Karrieremachen vermengt. Wir hatten in Breslau auch eine Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Lehrer, der ich angehörte. Hier, in einem verhältnismäßig kleinen Kreise, lernte man die Menschen genau kennen, und da mußte 15
Das sozialdemokratische Gewerkschaftshaus war 1901 in der Margarethenstraße eröffnet worden.
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ich zu meinem Entsetzen feststellen, daß unter den Genossen so mancher war, der bei anderen Gruppen Schiffbruch erlitten hatte und der nun den Weg zu uns fand, weil er hoffte, rascher Karriere zu machen. Mancher ist dann wieder verschwunden und zu anderen Parteien übergegangen. Verbitterung schien mir mit Sozialismus nichts gemein zu haben. Aufgefallen ist mir schon im Jahre 1919, wie gering die Zahl der Intellektuellen war, besonders deutschen Blutes, die den Weg zu uns fanden. Da damals die Sozialdemokratie einen bedeutsamen Einfluß im Staate ausübte, ist es auch gekommen, daß mehr jüdische Geistesarbeiter in den Vordergrund traten, als es für das Judentum gut war. Ich persönlich habe aber diese Zusammenhänge, ähnlich wie in den Novembertagen 1918 in Berlin, rasch erkannt und bin der Versuchung nicht erlegen. Dafür möchte ich ein Erlebnis genau so wiedergeben, wie es sich abspielte. Wir hatten von der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Lehrer unseren regelmäßigen Abend im Gewerkschaftshaus, als bei unserer Sitzung der Parteisekretär Genosse Mache erschien, der übrigens später Bürgermeister von Breslau geworden ist und gegenwärtig, wenn ich recht unterrichtet bin, ein Fischgeschäft im Breslauer Vorort Leerbeutel betreibt 16 . Mache sagte: „Genossen, der Stadtschulrat Hacks ist, wie ihr wißt, gestorben. Die Partei kann den neuen Stadtschulrat bestimmen, macht einen Vorschlag". Wir blickten uns in unserem kleinen Häuflein um und musterten die einzelnen Gestalten, einschließlich derer, die an diesem Abend nicht anwesend waren. Wir waren uns darüber klar, daß der Stadtschulrat ja ein Akademiker sein mußte, also ein Volksschullehrer nicht in Frage kam. Da aber mußten wir feststellen, daß eigentlich nur zwei Juden übrig blieben. Der eine - das war ich - führte den Namen Cohn, der andere den Namen Lewy. Ich war mir blitzartig darüber klar, daß ein Stadtschulrat mit dem Namen Cohn ein Unglück für das Breslauer Judentum bedeutete. Ich hätte wirklich von heute auf morgen Stadtschulrat werden können. Die Partei war damals sehr mächtig, und antisemitische Einflüsse fielen nicht ins Gewicht. Die Versuchung ist aber damals nicht einen Augenblick Herr über mich geworden; ich wußte instinktiv, was ich zu tun hatte. Ich blieb lieber ein bescheidener Studienassessor als ein umkämpfter Stadtschulrat. Ich sagte damals dem Parteisekretär Mache, daß es besser wäre, wenn ein geeigneter Nicht-Sozialdemokrat Stadtschulrat würde als ein ungeeigneter Sozialdemokrat. Ob das taktisch richtig war, weiß ich nicht; jedenfalls glaube ich richtig gehandelt zu haben. So wurde damals 16
Karl Mache (1880-1944) sollte 1944 im Konzentrationslager Groß-Rosen umkommen.
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der deutsche Demokrat Lauterbach Stadtschulrat, der also seine Stellung meiner Zurückhaltung zu verdanken hat. Im allgemeinen habe ich mich, wie ich hoffe, in diesen meinen Erinnerungen einer gewissen Objektivität befleißigt. Darum soll es mir einmal erlaubt sein, ein paar Augenblicke nicht objektiv zu sein. Es gab keine Partei, die mir im alten Systemstaat, wie man heute sagt, gräßlicher war als die Deutschen Demokraten. Man hat sie oft als die „Jeinleute" ironisiert, als die, die nicht ja und nicht nein sagen konnten, nicht Fisch und nicht Fleisch waren. Um sie näher zu bestimmen, will ich mich eines jüdischen und eines Bildes aus Dantes „Göttlicher Komödie" bedienen. Jüdisch gesehen waren sie parve. Für die, die mit der jüdischen Küche nicht Bescheid wissen, muß das erläutert werden. Unter parve versteht man die Zutaten, die man sowohl zu Fisch als zu Fleisch nehmen kann, denn das dürfte ja bekannt sein, daß es ein Grundsatz der jüdischen Küche ist, nichts Milchiges und nichts Fleischiges zu vermischen. Was aber parve ist, paßt zu beidem; es hat gewissermaßen keinen eigenen Charakter. Und nun das dantische Bild für die Deutschen Demokraten. Im Vorhof der Hölle müssen (so schildert es Dante in seiner Göttlichen Komödie), diejenigen schmachten, die in ihrem Leben nicht den Mut hatten, Stellung zu nehmen17. Daß der Himmel sie nicht hineinläßt, ist selbstverständlich; aber auch die Hölle will von ihnen nichts wissen, die doch sonst Raum hat für Sünder aller Art. Das also trennte mich von den Demokraten. Man muß einen Standpunkt haben! Wer will sagen, ob er falsch oder richtig ist, aber wenigstens den Mut zu einer Uberzeugung. Die Deutschen Demokraten glaubten in den Spuren Eugen Richters zu wandeln, aber der war doch aus einem anderen Holz 18 . Die Deutschen Demokraten, so wie sich die Partei nach 1919 entwickelt hat, war die Partei des Einerseits - Andererseits. Einerseits mußte man sich mit den bösen Sozialisten gut stellen, die nun doch einmal die staatsschaffende Partei waren; aber die Sozialisten wollten doch dem Kapitalismus an den Kragen, und der Kapitalismus hatte doch das Bürgertum hochgebracht, zu dem sich die Demokraten bekannten. Also mußte man wieder den Sozialismus bremsen und die Fühlung nach der anderen Seite suchen. Ein echter deutscher Demokrat von 1919 hielt eine glühende Rede, an
Dante, Göttliche Komödie, Hölle, 4. Gesang. Eugen Richter (1838-1906) war einer der führenden Liberalen der Bismarckzeit. 17 18
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deren Ende er schließlich das Gegenteil von dem sagte, was er am Anfang verkündet hatte. Kann sein, daß diese Abneigung, die ich gegen die Demokraten hegte, sich auch auf einzelne Persönlichkeiten übertrug. Ich möchte hier nicht viele Namen nennen, aber ich fand unter ihnen so viele Inkonsequente. Es ist vielleicht auch kein Zufall, daß mitunter arische Demokraten Mischehen schlössen, denn das Wesen der rassischen Mischehe ist ja oft auch Inkonsequenz. Heute müssen die Söhne aus diesen Ehen oft die bitteren Folgen der Inkonsequenz ihrer Eltern tragen nach dem Worte der Thora: „Der du heimsuchst die Schuld der Eltern an den Kindern bis ins sechste und siebente Geschlecht" 19 . Die Wahrheit unserer Prophezeiungen ist mir oft zum Bewußtsein gekommen, als die Rassengesetzgebung des Nationalsozialismus in Kraft trat 20 . Es war also ein reicher Kranz von Ideen, in die ich mich einzuleben hatte, als ich aus dem Felde zurückkam und nach einigen Monaten meine Gesundheit sich einigermaßen gefestigt hatte. Und dazu kam nun noch als die Hauptsache die Rückkehr ins Amt. Der Rest des sogenannten Probejahres war den Kriegsteilnehmern erlassen, und wir waren noch während des Feldzuges zu Studienassessoren ernannt worden. Immerhin klang dieser Titel schöner als der Titel „wissenschaftlicher Hilfslehrer", der früher üblich war und den die Jungens immer zum „Hilfsbremser" umdichteten. Wir hatten auch während der letzten Kriegsjahre Gehalt bezogen. Ich wurde mit Wirkung vom 1. Januar dem Johannesgymnasium überwiesen und kehrte also in das Gebäude zurück, das ich vor zwölfeinhalb Jahren als Schüler verlassen hatte. Es war das ein eigenartiges Gefühl. Wie oft hatte man als Junge vor dem Lehrerzimmer gestanden und sich gedacht: Wenn D u da doch einmal hineingehen könntest und hören, was die Lehrer sagen, die über Dein Schicksal entscheiden. Und nun öffnete sich das Tor, und man war der Kollege geworden. Mancher von meinen früheren Lehrern amtierte noch, und manchen lernte ich jetzt von einer ganz anderen Seite kennen. An der Spitze der Anstalt stand nicht mehr der Geheimrat Laudien, der in Pension gegangen war, aber sich noch häufig im Lehrerzimmer blicken ließ, sondern Alexis Gabriel. Gabriel war auch mein Lehrer gewesen, aber nur in den unteren Klassen. Ich hatte bei ihm Französisch gehabt und war sogar einmal im Mündlichen hereingefallen. So etwas hat sich immer sehr tief eingeprägt, weil es verhältnismäßig selten vorkam. 19 20
Vgl. oben S. 158, Anm. 82. Die Nürnberger Gesetze wurden am 15. 9. 1935 erlassen.
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Nun war er mein Vorgesetzter. Ich sehe noch, wie ich mich bei ihm im Amtszimmer meldete, das ich zum letzten Male betreten hatte, als ich mein Reifezeugnis ausgehändigt bekam. Gabriel hatte ein gewisses Mißtrauen, ob die Herren, die eben aus dem Felde zurückgekehrt waren, sich nun in den Schuldienst wieder hineinfinden würden. Auch für uns war das ja ein Problem, aber es ist dann viel besser gegangen, als ich mir das vorgestellt habe. Darüber aber werde ich später noch manches erzählen. Von den ehemaligen Lehrern begegnete ich den Professoren Schmidt, Schwarzer, Rieß, Schneck und Wohlauer. Unter den genannten war mir besonders Schneck sehr unsympathisch. Er war wohl der einzige an der Schule, der seinen Antisemitismus schlecht verbergen konnte. Dafür war er ein übler Karrieremacher, der nach allen Seiten Fühlung nahm, wenn es sich um den Aufstieg handelte. Zum Direktor hat er es schließlich doch nicht gebracht, aber wenigstens zum Oberstudienrat. Politisch hielt er sich zu den Deutschnationalen; wenn es sich aber um die Karriere handelte, da genierte er sich auch nicht, bei den Sozialdemokraten um gutes Wetter zu bitten. Die meisten der Herren aber hielten sich vom politischen Leben abseits; sie taten ihre Pflicht, wie sie es seit Jahrzehnten gewöhnt waren. Manche von ihnen waren vielleicht in ihren pädagogischen Methoden etwas erstarrt, wie es eben kommt, wenn man Jahrzehnte hindurch auf dem gleichen Amtsstuhle sitzt. Gerade der Lehrerberuf birgt da viele Gefahren in sich. Im allgemeinen aber herrschte am Johannesgymnasium weiter die gleiche angenehme Luft, die ich von meiner Schulzeit her in Erinnerung hatte. Menschen der verschiedensten Herkunft vertrugen sich dort sehr gut miteinander und ergänzten ihre gegenseitige Art auf das beste. Ich will durchaus nicht alle Probleme hier anschneiden, die sich daraus ergaben. Mag es mit dieser Andeutung zunächst sein Bewenden haben. Mir erwuchs recht bald eine schöne und angenehme Aufgabe. Für diejenigen Kriegsteilnehmer, die ohne Abiturium ins Feld gegangen, aber unter normalen Verhältnissen ihre Prüfung in absehbarer Zeit bestanden hätten, wurden Sonderkurse eingerichtet, damit sie das Examen rasch nachholen konnten. Als Lehrer für diese Kurse wurden, wenn irgend möglich, Frontkämpfer gewählt, weil man annahm, daß sie dieser schweren Aufgabe besser gewachsen waren; denn es war ja keine Kleinigkeit für Menschen, die über vier Jahre oft an der Front
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gewesen und im Schützengraben gelegen haben, sich noch einmal auf die Schulbank zu setzen und dort anzuknüpfen, wo sie vor so vielen Jahren aufgehört hatten. Zu meinen damaligen Schülern gehörten viele Offiziere, und gar mancher kam noch in der Uniform, allerdings ohne die Abzeichen seines Ranges. Ich selbst habe auch meine feldgrauen Sachen, die ich bei der Entlassung aus dem Heeresdienst als Eigentum bekommen hatte, aufgetragen, denn unmittelbar nach dem Kriege setzte der Mangel an allem Lebensnotwendigen ein, oder besser ausgedrückt, der Mangel des Krieges setzte sich fort. In diesen Kursen für die Frontkämpfer herrschte eine eigene Luft, und es gehörte immerhin eine ganze Portion Takt dazu, um mit den Schwierigkeiten fertig zu werden und ohne Härte doch das Notwendigste zu verlangen. Ich denke an diese Zeit aber ganz besonders gern zurück. Ich habe mit meinen Schülern, die sich oft im Alter nur unwesentlich von mir unterschieden, rasch Fühlung bekommen. Sonst half mir bei den jüngeren Schülern häufig auch die beim Militär gelernte Disziplin, und wenn es mir auch fern lag, Schulstube und Kasernenhof zu verwechseln, so konnte es doch manchmal nicht schaden, wenn man die Jungens auch härter anfaßte. Im allgemeinen wollen gerade Schüler eine starke Hand spüren. Schularbeit bedeutet im besonderen Maße eine Wiederkehr des Gleichen. Wenn ich jetzt, nachdem ich nun schon bald acht Jahre nicht mehr im Schuldienst stehe, an die vielen Jahre zurückdenke, die ich vor Schülern verbrachte, dann steigen diese ganzen Generationen wieder auf, die man von Sexta bis zur Oberprima geführt hat. Gewiß, es sind immer andere Jungens gewesen, und nicht zwei glichen einander. Aber der Stoff wiederholte sich doch häufig. Wenn ich auch in meinen Fächern die Möglichkeit hatte, immer Neues heranzubringen und den Stoff einigermaßen abzuwandeln, so gehörte doch auf der anderen Seite eine ganze Portion Frische dazu, wenn man die gleichen klassischen Stücke immer wieder besprach, dann nicht völlig starr zu werden. Ich habe Schiller sehr geliebt. Doch wenn ich die Jungfrau von Orléans durchgenommen hatte, zitierte ich ihn häufig, daß der Wunsch in Erfüllung gehen möchte: „Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder." 21 Aber dies geschah nicht, sie stand auch im nächsten Jahre wieder auf dem Lehrplan. Von verschiedenster Seite her bemühte man sich damals, in das Schulleben einen frischen Wind hineinzubringen. Ich selbst hatte in der Monatsschrift „Nord und Süd" einen Aufsatz über die Revolution in der
21
Die Jungfrau von Orleans, Prolog, Vierter Auftritt.
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Schule geschrieben 22 . Solange ich im Amt war, rissen dann die Bestrebungen zur Schulreform nicht ab, und ich glaube, das Experimentieren geht auch heute noch weiter. Dabei ist letzten Endes alles Unterrichten nicht so sehr Frage des Systems als Frage der Lehrerpersönlichkeit. Der Direktor Gabriel war übrigens, was die Aufsicht im Unterricht anbelangt, sehr vernünftig und ließ den Lehrern in der Regel volle Freiheit. Auch mit den verschiedenen Provinzialschulräten oder, wie sie später hießen, Oberschulräten, hatte ich keine Schwieriegkeiten. Mir verschlug es auch nicht die Stimme, wenn so ein hohes Tier einmal im Unterricht erschien und sich anhörte, was man durchnahm. Wenn man mit seinen Jungens gut stand, dann ließen sie den Lehrer auch niemals im Stich. Selbstverständlich habe ich auch während meiner Amtszeit manche Lehrertragödie beobachtet, habe gesehen, wie mancher Kollege mit Zittern und Zagen in den Unterricht ging und völlig erschöpft aus ihm zurückkam. Meist war das ein Kampf, bei dem die Jungen gesiegt haben. Es waren oft die grundgelehrtesten Leute, die in der Klasse Schiffbruch erlitten und von den Jungen erbarmungslos seelisch mißhandelt wurden. Selbstverständlich wußte der Direktor von diesen Dingen, aber er konnte auch nicht viel erreichen. Wenn er in der Klasse war, dann ging alles ganz schön und gut, aber war er draußen, dann nahm die Disziplinlosigkeit wieder ihren Anfang. Ich werde gewiß keine Namen nennen, aber manche Gestalt steigt in diesem Augenblicke auf. Damals wurde übrigens von Seiten der amerikanischen Quäker für die Schuljugend die sogenannte Quäkerspeisung eingerichtet, die darin bestand, daß in den Pausen Kakao und weiße Semmeln verteilt wurden. Das waren Genüsse, die die deutsche Jugend schon viele Jahre nicht mehr kannte, wie überhaupt die Jungens zum großen Teil sehr unterernährt waren. Die Zubereitung des Kakaos übernahmen die Frauen der Lehrer, und der aufsichtsführende Herr durfte sich in der Pause auch eine Portion geben lassen. Diese Pausenaufsicht war deshalb sehr gesucht. Gabriel gab sie in taktvoller Weise immer denjenigen Herren, die es körperlich am meisten nötig hatten. Ein Lehrer sah besonders schlecht aus; er hatte deshalb auch diese Speisung unter sich: die Jungens nannten ihn den Quäkerpaule. Sowie die Möglichkeit dazu bestand, setzte dann auch die Verschickung von Schülern in das Ausland ein, besonders nach Norwegen. Ein Junge, den ich unterrichtete, kam so dick zurück, daß ihn die eigene Mutter nicht wiedererkannte. Deutschland war damals sehr arm.
22
Vgl. SV Nr. 99.
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Ich gab bis Ostern 1920 noch nicht vollen Unterricht. Seit diesem Zeitpunkt hatte ich meistens eine volle Lehrerstelle zu verwalten. Aber ich war auch nicht unglücklich, wenn mir die Schularbeit genügend Zeit zu privater Beschäftigung ließ. Aus dem bisher Gesagten erhellt ja zur Genüge, wie stark meine wissenschaftlichen Neigungen immer gewesen sind. Ich gönnte mir auch nach diesem Kriege keine Schonung. Im Jahre 1920 sind zwei umfangreiche Bücher von mir erschienen, an denen ich bald nach dem Kriege zu arbeiten angefangen hatte. Vor allem fesselten mich wieder meine marinegeschichtlichen Forschungen 2 3 . Ich beschäftigte mich damals besonders mit der Flotte in der Zeit Konrads IV. und Manfreds, der beiden Söhne Kaiser Friedrichs II., die ihm in der R e gierung Siziliens nachfolgten. Was zur Flotte Kaiser Friedrichs II. selbst zu sagen war, hatte ich in verschiedenen Aufsätzen, die in Zeitschriften erschienen waren, niedergelegt, und deshalb nahm ich die Folgezeit in Angriff. Dieses Buch ist in den „Abhandlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte" erschienen 2 4 , die der berühmte Historiker und ordentliche Professor an der Berliner Universität, Geheimrat Dietrich Schäfer, im Auftrage des Hansischen Geschichtsvereins 2 5 herausgab. Dietrich Schäfer war der Begründer der Disziplin der Seegeschichte. Seiner politischen Stellung nach gehörte er zu den Rechtskonservativen und galt auch in jüdischen Kreisen als Antisemit. Ich habe ihn niemals zu Gesicht bekommen, aber ich weiß nur, daß die Zusammenarbeit mit ihm eine ganz reibungslose war. Als ich mein Manuskript fertig hatte, schickte ich es einfach ein, hörte dann sehr lange nichts und bekam eine Postkarte, auf der in wenigen Zeilen stand, daß die Arbeit zum D r u c k angenommen war. Schäfer schrieb übrigens nie über seine Briefe oder besser gesagt über seine Postkarten eine Anrede, sondern nur das sachlich N o t w e n dige. Vielleicht hat er damit recht getan, denn auf diese Weise hielt er seine Energie für eine geradezu ungeheure Arbeitsleistung zusammen. Da damals schon große Papierknappheit herrschte und Drucken sehr
In der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur hielt C o h n auch am 30. Januar 1919 einen Vortrag zum Thema: „Neuere Forschungen zur mittelalterlichen Seegeschichte". Angeführt in: Siebenundneunzigster Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 1919-1924. Breslau 1925, S. 53. 2 4 Vgl. SV N r . 109. 2 5 Hansischer Geschichtsverein, gegr. Pfingsten 1871 in Lübeck von den historischen Vereinen Lübeck, Hamburg, Bremen und der Gesellschaft für Pommersche Geschichte, Organ: Hansische Geschichtsblätter, seit 1871/73. 23
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kostspielig war, so war ich um so glücklicher, daß das Unterbringen der Arbeit so reibungslos vonstatten gegangen ist. Gerade diese Arbeit brachte mich mit den Kreisen des Hansischen Geschichtsvereins in nähere Fühlung, der übrigens bis zum heutigen Tage dieses Buch von mir unter seinen Veröffentlichungen immer wieder anzeigt. Eine sehr lange wissenschaftliche Freundschaft verband mich auch mit dem Nachfolger Dietrich Schäfers, dem Professor Walther Vogel, die erst mit dem leider zu frühen Tode Vogels ihr Ende fand. Auch Vogel gehörte zu denjenigen, die in der Regel als Antisemiten bezeichnet wurden. In unserem persönlichen Umgange hat das aber niemals eine Rolle gespielt und sind diese Themen nie berührt worden. Ich habe Vogel oft gesprochen, besonders auf den Historikerkongressen, wo er mir in jeder Weise die Wege ebnete. Wenn er später schon als sehr herzkranker Mann durch Breslau kam, um zur Kur nach Altheide zu fahren, bat er mich auf den Bahnhof, um sich mit mir zu unterhalten. Die Herren wußten übrigens alle, wie positiv ich zu meinem Judentum stand; sie hatten wohl auch meist vor dem Zionisten mehr Achtung als vor dem Assimilanten, weil sie den Zionismus besser begriffen. Im übrigen galt in diesen Kreisen vor allem die Leistung. Ich hatte das Gefühl, daß meine Arbeiten gewürdigt wurden. Vielleicht darf ich an dieser Stelle einschalten, daß die Zusammenarbeit mit nichtjüdischen Gelehrten sehr viel reibungsloser war als mit jüdischen. Liegt es in unserer Veranlagung, daß wir sehr wenig geneigt sind, wirkliches Können gegenseitig anzuerkennen? Jedenfalls habe ich nach 1933, als ich im besonderen für jüdische Wissenschaft arbeitete, diese Erfahrung machen müssen. Die rege wissenschaftliche Korrespondenz, die ich immer geführt habe und heute noch führe, hat mich mit den verschiedensten Gelehrten in Fühlung gebracht und bildet, wenn ich sie mir gelegentlich wieder vornehme, eines meiner stolzesten Besitztümer. Leider sind schon sehr viele von denen, die mir nahegestanden haben, in die andere Welt gegangen. Das zweite Buch, an dem ich bald zu arbeiten begann, war „Das Zeitalter der Normannen in Sizilien" 26 . Damit hatte es folgende Bewandtnis. In den Fachzeitschriften war eine Notiz des Verlages Kurt Schröder in Bonn erschienen, in der dieser mitteilte, daß er eine neue Reihe geschichtswissenschaftlicher Werke herauszubringen beabsichtigte und um Vorschläge bat. Nach sehr kurzer Korrespondenz bekam ich den Auftrag zu diesem Buche. Das Thema hatte ich mir selbst gewählt,
26
Vgl. SV Nr. 110.
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und es lag mir besonders. Das Buch unterscheidet sich insofern von meinen anderen Veröffentlichungen, als es auf den Anmerkungsapparat verzichtete. Es war wohl auf Grund der Fachliteratur gearbeitet, aber es sollte doch vor allem für weitere Kreise lesbar sein. Das Schreiben dieses Buches ging ziemlich rasch vonstatten. Ich hatte damals den Mut, so etwas schnell hintereinander zu schreiben. Das Buch ist heute in deutscher Sprache vergriffen; ich habe aber eine völlige Neubearbeitung vor einigen Jahren fertiggestellt, die in Italien erscheinen sollte und die auch zum Teil schon übersetzt ist; aber fürs erste ist das auch durch die Judengesetzgebung Mussolinis unmöglich geworden 2 7 . Wenn ich hier noch hinzufüge, daß ich damals auch noch eine B i o graphie Ferdinand Lassalles schrieb 2 8 , für den ich mich von Jugend an besonders interessiert habe, so darf man wohl annehmen, daß ich ausreichend beschäftigt war. Diese kleine Biographie, die für die Arbeiterjugend bestimmt war, sollte zunächst im Verlage von Priebatsch in Breslau erscheinen. Es kam aber kein Verlagsvertrag zustande. Priebatsch hatte sich wegen eines Gutachtens an einen sozialdemokratischen Beamten gewendet, der aber ein sehr schlechtes Urteil abgab. Priebatsch hatte wohl auch keine rechte Lust, seinen Verlag, der als Jugendschriftenverlag seit Jahrzehnten in einem gewissen neutralen Fahrwasser dahinsegelte, mit einer solchen Schrift zu belasten. Ich wandte mich darauf an den Verlag I. H . W . Dietz in Stuttgart, einen sozialdemokratischen Parteiverlag, der die Schrift sofort in ziemlich hoher Auflage herausbrachte, die sehr rasch vergriffen war. Es wurde dann auch noch eine zweite Auflage gedruckt 2 9 , deren Reste wohl bei der grossen Bücherverbrennung von 1933 vernichtet worden sind 30 . Mit Lassalle hatte ich mich sehr viel befaßt, und neben dieser populären Schrift war auch eine ganze Reihe von Aufsätzen entstanden, die in jüdischen Zeitschriften erschienen 3 1 . Wenn ich heute noch einmal in die Lage käme, über Lassalle zu schreiben, so würde ich ihn wahrscheinlich anders sehen. Damals erschien er mir als Heros, geeignet, sozialistische Gesinnung in junge Menschen hineinzutragen. Vielleicht ist es auch richtig, wenn man eine Biographie für die Jugend schreibt, die betreffende Persönlichkeit aus einem Gesichtswinkel zu sehen und Das italienische Gesetzesdekret vom 17. November 1938 orientierte sich an den Nürnberger Gesetzen. 2 8 Vgl. SV Nr. 123. 2 9 2. Auflage, Berlin/Stuttgart: Dietz Nachf. 1922. 3 0 Siehe oben S. 89. 31 Vgl. SV Nr. 128, 165, 186-188, 225, 233, 345. 27
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über das Problematische mehr oder weniger hinwegzugehen. Heute weiß ich, daß Lassalle doch in einem sehr starken Maße aus persönlichem Geltungsbedürfnis heraus auf diesen Weg gekommen ist. Aber das würde zu weit führen, wenn ich in diesem Rahmen die Frage der Lassalleforschung streifte. Wenn ich rückblickend überschaue, was ich in diesen ersten Jahren nach dem Kriege gemacht habe (und vieles ist hier nur angedeutet wie zum Beispiel eine ziemlich umfassende journalistische Tätigkeit oder zahlreiche Vorträge), so ist das wohl ein wenig reichlich gewesen. Es kann sein, daß ich eben für mein privates Leben nicht allzuviel Zeit hatte und damit das Auseinanderleben zu Hause in Verbindung stand. Auch das soll nur angedeutet werden, denn man kann in diesen Dingen nicht von Schuld oder Unschuld sprechen. Wenn eine Frau mit einem Gelehrten verheiratet ist, so muß sie sich darüber klar sein, daß für ihn die Besessenheit der Arbeit etwas ist, womit sie zu rechnen hat. Aber wenn man sehr jung heiratet, so kann man das natürlich übersehen. Ostern 1919 durfte ich mir einen Wunsch erfüllen, von dem ich die ganzen langen Kriegsjahre geträumt hatte. Ich sah das Riesengebirge wieder. Wie oft hatten mir diese meine geliebten schlesischen Berge vor den Augen gestanden, wenn ich draußen viel durchzumachen hatte. Es schien mir ganz unwahrscheinlich, als mich der Zug nach Krummhübel hinaufführte und ich wieder die Schneekoppe sah. Immer, wenn ich in meinem Leben gewaltige Berge erblickte, hatte ich das Gefühl, daß vor ihrer Ewigkeit all das, was Menschen Geschichte nennen, wie ein Augenblick ist. An der Größe der Berge scheint mir alles Irdische abzuprallen. Von den Beschränkungen, die uns heute die Gegenwart auferlegt, ist mir immer eine der härtesten, daß man so selten noch durch einen Wald gehen kann. N u n also war ich wieder einmal in Krummhübel und durfte durch die Wälder gehen, die mir seit dem Jahre 1897 vertraut waren. Ich wohnte damals in Oberkrummhübel in dem Hause Giersdorf, das in späteren Jahren Logenheim des Ordens U O B B wurde 3 2 . [...] In Krummhübel war übrigens damals noch kein rechter Friede. Krummhübel war nämlich Grenze gegenüber einer der problematischsten Staatsbildungen des Versailler Systems geworden, der Tschechoslowakei. Gewiß, auch vor 1918 ging über den Riesengebirgskamm die Grenze nach Böhmen; aber das war doch nur die Grenze zwischen zwei befreundeten Ländern, die
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Zum Unabhängigen Orden Bne Briss siehe unten S. 312, Anm. 4.
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höchstens für den Bedeutung hatte, der Süßstoff oder Tabak schmuggeln wollte. Der tschechoslowakische Staat aber gehörte zur Entente 33 , und Ostern 1919 war ja noch kein rechter Friede. In Krummhübel lag übrigens damals deutscher Selbstschutz, und einmal war große Aufregung. Es kam die Nachricht, daß die PrinzHeinrich-Baude von den Tschechen besetzt worden sei. Nachher aber stellte sich die Angelegenheit als sehr viel harmloser heraus. Eine tschechische Patrouille hatte nämlich lediglich, um Schutz vor dem Wetter zu finden, in der Prinz-Heinrich-Baude Halt gemacht. Das Wetter, das oft im Riesengebirge tobt, nahm wenig Rücksicht auf die Landesgrenzen und zwang die Menschen, dort Schutz zu suchen, w o es gerade war. Überhaupt ist es schwer, auf dem Kamm des Riesengebirges, wenn alles voll Schnee liegt und kaum die Stangenmarkierung herausragt, Grenzsteine zu entdecken. Dann kommt einem ein solcher Begriff überhaupt sinnlos vor. Auf einer meiner Wanderungen kam ich auch in die Riesenbaude, die immer deutschen Charakter hatte, aber zum tschechischen Staat gehörte. Damals machte ich die erste Bekanntschaft mit den tschechischen Briefmarken. Das ist eine meiner Schwächen, überall wo ich hinkomme, Briefmarken zu kaufen. Ich sehe noch, wie die Kellnerin auf der Riesenbaude die Briefmarken mit der Schere von einem Bogen abschnitt, denn die junge Republik besaß offenbar noch keine Perforiermaschinen, die Zähne in die Markenbogen macht. Damals hätte man sich gewiß nicht träumen lassen, daß der tschechische Staat knapp zwanzig Jahre bestehen würde 3 4 . Aus dem Angedeuteten mag ersichtlich sein, daß man auch in dem Frieden der Wälder den politischen Tagesproblemen nicht gänzlich ausweichen konnte. Es war damals eine aufregende Zeit, in der man in Versailles darüber brütete, was man alles Deutschland abnehmen könnte. Die Männer, welche die Waffenstillstandsverhandlungen von deutscher Seite durchzuführen hatten, hatten gewiß keine leichte Aufgabe. Meine Frau war auf die Reise nicht mitgekommen, weil wir die Geburt unseres zweiten Kindes erwarteten. Im August 1919 ist uns dann unser Sohn Ernst geschenkt worden, der nach seinem Großvater mütterlicherseits den zusätzlichen Namen Adolf erhielt und bei der Brith Milah den hebräischen Vornamen Abraham, den er in Palästina nun seit Jahren 33 Neben der kleinen Entente mit Jugoslawien und Rumänien hatte sich der neue tschechoslowakische Staat 1920/21 durch Bündnisse mit Frankreich und Polen abgesichert. 34 Cohn hat hier das Ende der ersten tschechoslowakischen Republik im März 1939 vor Augen.
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ausschließlich führt. Es war eine sehr leichte und glatte Geburt, und es war g'ttlob ein sehr gesundes und strammes Baby. Der Junge ist seitdem immer sehr kräftig gewesen und hat die schwere Arbeit in Palästina glatt bewältigt. Ich war sehr glücklich über dieses Kind, wie ich mich stets über jedes meiner Kinder gefreut habe. Die Kosten für die Entbindung bestritt ich zu einem großen Teil aus Kriegssparmarken, die ich während des Feldzuges regelmäßig von meiner ersparten Löhnung geklebt hatte und die ich nun bei der Städtischen Sparkasse nebst den aufgelaufenen Zinsen zurückbezahlt bekam. Damals fing es schon durch die Entwertung der Mark an, für den Festbesoldeten wirtschaftlich recht schwierig zu werden. Die Preise kletterten rasch in die Höhe. Wir hatten ja nicht die Möglichkeit, unsere Einkünfte ihnen anzupassen. Bei den Kaufleuten und den freien Berufen war das anders. Es wurde in den nächsten Jahren oft schwer, mit diesen Dingen mitzukommen und sich dabei noch die Freiheit des geistigen Schaffens zu bewahren. Mancher lachte mich aus, wenn ich ihm von der wissenschaftlichen Arbeit sprach, die nichts einbrachte. Aber letzten Endes ist davon doch mehr übriggeblieben als von dem, was diese Leute sich durch das H i n - und Herschieben von Margarine und ähnlichem erworben haben. Jedenfalls freue ich mich heute, daß ich meiner Linie auch damals treu geblieben bin. Ich finde immer, daß man sich von seinem gesunden Instinkt leiten lassen soll und daß es besser ist, ihm zu gehorchen, als den Einflüsterungen von außen. Aber das mag nur für Menschen gelten, die wirklich wissen, was sie wollen. So kam man, abgesehen von diesen Dingen, allmählich in ein gleichmäßigeres Fahrwasser des Alltags, das noch gleichmäßiger hätte sein können, wenn sich nicht im Inneren meines Hauses nicht mehr überbrückbare Schwierigkeiten aufgetan hätten. Nachdem es lange schon sehr kritisch ausgesehen hatte, führten sie schließlich dazu, daß mich meine Frau im Januar 1921 (also jetzt vor zwanzig Jahren), nach dem Tode ihres Vaters, verließ. Ich will und kann diese Dinge nicht wieder aufrühren; mögen sie im Dunkeln begraben sein. Es war für mich nun eine sehr böse Zeit; denn Ernst war erst anderthalb Jahre alt. Ich habe niemals begreifen können, wie eine Mutter ein so junges Kind verlassen konnte. Ich gab meiner Frau noch die Frist eines ganzen Jahres zur Überlegung, bis ich auf böswilliges Verlassen klagte. Ich habe glücklicherweise niemals das Gericht in dieser Angelegenheit betreten; ein befreundeter Anwalt führte das sehr taktvoll durch. Die Schuld wurde einseitig ausgesprochen, und ich erhielt beide Kinder. Alle Versuche, mich zur Abtretung eines Kindes zu bewegen, scheiterten an meinem Widerstand. In diesem Punkte ließ ich nicht mit mir spaßen, wenn ich auch sonst nachsichtig war.
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Es kam nun für mich eine ziemlich schwierige Zeit, denn einmal war ich noch verhältnismäßig jung, um frauenlos zu leben, und andererseits mußte ich in den bösen Jahren der Inflation den Haushalt versehen, wobei ich mehr oder weniger den Hausangestellten ausgeliefert war. Ich hatte wohl ein tüchtiges Fräulein für die Kinder, die aber doch auch weiterhin sehr stark von der anderen Seite beeinflußt blieben, so daß alles sehr nervenaufreibend war. Wir bekamen in den Inflationsjahren unser Gehalt in der Schule oft mehrfach in der Woche ausgezahlt. Die verheirateten Kollegen bestellten dann ihre Ehefrauen in die Pause und gaben ihnen das Geld, damit sie sofort etwas dafür einkauften. Mittags schlössen meistens die Geschäfte und nachmittags, wenn sie wieder aufmachten, hatten sie die Preise dem neuen Dollarsatze angepaßt. Wenn man dann einkaufte, so war man um einen erheblichen Teil seines Verdienstes gekommen. Andererseits wollte ich doch die Kinder so gut wie möglich ernähren. Ich bin in diesen Jahren selbst gesundheitlich ziemlich heruntergekommen, da ich eben nicht die richtige Pflege hatte. Außerdem war ich seelisch ziemlich auf dem Hunde. In den Inflationsjahren habe ich auch ein Jahr am Elisabethgymnasium amtiert, und darüber möchte ich nun einiges erzählen. D e r Professor Schaube, der meine drei großen Brüder unterrichtet hatte und ein bekannter Schulhistoriker war, war damals gestorben. Mit der kommissarischen Verwaltung seiner Stelle war ich beauftragt worden. Das war auch für die Anstalt ein gänzlicher Wechsel in der Methode. Schaube hat seinen Geschichtsunterricht durch Jahrzehnte nur auf das Pauken von Zahlen abgestellt. Ich erinnere mich, was mir meine Brüder von seinem Unterricht erzählt haben. Gewiß hat er es verstanden, den Schülern ein großes Wissen beizubringen, aber die inneren Zusammenhänge werden sie weniger erfaßt haben. Mir kam es im Unterricht vor allem auf das Erfassen dieser Zusammenhänge an, wenn ich es auch niemals verabsäumt habe, auch wirkliches Tatsachenwissen zu verlangen. Schaube hatte übrigens sonst unter den Geschichtslehrern einen großen Namen. Was für Menschen traf ich nun am Elisabethgymnasium an, sei es in der Person des Direktors, sei es unter den Kollegen? Die Anstalt wurde von dem Direktor Wiedemann geleitet, der damals sein letztes Jahr absolvierte, weil er kurz vor Erreichung der Altersgrenze stand. Wiedemann war vor Jahrzehnten der Nachfolger des Direktors Paech geworden, der der Direktor meiner Brüder gewesen war. Als ich mich ihm vorstellte, erinnerte er sich besonders an meinen Bruder Franz, dessen Ordinarius er einmal gewesen war. E r sprach immer nur von Franzi, wie man ja als Lehrer verständlicherweise immer seine Schüler in der Gestalt vor Augen behält, wie sie einem einstmals zu Füßen gesessen
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haben. Franzi, von dem Wiedemann mir in seinem Arbeitszimmer erzählte, hatte aber inzwischen schon lange die Zweizentnergrenze überschritten. Wiedemann war Historiker wie ich, was mir sehr lieb war, denn es ist immer angenehmer, einen Vorgesetzten zu haben, der etwas versteht, als einen, der nichts versteht. Dieses Urteil aber gilt natürlich nur dann, wenn man seiner Sache sicher ist. Wiedemann hatte vor Jahren ein ausgezeichnetes Buch über Breslau in der Franzosenzeit 3 5 geschrieben, das ich besaß, und so ergaben sich bald Anknüpfungspunkte. Im Lehrerzimmer wurde über Wiedemann nur Ungünstiges gesprochen. E r galt auch in den Kreisen der Studienassessoren als besonders gefürchtet. Ich bin mit ihm ausgezeichnet ausgekommen. E r wußte, daß ich wissenschaftlich arbeitete und schon mancherlei publiziert hatte. Das sah er sehr gern, denn er bemühte sich, am Elisabethgymnasium die Tradition der alten Gelehrtenanstalt aufrecht zu erhalten. In meinem Unterricht ist er nur ein oder zweimal gewesen und verschwand nach wenigen Minuten mit den klassischen Worten: „Sie scheinen es ja zu können". Er war in seinen Umgangsformen ein wenig derb, aber im Grunde eine Seele von einem Menschen. Es ließ sich gut mit ihm auskommen, wenn man seine Sache machte. Das Lehrerkollegium war außerordentlich überaltert. Man stand dort auf dem Standpunkt, so wie man es seit einigen hundert Jahren gemacht hätte 3 6 , so könnte man es auch weitermachen, und damit versuchte man auch die gemäßigtste Reform von vornherein zu sabotieren. Wenn ich an die Gestalten denke, die ich damals kennenlernte, und denen ich natürlich mit größter Zurückhaltung entgegentrat, so tritt mir am meisten, besonders nach der negativen Seite, der Professor Rudkowski in Erinnerung, der übrigens später auch in der Irrenanstalt gestorben ist. Ich beantragte damals, daß eine neue Karte angeschafft würde, auf der die Gebietsabtretungen des Versailler Vertrages sichtbar würden. Ich hatte nämlich bemerkt, daß im Unterricht noch immer das alte ÖsterreichUngarn unterrichtet wurde, ein Staat, von dem doch mit Bestimmtheit anzunehmen war, daß er niemals mehr aus der Versenkung aufsteigen würde. Es war dort überhaupt sehr beliebt, die neue Zeit einfach nicht F. Wiedemann (Hg.): Breslau in der Franzosenzeit 1806-1808. Aufzeichnungen von Dr. med. Fr. Gotth. Friese. Breslau 1906 (= Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau; 8). 3 6 Das Elisabethgymnasium war historisch die zweite Stadtschule von Breslau, jedoch als Gymnasium (seit 1562) war es das älteste der Stadt. Zum 700jährigen Gründungsjubiläum erschien eine Gedenkschrift „Elisabetgymnasium Breslau 1293-1993", hg. v. D. Goihl. Sindelfingen 1993. 35
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zur Kenntnis zu nehmen. Ich habe übrigens die Anschaffung der Karte erreicht. Als sie das erste Mal aufgerollt wurde, sagte Rudkowski: „Dann hat wenigstens später einmal die Anstalt eine historische Karte". Mit diesem Ausspruch hat er übrigens recht behalten, denn nun gehört das Kartenbild des Versailler Vertrages der Geschichte an. Trotzdem war es richtig, die Karte anzuschaffen, denn man hat doch die Verpflichtung, seine Schüler die eigene Zeit miterleben zu lassen. Im Elisabethgymnasium hat man die Weimarer Republik natürlich vollkommen abgelehnt, ohne daß irgendeiner die Konsequenzen gezogen hätte, freiwillig aus dem Amte zu scheiden. Da war zum Beispiel der Professor Hanisch, ein netter jovialer alter Herr. Die Hauptsache war ihm sein Kriegerverein, hinter dem alles andere zurückzutreten hatte. Man hatte überhaupt den Eindruck, daß der Unterricht bei vielen so zur Routine geworden war, daß man für ihn so wenig wie möglich tat. Auf das Erlernen neuerer Literatur und dergleichen „wahnsinnige" Dinge verzichtete man brennend gern. Meine Anwesenheit dort war aus vielen Gründen nicht sehr erwünscht. U m mit dem schon angedeuteten Letzteren zu beginnen, so fürchtete man vor allem, daß ich in diesen alten Trott etwas frischere Luft hereinbringen würde. Denn mir ging in Breslau der Ruf voran, daß ich sehr modern wäre. Dann aber war große Aufregung, daß die Behörde es gewagt hatte, einen Juden an diese streng evangelische Anstalt zu versetzen. Der Elternbeirat faßte sofort eine Resolution, um bei der Behörde meine Versetzung zu beantragen. Er hatte aber damit gar kein Glück. Damals war mein oberster Vorgesetzter am Provinzial-Schulkollegium der Geheimrat Miller. Man nannte ihn in vertrauten Kreisen den „eingepinkelten" Miller zum Unterschied von dem sogenannten LeichenMüller, der auch beim Provinzial-Schulkollegium war und später dort Direktor wurde. Dieser zweite hatte seinen gräßlichen Beinamen deshalb bekommen, weil man ihm nachsagte, daß er immer das Klassenzimmer mit der Absicht betrat, irgendwelche Kollegen abzusägen. Ich glaube, den Beinamen des Geheimrat Müller brauche ich nicht zu erläutern. Auch er galt übrigens als ein sehr scharfer Vorgesetzter. Als ich mich bei ihm vor meiner Versetzung an das Elisabethgymnasium zu melden hatte, sagte er mir viel Anerkennendes über meine Tätigkeit am Johannesgymnasium. Gabriel muß mir damals ein glänzendes Zeugnis ausgestellt haben. Auch die gefürchtetsten Vorgesetzten sind nicht so schlimm, wenn man seine Sache kann. Ich hatte übrigens damals nicht geglaubt, an das Elisabethgymnasium zu kommen, denn ich stand unmittelbar vor der Wahl an die Viktoriaschule, ein Mädchengymnasium. Als der Elternbeirat dort davon
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Wind bekommen hatte, daß ich gewählt werden sollte, wurde sofort eine Gegenaktion inszeniert. Der pflaumenweiche Lauterbach, der in solchen Situationen nie wußte, wie er sich zu verhalten hatte und als echter Demokrat am glücklichsten war, wenn er sich um eine Entscheidung herumdrücken konnte, kam auch auf den Ausweg, die Stelle überhaupt nicht zu besetzen. Man hätte mich sonst bei meiner Eignung, bei den Beurteilungen, die über mich vorlagen, sowie bei der Tatsache, daß ich als so langjähriger Kriegsteilnehmer nicht zu übergehen war, wählen müssen. Anläßlich dieses Falles hatte ich, wie so oft in meinem Leben, die Deutschen Demokraten besonders schätzen und lieben gelernt. Letzten Endes aber war es für mich sehr gut, daß ich dort nicht gewählt wurde. Auch hier gilt das Wort, das ich mir immer wieder zum Grundsatz meines Lebens gemacht habe: gam su letowa37. Ich glaube, ich wäre als Mädchenschullehrer wenig geeignet gewesen. Es hätten sich viele Konflikte ergeben. Man kann über diese Dinge selbst schwer reden; nur soviel sei gesagt, daß ich von einem bestimmten Typus Mädchen stets sehr angeschwärmt wurde. Ich habe einmal nebenamtlich einen Versuch in einer Mädchenschule gemacht. Der blinde Dr. Ludwig Cohn unterhielt in seiner sehr geräumigen Wohnung auf der Viktoriastraße eine Privatunterrichtsanstalt, die hauptsächlich von Mädchen besucht wurde. Dort war ich eine Zeitlang tätig. Es hat mir sehr viel Freude gemacht, und die Mädel haben sehr an mir gehangen. Es war auch ganz interessant, den Unterschied in der Beurteilung durch Schüler oder Schülerinnen festzustellen. Bei Jungens ist es das höchste Lob, wenn die Schüler sich zu dem Urteil aufschwingen: Er kann was. Bei Mädeln aber ist jedes Urteil gefühlsbetont. Wenn man zu einer netter ist als zu der anderen, dann gab es immer gleich furchtbare Eifersucht. Doch zurück zum Elisabethgymnasium. Ich stand hier auf einem sehr exponierten Posten. Das erfreulichste an der Anstalt war, daß auf der Malteserstraße gegenüber das Kindergärtnerinnen-Seminar war und daß man in der Pause, wenn man zum Fenster hinausschaute, ab und zu einen netten Anblick hatte. Ich will auch nicht leugnen, daß das Gebäude damals das schönste Schulgebäude in Breslau gewesen ist38. Aber der Geist der Anstalt war eben sehr muffig. Da war zum Beispiel ein Professor Sternitzky, boshaft immer Sternickel genannt, so hieß damals ein bekannter Raubmörder. Dieser war mit dem Kollegium vollständig
Hebräisch: Auch dies ist zum Guten. Das Gymnasium hatte 1903 einen großzügigen Neubau an der Ecke Malteser/Arletiusstraße bezogen. 37
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überworfen und erschien niemals in den Pausen. Es ergaben sich manchmal „furchtbare" Komplikationen. Es mußte, wie schon angedeutet, das Gehalt wegen der sinkenden Währung immer stoßweise abgeholt werden; das konnte für das ganze Kollegium aber nur geschlossen geschehen. Dann mußte eine Deputation zu Professor Sternitzky geschickt werden, die die schwierige Aufgabe hatte, seine Unterschrift einzuholen. Auch der Direktor verkehrte mit seinem eigenen Kollegium nur schriftlich. Während Gabriel sich in den Pausen immer im Lehrerzimmer aufgehalten hatte und alle laufenden Angelegenheiten, ohne daraus sehr viel Wesens zu machen, erledigte, ging das bei Wiedemann alles schriftlich über den Schuldiener. Man kann sich vorstellen, was für eine Atmosphäre an einer Anstalt herrschte, wo ein so mangelndes Vertrauensverhältnis war. Der Direktor kam meist nur zu den Konferenzen in das Lehrerzimmer. Wenn etwas nicht schriftlich zu erledigen war, ließ er sich den betreffenden Kollegen heraufholen. Es gab auch den einen oder anderen aufgeschlossenen unter den jüngeren Kollegen. Da wäre zum Beispiel der Geograph Olbricht zu nennen, der leider vor einigen Jahren verhältnismäßig jung einem schweren Leiden erlegen ist. Er hat sich auf dem Gebiete der Schulgeographie einen bedeutenden Namen gemacht und sehr viel publiziert 39 . Wir verstanden uns recht gut, denn wir vertraten beide die Auffassung, daß man im Unterricht geistig verkommen müsse, wenn man nicht weiter arbeitete. Die Herren waren mit Ausnahme eines Kollegen sämtlich protestantisch. Der katholische Lehrer namens Schulz war gänzlich isoliert. Er schloß sich etwas an mich an. Denn Katholik zu sein galt dort als noch schlimmer, als Jude zu sein. Alles zusammen gesehen, war es also doch engstirnig. Der einzige, mit dem ich später noch Fühlung hatte und bis in die letzte Zeit hinein, war der Direktor Wiedemann, der sich auch im hohen Alter immer eine große Aufgeschlossenheit bewahrt hat. Und nun einiges zu den Schülern. Man kann sich vorstellen, daß ich da auch mit einem großen Mißtrauen begrüßt wurde. Ein Jude am Elisabethgymnasium! Das Schülermaterial war nicht mehr das, was es gewesen war, als sich die Anstalt noch an der Elisabethkirche befand. Das Elisabethgymnasium lag nun südlich des Hauptbahnhofes in der Herdainvorstadt und ergänzte sich vor allem aus den in dieser Gegend Wohnenden. Und das war meist kleiner Mittelstand ohne geistige Tradition. Nur vereinzelt gab es Schüler aus gelehrten Familien, wo der Vater und der Großvater schon das Gymnasium besucht hatte, und es 39 Konrad Olbricht wurde später Professor an der Pädagogischen Hochschule in Breslau.
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als Tradition galt, daß nun auch der Junge hinging. Man konnte also im Unterricht wenig mit der geistigen Mitarbeit des Elternhauses rechnen, was am Johannesgymnasium doch stark der Fall war, w o auch die Jungens häufig über eine häusliche Bibliothek verfügten. Und doch ist es mir gelungen, wie eigentlich überall, mich mit meinen Schülern gut zu stellen und ordentlich mit ihnen auszukommen. Ich hatte ja auch gewisse Erfahrungen von der evangelischen Realschule II her. Zunächst legte ich mir auch den Jungens gegenüber ein hohes Maß von Zurückhaltung auf, bis sie heraushatten, daß ich es gut mit ihnen meinte und daß ich etwas konnte. Dann lief die Sache von allein. Ich habe auch sehr gern, im Gegensatz zu vielen Herren aus dem Kollegium, die Wandertage wahrgenommen, weil man bei diesen Wanderungen die Jungens ganz anders kennenlernte als in der Schulstube. Ich erinnere mich noch an einen sehr hübschen Ausflug nach dem Zobten, den ich mit einer Obersekunda unternahm. So hat mich der Unterricht für vieles entschädigt, was ich im Kollegium vermißte, aber die Erfüllung des Lehrerdaseins liegt ja auch nicht im Lehrerzimmer, sondern im Schulzimmer. Zu antisemitischen Sticheleien ist es nur sehr selten gekommen. Folgenden Zwischenfall möchte ich kurz schildern. In einem Schulzimmer stand eine Schillerstatue, die seit Jahrzehnten offenbar nicht mehr abgewischt war. In diesen uralten Staub malte ein Junge vor meiner Stunde ein Hakenkreuz. Es war damals die Zeit, wo dieses Zeichen zuerst ganz vorsichtig und zagend als Symbol des Rechtsradikalismus auftrat. Wenn man so etwas beim Eintritt in die Klasse sah, war man immer im Zweifel, was man machen sollte: übersehen oder melden. Das erste konnte von den Jungens leicht als Feigheit ausgelegt werden; mit einer Meldung an den Direktor machte man sich aber auch nicht beliebt, weil dadurch zusätzliche Arbeit entstand. Ich habe in diesem Falle doch den letzteren Weg gewählt, weil ich bei den Jungens nicht das Gefühl aufkommen lassen wollte, daß ich mir alles gefallen lasse. Die Sache ist dann auch rasch herausgekommen; der Junge hat sich bei mir entschuldigt, und das hat besser gewirkt, als wenn ich auf einer Bestrafung bestanden hätte. Ich glaube, daß etwas Derartiges sich höchstens zweimal in dem ganzen Jahre ereignet hat. Sonst ist alles immer recht angenehm und glatt gegangen. Meine Art, die Jungens menschlich zu behandeln, war ihnen etwas ganz Neues. Am Elisabethgymnasium waren sie meistens gewöhnt, immerfort bestraft zu werden. Dies wird folgende Episode gut beleuchten. Ich unterrichtete unter anderem in der Klasse eines Herrn Müller 40 , der 40
Vermutlich Hermann Müller, geb. 1880.
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wegen seiner fast an Sadismus streifenden Behandlung der Jungen sehr gefürchtet war. Er machte mir einmal Vorwürfe, daß ich zu wenig Notate gab. Unter einem Notat verstand man damals eine ins Klassenbuch eingetragene Rüge. Ich sagte ihm, daß ich doch die Jungens nicht bestrafen könnte, wenn sie nichts machten. Er schien die Meinung zu vertreten, daß ein tüchtiger Lehrer in jeder Woche ein bestimmtes Quantum Strafen ins Klassenbuch einzutragen hätte. Mit solchen Kollegen war natürlich jede pädagogische Fühlung ausgeschlossen. Die Frage, ob ich dauernd am Elisabethgymnasium bleiben sollte oder nicht, fand dann zu Beginn des Jahres 1922 eine Lösung, an die ich nicht gedacht hatte. Der Professor Wohlauer am Johannesgymnasium, von dem ich ja schon so oft erzählt habe, wurde im Rathause vom Herzschlag getroffen. Ich wurde zu seinem Nachfolger gewählt und kehrte Ostern 1922 an das Johannesgymnasium zurück, wo ich dann bis zu meiner Pensionierung 1933 geblieben bin. Ich habe nun mancherlei Persönliches aus diesen Jahren von 1919 bis 1922 nachzuholen. Innerlich war ich in dieser Zeit so sehr Soldat geblieben, daß ich mich noch der Einwohnerwehr zur Verfügung gestellt hatte. Das war eine halb [legale] und halb illegale Organisation, die eingesetzt werden sollte, wenn es zu Unruhen kam. Die meisten Mitglieder der Einwohnerwehr waren rechtsradikal eingestellt, es gab aber auch einige Juden. Wir gehörten zur Kürassierkaserne, woher wir auch unsere Ausrüstung empfingen. Ich hatte also wieder eine feldgraue Uniform in meiner Wohnung und auch ein Gewehr. Wir hatten unsere ganze Ausrüstung zu Hause. Wenn wir abends zum Üben in die Kürassierkaserne gingen, dann mußten wir einen Zivilmantel darüber ziehen und das Gewehr unsichtbar tragen, damit es nicht auffiel. Im März 1920 kam es bekanntlich zu dem sogenannten Kapp-Putsch 41 . Rechtsradikale Kreise versuchten, die Weimarer Regierung zu stürzen. Ich lag frühmorgens noch im Bett, als es klingelte und der Alarmbefehl kam. Ich warf mich sofort in Uniform und begab mich „in voller Kriegsbemalung" in den Hof des Oberbergamtes, wo der Alarmplatz unserer Kompanie war. Zunächst wußten wir nicht, um was es sich handelte. Es wurde uns mitgeteilt, daß die Einwohnerwehr sich auf Seiten der neuen Kappregierung stelle, und wem das nicht paßte, der solle rechts raustreten. Darauf wurde für die anderen laden und sichern 41 Vgl. hierzu W . Jaenicke: Tagebuch während des Kapp-Putsches; in: Leben in Schlesien. Hg. v. H. Hupka. 2. Aufl. o.O., o.J., S. 11-28.
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befohlen. Ich stellte mich selbstverständlich zu denen, die nicht zu der Kappregierung wollten, denn ich hatte als Beamter meinen Amtseid auf die Weimarer Verfassung abgelegt. Es entsprach ja auch dieser Rechtsradikalismus gewiß nicht meiner Anschauung. Wir also, die wir in der Minderheit waren, weil wir zu der rechtmäßigen Regierung standen, wurden umzingelt, entwaffnet und dann nach Hause entlassen. Es waren nicht ganz behagliche Minuten, die man aber selbstverständlich mit Haltung durchgemacht hat. An jenem Märztag 1920 habe ich also endgültig zum letzten Male den feldgrauen Rock getragen, denn jetzt dürfte ja kaum Aussicht bestehen, daß ich ihn noch einmal anziehe. Diese Kapptage waren damals für mich besonders sorgenvoll. Der KappPutsch wurde bekanntlich durch einen Generalstreik niedergeworfen, der zunächst sehr radikal durchgeführt wurde. Es schien so zu sein, als ob der Streikausschuß auch die Milchziege nicht durchlassen würde. Das ist dann aber schließlich erreicht worden. Mein Sohn Ernst war damals erst wenige Monate alt, und so war das eine lebenswichtige Frage. Man kann sich vorstellen, wie glücklich ich war, als es wieder Milch gab. Hier habe ich den Unterschied von Theorie und Praxis kennengelernt. Vom sozialistischen Standpunkt aus mußte man für eine rücksichtslose Durchführung des Streikes sein, weil dann der Putsch am schnellsten zusammenbräche; aber wenn man Vater war und um das Leben eines kleinen Kindes zitterte, vertrat man den entgegengesetzten Standpunkt. Es kommt eben hier wie so oft im Leben darauf an, ob man an den Ereignissen unmittelbar selbst beteiligt ist oder sie nur mehr oder weniger als Zuschauer miterlebt. Damals pfiffen in Breslau die Kugeln noch einmal ganz tüchtig. Wir standen mitten im Abiturium, und ich mußte am Nachmittag in die Stadt. Wir haben damals beim Schießen geprüft, aber uns dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen. Als ich Ecke Gartenstraße und Neue Schweidnitzerstraße auf dem Hinweg umsteigen mußte, pfiffen gerade die Maschinengewehrkugeln die Schweidnitzerstraße entlang und schlugen in das Papiergeschäft ein. Es war ja nach soviel Jahren Krieg ein vertrautes Geräusch, wenn man sich auch nicht gerade vorgestellt hatte, daß man in seiner eigenen Heimatstadt noch einmal in diese Lage kommen würde. Der Kapp-Putsch brach damals rasch zusammen. Das Leben nahm wieder seine normalen Bahnen ein, das heißt, das letztere ist zuviel gesagt, denn der zunehmende Währungsverfall machte ja gerade den Kampf mit dem Alltag sehr unangenehm. Jeder Tag brachte neue kleine Erregungen, die aber eben sehr zermürbten.
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Im Sommer 1920 habe ich eine dringend notwendige Badereise nach Kudowa unternommen. Ich habe damals bei meinem Bruder Franz gelebt, dessen erste Ehe schon einige Zeit gelöst war. Er war innerlich bereits wieder gebunden und im Begriffe, seine zweite Frau, die Arztin Dr. Charlotte Wölpe zu heiraten. Ich habe in Kudowa bei ihm gewohnt und dank seiner sorgsamen ärztlichen Betreuung wieder wenigstens ein Gesundheitsgefühl bekommen. Wenn ich meine alten Tagebücher aus jener Zeit durchblättere, sehe ich, wieviel Leid mir auch in Kudowa aus der Korrespondenz mit meiner Frau erwachsen war. Die Unhaltbarkeit der ganzen Situation wurde von Tag zu Tag schlimmer. Aber die Bäder Kudowas, diese unvergleichlichen Kohlensäurebäder und eine sehr intensive Spritzkur haben mein durch den Krieg müde gewordenes Herz ein wenig wieder angekurbelt. An der Spitze von Franzens Häuslichkeit beziehungsweise seines medizinischen Betriebes stand die Oberschwester Rahel, mit der ich auch heute noch, nachdem sonst alle aus diesem Kreise entschwunden sind (sei es in eine andere Welt, sei es ins Ausland), rege Fühlung habe. Damals in Kudowa habe ich neben der Kur noch mein Lassallemanuskript abgeschlossen. Mir ist es im Leben immer so gegangen, daß ich erhöhtes inneres Leid und Schwierigkeiten der Lebensgestaltung durch vermehrte Arbeit auszugleichen versuchte. An jene Wochen in Kudowa denke ich mit dem Gefühl besonderer Dankbarkeit zurück. Ich bin in späteren Jahren immer wieder nach Kudowa zurückgegangen, das für mich ein Jungbrunnen gewesen ist. N u n ist das wie so vieles andere vorbei und nur die Erinnerung geblieben. Die Zeit in Kudowa aber bedeutet auch sonst für mich eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens durch die Freundschaft mit einer früheren Schülerin, eben aus der Schule des Dr. Ludwig Cohn, von der ich erzählt habe. Es war noch ein sehr junges Mädchen; aber wir haben uns wundervoll verstanden, und wenn wir zusammen „spazieren saßen", denn bei der harten Kur durfte man nicht viel laufen, dann waren das Stunden großen Glücks. Sie stammte aus einem sehr wenig jüdisch eingestellten Hause, aber mir zuliebe kam sie sogar in den G'ttesdienst mit. Es war damals der 9. Ab, der Tag der Zerstörung Jerusalems. In Kudowa, das, wenn ich mich recht erinnere, mindestens drei jüdische Gasthäuser hatte, beteten die ostjüdischen Chassidim in der Villa Löwy. Jenen G'ttesdienst dort werde ich niemals vergessen. Man hatte das Empfinden, daß diese Menschen, die dort die Klagelieder sangen, um etwas trauerten, das erst am Tage vorher geschehen wäre, nicht über etwas, was schon bald zwei Jahrtausende vergangen war. Man hatte den Eindruck, daß diese Ostjuden in einer ganz anderen innerlichen
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Verbindung zu unserem Glauben standen als wir selbst, die wir alles viel zu sehr verstandesmäßig auffaßten. Ich habe nachher über diesen G'ttesdienst geschrieben, wie ich in meinem Leben alles und jedes, was ich erlebte, schriftlich wiedergeben mußte. In Kudowa machte ich auch eine sehr interessante Bekanntschaft und zwar mit dem Redakteur des Israelitischen Wochenblattes für die Schweiz, Herrn Weinbaum. Weinbaum war ursprünglich schlesischer Jude; er stammte aus der einstmals so sehr berühmten Gemeinde Dyhernfurth, über deren Friedhof er auch eine Abhandlung geschrieben hatte 42 . Nun gab er in der Schweiz die maßgebende jüdische Zeitung heraus. Er kannte mich aus meinen Arbeiten. Von diesem Augenblick an wurde ich sein Mitarbeiter 43 . Nicht nur, daß diese Arbeit mir unendlich viel Freude machte wie jede journalistische Tätigkeit; sie hat mir auch über die schweren Jahre der Inflation mit hinweggeholfen. Denn ein Honorar in Schweizer Franken bedeutete damals sehr viel. So konnte ich zum Beispiel im Jahre 1922 eine mehrwöchentliche Reise nach Frankfurt am Main mit einem anschließenden Ferienkurs in Heidelberg von dem Erlös mehrerer kleiner Artikel bestreiten. Ich mußte übrigens auch in diesen Inflationsjahren außerordentlich viel Privatstunden geben. Es ist mir heute kaum faßbar, wie ich mit dieser vielfachen Belastung fertig geworden bin, zumal ich wieder eine große wissenschaftliche Arbeit vorbereitete, von der noch zu sprechen sein wird. Ich hatte ja zeitweise geldlich für einen doppelten Haushalt zu sorgen, denn bis die Ehescheidung ausgesprochen war, mußte ich auch noch meiner Frau den Lebensunterhalt zur Verfügung stellen. In dieser Zeit ist es mir sehr schwer geworden, Ausgaben und Einnahmen einigermaßen in Einklang zu bringen. Meine Gesundheit hat natürlich darunter sehr gelitten, auch wenn ich mich durch die Reise nach Kudowa etwas repariert hatte. Ab und zu habe ich damals noch kleinere Reisen unternommen. So war ich mehrfach in dem lieblichen Wölfeisgrund in der Grafschaft Glatz. Der Charakter der Grafschaft ist ja ein ganz anderer als der des Riesengebirges, wo alles viel herber und größer ist. Aber manchmal tat es auch sehr gut, in diesen lieblicheren Gegenden zu wandern, wo nicht so große Höhendifferenzen zu überwinden waren. Der Wölfeisfall in Wölfeisgrund ist doch von einem gewaltigen Eindruck, und es sieht auch D. Weinbaum: Geschichte des jüdischen Friedhofs in Dyhernfurth. Festschrift zur Einweihung der Mauer um den jüdischen Friedhof daselbst. Breslau 1903. 42
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Vgl. SV Nr. 127 bis SV N r . 187.
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ganz herrlich aus, wenn hinten am Horizont der Glatzer Schneeberg aufsteigt. Einmal in diesen Jahren war auch Mutter mit in Wölfeisgrund. Es war damals gerade die Zeit, als mein Sohn Wölfl Kindergartenkind war. Er hatte den jüdischen Kindergarten des Fräulein Hirschberg besucht und zu Purim ein Lied gelernt, das mit den Worten anfing: „Purim, Purim ist es ja heut" und dann irgendwo den Refrain brachte: „Freut Euch, Ihr Leut!" Sein Hauptvergnügen war es, unter Entfaltung beträchtlicher Stimmittel und unter Absingung dieses Liedes durch Wölfeisgrund zu marschieren. Meine gute Mutter trug das Judentum gern als eine Angelegenheit, die man nicht gern nach außen zeigte, wie das in der Familie Hainauer eben bedauerlicherweise üblich war. Wenn Wölfl dieses Lied sang, wäre sie immer am liebsten tief unter den Wölfeisfall gesunken. Er aber ließ sich erfreulicherweise nicht irre machen und sang seinen Kantus weiter. Ab und zu bin ich auch im Riesengebirge gewesen, und zwar in Brückenberg, wo ich entweder in der Pension Meiningerhof oder im Landhaus Gertrud wohnte. Besonders in dem Landhaus Gertrud, in dem ich öfters eingekehrt bin, habe ich mich sehr wohl gefühlt. Einmal hat mich auch Wölfl dahin begleitet. Hier lernte er richtig das Landleben kennen, und er half am liebsten in der Landwirtschaft. Am meisten befreundet war er mit dem Bullen Büffel. Dieser ausgewachsene Stier gehorchte dem sechsjährigen Jungen aufs Wort. Wir haben immer darauf gehalten, daß unsere Kinder Landluft einatmeten und auf den Reisen nicht die Atmosphäre der Bäder mit ihrer Eleganz und ihrem mondänen Betriebe in sich aufnahmen, die mir in der Jugend oft so lästig waren. Man konnte sich mit Wölfl schon sehr hübsch unterhalten. Niemals aber hat er die Frage berührt, warum das mit seinen Eltern so wäre; er hat aber sicher unter diesen Dingen mehr gelitten, als er es je gesagt hat. Frühe Kindheitseindrücke haften ja sehr. Ernst hat von diesen Dingen mit Bewußtsein noch nichts gemerkt; aber umso tiefer hatten sie bei Wölfl gewirkt. Weitere Reisen konnte man damals in diesen schweren Zeiten der immer rascher rollenden Inflation nicht machen. Die Reisen in die heimischen Berge waren gewiß auch ein großes Erlebnis, und heute im Jahre 1941 wäre ich gewiß mehr als zufrieden, wenn ich diese machen dürfte. Ich habe übrigens auch in Brückenberg ab und zu einen Menschen kennengelernt, dem ich näher getreten bin und dem ich etwas sein durfte. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß ich durch das, was ich durchgemacht hatte, uralt geworden bin, aber manchmal setzte sich erfreulicherweise doch die gesunde Lebenskraft und die relative Jugend durch.
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V. Kapitel
Nach Abschluß meines Normannenbuches war ich gleich an die Fortsetzung gegangen, die den Titel führte: „Das Zeitalter der Hohenstaufen in Sizilien" 44 . Die Arbeit an diesem Werke zog sich mehrere Jahre hin. Es ist dann aber auch eines meiner Hauptwerke geworden. Das Buch erschien in den „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte", einer sehr angesehenen Reihe wissenschaftlicher Arbeiten, die im Verlage von M. und H. Marcus erschien und Professor von Gierke zum Herausgeber hatte. Das Hohenstaufenbuch, wie ich es kurz nennen will, hat sogar eine italienische Ubersetzung, die mit schönen Bildern ausgestattet ist, erlebt 45 und hat mir [1932] die korrespondierende Mitgliedschaft der „Società di Storia Patria" in Catania eingetragen. Nach Einführung der italienischen Judengesetzgebung bin ich aber dort wohl auch wieder gestrichen worden 46 . Damals aber war diese Arbeit erst in ihrem ersten Entstehen. Das Schaffen an einem solchen Werke ist etwas unendlich Schönes, [...] man ist wie in einem Rausch. Was nachher kommt, das immer wiederholte Lesen der Korrekturen, ist wenig erfreulich. Das, was man selbst geschrieben hat, interessiert natürlich nachher nicht mehr, doch will auch diese Kleinarbeit bewältigt sein. Meine Mutter hat mir in diesen sehr schwierigen Jahren auch bei der Arbeit beigestanden. Sie hat das ganze große Hohenstaufenbuch mit ihrer wundervollen klaren Handschrift mit der Hand abgeschrieben, weil ich damals schwer in der Lage gewesen wäre, auch noch die Schreibmaschinenkosten aufzubringen. Dieses Manuskript ist mir heute eine besonders teure Erinnerung an die Heimgegangene. Die Arbeit an diesem Buche, für das ich eine gewaltige Literatur zu bewältigen hatte, zog sich durch Jahre hin. Mein alter Lehrer Professor Hampe nahm brieflich immer wieder Interesse an meinen Studien und munterte mich auf. Ich habe übrigens in diesen Jahren persönlich eine Reihe bedeutsamer wissenschaftlicher Bekanntschaften gemacht. Einmal bin ich nach Berlin gefahren, um einige Menschen zu sprechen, mit denen ich in Briefwechsel stand. Ich besuchte damals den Professor Eduard Sthamer, meinen ältesten wissenschaftlichen Freund, der auch auf dem Gebiete der sizilischunteritalischen Geschichte viel gearbeitet hat. In seiner Wohnung in Berlin-Schlachtensee habe ich sehr schöne Stunden verlebt. Er hat mir 44 45 46
Vgl. SV N r . 178. Vgl. SV Nr. 379. Siehe unten S. 595, Anm. 39.
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bis zu seinem sehr frühen Tode die Treue gehalten; auch nach 1933 hat er uns stets mit seinem sehr klugen Rate zur Seite gestanden. Er gab mir damals aus seiner Manuskriptsammlung einige unveröffentlichte Urkundenabschriften zum Leben der Juden in Unteritalien in der Zeit der Anjous zu Ende des 13. Jahrhunderts. Diese habe ich später wissenschaftlich verwendet. Sthamer hat mir in späteren Jahren, als ich eine größere Studienreise nach Unteritalien und Sizilien machen konnte, auch dort die Wege geebnet. Bei diesem gleichen Berliner Aufenthalt verlebte ich auch sehr schöne Stunden bei dem Professor Haepke, dem Herausgeber der Hansischen Geschichtsblätter. Diesem Kreis war ich, wie schon erwähnt, durch mein Buch über die Flotte Konrads IV. und Manfreds nähergetreten. Auch Haepke ist leider sehr früh gestorben, wie überhaupt viele meiner wissenschaftlichen Bekannten, knapp auf der Höhe des Schaffens stehend, abberufen wurden. Haepke hatte sich noch einen Namen auf dem Gebiete der Wirtschaftsgeschichte gemacht; er starb als ordentlicher Professor in Marburg. Bis zu seinem Tode haben wir immer sehr eifrig korrespondiert. Auch aus dem Kreise der jüdischen Wissenschaft lernte ich damals eine sehr interessante Persönlichkeit kennen: den Redakteur Albert Katz von der Allgemeinen Zeitung des Judentums. Er war der Nachfolger des Geheimrats Ludwig Geiger geworden, den ich schon erwähnt habe. Katz war ein Anhänger des positiven und zionistischen Judentums und deswegen der Firma Mosse (sprich Moses) wenig erwünscht. Es gelang auch dem Haus Mosse, weil die Zeitung eine unerwünschte Richtung eingeschlagen hatte, sie zu Fall und den Redakteur, der seine Gesinnung nicht ändern wollte, ums Brot zu bringen. Der Verlag Mosse, der vor allem als Verleger des Berliner Tageblattes bekannt war, liebte es, dort das Judentum nicht offiziell zu erwähnen. Es ist überhaupt vielleicht der größte Vorwurf, den vor dem Forum des Judentums jene einst führenden Schichten in Deutschland treffen kann, daß sie ihr Judentum nicht stolz zeigten, sondern Mimikry trieben. Dieser Fall Katz erscheint mir besonders bemerkenswert. Wer eben nicht so wollte, wie es diesen Herren paßte, wurde rücksichtslos um das Brot gebracht. Und was ist diesen Herren Mosse und so weiter von ihrem Raffgeist geblieben? Auch sie haben, soweit sie noch am Leben waren, das Judenschicksal genauso mittragen müssen wie die anderen, für die das Judentum nicht Gegenstand des Verkriechens, sondern stolzer Freude gewesen ist. Es bleibt ein anderer Vorwurf, daß man in jener Epoche denjenigen,
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die jüdisch wirklich etwas gekonnt haben, nur geringe Möglichkeiten wirtschaftlicher Art gab. Wie wenig hat man für die wirklichen Köpfe im Judentum gesorgt! Es wird noch wiederholt Gelegenheit sein, von diesen Dingen zu reden. Dieser Abend mit Katz war für mich ein sehr erlebnisreicher. Ich bekam durch ihn auch einen gewissen Einblick in die Welt des Talmuds, von der ich bisher sehr wenig gewußt habe, und die mir ja leider niemals gänzlich vertraut geworden ist. Bei jenem Berliner Aufenhalt lernte ich auch den Verleger des WeltVerlages kennen: Aron Eliasberg. Es gab damals in Deutschland zwei jüdische Verlage, die nicht in dem üblichen Fahrwasser der Assimilation segelten, sondern ein mutiges, aufrichtiges und zionistisches Judentum auf ihre Fahne schrieben. Es waren dies der „Jüdische Verlag" und der Welt-Verlag. Sie haben übrigens später ihre Betriebe zusammengelegt. Der Jüdische Verlag ist unter führender Beteiligung Martin Bubers gegründet worden. Er verfolgte durchaus ideale Zwecke und war in keiner Weise ein Erwerbsunternehmen. Beide Verlage bemühten sich, eine neue Art von jüdischer Literatur in Deutschland zu schaffen, die dem deutschen Judentum etwas aufrechtere Gesinnung beizubringen versuchte. Zu dieser jüdischen Literatur hat sich das deutsche Judentum ja erst nach 1933 in weiteren Schichten bekannt, und auch da hatte man ja noch oft den Eindruck, daß dieses Interesse kein so sehr tiefgehendes war. Eliasberg, ein russischer Jude, hat mir menschlich außerordentlich gefallen. Wir sind ja häufig geneigt, das Ostjudentum als etwas Geschlossenes zu beurteilen, was aber durchaus nicht der Fall ist. Die russischen Juden sind von einer ganz anderen Art als die Juden Galiziens. Eliasberg war eine durch und durch kultivierte Persönlichkeit. Wir sprachen damals besonders über Moses Hess, jenen Juden, der vor hundert Jahren lebend, eine Art Synthese von Zionismus und Sozialismus erstrebte 47 . Der Welt-Verlag hatte damals gerade ein bedeutsames Werk darüber herausgebracht 48 . Eliasberg hat auch den „Heinebund" gegründet, jene jüdische Buchgemeinschaft, die zuerst das Verdienst hatte, das jüdische 47
Moses Hess (1812-1875). A. Böhm: Die Zionistische Bewegung. Eine kurze Darstellung ihrer Entwicklung. Tl. 1: Die Bewegung bis zum Tode Theodor Herzls. Berlin 1920. Tl. 2: Die Bewegung v o m Tode Herzls bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Mit einem Anhang: Kurze Übersicht der Entwicklung vom Ausbruch des Weltkrieges bis zur Gegenwart. Berlin 1921. 48
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Buch modernerer Richtung in weitere Kreise zu tragen. Sie hat sich leider, wie so viele derartige Unternehmungen, wirtschaftlich nicht halten können, weil das reiche deutsche Judentum ihr nicht die nötige Anzahl von Abonnenten zur Verfügung stellte. Gerade die Werke des Heinebundes werden später einmal dem Historiker des deutschen Judentums wertvolle Materialien zur Verfügung stellen können. Ich sprach damals mit Eliasberg darüber, daß mir der Name Heine für eine jüdische Buchgemeinschaft nicht sehr glücklich gewählt zu sein schien, weil ja Heine dem Judentum untreu geworden ist und sich hat taufen lassen. Eliasberg vertrat einen anderen Standpunkt, aber es war immerhin doch ein sehr interessanter Gedankenaustausch. Leider hat Eliasberg ein trauriges Ende gefunden. Es war ihm wohl noch das Glück beschert, seine Alijah antreten zu können und dort mit seinen Kindern zu leben, dann aber hat er sich mit seiner Frau das Leben genommen. Es gibt Schicksale, die so laufen, wie man es gar nicht erwarten könnte. Auch den Professor Walter Vogel, mit dem mich die seegeschichtlichen Interessen verbanden, suchte ich bei meinem damaligen Aufenthalt in Berlin auf. Es waren also Tage reichen geistigen Gewinns, die ich auch nach dem, was ich sonst durchzumachen hatte, wirklich sehr brauchte. Ich wohnte damals bei Onkel und Tante Goldstücker auf der Barbarossastraße in Berlin-Schöneberg, wo ich mich stets sehr wohlgefühlt habe. Besonders Tante Hannchen, die erst vor einigen Wochen in außerordentlich hohem Alter gestorben ist, war ein Mensch von großer natürlicher Klugheit. Wenn sie auch keine studierte Frau war, so hatte sie doch ein großes Verständnis für mein geistiges Streben. In vergangenen Jahren hatte sie auch meinen Bruder Martin in Berlin betreut, während er die Technische Hochschule besuchte. Auch mein Bruder Hugo hatte bei Goldstückers gewohnt, als er in Berlin seine kaufmännische Lehrzeit absolvierte. Goldstückers waren kinderlos. Es war selbstverständlich, daß, wenn man in Berlin war, bei ihnen wohnte. Sie haben uns immer unsere Wege gehen lassen und uns nicht hineingeredet, auch nicht versucht, an uns Ansprüche zu stellen. Sie wußten ja, wie kostbar für uns solche kurzen Berliner Tage waren, von denen jeder geistig möglichst viel mitnehmen wollte. Nur einmal äußerte Tante Hannchen vorsichtig ein Bedenken, als ich immer wieder mittags, schwer mit Büchern bepackt, nach Hause kam. Es gab nämlich in Berlin jene herrliche Einrichtung der Bücherwagen, die wir in Breslau nicht kannten, und die es einem gestatten, stundenlang in alten Scharteken zu wühlen, um dann irgendeinen begeisternden Fund zu machen. Ich konnte trotz meiner großen Sparsamkeit im allgemeinen so einer Versuchung schlecht widerstehen, denn ich bin allzeit in meinem
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Leben ein Büchernarr gewesen. Tante Hannchen meinte nun, daß es wohl ein wenig zuviel wäre und ob meine Frau damit einverstanden wäre. Sicherlich hatte sie etwas von meinen Schwierigkeiten zu Hause gehört, vielleicht auch von der Version, die man gern über mich verbreitete, meine Frau sei mir weggelaufen, weil ich nur Interesse für die Wissenschaft hatte. Selbstverständlich haben Goldstückers sonst nie über diese Dinge gesprochen, sie waren sehr taktvolle Menschen, eigentlich das Ideal von Onkel und Tante. Wenn man in Berlin als Fremder nach seiner Art leben kann, dann kann man von so einem Aufenthalt sehr viel mitnehmen. Wenn man aber gezwungen ist, in wenigen Tagen sehr viele Besuche zu machen und mit vielen Menschen zu sprechen, die einem sehr fernstehen, dann kann man schwer das verarbeiten, was man gerne mitnehmen möchte. Ich war damals auch viel in den Museen, vor allem aber auch in der Bibliothek unter den Linden, jener einzigartigen großen Staatsbibliothek mit dem herrlichen Zeitschriftenzimmer. Dann hatte ich immer die Möglichkeit, meine Kartotheken zu ergänzen und mich auf dem Laufenden zu halten. Das ist in der Wissenschaft die Hauptsache und oft sehr schwer. Im allgemeinen habe ich es durch alle Jahre hindurch bis zur Gegenwart geschafft. In diesen Jahren habe ich auch sehr viel im jüdischen Leben gearbeitet. Vor allem habe ich mich im Kuratorium des jüdischen Schulvereins mit ganzer Kraft für die Schaffung eines jüdischen Schulwerkes eingesetzt 49 . Dieser Gedanke ging von einer der reinsten Persönlichkeiten aus, die ich jemals in meinem Leben kennengelernt habe und die nun leider auch nicht mehr in dieser Welt ist. Es ist dies der Rabbiner Max Simonsohn - das Andenken des Gerechten möge uns zum Segen gereichen. Mit Simonsohn war ich schon seit meiner Studentenzeit gut bekannt. Ich war ihm aber innerlich erst nähergetreten, als ich dem liberalen Judentum Ade gesagt und mich zu einem positiven Judentum durchgerungen hatte. Simonsohn
Der Plan zur Gründung einer eigenen jüdischen Schule ließ die Gegensätze zwischen der jüdisch-orthodoxen und der jüdisch-liberalen Richtung in Breslau wieder hervortreten. Der orthodoxe Rabbiner Max Simonsohn gründete schließlich am 19. 4. 1920 eine konfessionelle jüdische Volksschule am Rehdigerplatz N r . 3, die 1921 staatlich anerkannt wurde. Die Schule wurde später um ein Reformgymnasium erweitert. 1941 wurde das Schulgebäude beschlagnahmt. Der Unterricht wurde in das Logengebäude Graupenstraße verlegt, bis auch dort aufgrund des allgemeinen Verbotes vom 20. Juni 1942 der jüdische Unterricht aufhören mußte. 49
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hatte erkannt, daß die Zukunft des Judentums davon abhängt, daß man schon den jungen Menschen positive jüdische Werte im Unterricht beibringt. Er hatte selbst als Religionslehrer am Johannesgymnasium gesehen, wie wenig sich in zwei Stunden Religion die Woche schaffen ließ. Er wußte aus eigener Erfahrung, welches Martyrium ein jüdischer Religionslehrer (und vielleicht nicht nur ein jüdischer Religionslehrer) durchzumachen hat. Ihm schwebte als Ideal eine Anstalt vor, in der der gesamte Unterricht vom Geiste des Judentums erfüllt war, alle Fächer durchdrang und vor allem die Kenntnis der hebräischen Sprache von Jugend an geübt wurde. Als dieser Gedanke in Breslau bekannt wurde, setzte geradezu ein Kesseltreiben der liberalen Juden gegen uns ein. Am meisten wurde mit dem Schlagwort gearbeitet: Wir wollen nicht zurück ins Ghetto. Die liberalen Juden fürchteten, daß eine jüdische Schule sie an ihren staatlichen Belangen schädigte oder richtiger ausgedrückt, sie an ihrem Broterwerb behinderte. N u r nicht das Judentum nach außen zeigen, das war ihre Devise. Interessant ist es, daß die staatlichen und städtischen Behörden unseren Plan sehr begünstigten. Sie hatten viel mehr Verständnis für diejenigen, die ihr Judentum offen zeigten, als für diejenigen, die es mehr oder weniger verbargen. Am meisten Schwierigkeiten machte, wie es sich gehört, der Vorstand der Synagogengemeinde. Als wir an diesen herantraten und ersuchten, es möchten uns am Vormittag die Räume der jüdischen Religionsschule zur Verfügung gestellt werden, die sich in dem Gemeindegrundstück Wallstraße 9 befanden und die am Vormittag völlig unbenutzt waren, erklärte Herr Bürodirektor Glaser, er könne bei dem zu erwartenden Lärm nicht arbeiten. N u n , heute müssen die Herren in dem Gemeindegrundstück unter ganz anderen Bedingungen arbeiten und sind froh, wenn sie noch arbeiten dürfen. Es braucht eigentlich nicht besonders betont zu werden, daß der Vorstand der Synagogengemeinde dem Jüdischen Schulwerk keinerlei pekuniäre Unterstützung angedeihen ließ. Maßgebenden Einfluß hatte der Rabbiner Vogelstein, der Sohn jenes Protestrabbiners aus Stettin, der einstmals Theodor Herzl Knüppel zwischen die Beine geworfen hatte 50 . Man kann ruhig zugeben, daß Vogelstein die Tradition seines Elternhauses gebührend fortsetzte. Es gab keine Schwierigkeit, die er nicht machte. Er war aber nicht der einzige dieser Art. Besonders exponierte sich im Kampf gegen die jüdische Schule auch der Rechtsanwalt und Justizrat Kaiisch, der damals die Versammlungen zu leiten pflegte, die 50
Heinemann Vogelstein (1841-1911) gehörte zu den führenden liberalen Rabbinern in Deutschland.
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von jüdisch-liberaler Seite einberufen waren. Für Kaiisch war das Wort Zionismus das rote Tuch. U n d wie hat sein Leben geendet! Seine Söhne sind nach Palästina gegangen. Als er sie besuchen wollte, ereilte ihn beim Betreten des Landes der Tod. Wer hätte gerade ihm prophezeien können, daß er in heiliger Erde ruhen würde, er, dem der Zionismus so verhaßt war? Manchmal bewundert man die Vorsehung, wenn man sich den Ablauf eines solchen Menschenlebens vor Augen führt. An glühendem Haß gegen den Zionismus hatte er damals vielleicht nur noch eine Rivalin in Breslau, und das war Paula Ollendorff. Auch sie liegt in Palästina begraben. Ich habe immer den Mut von Rabbiner Simonsohn bewundert, mit dem er sich für die Sache der jüdischen Schule einsetzte. Simonsohn war nur zweiter Rabbiner an der Storch-Synagoge, also Beamter des Gemeindevorstands. Er schnitt sich damit jede Möglichkeit des Vorwärtskommens ab. Das hat ihn aber nicht gehindert, für diese Sache einzutreten, die ihm Herzensangelegenheit war. Auch ich riskierte eine ganze Menge, als ich mich der jüdischen Schule zur Verfügung stellte. Ich war damals noch nicht Studienrat. Ein leidenschaftlicher Gegner des jüdischen Schulwesens war auch der Professor Albert Wohlauer, der einen außerordentlichen Einfluß bei der Stadtverwaltung hatte. Ich habe oft betont, wie unendlich viel ich ihm als Lehrer zu verdanken hatte. Aber er konnte schlecht vertragen, wenn man eine andere Meinung hatte. Wie übel hat er es mir einmal genommen, daß ich bei einer Wahl zur Repräsentantenversammlung (der Volksvertretung der Synagogengemeinde) als Kandidat auf der zionistischen Liste fungierte, während er selbst auf der liberalen Liste stand. Alle Leute hatten mich gewarnt, mich mit Wohlauer anzulegen. Aber für mich gab es in solchen Fällen keine Frage der Opportunität. Ich habe nachher noch gehört, in welcher Weise sich Wohlauer zu rächen versuchte. So hat er einmal meinem Onkel und Hausarzt Perls gegenüber geäußert, daß meine wissenschaftlichen Arbeiten nichts taugten. Obwohl Wohlauer Fachhistoriker war, so hat er doch insofern kein Recht zu urteilen gehabt, weil er seit vielen Jahrzehnten nicht mehr wissenschaftlich arbeitete und auf dem Gebiete der mittelalterlichen Geschichte überhaupt nicht zu Hause war. Aber so eine Äußerung hat ja ihren Wert in sich. Calumniare audacter, Semper aliquid haeret. Immer tapfer verleumden, es bleibt doch etwas hängen 51 . Auch Wohlauer hat keine Möglichkeit mehr gehabt, auf mein Schicksal Einfluß zu nehmen. Ich bin sein Nachfolger geworden - trotz meiner zionistischen und sozialistischen Gesinnung. 51
So bei Francis Bacon 1605, der sich dabei auf Plutarch bezieht.
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Ich glaube, daß es gut war, die Dinge so ausführlich darzustellen. Es ist ja auch gleichzeitig ein Stück Geschichte der Breslauer Juden und wird vielleicht einmal, wenn ein anderer diese Geschichte zu schreiben haben wird, Material für ihn bedeuten. Wie hätte das Breslauer Judentum 1933 dagestanden, wenn dieses jüdische Schulwerk nicht gewesen wäre? Jetzt, als der Staat verlangte, daß die jüdischen Schüler die allgemeine Schule verließen, war man sehr froh, daß man es hatte. Es ist aber vielleicht für die Breslauer Judenschaft charakteristisch, daß Vogelstein, sobald es irgend ging, veranlaßte, daß ein eigenes liberales jüdisches Schulwesen aufgezogen wurde 52 . Es hat Jahre hindurch einen schweren Kampf zwischen diesem liberalen und unserem konservativen Schulwerk gegeben. Es ist unnötig viel Geld ausgegeben worden. Schließlich hat das liberale Schulwerk durch die Ereignisse des 9. November 1938 sein Ende gefunden. Die Schulen mußten zusammengelegt werden, und das Gebäude, das einst dem jüdisch-liberalen Unterricht diente, ist heute das Amtsgebäude der Geheimen Staatspolizei. Auch unter den jüdischen Studienräten gab es solche, die sich im Kampf gegen die jüdische Schule besonders exponierten. An ihrer Spitze stand die Studienrätin Frau Dr. Bluhm, die nachher sehr lange in der jüdischen Schule unterrichtete, als sie an einer staatlichen Anstalt nicht mehr unterrichten durfte. Wenn heute viele jüdische Menschen aus Breslau, die nun über die ganze Erde verstreut sind, auf ihrem Lebensweg dort ein Stück Judentum mitbekommen haben und nicht mehr jedem Einfluß von außen unterliegen, so ist es das Verdienst vor allem von Simonsohn, der seine ganze Kraft, seine Gesundheit und sein Familienleben dieser Sache zur Verfügung stellte. Wie oft haben diese Sitzungen bis tief in die Nacht gedauert und ihn seinen Schlaf gekostet. Die Geldmittel mußten ja bei dem Versagen der jüdischen Stellen durch private Sammeltätigkeit aufgebracht werden. Auch der Laie kann sich vorstellen, was das bedeutet. Aber Simonsohn hat es gern getan, und so weit ich konnte, habe ich dabei geholfen. Wenn ich auch nicht zu den Orthodoxen gehörte, so hat man doch in diesen Kreisen anerkannt, welche Mühe ich mir um Als liberales Gegenstück zur orthodoxen „Rehdigerschule" wurde auf Veranlassung des Rabbiners Hermann Vogelstein die jüdische Volksschule in der Angerstraße, nahe der neuen Synagoge („Angerschule") gegründet, die um Oberkurse erweitert wurde. Über ihr Schicksal nach der Reichspogromnacht berichtet hier der Verfasser. 52
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mein Judentum gab, und mein fachmännischer Rat war ihnen lieb 53 . In mancher Beziehung sind die Erben dieser Arbeit die liberalen Kreise, gegen die wir damals gekämpft haben.
53
Vgl. SV Nr. 134.
VI. E R F Ü L L T E P F L I C H T E N
(1919-1925)
„Was mir an Potsdam so gut gefiel, war jener Geist unbedingter Pflichterfüllung, der aus der Atmosphäre Friedrichs des Großen kam." Bald nach der Novemberrevolution 1918 setzte eine Volkshochschulbewegung ein. Man glaubte damals, daß es möglich wäre, auch die erwachsenen Menschen, die schon lange im Berufsleben standen, mit Bildungsidealen zu erfüllen. Über meine Tätigkeit in der Breslauer städtischen Volkshochschule wird noch später zu sprechen sein. Im Jahre 1919 ist auch die Freie Jüdische Volkshochschule in Breslau gegründet worden 1 . Man versuchte, ein derartiges Bildungswerk für jüdische Erwachsene aufzuziehen in der Hoffnung, daß jüdische Kreise, die vom Judentum nichts wußten, zu ihm über diese Einrichtung zurückfinden würden. Offiziell stand an der Spitze der Breslauer jüdischen Volkshochschule der Professor Marcus Brann, den ich hier schon öfters genannt habe; aber er hat nicht mehr lange gelebt. Der wirkliche geistige Vater der Volkshochschule war der Dozent am Jüdisch-Theologischen Seminar, Dr. Albert Lewkowitz. Ich habe in dem fast zwanzigjährigen Bestehen der Jüdischen Volkshochschule fast in jedem Semester eine Vorlesung gehalten und immer eine Schar von Getreuen um mich gesammelt. Die große Hoffnung, die man auf die Jüdische Volkshochschule setzte (sie nahm in den letzten Jahren ihres Bestehens den Namen Jüdisches Lehrhaus an), sind nicht in Erfüllung gegangen. Charakteristisch für die Haltung der Breslauer Judenschaft war doch die Indifferenz, auf Deutsch die Gleichgültigkeit. Gewiß, es gab keinen Roman, den man nicht gelesen haben mußte; es gab keine Premiere, kein Konzert, bei dem man nicht dabei war. Aber wozu jüdisches Lernen? Das brachte doch nichts ein und half im Leben nicht weiter! Die Idee der Freien Jüdischen Volkshochschulen in Deutschland ging auf Franz Rosenzweig zurück. Über die Breslauer Gründung vom 9. November 1919 und die Bedeutung ihres Vorsitzenden Rabbiner Lewkowitz vgl. E. I. Loewenstein: Dr. Albert Lewkowitz; in: MVEBI 55 (1991), S. 13. 1
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VI. Kapitel
Die Breslauer Gemeinde ist in jenen Jahren zu einer Stärke von 24.000 Menschen gekommen. Es war damals viel Zuwanderung, nicht nur aus Kongreßpolen 2 , sondern auch aus der Provinz Posen. Was bedeutete es solchen Zahlen gegenüber, wenn an den Vorlesungen sämtlicher Kurse der Volkshochschule ein paar hundert Menschen teilnahmen beziehungsweise Karten gelöst hatten. Nicht alle, die eine Karte kauften, hatten auch die Absicht, die Kurse zu besuchen. Wenn die Werber der Volkshochschule ihnen eine Karte anboten, dann waren sie froh, wenn sie sich mit den paar Mark ihre Ruhe erkauften. Es ging einem ja gut, warum sollte man eine jüdische Sache nicht unterstützen? Für mich als Dozenten der Volkshochschule war es oft nur angenehm, daß der Kreis ein kleiner war. Auf diese Weise bekam man doch rascher Fühlung mit dem Einzelnen. Aber für das Judentum bleibt es doch beschämend. Wenn man in der Geschichte nicht nur das Walten blindwütender Kräfte, sondern eine bewußte höhere Führung sieht, so weiß man, warum einen das getroffen hat. Das, was ich hier von der Volkshochschule zu berichten hatte, könnte man noch von unzähligen anderen Einrichtungen sagen. Ich stand damals in der Vollkraft meines Schaffens, und ich habe mich selbstverständlich jeder Sache zur Verfügung gestellt, von der ich glaubte, daß sie ideal wäre, und habe mich niemals durch Enttäuschungen abhalten lassen3. Von einer ähnlichen Einstellung war meine Teilnahme an den Arbeiten der Lessing-Loge diktiert. Es dürfte hier am Platze sein, einige Worte über das Wesen des Bne Brith zu sagen4. Dieser jüdische Orden ist keine Freimaurerorganisation gewesen, wie man so häufig behauptet hat. Im Gegenteil, er ist im Gegensatz zu den Freimaurern geschaffen worden, als diese in zunehmendem Maße antisemitisch wurden. Der Sinn des
2 Ältere Bezeichnung für das vom Wiener Kongreß 1815 geschaffene und seitdem unter russischer Oberhoheit stehende Polen. 3 Vgl. SV N r . 245. 4 Das hebräische Wort („Söhne des Bundes") wird üblicherweise in Deutschland Bne Briss und im englischen Sprachraum B'nai B'rith geschrieben. Cohn verwendet konsequent die Mischform Bne Brith. Der Orden wurde 1843 in N e w York gegründet. Mit den Freimaurer- und Odd-Fellow-Logen, an denen er sich formal orientierte, hat er keinen Zusammenhang; er ist auf Mitglieder jüdischen Glaubens beschränkt und verfolgt kulturelle und soziale Ziele. Der Orden B'nai B'rith gliedert sich in Distrikte und Logen, die von Amerika aus vor allem in Europa F u ß faßten. Eine der frühen Logen in Deutschland wurde die 1885 gegründete Lessing-Loge in Breslau. Seit 1924 war Leo Baeck Großpräsident des Ordens in Deutschland.
Erfüllte Pflichten (1919-1925)
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Ordens war vor allem, Juden zu erziehen und sie für die Ideale unseres Glaubens empfänglicher zu machen. O b und wieweit die Formen des Logenwesens noch in unsere Zeit paßten, braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. Wir haben im Bruderkreise natürlich sehr häufig auch über diese Dinge gesprochen; aber es ist immer schwer, mit einer alten liebgewordenen Tradition zu brechen, die ja auch ihre Berechtigung hat. Gewiß, es kamen nicht nur Leute zu uns, deren Beweggründe ideale waren, obwohl sie alle unterschreiben mußten, daß keinerlei materielle Gründe sie veranlaßten, in die Loge einzutreten. Aber mancher suchte doch die Anlehnung an einen wirtschaftlich fundierten Kreis. Mancher junge Anwalt, mancher junge Arzt hoffte, dadurch rascher zu einer Praxis zu kommen. Man konnte doch nicht jedem ins Herz sehen. Ich war schon bald nach meinem Doktorexamen zusammen mit meinem Bruder Franz in die Lessing-Loge eingetreten. Es war in unserer Familie nicht Tradition, in diese Kreise zu gehen. Der Kreis unserer Familie war die Gesellschaft der Freunde, der Franz und ich auch angehörten. Aber ich habe mich dort niemals sehr wohl gefühlt und habe ihr eben nur aus Tradition angehört. Der Gesellschaftsbetrieb nur als solcher hat mir stets sehr wenig zu sagen gehabt. Herrenabendbrote mit mehr oder weniger witzigen Reden waren nie meine Sache, und das Kartenspielen habe ich auch abgelehnt. In der Loge schien mir eine Aufgabe zu erwachsen. Ich habe in den über fünfundzwanzig Jahren, in denen ich der Breslauer Lessing-Loge angehörte, unzählige Male gesprochen. Ich stand immer zu Verfügung, wenn man es wollte. Man soll seine eigenen Leistungen nicht überschätzen; aber ich glaube doch, all den Brüdern etwas gegeben zu haben, die sich nach einem langen und ermüdenden Arbeitstag dazu aufrafften, noch eine Stunde Vortrag anzuhören. Gerade der einfache Mensch, der aus sich heraus nur selten zu einem Buche greift, muß die Anregung von außen bekommen. Diese vielen namenlosen Kaufleute, die heute zumeist schon nicht mehr am Leben sind, haben es mir oft gedankt. Ein Redner braucht im Grunde diesen Dank nicht. Die sogenannte „Nachrede" nach dem Vortrag (der Dank des Präsidenten), war mir immer gräßlich. Wenn irgend möglich, habe ich mir das verbeten. Mit solchen Schlußworten vernichtet man ja bloß den Eindruck. Ich sah am Leuchten der Augen der einzelnen ganz genau, ob sie mitgegangen waren oder nicht. Da ich ja in den letzten Jahrzehnten nicht nur im Logenkreise, sondern auch sonst sehr oft gesprochen habe, so bekam ich rasch eine rednerische Routine. Die Begabung zum Redner muß einem ja angeboren sein. Gewiß, man war nicht immer gleichmäßig disponiert. Aber wenn
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VI. Kapitel
niemand in einem großen gefüllten Saale hustete, wenn keiner auf die Uhr sah, da wußte man, daß man gezündet hatte. Fast jeder meiner Vorträge war ein Appell an das Judentum und oft auch für den Zionismus. Oft haben mir meine Hörer nach 1933 gesagt, daß ich in meinen Vorträgen vieles prophetisch vorausgesehen habe. Nun, ich weiß, der Talmud sagt, nach der Zerstörung des zweiten Tempels sei die Prophetie auf Kinder und Narren übergegangen 5 und ich möchte weder das eine noch das andere sein. Aber nachweislich meiner Aufzeichnungen, habe ich immer wieder über die Frage der Berufsumschichtung gesprochen, immer wieder dazu aufgerufen, nur die Geeigneten studieren zu lassen und auch die handarbeitenden Berufe in den Bereich des Möglichen zu ziehen. Leider neigen wir Juden dazu, die Richtigkeit der Erkenntnisse erst zuzugeben, wenn das Kind ins Wasser gefallen ist. Ähnlich ist es ja auch mit dem Zionismus. Wo ständen wir heute in Palästina, wenn das reiche deutsche Judentum jener Tage einen Teil seines Vermögens in palästinensischem Grund und Boden angelegt hätte. Für mich war diese Arbeit in der Lessing-Loge eine große Freude, wenn ich mir auch über die Grenzen des Erreichbaren durchaus klar war. Wenn man sich oben im Logentempel völlig ausgegeben hatte und dann sah, wie ein Teil der Brüder im Geschwindschritt zu den Skattischen eilte, anstatt das Gehörte in sich nachklingen zu lassen, wurde mir oft ganz anders. Aber ich habe mich damit getröstet, daß auch in der Natur nicht jeder Samen aufgeht. Einiges bleibt schon haften. Meine Wirksamkeit im Logenleben war nicht auf Breslau beschränkt; ich habe im Laufe der Jahre an sehr vielen Orten von Saarbrücken bis Tilsit gesprochen. Das eine oder andere davon will ich später noch erzählen. In dieser Zeit blühte der Orden in Breslau sehr auf, und es bildeten sich Tochterlogen der Lessing-Loge: die Heinrich-Graetz-Loge, die Manuel Joel-Loge und schließlich später die Zacharias-Frankel-Loge 6 . Die Namengebung ist für die Entwicklung des deutschen Judentums nicht ohne Interesse. Als die Lessing-Loge gegründet wurde, war noch das Ideal der Angleichung an die anderen vorhanden und eine allgemeine Vorstellung von Humanität. Bei der Gründung der zuletzt genannten Loge aber herrschte schon die Erkenntnis, daß die jüdischen Werte im Vordergrund zu stehen hatten. So nannte man eine Loge nach dem Geschichtsschreiber des Judentums Heinrich Graetz, eine Loge nach dem langjährigen Direktor des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau Vgl. oben S. 195, A n m . 2 5 . Die Breslauer Filialgründungen der Lessing-Loge erfolgten 1920 (HeinrichGraetz-Loge), 1922 (Manuel-Joel-Loge) und 1925 (Zacharias-Frankel-Loge). 5
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Zacharias Frankel und schließlich eine andere Loge nach dem Breslauer Rabbiner und Religionsphilosophen Manuel Joel 7 . Es würde zu weit führen, wenn ich im einzelnen darlegte, nach welchen Gesichtspunkten auch die Bruderkreise sich bildeten. Da der Orden in Breslau zeitweise über tausend Mitglieder umfaßte, so war es verständlich, daß einzelne Kreise sich aussonderten, die nach ihrer gesellschaftlichen Stellung glaubten, besser zusammenzupassen. Doch entsprach das letzten Endes nicht eigentlich dem Logengedanken. Es hat darüber, ob man es zulassen sollte oder nicht, mancherlei Erörterungen gegeben. Immer hing es davon ab, ob jeweilig an der Spitze der Loge (der Präsident wechselte in der Regel Jahr für Jahr) ein Mann stand, der es verstand, geistig anregend zu wirken oder nicht. Für den, der ein gewisses Können besaß, war die Logenarbeit eine Freude. Manch anderer verstand es eben sehr viel weniger. Jedenfalls hat das schlichte Haus auf der Agnesstraße bis zum Frühjahr 1937 sehr viel für die Erziehung und Fortbildung der Breslauer Juden getan. Ich bin überzeugt, daß heute noch viele Brüder draußen beziehungsweise ihre Söhne und Töchter gern an die Zeit zurückdenken werden, wo sie in diesem Hause gewesen sind. Ich kann immer wieder nur betonen, daß oft diejenigen Werte die bleibendsten sind, die man nicht so mit den Händen zu packen vermag, während das, was ursprünglich bleibend zu sein schien, wie irdischer Besitz, am schnellsten ins Nichts zerronnen ist. Zu meiner jüdischen Betätigung in jenen Jahren in Breslau gehörte auch der Besuch hebräischer Unterrichtskurse, wo ich mich bemühte, das gesprochene Hebräisch Palästinas zu erlernen. Durch meine starke Inanspruchnahme auf so vielen verschiedenen Gebieten kam ich nicht in dem Umfange dazu, wie ich es gern gewollt hätte. Aber ich habe mir doch im Laufe der Jahre eine gewisse Kenntnis angeeignet, so daß ich mich bei meiner Reise nach Erez Israel im Jahre 1937 ganz gut verständigen konnte. Wenn ich auch von mir behaupten kann, daß ich, solange meine Erinnerung zurückreicht, geistig niemals ohne Arbeit gewesen bin, so habe ich doch immer das Gefühl, daß ich gemessen an dem, was ich mir vorgenommen habe, nur einen Bruchteil erreichen konnte. Aber vielleicht ist diese Erkenntnis die wichtigste, daß man eben nie mit dem Streben zu Ende kommen soll.
Manuel Joel (1826-1890) war der Nachfolger Abraham Geigers im Breslauer Rabbinat. E r verfaßte mehrere Werke zur jüdischen Religionsphilosophie. Über ihn A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 24. 7
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VI. Kapitel
Ich habe meine Vortragstätigkeit nicht auf den jüdischen Kreis allein beschränkt. Vor dem Kriege war ich, wie schon erwähnt, in dem Akademischen Zweigverein des Humboldtvereins tätig gewesen. N u n stellte ich mich dem Humboldtverein als solchem zur Verfügung. U m die Bildung der Breslauer Bürger hat sich diese Organisation, die ohne jede materielle Unterstützung des Staates beziehungsweise der Stadt arbeitete, sehr verdient gemacht. Geleitet wurde der Humboldtverein von Männern, die ehrenamtlich tätig waren. N u r ein sehr bescheidenes Büro stand zur Verfügung, das Jahre hindurch von Eugen Bernhardt und später von seiner Witwe geführt wurde. Während man bei anderen Organisationen zusehends feststellen konnte, daß sie sich, was den Apparat anbetraf, sehr aufblähten, war das bei dem Humboldtverein nicht der Fall. An der Spitze stand damals der Professor Julius Schiff, ein Kollege vom Johannesgymnasium, übrigens ein getaufter Jude. Man erzählte sich, daß er sich seinerzeit habe taufen lassen, weil er die Tochter des ersten Direktors des Johannesgymnasiums, des berühmten klassischen Philologen Müller, heiraten wollte. Das hat sich wohl sehr lange vor meiner Zeit abgespielt. Meine Mitarbeit im Humboldtverein erstreckte sich auf drei verschiedene Gebiete. Einmal machte der Humboldtverein sogenannte Vorstadtvorträge, die denjenigen Mitbürgern, die draußen wohnten, es ermöglichen sollte, ohne Aufwendung für Fahrkosten etwas für ihre Bildung zu tun. Dann veranstaltete er große Sonntagnachmittagsvorträge im Auditorium maximum der Universität, und schließlich unterhielt er eine Akademie mit Vortragszyklen, die auch in der Universität stattfanden, die aber einen fast hochschulmäßigen Charakter trugen. Ich habe mich bei allen drei Einrichtungen betätigt. Das Publikum dieser Veranstaltungen war natürlich ein ganz verschiedenes. Was sie alle gemeinsam hatten, war das Streben nach Bildung und nach höheren Werten. Es waren Menschen, die ihren Sonntagnachmittag gern opferten, um sich in eine andere Welt führen zu lassen. Ein wenig stolz war ich, als mir der Humboldtverein anläßlich des 60. Geburtstages von Gerhart Hauptmann am 15. November 1922 den Festvortrag am Sonntagnachmittag übertrug. Das Auditorium maximum der Universität war überfüllt, und ich hatte das Gefühl, daß ich das Richtige gesagt hatte. Mit der Gestalt Gerhart Hauptmanns, besonders mit seinen Jugendwerken, fühlte ich mich immer aufs engste verbunden. Auf den vielen Wanderungen im Riesengebirge hatte ich mich mit dem Genius loci erfüllt. Für die Vorstadtvorträge wählte man schlichtere Themen, oft solche, die aus der vaterländischen Geschichte gewählt waren. In den akademischen Vortragszyklen behandelte ich gern Gegenstände aus meinem
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eigentlichen Forschungsgebiet, der mittelalterlichen Geschichte, so zum Beispiel in dem Vierteljahr von Oktober bis Dezember 1923 über die Blütezeit des Mittelalters. Hier konnte ich gewissermaßen das schaffen, was ich geschafft hätte, wenn ich akademischer Lehrer geworden wäre. Diese Arbeit im Humboldtverein war meist eine zusätzliche Arbeit, die noch nach Erledigung der eigentlichen Amtspflichten am Tage zu erfüllen war. Aber wie schön war es dann auch, wenn man auf einem Katheder in der Universität stand und aus der Fülle heraus schaffen konnte. [...] Ich hatte im Laufe der Jahre einen ziemlich festen Hörerkreis bekommen, der regelmäßig erschien. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob es heute noch eine solche Schicht unter der Bevölkerung gibt, die Bildung um der Bildung willen betreibt, aber ich bin überzeugt, daß spätere Zeiten sich wieder sehr bemühen werden, eine solche Bildungsschicht hervorzubringen, die für die Entwicklung eines Volkes von größter Bedeutung ist. Vielleicht muß noch gesagt werden, daß im Humboldtverein sich vornehmlich die bürgerlichen Kreise trafen. In jener Zeit des Klassengegensatzes setzten sich die Arbeiter mit den Bürgern nicht zusammen. Deswegen war es notwendig, um auch die Arbeiter bildungsmäßig zu erfassen, dafür wieder eine andere Plattform zu finden. Eines schönen Tages bekam ich eine Einladung ins Oberpräsidium, wo eine Besprechung stattfinden sollte, die sich mit derartigen Arbeiterbildungskursen zu befassen hatte. Damals lernte ich den ehemaligen Schauspieler Eggers kennen, der später in Breslau die Organisation der Volksbühne geschaffen hat. Eggers, ein großer blonder Mann, war der Typ des deutschen Idealisten. Er setzte sich für diese Sache sehr ein, und er gehörte zu denen, die aus langjähriger geistiger Tätigkeit niemals einen materiellen Gewinn davongetragen haben. Das Jahr 1933 warf ihn vollständig aus der Bahn, und er mußte wieder von vorn beginnen. Das Zusammenarbeiten mit ihm war ein sehr erfreuliches, aber es gelang nicht, auf diesem Wege große Teile der Arbeiterschaft zu erfassen. Wenn man das heute rückschauend betrachtet, so ist das ja auch sehr verständlich. Es waren die Jahre des Währungsverfalls. Der Arbeiterhaushalt, der ja über keine Substanz verfügte, hatte besonders schwer zu kämpfen. Geistige Arbeit aber erfordert doch im allgemeinen eine gewisse Grundlage im Materiellen. Die spätere Städtische Volkshochschule hat dann unter günstigeren Bedingungen arbeiten können. Was ich an ihr leisten durfte, will ich zu seiner Zeit berichten. [...] Im Winter 1921/22 konnte ich das erste Mal nach dem Kriege wieder eine größere Reise machen, die mich, abgesehen von jener schon geschilderten Reise nach Berlin, über die Grenzen Schlesiens hinausbrachte.
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VI. Kapitel
Mein Bruder Franz hatte damals neben seiner Sommerpraxis in Kudowa noch eine Winterpraxis auf dem Weißen Hirsch bei Dresden aufgenommen. Es war ja auch außerordentlich schwer, von dem Gelde, das man im Sommer verdient hatte, im Winter zu leben, wenn ein solch furchtbarer Währungsverfall eingetreten war. Gewiß waren wir Geschwister damals noch gemeinsam als stille Gesellschaft bei der väterlichen Firma „Geschwister Trautner Nachfolger" beteiligt; aber der Gewinnanteil wurde nach Abschluß des Geschäftsjahres ausgezahlt und unterlag infolgedessen auch der Geldentwertung. Mein Bruder Franz hatte wieder geheiratet. Seine zweite Frau, die ich ja schon genannt hatte, war Arztin, und sie praktizierten nun beide. So konnte ich in den Weihnachtsferien von 1921 zu 1922 mit meinem ältesten Sohne bei ihnen erholsame Tage verleben. Von dem mondänen Leben, das besonders in dem Lahmannschen Sanatorium auf dem Weißen Hirsch herrschen sollte, habe ich wenig Notiz genommen. Ich bin sehr viel, oft auch mit dem Jungen, der schon frühzeitig sehr gut zu Fuß war, durch die Dresdner Heide gewandert, die ich noch gar nicht kannte. Diese Wälder hatten so gar nichts von dem Gewaltigen, das wir aus dem Riesengebirge gewohnt waren. Aber es war schön, durch diese Einsamkeit zu gehen und zu versuchen, seine Seele ins Gleichgewicht zu bekommen. Der Junge war mir auch damals schon ein guter Freund. Gerade bei ihm, der so sehr nach meiner Art ist, bedauere ich besonders, daß ich nun schon acht Jahre von ihm getrennt bin, ihn allerdings, was ich dankbar anerkennen will, von Zeit zu Zeit sehen durfte. [...] Gesund war ich mit meinem Jungen nach Breslau zurückgekehrt; da erreichte uns die furchtbare Nachricht, daß unser ältester Bruder Martin in Eberswalde von einer tödlichen Lungenentzündung gepackt war. Mein Bruder Franz war mit seiner Frau sofort vom Weißen Hirsch aus hingefahren; ich fuhr mit Hugo von Breslau aus. Franz und Lotte kämpften zusammen mit dem alten Hausarzt von Martin dort einen verzweifelten Kampf gegen die Krankheit; aber alle ärztliche Kunst und alle geschwisterliche Liebe war vergebens. Mein Bruder starb nach wenigen Tagen. Sein letzter Wunsch war, in unserem Erbbegräbnis in Breslau auf der Lohestraße beigesetzt zu werden. Er legte meinem Bruder Hugo besonders die Sorge für seinen Sohn ans Herz. [...] Mein Bruder stand damals in Eberswalde an der Spitze eines Maschinenbauamts der Reichsbahn. [...] Wenn heute so oft gesagt wird, daß wir Juden in Deutschland angeblich nichts getaugt und nichts geleistet haben, so will ich hier nur kurz andeuten, mit welcher Treue die Arbeiter- und Beamtenschaft zu meinem Bruder gestanden hat und wie sie ihm die letz-
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ten Ehren erwiesen. Nachdem von der Synagogengemeinde Eberswalde die Tahara, die Reinigung nach dem Brauche unseres Gesetzes, erfüllt und die sterbliche Hülle eingesargt und der Sarg verlötet war, trugen die Arbeiter der Reichsbahn ihren toten Vorsteher in einen Güterwagen, der sich in wenigen Minuten in einen Blumenhain verwandelte. Es war Januar, und es war am Abend, und draußen war alles schon finster. Aber alle waren gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen, und einer der Arbeiter, der ihm wohl besonders nahegestanden hat, fuhr als Ehrengeleit bis Breslau mit. Man fühlt es in einem solchen Augenblick, wie ein Vorgesetzter gewesen ist, und vielleicht waren wir Juden nicht so schlechte Vorgesetzte, weil wir ein Herz voll Mitempfinden für die hatten, die uns unterstellt waren. Das berufliche Leben meines Bruders Martin, an dem ich so besonders gehangen habe und der ein Sonnenmensch gewesen ist, hat sich in der Regel fern von der Familie abgespielt, und er war auch immer sehr bescheiden und hat wenig von dem hergemacht, was er geleistet hat. E r hätte auch in seinem Eheleben ein anderes Schicksal verdient. Wie schön war diese Dienstvilla in Eberswalde, und wie wenig Glück hat sie letzten Endes gesehen! [...] Für unseren Kreis war dieser Verlust ein harter Schlag. Auch für Mutter war es sehr schwer, zu der Martin immer rührend gewesen ist und die ihn wie einen eigenen Sohn geliebt hat. Es war das zwischen den beiden ein geradezu ideales Verhältnis. Für mich war Martin immer der große Bruder gewesen, voll von Aufmerksamkeiten und dem Bedürfnis, uns Freude zu machen. Es war ein bitterer Weg, als wir ihn in der Winterkälte draußen auf der Lohestraße zur letzten Ruhe brachten. Wie viele sollte ich nicht noch in den späteren Jahren auf diesem Wege geleiten! Martins Tod fiel in die Zeit, in der ich am Elisabethgymnasium amtierte, wo er auch Schüler gewesen war. D e r Dienst des Alltags nahm mich rasch wieder gefangen. Das Leben geht ja weiter und nimmt auf die Wunden des einzelnen wenig Rücksicht. Vielleicht ist das auch ganz gut. Damals löste sich nun auch meine Ehe nach der juristischen Seite, aber weit entfernt lag mir der Gedanke, noch ein neues Leben zu beginnen. Ich fürchtete immer die Wiederkehr des Gleichen. Der Sommer 1922 brachte mir eine weitere Reise, die seelisch für mich unbedingt notwendig war, um wieder ganz andere Eindrücke zu bekommen. Materiell war mir das trotz der Schwere der Zeit möglich, weil ich (wie schon erwähnt) an dem Israelitischen Wochenblatt für die Schweiz mitarbeitete, und diese Honorare in Schweizer Franken eben nicht der Geldentwertung unterlagen. Ich fuhr zunächst nach Frankfurt am Main, wo ich längere Zeit blieb. Ich wohnte damals bei der Mutter meiner Jugendfreundin Frau Lewy, von deren Tochter Rosette ich ja
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VI. Kapitel
schon oft gesprochen habe und noch öfters erzählen werde. Die Familie wohnte auf der Güntersburger Allee. Zu der Häuslichkeit gehörte noch ein verheirateter Bruder von Rosette mit seinem kleinen Sohn, der damals ein Jahr alt war. Es ist interessant, heute nach fast zwanzig Jahren festzustellen, was aus diesen Menschen, die damals in einer kleinen schönen Häuslichkeit zusammenwohnten, geworden ist und wie sie das Judenschicksal gepackt hat. Frau Lewy ist in vorgeschrittenem Alter einem Krebsleiden erlegen. Rosette ist in der Schweiz verheiratet. Ihr Bruder befindet sich mit seiner Frau in Uruguay, und der Sohn von ihnen ist englischer Soldat. Wer hätte damals 1922 geglaubt, daß das Schicksal so kommen würde! Ich bin also der einzige, der in Deutschland geblieben ist. Der Grund, warum ich damals nach Frankfurt am Main ging, war ein persönlicher. Eine frühere Schülerin von mir, die ich schon andeutend erwähnt habe, als ich von meinem Aufenthalt in Kudowa 1920 sprach, hatte damals eine Stellung in Frankfurt am Main angenommen, und das war wohl der Hauptmagnet. Meine gute Tante Marie, meine Wahltante und Rosette Lewys wirkliche Tante, hätten es sehr gern gesehen, wenn aus uns beiden ein Paar geworden wäre. Aber unsere Freundschaft war auf einem anderen Boden gewachsen. Die Tatsache, daß wir uns nicht geheiratet haben, hat unsere Freundschaft nur stärker werden lassen. Vielleicht war es für Rosette Lewy ein wenig schmerzlich, als sie merkte, daß ich nicht ihretwegen nach Frankfurt gekommen war; sie war aber ein so groß angelegter Mensch, daß sie mich das niemals merken ließ. Wir haben uns wundervoll verstanden, zumal sie sehr große literarische Interessen hatte und viel las, obwohl sie beruflich außerordentlich stark in Anspruch genommen war. [...] Mein Frankfurter Aufenhalt war bis zu einem gewissen Grade auch Goethe gewidmet. In seinem Geburtshaus kam mir der junge Goethe ganz nahe, und den alternden Goethe erlebte ich, wenn ich mit Rosette Lewy über den Main nach der Gerbermühle wanderte, die Goethe so gern in der Zeit seiner Freundschaft mit Marianne von Willemer aufgesucht hatte. Von dem Rheine bis zum Main Mahlet manche Mühle Doch die Gerbermühl' allein Ist's worauf ich ziele. Diese Gerbermühle, damals 1922 ein sommerlicher Ausflugsort, bewahrte das Goethezimmer noch in seiner alten Form.
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Auch den alten Judenfriedhof an der Börnestraße besuchte ich, eine Stelle, die ich immer besonders geliebt habe, und die mir noch später einmal nach 1933 die Kraft gab, in Frankfurt am Main in einer schweren Zeit jüdischen Menschen Aufrichtung und Trost zu bringen. In Frankfurt am Main habe ich mich bis zu einem gewissen Grade so zu Hause gefühlt wie in Weimar, und man kann uns antun, was man will und immer wieder sagen, daß wir kein Recht haben, an deutschen Kulturgütern Anteil zu nehmen, niemand kann uns nehmen, was uns Goethe gewesen ist und was er uns bleibt. Damals habe ich auch einen Ausflug nach H o m b u r g vor der H ö h e unternommen. [...] Als ich damals auf der Saalburg war, traf ich das Ehepaar Dr. Kronthal aus Breslau. Kronthal war Volksbibliothekar, und ich hatte die Freude, sie durch die Saalburg zu führen 8 . Auch wenn ich so etwas zum ersten Mal sah, war mir das ja nichts Fremdes; man lebte ja in der Welt der Geschichte, wenn auch die alte Geschichte nicht mein Hauptarbeitsgebiet war. [...] Einmal unternahm ich mit einem mir befreundeten Dr. Goldschmidt einen Ausflug in den Taunus und überschritt dabei die Grenze des von den Franzosen besetzten Gebietes, die ja ihre Besetzung nicht nur auf das linke Rheinufer beschränkt hatten, sondern sich einen Brückenkopf auf dem rechten Rheinufer gesichert hatten. Es war für einen alten Frontsoldaten ein eigenartiges Gefühl, sich von französischen Soldaten die Ausweise kontrollieren zu lassen. Es war das zweite Mal nach dem Weltkriege, daß ich mit französischen Besatzungssoldaten zu tun bekam. Einmal war das bei einer Vortragsreise nach Oppeln in der Abstimmungszeit geschehen. Ich hatte mich selbstverständlich für den Ausflug nach Kronberg im Taunus mit den entsprechenden Ausweisen versehen. In diesem Kronberg hatte früher einmal, wenn ich mich recht erinnere, die Witwe Kaiser Friedrichs III. gewohnt. Soweit ich das in den kurzen Stunden beobachten konnte, war das Verhalten der französischen Besatzung durchaus korrekt. Was mir auffiel war der Umstand, daß man in Kronberg eine französische Buchhandlung eröffnet hatte, die zu lächerlich geringen Preisen französische Literatur verkaufte. Überall, wo die Franzosen hinkamen, haben sie immer Berthold Kronthal (1860-1942) erwarb sich um die Entwicklung der Breslauer Volksbüchereien große Verdienste. Ihm stand das Schicksal bevor, als 81 jähriger nach Theresienstadt deportiert zu werden, w o er 1942 starb. Seine Frau überlebte das Ghettolager. Dazu B. Brilling: Juden im Breslauer Volksbüchereiwesen; in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 4 (1961), S. 241-246, hier: S. 245f. 8
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eifrigst Kulturpropaganda getrieben. Vielleicht hofften sie damals noch, diese Gebiete seelisch für Frankreich zu gewinnen; doch ist ihnen das bekanntlich nicht geglückt. Das war ja alles rein deutsches Gebiet, und das nationale Empfinden hat sich immer als stärker erwiesen als materielle Vorteile, die man den Bewohnern gern geboten hätte. Jener Ausflug in den Taunus machte mich ein wenig mit diesen lieblichen Bergen bekannt, aber ein so rechtes Verhältnis zu ihnen habe ich niemals gewinnen können; der Taunus war eben so ganz anders als das, was wir von Schlesien her kannten. In Frankfurt stand damals ein bemerkenswertes Denkmal, das auf mich großen Eindruck gemacht hat: das Opferdenkmal. D a es von einem jüdischen Künstler errichtet worden ist, wurde es nach 1933 entfernt 9 . Bei diesem Denkmal nahm ich einmal an einer Veranstaltung teil, die unter der Parole stattfand: Nie wieder Krieg! Die Menschen, die dafür eintraten, haben es gewiß durchaus ehrlich gemeint. Jeder von uns, der die Schrecken des Weltkrieges durchgemacht hatte, war ja in tiefster Seele davon überzeugt, daß sich das niemals wiederholen dürfte. Und doch ist alles so ganz anders gekommen. Die Schrecken eines Krieges sind eben verhältnismäßig rasch vergessen, aber das Gefühl erlittenen Unrechts bleibt im Volke lange lebendig. Stärker als die Erinnerung an den Krieg ist eben doch das Bewußtsein des Unrechts von Versailles und der nachfolgenden Jahre. Spätere Historiker werden sich mit diesen Fragen eingehend auseinanderzusetzen haben. Ich will mich auf das Erlebte beschränken; aber der Gegensatz zwischen den französischen Besatzungssoldaten unmittelbar bei Frankfurt und jener Friedensdemonstration in Frankfurt selbst forderte diese Bemerkungen heraus. Die Universität in Frankfurt war damals als solche geschlossen, da akademische Ferien waren. Aber überall, wo ich hinkam, habe ich auch gern, wenigstens für Stunden, die akademische Luft in mich aufgenommen. Die Universität Frankfurt ging im wesentlichen auf jüdische Stiftungen zurück, was aber selbstverständlich nicht gehindert hat, daß auch in Frankfurt nach 1933 alle Juden aus der Universität Das „Den Opfern" gewidmete Denkmal des Bildhauers Benno Elkan (18771960) zeigt eine schmerzgebeugte Mutter. Bereits 1913/14 wie in Vorahnung des Krieges entstanden, wurde es 1920 zum Gedenken an den Weltkrieg aufgestellt. Als Jude mußte Elkan 1933 nach England auswandern; sein Mahnmahl wurde beseitigt, um erst 1945 wiederaufgestellt zu werden. Elkans Hauptwerk sollte schließlich die große Menorah vor dem Gebäude der Knesset in Jerusalem werden. 9
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entfernt wurden. Wenn das reiche Frankfurter Judentum seine Mittel für den Aufbau der Universität Jerusalem zur Verfügung gestellt hätte, wie viele Gelehrte hätten dann heute noch eine Stätte, in der sie ruhig ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachgehen könnten! Ich studierte in Frankfurt vor allen die Anschläge am schwarzen Brett. Am meisten interessierten mich die Vorlesungen des Professors Fedor Schneider, der Mittelalter las. Damals kannte ich ihn persönlich noch nicht. Auf dem Breslauer Historikertage von 1926 habe ich ihn aber kennengelernt und bin dann eine Reihe von Jahren bis zu seinem frühen Tode mit ihm wissenschaftlich und menschlich sehr befreundet gewesen. Erwähnen möchte ich noch, daß ich auch das Städelsche Kunstinstitut aufgesucht habe und hier eine besondere Freude an den Darstellungen Altfrankfurter Maler hatte, zum Beispiel an den Bildern von Seekatz. Diese Namen waren mir aus „Dichtung und Wahrheit" vertraut. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß ich in Frankfurt auch die jüdischen Werte, die diese Stadt in so reichem Maße bot, in mich aufzunehmen versuchte. Einmal war ich in einem G'ttesdienst in der Breuer-Synagoge 10 . Diese Synagoge gehörte der orthodoxen Gemeinde, die nicht in der Frankfurter Einheitsgemeinde enthalten war. Später habe ich mich mit dem Gedanken dieser Dynastie Breuer oft auseinandergesetzt. Ich habe ihren Standpunkt stets bewundert, auch wenn ich mich selbst zu ihm nicht durchringen konnte. Ein anderes Mal wohnte ich auch einem G'ttesdienst in der Hauptsynagoge am Börneplatz bei. Hier war liberaler G'ttesdienst, und bei dieser Gelegenheit sprach ich auch Herrn Rabbiner Dr. Arnold Lazarus, der mich vor vielen Jahren zur Barmizwab vorbereitet hatte. Nun war er ein bedeutender Rabbiner geworden, das heißt, dieses Wort will im liberalen Sinne verstanden sein. Auch Lazarus ist leider sehr früh gestorben. Er war ein sehr sauberer Mann, der sich unter den Frankfurter Juden einer großen Beliebtheit erfreute. Es war also eine in jeder Beziehung reiche Zeit, die ich in Frankfurt verlebte. Aber noch schönere Tage standen mir bevor, wenigstens nach der geistigen Seite. Ich fuhr von Frankfurt zu einem Ferienkurs nach meinem geliebten Heidelberg. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht veranstaltete solche Kurse als Fortbildung für die Lehrerschaft an höheren Schulen. Ich habe von dieser Möglichkeit gern und freudig 10
Gemeint ist die große 1 9 0 7 eingeweihte Synagoge der Israelitischen R e -
ligionsgesellschaft in der Friedberger Anlage, an der Rabbiner Salomon B r e u e r ( 1 8 5 0 - 1 9 2 6 ) in den Jahren 1 8 9 0 - 1 9 2 6 wirkte.
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Gebrauch gemacht, aber ich habe kaum beobachten können, daß noch andere Kollegen in den Ferien den Wunsch nach Fortbildung hatten. Doch konnte ich mir einfach nicht vorstellen, daß man als Lehrer dauernd Anregungen ausstreuen sollte, ohne auch dafür zu sorgen, daß man neues Wissen in seine Scheuer brachte. N u n kam ich also nach Heidelberg zurück, wo ich meine glücklichste Studentenzeit verlebt hatte. [•••] Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß ich wieder in meiner geliebten griechischen Weinstube in Neckargemünd saß und dort an die Studentenzeit dachte. N o c h war man ja nicht so vertrottelt wie mancher „alte Herr", der nach Heidelberg kam und ein wenig grotesk aussah, wenn er in der Studentenmütze wieder durch die Gassen zog. Es war nicht das letzte Mal, daß ich damals nach Heidelberg kam. O b ich jetzt noch den Wunsch hätte, die Stadt wiederzusehen, nachdem man von dort alle Juden zwangsweise entfernt hat, weiß ich nicht. Ich glaube, man könnte wohl diese Erlebnisse mit dem, was einem selbst in der Erinnerung teuer ist, nicht mehr zusammenbringen. [...] Einen sehr schönen Abend verlebte ich im Hause meines alten Lehrers, des Professors Dr. O t t o Cartellieri, der in Handschuhsheim, einem Vorort von Heidelberg, lebte, und der mich eingeladen hatte. Ich habe schon erwähnt, wieviel ich Cartellieri verdankte. Sein wissenschaftliches und menschliches Interesse an mir war in keiner Weise geringer geworden. Er klagte nur, daß es mit seiner Karriere nicht vorwärts ginge; ich habe ja schon an anderer Stelle über die Gründe gesprochen. Während des Weltkrieges war Cartellieri ebenso wie Hampe in der Zivilverwaltung in Belgien beschäftigt gewesen. Wir hatten auch während des Krieges in regem Briefwechsel gestanden. Leider konnte ich Professor Hampe nicht sprechen, er befand sich auf Urlaub. Es hat mir immer leid getan, daß ich gerade ihn niemals mehr zu Gesicht bekommen habe, auch wenn wir brieflich immer in Fühlung blieben. [...] Mit neuen Eindrücken erfüllt kehrte ich nach Breslau zurück. Die Jungens traf ich gesund an. Zu Emsts dreijährigem Geburtstag konnte ich leider nicht zu Hause sein; aber in dem Alter empfindet das ein Kind ja nicht so schmerzlich und läßt sich mit Geschenken trösten. N u n trat wieder der Alltag in seine Rechte. Ich hatte in meiner jungen Studienratswürde am Johannesgymnasium zu unterrichten. Ich darf vielleicht noch nachtragen, daß der Direktor Gabriel, als ich Ostern 1922 als Studienrat an das Johannesgymnasium zurückkehrte, mich besonders herzlich begrüßte, und daß eine Klasse mir auch ein Gedicht überreichte. Da ich ja nur ein Jahr von der Anstalt fortgewesen war, so hatte ich nicht das Gefühl, ihr fremd geworden zu sein.
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Der Sommer 1922 hatte für die deutschen Juden ein Sturmzeichen gebracht, das sie eigentlich hätten verstehen können. Es war die Ermordung Walter Rathenaus 11 , dem die rechtsgerichteten Kreise es nicht verziehen, daß er Reichsaußenminister geworden war. Es ist ja bekannt, daß Rathenau sich gegen diese Berufung gesträubt und sie nur auf ausdrücklichen Wunsch des Reichspräsidenten Friedrich Ebert übernommen hatte. Man kann zu Rathenau stehen wie man will, aber er war sicher ein Mensch von reinen Motiven. Ich habe übrigens später für eine Serie jüdischer Jugendschriften, die von der Großloge des Ordens Bne Brith geplant war, eine kleine Biographie über Rathenau geschrieben, die aber leider nicht veröffentlicht worden ist, weil der Ausschuß für Jugendliteratur über mein Opusculum verschiedener Meinung war. Seit der Ermordung Rathenaus ist der Rechtsradikalismus in Deutschland immer stärker geworden; trotzdem hat man im deutschen Judentum wenig auf die Stimmen der Warner gehört. Walther Rathenau ist wie so viele Juden für die Sünden anderer gefallen. In den Jahren 1922 und 1923 machten sich ja die Inflationsgewinnler immer mehr breit, und wenn da gewiß nicht alle, die nach außen hervortraten, Juden gewesen sind, so blieb doch viel am jüdischen Namen hängen. Immer wieder wurde behauptet, daß es Juden waren, die die Korruption mit sich brachten. Am meisten hat in jener Zeit der Skandal um den Oberbürgermeister Boess in Berlin Staub aufgewirbelt. Da der Mensch aber dazu neigt, auf Sturmzeichen nicht zu hören, so hat auch das deutsche Judentum die Zeichen der Zeit nicht verstanden. [...] In jenem Sommer hatte ich auch noch einen interessanten Besuch in der Person des Feuilletonredakteurs Dr. Ludwig Goldstein von der Königsberger Hartungschen Zeitung. Für dieses Blatt arbeitete ich seit sehr vielen Jahren. Es gehörte zu den angesehensten Blättern der demokratischen Richtung in Deutschland, das sich auch bemühte, seinen Lesern ein verhältnismäßig hohes Niveau zu bieten. Dr. Goldstein war, wie man das heute ausdrücken würde, ein „Mischling", der Sohn eines jüdischen Vaters und einer arischen Mutter. Besondere jüdische Interessen hat er nicht gehabt, wenn er auch seinem Judentum immer treu geblieben ist. Ich führte ihn damals durch die Schönheiten unseres alten Breslaus, wie ich das bei Fremden immer sehr gern gemacht habe. N u r wenige haben ja wirkliches Interesse und Verständnis für diese verschwiegenen Schönheiten der D o m - und Sandinsel. Bei Dr. Goldstein aber war das in hohem Maße der Fall. Es war übrigens das einzige " Reichsaußenminister Rathenau wurde am 24. 6. 1922 das Opfer eines rechtsradikalen, antisemitischen Mordanschlages. Dazu SV Nr. 142.
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Mal, daß ich ihn gesprochen habe. Literarisch sind wir selbstverständlich weiter in Fühlung geblieben. Ich habe für diese Zeitung fast bis zu ihrem Ende mitgearbeitet. Goldstein hatte auch immer Raum, wenn es sich darum handelte, meine historischen Bücher zu besprechen. In späteren Jahren, als mich mein Buch über Hermann von Salza12 in besondere Beziehungen zur ostpreußischen Landesgeschichte brachte, konnte ich auch einmal eine größere Arbeit in seiner Zeitung unterbringen 13 . Es kommt ja in diesen Erinnerungen nicht darauf an, daß ich alles systematisch erzähle. Das bunte Leben, in dem ich stand, zwang mich oft zu der verschiedensten Tätigkeit. Ein ganzes Jahr war ich zum Beispiel Schöffe. Es war sehr interessant, einmal das menschliche Leben vom Standpunkt des Richters aus zu sehen. Gewiß wurden vor so einem Schöffengericht keine weltbewegenden Prozesse abgewickelt. Es waren meist sogenannte Bagatellsachen: Beleidigungen und dergleichen. Aber es war nicht nur psychologisch bemerkenswert, die Parteien zu beobachten. Mindestens so interessant war die Beobachtung der Anwälte. So bekam ich zum Beispiel einen furchtbar ungünstigen Eindruck von dem Rechtsanwalt Bandmann, der zwar von der Sozialdemokratischen Partei aus mein Genosse war, was mich aber durchaus nicht hinderte, ihm objektiv gegenüberzutreten. Die Art und Weise, wie er ziemlich skrupellos vor die Schranken des Gerichtes trat, machte mich sehr nachdenklich. Diese Art Anwälte hat zweifellos beigetragen, daß gerade auch im Gericht der Antisemitismus so sehr an Boden gewann und sehr viele brave jüdische Anwälte nach 1933 schwer darunter zu leiden hatten und um ihre Existenz kamen. U n d wenn ich Bandmann auf der einen Seite als Beispiel eines Anwaltes nennen möchte, wie er nicht sein soll, so hat mir immer nach der anderen Seite unser alter Rechtsberater, Justizrat Bendix, als Muster eines Anwaltes vorgeschwebt. Auch hier will es unser Judenschicksal, daß eben der Gerechte für den anderen zu leiden hat. [...] Eine andere Tätigkeit, die ich im öffentlichen Dienst wahrzunehmen hatte, war ein Ehrenamt als Mitglied des Steuerausschusses beim Finanzamt Mitte. Auch das war sehr lehrreich. Der Zweck des Steuerausschusses bestand darin, daß Männer aus der Bürgerschaft, die in der Gegend des betreffenden Zensiten wohnten, in Zweifelsfällen auszusagen hatten, ob die Lebenshaltung des Betreffenden mit dem, was er dem Finanzamt gegenüber angegeben hatte, übereinstimmte. Nirgends neigt ja der Mensch so zur Unehrlichkeit wie dem Finanzamt gegenüber, und damals
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Vgl. SV Nr. 341. Wohl SV Nr. 118.
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in der Inflationszeit war das besonders unerfreulich. Damals zahlten ja alle diese Leute doch ihre Steuern in entwertetem Gelde, während zum Beispiel der Arbeiter, der dem Steuerabzug unterlag, seine Steuern in dem Augenblick zu entrichten hatte, als das Geld noch etwas wert war. Ich habe in meinem Leben immer einen anderen Standpunkt vertreten und habe mich bemüht, die Gesetze des Staates auch in diesem Punkte zu erfüllen. Auch denjenigen, die damals sehr viel gerafft haben, ist wenig übrig geblieben: wie gewonnen so zerronnen. Es war mir immer besonders peinlich, wenn über Steuerveranlagungen von Juden gesprochen wurde und wenn ich das Gefühl hatte, daß diese Erklärungen nicht ordentlich abgegeben worden waren. Um bei Verwandten nicht befangen zu sein, bat ich dann immer in solchen Fällen, hinausgehen zu dürfen, und so war ich öfters vor der Tür. Einmal hatte ich bei dieser Gelegenheit sogar Gesellschaft. Dem Steuerausschuß gehörte auch einer der Besitzer der Schuhfabrik Dorndorf an. Als die Steuererklärung meines Onkel Moritz zur Beratung stand, fand ich mich mit ihm vor der Tür, denn ich war der Neffe, und er war der Schwager. Im allgemeinen dürfte ich das schärfste Mitglied des Steuerausschusses gewesen sein, der, soweit er unterrichtet war, keinen versuchten Betrug durchgehen ließ, und so machte ich an manchen Zensiten das Wort wahr: „Wer sich erniedrigt, der soll erhöht werden" 1 4 . Der leitende Regierungsrat war übrigens ein Hauptmann der Artillerie, mit dem ich im Felde zusammengetroffen war. Wissenschaftlich arbeitete ich damals hauptsächlich an der Durchfeilung meines Hohenstaufenbuches. Ich beabsichtigte, diese Arbeit als Habilitationsschrift einzureichen. Dazu hat mich besonders der Privatdozent Konrat Ziegler ermuntert, der auch mit Holtzmann darüber gesprochen hatte. Daß aus dieser Sache nichts geworden ist, hatte vielerlei Gründe; manches ist in diesem Zusammenhang schon angedeutet worden. Besonderes Pech hatte ich, daß Holtzmann, der mir bis zu einem gewissen Grade wohl wollte, damals nach Halle versetzt worden ist. Sein Nachfolger wurde der getaufte Jude Reincke-Bloch 1 5 , und die Getauften sind, wenn es sich um Beförderung eines Rassegenossen handelt, meist von einer mimosenhaften Empfindlichkeit.
Der Babylonische Talmud. Neu übertragen von L. Goldschmidt. Bd. 6. Berlin 1932, Gittin 1,1-3, S.204. Vgl. Ezechiel 21,31. 15 Hermann Bloch (1867-1928) hatte sich 1896 in Straßburg habilitiert. Von seinem Onkel adoptiert und protegiert, nahm er nach dem Ersten Weltkrieg den Namen Reincke-Bloch an. 14
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Die Hauptsache war mir natürlich die wissenschaftliche Arbeit um der Wissenschaft willen. Daneben mußte ich, um wirtschaftlich durch die Zeiten zu kommen, da der Haushalt auf der Wölflstraße doch nicht ganz billig war, viele Privatstunden geben. Eigentliche Nachhilfestunden habe ich, wenn es sich irgend vermeiden ließ, nicht gegeben. Es gibt kein böseres Brot, als minderbegabten Kindern solche Sachen einzupauken, und ich habe in späteren Jahren meinen Sohn Wolfgang immer wieder bewundert, wenn er neben dem Studium in Paris auf diese Weise seinen Lebensunterhalt verdiente. Ich habe immerhin manche interessante Aufgabe bekommen. So handelte es sich darum, den sehr sehbehinderten Hans Schwerin, den Sohn des Kommerzienrats Schwerin und Enkelsohn des Schöpfers des Salvarsans16, privatim zum Abiturium vorzubereiten. Dieser Unterricht hat mir, was den Jungen anbelangt, unendlich viel Freude bereitet. Er war ein sehr feinsinniger Mensch, der es in seinem Elternhause nicht leicht hatte und der sich an mich aufs engste anschloß. Ich hatte nur die Fächer meiner Gruppe zu unterrichten: Deutsch, Geschichte und Erdkunde. Es standen noch andere Lehrkräfte zur Verfügung, so zum Beispiel für die klassischen Sprachen der Kollege Freund, auch vom Johannesgymnasium. Der Junge ging mit einem ungeheuren Eifer an die Arbeit und überwand alle Schwierigkeiten. Die Eltern hielten ihm auch noch eine Vorleserin, so daß er sich immer gut vorbereiten konnte. Am schwersten war der Unterricht in der Erdkunde. Ich ließ durch die Firma Priebatsch Blindenkarten besorgen, so daß er auch in diesem Fache gründlich gefördert werden konnte. Er hat auch noch sein Abiturium und später auch noch juristische Prüfungen bestanden 17 . Ich kam durch diesen Unterricht in eines der reichsten Häuser Breslaus; aber in diesem Milieu habe ich mich sehr wenig wohlgefühlt; ich habe auch nie eine Einladung angenommen. Immerhin möchte ich einiges darüber erzählen, weil auch das einen Beitrag zu der abgelaufenen Epoche der jüdischen Geschichte in Deutschland darstellte. Die Firma Schwerin und Söhne war vor allem eine Hanfspinnerei, und ihre Tätigkeit war damals eine Devisenangelegenheit. Außerdem brachten die Patente ihres Vaters der Frau Einnahmen in jeder Valuta der Welt. Es gab ja damals keine Devisenbewirtschaftung, und
Ein arsenhaltiges Präparat, das 1909 von Paul Ehrlich als Wirkstoff gegen die Syphilis entwickelt wurde. 17 Über Hans Wolfgang Schwerin vgl. K. Schwerin: Die Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben Schlesiens; in: J S F U B 25 (1984), S. 160f. 16
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die anfallenden Erträgnisse brauchten nicht abgeliefert zu werden. Trotz dieser Lage und trotz eines Villenhaushaltes mit gewaltigem Personal, mit Auto und allem Zubehör, versuchte Herr Schwerin das Honorar der Lehrer, die seinen Sohn unter so schwierigen Umständen zu unterrichten hatten, möglichst zu drücken. [...] Und doch hat es vielleicht auch hier nach Jahren den Ausgleich gegeben. Seine Villa hat er sich nicht mitnehmen können. Eines schönen Tages ist er, ohne die entsprechenden Behörden zu fragen, über das Riesengebirge nach der damaligen Tschechoslowakei abgetürmt, und sein Besitz ist beschlagnahmt worden. Mag sein, daß er entsprechend vorgesorgt hatte, ich weiß es nicht. Hans Schwerin lebt heute in der Schweiz und hat wohl seine dichterische Ader, die er damals schon besaß, weiter gepflegt 18 . Noch unangenehmer als Herr Schwerin war mir seine Frau, der man in keiner Weise anmerkte, daß sie die Tochter eines so feinen Geistes wie Paul Ehrlichs war. Hans Schwerin ist offenbar nach dem, was mir auch sonst erzählt wurde, ein Abbild seines Großvaters gewesen. Von meinen wissenschaftlichen Arbeiten in diesen Jahren wäre vielleicht auch noch mein Aufsatz in der „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums" über Kaiser Friedrich II. und die deutschen Juden zu nennen 19 . Ich hatte hier Gelegenheit, mich kritisch mit der Geschichte der Juden von Heinrich Graetz 2 0 auseinanderzusetzen. Für längere Jahre ist dies die einzige Arbeit gewesen, die ich in wissenschaftlichen Zeitschriften für die Geschichte unseres Stammes beisteuerte. Später habe ich dann noch öfters für die Monatsschrift größere Aufsätze verfaßt. Nun bin ich seit mehreren Jahren sehr stark mit der Erforschung der mittelalterlichen Geschichte der Juden befaßt, wobei nur andeutend gesagt werden soll, daß eigentlich im Grunde hier noch alles mehr oder weniger zu leisten ist. Wenn ich vielleicht in jüngeren Jahren zu dieser Arbeit gekommen wäre, so hätte ich noch Umfassenderes schaffen können. Damals stand mir als Hilfskraft für meine schriftstellerischen Arbeiten vor allem meine Mutter zur Verfügung, die unermüdlich mit der Hand für mich geschrieben hat und der ich viele Aufsätze teils diktierte, teils zum Abschreiben brachte. Sie war glücklich, daß sie mir in dieser für mich so schweren Epoche helfen konnte. Ihre Handschrift war wie gestochen, so In Bern veröffentlichte Hans Schwerin 1939 unter dem Pseudonym Wolfgang H. Syland Gedichte. 18
Vgl. SV N r . 103. H . Graetz: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. 11 Bände. Berlin 1853-1877. 19
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VI. Kapitel
daß kein Setzer damit größere Schwierigkeiten hatte, als wenn es in die Schreibmaschine diktiert worden wäre. Doch reichte trotz allen Eifers ihre Arbeitskraft für mich nicht aus, und so sah ich mich außerdem noch nach einer weiteren Hilfe um. In früheren Jahren hatte ich immer in dem Schreibmaschinenbüro von Horwitz auf dem Ring diktiert; das war aber nun zu umständlich und zeitraubend. So war ich sehr glücklich, als in meinem Nachbarhaus auf der Wölflstraße sich eine Gelegenheit bot. Dort wohnte damals der Vorsitzende der Breslauer Synagogengemeinde, der die Gemeinde zwar diktatorisch, aber sachlich nicht schlecht regierte: Eduard Sachs. Uber diese eigenartige Persönlichkeit, die der liberalen Richtung angehörte, ließe sich sehr viel erzählen. Trotz allem, was sich gegen ihn sagen ließe, war er doch eben eine Persönlichkeit, die in der Arbeit für die Gemeinde und im besonderen für das Krankenhaus aufging. Seine Tochter war damals schon Witwe; sie hieß Kuznitzky. Sehr viel später habe ich übrigens erfahren, daß sie getauft war, sie, die Tochter des Vorstehers der Gemeinde. Mit außerordentlich großem Eifer hat sie für mich gearbeitet. Ich sammelte damals ein kleines Bändchen Novellen, von dem ich hoffte, daß sie als Buch gedruckt werden würden. In Zeitschriften war die eine oder andere schon erschienen. Diese Hoffnung hat sich, wie manche andere, leider nicht erfüllt, und auch dieses Buch wird erst in den „nachgelassenen Werken" erscheinen 21 . Frau Kuznitzky war ein sehr feinsinniger Mensch, die mir oft auch mit ihrem literarischen Urteil zur Seite stand. Sie mußte sich damals materiell ziemlich quälen, obwohl der Vater recht begütert war. Sie ist übrigens ziemlich frühzeitig einer schweren Krankheit zum Opfer gefallen. Oft haben wir auch noch in den Abendstunden zusammen gearbeitet. Ich habe mich damals in der Arbeit gewissermaßen zu ertränken versucht. Der Herbst 1922 brachte das fünfzigjährige Jubiläum des Johannesgymnasiums, das in größerem Maßstabe gefeiert wurde. Damals läutete mich auch die Redaktion der „Breslauer Neuesten Nachrichten" an und bat mich um einen Jubiläumsartikel, den ich auch geschrieben habe, wobei ich weit in meine Erinnerungen auch als Schüler zurückgriff 22 . Ich sollte auch eine Geschichte des Johannesgymnasiums schreiben, dazu ist es dann aber nicht mehr gekommen, was ich bedauert habe. Das Johannesgymnasium verkörpert ein Stück Breslauer Stadtgeschichte in eigenartigster Weise. Ich möchte aber annehmen, daß gerade dieses Kapitel bei Eine unerfüllbare Hoffnung, denn das Novellenmanuskript fehlt im Jerusalemer Nachlaß Willy Cohns. 2 2 Vgl. SV N r . 136. 21
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der Darstellung der Jubiläumsgeschichte der Stadt Breslau nicht erwähnt werden wird 23 . Das Jubiläum wurde auf die verschiedenste Weise gefeiert. Der damals berühmteste Schüler der Anstalt, Emil Ludwig, schrieb das Festspiel; doch war ihm dieser Wurf wenig geglückt 24 . Das Bierstück, das der Kollege Schäffer für den Kommers verfaßte, war erheblich besser. Immerhin war die Anstalt damals stolz darauf, daß Emil Ludwig der Verfasser war. Heute dürfte man ein wenig anders denken. Übrigens war Emil Ludwig in diesen Jahren von einer ungeheuren Einbildung. Mein Bruder Franz hat ihn einmal in der Schweiz besucht und mir das berichtet. Für mein Gefühl war das Hauptereignis des Jubiläums eine Aufführung des „Ajax" von Sophokles in griechischer Sprache. U m die Einstudierung dieses Stückes hatte sich der nun auch schon lange verstorbene Professor Habel besondere Verdienste erworben. Auch das ist gewissermaßen der Abschluß einer Epoche. Heute sind die meisten deutschen Gymnasien in Oberschulen verwandelt. Aus ihnen ist sowohl das Studium der hebräischen wie auch der griechischen Sprache verbannt. Für die Jugend von heute dürfte die Kenntnis der technischen Fächer wichtiger sein! Von dem Geist der klassischen Humanität ist wenig geblieben. Als aber durch das Breslauer Theater die klassischen Verse des großen Griechen erklangen, da war es auch für die, die nicht in der Lage waren, jedes Wort zu verstehen, ein Gruß aus einer großen vergangenen Welt. Wo mögen alle die jungen Menschen heute sein, die an dieser Aufführung mitgewirkt haben. Im Augenblick weiß ich nur von einem etwas, von meinem Verwandten Emil Lyon, der augenblicklich in Italien interniert ist. Wie gut ist es, daß der Mensch nicht in seine Zukunft schauen kann und nicht weiß, was ihm beschert ist. Sicher haben die meisten jungen Leute 1922 gedacht, daß ihr Schicksal reibungslos und in geordneten Bahnen ablaufen würde. Und dann ist doch alles so anders gekommen. [...]
Für das Jahr 1942, in dem die Stadt Breslau die Siebenhundertjahrfeier ihrer Gründung nach deutschem Recht feiern konnte, war die Veröffentlichung einer neuen umfangreichen Stadtgeschichte geplant, die aber nicht mehr erschien. Vgl. W . Cohn: Als Jude in Breslau 1941, S. 32. 23
Dieses Festspiel Emil Ludwigs hat sich weder als Druck noch als Manuskript nachweisen lassen. Es befindet sich auch nicht im Emil-Ludwig-Archiv des Schweizerischen Literaturarchivs, Bern, das freundlicherweise den dort aufbewahrten Nachlaß des Dichters überprüfte und am 1. Juni 1993 darüber Auskunft gab. 24
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VI. Kapitel
In meinem literarischen Schaffen hatte ich damals die große Freude, daß meine kleine Biographie über Ferdinand Lassalle ihre zweite Auflage erlebte25. Eine zweite Auflage ist für einen Autor das, was die Enkelkinder für Großeltern bedeuten. Bei den eigenen Kindern hat man die Mühe, und bei den Enkelkindern dann nur die Freude. So ist es also auch mit einer zweiten Auflage bestellt, für die man nur die Belege und das Honorar ins Haus geschickt bekommt. Auch erweiterte sich damals für mich meine Vortragstätigkeit. In den Kreisen der Arbeiterschaft sprach ich gern über Ferdinand Lassalle; so hatte ich einen Vortrag im Liegnitzer Volkshaus übernommen, der mich wieder mit ganz anderen Menschen zusammenbrachte und der mir wohl auch einigermaßen geglückt war. In Liegnitz habe ich später noch sehr häufig in jüdischen Kreisen gesprochen, aber nicht mehr vor der Arbeiterschaft. Besonders aber freute ich mich, daß sich mir die Gelegenheit bot, einmal auch in der Berliner Universität zu reden. Ich gehörte schon seit Jahren der „Historischen Gesellschaft" in Berlin an26, und ich habe schon erwähnt, daß ich regelmäßig seit vielen Jahren für die „Mitteilungen aus der Historischen Literatur" schrieb. Die Historische Gesellschaft veranstaltete regelmäßig Vortragsabende in der Berliner Universität. Einen derartigen Vortrag sollte ich halten, und zwar hatte ich mir auf Grund meiner Spezialstudien das Thema gewählt: „Der Kampf Kaiser Friedrichs II. um die Seeherrschaft" 27 . Der Vortragsabend wurde von dem bekannten Schulhistoriker Professor Reimann geleitet, der damals an der Spitze der Gesellschaft stand. Das Publikum setzte sich fast ausschließlich aus Gelehrtenkreisen Berlins zusammen. Besonders stolz war ich darauf, daß mein alter Lehrer aus Heidelberg, der berühmte Bismarckhistoriker Erich Mareks, es sich nicht hatte nehmen lassen zu kommen und den gewiß bescheidenen Ausführungen seines Schülers zuzuhören. Wie immer nach wissenschaftlichen Vorträgen kam es auch zu einer kleinen Diskussion. Der einzige, der mit meinen Ergebnissen nicht ganz einverstanden war, war der getaufte Jude Geheimrat Sternfeld, der
25
Vgl. SV Nr. 123. Cohn wurde am 3. März 1916 in die 1872 gegründete Historische Gesellschaft zu Berlin aufgenommen, vgl. Sitzungsbericht der 429. Sitzung der Historischen Gesellschaft; in: M H L 44 (1916), Anhang, S. 2. 27 Auf der Sitzung der Historischen Gesellschaft am 3. November 1922 sprach Cohn über „Den Kampf des Staufenkaisers Friedrich II. um die Seeherrschaft im Mittelmeer", vgl. Sitzungsbericht der 487. Sitzung der Historischen Gesellschaft; in: M H L 51 (1923), Anhang, S. 1. 26
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auch auf dem Gebiete der süditalienischen Geschichte gearbeitet hatte. Die Getauften bilden eben eine Kategorie für sich. Ich denke an jenen Abend mit großer Freude zurück; schließlich ist ja die Berliner Universität der Mittelpunkt des deutschen Geisteslebens gewesen, und es war immerhin ein etwas beklemmendes Gefühl, dort auf das Katheder zu steigen, auch wenn es nur für eine Stunde war. [...] Zu dem Berliner Vortrag möchte ich noch anmerken, daß auch der Verleger Karl Curtius unter meinen Hörern war, bei dem mein Buch über die Flotte Konrads IV. und Manfreds erschienen war. Dieser Verleger war ein etwas eigenartiger Mann, sehr scheu und zurückhaltend, außerdem ziemlich altmodisch. Ich glaube, er hat, solange sein Verlag bestand, keine Schreibmaschine besessen. Doch hat er sich um die Wissenschaft große Verdienste erworben und lange Zeit die Publikationen des Hansischen Geschichtsvereins herausgebracht. An der Diskussion nach meinem Vortrag hatte sich auch der Kollege Graefe beteiligt, der so wie ich besonders an der Marinegeschichte interessiert war und mit dem mich bis zum heutigen Tage eine sehr enge wissenschaftliche Freundschaft verbindet. Meinen kurzen Berliner Aufenthalt benutzte ich auch noch zu zwei Besuchen bei den Professoren Haepke und Sthamer, bei denen ich immer ein gern gesehener Gast war. Gewohnt habe ich bei Bruno Schwarz in seiner hübschen Villa in Zehlendorf. Damals stand der Dollar 6000 Mark, und eine Tasse Kaffee, die ich mir am Potsdamer Platz spendierte, kostete 66 Mark. Ich hatte übrigens für diesen Vortrag kein Honorar bekommen und sogar die Reisekosten aus eigener Tasche bezahlt, was man mir bei der Historischen Gesellschaft sehr anrechnete. Die wissenschaftlichen Gesellschaften waren ja in jenen Inflationsjahren in einer besonders schwierigen Lage. Wenn sie ihre Mitgliedsbeiträge eingenommen hatten, so waren sie in der Regel nichts mehr wert. Ich habe immer auf dem Standpunkt gestanden, daß man für die Wissenschaft auch gewisse Opfer bringen müsse. Jene Reise nach Berlin habe ich nicht bedauert; sie hat mir an inneren Werten tausendfach das wiedergebracht, was ich ihr materiell geopfert habe. Wobei übrigens noch zu sagen ist, daß es in der Groteske jener Zeit lag, daß damals die öffentlichen Verkehrsmittel außerordentlich billig waren. Der Staat machte die Preiserhöhungen nicht so rasch mit, wie die Lebensmittelpreise in die Höhe kletterten. In dem Winter 1922 zu 1923 habe ich sehr oft gesprochen. Einmal wählte ich in der zionistischen Ortsgruppe im Anschluß an das Buch von Felix Theilhaber das Thema: „Der Untergang der deutschen Juden" 2 8 . Ich 28
F. A. Theilhaber: Der Untergang der deutschen Juden. Eine Volkswirt-
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VI. Kapitel
versuchte zu zeigen, wie die innere Substanz des deutschen Judentums durch Taufe, Mischehe und Kinderlosigkeit geschwächt wäre und dem Untergange entgegenginge. Das deutsche Judentum befand sich in diesen Jahren in dem Zustande der Euphorie, gewissermaßen wie ein Sterbender kurz vor seinem Ende das Gnadengeschenk des Wohlbefindens empfängt. Die Rufe der Warner hat man damals in den Wind geschlagen. Zu so einem Vortrag in der Ortsgruppe ist nur derjenige Kreis von Menschen erschienen, der sowieso mit diesen Gedanken vertraut war. Unsere zionistische Argumentation beruhte ja darauf, daß wir den Menschen immer wieder sagten, es müsse eine grundsätzliche Umstellung stattfinden, wenn das Judentum als solches gerettet werden sollte: Fort von der Assimilation! Man hat das aber in den Kreisen der Juden, die in der Ideologie der Assimilation befangen waren, nicht wahrhaben wollen. Im erbittertsten Kampfe mit uns stand der Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 2 9 , oder wie ich ihn ironisierend in Vorträgen oft nannte: mosaischer Konfektion. Die Herren fürchteten durch die zionistische Bewegung vor allem eine Schädigung ihres Geschäftes. Es war auch hier ein Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit, wobei sich durch den Ablauf der Ereignisse gezeigt hat, daß das Ideal stärker war als die Wirklichkeit. Von jenen jüdischen Geschäften ist nichts übrig geblieben. Aber auch die Söhne und Töchter vieler Centralvereinler haben in Erez Israel durch die Arbeit der Zionisten eine Heimat gefunden. Man muß sogar ehrlicherweise sagen, daß bei allen Katastrophen, die das deutsche Judentum nach 1933 getroffen hat, doch der Rest eine innere Stärkung seiner Substanz erfahren hat, wie das ja eigentlich immer in unserer Geschichte der Fall war. Im Grunde sind uns die Epochen des guten Lebens niemals bekommen, und erst wenn wir von dem äußeren Glänze herabgestürzt wurden, haben wir uns wieder auf unsere wirklichen Werte besonnen. Man kann sich vorstellen, daß ich mich in dem Kreise der Breslauer jüdischen Bürger damals nicht sehr beliebt machte, obwohl man sehr gern zu meinen Vorträgen kam und auch neidlos anerkannte, daß ich einigermaßen sprechen konnte. Aber schließlich liegt es wohl im Wesen des Menschen begründet, daß man nicht gern hat, wenn jemand die Hand in die Wunde legt. Besondere Schwierigkeiten hatte ich auch in meiner Familie dadurch, daß ausgerechnet mein Bruder Rudolf eine führende schaftliche Studie. München 1911. Cohn rezensierte 1924 die 2. Auflage des Buches, vgl. SV Nr. 176. 29 Der Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) war 1893 gegründet worden.
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Stellung in der Ortsgruppe [des Centraivereins] nationaldeutscher Juden einnahm, den der Berliner Rechtsanwalt Dr. Naumann leitete. Dieser Verband lebte von der Denunziation seiner Rassegenossen. Er hatte vor allem den Kampf gegen den Zionismus und das Ostjudentum auf seine Fahne geschrieben. Zur Ehre der deutschen Juden sei gesagt, daß nur ganz wenige auf Herrn Naumann hereinfielen. Ich war jahrelang mit meinem Bruder Rudolf so überworfen, daß wir kein Wort miteinander sprachen. Er überschlug sich förmlich vor zur Schau getragenem deutschen Patriotismus - und er hat, als er nach Australien auswanderte, sofort seinen Namen aufgegeben und einen englischen angenommen. Ich nehme an, daß er heute ein hundertprozentiger australischer Assimilant ist. Selbstverständlich ging ich den Weg, den ich mir erkämpft hatte, weiter. Es war mir eine Freude und Genugtuung, daß mir viele Menschen innerlich folgten und anerkannten, daß in dem, was ich sagte, etwas Richtiges sein müsse. Letzten Endes verdanke ich dem Zionismus auch die Bekanntschaft mit meiner jetzigen Frau. Der Keren hajessod, der damals in ganz Deutschland eine große Werbeagitation unternommen hatte, errichtete im Anschluß an das Büro der zionistischen Ortsgruppe auch in Breslau ein eigenes. Hierfür waren von Berlin zwei Damen als Sekretärinnen geschickt worden. Eine von ihnen wurde meine Frau. Die Ortsgruppe brauchte damals, um die Kartothek auf dem laufenden zu erhalten, auch die ehrenamtliche Mitarbeit der Mitglieder. So ging ich abends hin, um zu helfen. Dabei lernten wir uns kennen und verstanden uns in dem gleichen Ideal. Unter den Vorträgen, die ich auswärts hielt, möchte ich besonders den Ort Militsch hervorheben. Es bestand dort der Mendelssohn-Verein, der sich um jüdische Bildung der Gemeindemitglieder bemühte. Ich habe sehr viele Klein- und Kleinstgemeinden bereist, und keine war mir klein genug, um in ihr zu sprechen. Immer wieder aber habe ich feststellen können, daß das jüdische Leben in diesen Gemeinden vor allem erfüllt war von dem Geist des Mannes oder der Frau, die darin ihre Aufgabe sah. In Militsch lebte das Arztpaar Dr. Jutkowsky. Die beiden waren der gute Geist dieser kleinen Gemeinde. Er selbst war übrigens auch der beliebteste Arzt im ganzen Kreise. Er war einer dieser namenlosen Helden der medizinischen Wissenschaft, für die es kein anderes Ideal gab, als helfen zu dürfen. Damals 1922 gab es nur wenige Autos. Wie oft habe ich gesehen (ich bin sehr häufig in Militsch gewesen), daß er mit seinem Schlitten zu Entbindungen über Land geholt wurde und dann womöglich von einem entfernten Orte des Kreises gerade in den entgegengesetzten weiter mußte. Früh am Morgen war dann schon die Sprechstunde voll. In
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VI. Kapitel
dem Hause dieses Ehepaares wehte ein guter jüdischer Geist. Sie haben alle ihre Kinder im Sinne des Zionismus erzogen. Heute sind sie sämtlich in Erez Israel, wohin ihnen auch ihre Mutter gefolgt ist. Er, der Arzt, ist sehr früh einem Krebsleiden erlegen. E r wußte, was ihm fehlte, wie er mir selbst gesagt hat, ließ sich operieren und starb an der Operation. In Militsch habe ich mich immer wie zu Hause gefühlt. Man hat dort alles getan, um mir das Leben behaglich zu machen. Es ist von Breslau nach Militsch keine große Entfernung. Damals war das noch sehr umständlich, und im Winter 1922/23 waren die Züge auch schlecht geheizt. Wenn ich dann in Militsch ankam (der Bahnhof liegt weit vom O r t ) und mit dem Wagen oder dem Schlitten vorbeifuhr, dann wurde ich sofort mit heißer Brühe gestärkt und mit viel Liebe umgeben. [...] Militsch war damals schon der Grenzübergangsort nach Polen. Die Menschen waren in jeder Beziehung sehr auf sich angewiesen. Materiell ging es den Juden nicht schlecht, wenn auch die Getreidehändler immer über die schlechten Preise jammerten. D e r Sohn eines solchen holte mich öfters von der Bahn ab, und ich fragte ihn immer gleich, wenn ich aus dem Zuge herauskam: „Wie steht der Roggen?" Dann brauchte ich nämlich eine halbe Stunde nichts zu sagen, denn ich wußte, daß jetzt ein längeres Klagelied erschallen würde. Es ist übrigens interessant, daß dieser Herr, der damals noch sehr jung war, jetzt in Breslau körperlich arbeitet. E r hat noch niemals so gut ausgesehen, und als ich ihn gerade vor einigen Tagen traf, als er mit dem Rade zu seiner Arbeitsstätte fuhr, [fragte ich ihn]: „Ist es jetzt nicht besser, wo sie nicht mehr den Roggen verkaufen, sondern Produkte des Gartens erzeugen?" In der Gemeinde Militsch habe ich fast jeden Menschen gekannt. Es gab natürlich die größten Gegensätze, und manche Gruppen waren aus den nichtigsten Ursachen miteinander verkracht. Ein besonders interessanter Mann war der Landwirt Herr Heilborn. Das war ein wirklich tüchtiger jüdischer Landwirt, Pächter der dortigen adligen Familie 3 0 , ein Mann wie ein Baum, der auch äußerlich so aussah wie ein ostelbischer Junker. Leider ist er sehr früh einem Herzschlag erlegen. Daneben gab es natürlich auch kleine Leute, die als Medinegeier, als Geher durch die Städte ihr Gewerbe im Umherziehen betrieben und Hasenfelle kauften. Einmal führte mich Dr. Jutkowsky ins Rathaus. E r war als langjähriger Stadtverordneter mit den städtischen Behörden
Militsch war Sitz der angesehenen Adelsfamilie von Maltzan. Zur Ergänzung vgl. die Lebenserinnerungen der Maria Gräfin von Maltzan: Schlage die Trommel und fürchte dich nicht. Berlin 1986. 30
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gut bekannt und veranlaßte, daß mir die dortigen alten Judenakten gezeigt wurden. Auf Grund dieses Fundes hat dann ein H ö r e r des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars seine Doktor-Dissertation über die Juden in Militsch geschrieben 3 1 . Leider ist diese Arbeit vereinzelt geblieben. Ich regte damals bei dem Nachfolger des Professors D r . Marcus Brann, dem Dozenten Dr. Israel Rabin am Jüdisch-Theologischen Seminar an, man solle systematisch jeden schlesischen O r t in dieser Weise bearbeiten lassen, damit dadurch eine Grundlage für eine wirklich wissenschaftliche Geschichte der Juden in Schlesien geschaffen würde. Leider hat sich Rabin, der aus dem Osten stammte, nicht zu einer solchen Systematik durchringen können. Als ich später selbst am Seminar tätig war, war es dazu schon zu spät. Wie wichtig wäre es gewesen, wenn das Judentum seine Geschichte in einwandfreien Bearbeitungen selbst geschrieben hätte. Wenn ich in Militsch war und die Zeit es irgendwie erlaubte, so ging ich gern mit einem Mitglied der Familie Jutkowsky in den Wäldern spazieren oder an den Ufern der Bartsch. Ich habe die Landluft immer besonders geliebt. Die Rückkehr zum Boden scheint mir auch für unser jüdisches Volk der Weg zur Genesung zu sein. Leider sind nur die wenigsten von diesem Ideal gepackt, sonst würden sich nicht wieder in N e w York Millionen von Juden auf engstem Räume zusammentun. Kurz vor den Weihnachtsferien 1922 kam Rosette Lewy nach Breslau; sie wohnte bei Tante Marie. Sie und Frau Dr. J u t k o w s k y in Militsch waren wohl die ersten, die davon hörten, daß ich die Absicht hatte, mich wieder zu verheiraten. In den Weihnachtsferien fuhr ich wieder nach dem Weißen Hirsch [in Dresden], wo Franz wiederum praktizierte. Manches von dem, was ich auch in diesem Jahre dort erlebte, habe ich ja schon geschildert, als ich von der vorjährigen Reise berichtete. Das Gefühl, auf einem Vulkan zu tanzen, verstärkte sich von Tag zu Tag. Gerade da oben auf dem Weißen Hirsch ist mir der ungeheure soziale Gegensatz mit aller Macht vor Augen getreten. Wenn ich durch die Dresdner Heide spazierenging, dann sah man die in Pelz gehüllten Gestalten jener Leute, die ihre angeblichen Krankheiten pflegten, und im Walde erblickte man die Holzsammler, die Ärmsten der Armen, die bei den irrsinnigen Preisen damals keine Möglichkeit hatten, Heizung zu kaufen. Das Gefühl für soziales Leid 31
F. Bloch: Die Juden in Militsch. Ein Kapitel aus der Niederlassung der
Juden in Schlesien, Diss. Breslau 1926.
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habe ich mir immer bewahrt und immer dafür Verständnis gehabt. Mir war nicht die Hauptsache, daß es mir selbst noch einigermaßen ging. Ich war unglücklich, wenn ich sah, daß Besitzende an dem Leiden der anderen vorbeigingen. Es ist sicher, daß es weiten Kreisen der Juden damals viel besser ging als vielen Nichtjuden, was mit der damaligen Berufsschichtung des deutschen Judentums zusammenhing. In meinem regelmäßig geführten Tagebuch habe ich mir stets neben dem persönlichen Erlebnis meine Meinung zu den Zeitereignissen notiert. Als in jenem Winter Essen von den Franzosen besetzt wurde, war mir klar, daß diese Besetzung zu einem gewaltigen Aufflammen des Nationalismus in Deutschland führen mußte. Die Übersteigerung des Siegergefühls, das habe ich mir damals schon aufgeschrieben, mußte das deutsche Volk in das entgegengesetzte Extrem treiben. Dieser Winter brachte ja nicht nur die Besetzung von Essen; er brachte auch die von Bochum und die Besetzung Memels durch die Litauer. Im Organismus eines Volkes dauert es sehr lange, bis ein neuer Geist entsteht. Es liegt mir fern, in diesen persönlichen Erinnerungen zu den heutigen Ereignissen Stellung zu nehmen; aber man darf diese Zusammenhänge gewiß nicht übersehen. Damals auf dem Weißen Hirsch begegneten wir uns aus den verschiedensten Kreisen unserer Familie. Auch Rosette Lewy kam auf der Durchreise nach Frankfurt hin, und ich führte sie durch die Stadt. Es ist ja immer wieder ein Erlebnis gewesen, wenn man durch die Dresdner Museen gehen durfte oder von der Brühischen Terrasse über die Stadt hinausblicken konnte. In der Loge Fraternitas des Ordens Bne Brith habe ich damals einen Vortrag über Ferdinand Lassalle und seine Beziehungen zum Judentum gehalten. [...] Materiell hat mir in jenem Winter sehr geholfen, daß ich neben der schon erwähnten Mitarbeit an der Schweizer jüdischen Zeitschrift32 auch noch für Blätter in der Tschechoslowakei, und zwar in Prag und Bratislava, für ein Blatt in Wien und für die ostjüdische Zeitung in Czernowitz schrieb33. Die letztere Stadt gehörte damals zu Rumänien. Alle diese Zeitungen zahlten in der Währung ihres Landes. Gemessen an der deutschen Währung waren es in der Redewendung jener Zeit „Edelvaluten".
Vgl. oben S. 300. Die „Ostjüdische Zeitung" in Czernowitz ist in den entsprechenden Jahrgängen in Deutschland nicht vorhanden. Außerdem bezieht sich Cohn auf seine Mitarbeit bei der Wiener Zeitschrift „Die Wahrheit", vgl. SV N r . 133, 180, 181. 32
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Eine neue Verlagsbeziehung knüpfte sich für mich zu dem Breslauer Verlage der „Volkswacht", den Max Tockus leitete. Ich hatte eine Jugendschrift über Karl Marx geschrieben, die ähnlich abgefaßt war wie die über Lassalle, der dann in diesem Verlage noch eine ganze Reihe anderer gefolgt sind 34 . Über den Sinn dieser Jugendschriften habe ich schon berichtet. Mit Max Tockus habe ich mich immer sehr gut verstanden. Er war so wie ich ein großer Idealist, der sich immer sehr kränkte, wenn die Genossen den Sozialismus nur als Gelegenheit ansahen, ihre persönliche Lage zu verbessern. Tockus hat nach 1933 Deutschland verlassen müssen; er war dann lange in Böhmen und ist nun auch in Palästina gelandet, obwohl er schon einmal konfessionslos geworden war. Man hatte vor Jahrzehnten auf die älteren Genossen in der Sozialdemokratischen Partei sehr gedrückt, damit sie ihrer Religion den Rücken kehrten. Diesem Druck hatte sich wohl Tockus auch nicht entziehen können; aber er ist immer ein guter Jude geblieben. Letzten Endes kann man ja aus dem Judentum nicht austreten. Der Verlag der Volkswacht lag auf der Flurstraße. Wenn ich eine Lückstunde im Unterricht hatte, so bin ich von der Paradiesstraße immer zu Tockus gegangen. Ich bin dann ein eifriger Mitarbeiter der Breslauer Volkswacht geworden, habe aber vor allem historische Artikel und Bücherbesprechungen geschrieben. Aus der eigentlichen Politik habe ich mich möglichst herausgehalten. Damals beabsichtigte ich, meine jüdischen Aufsätze als Buch herauszugeben; aber ich sollte mich verpflichten, 500 Exemplare zu übernehmen. Dazu konnte ich mich nicht entschließen. Sicher ist das ein Fehler gewesen; aber bei meinen sonstigen großen Verpflichtungen glaubte ich es nicht verantworten zu können. Leider ist mir dieser Wunsch meines Lebens, gerade meine jüdischen Aufsätze als Buch gedruckt zu sehen, nicht in Erfüllung gegangen. Heute würden sie sehr viele Bände füllen und besonders die Aufsätze, die ich seit 1933 geschrieben habe und die man unter dem Worte „Im Kampf um das Judentum" zusammenfassen könnte, würden manchen Blick in unsere Zeit eröffnen. Neben der literarischen Tätigkeit [...] hatte ich öfters einmal Herren und Damen, die ich zu Universitäts- und Staatsprüfungen vorbereitete. [...] Unter anderem habe ich auch Manuel Joel geholfen. Das war ein Altersgenosse meines Bruders Rudolf, der Sohn des Justizrats Karl Joel und der Enkel des berühmten Rabbiners und Religionsphilosophen, von dem er auch den Vornamen hatte. Manuel Joel war der typische späte
34
Vgl. oben S. 277.
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VI. Kapitel
Enkel eines schon etwas müden, geistig überarbeiteten Geschlechts, der nicht mehr viel Widerstandskraft mitbrachte. D o c h hatte er es nicht verdient, daß er im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, als im November 1938 so viele Juden schuldlos dorthin geschafft wurden, so zugrunde ging. Man sagt, daß dort mancher daran gestorben ist, weil er nicht den Willen zum Durchhalten hatte. [...] In jenem Winter starb mein alter Direktor des Johannesgymnasiums, der Geheimrat Laudien in hohem Alter. Ich habe seiner Beerdigung in Rothkretscham beigewohnt. [...] Zu Purim 1923 war ich mit meinen beiden Jungens zu einem Kinderfest in der Lessing-Loge. D a konnte ich so recht den unterschiedlichen Charakter von beiden beobachten. Wölfl war noch nicht ganz acht Jahre und Ernst noch nicht vier Jahre. Wölfl drückte sich scheu in einer Ecke herum, während Ernst sich gleich ein kleines Mädchen suchte, mit dem er tanzte. Wölfl ist immer etwas schwerlebig gewesen. Ich hatte übrigens damals zeitweise zu den Kindern zur Vertretung für Fräulein Frieda eine französische Schweizerin, die sogenannte Melle, und beide haben damals ganz hübsch etwas Französisch gelernt. Vielleicht hat das Wölfl später noch genützt, der nun schon seit acht Jahren in Frankreich lebt. Diese Melle war ein komischer Mensch. Einmal kam ich aus dem Dienst nach Hause, da war sie einfach ausgerissen, weil eines der Kinder sie geärgert hatte. Es bedurfte einer großen Versöhnungsaktion, um sie wieder zurückzuholen. Wenn man gezwungen ist, so kleine Kinder ohne Frau großzuziehen, gab das eben oft schwierige Komplikationen. G'tt sei Dank ist es mir ja geglückt, sie auch durch diese schwierigen Zeiten gesund hindurchzubringen. Ü b e r vieles, was mir damals weh tat und was ich in meinen Tagebüchern verzeichnet habe, will ich lieber schweigen. Nicht immer verfügen die Menschen über den notwendigen Takt, der in solchen Situationen erforderlich ist. Ich will nicht in Dingen, die nun vergangen sind, noch einmal wühlen. Die Sederabende 1923 verlebte ich bei Dr. Prager und bei Dr. Simonsohn. D e r Nervenarzt Dr. Prager, der Sohn des Landrabbiners von Kassel, hat die Tochter Lotte meines alten Lehrers Professor Badt geheiratet. Ich habe von dem letzteren schon mancherlei erzählt. Der Sederabend bei Pragers ließ alle die schönen Melodien wieder aufklingen, die ich einstmals im Hause Badt gehört habe. Man verstand es hier, die Tradition fortzupflanzen. Heute ist diese ganze Familie längst in Palästina. Sie haben einen Sohn Benno, der nach dem Großvater heißt, wie es ja überhaupt eine sehr schöne Sitte ist, das Andenken des Großvaters in den Enkelkindern Wiederaufleben zu lassen. Auch im
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Hause von Simonsohn hatte ich mich sehr wohl gefühlt. Man gab sich dort große Mühe, mir diesen Abend nett zu machen, weil man ja wußte, daß ich an einem solchen Abend das besonders vermißte, was mir verlorengegangen war. In den Osterferien bin ich wieder ins Riesengebirge gefahren und habe im Landhaus Gertrud gewohnt. Dort war ich um diese Zeit wohl der einzige Gast, und ich habe mit der Familie Breiter in der Küche gegessen. Am Sonntage kam dann zu dem Braten eine riesige Schüssel mit Klößen herein; dazu zogen sich alle Männer den Rock aus und nun begann ein gewaltiges Wettessen, wobei ich aber zu meiner Ehre sagen möchte, daß ich nicht schlecht abgeschnitten habe. Dieses Landhaus Gertrud war eine eigenartige Mischung zwischen einer Bauernwirtschaft und einem Logierhaus; aber alle arbeiteten sehr fleißig. Die Tochter, der Stolz der Familie, war Postbeamtin. Die Frau besorgte die Wirtschaft, und die Söhne gingen, wenn Gelegenheit war, als Holzfäller in den Wald. Der Mann arbeitete oft an den Rodelbahnen. Ich habe mich mit ihnen sehr gut verstanden, an ihrem Freud und Leid teilgenommen. In so einem Bauernhaushalt war es natürlich ein viel schlimmeres Ereignis, wenn eine Kuh schwer erkrankte, als wenn das bei einem Menschen der Fall war. Einen Tierarzt gab es in Brückenberg nicht; es kam dann ein Mann, der etwas Tierheilkunde verstand. Als wieder einmal eine Kuh erkrankt war und ein Rezept geschrieben war, rannte ich nach der Apotheke in Ober-Krummhübel und brachte die Medizin noch rechtzeitig den Berg hinauf. Damals machte mir das Steigen nichts aus. Ich bin in meinen geliebten Bergen viel herumgestrolcht, vielleicht manchmal auch etwas leichtsinnig gewesen. Gerade zu Ostern, wenn nicht mehr so viel Schnee war, herrschte eine furchtbare Glätte. Einmal sauste ich mit dem Rodelschlitten von der Heinrichbaude nach der Schlingelbaude hinunter. Unterwegs verlor ich die Herrschaft über den Schlitten und konnte nicht mehr bremsen. Ein Hörnerschlitten, der bergauf fuhr und mit Pferden bespannt war, kam mir entgegen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich von dem Schlitten heruntergleiten und diesen sausen zu lassen. Glücklicherweise hat er auch den Pferden keinen Schaden verursacht. Es ging alles gut ab. Auf diesen einsamen Wanderungen traf man meistens nur den alten Briefträger, der Tag für Tag die Post nach den Bergbauden hinauftrug und mehrfach in der Woche auch im Winter auf die Schneekoppe kletterte. Es war ein Alter aus Rübezahls Reich. Oft lag dicker Nebel oben auf dem Kamm, aber dann fühlte man sich erst recht über den Menschen unten im Tal erhaben.
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VI. Kapitel
Ostern 1923 wurde ich als protokollierender Sekretär der LessingLoge eingeführt. Das war noch eine zusätzliche Pflicht zu den anderen Aufgaben, die ich hatte. Immerhin wurde mir dort die Arbeit erleichtert durch die ausgezeichnete langjährige Sekretärin der Loge, Fräulein Freund, die glänzend eingearbeitet war. [...] Die Verhandlungen über den Druck meines Hohenstaufenbuches, das ich im wesentlichen abgeschlossen hatte, gingen weiter. Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, es im Verlage von Kurt Schröder herauszubringen, wo auch mein Normannenbuch erschienen war. Dann aber zerschlugen sich diese Verhandlungen, und es bahnten sich erneut Beziehungen zu dem Verlag M. & H. Marcus an, wo mein erstes wissenschaftliches Buch herausgekommen war. Von da an habe ich in langjährigen Beziehungen zu diesem Verlage gestanden. Damals lebte noch der Seniorinhaber Max Marcus, dem mein Buch sehr gut gefallen hat und der alles tat, damit es gedruckt werden konnte. Zunehmend aber lag die eigentliche Verlagsarbeit in den Händen seines Sohnes Theodor Marcus, der ein fast genial zu nennender Verlagsbuchhändler war. Daß er wie alle Verleger über die schlechten Zeiten jammerte, will ja durchaus nichts heißen. Immer noch liefen auch die Verhandlungen wegen meiner eventuellen Habilitation. Mein Manuskript war in die Hände von Professor Ziekursch gekommen, der sich für die Habilitation an sich günstig aussprach, aber vor allem das Argument brachte, daß für Geschichte schon eine sehr große Anzahl von Privatdozenten vorhanden wäre und man also die Bedürfnisfrage nicht bejahen könne. Er riet mir ab, das Hohenstaufenbuch als Arbeit einzureichen, weil es nur eine Zusammenfassung meiner Forschungen biete, sondern lieber eine neue Arbeit zu schreiben, die eine reine Forschungsarbeit darstelle. Er meinte, daß ich es ruhig darauf ankommen lassen solle, ob man mich zuließe oder nicht. Aber gerade das habe ich eben nicht gewollt. So habe ich dann schließlich den Plan nicht mehr weiter verfolgt, um mich nicht einer Zurückweisung auszusetzen. Die Unterredungen mit Ziekursch waren aber auch sonst nicht ohne Wert. Er sagte mir (ich habe mir damals gleich Aufzeichnungen gemacht), daß er als Demokrat unter seinen Kollegen geradezu verfemt wäre 35 . Dann brachte er das Thema auf jüdische Fragen und meinte, daß das deutsche Judentum gut daran täte, dafür einzutreten, daß die Grenzen gegen das Ostjudentum geschlossen würden. Ich habe ihm damals aus Gründen 3 5 Vgl. dazu K . - G . Faber: Johannes Ziekursch; in: Deutsche Historiker. Hg. v. H . - U . Wehler. Göttingen 1972, S. 343-357.
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jüdischer Solidarität opponiert. Heute, nachdem wir eben doch fast zwanzig Jahre älter geworden sind, sehe ich die Zusammenhänge anders. Immerhin war es beachtlich, wenn ein Mann von fortschrittlicher Gesinnung in der hemmungslosen Einwanderung der Ostjuden eine Gefahr für das deutsche Judentums sah. Mancherlei interessante Menschen habe ich damals kennengelernt. So begegnete ich einmal im Hause meines Vetters Julius Lewy, der die Hof- und Feldapotheke am Neumarkt besaß (die übrigens ihr Privileg von Friedrich dem Großen herleitete), dem Dichter Arnold Ulitz. Ulitz war im Hauptberuf Studienrat und damals durch revolutionäre Romane sehr erfolgreich, die sich besonders mit den Problemen Sowjetrußlands beschäftigten36. Ulitz gehört zu den Wandlungsreichen in der deutschen Literatur der Gegenwart. Nicht nur, daß er dem Alkohol sehr zugesprochen hat und ein Spezialist für die Schilderung Breslauer Kaschemmen wurde. In den letzten Jahren hat er seinen Standpunkt gründlich überholt. So hat er zum Beispiel einen oberschlesischen Roman geschrieben, in dem er die Juden nur ungünstig beleuchtet und sie nur als Wucherer und Spekulanten darstellt37. Sicher hat es auch solche gegeben, aber es gehört zu dem Wesen des Schrifttums unserer Tage, daß man nur die schwarzen Seiten aufzeigt. Und dabei ist Ulitz in jüdischen Familien gern verkehrt und hat die Juden auch von einer anderen Seite kennengelernt. Aber was tut der Mensch nicht alles, um Geld zu verdienen. Einmal sprach ich für den Arbeiterbildungsausschuß in Görlitz über Lassalle, ein Thema, das ich im Anschluß an mein Buch besonders bevorzugte. Dort hielt ich mich in dem Hause von Paul Gatter auf. Paul Gatter war eine eigenartige Persönlichkeit. Ich kannte ihn seit Jahrzehnten, denn er war Schüler des Johannesgymnasiums gewesen. Nun war er Studienrat in Görlitz. Er war ein ausgesprochener Philosemit und besonders an der jüdischen Religion interessiert. Er besuchte fast regelmäßig jüdische G'ttesdienste, so daß er fast schon Ehrenminjanmann geworden war. Er war in erster Ehe mit der Tochter des schlesischen Dichters Paul Barsch verheiratet, des Verfassers „Von einem der auszog"38. Es ist eines der schönsten schlesischen Bücher, das ich kenne. Dessen Tochter Julia war ein sehr feinsinniger Mensch. Ich denke gern an diese Stunden in Görlitz zurück. Frau Julia ist übrigens früh gestorben; soviel ich weiß, hat Gatter Zum Beispiel sein erster Roman „Ararat" von 1924. Die Bemerkung bezieht sich offenbar auf den Roman „Der große Janja" von 1939. 3 8 P. Barsch: Von Einem, der auszog. Ein Seelen- und Wanderjahr auf der Landstraße. 2 Bde. Berlin 1905. 36 37
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VI. Kapitel
in zweiter Ehe eine Jüdin geheiratet. Was aus ihm heute geworden ist, weiß ich nicht. Man könnte vielleicht den Eindruck gewinnen, daß von meiner Tätigkeit in der Schule wenig zu berichten ist; aber es liegt im Wesen des Schullebens, daß das seinen Gang geht. Ich habe aber auch in der Schule mächtig gearbeitet. Wenn ich vor der Klasse stand, besonders im Geschichtsunterricht, dann riß mich in der Regel der Stoff fort, und ich vergaß meine Umwelt und alles, was mich sonst bedrücken konnte. Oft war ich dann nach diesen Stunden wie ausgepumpt. Ich habe das nicht bedauert, denn ich weiß, daß ich in die Herzen vieler Begeisterungsfähigkeit gelegt habe. Damals haben wir am Johannesgymnasium in der Oberstufe die sogenannte Gabelung eingeführt, die der Direktor Gabriel ausgearbeitet hatte. Wir wollten den Schülern der Oberstufe die Möglichkeit geben, wahlweise das eine oder andere Fach zu belegen, um eine stärkere Entfaltung ihrer Individualität zu ermöglichen. Ich habe diesen Plan sehr begrüßt und mich an den Vorarbeiten lebhaft beteiligt. In der entscheidenden Konferenz, an der von seiten der Behörde der Oberschulrat Miller teilnahm, habe ich auch das Referat über Bürgerkunde gehalten. Gerade diesen Unterricht habe ich dann später, solange ich überhaupt am Johannesgymnasium war, mit besonderer Liebe erteilt und auch die Methodik dieses Faches mit aufgebaut. An der zweiten Auflage des Lehrbuchs der Staatsbürgerkunde, das im Verlag von B. G. Teubner herausgekommen ist, habe ich dann auch einen entscheidenden Anteil genommen, und dieser meiner Mitarbeit ist auch in der Vorrede gedacht worden 39 . Viel Freude machten mir die regelmäßigen Schulausflüge, die man damals, um in der schweren Inflationszeit den Eltern keine unnötigen Ausgaben zu machen, vor allem in die Umgegend Breslaus veranstaltete. Ich bin mit den Jungens gern nach dem Süden von Breslau gewandert, und die ganzen Dörfer, die sich dort aufreihen, wie Wessig, Lohe, Oltaschin, haben wir unsicher gemacht. Einmal kam auch mein Sohn Wölfl mit, der schon frühzeitig ein guter Läufer wurde. Auf diesen Wanderungen traten sich Lehrer und Schüler doch nahe. Pfingsten 1923 war ich einige Tage in Kudowa, habe aber nicht bei meinem Bruder Franz, sondern in dem Logierhaus Elisenhof gewohnt. Damals war bei Franz ein ziemlich geräuschvoller Betrieb, und ich brauchte ein wenig Konzentration. In dieser Inflationszeit reisten ja auch sehr unfreundliche Leute. Einer der 39
H. Kania. Staatsbürgerkunde auf Grund vergleichender geschichtlicher Übersichten. Die 2. Auflage, Leipzig 1921, enthält keinen ausdrücklichen Hinweis auf eine Mitarbeit Cohns. Ein solcher findet sich aber in der 6. Auflage, vgl. unten S. 623, Anm. 19.
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unerfreulichsten, der damals auch in Kudowa auftauchte, war mein Vetter Fritz Cohn, der sich später Colm nannte, mit seiner damaligen Braut, der Schauspielerin Ria Frend, eigentlich Freund, typische Inflationserscheinungen. Besonders kränkte es mich, als auch in Anwesenheit meines Bruders Rudolf ein Gespräch über jüdische Namensänderungen geführt wurde. Dabei traten Fritz und mein Bruder Rudolf, der in ihm immer ein besonderes Vorbild sah, für die Abänderung des Namens Cohn ein. Beide haben ja diese ihre Ansicht auch später in die Tat umgesetzt und den alten ehrwürdigen Priesternamen aufgegeben. Bei meiner Sensibilität hat mich so etwas immer außerordentlich gekränkt, auch wenn ich mir später sagte, daß es vielleicht kein Schaden ist, wenn derartige Menschen dem Judentum den Rücken kehren. Was meinen Bruder Rudolf anbelangt, so sieht es ja im Augenblick so aus, als ob er trotz der Namensänderung wenigstens bei der Erziehung seiner Kinder einen gewissen jüdischen Geist erhalten wollte. Ich habe damals auch in der Allgemeinen Zeitung des Judentums einen Artikel über Namensänderungen geschrieben40. [...] Für die Sommerferien hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt, der mich mit Menschen zusammenbringen sollte. Ich wollte mit meinem Sohn Wölfl, der damals acht Jahre alt war, in das freideutsche Jugendlager Klappholttal fahren, das auf der Insel Sylt lag. Ich versprach mir von diesem Aufenthalt sehr viel, und meine Erwartungen sind auch, wie noch zu zeigen sein wird, in keiner Weise enttäuscht worden. Auf dem Hinweg aber wollte ich mich aus persönlichen Gründen noch eine Zeitlang in Berlin aufhalten. Mein Vetter Bruno Schwarz hatte mich mit dem Jungen aufs liebenswürdigste eingeladen. [...] Ich war damals viel mit meiner späteren Frau zusammen, die im Berliner Keren hajessod-Büro tätig war und es besonders schwer hatte, da sie zu Hause auch noch das Dienstmädchen vertreten mußte. Einmal war ich auch mit Wölfl bei ihrem Vater eingeladen, sie wohnten auf der Köpenicker Straße in der sehr bescheidenen Gegend des Berliner Südostens, die ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal kennenlernte. Die früheren Reisen nach Berlin hatten mich meist in andere Stadtgegenden geführt. Meine Schwiegermutter habe ich damals nicht kennengelernt, sondern erst einige Monate später, wenige Tage vor unserer Hochzeit. Es ist damals in Berlin zwischen meiner Frau und mir noch nicht zu einer endgültigen Aussprache und Bindung gekommen, doch hatten
40
Vgl. SV Nr. 111.
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VI. Kapitel
wir wohl beide das Gefühl, daß wir mit den noch bestehenden Schwierigkeiten fertig werden würden. Diese Schwierigkeiten waren übrigens durchaus nur innerer Art, und sie lagen vor allem in mir selbst, der ich nach all dem, was ich erlitten hatte, besorgt war, ob ich das Recht hatte, wieder einen Menschen an mein Schicksal zu binden. Es war ja auch für ein sehr junges Mädchen keine leichte Aufgabe, die Verpflichtung zu übernehmen, zwei so junge Kinder zu erziehen. Ernst war knapp vier Jahre alt. Vielleicht habe ich damals unrecht gehandelt, daß ich meine Frau so lange auf die Entscheidung warten ließ; aber sie hat mich wohl verstanden, weil sie fühlte, wie schwer es für mich war, wieder neu anzufangen. Ich denke jetzt oft mit einem großen Glücksgefühl an die Spaziergänge zurück, die wir damals in der Gegend des Thielplatzes gemacht haben und wo wir beide fühlten, daß wir zusammengehörten. [...] _ Einen sehr schönen Ausflug hatten wir nach Potsdam gemacht, das mich wie stets aufs tiefste beeindruckte. [...] In jenen Jahren war es üblich, daß man einen Gegensatz zwischen dem Geist von Potsdam und dem Geist von Weimar konstruierte. In Weimar schien alles Geistige des deutschen Menschen verankert zu sein, und aus Potsdam schien nur das Soldatische herzukommen. Sicherlich ist dieser Gegensatz der beiden Welten nicht wegzureden; aber mir scheint es, als ob sie sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Ich will hier bei dem Subjektiven bleiben und betonen, daß ich stets das gleiche Verständnis für Potsdam und für Weimar gehabt habe. Was mir in Potsdam so gut gefiel, war jener Geist unbedingter Pflichterfüllung, der aus der Atmosphäre Friedrichs des Großen kam. Das Kriegserlebnis, in dem wir besonders diesen Geist kennengelernt hatten, lag ja noch nicht so weit zurück. Ich weiß wohl, daß die Meinungen über die Gestalt Friedrichs des Großen weit auseinandergehen, daß es sogar Gelehrte gibt, die ihm das Prädikat „der Große" nicht zuerkennen wollen. Aber wenn ich so durch das Schloß von Sanssouci ging, hatte ich das sicher richtige Gefühl, daß hier ein Mensch gelebt und gearbeitet hat, für den es nichts anderes gab, als den Staat, dem er sich verschworen hatte. Vor allem hatte man den Eindruck, daß dieser Staat ein Staat der Sauberkeit und Korrektheit war. Später habe ich ja viel auf dem Gebiete friderizianischer Judenpolitik gearbeitet und auch da aus den Akten und Urkunden gesehen, daß die Hand Friedrichs des Großen zwar oft hart auf den Juden wie auch auf allen anderen Einwohnern lag, aber daß auf der anderen Seite eine unbedingte Gerechtigkeit herrschte und das Gesetz für alle das gleiche war.
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In Potsdam war ich auch in der Garnisonskirche, wo der Alte Fritz begraben liegt, gegen seinen letzten Willen, denn er hatte ja verfügt, daß er im Parke von Sanssouci bei seinen Hunden liegen wollte. Die Hunde scheinen wohl die einzigen Geschöpfe gewesen zu sein, die ihm stets die Treue gewahrt haben. Wenn man Potsdam verließ, so brachte man vor allem das aufrichtende Gefühl mit, daß Pflichttreue in jeder Lage des Lebens das Wesentlichste und Höchste sei. Damals 1923 brauchte man diese Einstellung besonders, da ringsum alle Werte wankten und krassester Materialismus und Opportunismus an die Stelle schlichter und ehrlicher Pflichterfüllung getreten war. Ich fuhr also nun mit dem Jungen von Berlin nach Hamburg und dann auf dem Landwege nach Westerland. Dabei lernte ich eine Gegend Deutschlands wenigstens vom Abteilfenster aus kennen, in die ich bisher nie gekommen war: die Provinz Schleswig-Holstein. [...] Wir mußten auf dieser Fahrt ein Stückchen durch dänisches Gebiet. [...] Es war das einzige Mal, daß ich in meinem Leben bisher dänischen Boden betreten habe, und ich konnte gewiß nicht ahnen, daß eines meiner damals noch ungeborenen Kinder über ein Jahr in Nordjütland ein Stück Heimat finden würde 41 . [...] Für Menschen, die mit bürgerlichen Ansprüchen reisen, wären diese Wochen in Klappholttal [auf Sylt] nichts gewesen; aber es lohnt sich, davon etwas mehr zu erzählen. An der Spitze dieses Lagers, das im Weltkriege ein Militärlager gewesen war, stand der Arzt Dr. Knud Ahlborn, ein Idealist von reinstem Wasser. Es schwebte ihm der Gedanke vor, hier in seinem Lager Menschen aus den verschiedensten Kreisen um sich zu scharen, um mit ihnen aus dem Idealismus heraus allmählich eine neue Weltordnung vorzubereiten. Es war alles und jedes hier auf dieses hohe Ziel abgestimmt. Man nahm auch nicht jeden auf, da es sich ja nicht um eine Einrichtung handelte, die dem Erwerb im üblichen Sinne diente. Es ist wohl auch mancher, der sich nicht wohl fühlte, nach kurzer Zeit wieder seines Weges gezogen. Welcher Gegensatz zwischen diesem neuerlichen Aufenthalt auf Sylt und dem damaligen Aufenthalt in Westerland, obwohl ich mich ja auch in Westerland so weit wie möglich von dem eigentlichen Modeleben distanziert hatte. Es war manchmal grotesk, wenn an den beiden Tagen, an denen die Sylter Nordbahn fuhr, die modisch aufgeputzten Menschen an Klappholttal vorbeifuhren und
41 Ruth Cohn gelangte mit Hilfe der Jugendalijah Ende 1939 nach Dänemark und von dort 1940 nach Palästina.
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dann geradezu Stielaugen bekamen, wenn sie unser einfaches Leben dort sahen. Immer wenn sich eine größere Anzahl von Neuankömmlingen zusammengefunden hatte, dann nahm Dr. Ahlborn diese zusammen. Man lagerte sich in einer sandigen Düne, und er hielt nun einen kleinen gut auf die Landschaft abgestimmten Vortrag über den Geist dieses Lagers, aber auch über die äußeren Bedingungen, denen man sich anzupassen hatte. So machte er zum Beispiel darauf aufmerksam, daß man unter gar keinen Umständen barfuß gehen sollte, weil der Boden infektiös war und die Möglichkeit gefährlicher Fußverletzungen bestand. Die Persönlichkeit des Leiters hat es tatsächlich fertiggebracht, aus diesen Menschen, die sich jeweils für ein paar Wochen zusammenfanden, eine Einheit zu schaffen. Gewiß war es natürlich, daß sich bei der großen Zahl der Gäste Gruppen von Menschen bildeten, die einander näher traten, sich befreundeten und dann für diese Wochen zusammenhielten. [...] Wie hat man damals noch daran geglaubt, daß die freideutsche Jugendbewegung der Welt einen anderen Stempel aufdrücken würde! Ich selbst war ein wenig skeptisch, und ich erinnere mich, daß ich auf einem Spaziergang einmal Dr. Ahlborn meine Bedenken äußerte, aber er ließ sich in seinem Glauben nicht erschüttern. Was mag aus ihm geworden sein und all denen, mit denen man damals dort zusammen war? Wievielen Menschen ist man begegnet, deren Spuren nun wieder verweht sind, von denen man niemals mehr etwas gehört hat. [...] Oft stand ich sinnend am Strande und sah mir das alles an, was das Meer hergab. Man entzifferte die Inschrift einer Konservenbüchse und überlegte sich, welches weite Schicksal dieses Stückchen Blech hinter sich hatte, bis es das Meer wieder freigab und zu unseren Füßen spülte. Ich habe damals einen kleinen Aufsatz über dieses Strandgut geschrieben42. Alle irdischen Sorgen und allen Kummer des Alltags vergaß man, wenn man über den unendlichen Ozean blickte, der sich von der Düne überschauen ließ. Hier sah man wirklich nichts mehr als Himmel und Wasser, denn hinter der Düne war auch das Lager verschwunden. Unter den Menschen, denen ich dort begegnete, war auch ein Chaluz namens Stein. Heute ist uns der Begriff etwas Selbstverständliches geworden und mir besonders, nachdem zwei meiner Kinder den chaluzischen Weg gegangen sind. Aber damals 1923 war es gewiß nichts Alltägliches, wenn ein junger deutscher Jude sich zum palästinensischen Gedanken durchgekämpft hatte. Ich habe alle diese Jahre schon eine tiefe Sehnsucht
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Nicht ermittelt, vielleicht unveröffentlicht.
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nach Erez Israel in meinem Herzen getragen und war immer glücklich, wenn ein junger Mensch sich dazu durchkämpfte, einen Strich unter sein bisheriges Leben zu ziehen und gänzlich neu anzufangen. Dazu mußte man aber sehr jung sein und keinerlei Verpflichtungen auf sich genommen haben. Für mich, der ich damals schon fast fünfunddreißig Jahre alt war, war das nun lange zu spät. [...] Die Wochen in Klappholttal hatten meinen Gesichtskreis mächtig erweitert, mich aber auch gerade in der Angelegenheit für mein persönlichstes Leben zu dem entscheidenden Entschluß durchringen lassen, wieder zu heiraten. Die Rückreise trat ich mit meinem Jungen auf demselben Wege an wie die Hinfahrt. Wieder ging es mit dem Wattendampfer von Munkmarsch nach Hoyerschleuse. Bei der Landung herrschte ein so furchtbares Gedränge, daß ein Kind ins Wasser fiel, wobei glücklicherweise nichts passierte. Es war ein heißer Tag, aber da wir uns ja wieder auf dänischem Boden befanden, konnten wir uns nichts kaufen, und bei dem riesigen Ferienverkehr gelang es mir auch nicht, bis Hamburg irgend etwas für mich und den Jungen zu besorgen. In Hamburg [...] machten wir eine herrliche Hafenrundfahrt, die auch auf den eindrucksfähigen Jungen sehr wirkte. Für den Binnenländer hat das ja einen großen Reiz, durch diese vielen Hafenbecken zu gleiten und vom Verdeck des kleinen Dampfschiffes aus gewissermaßen die ganze Welt vorbeiziehen zu lassen. Jeder Dampfer bringt ja einen Hauch ferner Länder mit. Manchmal ankern Dampfer nebeneinander, deren Weltanschauung gewissermaßen durch Welten getrennt ist. So sah ich einen Dampfer mit der Sowjetflagge und dann einen Dampfer von der bedeutenden Reederei Hugo Stinnes. Wie viele Menschen waren damals geneigt, der Firma Stinnes eine längere Existenz zuzubilligen als der Sowjetunion, und doch ist der Name Stinnes mit der Zeit der Inflation so rasch, wie er gekommen war, wieder in das Nichts versunken. Die Sowjetunion steht noch heute als eines der gewaltigsten Gebilde des Erdkreises da. [...] Und nun ging es mit der Eisenbahn zunächst nach Berlin, wo ich eine Nacht wieder bei meinen Verwandten Schwarz verbrachte. Ich hatte mich nicht angemeldet, rief aber von der Bahn aus an und fand sogleich gastliche Aufnahme. Am nächsten Tage hatte ich noch mit meiner späteren Frau eine längere und erfreuliche Aussprache, die über unseren Lebensweg entschied. Dann fuhr ich, ziemlich beglückt und zufrieden, nach Breslau zurück, wo ich auch meinen Sohn Ernst gesund und munter antraf. Ich war eigentlich nur nach Breslau gefahren, um den Jungen nach Haus zu bringen, den anderen wiederzusehen, auch die
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Mutter zu begrüßen, mich mit anderen Sachen auszustatten und dann sofort wieder loszufahren. Ich hatte Urlaub bekommen, um noch an einem Ferienkursus in Jena teilzunehmen. Unter den vielfachen Erlebnissen, die mir das Leben erfreulicherweise vorbehalten hat, gehörte auch dies, daß ich nun für einige Zeit in Jena Student sein durfte. In dieser altberühmten Universitätsstadt erwartete mich Wilhelmine Nathe. Die Verabredung, die wir vor einem Jahre in Heidelberg getroffen hatten, hatte also glänzend geklappt. Die Kollegin hatte auch alles äußerlich auf das beste vorbereitet. Sie war noch mit einer anderen aus dem Ruhrgebiet gekommen, einer Lehrerin Fräulein Siebert. Wir hatten ein gemeinsames Wohnzimmer, die beiden Damen ein Schlafzimmer und ich auch eins. Wir wohnten bei einer richtigen Studentenwirtin auf der Jahnstraße, und schon nach wenigen Augenblicken war man dort heimisch, denn in allen diesen deutschen Universitäten wehte ja so die gleiche Luft, die ich, wie ich hoffe, eingehend genug beschrieben habe, als von meiner Studentenzeit in Heidelberg die Rede war. Es war ein schöner Sommertag, und wir legten uns nachmittags auf eine Wiese und ließen uns von der schönen Thüringer Luft einschläfern. Abends war der Begrüßungsabend des Ferienkurses. Diese Kurse in Jena waren eine schon seit vielen Jahren bestehende Einrichtung, die unter der Leitung des Professors Rein standen. Menschen aus aller Welt kamen, um sich mit Anregungen zu erfüllen, die ihnen dann ein langes Jahr die Arbeit des Berufes erleichterten und auch über manche leere Stunde hinweghalfen. In diesem Jahre war das Publikum besonders bunt, da der niedrige Stand der deutschen Mark natürlich die Ausländer anlockte. Es waren Menschen aus Dänemark, Polen, Holland, Schweiz, sogar von den Sundainseln da; aber alle diese wurden auch dort sehr schnell zu einer Einheit. Diese Ausländer haben sich übrigens damals gegen die reichsdeutschen Teilnehmer besonders hervorragend benommen. Für die Ausländer wurde durch das immer rasendere Abgleiten der Mark das Leben von Tag zu Tag billiger, während viele der Teilnehmer dadurch in große Schwierigkeiten kamen, daß sie sich für den Kursus mit einer ausreichenden Summe versehen hatten, daß aber durch die tägliche Geldentwertung und die wahnsinnig emporkletternden Preise das Geld von gestern am nächsten Tage schon nichts mehr wert war. So schufen die Ausländer einen Fonds, um in N o t geratenen Kommilitonen zu helfen; aus ihm wurde dann in diskreter Weise Hilfe gewährt. Viele dieser Ausländer sagten, daß sie nicht unfreiwillig Nutznießer des deutschen Elends werden wollten. Nicht immer haben Menschen in solcher Lage ähnlich anständig gehandelt. Es
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war überhaupt damals besonders schwierig bei dem, was sich täglich draußen vollzog, die notwendige geistige Sammlung aufzubringen. Man hatte ja das Gefühl, wenn nicht irgendein Wunder geschah, daß dann unter allen Umständen eine Revolution ausbrechen müßte, die den gequälten Menschen helfen konnte. Auch ich kam damals vorübergehend in geldliche Schwierigkeiten, wenn das Nachsenden des Geldes nicht richtig funktionierte. Fräulein Nathe hat dann immer die Fäden unserer gemeinsamen Wirtschaftsführung mit Geschick in die Hand genommen, wie sie überhaupt in jeder Beziehung ein ganzer Kerl war. Wenn man früh in das Kolleg ging, dann stand manchmal die schwierige Frage, ob man sich eine Zeitung oder eine trockene Semmel kaufen sollte, wenn zu beidem das Geld nicht reichte. Wir aßen mittags in der Volksküche, weil es dort noch einigermaßen erschwinglich war. Abends ging man öfters hinauf nach dem Fuchsturm, einem der beliebtesten Spaziergänge der Jenenser Studenten. D o r t gab es als besondere Delikatesse (neben dem unvergleichlichen Ausblick) Röstwürstchen, aber sie kosteten hundertzehntausend Mark, und das konnten wir uns nicht leisten. Doch mag es nun genug sein von diesen materiellen Dingen, die aber doch gesagt werden mußten, um ein Bild von dem damaligen Leben zu geben, das sich ja auch von ihnen nicht freimachen konnte. Saß man aber in der Vorlesung oder kam man mit den Kollegen gelöst zusammen, so trat das natürlich möglichst in den Hintergrund. Dem eigentlichen Kursus ging ein Begrüßungsabend voran, auf dem man sich gewissermaßen ein wenig beroch und Umschau hielt, wer eingetroffen war. Das war ja auch auf den Historikertagen so üblich, an denen ich in späteren Jahren teilnahm. An dem Begrüßungsabend in Jena sangen wir das schöne Lied: „Auf den Bergen die Burgen, und im Tale die Saale", wie ja überhaupt Jena besonders reich ist an schönen deutschen Liedern. Es ist nicht möglich, alle Vorlesungen zu skizzieren, die man damals hörte, und es dürfte dies ja auch nicht im einzelnen von Interesse sein, und so will ich nur auf einzelne Höhepunkte hinweisen, die Jena brachte. Das ganz große Erlebnis waren die Vorlesungen des berühmten Bodenreformers Damaschke, die wohl von allen Kursusteilnehmern gehört wurden. Damaschke ist einer der reinsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin. Er ist das, was man sich im besten Sinne unter deutschem Idealismus vorstellt. Sein ganzes Leben hat er nur einer Idee gewidmet, der Bekämpfung der Bodenspekulation und der
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Herbeiführung eines Bodenrechtes, das diese Spekulation für alle Zeiten ausschloß. Wo er nur immer auf der Erde Ansätze hierzu sah, verfolgte er diese auf das sorgsamste. Er hat in seinem Kolleg ganz ausführlich auch die Bodenpolitik des Keren kajemeth lejisrael, des jüdischen Nationalfonds in Palästina, dargestellt. E r sagte, daß diese Bodenpolitik seinem Ideal entspräche; aber er betonte auch mit großem Bedauern, daß die Bodenspekulation, wie sie sich wieder in Tel Aviv breitmachte, bereits ein Abweichen von diesem Ideal darstellt. Seine ganze Darstellung basierte auf dem Wort unserer Tbora: „Mein ist das Land." 4 3 Damaschke war der Meinung, wenn die Welt nur seinen Ideen folgte, daß dann alles Leid aufhören würde. Vielleicht rechnete er in seinem tiefsten Innern damit, daß die Menschen gut wären und daß sich die Kapitalisten vielleicht freiwillig eines Teiles ihres Besitzes entschlagen würden. Aber darin scheint er sich eben getäuscht zu haben. Nur mit härtestem staatlichem Zwange kann eine gesunde Bodenpolitik durchgeführt werden, kann die Masse wieder den Zugang zu ihrem Lande finden. Einmal sagte er besonders eindrucksvoll, daß der deutsche Mensch nur an zwei Stellen Zugang zum Boden habe: der Blumentopf auf seinem Fensterbrett und für fünfundzwanzig Jahre das Stück Erde, in das er gebettet würde. Ich lernte übrigens auch Damaschke persönlich kennen, als ich ihm mein kleines Lassallebüchlein überreichte. Es war nur eine flüchtige Bekanntschaft am Schluß des Kollegs, wie sie mindestens auf den Lehrenden keinen besonderen Eindruck gemacht haben kann. Mit der Persönlichkeit Damaschkes ist keine andere zu vergleichen, die ich damals kennenlernte. Immerhin aber haben auch die Vorlesungen des Professors Müller über Genossenschaftswesen, an der nur wenige teilnahmen, auf mich einen großen Eindruck gemacht. Mit ihm trat ich auch in persönlichere Berührung, wie das ja immer ist, wenn eine Vorlesung nicht so überlaufen wurde. Müller glaubte nun wieder an die Lösung aller Schwierigkeiten, wenn die Genossenschaftsidee sich durchsetzte, die den Gewinn des Einzelhandels ausschloß. Nun ist gerade in Deutschland die Entwicklung seit 1933 einen anderen Weg gegangen und hat von der Genossenschaftsidee nichts mehr wissen wollen. O b dieser Idee einmal später noch eine Zukunft vorbehalten ist, vermag man heute nicht zu sagen. Vielleicht ist der menschliche Egoismus so groß, daß der Verdienst des Einzelnen nicht ausgeschaltet werden
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Leviticus 2 5 , 2 3 .
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kann. Nach dem Vielen, was man im Laufe der Zeit an Ideen gesehen und erlebt hat, wird man allmählich an den immer wechselnden Idealen irre; es wird aber immer das Recht der Jugend sein, sich von neuen Idealen einfangen zu lassen und daran zu glauben, daß diese die einzig richtigen sind. Von Damaschke möchte ich noch eine Äußerung nachtragen. Als die Erregung damals eine besonders große war und er wohl fühlte, daß diese Erregung sich seinem Hörerkreise mitteilte, da sagte er einmal: „Behalten Sie nur die Ruhe, meine Damen und Herren, mein Freund Stresemann wird in kürzester Zeit mit allen Schwierigkeiten fertig werden." Nun, es ist Stresemann nicht vergönnt gewesen, das Vertrauen, das Damaschke in ihn setzte, zu rechtfertigen. Bekanntlich hat dann ein anderer erst einen Lösungsversuch gemacht, von dem gewiß auch heute noch nicht zu sagen ist, ob er ein endgültiger ist. Ganz in eine andere Welt führten die Vorlesungen eines Kollegen Lehmann aus Düsseldorf, der über literarische Fragen sprach, und zwar beschäftigte er sich besonders mit der jüngsten Dichtung, wobei er auch die Arbeiterdichtung in den nächsten Kreis seiner Betrachtungen zog. Er war ein sehr fortschrittlich gesinnter Mann, mit dem ich auch persönlich sehr gut stand, so aufgeschlossen, wie man ihn selten unter den Lehrern des Ostens fand. Es fiel mir überhaupt bei diesem Ferienkurs und auch bei dem vorigen auf, wieviel aufgeschlossener die meisten Kollegen aus dem Süden oder Westen waren, gemessen an den Kollegen aus dem Osten. Doch kann man übrigens bei so einem Urteil auch sehr leicht fehlgreifen, weil ja schließlich immer nur einige wenige kommen, die eben für Fragen der Fortbildung interessiert sind. Mit dem Kreis um Lehmann war ich auch außerhalb der Vorlesungen zusammen. Einmal veranstalteten wir eine hübsche Kneipe in der Ölmühle, die ich präsidierte und bei der ich sehr in Stimmung war, obgleich ich bei der radikalen Abstinenz, der ich mich damals verschworen hatte, lediglich Himbeerwasser trank. Aber ich habe immer gefunden, daß der Grad der Stimmung nicht davon abhängt, welche Quantitäten alkoholischer Getränke man sich einzuverleiben in der Lage ist. Auf solchen Zusammenkünften wurde besonders gern das Lied gesungen „Hier Saaleck, dort die Rudelsburg". Es ist übrigens erstaunlich, wie Menschen, die doch aus den verschiedensten Kreisen herkamen und sicherlich die verschiedensten Meinungen hegten, bei diesen Zusammenkünften harmonierten und sich bemühten, alles Trennende beiseite zu stellen. Eigentlich ist das bei Kulturmenschen die einzig richtige Haltung. Man sollte sich im Leben bemühen, den anderen nicht immer seine gegensätzliche Meinung merken zu lassen. [...]
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N o c h in Jena erreichten mich die ersten Exemplare meiner kleinen Biographie über Karl Marx 44 , von der ich ja schon gesprochen habe. Wie glücklich ist man immer wieder, wenn man ein geistiges Kind nun sauber gebunden vor sich liegen sieht. In Jena wurde mir aber auch noch ein anderes sehr schönes Geschenk zuteil. Meine zukünftige Frau besuchte mich für kurze Zeit. Wir benutzten den 11. August, den Verfassungstag der deutschen Republik, an dem keine Vorlesungen gehalten werden durften, zu einem Ausflug nach Weimar. Es war mir eine besondere Freude, ihr dieses Weimar, das ich von früheren Besuchen so gut kannte, zeigen zu dürfen. Was gibt es für zwei Menschen, die sich gut sind, Schöneres, als an die Stellen gehen zu dürfen, w o einstmals Goethe gelebt und geliebt hatte. Ich glaube, daß ich für meine Frau ein nicht ganz schlechter Führer gewesen bin, und wenn wir auch seitdem nicht mehr nach Weimar haben fahren können, so bin ich doch überzeugt davon, daß die Erinnerung an diese Reise für alle Zeiten vorhalten wird. Es war damals ein besonders großer Gegensatz zwischen dem friedlichen eingesponnenen Leben in Weimar und dem furchtbar erregenden Geschehen da draußen, wo jeder Tag den überhitzten Kessel zum Platzen bringen konnte. Aber aus solchen Gegensätzen besteht eben doch das menschliche Leben. Vielleicht machen gerade auch diese Gegensätze häufig den eigenartigen Reiz dieses Lebens aus. In jenen Tagen sah ich zum Beispiel in Jena eine große kommunistische Demonstration, wie ja überhaupt das deutsche politische Leben sich in den größten Extremen bewegte. Dabei bot Jena an und für sich in den vorbildlich geleiteten Werken der Zeiss-Stiftung ein Beispiel, wie man wirtschaftliche Fragen lösen konnte, ohne daß das Blut der Menschen im Bürgerkriege floß. Dabei ist natürlich zu sagen, daß die besondere Lage der Zeiss-Werke mit der monopolartigen Stellung ihrer Produkte nicht ohne weiteres mit jedem anderen Werke verglichen werden kann. In den Stunden der Anwesenheit meiner Frau war ich mit ihr auch auf dem Fuchsturm. Ich zeigte ihr das Universitätsgebäude, das ja eines der schönsten ist, das wir in Deutschland besitzen. [...] Die Rückreise machte ich wieder über Berlin, wo ich mich einige Stunden aufhalten konnte und meiner späteren Frau die „Millionen" wiedergab, die sie mir in Jena geborgt hatte. Das Billigste damals war übrigens das Reisen mit der Eisenbahn. Und nun ging es nach Breslau, wo ich jetzt die Vorbereitungen für die neue Gestaltung meines Lebens
44
Vgl. SV Nr. 149.
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zu treffen hatte. Wir wollten in den Herbstferien heiraten. Mein Sohn Wolfgang war zunächst sehr eifersüchtig, denn er hatte sich so daran gewöhnt, mich gänzlich für sich zu haben. Er war geradezu in den letzten Jahren ein kleiner Tyrann geworden, und er konnte sich zunächst nicht mit dem Gedanken vertraut machen, nun wieder in den Hintergrund treten zu müssen. Als dann aber meine zukünftige Frau für ein paar Tage zu Besuch kam, wobei sie bei meiner Mutter wohnte, hat sie es gleich gut verstanden, sich mit den Jungens anzufreunden. Besonders Ernst war von einer großen Zärtlichkeit, und manches wäre natürlich auch noch glatter gegangen, wenn nicht manche Einflüsse von anderer Seite gewesen wären, die nicht immer dazu beitrugen, das Leben zu erleichtern. Meine Frau und ich haben dann mancherlei Opfer auf uns genommen, um die Jungens nicht in einen schwierigen Konflikt zu bringen. Vielleicht häufig mehr, als es unbedingt notwendig war. Aber ich mache mir darüber auch keine Vorwürfe, und andererseits haben wir es doch erreicht, daß die Jungens gerade und saubere Menschen geworden sind, während ich in meiner Lehrertätigkeit häufig beobachtet hatte, daß Kinder aus geschiedenen Ehen manchen seelischen Defekt für das Leben mitbekamen. U m das zu vermeiden, muß man unter Umständen auch Opfer bringen, die tief in das Behagen einschneiden. Mag es mit diesen Andeutungen, die streng genommen eigentlich erst in eine spätere Zeit passen, sein Bewenden haben. Als Trudi damals in Breslau war, waren wir auch bei Rabbiner Simonsohn eingeladen, der mir immer ein guter Freund gewesen ist, und es nun auch sehr begrüßte, daß ich mir ein neues Glück aufbaute. In den wenigen Tagen, in denen sie in Breslau war, empfand ich auch wieder, was es bedeutete, eine Frau zu haben. Sie kaufte mir für den Haushalt neue Vorräte ein, während ich selbst meist aus Unkenntnis der jeweiligen Situation den richtigen Augenblick verpaßte. [...] An den Tagen, die unserer Hochzeit unmittelbar vorausgingen, [...] machten wir auch einen längeren Besuch bei dem Rabbiner Warschauer [in Berlin], der uns trauen sollte. Während ein solcher Besuch sonst nur kurze Augenblicke zu dauern pflegte, waren wir zwei Stunden bei diesem Rabbiner. Nicht nur, daß er mich aus meiner publizistischen Tätigkeit her kannte; er war auch mit meinen Brüdern teilweise in die Schule gegangen und hatte viele Beziehungen nach Breslau. Ein anderer Besuch führte uns damals zu dem Professor Heinrich Löwe. Dieser gehörte zu dem Stamm der ältesten Zionisten, der in seinem Berliner Heim mit seiner Familie immer hebräisch sprach. Heute ist Löwe Direktor der Stadtbibliothek Tel Aviv, hat es also erreicht, daß er seinem Ideal
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leben darf. Als Staatsbeamter hatte Löwe übrigens keinen so sehr großen Ruf. Mir sagte einmal Jahre später der Generaldirektor der Berliner Bibliothek, den ich auf einem Historikertage kennenlernte, daß Löwe der faulste Beamte gewesen sei, den er je kennengelernt hat. Es ist sicher nicht richtig, wenn man wegen eines Ideals seine eigentliche Amtspflicht vernachlässigt. Unter den Besuchen, die ich mit meiner Frau in ihrer Familie machte, steht mir der Besuch bei ihrer Großmutter Auguste Katz (geborene Kalischer) besonders in Erinnerung. Sie war das, was man eine ehrwürdige Matronengestalt nennt und ein wirklich vornehmer Mensch. Sie war die Nichte des berühmten Rabbiners Hirsch Zwi Kalischer aus Thorn 4 5 , der lange vor Herzl den Palästinagedanken gepflegt und gefördert hat. Es gibt heute in Erez Israel keine Stadt, in der sich nicht eine Kalischerstraße befindet. Diese Großmutter war auch noch persönlich dem Judentum verbunden und besuchte regelmäßig die Synagoge. Aber an ihren Kindern wurde so recht deutlich, welch ungeheuren jüdischen Auflösungsprozeß dieser große Wasserkopf Berlin verursachte. Ihr einziger Sohn ließ sich taufen, eine ihrer Töchter ging eine Mischehe ein, und eine ihrer Enkeltöchter ist heute durchaus antisemitisch eingestellt und will nichts von ihren jüdischen Verwandten wissen. Von diesem hohen jüdischen Erbgut, von dieser Verpflichtung zur Tradition, die ein solcher Name wie Hirsch Kalischer bedeutet, ist auch auf die Mutter meiner Frau nichts übergegangen, aber wir hoffen, daß dieses verschüttete Gut in unseren Kindern wieder zu neuem Leben erwacht. Der Weg unserer jüdischen Menschen ist ja oft ein eigenartiger. Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis der Weg der Umkehr vollzogen ist. Diese Großmutter, die uns später auch einmal in Breslau besucht hat und dann in hohem Alter sanft und friedlich in die andere Welt eingegangen ist, ist der einzige Mensch aus der Familie, in die ich hineinkam, dem ich innerlich nähergetreten bin, obwohl nun schon, seitdem ich diese neue Bindung einging, fast achtzehn Jahre ins Land gegangen sind. Die erste kleine Differenz gab es, als die Frage der Feier unserer Hochzeit erörtert werden mußte. Ich wollte unter allen Umständen, daß die Feier im engsten Rahmen vor sich ging, einmal aus meiner persönlichen Situation heraus, dann aber auch, weil die damalige Zeit der Geldentwertung und der furchtbaren Not der Massen es mir unangemessen erscheinen ließ, eine große Feier zu veranstalten. 4 5 Hirsch Zwi Kalischer (1795-1874), ein aus Posen stammender Talmudist, war als Vertreter des religiösen Zionismus einer der Vorläufer der Palästinabewegung.
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Obwohl mein Schwiegervater geschäftlich von der N o t der Zeit auch sehr mitgenommen war, so hätte er gern seine weitverzweigte Familie versammelt. Die einzige Konzession, die ich machen mußte, war kurz vor der Hochzeit eine derartige Zusammenkunft, bei der ich präsentiert wurde. Meine großen Brüder nannten so etwas eine „Assemblähung". Ich hatte noch aus den Tagen meiner Jugend eine furchtbare Abneigung gegen derartige Veranstaltungen. Mein Vater hatte diese Dinge geliebt. Für uns war es immer ein großes Opfer, wenn wir mit so zahlreichen Familienmitgliedern zusammenkommen mußten, die einem mehr oder weniger fremd gegenüberstanden. Ich erinnere mich auch, daß ich mich an jenem Abend vor allem mit einem Vetter meiner Frau, der Rechtsanwalt und Kunsthändler war, unterhalten habe, und mir sonst ziemlich fremd und verloren vorkam. Doch war das für mich alles nicht so wesentlich; es waren nur einige wenige Tage. Dann fuhren wir ab, und ich hoffte, daß diese ganze Welt nicht sehr in mein Leben treten würde. Großen Wert lege ich darauf, daß gerade dieser Abschnitt einmal von den Menschen und vielleicht von Enkeln und späteren Generationen nicht falsch verstanden wird. Mir liegt jedes Werturteil über Menschen, die anders sind als ich, fern. Es ist außerordentlich schwer, wenn Menschen, deren ganzes Dasein auf die Welt des Geistes abgestellt ist, mit anderen zusammenkommen und in verwandtschaftliche Beziehungen treten, bei denen alles nur auf die praktischen Fragen im Leben ankommt. Meine Frau hatte sich trotzdem auch schon frühzeitig eine sehr hübsche Bibliothek aufgebaut und war in ihrer ganzen Wesensart für alles Gute und Schöne empfänglich. Ich weiß wohl, daß es auch von der anderen Seite her gesehen, schwer ist, wenn in eine solche Familie ein geistiger Einzelgänger hineinkommt, dem all das, was einem selbst Freude bereitet, keine Freude macht. Wie leicht kommt man dann in Versuchung, ihn als hochmütig abzutun, w o er sich doch unbedingt in seine Kreise einspinnen muß, um überhaupt arbeiten und schaffen zu können, um dadurch letzten Endes auch für sich und die Seinen zu sorgen. Was die jüdische Einstellung der väterlichen Seite der Familie meiner Frau anbelangt, so war sie wohl ursprünglich eine gute und positive gewesen. Mein Schwiegervater stammte aus Kletzko (Kreis Gnesen in der Provinz Posen). Dieses Milieu war das gleiche wie das, aus dem mein Vater herkam. Wenn auch Samter wohl etwas größer gewesen ist, so waren beide Orte Kleinstädte der Provinz Posen mit jener typischen, gut jüdischen Atmosphäre, wie sie Bernstein in seinem Buche „Vögele, der Maggid" so wunderschön geschildert hat 46 . Aber 46
A. Bernstein: Vögele der Maggid. Berlin 1860.
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auch hier hat die Wanderung nach Berlin die Familiensubstanz vom jüdischen Gesichtspunkt her untergraben, nicht in der Person meines Schwiegervaters, der zeitlebens ein guter Jude gewesen ist, aber in den weiteren Kreisen der Familie, in die Taufe und Mischehe kamen. Die Generation vorher, die ich nicht mehr gekannt habe, hatte andere Typen hervorgebracht. Ein Vorfahre war ein großer Gelehrter auf dem Gebiete des jüdischen Wissens, und eine Reihe seiner Bücher, wenn leider auch nicht der größte Teil, sind auf Umwegen an mich gekommen. Er hat auch mit großer Liebe und Hingabe den Stammbaum der Familie Rothmann verfaßt und drucken lassen 47 . Diese Vorfahren aber waren, als ich die Familie kennenlernte, schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Auch gab es übrigens in der Familie der Kalischers noch einen alten im Ruhestand lebenden Amtsgerichtsrat Arnold Kalischer. Er war ein sehr positiver Jude, der eine jüdische Religionslehrerin geheiratet hatte und eine große jüdische Bibliothek besaß, deren hauptsächlichste Teile später an mich gekommen sind. Ich glaube, er war derjenige, der sich sehr gefreut hat, daß ein Mann meiner Art in die Familie kam. Leider hatte er damals schon den Zenit seines Lebens lange überschritten und war wohl nur noch ein Wrack dessen, was er einstmals gewesen war. Meine Frau und ich aber waren ja entschlossen, uns unser Leben nach unserer Art aufzubauen, und in einem solchen Augenblicke übersieht man nicht die Schwierigkeiten, die dann später doch noch kommen, und das ist letzten Endes nur gut. Unsere Trauung fand in der altehrwürdigen Synagoge in der Heidereutergasse statt 48 . Erfreulicherweise hat dieses G'tteshaus auch den furchtbaren 9. November 1938 überlebt. Rabbiner Warschauer legte seiner Predigt das Wort zugrunde: „Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen" 49 . Die Trauung fand nach dem strengen Ritus der konservativen Richtung statt. Die Ketuba wurde verlesen, der Kantor Friedmann sang das unsterbliche jüdische Traulied: Mi adir. Die Trauung war so, wie ich sie mir gewünscht hatte, schlicht und einfach und doch sehr erhebend. Vorher war die standesamtliche Trauung auf der Köpenicker Straße, bei der mein Schwiegervater und mein Bruder Hugo als Trauzeugen fungierten. Letzterer wäre beinah zu spät gekommen. Nach der Trauung fand nur ein ganz kleines Essen statt, an dem außer 47
Konnte als Druck nicht ermittelt werden. Berlins älteste Synagoge, deren Bau 1712-1714 noch unter König Friedrich I. begonnen wurde. 49 Josua 24,15. 48
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den Eltern meiner Frau und deren Brüdern meine beiden Brüder Rudolf und Hugo teilnahmen. Meine Mutter hatte sich leider zu der Reise nicht entschließen können, sie war ja immer in ihrem Leben sehr schwerfällig und ist mit dieser unglücklichen Veranlagung nicht fertiggeworden, aber ich wußte, daß ihre Wünsche mich auf diesem neuen Abschnitt meines Lebens begleiteten, den ich mir sehr erkämpft hatte. Für eine Reise blieben uns nur wenige Tage, da ich ja pünktlich zum Schulbeginn in Breslau sein mußte. So fuhren wir nach Frankfurt an der Oder. Wir haben es nicht zu bereuen gehabt, daß wir diese kurzen Tage so gänzlich abseits von der Welt verbrachten. Wie gräßlich war es mir immer, wenn ich taubenfütternde Hochzeitspärchen auf dem Markusplatz in Venedig sah. Sicher ist, daß in Frankfurt an der Oder keinerlei Tauben gefüttert wurden, dafür aber war es ein verwunschenes Städtchen, in dem man für sich leben konnte, keinerlei Aufmerksamkeit erregte und glücklich sein durfte. Wir waren auf gut Glück gefahren und fragten am Bahnhof den Gepäckträger, wo man gut untergebracht wäre. Mit dem Hotel „Victoria", das er uns empfohlen hatte, waren wir sehr zufrieden. Wir hatten es dort sehr gut, und auch der Wirt, der durch das wahnsinnige Tempo der Markentwertung nicht disponieren konnte, hat uns trotzdem in keiner Weise ausgenützt. Wie schön war es, wenn wir an jenen Herbsttagen, die vom Wetter begünstigt waren, nach der Buschmühle hinausgehen konnten, einem kleinen Gartenlokal, in dem wir die einzigen Gäste waren. Unmittelbar an diesem Lokal geht die Bahnlinie Berlin-Breslau vorbei. Sooft ich später diese Strecke fuhr, so oft habe ich voll innerer Dankbarkeit nach der Buschmühle hinuntergeblickt. Ich bin auch später einmal dorthinaus gewandert, als ich in Frankfurt an der Oder einen Vortrag zu halten hatte. Das Gebiet um die Buschmühle herum ist übrigens Naturschutzgebiet, ein Eichenwald, der in dem ursprünglichen Zustand erhalten werden soll. Es war schön, in Frankfurt durch die Straßen zu gehen, auf dem alten Marktplatz zu stehen oder an dem alten Universitätsgebäude vorbeizugehen, wo einstmals die Alma mater Viadrina gewesen war, ehe sie nach Breslau verlegt wurde. Mittag aßen wir meist in einem Restaurant, wo sehr viele ostelbische Junker verkehrten. Rings um Frankfurt an der Oder sind überhaupt viele große Güter. Der Landjunker beherrscht zu einem gewissen Grade das Bild der Stadt. Es waren damals Tage, in denen die politische Erregung außerordentlich hoch ging. Wenn wir auf die Gespräche an den Nachbartischen lauschten, so war meist von Hitler und den schwarzweißroten Fahnen die Rede. Alles deutete ja darauf hin, daß in kürzester Zeit ein Rechts-
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putsch ausbrechen würde, der ja dann auch wirklich am 9. November in München losbrach, aber zu keinem Erfolg führte 5 0 . Immerhin ist es doch bedeutsam festzuhalten, wie schon damals in weiten Kreisen die Überzeugung war, daß nur eine straffe Rechtsregierung Deutschland vor dem völligen Zusammenbruch retten könnte. Es ist selbstverständlich, daß wir beide, die wir in den kurzen Tagen ganz für uns leben wollten, allen solchen Gesprächen weit aus dem Wege gingen und uns auf keinerlei Diskussionen einließen. Wir wollten nur uns gehören und dem Plänemachen für die Zukunft. Ich habe übrigens damals im Hotel in Frankfurt an der Oder viel an einem neuen Buche geschrieben. Mich beschäftigte damals vor allem die Gestalt des englischen Menschenfreundes Robert Owen, der im 18. Jahrhundert gelebt hatte und den das furchtbare Elend der englischen Textilarbeiter bis aufs Innerste ergriff. Er steckte sein ganzes Vermögen in soziale Reformversuche und gründete auch später in Amerika eine kleine kommunistische Versuchsgemeinschaft, die aber scheiterte. Robert Owen war mir durch seinen Idealismus besonders symphatisch. Auch wenn das, was er gewollt hat, an dem Egoismus der Menschen scheiterte, so schien mir seine Gestalt es wert, besonders der arbeitenden Jugend nähergebracht zu werden. Beschwingt, wie ich auf dieser Reise war, schrieb ich an einer Jugendschrift über ihn, die später im Verlag der Volkswacht erschienen ist 51 . Je glücklicher man ist, um so besser kann man ja schaffen. N u r , wenn man ganz aus dem Gleichgewicht gekommen ist, arbeitet auch bei einem sonst produktiven Menschen das Gehirn nicht. Nach diesen einmaligen Tagen, die für mich immer zu den schönsten meines Lebens gehören werden, fuhren wir nach Breslau, w o mich der gewohnte Dienst erwartete, w o aber für meine Frau die nicht ganz leichte Aufgabe zu bewältigen war, nun an die Spitze eines großen Haushaltes zu treten und die Kinder zu erziehen. Sie hat es gewiß nicht leicht gehabt, und es wurden ihr auch ausreichend Schwierigkeiten bereitet; aber auf alle diese Einzelheiten möchte ich nicht eingehen. Umso dankbarer werde ich ihr immer sein, daß sie mit all dem, wenn auch sicher unter dem Einsatz großer Reserven an Nerven, fertiggeworden ist. Ich selbst empfand es damals als außerordentliches Glück, wieder einen Menschen im Hause zu haben, der mich auch persönlich ein wenig umsorgte. Ich merkte erst jetzt, wie schlecht ich es in den letzten 50 51
Der gescheiterte Hitler-Putsch vom 8./9. November 1923 in München. Vgl. SV N r . 159.
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Jahren gehabt hatte und wie stark ich durch die mangelnde Pflege auch gesundheitlich heruntergekommen war. N u n war wieder ein Mensch da, der sich Gedanken über mich machte und der mir auch versuchte, manchen Stein des Anstoßes aus dem Wege zu räumen und mir zu helfen, die oft nicht leichte Last des Lebens zu tragen. Ich habe ja schon öfters angedeutet, daß ich mir im Laufe der Zeit nicht nur einen Beruf zugemutet hatte, sondern eine ganze Reihe von Berufen, die alle nebeneinander bewältigt werden wollten. Da war es schon wichtig, wenn man jemanden neben sich hatte, der für einen mitdachte. Da wir ja damals zwei Menschen Personal im Hause hatten, so konnte sich meine Frau in der Hauptsache der Hilfe bei meiner Arbeit widmen. Wir kauften uns damals noch rechtzeitig eine Schreibmaschine, die in all den Jahren bis zur Gegenwart ihre Pflicht getan hat und die von den verschiedensten Kräften im Laufe der Zeit mit mehr oder weniger Erfolg bearbeitet worden ist. Wir konnten diese Schreibmaschine mit allem, was dazugehört, gegen Hingabe einer Aktie erwerben. Da meine Frau von ihrer Tätigkeit als Sekretärin her sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiete besaß, so richtete sie mir auch den Bürobetrieb modern ein, so daß seitdem alle meine vielfachen Materialien einigermaßen geordnet sind. Die anderen Aufgaben, die meiner Frau seitdem erwachsen sind und besonders ihre große Anspannung im Haushalt haben es in der Gegenwart nicht mehr möglich sein lassen, daß sie mir noch in gleicher Weise hilft, was ich täglich überaus bedaure, da es abgesehen von Kindern nichts gibt, was in der Ehe mehr bindet als die gemeinsame Arbeit. So haben die Eheleute Curie vorbildlich miteinander gearbeitet, und so hätte ich es auch gern in meinem Hause immer gewollt. Aber wir Menschen haben ja nicht durchwegs die Möglichkeit, unser Schicksal ganz nach unserem Willen zu gestalten. Auch wenn das nicht so gegangen ist, wie ich es mir damals dachte, habe ich alle Veranlassung, froh und dankbar zu sein. Eine nicht ganz angenehme Aufgabe war es auch, nach und nach mit meiner Frau bei den Kollegen Antrittsbesuche zu machen. Ich wollte mich gern darum drücken und habe es auch so lange wie möglich hinausgeschoben, aber der Direktor Gabriel bat mich sehr, mich doch nicht außerhalb des Kollegiums zu stellen. So habe ich es schließlich auch getan. Meine Frau mußte dann auch die ganzen Jahre, die ich im Dienst war, an dem Kaffeekränzchen der Damen des Kollegiums teilnehmen. Bei einer Beamtenfrau gehört eben so etwas auch zu den Verpflichtungen. Mancher wird mit Recht sagen, es gibt Schlimmeres.
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Meine erste Vortragsreihe nach meiner Verheiratung führte mich wieder in mein geliebtes Militsch, wo ich immer das Gefühl hatte, nur vorübergehend abwesend zu sein. Innerhalb des Schuldienstes richtete ich es mitunter so ein, daß ich mit höheren Klassen das Kunstgewerbemuseum besichtigte. Dort führte uns besonders verständnisvoll Professor Hintze, ein hervorragender Kenner mittelalterlicher Handwerkskunst. Er hatte im Kunstgewerbemuseum die Innungsstube der Weißgerber stilecht aufgebaut und verstand es sehr gut, auch den Schülern alles näherzubringen. Damals wußte ich noch nicht, daß ich Professor Hintze später einmal in gemeinsamer Arbeit verbunden sein würde. Als im Jahre 1929 das Jüdische Museum eine große Ausstellung veranstaltete, verfaßten wir zusammen den Katalog 52 . Ich schrieb die historische Einleitung und er lieferte den Hauptteil in der kunsthistorischen Darstellung. Doch davon hoffe ich später noch sehr ausführlich erzählen zu können 53 . Nun ist Hintze schon eine ganze Reihe von Jahren nicht mehr auf der Erde. Auch in diesem Winter hatte ich wieder einen Vortragskursus im Humboldtverein zu halten, der mir wie stets Freude machte. Daneben liefen eine ganze Reihe von Einzelvorträgen. Einmal sprach ich im Frauenverein in der Moltke-Loge über Deutschlands Entwicklung im 19. Jahrhundert. Einmal machte mir meine Frau die Freude, nach Militsch mitzukommen, wo sie von der Familie Jutkowsky sehr freundlich aufgenommen wurde. Im privaten Verkehr beschränkten wir uns auf das Allernotwendigste. Meine Geschwister kamen meiner Frau freundlich entgegen, wenn auch ein intimeres Verhältnis nie eingetreten ist; dazu waren die Menschen zu verschieden. Sie haben später vor dem, was meine Frau geleistet hat, die größte Achtung bekommen; aber die Frauen, die sonst in unsere Familie hineingeheiratet hatten, waren vor ihrer Ehe nicht berufstätig gewesen und mehr oder weniger Prinzeßchen. [...] Einmal verlebten wir einen recht angenehmen Abend im Hause des Zahnarztes Schachtel. Schachtel war das Haupt der zionistischen Bewegung in Breslau 54 . Er war das, was man eine Kämpfernatur nannte, Siehe unten S. 511. Leider ist dieser Vorsatz des Verfassers nicht in dem zu erwartenden Umfang eingelöst worden. Eine retrospektive Würdigung der Ausstellung bei B. Deneke: Das Judentum in der Geschichte Schlesiens. Ein Rückblick auf die Ausstellung Breslau 1929; in: Schlesien, Kunst - Wissenschaft - Volkskunde 34 (1989), S. 78-88. 5 4 H u g o Hillel Schachtel (1876-1949) war Gründer der Zionistischen Ortsgruppe Breslau und seit 1901 Herausgeber der Zeitschrift „Der Zionist". E r wanderte 1932 nach Palästina aus. 52 53
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und er hat sich unzählige Male mit den liberalen Häuptlingen in der Gemeinde herumgeschlagen, für die ja der Zionismus das rote Tuch bedeutete. Heute ist Schachtel mit seinen Kindern und Enkelkindern längst in Erez Israel. Wir waren auch in Haifa in seinem Hause. An diesem Abend waren noch zwei andere bewährte Zionisten anwesend, der Rechtsanwalt Dr. Berschak und der Arzt Dr. Steinitz. Auch Berschak ist nach Palästina gegangen. Wir trafen ihn als Hotelbesitzer in Tel Aviv; er ist aber später leider sehr früh einem bösen Krebsleiden erlegen. Der Arzt Dr. Steinitz war an sich Facharzt für Herzkrankheiten; aber seine ganze Neigung gehörte der Naturwissenschaft. Er hat sich auch noch in vorgerückten Jahren in Breslau habilitiert. Sein Lebensideal war mit der Sache des Zionismus und mit besonderen biologischen Problemen Palästinas aufs engste verknüpft. Durch die Anlage des Suezkanals ist Meeresfauna, die sonst im Indischen Ozean heimisch ist, in das Mittelmeer vorgestoßen und an den Küsten Palästinas aufgetreten. Es schwebte Steinitz der Gedanke vor, in Palästina ein Institut zur Erforschung der Lebewesen in der See zu schaffen, wie es sich ähnlich in Helgoland und in Neapel befindet. Ich habe Steinitz über seine Pläne öfters sprechen hören und habe ihm, als ich Präsident war, auch von Seiten der Loge, jede Unterstützung zuteil werden lassen. Auch er ist heute in Erez Israel und kann seinem Ideal leben. Meine Frau und ich sind von denen, die an jenem Abend anwesend waren, die einzigen, die nicht in diesem Sinne zu ihrem Lebensziele gekommen sind. Jener Abend war übrigens auch noch von einem anderen Gesichtspunkt her für die Breslauer jüdische Geschichte von Bedeutung. Damals beschlossen wir, die Jüdische Volkszeitung, die eingegangen war, wieder ins Leben zu rufen, um ein besonderes zionistisches Organ zu haben. Im Breslauer Gemeindeblatt kam selbstverständlich die zionistische Auffassung nicht zur Geltung. Ich kam damals auf den Gedanken, diese jüdische Zeitung, die dann den Titel „Jüdische Zeitung für Ostdeutschland" bekam, im Verlage der „Volkswacht" drucken zu lassen55. Mein Freund und Verleger Max Tockus stand diesem Projekte sympathisch gegenüber. Die Volkswacht verfügte ja über gewaltige Rotationsmaschinen, die durch den Druck der eigenen Zeitung und ihrer Kopfblätter nicht voll ausgefüllt Die Jüdische Zeitung für Ostdeutschland verstand sich als Nachfolgerin der 1923 eingestellten Jüdischen Volkszeitung. Die in Breslau seit 1924 erscheinende Zeitung änderte 1926 ihren Namen in Jüdische Zeitung*. Mit dem 30. April 1937 mußte sie ihr Erscheinen einstellen. Die Geschichte dieser Zeitung schildert J. Walk, Die „Jüdische Zeitung für Ostdeutschland" 1924-1937. Zeitgeschichte im Spiegel einer regionalen Zeitung. Hildesheim 1993. 55
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waren. Für den Laien sei gesagt, daß man unter diesen Kopfblättern diejenigen Provinzzeitungen versteht, deren politischer und allgemeiner Teil mit dem Organ der Hauptstadt übereinstimmt, deren lokaler Teil aber im einzelnen verschieden ist. Wenn ein so großer Zeitungsbetrieb eine Zeitung mehr herausbringt, so nützt er die nun einmal vorhandene Anlage besser aus. Tatsächlich ist auch mein Plan in die Praxis umgesetzt worden, und die Jüdische Zeitung hat dann lange, bis die Zeitverhältnisse ihr eben das Lebenslicht ausbliesen, existiert und unter wechselnden Redakteuren vieles zur Auflockerung der Breslauer Juden beigetragen. Ich bin stets ihr Mitarbeiter gewesen. Aus der Zahl ihrer Redakteure möchte ich nur zwei nennen, einmal Joachim Prinz, der dann nach 1933 der Moderabbiner der deutschen Judenschaft geworden ist 56 , der glühend für den Zionismus eintrat, dann nach Amerika gegangen ist, wo er wahrscheinlich dafür eintritt, daß andere ihren Wohnsitz nach Palästina verlegen. „Entweder konsequent oder inkonsequent, nur nicht das ewige Schwanken". Ich habe die Rednergabe von Prinz immer anerkannt, aber ihn sonst als eine ziemlich aufgeblasene Null erachtet. Ich glaube auch nicht, daß von seinen rasch hingeworfenen Büchern irgendeins die Zeit überdauern wird. Dafür hat er es gut verstanden, viel Geld zu verdienen. Als ich einmal in Gleiwitz einen Vortrag hielt, erzählte man mir über ihn das Folgende. Er sagte in seinem Vortrag: „Sie sehen ja, meine Herrschaften, wie ich von meinen Gedanken gejagt, durch Deutschland hin und her gehetzt werde." Und dann wurde mir mitgeteilt, daß gerade er eine für damalige Verhältnisse exorbitant hohe Honorarforderung gestellt hat. Eine bedeutende Persönlichkeit war ein anderer Redakteur, der Physiker Dr. Samuel. Er ist nach 1933 lange Jahre Professor an einer mohammedanischen Universität in Indien gewesen und von dort aus nach Palästina gegangen, wo ich ihm vor vier Jahren begegnete. Er nahm den Dienst an der Zeitung allerdings nicht als seine wesentliche Lebensaufgabe, hat es aber trotzdem ganz ordentlich gemacht. Einem bedeutenden Menschen sieht man ja manches nach. Nicht immer war ich mit der Art Die im Originalmanuskript stehende Jahreszahl 1939 sollte wohl richtig 1933 lauten, in welchem Jahr Prinz sein Buch „Wir Juden" veröffentlichte. Der aus Sachsen stammende Joachim Prinz (1902-1988) wurde 1925 am JüdischTheologischen Seminar in Breslau ordiniert und wirkte von 1927 bis 1937 als Rabbiner in Berlin. E r emigrierte 1937 in die USA, w o er von 1958 bis 1966 Präsident des American Jewish Congress wurde und die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings unterstützte. 56
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und Weise einverstanden, wie die Jüdische Zeitung für Ostdeutschland geleitet worden ist; ich hätte manches, wenn ich die Leitung gehabt hätte, trotz aller Polemik gegen den Gemeindeliberalismus etwas vornehmer gemacht. Von den Menschen, die mir damals nähertraten, möchte ich vor allem Arthur Wiener nennen, seines beruflichen Zeichens Holzkaufmann, aber ein überaus kluger und bedeutender Kopf. E r war mein Vorgänger im Amte des Präsidenten der Lessing-Loge, und wir waren auch privatim oft zusammen. E r ist einer der wenigen, von denen ich sagen möchte, daß sie meine Freunde sind. Wir haben uns immer sehr gut verstanden. Auch er ist heute lange in Palästina, samt seinen Kindern, die sich ausgezeichnet entwickelt haben. In seiner schönen Wohnung auf dem Karmel haben wir stimmungsvolle Stunden verlebt; nie werde ich vergessen, welcher Anblick uns zuteil wurde, als wir an einem Frühlingsnachmittag heraustraten und zu unseren Füßen die Haifabucht lagDie zu Ende gehende Inflationszeit stellte manchmal Aufgaben merkwürdiger Art. So wurden zum Beispiel in der Schule die Gehaltszahlungen durch Kollegen abwechselnd durchgeführt, und das war dann immer eine große Verantwortung, wenn man die Summen zu verteilen hatte und alles stimmen mußte. Als die Rentenmark kam, wurde zunächst das Leben durchaus nicht einfacher, wenn man auch etwas mehr mit dem rechnen konnte, was man hatte. Die Preise paßten sich sehr schnell dem Vorkriegsstandard an, andererseits blieben aber die Gehälter weit hinter dem Vorkriegsniveau zurück. So mußte man sich besondere Mühe geben, um den Etat einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. So war ich im Winter 1923/24 immer sehr froh, wenn sich Gelegenheit zu auswärtigen Vorträgen ergab, wodurch eine Extraeinnahme hereinkam. Ich hatte ja auch in den abgelaufenen Jahren sehr wenig für meine Garderobe getan, während die Könige der Inflation immer möglichst rasch Kleider und ähnliches gekauft hatten. Aber schließlich bin ich durch alle diese Zeiten heil hindurchgekommen. In den Weihnachtsferien 1923/24 hatte ich die Freude, meiner jungen Frau das Riesengebirge zeigen zu können, das sie noch nicht kannte. Wenn sie auch schon hier und da auf Wanderfahrten in Blau-Weiß 5 7 in die Natur hinausgekommen war und auch die verschiedensten Reisen gemacht hatte, so war ihr doch die herbe Schönheit unserer schlesischen 5 7 Innerhalb der Jugendbewegung gab es mehrere jüdische Jugendbünde, darunter den zionistisch geprägten „Blau-Weiß".
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Berge bisher unbekannt geblieben. Wir gingen nach Brückenberg, das ich in den letzten Jahren sehr häufig aufgesucht hatte, und nahmen dort in einem einfachen Häuschen bei Leiser Nr. 8 Wohnung. Wir lebten ganz für uns abseits der Heerstraße; wir mieden alle diese Lokale, die in der Inflationszeit dort aufgemacht hatten und so gar nicht in den Stil der Landschaft paßten, etwa die Meierdiele in Krummhübel. Unser kleines Häuschen am Waldrande war eine verwunschene Welt. Das Zimmer lag neben einem Balkon, auf dem erhebliche Holzvorräte lagerten. So konnten wir es uns immer schön warm machen. Den Tag über liefen wir in den Bergen umher. Ich zeigte meiner Frau alle Stellen, die mir im Laufe so vieler Jahre liebgeworden waren. Ich war glücklich, daß auch sie eine solche Freude an dem winterlichen Riesengebirge bekam. Was könnte es auch Schöneres geben, als mit jemandem, den man gern hat, durch die Einsamkeit des Bergwinters zu wandern. [...] Auf dem Rückweg vom Riesengebirge zeigte ich meiner Frau auch noch Hirschberg, einen Ort, an dem viele Riesengebirgsfahrer zu ihrem eigenen Schaden vorbeigehen. Und doch bietet gerade Hirschberg so viel Eigenartiges. Vor allem ist dort die Gnadenkirche, die im 18. Jahrhundert den Protestanten bewilligt wurde, als Karl X I I . von Schweden durch Schlesien kam. So befindet sich auch in dieser Kirche neben dem Denkmal Friedrichs des Großen ein Denkmal Karls X I I . 5 8 [...] Wunderschön sind in Hirschberg die Laubengänge am Ring, die wir in so mancher schlesischen Stadt finden. Eine Sehenswürdigkeit ist auch das Riesengebirgsmuseum, in dem so manche Type dargestellt ist, die in den Dörfern selbst schon lange der Vergangenheit angehört. Man kann oft abseits der Landstraße viel mehr Eigenartiges finden als in den Orten, die von dem großen Reiseverkehr bevorzugt werden. Man muß nur zu suchen verstehen und muß außerdem einen Sinn haben für die Heimat und das, was sie bietet. Meine Frau ist im Laufe der Jahre erfreulicherweise immer stärker in diese Welt hineingewachsen. Wir bedauern es heute beide, daß uns gerade diese kleinen Reisen nun auch verschlossen sind. [...] Neisse habe ich aber auch aus einem anderen Grunde sehr geliebt. Man nennt Neisse das schlesische Rom. Im Mittelalter hat hier sehr lange der Breslauer Bischof residiert, und an diese Zeit erinnern eine Reihe alter Kirchen. Vor allem aber ist das Bild des Rings ein selten Bei den beiden erwähnten „Denkmälern" handelte es sich um zwei Ölgemälde, die der Gnadenkirche erst 1909 anläßlich der Zweihundertjahrfeier ihrer Grundsteinlegung gestiftet worden waren. 58
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geschlossenes und schönes. Ich wüßte kaum einen schlesischen Ring, der so wirkt wie der von Neisse. In späteren Jahren hat die Stadtverwaltung von Neisse das Stadthaus 59 nächtlich in weißem Lichte anstrahlen lassen. In den Jahren, als noch keine Verdunklungsmaßnahmen dies hinderten, ist man in vielen Orten der Welt dazu übergegangen, auf diese Weise die Schönheiten sichtbar zu machen. So habe ich später oft die Kirche Notre-Dame aus dem Dunkel der Nacht hervortreten sehen. Aber auch sonst bot Neisse mancherlei Reizvolles. Am Morgen nach einem Vortrag bin ich meist mit Walter Redlich um die schönen Promenaden gegangen, die an Stelle des alten Festungsringes getreten sind. Noch heute sieht man ja in Neisse mancherlei dieser Befestigungsanlagen aus früherer Zeit. Neisse war stets eine hohe Schule preußischen Militärgeistes. Dort hat auch einer der wenigen jüdischen höheren Offiziere, der Major Meno Burg, seine Ausbildung erfahren 60 . Der Historiker ist insofern ein glücklicher Mensch, weil ihm das Vergangene überall wieder lebendig wird. Der Nichtgeschichtsforscher pflegt für diese Dinge oft wenig Sinn zu haben und er geht an vielem vorbei, was eben zu dem Menschen mit geschichtlichem Sinne ganz anders spricht. Dazu ist übrigens zu sagen, daß es fast in allen Orten heimatgeschichtliche Vereine gibt, die eine große Anzahl von Menschen in ihren Reihen versammeln, die Geschichtsfreunde sind, ohne Historiker zu sein. Ein anderes Mal war ich in jenem Winter zu einem Vortrag in Görlitz, das ich schon kannte, dann wieder in Gleiwitz. Das oberschlesische Industriegebiet habe ich noch oft besucht. Gleiwitz ist der Zugang dazu. In Oberschlesien darf man nicht die Schönheiten suchen, die man sonst auf Reisen zu finden hofft. Hier herrscht das Hohelied der Arbeit. Wenn man aber in das nächtliche Industriegebiet einfährt und sieht, wie aus dem Dunkel Feuerbrände zum Himmel emporsteigen (es sind die Stellen, wo Hüttenwerke sich befinden), dann bekommt man doch eine gewaltige Achtung vor diesem Lande der Arbeit. Was denkt sonst der Städter, der gedankenlos seine Kohle in den Ofen schiebt, an den Kumpel, der unter Einsatz seines Lebens unter Tage von frühester Jugend an arbeitet. Daß sich dort ein herber Menschenschlag entwickeln muß, der mit anderem Maßstab zu messen ist, leuchtet gewiß ein. Ich hatte im Kriege oft oberschlesische Menschen bei meiner Truppe gehabt und bin gut mit ihnen ausgekommen.
Die Alte Stadtwaage (Kämmereigebäude) aus dem frühen 17. Jahrhundert. Meno Burg (1787-1853) war im 19. Jahrhundert Lehrer an der ArtillerieOffiziersschule in Berlin gewesen. 59
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VI. Kapitel
Gleiwitz hatte durch die ungerechte Trennung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen an sich gewonnen, da manche Behörde, die sonst in Kattowitz saß, hierher verlegt worden ist. Dem oberschlesischen Judentum ist es bis 1933 recht gut gegangen. Viele der Juden waren Kaufleute, sehr viele besaßen aber auch Destillationen. Leider trinkt ja der oberschlesische Mensch zum Schaden seiner eigenen Gesundheit unendlich viel konzentrierten Alkohol. Manchmal wurde auch erzählt, daß es jüdische Bergarbeiter gegeben hat, aber ihre Zahl dürfte wohl eine sehr geringe gewesen sein. Dann dürfte es sich wohl vor allem um eingewanderte Ostjuden gehandelt haben, die vorübergehend diese Arbeit machten. Auch hierzu ließe sich mancherlei sagen, was aber den Rahmen der Erinnerungen sprengen und zur Frage der Berufsstruktur des deutschen Judentums führen würde. Auf dieser Vortragsfahrt nach Gleiwitz war ich mit meinem Onkel Dr. Alfred Mamlok zusammen, der damals dort Facharzt für Hals-, Nasenund Ohrenkrankheiten war. Diese Spezialität war in Oberschlesien wie in allen Bergbaugebieten besonders wichtig, da die Menschen infolge des Kohlenstaubes häufig an Erkrankungen der Atmungsorgane leiden. Alfred Mamlok, mit dem ich immer die Fühlung behalten habe, ist heute in Montevideo im Staate Uruguay. Dann war ich damals bei dem Rabbiner Dr. Ochs. Ochs stammte wie so viele Rabbiner aus dem Osten, weil das deutsche Judentum von sich aus nicht mehr genügend Menschen mit ausreichenden hebräischen Kenntnissen besaß. Ochs gehört zu den ein wenig schillernden Gestalten, denen es vor allem darauf ankam, mit dem Gemeindevorstand nicht schlecht zu stehen. Er selbst war konservativ, Gleiwitz aber war an sich eine sogenannte liberale Gemeinde. Wenn er sprach, so arbeitete er jeweils nach Lage der Sache entweder einen stärker zionistischen oder einen stärker centralvereinlerischen Standpunkt aus. „Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten...". Ich habe später mit Ochs auch noch dienstlich zu tun gehabt, als ich am Jüdisch-Theologischen Seminar tätig war, wo er das Amt eines Seminarrabbiners innehatte. Auch da ist er mir menschlich nicht sehr sympathisch geworden. Heute ist er längst ausgewandert und wird es sicherlich verstanden haben, auch außerhalb von Deutschland seine Existenz zu begründen 61 . Einmal war ich in diesem Winter auch für einen Tag in Berlin, und zwar als Vertreter der Lessing-Loge. Damals wurde in Berlin die siebente Loge des Ordens Bne Brith, die Jehuda-Halevy-Loge, installiert. Es war 61 Rabbiner Samuel Ochs (1886-1942) stammte aus Zboriw/Polen, emigrierte 1938 nach England und starb 1942 in London.
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die Zeit, in der der Orden Bne Brith in Deutschland einen mächtigen Aufschwung nahm. Nun war es häufig so, daß die älteren Logen geistig ziemlich unbeweglich waren und die jüngeren aufstrebenden Kreise sich deshalb lieber eine neue Gemeinschaft schufen. An die Spitze dieser Loge trat als erster Präsident der Frauenarzt und Schriftsteller Dr. Fritz Kahn, der eine bedeutende Persönlichkeit war. In dem schönen Logenhause auf der Kleiststraße versammelte sich damals die Elite des deutschen Judentums. Ich lernte den Präsidenten des Deutschen Bezirkes des Ordens Bne Brith, den Geheimen Justizrat Timendorfer, persönlich kennen. Er war eine repräsentative Erscheinung, ein jovialer alter Herr. Die eigentliche geistige Spitze aber war der Vize-Großpräsident, der Rabbiner Dr. Baeck, heute der Führer des restlichen deutschen Judentums. Baeck hielt auch damals die Festrede über die Gestalt Jehuda Halevys, eine Rede, die für den Hörer ein wirkliches Erlebnis war 62 . Es war doch immerhin charakteristisch für die Stimmung unter den jüngeren Leuten im Orden, daß man der Loge den Namen dieses großen Dichters der Zionidee gab, ein Bekenntnis zum Palästinagedanken, dem leider auch aus Logenkreisen viel Widerstand entgegengesetzt wurde. Ich habe die eine Nacht, die ich mich damals aufhalten konnte, bei den Schwiegereltern gewohnt. Wir machten am Sonntagnachmittag einen schönen Ausflug nach dem Müggelsee, den ich noch nicht kannte. Die nähere Umgebung Berlins ist eigentlich sehr schön; nur stört es, daß man sich immer unter Menschenmassen bewegt. Ich fuhr dann nachts im Schlafwagen zurück, der in Breslau auf ein totes Gleis gestellt wurde, so daß man noch eine Zeitlang liegen konnte und ging dann unmittelbar vom Bahnhof zur Schule, wo mich meine Frau schon erwartete. Wenn man damals ein so erhebliches Teil leisten konnte, so lag es nicht zum wenigsten daran, daß einem alle technischen Hilfsmittel zur Verfügung standen und man sich das Leben auf einer solchen Reise erleichtern konnte. Abgesehen davon, daß wir Breslauer Juden heute überhaupt nicht reisen dürfen, ist ja dem deutschen Juden die Benutzung der Schlaf- und Speisewagen verboten 63 . Trotz aller dieser angedeuteten Arbeiten habe ich, soweit es ging, auch die Wissenschaft gepflegt. Immer wieder geht durch meine Tagebücher das Klagen, daß ich nicht genügend zur wissenschaftlichen Arbeit 6 2 Der spanisch-jüdische Dichter Jehuda Halevy (gest. 1141) vertrat einen mittelalterlichen Zionismus. 6 3 Vgl. die geheime Anordnung vom 28. 12. 1938 bei J. Walk (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Heidelberg 1981, S. 272.
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VI. Kapitel
komme. Nachher aber scheint es mir immer eine ganze Menge, was ich schließlich doch fertig gebracht habe. Jener Winter war besonders an Druckkorrekturen und Verlagsverhandlungen gesegnet. Der Druck des Hohenstaufenbuches im Verlage von M. & H. Marcus ging nun vonstatten; außerdem wurde im Verlag der Volkswacht das Büchlein von Robert Owen gedruckt. Korrekturen lesen gehört für einen Autor mit zu den gräßlichsten Beschäftigungen. Man freut sich, wenn das Werk soweit ist, aber man muß doch immer wieder das, was man selbst geschrieben hat, zur Hand nehmen, während der Geist schon wieder mit anderen Problemen beschäftigt ist. Damals fesselte mich wissenschaftlich schon wieder ein anderes Problem. Ich wollte die Beziehungen untersuchen, die von Sizilien zum deutschen Ordensstaat in Ostpreußen führten. Intuitiv war mir klar, daß dieser Staat, der von Hermann von Salza geschaffen worden war, die Ideen fortsetzen mußte, die aus Sizilien kamen. Ich sammelte hierzu auch einiges Material, mußte dann aber vom Schreiben dieser Arbeit Abstand nehmen, weil es sich herausstellte, daß das Quellenmaterial zu einem exakten Beweis nicht ausreichte. Immerhin war die Beschäftigung mit diesen Dingen nicht umsonst. Sie führte später zu meinem Buche über Hermann von Salza, das mein letztes großes Buch zur mittelalterlichen Geschichte geworden ist, das ich bisher herausbringen konnte 64 . Es wären sicherlich noch mehr geworden, und es liegt ja noch mancherlei druckfertig in den Fächern, wenn nicht eben seit 1933 die Druckmöglichkeit entschwunden wäre. Damals hat mir als Sekretärin, besonders in den Abendstunden, meine Kusine Elsa Schöps geholfen, die ausgezeichnet schreiben konnte. Soweit es der Zustand meiner Frau gestattete, hat sie in jenen Jahren stets den Hauptteil meiner Arbeit geleistet. Die beiden Jungens entwickelten sich g'ttlob erfreulich und waren im allgemeinen auch gesund. Ernst hatte in dieserti Winter eine schwere Bronchitis, die er aber auch gut durchmachte, ohne daß Komplikationen hinzutraten. Die Schwierigkeit in unserem Hause bestand dann immer darin, daß die Mutter der Jungens sie sehen wollte; aber meine Frau hat immer eine Möglichkeit gefunden, ihr das zu gestatten, ohne daß wir immer den Dank gefunden hätten, auf den wir Anspruch hatten. Den ersten Sederabend, den Trudi in Breslau verlebte, verbrachten wir mit Wölfl bei Rabbiner Simonsohn, der damals auf der Hohenzollernstraße
64
Vgl. SV N r . 341.
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wohnte. Es war sehr stimmungsvoll, und es hat Wölfl auch sehr gut gefallen. Der ungewohnte Weingenuß hat ihn etwas betrunken gemacht; auf dem Nachhauseweg hat er jeden Laternenpfahl umarmt. Aber das gehört nun auch dazu, und wir sind glücklich, daß wir bis zum heutigen Tage den Seder immer in der traditionellen Weise begehen konnten, und dann nun schon an unserem Tische das vierte Kind fragt: Warum ist diese Nacht ausgezeichnet vor allen andern Nächten? Hoffen wir, daß unser kleines Nesthäkchen Tamara diese Fragen in Freiheit, schon in Palästina, wird stellen können! Im Laufe dieses Winters waren auch verschiedene Mitglieder der Familie meiner Frau nach und nach in Breslau erschienen, zuerst ihr Bruder Ernst, dann der Schwiegervater, später die Schwiegermutter. Von Verwandten meiner Frau lebte ein alter Onkel, Jonas Rothmann, in Breslau, mit dem wir im Laufe der Jahre sehr gut standen, der auch später nach Auflösung seiner Häuslichkeit, ehe er in ein Altersheim ging, längere Zeit in unserem Hause gelebt hat. Er ist dann weit über neunzig gestorben. Er war ein eigenartiger, aber recht kluger Mann. Auch sein Sohn Bernhard hat in unserem Hause immer verkehrt, bis er knapp vor Jahresfrist das Opfer eines Konzentrationslagers geworden ist. Wenn mein Schwiegervater nach Breslau kam, liebte er es immer, die Mitglieder seiner Familie zu versammeln. Sie waren hier nicht allzu zahlreich, aber zu den anderen habe ich keine Fühlung gewonnen. Eines Tages erschien bei mir der Justizrat Gumpen und fragte mich, ob ich geneigt wäre, von Ostern 1924 an das Amt eines Präsidenten der Lessing-Loge zu übernehmen. Ich war eigentlich ja noch nicht dran, weil ich erst ein Jahr protokollierender Sekretär war und man in der Regel noch ein Jahr als Vizepräsident zu amtieren hatte. Trotzdem hatte man zu mir das Vertrauen, und es war nun die Frage, ob ich zu meiner bisherigen Arbeitslast nun auch noch die Last dieses Amtes übernehmen sollte. Das kommende Logenjahr brachte das vierzigjährige Jubiläum der Lessing-Loge, das man groß zu feiern beabsichtigte, und ich nehme an, daß man mich wegen meiner „Redneritis" haben wollte. Ich habe auch nach reiflicher Überlegung das Amt angenommen und bin dann nach Ostern feierlich eingeführt worden 65 . Diese Einführungsfeier lag in den Händen des schon erwähnten Justizrats Wolff, der ein bedeutender Kopf gewesen ist und lange Jahre Rechtsanwalt in Lissa in Posen war. Er
Aus dem Text geht hervor, daß Cohn für ein Jahr die Präsidentschaft der Lessingloge innehatte. 65
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VI. Kapitel
hat übrigens auch ein populärphilosophisches Buch geschrieben 66 . Ich habe mir während meiner Präsidententätigkeit in der Loge, die ein Jahr dauerte, große Mühe gegeben, deren Erfolg sich dahin auswirkte, daß die Zahl der Besucher der regelmäßigen Arbeitslogen eine steigende war. So wirkte sich eben die Mühe des Einzelnen, wie ich hoffe, doch zum Segen des Gesamtjudentums aus. Der Sommer brachte nicht zuviel Arbeit in der Loge, da meist Ferien waren, und über den Winter wird noch zu sprechen sein. Im Frühjahr war meine Frau mit Ernst einige Zeit in Berlin. Zu Pfingsten waren wir beide in Kudowa, wo wir im Elisenhof wohnten, um für uns leben zu können, wenn wir auch selbstverständlich oft und gern mit Lotte und Franz Zusammensein wollten. Ganz ausspannen konnte ich auf dieser Reise nicht, denn die Korrekturbogen folgten uns auch dorthin, und wir haben oft viele Stunden in unserm gemütlichen Zimmer über den unvermeidlichen Druckfehlern gesessen. Aber hauptsächlich waren wir in der freien Natur. Unter anderem bot sich Gelegenheit zu einem sehr interessanten Ausflug nach Nachod. Wir lernten in Kudowa den Prokuristen einer großen Breslauer Holzfirma, Herrn Hauptmann, kennen, dessen Sohn ich auch am Johannesgymnasium unterrichtete. Dieser Herr Hauptmann verwertete im Auftrag seiner Firma gewaltige Holzbestände des Prinzen von Schaumburg-Lippe, die jenseits der Grenze lagen. Diese Wälder waren von einer Krankheit erfaßt worden und mußten niedergelegt werden. Der Prinz von Schaumburg-Lippe war Besitzer des Schlosses von Nachod, das einst Wallenstein gehört hatte und nach dessen Tode an Octavio Piccolomini gefallen war. Herr Hauptmann verfügte über ein Auto; wir bekamen auch die notwendigen Grenzausweise und konnten losfahren. Meine Frau hat bei dieser Gelegenheit das erste Mal in ihrem Leben die Reichsgrenze überschritten und ist in ein fremdsprachliches Ausland gekommen. Es ist ja das Eigenartige jener Grenze bei Kudowa, daß dort unmittelbar hinter der Reichsgrenze auch das tschechische Sprachgebiet beginnt. Eigentlich greift ja die tschechische Sprache an einigen Stellen noch über die Reichsgrenze hinaus; aber diese Dörfer Tscherbeney, Schlaney und Straußeney sind in ihrem Bewußtsein deutsch geworden. Zwischen Kudowa und Nachod ist auch keine natürliche Grenze zu über-
Karl Wolff: Grundlehre des Sollens zugl. eine Theorie der Rechtserkenntnis. Ein Buch für Juristen und Philosophen. Innsbruck 1924. Vermutlich ist dieser gemeint. 66
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schreiten, ein kleines Flüßchen markiert diesen Übergang. Nachod selbst ist ein Städtchen, das eine gewisse industrielle Bedeutung bekommen hat. Die Juden in Nachod wohnen heute noch, wie wahrscheinlich schon im Mittelalter, an einer besonderen Stelle. Vor der Synagoge befindet sich ein Wassertrog, der ein althebräischer Sarkophag ist. Ich besuchte damals auch den Rabbiner Professor Sicher, der später nach Prag versetzt worden ist. Er war ein kluger Mann, mit dem es sich recht angenehm plaudern ließ. Die Judenschaft Nachods sprach damals untereinander noch im wesentlichen deutsch. Aber wenn man sonst durch die Straßen von Nachod ging, hörte man die deutsche Sprache nicht. Die Bewohner von Nachod waren sogar besonders leidenschaftliche Tschechen. Es ist immerhin interessant, daß gerade die Juden zu der deutschen Sprache gehalten haben. Auf staatliche Anordnung mußte der Rabbiner in der Synagoge tschechisch predigen. Eine markante Erscheinung war auch der alte Kantor Lebowic, ein freundlicher alter Mann, der von sich selbst sagte, daß er in seinem Leben noch niemals ordentlich gearbeitet hat. Gewiß hat auch so ein Kultusbeamter keine Veranlassung gehabt, sich zu überarbeiten. In diesen kleinen Gemeinden wurde ja in der Regel nur am Sabbat gebetet. Ich habe diesen Kantor auch später noch häufig gesprochen und mich immer sehr gut mit ihm verstanden. Er sorgte auch immer, wenn wir zurückfuhren, daß wir, soweit es gestattet war, von der ausgezeichneten tschechischen Wurst etwas mitnahmen. Dort in Nachod gab es auch, was in Deutschland noch zu den großen Seltenheiten gehörte, Schlagsahne. Es machte mir Freude, meine Frau in eine Konditorei führen zu können. Aber das ist ja gewiß nicht das Beachtenswerteste, wenn auch die kleinen Züge notwendig sind, um das Bild unseres damaligen Lebens vollständig zu machen. Die Hauptsache war der Besuch des Schlosses von Nachod. Man muß, um es zu erreichen, ziemlich klettern. In späteren Jahren, als mir durch mein Herzleiden das Steigen schon Schwierigkeiten machte, habe ich beim Besuche von Nachod auf diese Tour verzichten müssen. Da oben stieg aber wieder ein großes Stück Weltgeschichte auf. Die Gestalt Wallensteins war mir von Jugend an vertraut und doch stets ein großes Rätsel. Vielleicht hat kaum einer der Großen der Weltgeschichte es besser verstanden, seine Gedanken zu verheimlichen. Noch heute wissen wir nicht, ob Wallenstein nur aus egoistischen Gründen gehandelt hat oder ob ihm wirklich daran gelegen war, Deutschland ein neues Gesicht zu geben. Übrigens erinnert auf dem Schloß nichts mehr an Wallenstein, und das kann man begreifen. Denn Octavio Piccolomini, der das Schloß nach der Ermordung Wallensteins erhielt, hat begreiflicherweise keinen Wert
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VI. Kapitel
darauf gelegt, an seinen Vorgänger erinnert zu werden. So rein dürfte sein Gewissen nicht gewesen sein. Unmittelbar an das Schloß von Nachod grenzen auch die Gräber derer, die dort im Jahre 1866 bei der Schlacht von Nachod gefallen sind 67 . Dieses Landestor von Nachod hat ja überhaupt mancherlei Erlebnisse im Laufe der Geschichte gehabt. Auch die Ereignisse der letzten Jahre haben wieder ein neues Blatt dieser wichtigen Verbindungsstelle zwischen zwei Völkern geschrieben. Als ich in späteren Jahren nach Nachod kam, da waren die Straßen schon mit Betonklötzen gesichert. Sie haben aber den Zusammenbruch des tschechischen Staates nicht verhindern können. Für die gespannten Beziehungen, die gerade an dieser Stelle zwischen Deutschland und der tschechoslowakischen Republik herrschten, ist auch charakteristisch, daß nur einige hundert Meter Verbindungsgleis zwischen der tschechischen und deutschen Eisenbahn fehlten, die niemals gebaut worden sind. Im Sommer 1924 konnten wir mit Rücksicht auf den gesegneten Zustand meiner Frau eine Sommerreise nicht unternehmen. Es war ein Jahr, in das auch ein Herzl-Jubiläum fiel. Zwanzig Jahre waren seit dem Tode unseres großen zionistischen Führers vergangen 68 , und ich hatte zweimal Gelegenheit, eine größere Gedenkrede zu halten. Einmal sprach ich im Breslauer Studentenverein Hatikwah und einmal sprach ich in Bad Salzbrunn. Dort war vor allem der Arzt Dr. Blumenthal die Seele des jüdischen und zionistischen Gedankens. Auch er hat nun schon lange seine Alijah angetreten. Ich bin ihm noch oft in den nächsten Jahren begegnet, da ich häufig in Waldenburg gesprochen habe und Bad Salzbrunn und Waldenburg durch eine Straßenbahn verbunden sind. Diese Gegend bietet überhaupt mancherlei Bemerkenswertes. Hier ist das niederschlesische Industriegebiet, das immer ein Gebiet besonderen Notstandes gewesen ist. Unmittelbar dabei ist dieser schöne Ort Bad Salzbrunn, der Geburtsort von Gerhart Hauptmann, wo der „Fuhrmann Henschel" 6 9 spielt. Ich habe übrigens im gleichen Sommer Salzbrunn und den Fürstensteiner Grund zum Ziel eines Schulspazierganges gemacht. In Fürstenstein gibt es eine alte Burg, die aber gar keine alte Burg ist, sondern eine künstliche Ruine, wie sie der romantische Geist vor hundert Jahren aufzuführen liebte. Das eigentliche Schloß Fürstenstein war damals für Besichtigungen unzugänglich. Wenn man einen Schulspaziergang Die Schlacht bei Nachod am 27. Juni 1866 war der Auftakt des preußischösterreichischen Krieges von 1866. 6 8 Theodor Herzl war am 3. Juli 1904 gestorben. 6 9 Fuhrmann Henschel, eine 1898 uraufgeführte Tragödie G. Hauptmanns. 67
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nach Fürstenstein unternahm, so fuhr man in der Regel bis nach der Stadt Freiburg, die man durchwanderte, um allmählich hinaufzusteigen. An meinem Unterricht im Gymnasium habe ich zusehends Freude gehabt. Dagegen war die Freude an den Kollegen eine erheblich geringere. Ich habe mich soweit wie möglich distanziert, habe auch die Pausen zur Arbeit benutzt und bin den Gesprächen im Lehrerzimmer soweit wie möglich aus dem Wege gegangen. Es lag mir so gar nicht, den Stumpfsinn dieser Gespräche und die häufig sehr rückschrittliche Gesinnung zu ertragen. Die Hauptsache ist aber schließlich bei einem Lehrerdasein nicht das Verhältnis zu den Kollegen, sondern die Beziehungen zu den Jungen, und da habe ich wirklich alle Veranlassung gehabt, mit meinem Berufe zufrieden zu sein. Hier hat mir der Unterricht jede Erfüllung gebracht. Deswegen kann ich auch mit Freude an die nun abgelaufene Zeit meines Lehrerdaseins zurückdenken. Es war immer etwas Schönes, wenn der Strahl des Verstehens in den Augen der Jungens aufleuchtete. Vielleicht haben es die Kollegen auch nicht sehr gern gesehen, daß ich mit den Schülern so gut stand und dadurch fast gänzlich ohne Bestrafungen auskam. Hübsche Spaziergänge habe ich auch häufig mit verschiedenen Klassen nach Wildschütz unternommen. Dieser kleine Ort liegt nördlich von Breslau; man nennt die Gegend etwas anspruchsvoll den schlesischen Spreewald. Es wandert sich auch sehr hübsch in dem Tale der Weide; dann kehrten wir aber auch immer bei einem alten Kriegskameraden von mir ein, der in Wildschütz ein Gasthaus gepachtet hatte. Mit ihm, der in unserer Munitionskolonne Futtermeister gewesen war, stand ich besonders gut. Er freute sich natürlich auch, wenn ich mit einer Klasse bei ihm einkehrte. Die Jungens verzehrten zwar nicht viel, aber Brinkel machen Brot, wie der Schlesier zu sagen pflegt. Wissenschaftlich beschäftigte mich vor allem mein Buch über die Geschichte der sizilischen Flotte unter Friedrich II. 70 Ich hatte mich nach mancherlei Überlegungen nun doch dazu entschlossen, diese Studien, die ich ja seit dem Sommersemester 1908 in Heidelberg betrieb, wieder aufzunehmen und die verschiedenen verstreut erschienenen Arbeiten zur Flotte Friedrichs II. zusammenzufassen und daraus ein Buch zu machen. Die Arbeit daran zog sich noch eine ganze Zeit hin, aber ich kam nun auch wieder dadurch sehr in die exakte Forschung hinein, was
70
Vgl. SV Nr. 198.
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für mein weiteres wissenschaftliches Schaffen, wie ich glaube, sehr gut war. Bei der Flüssigkeit des Stiles, über die ich immer mehr verfügte, bestand die Gefahr, daß ich mich in populären und zusammenfassenden Darstellungen verlieren könnte, aber dieses sehr mühsame Buch über die Flotte Friedrichs II. zwang mich wieder zu genauester Quellenanalyse und intensivster Forschungsarbeit. Unser Privatleben war damals sehr mit dem Warten auf unser Baby ausgefüllt. Es steht zwar in unserer Haggada geschrieben: „Neun Monate die Zeit der Reife sind, die Mutter bringt zur Welt das Kind." 71 Unsere Ruth aber hat sich anscheinend an diese Regel nicht gehalten. Es hat später zu großen Diskussionen unter den zuständigen Gynäkologen geführt, ob wir uns verrechnet hatten oder ob Ruth wirklich länger auf sich hat warten lassen, als die Natur dies vorschrieb. Wie dem auch sein möge, für meine Frau war es nicht ganz einfach, diesen Termin immer weiter hinausgeschoben zu sehen. Alle Vorbereitungen getroffen zu haben und dann doch wieder warten zu müssen. Aber unsere Ruth hat uns durch ihre ganze Entwicklung in den folgenden Jahren mehr als reichlich dafür entschädigt, daß sie nicht ganz pünktlich gewesen ist. Einmal waren wir damals auch bei einem hübschen Fest des Schüler-Gartenbauvereins, bei dem Wölfl ein besonders eifriges Mitglied war. Der Schüler-Gartenbau des Johannesgymnasiums war während des Weltkrieges entstanden, um den Eltern eine kleine Hilfe durch Selbsterzeugung von Lebensmitteln zu geben. Daraus hatte sich eine pädagogisch sehr wertvolle Einrichtung entwickelt. Die Großstadtjungens hatten Gelegenheit, sich etwas landwirtschaftlich zu betätigen, und Wölfl hat besonders gern davon Gebrauch gemacht. Er war ein sehr eifriges Mitglied des Gartenbauvereins und eine Stütze des Leiters, des Lehrers Czeczatka. Das war ein ganz prachtvoller Mann, der leider nun auch schon eine Reihe von Jahren tot ist und es ausgezeichnet verstand, die Jungens zum Gemeinschaftsgedanken zu erziehen. Wir haben für unsere Kinder immer jede Gelegenheit benutzt, um sie vor einer einseitig intellektuellen Entwicklung zu schützen, die sich für uns Juden als besonders gefährlich erwiesen hat. An diesen Gartenbaufesten, die immer die Sommerarbeit des Schrebergärtners abschlössen, haben wir, wenn möglich, stets teilgenommen, um auch den Kindern die Freude der Anteilnahme von seiten des Lehrers und Vaters zu zeigen. Der Winter 1924 zu 1925 setzte mit sehr viel Arbeit ein. Nun erst bekam ich mein Amt als Präsident der Lessing-Loge in vollem Umfang
71
Aus dem Lied „Echad Mi Jodea" der Haggada.
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zu spüren. Gewiß, es machte sehr viel Freude. Ich war immer glücklich, wenn ich eine Sitzung so geleitet hatte, daß ich fühlte, die Brüder nahmen etwas mit. Aber daneben gab es auch viel Verwaltungskram, der weniger erfreulich war. Vor allem störten mich solche Dinge wie Beamtenratssitzungen und dergleichen, in denen sehr viel geredet wurde, ohne daß man das Gefühl hatte, daß viel dabei herauskam. Ich habe die Loge, soweit es eine weitherzige Auslegung der Satzungen irgend zuließ, möglichst nach dem Führerprinzip geleitet, weil ich den Standpunkt vertrat, daß einer eben doch die Verantwortung tragen muß. Ich hielt als Einleitungsvortrag für meine Winterarbeit eine Ansprache, die den Titel hatte: „Aus einer vergangenen Epoche der Toleranz". Hier schilderte ich die Insel Sizilien im Zeitalter der Normannen und Staufer, wie sie mir aus meinen Studien geläufig geworden war 72 . Wenn man ein Gebiet ganz beherrschte, dann konnte man auch darüber einen populären Vortrag halten. Einen wesentlichen Einschnitt im Ablauf jedes meiner Lebensjahre bildete immer der Zyklus der Feiertage im Herbst. Es war das für mich nicht eine äußerliche Angelegenheit, in die Synagoge zu gehen, um dem lieben G'tt einen Anstandsbesuch zu machen. Ich ließ in ernster Selbstbesinnung an den ehrfurchtgebietenden Tagen, dem Neujahrsfest und dem Versöhnungstag, alles das vorübergleiten, was ich im abgelaufenen Lebensjahre erfahren hatte. U n d in diesem Jahr hatte ich gewiß alle Veranlassung, dankbar zu sein, da mir das Schicksal wieder ein neues Glück in meinem Hause beschert hatte; andererseits stiegen damals meine Gebete mit besonderer Inbrunst zum Himmel empor, weil wir ja noch immer auf die Geburt unseres Kindes warteten und recht besorgt waren, warum es sich so verspätete. Damals hat uns der Geheimrat Rosenstein in wundervoller Weise beigestanden. Dieses seltenen Mannes möchte ich an dieser Stelle ein wenig gedenken. Er war der leitende Arzt der gynäkologischen Abteilung des großen jüdischen Krankenhauses, das sich damals auf der Hohenzollernstraße befand. Das Schicksal hat ihm die Arbeitsfähigkeit bis in das höchste Greisenalter gewährt. Es ist ja für einen Mann nicht so wichtig, alt zu werden, als bis zum letzten Augenblicke in dem geliebten Berufe tätig sein zu können. In vorbildlicher Weise hielt auch Rosenstein seine Station in Ordnung, wo er eine Schar junger Ärzte, darunter auch seinen Sohn, ausbildete. Damals war Dr. Max Braun Oberarzt, heute
72
Vgl. SV Nr. 11, 109, 110, 178.
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in New York, der später bis zu seiner Auswanderung lange der Berater meiner Frau gewesen ist. Im Herbst mußte meine Frau schon einmal probeweise in die Klinik. Es entstand damals die so schwerwiegende Frage, ob man die Geburt künstlich einleiten sollte. Aber nachdem einiges versucht worden war, entschied man sich schließlich doch, der Natur ihren Weg zu lassen. Den Standpunkt, nichts zu unternehmen, vertrat auch mein Bruder Franz, der sich sehr treu benahm und uns, soweit es möglich war, gut beriet. Schließlich kam am 11. November nach einer unsagbar schweren Entbindung unsere Tochter Ruth gesund zur Welt. Wir waren sehr glücklich. Auch die Brüder freuten sich sehr an der kleinen Schwester. In den ersten Monaten ihres Lebens hat uns dann die Kleine mancherlei Schwierigkeiten gemacht, da die Ernährung nicht so recht funktionieren wollte. Auf Anraten meines alten Studienfreundes Bruno Leichtentritt, der damals Oberarzt des Professors Stolte war, gaben wir das Kind in die Universitätskinderklinik. Nächst der Güte G'ttes haben wir es der aufopferungsvollen ärztlichen Hingabe Leichtentritts zu verdanken, daß das Kind durchgekommen ist. Sie muß aber doch erfreulicherweise von Haus aus eine gute Erbsubstanz mitbekommen haben, denn sie hat alle diese Schwierigkeiten der Anfangszeit glänzend aufgeholt und ist nun heute schon eine Anzahl von Monaten in Palästina, nachdem sie über ein Jahr eine tüchtige Ausbildung in Dänemark erfahren hatte, die an ihren Körper sehr große Anforderungen stellte. Gerade, wenn ich jene ersten sorgenvollen Monate überblicke, so kommt mir so recht zum Bewußtsein, wie schön, aber auch wie schwer der ärztliche Beruf ist, der nur eines kennen darf, den Kampf um die Erhaltung des Lebens. Niemand kann hinter die Schleier der Natur blicken, niemand kann wissen, ob nicht ein Leben, das man bereits für entronnen ansieht, doch gerade wert ist, gelebt zu werden und das aufholen möchte, was es zuerst versäumt hat. Gerade in die Tage, als wir wegen Ruth am besorgtesten waren, fiel das große Stiftungsfest der Lessing-Loge, das mit so viel Mühe vorbereitet war. Ich hielt es für meine selbstverständliche Pflicht, von meinen privaten Nöten und Kümmernissen nach außen so wenig wie möglich zu zeigen. Das ist eine Grundhaltung, der ich stets bis zum heutigen Tage treu geblieben bin. Ich finde es furchtbar, wenn Menschen andere mit ihrem persönlichen Leide geradezu überschütten. Die hohe Schule des preußischen Beamtentums, durch die ich hindurchgegangen war, hat mich auch hier die Selbstbeherrschung gelehrt. Wo wäre ein großes Lehrerkollegium hingekommen, wenn am Morgen vor Beginn des Unterrichts jeder seine häuslichen Kümmernisse erzählt hätte! Dann hätte ja niemand
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mehr die Stimmung für den Unterricht gefunden. Gewiß braucht der Mensch die Aussprache über das, was ihn bedrückt; aber die Fernerstehenden soll er damit verschonen. Und das, was für den mündlichen Gedankenaustausch gilt, gilt auch für den schriftlichen. Wie trostlos sind Briefe, in denen auch in schweren Zeiten nur Unangenehmes steht. Auch der schwierigsten Situation gegenüber läßt sich ein freundlicheres Licht abgewinnen. Ich war damals an jenem Stiftungsfesttage der Lessing-Loge einem Bruder, dem Diplom-Ingenieur Mach, besonders dankbar, daß er mir in taktvoller und diskreter Form anbot, mich mit dem Auto von der Klinik auf der Tiergartenstraße abzuholen, damit ich auf der einen Seite so lange wie möglich bei dem Kinde bleiben konnte und auf der anderen Seite zurecht kam. Es war nicht so einfach, diese große Festsitzung im großen Saale unseres Logengebäudes auf der Agnesstraße zu leiten und mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht noch viel mehr von den zu haltenden Reden übernommen; so aber war ich ganz froh, daß sich die Arbeit ein wenig verteilte. Abends mußte ich auch noch an einem Festessen teilnehmen, das im Konzerthaus stattfand und das wohl das größte Essen mit ritueller Verpflegung gewesen sein mag, das je in Breslau stattfand. Damals befand sich ja das Judentum in Breslau auf dem Gipfelpunkt seiner Entwicklung, und wer hätte sich träumen lassen, daß in zehn Jahren ein so jäher Abstieg erfolgen würde! Aus meiner Logentätigkeit möchte ich noch die Einführung meines Bruders Franz erwähnen. Es handelte sich um eine Wiedereinführung, denn Franz hatte schon früher zur Lessing-Loge gehört, war aber dann, als er auf dem Weißen Hirsch praktizierte, zur Dresdner Fraternitas-Loge übergegangen. Nun hatte ich die erhebende Aufgabe, den eigenen Bruder wieder einzuführen und die Festrede zu halten. Reden sind mir immer dann besonders gut gelungen, wenn ich mit dem Herzen dabei war. An jenem Abend war das besonders der Fall. Auch in jenem Winter bin ich viel unterwegs gewesen, um auswärts Vorträge zu halten. Die Saison setzte in dieser Beziehung mit einem Vortrag in Liegnitz ein. Ich hatte dort einen ganzen Zyklus über jüdische Geschichte übernommen, so wie ich ihn ähnlich in Militsch gehalten hatte. [...] In Liegnitz sprach ich in der Silesia-Loge unseres Ordens; an der Spitze des geistigen Ausschusses, der diese Vorträge vorbereitete, stand der Justizrat Dresdner, eine sehr feine und gütige Persönlichkeit, die von einem hohen Bildungswillen erfüllt war. Für die irdischen Dinge hat er weniger zu sorgen verstanden. Seine Witwe blieb in keinen allzu guten
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Verhältnissen zurück. Es sind ja häufig die besten Menschen, die keine großen Sammler von Geld sind. Ich habe mir immer, meist noch auf der Rückreise von diesen Vorträgen, Notizen in mein Tagebuch gemacht, um alles frisch festzuhalten. Wenn man wieder in den gleichen Ort kam, so hatten es die Hörer sehr gern, wenn man im Gespräch an die letzte Anwesenheit anknüpfte. Ich las mir dann stets durch, was ich mir beim letzten Mal notiert hatte. Meine Hörer haben dann häufig über mein ungewöhnliches Gedächtnis gestaunt, aber ich glaube, daß diese kleine Gedächtnisstütze, die ich mir selbst gab, keine unrechte Handlung darstellt, zumal ich durch eisernes Training im Laufe der Jahre auch ohne das ein sehr gutes Gedächtnis bekommen hatte und mich rasch an alles erinnerte. Nach diesem ersten Vortrag in Liegnitz machte ich mir eine Notiz über das Jammern der jüdischen Kaufleute über die schlechte Geschäftslage. Im allgemeinen war ich dagegen abgehärtet, denn ich wußte, daß es Ehrensache war, daß ein Kaufmann nie zugab, daß es ihm gutging. In Liegnitz müssen sie wohl besonders gejammert haben, sonst hätte ich es mir nicht angemerkt. Soweit die Kaufleute von damals heute noch am Leben sind, was wohl bei den meisten der Fall sein dürfte, werden sie gewiß in der Rückerinnerung an jene Zeiten in Liegnitz als die goldenen zurückdenken, wenn sie nunmehr draußen in der Welt, schon in vorgerückten Jahren stehend, noch einmal gänzlich neu haben anfangen müssen. Viele Menschen unseres Blutes haben die Distanz zum Geld verloren. Das mag vielleicht einer der Gründe sein, warum uns immer wieder solche Schickungen zuteil werden müssen, die uns zu neuem Anfangen zwingen. Nur mag es leider so sein, daß mancher Bescheidene besonders hart getroffen wird, während mancher Unbescheidene rechtzeitig sein Schäfchen unter Umgehung der Staatsgesetze in Sicherheit gebracht hat. Selbstverständlich sprach ich auch wieder in Militsch; aber auch mancher neue Ort kam hinzu. Hier wäre in erster Reihe Beuthen zu nennen, wo ich einen Vortrag in der Mamreh-Loge hielt. Der Abend wurde von dem Rechtsanwalt Riesenfeld geleitet, an den ich eine angenehme Erinnerung behalten habe. Damals sah ich in Beuthen das erste Mal polnische Zollbeamte. Nach der sinnlosen Teilung Oberschlesiens war Beuthen einer der wichtigsten Übergangsorte nach Polen. Abgesehen von denen, die sogenannte Verkehrskarten besaßen (das waren die Einwohner des Industriegebietes), war es sehr schwer, über die polnische Grenze zu kommen. Der neu entstandene Staat kapselte sich ziemlich hermetisch ab. Auf dem Hauptbahnhof in Beuthen, der damals einem großen Umbau unterzogen wurde, war ein Gleis ganz für den polnischen Verkehr reserviert, der von einem
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Teile Polens nach Lublinitz führte, also wieder nach Polen. Gewaltige Mengen von Beamten wurden dort von beiden Seiten eingesetzt, um den Schmuggel zu unterbinden. Doch ist sicher über diese unnatürliche Grenze besonders viel geschmuggelt worden, zumal es in PolnischOberschlesien sehr wenig gab, was einer höheren Lebenshaltung entsprach und andererseits in Polen die Lebensmittel sehr viel billiger waren. So hatten die Kaffeehäuser in Beuthen, in die ich später noch häufig gekommen bin, schon jenen eigentümlichen Hauch der Grenze und jene etwas fragwürdigen Gestalten, die lieber vom Schmuggel leben als von ernsthafter Arbeit. Kurz darauf war ich wieder in Beuthen, und zwar, um in der dort sehr großen zionistischen Organisation zu Chanukka die Makkabäerrede zu halten. Das ist etwas, was ich stets sehr gerne getan habe. Nie ist mir wärmer ums Herz geworden, als wenn ich bei diesem Feste die Gestalt Juda Makkabis beschwören durfte, der das jüdische Volk zu heldischem Einsatz fortriß. Hier konnte ich ein Bild zeichnen, das sich weit von dem Bilde des Galuth-Juden unterschied. Glücklich war ich, wenn dann unter meinen Hörern recht viel junge Menschen saßen, die den Entschluß faßten, ihr Leben dem arbeitenden Palästina zu widmen, und sicherlich ist heute ein nicht unbeträchtlicher Teil der Jugend von Beuthen drüben im alt-neuen Lande 73 . In Beuthen begegnete ich auch auf meinen Vortragsreisen einer Gestalt aus meiner Jugendzeit. Rabbiner war dort Professor Golinski. Dieser hatte mich einstmals vorübergehend im Johannesgymnasium in Religion unterrichtet, war dann lange Jahre Rabbiner in Pilsen gewesen und nun auch schon wieder eine ganze Zeit Rabbiner in Beuthen, das eine bedeutende Gemeinde hatte und das auch durch seine Rabbinergestalten ein wenig verwöhnt war 74 . Überall sprach man noch von seinem Vorgänger, dem Oberrabbiner Kopfstein, den ich aber selbst nicht mehr gekannt habe. Golinski war ein wortgewaltiger Mann und insofern eine eigenartige Erscheinung, als er zwar religiös-liberal, aber doch Zionist war. Im allgemeinen haben nämlich die liberalen Rabbiner den Zionismus abgelehnt. Golinski hat mit seinem Zionismus auch ernst gemacht, und er ist heute mit seiner Frau in das Judenland heimgekehrt, nachdem seine drei Kinder den Weg vor ihm gegangen sind. Sein Sohn hat uns später Anspielung auf Theodor Herzls zionistisch-utopistischen Roman von 1904 „Altneuland". 7 4 Vgl. den Artikel „Beuthen" in P. Maser und A. Weiser: Juden in Oberschlesien. Teil 1. Berlin 1992, S. 72-86. Die Erinnerungen W . Cohns bringen einige Ergänzungen dazu. 73
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besonders schön durch die Altstadt Jerusalems geführt. In Beuthen also wehte ein besonders lebhafter jüdischer Pulsschlag, und auch heute noch, im Jahre 1941, ist dort eine nennenswerte Gemeinde geblieben. Jene Chanukkafeier fand in dem größten Hotel Beuthens, im Kaiserhof, statt, w o ich auch wohnen konnte, da der Vortrag auf das Wochenende gelegt war. Ein anderes Mal sprach ich in jenem Winter in der dritten der oberschlesischen deutsch gebliebenen Industriestädte, in Hindenburg oder, wie es früher hieß, Zabrze 75 . Dieser O r t war allmählich aus einem Dorf in eine große Stadt hineingewachsen und bestand im Grunde nur aus einer einzigen riesenhaften Straße, der Kronprinzenstraße, um dann in Halden überzugehen. Auch hier habe ich wie überall, wenn nur irgend etwas Zeit übrig blieb und ich nicht schon am Abend zur Bahn stürzen mußte, versucht, einen Eindruck mit nach Hause zu nehmen. Man brauchte in Hindenburg nur eine knappe halbe Stunde zu gehen, um am Schlagbaum der polnischen Grenze zu stehen. Den Menschen, die in dieser ziemlich trostlosen Gegend werkten, blieb meist nur die Flucht in den Alkohol, von dem der Oberschlesier leider einen sehr umfangreichen Gebrauch macht. Aber was sollten die tun, denen kaum die Möglichkeit zu einem Spaziergang übrig blieb? Vom jüdischen Gesichtspunkt aus gesehen war die Gemeinde Hindenburg lange nicht das, was Beuthen bedeutete. Aber auch hier lernte ich eine sehr interessante Rabbinerpersönlichkeit kennen, Dr. Saul Kaatz, der nach dem Tode Kopfsteins der Oberrabbiner von Oberschlesien war 76 . Er war ein bedeutender Talmudist, betätigte sich aber darüber hinaus auch als jüdischer Schriftsteller, und eine Schrift von ihm, „Alter Vogel", besitze ich, die ich immer wieder mit Freude und Anteilnahme gelesen habe 77 . Der abgeklärten Ruhe dieses Rabbiners, dem ich später noch öfters begegnet bin, verdanke ich menschlich sehr viel. Wie oft haben wir Spaziergänge über die Kurpromenade von Kudowa gemacht, wie oft haben wir dort zusammen gebetet. Er hat auch trotz persönlicher Schicksalsschläge nach 1933 in wundervoller Weise die Haltung bewahrt. Wenn man ihn fragte, wie es ihm ging, dann brach er nicht in das übliche Jammern aus, das so schwer auf die Nerven fällt, sondern dann sagte er immer still und bescheiden: „Noch besser, als ich es verdiene". Zweiter 75
Zabrze wurde 1915 in Hindenburg umbenannt, eine Ehrung für den Feldmarschall und Sieger von Tannenberg im Ersten Weltkrieg. 1945 erhielt es wieder den alten Namen. 76 Saul Kaatz (1870-1942) war seit 1895 orthodoxer Rabbiner der Gemeinde Hindenburg/Oberschlesien, bis er 1942 deportiert und ermordet wurde. 77 S. Kaatz: Alter Vogel. Eine jüdische Novelle. Berlin 1919.
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Rabbiner in Hindenburg war damals Dr. Victor, den ich von Breslau her kannte und der leider sehr früh einer Krankheit erlegen ist. Selbstverständlich konnten diese häufigen Vortragsreisen, die auf der anderen Seite immer eine große Entspannung bedeuteten, mich nicht von meiner wissenschaftlichen Arbeit entfernen. Ich schrieb weiter an dem Buch über die Flotte Friedrichs II., von dem ich schon sprach. Ich hatte in diesem Winter aber auch die große Freude, daß das Hohenstaufenbuch auch buchhändlerisch ein Erfolg war und uns manche Sorge erleichterte. Auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte beschäftigte ich mich mit der Gestalt des Staatsrats von Dohm, der in der Zeit Moses Mendelssohns ein eifriger Vorkämpfer der Emanzipation der Juden gewesen ist. Ich hatte die Absicht, die ich auch noch lange Jahre später verfolgte, sein Hauptwerk „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" 7 8 , das seit vielen Jahrzehnten gänzlich vergriffen war, neu herauszugeben. Es hat sich aber kein jüdischer Verleger gefunden, der den Mut dazu gehabt hätte. Diese Arbeit an der Gestalt Christian Wilhelm von Dohms, die ihren Niederschlag in zahlreichen kleineren Arbeiten fand 79 , brachte mich auch in Korrespondenz mit einer der damals führenden Gestalten der jüdisch-amerikanischen Geschichtsforschung, dem Rechtsanwalt Kohler in New York. Dohm war in eine sehr interessante Korrespondenz mit den Juden von Paramaribo, der Hauptstadt von Niederländisch-Guyana (Surinam), gekommen. Dort hatte sich ein Teil des sephardischen Judentums, das aus Spanien über die Niederlande gekommen war, angesiedelt. Durch diese Korrespondenz mit den Juden Südamerikas war Dohm auch ein Gegenstand der jüdisch-amerikanischen Geschichtsforschung geworden. Rechtsanwalt Kohler schickte mir auch mehrere Bände eines sehr wichtigen amerikanischen jüdisch-geschichtlichen Jahrbuches zu, von dem ich auch nach seinem frühen Tode noch einige Bände erhalten habe. Damals korrespondierte ich auch mit Kohler über eine Vortragsreihe in den Vereinigten Staaten, aus der aber nichts geworden ist, obwohl sonst eine ganze Reihe von Juden aus Deutschland drüben gesprochen haben. Ich weiß auch nicht, ob meine Art in die Vereinigten Staaten gepaßt hätte. Ich hätte auch in englischer Sprache sprechen müssen. Doch bewunderte ich, wie sehr auch die amerikanische Wissenschaft hier exakt zu arbeiten
Christian Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Bände. Berlin und Stettin 1781-1783. 7 9 Vgl. SV N r . 168, 227, 323, 343, 478. 78
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verstand, was nicht auf allen Gebieten stets in gleicher Weise der Fall war. Eine interessante Persönlichkeit lernte ich auch in Breslau in der Gestalt des Grafen Keyserling kennen. Dieser Graf war ein Vetter des Verfassers der „Abendlichen Häuser", eines Buches, das ich sehr oft gelesen und immer geliebt habe 80 . Die Keyserlings sind baltischer Adel und stehen an der Grenze zweier Welten. Ein anderer Vetter war jener Graf, der die berühmte Schule der Philosophie in Darmstadt geleitet hat 81 . Damals hatte ich auf Wunsch des Direktors Gabriel den Sohn dieses Grafen zu prüfen. Er war eigentlich der zweite Mann mit diesem Titel, der in mein Leben eintrat. Der andere war ein Graf Hardenberg, den ich eigentlich bei der Schilderung meiner Kriegserlebnisse hätte erwähnen müssen. Er war längere Zeit Kommandeur der Staffel 26, der die Munitionskolonnen unterstanden. Er war ein Abkömmling des berühmten Staatskanzlers von Hardenberg. Dieser Graf, der an sich ein alter Herr war, hatte oft den merkwürdigen Wunsch, mit mir zusammenzusein, und wir haben uns trotz des gewaltigen Abstandes auch am militärischen Range gut verstanden. Aus seiner Absicht, mir später die Archive seines Hauses zu öffnen, ist nichts geworden; ich habe auch seine Spur verloren. An literarischen Plänen faßte ich damals den Entschluß, nunmehr eine Jugendschrift über Friedrich Engels zu schreiben. Den Plan habe ich auch durchgeführt, und die Schrift ist später im Volkswachtverlag erschienen 82 . Die Gestalt von Engels hat mich immer deswegen besonders gefesselt, weil er mit unendlicher Freundestreue Karl Marx gefördert hat. Manchmal hatte man schon den Eindruck, daß Marx diese Freundschaft über Gebühr ausgenützt hat. Es war auch eigenartig, diese Freundschaft zwischen einem Juden und einem Arier zu verfolgen, zwei Menschen, die in jeder Beziehung einen Gegensatz bildeten und sich doch ergänzten. Diese Studien, die ich für meine kleinen sozialistischen Biographien machte, fanden auch ihren Niederschlag, abgesehen von dem schriftlichen Ausdruck, in Vorträgen. So sprach ich zum Beispiel im Humboldtverein über Robert O w e n und versuchte, meine Hörer für diese edle Gestalt zu erwärmen.
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E d u a r d Graf Keyserling: Abendliche Häuser. Berlin 1914. H e r m a n n Graf Keyserling (1880-1946), gründete 1920 in Darmstadt eine „Schule der Weisheit", deren Tradition seitdem von der Keyserling-Gesellschaft f o r t g e f ü h r t wird. 82 Vgl. SV N r . 179. 81
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Natürlich konnte man nicht ununterbrochen produktiv tätig sein, sondern bemühte sich auch, an dem Kulturleben Breslaus teilzunehmen. Die Juden gehörten stets zu denen, die hier in unserer alten Oderstadt die eifrigsten Besucher von Vorträgen und Konzerten waren. Ich habe bei der starken Belastung nicht allzuviel rezeptiv in mich aufnehmen können. So hörte ich unter anderem damals einen Vortrag von Thomas Mann über Goethe und Tolstoi, der mir aber sehr wenig gefallen hat. Thomas Mann las auch alles, was er sagte, ab. Schon das störte mich sehr, denn „eine Rede ist keine Schreibe". Damals war Thomas Mann die große Mode. Es war mir immer interessant festzustellen, wie stark die Menschen von dem jeweiligen Urteil abhängen, das zur Zeit üblich ist. Ich habe übrigens die darstellerische Kunst von Thomas Mann bewundert; aber aus allen seinen Werken die müde Dekadenz herausgespürt, am stärksten aus dem Zauberberg 8 3 . [...] Mit höchstem Interesse verfolgte man auch all das, was sich in der größeren Umwelt vollzog. So hat zum Beispiel der frühe Tod des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert auf mich einen großen Eindruck gemacht 8 4 . Auch Ebert gehört zu den Persönlichkeiten, denen spätere Geschichtsforschung sicherlich gerecht werden wird. Damals tobte um ihn ein gewaltiger Kampf. Vielleicht ist sein früher Tod darauf zurückzuführen, daß er sich nicht rechtzeitig operieren ließ, weil er sich nicht nachsagen lassen wollte, in einem der Verfahren, die man anhängig machte, um ihn zu diskreditieren, nicht als Zeuge zu erscheinen. Sicherlich ist Friedrich Ebert ein Mann von reinstem Wollen gewesen. Uber seine Fähigkeiten für sein Amt soll hier nichts gesagt werden, aber charakterlich ist sicher nichts gegen ihn einzuwenden gewesen. Was dieser Mann getragen hat, auch das dürfte erst später einmal gerecht dargestellt werden. Man fühlte nunmehr, und das zeigte dann auch die sehr umkämpfte Wahl von Hindenburg, wie sehr die Rechte in Deutschland allmählich an Boden gewann 8 5 . Aber ich will den selbstgesteckten Rahmen der persönlichen Erinnerungen nicht sprengen. In meinen engeren Amtskreis trat der Tod an den Professor Ries heran, der auch einstmals mein Lehrer gewesen war und der sehr früh einem Krebsleiden erlag. An der Beerdigung eines aktiven Lehrers nahm die Schule feierlich Anteil; aber ich habe mir oft Gedanken darüber Th. Mann: Der Zauberberg, Roman von 1924. Ebert starb am 28. 2. 1925 im Alter von 54 Jahren. 8 5 In der Reichspräsidentenwahl vom 26. 4. 1925 gewann mit Hindenburg der Kandidat der Rechtsparteien. 83
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gemacht, ob es richtig ist, jugendlichen Menschen bei aller Pietät gegen den verstorbenen Lehrer solche Eindrücke zu vermitteln. [...] Das erste Vierteljahr des neuen Jahres 1925 brachte auch in der Schule verstärkte Arbeit. Ich habe fast regelmäßig in den Abiturientenklassen unterrichtet und bin dadurch auch stets bei den Reifeprüfungen beschäftigt gewesen. Das bedeutete ein erhöhtes Maß von Verantwortung. Aber man hatte auch ein stolzes Gefühl, wenn es ordentlich klappte und die jungen Leute ihre Sache gut machten. Dabei habe ich es übrigens immer vermieden, vorher eingedrillte Dinge vorzuführen. Das wurde von den Kollegen gänzlich verschieden gehandhabt. Mancher hatte so eine mündliche Prüfung bis ins einzelnste vorbereitet, so daß sie nachher wie eine Walze abrollte. Ich fand dieses Verfahren immer ziemlich lächerlich, zumal es auch klar war, daß der Schulrat es merkte. Mir kam es mehr darauf an, zu zeigen, was die Schüler wirklich gelernt hatten, als dem Vorgesetzten Sand in die Augen zu streuen. Der Unterricht in der Abiturientenklasse erforderte aber auch ein gewisses Maß von Einfühlung in die Seelen der jungen Menschen, die natürlich schon Monate vor der Prüfung ziemlich aufgeregt waren. Überhaupt kann man über den Sinn dieser Prüfung der verschiedensten Meinung sein. Doch habe ich auch bei eifrigstem Nachdenken darüber keinen Ausweg gefunden, wie man sie entbehren könnte. Auch das Leben ist ja eine fortgesetzte Prüfung, die uns nicht erspart bleibt. Schließlich hängt wohl alles davon ab, wie man die Prüfung im einzelnen handhabt und ob man sie wohlwollend oder sadistisch betreibt. Auch muß man schon in der Vorbereitung seine Nerven zusammenhalten, um diese Ruhe auch auf die Schüler ausstrahlen zu lassen. Im Grunde habe ich sehr gern bei den Abiturienten unterrichtet und mich darüber gefreut, daß mich der Direktor so verhältnismäßig früh zu dieser verantwortungsvollen Arbeit heranzog. Es hatte sich auch hier die pädagogische Auffassung sehr geändert. Früher war es üblich, daß nur die ältesten Professoren Jahrzehnte hindurch in der Oberklasse unterrichteten und die jüngeren niemals drankamen. Sicher war es besser, wenn man auch die Schüler der Oberstufe mit den Lehrern in Verbindung brachte, die frisch waren, und auch von der Universität neue Methoden und neue Ideen mitbrachten. Manchmal habe ich von meinen fünfundzwanzig Unterrichtsstunden den größten Teil auf der Oberstufe gegeben. Es war für mich auch eine große Freude, daß mein ältester Sohn, nachdem er die Vorbereitungsschule des Herrn Goedeke hinter sich hatte, das Johannesgymnasium besuchte und dort sehr gut mitkam. Denn für einen Lehrer ist es reichlich unangenehm, wenn der eigene Sohn in
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der Schule schlecht steht. Manchmal haben es deswegen auch Kollegen vorgezogen, ihre Söhne auf ganz andere Schulen zu schicken. Auf einer Vortragsreise lernte ich nun auch das damalige polnische Oberschlesien kennen, nachdem ich im deutschen Oberschlesien mehrfach gewesen war, und auch noch in diesem Winter an einer Sitzung des oberschlesischen Logenverbandes teilgenommen hatte. Dabei hatte ich die Anregung zu einer Gründung einer jüdischen Volkshochschule für Oberschlesien gegeben, auch Pläne dafür ausgearbeitet. Daraus ist dann später nichts mehr geworden, obwohl hier sicherlich ein weites Betätigungsfeld vorhanden gewesen wäre. Das deutsche Judentum konnte sich aber selten dazu entschließen, für eine Idee wirklich größere O p f e r zu bringen. Doch will es mir scheinen, als ob die geistigen Werte die wichtigsten wären, die wir nun auf unsere Wanderung mit hinausnehmen können. Wenn man in Beuthen den polnischen Bahnsteig betrat, so kam man in eine andere Welt. Da das nun auch alles der Vergangenheit angehört, so lohnt es sich vielleicht, es etwas ausführlicher zu schildern. Ich bin in meinem Leben über manche Grenzen gekommen. Die polnische Zollkontrolle aber zeichnete sich durch besondere Genauigkeit aus. Der polnische Staat erlaubte damals nicht einmal die Einfuhr von Apfelsinen und ähnlichem. Sehr mannigfaltig waren auch die Eindrücke, die man in Kattowitz selbst empfing. Das Straßenbild war vom polnischen Militär beherrscht. Solche Eindrücke waren wir in Deutschland schon lange nicht mehr gewöhnt, nachdem durch den Versailler Vertrag nur ein Heer von einhunderttausend Mann unterhalten werden durfte. In Kattowitz war aber alles voll von Soldaten. Besonders fielen mir die Offiziere mit ihren langen Kavalleriesäbeln auf, deren militärischer Wert doch gleich Null war. Gewiß soll man sich hüten, wenn man nur wenige Tage in einem Lande ist, ein Endurteil zu fällen. Aber immerhin kann man schon bei aufgeschlossenem Sinn einiges beobachten. Dazu gehört nun vor allem der Eindruck, daß die Eleganz nur nach der Straßenseite war. Ich wohnte im Savoy-Hotel, das noch aus der deutschen Zeit her bestand. Wohl befand sich im Zimmer ein Waschtisch mit fließendem Wasser, aber er funktionierte nicht. Im Straßenbild fiel einem die große Ärmlichkeit der Bevölkerung auf, wie überhaupt der Klassengegensatz stärker in Erscheinung trat, als im deutschen Oberschlesien. O b das daran lag, daß der neue Staat arm war oder ob es eben den östlichen Menschen an dem Sinn für Akkuratesse mangelt, soll hier nicht mehr untersucht werden. Es war übrigens damals ziemlich viel fremdes Geld
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nach Oberschlesien hineingekommen, so hatten die Amerikaner eine sehr schöne Straßenbahn von Kattowitz nach Sosnowice gebaut, während die Straßenbahn, die nach Deutsch-Oberschlesien führte, in einem ziemlich kläglichen Zustande war. Ich bin noch sehr häufig in Kattowitz gewesen, und das hing damit zusammen, daß ich mit dem geistigen Leiter der Concordia-Loge, mit Dx. Otto Aronade und seiner Frau, in ein aufrichtiges freundschaftliches Verhältnis kam. Das waren Menschen, wie man sie selten findet, die sich bemühten, einem das Leben auf einer immerhin anstrengenden Vortragsfahrt so angenehm wie möglich zu bereiten. Durch die Gespräche mit Dr. Aronade habe ich mancherlei erfahren, was mir für die Kenntnis der Seele eben auch unserer östlichen Glaubensbrüder von großer Bedeutung war. Dr. Aronade war ein überaus beschäftigter jüdischer Kinderarzt, zu dem die Frauen mit ihren Kindern von weither kamen. Nachdem nun die andere kongreßpolnische Grenze gefallen war, kamen sie auch aus dem ehemalig russischen Polen, so zum Beispiel aus Bendzin. Man wußte natürlich dort, welchen Betrag der Arzt für seine Konsultation nahm, im übrigen einen sehr bescheidenen Betrag, und man hatte sich auch diesen Betrag eingesteckt, und doch versuchte man, in jedem Falle den Betrag zu drücken. Und so war es für den Arzt, wenn er bestehen wollte, geradezu gräßlich, wenn er mit diesen Frauen um jeden Zloty ringen mußte. Es war auch nicht so einfach, diesen Menschen die Grundsätze der modernen Hygiene beizubringen und ihnen klarzumachen, daß ein Säugling vor allem frische Luft und Reinlichkeit brauchte. Nach Kattowitz strömten die Ostjuden nun in großen Massen hinein, und es war doch keineswegs abzuleugnen, welche gewaltigen Unterschiede in Lebensauffassung, Sitte und Zivilisation zwischen ihnen und den Westjuden herrschten. Kattowitz war eine angesehene deutschjüdische Gemeinde gewesen, und wenn auch nach der Trennung von Oberschlesien viele wegzogen, so sind doch viele noch geblieben 86 . Die Verhandlungssprache der Loge und auch des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, in dem ich noch später sprach, blieb deutsch. Es bemühten sich auch die Alteingesessenen, die deutsche Akkuratesse beizubehalten. Für den Rabbiner war es nun außerordentlich schwer, seine Stellung in diesen so weit auseinanderklaffenden Lebensanschauungen zu halten und die Einheit der Gemeinde zu wahren. Die Ostjuden waren Vgl. den Artikel „Kattowitz" bei P. Maser und A. Weiser: Juden in Oberschlesien, S. 107-121. Dort nur knappe Angaben über die Rabbiner. 86
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zum Beispiel nicht gewöhnt, daß der Rabbiner, wie das in Deutschland üblich war, ein festes Gehalt erhielt, wodurch er von der Masse der Gemeinde unabhängig war. Damals war Dr. Louis Lewin in Kattowitz Rabbiner, mit dem ich später sehr befreundet war, als er in Breslau Rabbiner an der Abraham-Mugdan-Synagoge wurde 87 . Louis Lewin war ein bekannter jüdischer Historiker, im besonderen Spezialist für die Geschichte der Juden in Posen, über die er sehr saubere und fleißige Arbeiten geliefert hat 88 . Bevor er nach Kattowitz kam, hatte er in der Provinz Posen amtiert, im besonderen in Pinne. Er brachte für Kattowitz auch schon eine gewisse Kenntnis der Menschen des Ostens mit; aber übermäßig wohl hat er sich dort nicht gefühlt. Sein Nachfolger wurde später ein Zögling des Breslauer Rabbinerseminars, Chameides, der über die polnische Muttersprache verfügte, denn die polnische Regierung legte Wert darauf, daß zweisprachig amtiert wurde. In Kattowitz prallten natürlich diese Gegensätze zwischen Ost- und Westjuden besonders aufeinander. Die Ostjuden nahmen die deutschen Juden vom jüdischen Standpunkt aus nicht für voll, während die Westjuden den Ostjuden wieder ihre mangelnde Zivilisation vorwarfen. Unter den Ostjuden sah man im Straßenbilde doch häufig patriarchalische Gestalten, die gewissermaßen aus einem Holz geschnitzt waren und nicht zwischen zwei Welten standen, wie das bei uns der Fall war. Aber andererseits kam man eben über die äußeren Gegensätze schlecht hinweg. Sicher ist es, daß ein oder zwei Tage Aufenthalt im polnischen Oberschlesien auch jüdisch mehr Kenntnisse vermittelten, als man sie sich aus Büchern in langen Jahren erwerben konnte. Ich sprach dann auch noch in dem Kattowitz benachbarten Königshütte oder, wie es polonisiert hieß, in Krölewska Huta 8 9 . Hier arbeitete die Michael-Sachs-Loge, die keinen so großen Kreis umfaßte wie die Concordia-Loge in Kattowitz. Rabbiner dieser Gemeinde war damals Dr. Goldschmidt, der aber auch nicht mehr lange in Königshütte blieb, sondern nach Breslau übersiedelte, wo er vor allem Religionslehrer Rabbiner Louis Lewin emigrierte 1937 nach Isreal, w o er 1941 starb. Louis Lewin schrieb beispielsweise: Aus der Vergangenheit der jüdischen Gemeinde Pinne. Pinne 1903; Ders.: Geschichte der Juden in Lissa. Pinne 1904; Ders.: Die Landessynode der großpolnischen Judenschaft. Frankfurt a. M. 1926. 8 9 Als Königshütte 1921 dem polnischen Staat zugewiesen wurde, führte die Stadt zunächst ihren Namen in polonisierter F o r m weiter: Krölewska Huta. Den heutigen polnischen Namen C h o r z ö w erhielt Königshütte im Jahr 1934. 87
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wurde. Vielleicht ist das Schicksal dieses Mannes auch wert, aufgezeigt zu werden. In Königshütte hatte er eine nennenswerte Gemeinde 90 , die auch an ihm hing, zumal er über beachtliche rednerische Fähigkeiten verfügte. Aber er wollte sich nicht wie so viele deutsche Juden polonisieren und ging deswegen nach Breslau. Hier aber, wo es schon eine Anzahl Rabbiner gab, kam er nun nicht mehr in eine führende Stellung, und das Dasein als jüdischer Religionslehrer der damaligen Zeit ist in jeder Beziehung ein unerfreuliches gewesen. Ich hatte mit Goldschmidt dann auch am Johannesgymnasium zusammen amtiert, wo er sich aber nicht recht durchzusetzen vermochte. Er hat mir oft leid getan, und ich konnte ihm schließlich doch nicht helfen. So ist auch Goldschmidt wie so mancher andere Jude ein Beweis der Treue für Deutschland. Von Kattowitz nach Königshütte war ich mit der Straßenbahn gefahren, und auch von Königshütte fuhr ich auf der Rückreise nach Beuthen mit der Straßenbahn. Das wäre an sich nichts Bemerkenswertes, wenn nicht die Grenze mitten über die Landstraße gelaufen wäre. So mußten wir am polnischen Zollhaus aus der Straßenbahn heraus, im Zollhaus die Ausgangskontrolle über uns ergehen lassen; inzwischen fuhr die Straßenbahn ein paar Schritte weiter, und dann folgte im deutschen Zollhaus die erneute Paßrevision. In Polen mußte man sich übrigens, wenn man auch nur einen Tag länger im Lande blieb, bei der Polizei anmelden. Aber gegen ein Trinkgeld von einem Zloty an den Hausmeister des Hotels erledigte dieser den Gang zur Polizei. Es war sehr unangenehm, wenn man bei der Ausreise aus Polen diesen Stempel nicht im Paß hatte. Auf einer späteren Vortragsreise ist mir das einmal passiert. Es gab dann sofort ein langes Protokoll an der Grenze, das mich den deutschen Anschlußzug kostete. Es war übrigens das einzige Mal, daß ich durch eine Vortragsreise zu spät in die Schule kam. Der polnische Staat hatte gewisse Methoden vom alten russischen Staat übernommen. Dazu gehörte auch das Mißtrauen gegen jeden ausländischen Reisenden. Nun sind ja diese Grenzen zunächst wieder alle gefallen. Beuthen, das damals eine Grenzstadt war, ist nun in dem sehr erweiterten Reichsgau Oberschlesien eine Stadt mitten im Lande geworden 91 .
Vgl. den Artikel „Königshütte" bei P. Maser und A. Weiser: Juden in Oberschlesien, S. 122-125. 91 Durch Gesetz vom 20. 12. 1940 war mit Wirkung vom 1. 4. 1941 eine eigene weit nach Osten ausgedehnte Provinz Oberschlesien geschaffen worden. Auch Auschwitz lag jetzt innerhalb der neuen oberschlesischen Grenzen. 90
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Für diese Reisen war ich immer sehr dankbar. Sie haben meinen Gesichtskreis außerordentlich erweitert und haben mir auch für den Unterricht viel genützt. Man konnte das dann alles ganz anders vortragen, wenn man es selbst gesehen hat. Bei der materiell guten Lage des oberschlesischen Judentums war die Honorierung eine sehr ordentliche. Damals habe ich mir von dem Erlös der Reise einen neuen Anzug kaufen können, den ersten Anzug seit langen Jahren. Wir hatten es damals materiell ziemlich schwer, da wir ja auf der Wölflstraße an sich eine breite Lebenshaltung führten. Ich hing sehr an dieser Wohnung und wollte nicht ausziehen; andererseits hatten die Entbindung und die Krankheiten große Summen verschlungen, die nun alle erarbeitet werden mußten. Es waren übrigens die gleichen Zeiten, in denen die ewig jammernden Kaufleute sehr breit verdienten (und wir hatten viel Kaufleute in den Familien), doch haben wir es stets abgelehnt, uns an jemanden zu wenden und haben uns bemüht, selbst durchzukommen. [...] In der Wissenschaft ging nun die Fertigstellung des Manuskriptes über die sizilische Flotte unter Friedrich II. ihrem Ende entgegen. Als Sekretärin hatte ich damals Fräulein Alice Schnell, die Schwester eines Schülers, die ihre Sache ganz ausgezeichnet machte. Die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft hat mir zur Drucklegung jenes Buches einen erheblichen Zuschuß gegeben. Ursprünglich sollte auch dieses Buch im Verlage von M. & H. Marcus erscheinen; aber ich hatte damals eine Differenz mit Theodor Marcus, und so kam das Buch in den Kommissionsverlag von Priebatsch 92 . Mein Freund Friedrich Gräfe und ein pensionierter Beamter im Reichsmarineamt, der Rechnungsrat a.D. Voigt, haben mir bei der letzten Durchfeilung des Manuskriptes besonders wertvolle Hilfe geleistet, für die ich außerordentlich dankbar war. In den wissenschaftlichen Kreisen des Reichsmarineamtes war ich durch meine früheren Arbeiten seit langem bekannt. Ich hatte auch noch eine andere sehr große wissenschaftliche Freude. Ohne daß ich das Geringste dazu getan hatte, schrieb eines Tages die „Società di Storia Patria", um das Übersetzungsrecht für mein Buch „Das Zeitalter der Hohenstaufen in Sizilien" zu erwerben. An der Spitze dieser Gesellschaft stand damals der Professor Casagrandi in Catania, den ich zwei Jahre später auch persönlich kennenlernte. Ich freute mich natürlich
92
Vgl. SV Nr. 198.
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über diesen Erfolg außerordentlich, der eine Anerkennung des Wertes des Buches in sich schloß. Aber mein Verleger Theodor Marcus goß Wasser in den Wein. Er sah dieses Angebot lediglich vom geschäftlichen Standpunkt aus an und fürchtete von dem Erscheinen der italienischen Ausgabe eine Schädigung des Absatzes der deutschen. Ich war natürlich über diesen Standpunkt außerordentlich entsetzt. Es mag dies mit zu einer gewissen Entfremdung zu Marcus geführt haben, die sich aber in späteren Jahren wieder ausglich. Bei meinen wissenschaftlichen Büchern habe ich fast niemals an den materiellen Verdienst gedacht; dazu stand mir die Wissenschaft zu hoch. Da die Italiener sehr langsam arbeiten und in Sizilien besonders alles seine Zeit haben will, hat sich die Übersetzung des Buches sehr lange hingezogen. Erst 1932 ist die italienische Ausgabe erschienen, die mit schönem Bilderschmuck ausgestattet war, auch buchhändlerisch einen Erfolg bedeutete 93 . Das Buch sollte ein Handbuch der Heimatgeschichte für die sizilischen Studenten sein und hat wohl auch als solches seinen Weg gemacht. Die Ubersetzung ist von Professor Libertini, dem Archäologen der Universität Catania, besorgt worden, mit dem mich seitdem eine enge wissenschaftliche Freundschaft verbindet und mit dem ich 1927 bei meinem Aufenthalt in Sizilien sehr viel zusammen war. Auf Grund dieses Buches bin ich dann korrespondierendes Mitglied der Gesellschaft in Catania geworden. Aber nun gehört auch dieses längst der Vergangenheit an, auch wenn ich hoffen will, daß meine jahrzehntelange Arbeit um die Erforschung der Geschichte Siziliens auch später einmal anerkannt werden wird. Trotz der Judengesetzgebung Italiens ist die briefliche Fühlung mit den Gelehrten Catanias erhalten geblieben, wenn wohl auch das Buch jetzt kaum noch verkauft werden darf. Einmal machte ich in jenem Winter mit meiner Frau und mit Wölfl, der ein sehr guter Läufer war, einen schönen Wochenendausflug nach dem Zobten. Für jeden Breslauer hat ja der alte Zotaberg eine besondere Anziehung 94 . Wir übernachteten damals in Silsterwitz in einem Erholungsheim der Breslauer Landkrankenkasse, wo wir uns sehr wohl fühlten. Am nächsten Tage wanderten wir über Tampadel nach den alten Steindenkmälern Bär und Jungfrau und dann weiter nach Gorkau. Für Wölfl war das alles eine neue Welt. Er hat schon frühzeitig Freude und
Vgl. SV N r . 379. Der beliebte Ausflugsberg der Breslauer wurde seit je von den schlesischen Dichtern (Karl von Holtei, Paul Keller) als Zotaberg, Zutaberg besungen. 93
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Gefallen an der Natur gehabt. Wie schön ist die Luft in den Zobtenwäldern, jenem alten Vulkangebiet, das dem Forscher die mannigfachsten Aufgaben stellt, sowohl dem Geologen als auch dem Historiker. Im April 1925 feierte die Arbeiterschaft der Welt den hundertsten Geburtstag Ferdinand Lassalles. Da ich, wie schon erwähnt, eine kleine Biographie über ihn geschrieben hatte und er mir seit Jugendzeit innerlich nahestand, lag es auf der Hand, daß ich auch jetzt sowohl rednerisch wie mit der Feder hervortreten mußte. Ich hatte eine besonders große Anzahl Gedenkartikel zu schreiben, und zwar für jüdische Zeitungen wie für allgemeine sozialistische Blätter95. Die Artikel machten mir auf der einen Seite eine große Freude, andererseits war es nicht ganz so einfach, immer wieder für mehr oder weniger dieselben Gedanken eine andere Form zu finden. Einmal, als die Zeit besonders drängte, hat sogar meine Frau, die sich in meinen Stil sehr gut hineingefunden hatte, mir das Schreiben eines Artikels abgenommen. Die Breslauer Arbeiterschaft hat den hundertsten Geburtstag des Begründers des deutschen Sozialismus, der ja hier zur Welt gekommen war, in großem Maßstab gefeiert. Die Festrede im Breslauer Gewerkschaftshaus hielt der Universitätsprofessor Gustav Mayer. Dieser hatte sich um die Lassalleforschung dadurch besondere Verdienste erworben, daß er den Nachlaß des Agitators in großen umfassenden Bänden herausgab 96 . Als Festredner war er weniger glücklich gewählt. Er besaß durchaus nicht die Fähigkeit, auf die Massen zu wirken; aber man wollte bei dieser Gelegenheit eben einen sogenannten Namen auf dem Katheder paradieren sehen, etwas, was häufig einen Mißgriff bedeutet. Ein gewaltiges Erlebnis war der Gang der Breslauer Arbeiterschaft zum Grabe Ferdinand Lassalles auf unseren jüdischen Friedhof an der Lohestraße. Dieser feierlichen Demonstration waren sorgsame Verhandlungen mit der Synagogengemeinde vorausgegangen. Mit Recht stellte sich die Gemeinde auf den Standpunkt, daß auf dem Friedhof keinerlei Reden gehalten werden dürften und daß die Massen nur schweigend an dem Grabe vorübergehen durften. Die Verabredung ist auch getreulich eingehalten worden, und nur außerhalb des Friedhofs wurde eine kleine Rede gehalten. Anläßlich dieses Tages war auch am Grabe Lassalles die Holztafel entfernt worden, die sonst sein Bildnis verkleidet. Nach jüdischer Auffassung darf auf einem Friedhof kein Bild angebracht werden. Als es vor Jahrzehnten an diesem Grabe eben doch angebracht wurde, hat 95
Vgl. SV Nr. 186-188. F. Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften. Hg. v. G. Mayer. 6 Bde. Stuttgart 1921-1925. 96
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man dann von jüdisch-religiöser Seite her darauf bestanden, daß es mit Holz verkleidet wurde. Nun wurde es für die Zeit des Vorbeimarsches der Massen gezeigt. Seitdem ist es bis auf den heutigen Tag stets verhüllt geblieben. Durch die engen schmalen Gänge des alten Teiles unseres ehrwürdigen Friedhofes zogen so schweigend und still die Breslauer Arbeiter. Man hatte den Zug so gelenkt, daß er auch noch an dem Grabe des jungen Schottländer vorbeikam, der in den Tagen des Kapp-Putsches ermordet worden war 97 . Heute wird das Andenken an Ferdinand Lassalle im deutschen Volke nicht mehr gepflegt. Was sich auch immer gegen ihn sagen läßt, manche seiner Gedanken haben doch in der Gegenwart eine Auferstehung gefunden. Mein Logenpräsidentenjahr ging seinem Ende entgegen, und ich war fest entschlossen, unter gar keinen Umständen das Amt noch ein Jahr weiter zu führen oder auch noch als Mentor zu fungieren, eine Funktion, die in der Regel der ausscheidende Präsident übernahm. Ich war mir darüber klar, daß ich, wenn ich meine sonstigen Aufgaben erfüllen wollte, eine weitere Zersplitterung unbedingt vermeiden mußte. Ich habe später oft gehört, daß mein Amtsjahr den Brüdern in guter Erinnerung geblieben ist. Das war schließlich die Hauptsache. Damals wurde in Breslau innerhalb des Ordens U O B B eine neue Loge installiert, die Zacharias-Frankel-Loge, die ihren Namen nach dem ersten Direktor des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau erhielt. Es würde zu weit führen, wenn die Motive, die gerade zur Entstehung dieser Loge führten, hier dargelegt würden. Zu der Installation dieser Loge erschien aus Berlin der Vizegroßpräsident Maximilian Stein, eine interessante Persönlichkeit, von Beruf Kaufmann, aber mit stark literarischen Interessen. So hat er seine Logenvorträge und Reden auch als Buch herausgeben lassen. Damals lernte ich auch den früheren Sanitätsrat Dr. Goldschmidt kennen, der in der Berliner Großloge als Großsekretär eine Rolle spielte. Ihm lag im besonderen die Herausgabe der Zeitschrift des deutschen Distriktes ob, die den Namen führte: Orden Bne Brith. Ich habe an dieser Zeitschrift, die ein hohes Niveau hatte, sehr lange mitgearbeitet 98 und bin dadurch auch mit Goldschmidt ständig in Fühlung gewesen. Bei seiner damaligen Anwesenheit in Breslau interessierte er Bernhard Schottländer (1895-1920) hatte am Johannesgymnasium den Gedanken der Schülerselbstverwaltung entwickelt. E r schloß sich der U S P D an und gründete die „Arbeiterzeitung". A. Heppner: Jüdische Persönlichkeiten, S. 41. 9 8 Zahlreiche Beiträge von 1925 (SV Nr. 186) bis 1933 (SV N r . 398). 97
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sich sehr für meine Arbeiten. Der Orden sah ja die Förderung jüdischer Geistesarbeit als eine wesentliche Aufgabe an. Zu meiner Logenaufgabe gehörte es auch, nach Ausscheiden aus dem Amt neue Präsidenten in ihr Amt einzuführen. So führte ich als Präsidenten der Manuel-Joel-Loge meinen zionistischen Gesinnungsgenossen, den Zahnarzt Schachtel ein, von dem in diesen Blättern schon die Rede war. Ich habe das in diesem Falle besonders gern getan, denn wenn man in dieser wichtigen Stunde zu jemandem zu sprechen hat, der einem innerlich und gesinnungsmäßig nahesteht, so kommt es ganz anders vom Herzen. Im Mai machte ich einen besonders schönen Schulspaziergang nach der Hohen Eule. Wir fuhren damals bis nach Hausdorf, liefen dann nach Wüstewaltersdorf und von dort über die sogenannten Sieben Kurfürsten zur Eulenbaude. Das Eulengebirge hat selbstverständlich nicht das Großartige und Gewaltige des Riesengebirges, aber sein Mittelgebirgscharakter ist immer reizvoll. Dieses Gebirge hat sich in Schlesien vor allem durch den Wintersport sehr beliebt gemacht und vielen Menschen Erholung und Frische gegeben. Wenn ich mit meinen Schülern durch eine solche Gegend wanderte, dann erzählte ich ihnen von alledem, was die Gegend bemerkenswert macht. Hier war vor allem Gelegenheit, ihnen etwas von dem Weberelend vergangener Jahrzehnte zu berichten, denn das ist die Gegend, in der Gerhart Hauptmanns unsterbliches Drama „Die Weber" spielt. Seitdem haben sich die sozialen Verhältnisse gewiß gewandelt, geblieben ist aber die Weberei, die hier auf besonders günstigen klimatischen Bedingungen fußt. [...] Wir entschlossen uns, die Sommerferien in Kudowa zu verbringen, wo meine Frau schon vorher Wohnung gemietet hatte. Es war das eine ziemliche Expedition. Wir fuhren mit drei Kindern und unserer bewährten Hausgehilfin Emma; auch Mutter ging in dem Sommer in den gleichen Ort. Wir wohnten im Haus Friedrichsruh, das für Kudowa ein sehr bescheidenes Haus war. Und doch hat dieser Sommer ein gewaltiges Loch in unsere Kasse gerissen, denn damals waren die Preise besonders hoch, und die Badeorte haben ja die Heilungssuchenden sehr häufig als Ausbeutungsobjekte angesehen. Franz und Lotte gaben sich mit uns allen sehr große Mühe, und so hat diese Reise schließlich auch uns allen Erholung gebracht, nachdem auch mancherlei innere Schwierigkeiten zu überwinden waren. Auch mein Herz hatte eine gewisse Reparatur sehr notwendig. Damals trat ich in Kudowa der Heimatdichterin Anna Bernard nahe. Sie war ein einfacher Mensch, ihr Mann war dort Schneidermeister. Sie
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bewohnte ein kleines Häuschen in Ober-Kudowa, abseits von dem sogenannten Badeverkehr, das „Heimathaus" genannt. Unter den Büchern, die Anna Bernard geschrieben hat, hat mir immer am besten der Roman „Am Landestor" gefallen". Hier läßt sie die Glatzer Landschaft mit ihrem Ubergang nach Böhmen prachtvoll vor Augen treten. Gewiß war ihre Schreibweise ein wenig altmodisch. Auch den kleinen Dramen, die sie schrieb, war eine Bühnenexistenz nicht vergönnt, wenn man davon absieht, daß das Kurtheater in Kudowa sie aufführte. Ich machte ihr auch die große Freude, diese Aufführungen in den mir zugänglichen Zeitungen zu besprechen. Es war ja damals besonders schwer für jemanden, der außerhalb des großen Literaturbetriebes stand, sich durchzusetzen, und doch ist in dieser Heimatdichtung, wie sie Anna Bernard schrieb, oft viel mehr Edles und Wahres als in so manchem, was auf dem Asphalt der Großstadt das Licht der Welt erblickt hat. Es kann durchaus sein, daß eine spätere Literaturgeschichtsschreibung die Werte in dem Schaffen Anna Bernards noch einmal erkennen läßt. Einmal fragte sie mich, ob ich glaube, daß ihre Dichtung eben jetzt auch einen äußeren Erfolg haben könnte. Ich mußte ihr mit aller Zartheit sagen, daß, so sehr ich schätzte, was sie schrieb, ich doch nicht glaubte, daß sie sich jetzt durchsetzen könnte. Außer mir hat sich für sie noch der Sohn des Bürgermeisters von Kudowa, Schindler, sehr eingesetzt. Wie gesagt, wir haben, abgesehen von dem Kreis der Stillen im Lande, nicht viel erreichen können. [...] Die Arbeit über Friedrich Engels war vom Verlag der Volkswacht grundsätzlich angenommen worden, aber der Redakteur Birnbaum, der gleichzeitig auch als Lektor des Verlages fungierte, verlangte noch einige Änderungen. Solche Änderungen sind für den Autor immer sehr unangenehm. Mir persönlich war überhaupt jede Beschäftigung mit einem Werke, das ich glaubte, abgeschlossen zu haben, geradezu eine Qual, und wie oft mußte man seine Arbeit noch einmal lesen, bis die ersten Exemplare wirklich fertig dalagen. Den Engels hatte ich übrigens unmittelbar in die Schreibmaschine diktiert. Bei großen wissenschaftlichen Arbeiten war ein derartiges Verfahren selbstverständlich nicht möglich; aber bei einer solchen Jugendschrift konnte ich das schon wagen, und es ist auch geglückt. Viele Schriftsteller benutzen die Schreibmaschine unmittelbar; ich habe leider das nicht selbst gelernt. Ich glaube ja auch, daß die Konzentration größer ist, wenn man vom Technischen unabhängig sein kann. [...]
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A. Bernards Roman von 1924 „Am Landestor" spielt in der Hussitenzeit.
VII. Z W I S C H E N O S T S E E U N D M I T T E L M E E R (1925-1927) „In Gedanken ging es zur jenseitigen Küste, zur Küste Palästinas." Mit Ausgang des Sommers hieß es auch immer, die kommende Vortragssaison im Briefwechsel vorzubereiten. Besonders wenn ich in weiter entfernte Gegenden fahren wollte, dann mußte das sehr sorgsam überlegt werden, damit man nicht zuviel Eisenbahnkilometer unnötig hinter sich brachte. Meine Frau und ich bekamen dann in der Abfassung dieser Korrespondenz im Laufe der Zeit eine sehr große Erfahrung, und wir wußten, daß nicht jede einzelne Verhandlung von Erfolg gekrönt sein konnte, haben aber schließlich in jedem Winter eine ganze Anzahl Orte so geschaltet, daß die Reise möglich war. In diesem Herbst [1925] wollte ich eine Vortragsreise mit einer Schülerfahrt nach München in Verbindung bringen. Solche Schülerfahrten waren am Johannesgymnasium bisher nicht gemacht worden. Es war gar nicht so ganz einfach, meine Idee innerhalb des Kollegiums durchzusetzen. Die meisten Kollegen scheuten sich vor den Strapazen und blieben am liebsten in ihrem alten Trott. Nun, diesmal kam es mir darauf an, daß ich mit meiner Klasse fahren konnte. Damals war in München die deutsche Verkehrsausstellung, und außerdem wollte ich, abgesehen von dem, was München an und für sich bietet, den Jungens vor allem das Deutsche Museum zeigen, das in seinen endgültigen Bau übergesiedelt war 1 . Auf dieser Reise begleiteten mich meine Frau sowie der Studienassessor Teichmann, der Naturwissenschaftler war. Da es sich in München auch um technische Dinge drehte, so war es sehr wichtig, daß ein Kollege mitkam, der von diesen Dingen mehr wußte als ich selbst. Und meine Frau war mir von größtem Nutzen, weil wir die Verpflegung der Jungens gemeinsam durchführen wollten, womit auch ein erzieherischer Zweck erfüllt werden sollte. Diese Jungens, die zum Teil aus recht verwöhnten 1 Der Bau des Deutschen Museums hatte sich von der Grundsteinlegung im Jahre 1906 bis zur Einweihung 1925 hingezogen.
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Häusern stammten, sollten sich auf so einer Reise auch daran gewöhnen, einmal eine Zeitlang auf das bescheidenste zu leben. Solche Schülerfahrten, die, nachdem mein Versuch geglückt war, am Johannesgymnasium zu einer regelmäßigen Einrichtung wurden, sind von mir immer im Unterricht sehr sorgsam vorbereitet worden. Nur dann hatten sie einen Zweck und wirkten sich für die Schüler gut aus. Ich kann dem verstorbenen Direktor Gabriel gar nicht dankbar genug dafür sein, daß er mir jede Freiheit für solche pädagogischen Experimente ließ. Er war ein aufgeschlossener Mensch, dem es auch unerfreulich war, immer nur das gleiche zu machen. Die Fahrt nach München legten wir in einem Wagen vierter Klasse zurück, die es damals noch gab, allerdings nur in Norddeutschland, so daß dieser Wagen in München ein gewisses Aufsehen erregte. Uberall waren wir als der Schülertransport angemeldet, und zweiundzwanzig Stunden haben wir in diesem etwas primitiven Gehäuse verbracht. Man wird sich vorstellen können, wie aufgeregt die Jungens zum großen Teil waren, für die das meist die erste große Reise ihres Lebens bedeutete. [...] Das Deutsche Museum hat auf die Jungens und auch auf mich selbst einen sehr großen Eindruck gemacht. Vor Jahren schon hatte ich es unter der Führung meines Bruders Martin in seinem alten Bau gesehen, aber nun, da es auf der Museumsinsel der Isar untergebracht worden war, war alles viel großartiger und imponierender. Auch der technische Laie hatte von diesem Museum, in dem er alles und jedes selbst betreiben konnte, einen großen Gewinn. Das machte natürlich auch den Schülern sehr viel Freude, wenn sie den Röntgenapparat selbst bedienen konnten und das Knochengerüst ihrer Hand erscheinen sahen. [...] In München hatten wir wirklich Gelegenheit, die Tage abwechslungsreich zu verleben. War die deutsche Verkehrsausstellung, bei der ich zum ersten Mal ein Flugzeug von innen betreten konnte, noch eine technische Angelegenheit, so gab es dann schöne Ausflüge in die Umgegend, die meinen Schützlingen wenigstens andeutungsweise ein Bild von der Größe und Gewalt der Alpen vermittelten. Was wäre eine Reise nach München ohne einen Besuch des Starnberger Sees. So fuhren wir mit der Bahn nach Starnberg, mieteten dann ein Motorboot, fuhren nach Leonie hinüber und wanderten zur Rottmannshöhe. Ich erzählte den Schülern von der Tragödie König Ludwigs II., die hier am Starnberger See ihr Ende gefunden hat. Auf solchen Fahrten mit den Schülern in die Natur hinaus war ich jung, wie das überhaupt das Schönste am Lehrerberuf ist, daß man sich mit jeder Generation
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aufs neue verjüngt. Oben auf der Rottmannshöhe machten wir ein kleines Lagerleben, was für Schüler immer besonders vergnüglich ist. [•••] Natürlich habe ich meinen Jungens auch das Hofbräu gezeigt. Es wäre falsch gewesen, wenn man das nicht getan hätte; aber diese Generation war doch schon erfreulicherweise nicht mehr dem Alkohol versklavt. In dieser Zeit galt es schon nicht mehr als das Zeichen eines Mannes, möglichst gewaltige Quantitäten Münchner Bier in sich hineinzugießen, und ich glaube, daß meinen Schülern die verräucherte Luft des Hofbräus nicht allzuviel Freude gemacht hat. [...] Den Kunstsammlungen haben wir nicht viel Zeit widmen können, dazu war ja der Reiseplan zu sehr belastet, und man darf auf so einer Schülerfahrt keinesfalls den Fehler machen, die jungen Menschen mit Eindrücken zu übersättigen. Aber schon das Stadtbild von München ist ja ein künstlerisches Erlebnis. Der Abschied von der Stadt ist uns allen schwer geworden; ich habe auch seitdem München nicht mehr wiedergesehen. Wir fuhren mit der Klasse nur bis Dresden mit. Ich hatte nämlich unmittelbar im Anschluß an diese Reise ein paar Vorträge zu halten. [...] Ich benutzte den Tag, den ich in Berlin einschalten konnte, zu einer Reihe wichtiger Rücksprachen. Welche Spannkraft besaß man nicht, um nach einer so anstrengenden Fahrt, die nur ein paar Stunden Schlaf gebracht hatte, sofort wieder zu ernsten Unterhaltungen zu gehen. Zunächst suchte ich mit meiner Frau Professor Dr. Eduard Sthamer, meinen schon mehrfach erwähnten wissenschaftlichen besten Freund in der Akademie der Wissenschaften, auf. Die preußische Akademie, wohl eines der angesehensten Institute geistigen Schaffens der Erde, ist in dem gleichen Gebäude wie die Preußische Staatsbibliothek untergebracht. Der Zweck meines Besuches war, mich mit Sthamer über eine von mir geplante Studienfahrt nach Neapel und Sizilien zu unterhalten. Er riet mir damals, mich wegen eines Reisezuschusses an die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft zu wenden. Immer wenn ich zu Sthamer mit irgendeiner Frage kam, war er voll Hilfsbereitschaft und kollegialen Entgegenkommens. Von ihm fuhren wir zum Dietz-Verlag nach dem Hallischen Tor. Hier war jetzt der große Parteiverlag der Sozialdemokratischen Partei untergebracht, und hier wollte ich wegen meines Lassallebuches verhandeln und mich über seinen Absatz unterrichten. Doch fand ich hier nicht eine geeignete Persönlichkeit, bei der ich auf Verständnis stieß, und ich war eigentlich von diesem Besuch etwas enttäuscht. Allmählich zeigten sich auch schon innerhalb des Sozialismus Alterserscheinungen, die ihm die Schwungkraft nahmen, an die wir 1918 geglaubt hatten.
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Ich bin in meinem Leben nicht allzu häufig in Berlin im Theater gewesen. An jenem Abend aber war dazu Gelegenheit. Wir sahen das Stück von Bernard Shaw: Zurück zu Methusalem. Shaw gehört ja zu den großen Spöttern, die in der Regel immer das Gegenteil von dem sagen, was sonst gesagt wird. Mich interessierte, abgesehen von dem Stück, auch das Berliner Publikum. Es fiel mir auf, wie aufgedonnert viele Frauen in das Theater kamen, denen es weniger darauf ankam, etwas zu sehen, als selbst gesehen zu werden. Dazu hat bereits Goethe alles Notwendige in seinem „Vorspiel auf dem Theater", das dem „Faust" vorangeht, gesagt. Unter den Zuschauern spielte das jüdische Element eine sehr große Rolle. Wenn auf der einen Seite gewiß zu sagen ist, daß die Juden stets zu den größten Kunstfreunden gehört haben und für alles Neue begeistert waren, so gefiel mir die Art und Weise, wie sich die Berliner Jüdinnen damals trugen, recht wenig. Letzten Endes sind es ja nicht zum geringsten Teile die Berliner Kurfürstendammjuden gewesen, die durch ihr Verhalten den Boden geschaffen haben, auf dem der Antisemitismus wachsen konnte. Vielleicht hat manche dieser Frauen, wenn sie heute im Arbeiterinnenrock dienstverpflichtet ist, Gelegenheit, über den Unterschied von damals und heute nachzudenken. Schön war die Rückfahrt mit der Hochbahn; ein gewaltiger Eindruck war es für mich immer, wenn ich vom Gleisdreieck auf das abendliche Berlin herunterblicken konnte. In solchen Augenblicken glaubte ich, den Puls dieser Stadt, die eine der arbeitsamsten Großstädte der Welt ist, besonders fühlen zu können. Am nächsten Tage fuhr ich vom Lehrter Bahnhof nach Lübeck. Ein Teil der Fahrt war mir von früheren Reisen nach Hamburg bekannt. Aber als es von der Hauptstrecke nach Wittenberge abging, kam man in eine andere Welt. Lübeck, wie Hamburg und Bremen eine alte Hansestadt, ist heute eine ruhige Stadt geworden. Der Weltverkehr hatte sich längst von der Ostsee nach der Nordsee verlagert. Aber einstmals war Lübeck der Vorort des Hansebundes. Einem Menschen wie mir, der so in der mittelalterlichen Seegeschichte lebte, mußte ein Besuch von Lübeck, auch wenn er nur so kurz bemessen sein konnte, eine Erfüllung bedeuten. Ich war zu diesem Vortrag von der Esra-Loge des Ordens Bne Brith eingeladen worden. Um mich bemühte sich besonders der Rechtsanwalt Meyer, in dessen Hause ich auch den Abend verlebte. Da er seine Heimatstadt sehr liebte, so war er mir auch, nachdem er gemerkt hatte, welche Interessen mich leiteten, ein sehr verständnisvoller Führer. Er zeigte mir den berühmten Totentanz, der mich aufs Innerste packte. Aber
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das Schönste war doch der Gang durch das alte Lübeck, w o aus jedem Hause die Geschichte des Hansebundes hervorzutreten schien. [...] Der Vortrag selbst machte mich wieder mit ganz anderen jüdischen Menschen bekannt, als ich sie im Osten kennengelernt hatte. Letzten Endes assimilieren wir uns ja immer bis zu einem gewissen Grade an die Menschen der Umwelt, und so hatte auch das hanseatische Judentum den etwas verschlosseneren Typ der Menschen ihrer Umgebung angenommen. Ich hatte das Gefühl, daß mir dieser Vortrag einigermaßen geglückt war und daß ich auch in diesem fremderen Kreise Verständnis gefunden hatte. Am nächsten Morgen mußte ich schon zeitig fort, denn ich hatte am gleichen Abend noch in Frankfurt an der Oder zu sprechen. In jenem Herbst habe ich wirklich Deutschland nach allen Seiten hin durchquert. Als ich rechtzeitig früh zur Bahn ging, hatte ich aber noch Gelegenheit, das Holstentor, jenes unvergängliche Wahrzeichen Lübecks, anzusehen, das den Eingang zur Stadt so beherrscht wie die Porta Nigra den Eingang nach Trier. Dann aber ging es in die Eisenbahn. Ich konnte im Personenzuge nach Buchen noch das tiefe Erlebnis jenes Tages in mir nachklingen lassen. Ich habe die Fahrten in Personenzügen immer besonders geliebt. Man erhascht da so manches von Land und Leuten, was im Schnellzug verborgen bleibt. [...] Am Lehrter Bahnhof in Berlin erwartete mich meine Frau; wir hatten eine Verabredung mit einem der Leiter des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. Ich verfocht damals den Gedanken, man solle von seiten der jüdischen Frontkämpferorganisation die Kriegstagebücher und Briefe der Juden aus dem Weltkriege sammeln und für spätere Zeiten sicherstellen. Ich fand auch bei Herrn Schäffer, der ein alter Breslauer war und dessen Bruder selbst als Fliegeroffizier gefallen war, großes Verständnis. Ich habe meine Ideen in sehr vielen Aufsätzen, die im „Schild", der Zeitschrift des Reichsbundes erschienen waren, niedergelegt 2 . Aber leider ist es dann doch nicht zur Schaffung dieses Archives gekommen. Es ist anzunehmen, daß nun der weitaus größte Teil des Materials, das für die Geschichte der Juden von einzigartiger Bedeutung gewesen wäre, im Zuge der Ereignisse nach 1933 verlorengegangen ist. Noch am Abend desselben Tages sprach ich in Frankfurt an der Oder. Ich wohnte wieder in dem Viktoria-Hotel, wo ich, wie schon erzählt, vor zwei Jahren mit meiner jungen Frau nach der Hochzeit gewohnt hatte. Damals schien mir dieses Hotel wie ein kleines Zauberschloß. Als ich es nun allein wiedersah, da hatte es diesen Zauber eingebüßt und war 2
Vgl. SV Nr. 201, 202.
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eben nur ein nüchternes Hotel, w o Geschäftsreisende abstiegen. Und aus dem schönen Frankfurt an der Oder, in dem wir traumverloren unsere Spaziergänge gemacht hatten, war ein „Platz" geworden. Für diejenigen meiner Leser, die nicht wissen, was ein Platz ist, sei es hier gesagt. Wenn man zu seinem Vergnügen oder zu seiner Erholung reist, dann besucht man Städte, wenn aber der Geschäftsreisende auf die Tour geht, dann kommt er nach „Plätzen". So ist zum Beispiel Weimar eine Stadt und Apolda ein Platz. 1923 war Frankfurt an der Oder für mich eine Stadt, nun aber war es ein Platz. Wenn man früh beim Frühstück saß, war man umgeben von den Herrn Kollegen aus den verschiedenen Branchen. O f t wurde man dann mißtrauisch betrachtet, denn es konnte ja sein, daß man ein unerwünschter Konkurrent wäre und in derselben Branche reiste. Einmal sagte einer zu mir, als er sich vorstellte: „Ich reise in Schnaps", worauf ich ihm antwortete: „Auch ich reise in etwas Ähnlichem, nämlich in Spiritus". Ich fühlte mich wirklich als ein Stück Wanderprediger. Wenn man auch manchmal enttäuscht war, daß die Zuhörerschaft nicht mitging, so gab es doch auch wieder schöne Augenblicke, wenn man die Flamme in dem Herzen der Zuhörer entzündet hatte. Damals in Frankfurt an der Oder merkte ich recht sehr den Gegensatz zu dem Vortrag am Vorabend in Lübeck. Das Publikum hatte nichts von der geistigen Beseelung, die ich dort am Rande der Ostsee gespürt hatte. Ich lernte den Rabbiner Dr. Grün kennen, dem ich später noch in Danzig begegnete, einen recht jungen Mann, der mir aber weder hier noch in Danzig so eigentlich behagte. Am nächsten Morgen begleitete er mich noch auf einem Spaziergang nach der Buschmühle. Das Wiedersehen mit dieser schönen Stelle erinnerte mich auf das lebhafteste an die Herbsttage von 1923. Dann fuhr ich weiter nach Guben, w o ich nun zu sprechen hatte. Wenn ich schon Frankfurt an der Oder als „Platz" bezeichnen mußte, so war Guben gewissermaßen ein Platz im Quadrat. Der O r t war von Geschäftsreisenden geradezu überschwemmt. Es war erst nach manchen Bemühungen möglich, überhaupt für eine Nacht ein Unterkommen zu finden. Die einzig falschen Behauptungen in Guben waren wahrscheinlich meine Ausführungen im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, denn sonst gab es in Guben, der Stadt der Hutmacher, nur sehr schöne und der Mode entsprechende Behauptungen. Dort lernte ich den Prediger Bacher kennen. Die Bezeichnung Prediger ist eigentlich eine in unserem Brauchtum nicht verwurzelte, und sie erklärt sich folgendermaßen: Diejenigen Orte, die glaubten, sich keine Rabbiner leisten zu können, hatten nur einen jüdischen Lehrer. Bei der Schwäche der meisten Menschen, sich einen höheren Titel zuzulegen, als er ihnen zusteht, nannten sich
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diese Herren eben sehr gern Prediger. Ich habe Männer unter ihnen getroffen, die Außerordentliches aus ihrer Gemeinde gemacht hatten und dort wirklich das jüdische Leben neu belebten. Aber ich traf auch andere, bei denen die Einbildung im diametralen Verhältnis zu ihrer Bildung stand. Sie waren meist sehr von sich überzeugt und sahen es auch nicht allzugern, wenn ein Fremder in ihrem O r t sprach und so gewissermaßen die Möglichkeit des Vergleiches gegeben war. Auch Prediger Bacher in Guben war mir nicht übermäßig sympathisch. Die Menschen, die zu dem Vortrag kamen, hatten meist den ausgesprochenen Centralvereinsstandpunkt. Ich mußte oft sehr mit ihnen ringen, um Verständnis für meine Weltanschauung zu gewinnen. Wenn ich selbstverständlich auch nicht immer Werbereden für den Zionismus hielt, so ist es doch für jemanden, der von einer Weltanschauung erfüllt ist, unmöglich zu sprechen, ohne daß der Standpunkt hindurchleuchtet. [...] Dann aber hatte der Alltag wieder sein Recht. Auf mich wartete, wie immer, wenn ich von der Reise zurückkam, eine gewaltige Menge an Post, die aufgearbeitet werden mußte. Da ich damals mitten im journalistischen Leben stand, gab es auch sehr viele Rezensionsverpflichtungen, mit denen ich es sehr ernst nahm. Ein ungerechtes Urteil kann einen Autor auf das tiefste treffen. Ich erinnerte mich immer daran, daß uns Wohlauer im Unterricht gesagt hatte, Gottfried August Bürger sei an Schillers Rezensionen gestorben. Mag das vielleicht auch ein wenig übertrieben sein, jedenfalls war mir dieses Wort ein guter Wegbegleiter, wenn ich über ein Buch zu Gericht zu sitzen hatte. Manchmal häuften sich die Rezensionsexemplare zu großen Stößen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil meiner Bibliothek ist auf diese Weise entstanden, wenn ich auch ziemlich viel hinzugekauft habe. U m mit all den Rückständen, die sich aus der Zeit der Entbindung, aus der Sommerreise nach Kudowa und den vielen Krankheiten von Ruth angesammelt hatten, aufzuräumen, entschloß sich meine Frau, eine Stellung als Verkäuferin in der Volkswacht-Buchhandlung anzunehmen. Der Verlag der Volkswacht unterhielt damals in der Graupenstraße eine Buchhandlung, in der er vor allem ihm nahestehende Literatur vertrieb. Es war für meine Frau nicht ganz einfach, auch das noch neben der Sorge für den Haushalt zu übernehmen. Es war auch meiner weiteren Familie nicht angenehm, denn das paßte nicht in den Stil der Zeit, daß ein Mitglied Verkäuferin war. Aber andererseits zog man auch nicht die Konsequenzen, die man hätte ziehen können. Letzten Endes war es ja unsere Angelegenheit. Es war immer noch besser, aus Eigenem
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durchzukommen, als danksagen zu müssen. Meiner Frau hat die Tätigkeit Freude gemacht, da sie seit jeher sehr viel Sinn für Bücher hatte. Der Verlagsleiter der Buchhandlung, Max Tockus, hat ihre Tätigkeit in keiner Weise erschwert, wenn sie auch selbstverständlich ihre Arbeit leisten mußte. Auch im Winter 1925/26 war ich sehr viel zu Vorträgen unterwegs. Ich will davon nur soweit erzählen, als es keine Wiederholung darstellt und ich neue Eindrücke mitnahm, die mir berichtenswert erscheinen. Ich hatte jetzt keine Schwierigkeiten mehr, jeweils ein polnisches Visum zu bekommen, und konnte deswegen öfters in Polnisch-Oberschlesien, w o man mich anscheinend ganz gern hatte, in den Logen und auch einmal in einem Verein für jüdische Geschichte und Literatur sprechen. Auf einer solchen Vortragsreise fuhr Frau Dr. Aronade mit mir von Kattowitz nach Sosnowice. Das ist an und für sich eine ganz kurze Reise, aber in Wirklichkeit eine Fahrt von Europa nach Asien. Als ich in Sosnowice ankam, hatte ich das Gefühl, daß hier irgend etwas Besonderes los sein müßte, denn als wir aus dem Bahnhof herauskamen, standen eine Unmenge von Juden herum. Ich fragte Frau Dr. Aronade, ob eine bedeutende Persönlichkeit erwartet würde, oder was sonst, worauf sie mir sagte, das sei hier immer so. Sie ständen eben den ganzen Tag herum, vielleicht, daß sich ein Gelegenheitsgeschäft ergäbe. Die meisten dieser östlichen Glaubensgenossen waren sogenannte Luftexistenzen ohne festes Einkommen und ohne geregelte Tätigkeit. Ich maße mir nicht an, nach einem nur momentanen Einblick in ostjüdische Verhältnisse ein abschließendes Urteil zu haben. Es ist ja genug über die Ostjudenfrage gesprochen und geschrieben worden. Aber als ich in ihre Wohnkeller hineinblickte und sah, wie ihre Decken meist auf der Erde lagen, welch ein unbeschreibliches Elend herrschte, so dachte ich in meinem Innern, daß der deutsche Erwerbslose, auch wenn es ihm noch so schlecht gehen würde, nicht den Tag über am Bahnhof herumstehen würde, sondern mit den behelfsmäßigsten Mitteln versuchen würde, seine Behausung in einen besseren Stand zu versetzen. Leider ist dieser mangelnde Sinn für die äußeren Dinge des Lebens, der den Ostjuden anhaftet, mit ihnen auch nach Palästina gewandert. Ich habe zum Beispiel, als ich in Rechowoth war 3 , sofort gesehen, wo Rassegenossen aus Polen sich angesiedelt hatten. Waren es Juden aus Deutschland, dann war die Ladenauslage nett geordnet, aber waren es
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Rechovot, Stadt südlich von Tel Aviv.
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Juden aus Polen - der Rest ist Schweigen. [...] Sosnowice war damals eine Stadt ohne Kanalisation. Ich sah jüdische Wasserträger, die schwer unter ihrer Last schleppten; aber die meisten taten eben nichts und standen herum. Selbstverständlich waren wir auch in der Synagoge, wie ich es auf meinen Reisen, wenn es irgend angängig war, stets gehalten habe. Es war mir immer eine Befriedigung, wenn ich bei dem Betreten eines unserer Gotteshäuser in hebräischer Sprache die Worte sagen konnte: Wie schön sind Deine Zelte, Jakob und Deine Wohnungen, Israel4. Wir Juden haben in früheren Zeiten selten viel Wert auf die Ausstattung der Gotteshäuser gelegt, und darin ist ja auch ein Stück Tradition, wenn man an die Kraft des jüdischen Gebetes glaubt. Als ich in der Synagoge von Sosnowice eine kleine Gabe in eine Büchse tun wollte, die für Erez Israel bestimmt war, kam der Schammes vulgo Synagogendiener auf mich zu und öffnete das Gehege seiner Zähne zu den klassischen Worten: „Sie können mir geben". Auch ein kleiner Beitrag zu der Psyche des Ostjuden. Wir deutschen Juden haben diese Schnorrereinstellung immer verabscheut. Umso tragischer ist es, wenn wir heute wissen, wie viele leider von uns nach der Auswanderung in eine ähnliche Lage gekommen sind und nur so ihr Leben fristen können. Vielleicht haben wir in früheren Zeiten aus dem Gefühl unserer Geborgenheit heraus den Menschen aus dem Osten manchmal unrecht getan. Nach der Besichtigung der Stadt, in der mir auch eine orthodoxe Kirche aus der russischen Zeit auffiel, die nun gänzlich unbenutzt dastand, kehrten wir in einer Teestube ein. Russischer heißer Tee ist etwas, was man im Winter immer vertragen kann und was auch keine erheblichen gesundheitlichen Gefahren in sich schließt, wenn die Sauberkeit sonst zu wünschen übrig läßt. Dann kaufte ich noch für meine Familie jene charakteristischen Süßigkeiten ein. Wenn es irgend ging, brachte ich von jeder Vortragsreise etwas mit. Was gibt es Schöneres für ein Vaterherz, als wenn die kleine Gesellschaft naiv fragt: „Vater, was hast Du mitgebracht?" Wir hatten übrigens die Kinder so bescheiden erzogen, daß sie nicht einmal fragten, sondern abwarteten, ob sich aus der Reisetasche etwas herausschälen würde. Mit besonderer Freude haben wir im November den Jahrgeburtstag von Ruth gefeiert. Die Gesundheit dieses Kindes war uns nicht als
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Numeri 24,5.
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Geschenk zugefallen. Wir hatten sie uns schwer erkämpft und waren dem Schicksal von Herzen dankbar, daß es das Kleine nun hatte so gesund werden lassen. Selbstverständlich haben wir diesen Tag nicht mit einem großen Fest begangen. Es war nur eine Freude für uns selbst, aber auch der Großvater aus Berlin stellte sich dazu ein. Die großen Brüder hatten an der kleinen Schwester viel Freude. Das Verhältnis meiner Kinder untereinander, auch wenn sie von verschiedenen Müttern geboren waren, ist ein ebenso vorbildliches gewesen wie in meinem Elternhaus, wo ja eine ähnliche Situation gewesen ist. Ich weiß, daß sie jetzt auch draußen, soweit sie schon ausgewandert sind und es die Verhältnisse zulassen, auf das Beste zusammenhalten. Von den Vortragsfahrten jenes Winters möchte ich eine Reise nach Hirschberg erwähnen, wo ich in der Brudervereinigung der Görlitzer Viktoria-Loge sprach. Damals amtierte in Hirschberg Rabbiner Dr. Nellhaus, den ich aus seiner Breslauer Studentenzeit gut kannte, und dem ich später im entgegengesetzten Teile Deutschlands, in Pirmasens auf einer Vortragsfahrt begegnet bin. Ich wohnte damals in Hirschberg in dem schönen Hotel „Drei Berge". Da der Vortrag an einem Sonnabend abends stattfand, so hatte ich meine Frau mitgenommen, um am nächsten Tage mit ihr einen Ausflug in die Berge zu machen. Das Riesengebirge war, wie ja schon oft von mir erwähnt, meine besondere Liebe. Solange ich beim Steigen keine Atemnot hatte, gab es keine größere Freude, als in den Bergen zu klettern. Bei dem Vortrag selbst war meine Frau nicht anwesend; das machte keinen zu guten Eindruck, wenn man mit der Frau erschien. Der Vortrag selbst war, wie oft Vorträge in der Provinz sind. Die Hirschberger Juden waren leider sehr wenig jüdisch. Es ging ihnen wohl auch zu gut. Gerade aber auch die Hirschberger Juden haben sich nach 1933 ihr Judentum, wenn auch durch eine harte Schule, wieder zum Bewußtsein kommen lassen. Nach dem Vortrag am Sonntag fuhren wir mit der Straßenbahn, der sogenannten Hirschberger Talbahn, nach Giersdorf und kletterten dann nach der Spindlerbaude hinauf. Das war einer der unangenehmsten Aufstiege, die man im Winter überhaupt machen konnte. Aber es gibt immer ein schönes Gefühl, wenn man so etwas geschafft hat. Kurz vor der Kammhöhe am Spindlerpaß, über den auch an dieser Stelle die Grenze lief, kamen wir in einen schweren Schneesturm. Wir kämpften uns noch mit Mühe bis zur Paßhöhe durch und waren dann froh, als wir uns in der Baude auftauen und erwärmen konnten. Es gab nichts Schöneres, als solches Hineinschlürfen eines heißen Getränkes oben in
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einer solchen Hütte, die man nach schlesischem Sprachgebrauch eine „Baude" nennt5. Der Spindlerpaß ist einer der ältesten Übergänge über das Riesengebirge. Dort oben liegt auch die Adolfsbaude und in nicht zu weiter Entfernung die Peterbaude. Alle diese befanden sich schon auf böhmischem Boden, auf deutscher Seite war dort weit und breit keine Einkehrstelle. Aber an solchen Schneesturmtagen sah man draußen keinen Zollbeamten. Wintersportler waren keine geeigneten Objekte für ihre Tätigkeit. Der Abstieg war dann leichter. Den Schluß des Weges sind wir sogar ein Stück mit einem Jungen zusammengerodelt, um rascher zur Straßenbahn zu kommen. Abends waren wir wieder in Breslau, und am nächsten Tage nahm man doch in den Unterricht unendlich viel Frische mit. Von den Breslauer Bahnhöfen ist mir der Freiburger Bahnhof immer der liebste gewesen, weil er den Ausgangspunkt für die Erholung bedeutete. Ein anderes Mal war ich bei besonders scharfem Frost in Gleiwitz. Wenn man den großen Bannwald passiert hatte, der Mittelschlesien von Oberschlesien trennt, dann wehte häufig im Winter schon ein ausgesprochen russischer Wind, dem der geborene Oberschlesier mit Alcoholicis in jeder Form, möglichst unverdünnt, zu Leibe geht. Ich habe mich aber meist nur an heißen Tee gehalten. [...] Die jüdische Volkshochschule ließ sich für ihre Antrittsvorlesung immer eine bedeutendere jüdische Persönlichkeit von außerhalb Breslaus kommen. In diesem Winter war es Max Brod, den ich persönlich auch kennenlernte und der, wie so oft, einen ganz anderen Eindruck machte, als man sich nach den Büchern vorstellte. Er war ein kleiner, etwas verwachsener Herr, dem man äußerlich nicht anmerkte, welche gewaltigen Gluten er in seinen Büchern zu entfesseln wußte. Damals hatte sein Roman „David Reubeni" nicht nur in der jüdischen Leserwelt einen besonderen Eindruck gemacht6. Ich habe dieses Buch immer sehr geliebt, weil er in ihm den Galuthjuden den freien Bergjuden Arabiens gegenüberstellt. Ich bin auch später noch mit Max Brod eine Zeitlang in Fühlung geblieben. Wo ihn heute sein Judenschicksal hingeweht hat, weiß ich nicht7.
Baude, mundartlich für „bewirtschaftete Berghütte" u. a., vgl. W . Mitzka: Schlesisches Wörterbuch. Bd. 1. Berlin 1963, S . 9 6 . 6 M. Brod: Reubeni, Fürst der Juden. Ein Renaissanceroman. München 1925. 7 Max Brod starb 1968 in Tel Aviv. Seinen Lebensweg schildern mehrere autobiographische Schriften, darunter das Buch: Streitbares Leben. Autobiographie. München 1966. Vgl. auch SV N r . 413. 5
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Wir besuchten nun auch regelmäßig das Theater, meist das Lobetheater, das sich immer bemühte, auf der Höhe zu sein. Es ist jetzt vor einiger Zeit zwangsversteigert worden. Auch diese bedeutende Kulturstätte gehört nun der Vergangenheit an8. Nur einen Theaterabend möchte ich aus der Fülle des Gesehenen hervorheben. Es war dies die Aufführung des Kreidekreises, den Klabund bearbeitet hatte, der damals schon nicht mehr lebte9 und in dem seine Witwe Carola Neher die Hauptrolle spielte. Ich habe übrigens Jahre später bei einer Vortragsreise an dem Grabe Klabunds in Crossen gestanden, der ja mit seinem bürgerlichen Namen Henschke hieß und dessen Vater in Crossen eine Apotheke betrieb. Auf jener Vortragsfahrt in Crossen war auch ein Sänger mit, der gleichzeitig Zeichner war. Er hat die stimmungsvolle Ruhestätte jenes jung an der Schwindsucht dahingegangenen Dichters gezeichnet. Der Kreidekreis hat auf mich einen großen Eindruck gemacht. Ich vermag natürlich nicht zu beurteilen, ob der fernöstliche Mensch in ihm richtig dargestellt ist oder nicht. Jene abendlichen Theaterbesuche gaben uns viel Anregung, auch gingen wir nun öfters einmal zu einer Vergnügung. Ich merkte mit Erstaunen, daß man wieder jung werden konnte. Es hatte schon Jahre gegeben, in denen ich mir recht vergreist vorkam. Einmal mußten wir auch einer offiziellen Einladung zum Abendbrot bei Direktor Gabriel Folge leisten. So etwas habe ich nicht allzugern gemacht. Gabriel zog einen auch ganz gern an der Zunge. So wurde ich damals veranlaßt, über meine sozialistische Weltanschauung mehr zu sagen, als es vielleicht taktisch richtig gewesen wäre. Ich bin Zeit meines Lebens in dieser Beziehung nie ein großer Taktiker gewesen, sondern habe die Dinge so herausgesagt, wie sie mir auf die Zunge kamen. Dadurch habe ich mir oft vieles erschwert. An meiner Schule amtete ein anderer jüdischer Kollege mit Namen Schäffer, der übrigens an diesem Abend auch bei Gabriel eingeladen war. Schäffer gehörte zu den Vorsichtigen im Lande. Der Sozialdemokratischen Partei war er beigetreten, denn das war in dieser Zeit günstig, wenn man Karriere machen wollte. Aber er besaß eben nur das Parteibuch, das heißt, wenn es sich in diesen politisch erregten Zeiten manchmal darum handelte, in der Lehrerkonferenz für seine Weltanschauung einzutreten, schwieg er, wenn er nicht das bessere Teil der Tapferkeit erwählte, sein 8
Das Lobetheater war 1933 von den Nationalsozialisten geschlossen worden. Sein Intendant, Paul Barnay, wurde bei dieser Gelegenheit von einem Schlägertrupp schwer mißhandelt. 9 Klabund starb 1928 in Davos.
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Heil in der Flucht zu suchen, das heißt in schlichtes Deutsch übertragen: sich auf den Lokus zu begeben. Schäffer hat in seinem Leben immer richtig gewählt. Es lohnt, sich sein weiteres Schicksal als Beispiel dafür zu verfolgen, wie man nicht sein soll oder vielleicht sein muß. Er ist nach 1933 auch nicht wegen seiner politischen Gesinnung abgebaut worden wie ich, sondern nur auf Grund des Rasseparagraphen. Als dann die Religiös-Liberalen in Breslau, was ich schon einmal angedeutet habe, als Konkurrenz für das bestehende jüdische Unterrichtswerk am Rehdigerplatz eine neue Schule gründeten, wurde er ihr Leiter. Als dann der Zionismus einige Jahre Konjunktur bedeutete, wurde er Zionist und fand, nachdem er an der Angerschule abgebaut war, dann den Anschluß an die Schule am Rehdigerplatz. Als dann in Breslau im Verfolg der Ereignisse vom November 1938, wie man im Krieg zu sagen pflegte, dicke Luft herrschte, ging er nach Schweden. N u n befindet er sich in Amerika, w o er, davon bin ich fest überzeugt, ein hundertprozentiger Yankee werden wird. Wahrscheinlich wird er heute schon davon überzeugt sein, daß seine Ahnen gar nicht aus Breslau stammen, sondern schon vor Jahrhunderten mit der Mayflower über den Ozean gekommen sind. Charakter ist eben eine Angelegenheit, die im Daseinskampf hinderlich ist! Da ich aber auch das Gute von ihm sagen möchte, so will ich anerkennen, daß er, als nach 1933 sehr viele Rassegenossen von mir aus Angst abrückten, der einzige war, der sich bemühte, mir eine ordentliche Privatstunde zu verschaffen. U n d wenn die Menschen im Himmel vor allem nach den guten Taten beurteilt werden sollten, dann wird ihm das vielleicht gegen seine Gesinnungslosigkeit aufgerechnet werden. Ich habe diese Dinge deswegen so ausführlich dargestellt, weil sie mir auch in das Bild der Zeit zu passen scheinen. In meinem literarischen Schaffen plante ich damals in der Reihe meiner sozialistischen Jugendschriften einen „August Bebel". Das Buch ist auch von mir geschrieben worden und seinen Weg gegangen 10 . Bebel war mir unter den sozialistischen Führern stets besonders sympathisch, eine schlichte, gerade und saubere Natur. Auch befaßte ich mich damals eingehender mit dem Studium des „Kapital" von Karl Marx. Wenn man dieses Riesenwerk las, so stand man zunächst immer in seinem vollkommenen Bann. Doch hatte man dann das Gefühl, daß sich das Leben nicht nach dieser Gesetzlichkeit abrollte, wie er voraussetzte. Immer wieder hatten die Marxisten die Endkrise des Kapitalismus prophezeit, und immer wieder hatten sie sich geirrt. Ich fand in diesem
10
Vgl. SV Nr. 230.
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VII. Kapitel
Riesenwerk nicht nur die Spuren der Hegeischen Dialektik, sondern auch der Diskussionsformen des Talmud. Soweit man die Vorfahren von Karl Marx väterlicher- und mütterlicherseits verfolgen kann, waren sie sämtlich Rabbiner. Dieses Erbe im Blut hat sich auch in seinem Werke gezeigt. [...] Unter den Vortragsthemen jenes Winters möchte ich wenigstens eins nennen, das ich unter anderem auch in der Lessing-Loge behandelte. Es hieß „Berufswahl und Berufsberatung unserer Jugend". Was habe ich mir damals für Mühe gegeben, den jüdischen Eltern immer wieder zu sagen, welches Unglück diese einseitige Berufsschichtung für uns Juden darstellte. Ich bin sicher einer der wenigen gewesen, die das so früh erkannten; aber leider hat der Individualismus, der uns oft zum Unglück beherrscht, die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis nur bei den wenigsten ziehen lassen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß das sehr vielen deutschen Juden das Leben gekostet hat. Man überlege: Wenn sich so mancher unter dem Eindruck meiner Worte zu einem anderen Berufe für sich beziehungsweise für seine Familie entschlossen hätte, so wäre er 1933 ein ausgebildeter Handwerker gewesen. Ich weiß, daß viele von denen, die mir nicht gefolgt sind, heute im tiefsten Elend in Shanghai leben. Aus meinem dienstlichen Leben in diesem Winter ist zu berichten, daß damals von verschiedenen Stellen in Erwägung gezogen wurde, mich zum Oberstudienrat im Johannesgymnasium zu befördern. Wenn daraus nichts geworden ist, so hängt das mit all den Widerständen zusammen, die sich naturgemäß einschalteten, wenn ein Jude zu einem höheren Posten aufrücken sollte. All das Drum und Dran solcher Verhandlungen, die mehr oder weniger hinter den Kulissen geführt werden, ist für den Betroffenen alles andere als erfreulich. Man hatte immer den Eindruck, daß die fachliche Einordnung erst an allerletzter Stelle kam und alles andere vorweg. Uberhaupt war ja in der sogenannten Systemzeit jede Beförderung ein Kuhhandel zwischen den Parteien. Jede der in Frage kommenden Gruppen wachte ängstlich darüber, daß sie nicht benachteiligt wurde. Gegen meine fachliche Eignung und gegen mein Können wurden irgendwelche Einwendungen auch nicht erhoben. Man konnte mich schließlich auch nicht umgehen. Da kam es all denen, die die Beförderung von mir nicht wollten, außerordentlich gelegen, daß die Rektoren der ehemaligen Lehrerseminare, die damals abgeschafft wurden, an den höheren Lehranstalten in Beförderungsstellen untergebracht werden mußten. So kam in die freigewordene Oberstudienratsstelle am Johannesgymnasium der ehemalige Seminardirektor Dr. Richter. Dieser war kein anderer als
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der Herr, mit dem ich in meiner Studentenzeit sehr befreundet gewesen war und mit dem ich mich zusammen aus der „Kochkiste" zur deutschen Staatsprüfung vorbereitet hatte. Selbstverständlich haben wir uns auch in den Jahren, in denen wir zusammen amtierten, sehr gut vertragen. Ich stand ja Zeit meines Lebens so über den Dingen, daß ich stets die Sache von der Person zu trennen wußte. Aber diese Wochen waren für mich, trotzdem es ja ehrenvoll war, überhaupt für eine Beförderungsstelle in Frage zu kommen, nicht sehr erfreulich und haben eine ganze Menge Nerven gekostet. Es war üblich, daß die Abiturienten, wenn sie glücklich ihr Ziel erreicht hatten, eine kleine Abschiedsfeier veranstalteten. Dazu wurden dann auch immer die Herren eingeladen, die in der Oberprima unterrichtet hatten. Die Abiturienten von Ostern 1926 veranstalteten ihre Feier in einem kleinen netten Lokal am Magdalenenplatz. Sie unterschrieben damals eine Verpflichtungserklärung, sich in fünf Jahren im gleichen Lokal zu treffen und immer etwas voneinander hören zu lassen. Wer weiß, wo heute die jungen Leute dieses Jahrganges sein mögen, ob sie nicht längst mit den Waffen in der Hand, womöglich gegeneinander, auf den Schlachtfeldern stehen. Es ist kaum anzunehmen, daß sie das Schicksal noch einmal zusammenführen wird. Wie viele solcher jungen Leute sind durch die Hand des Lehrers gegangen, der oft nun darüber nachdenkt, was aus ihnen geworden sein mag, die einstmals, als sie zu seinen Füßen saßen, eine Einheit gewesen sind. An jenem Abend nahm auch der Kollege Krüger teil, der Schwiegersohn jenes Professors Zimpel, der einstmals meine Brüder unterrichtet hatte. Gerade an diesem Abend konnte Krüger mitteilen, daß er ins Provinzialschulkollegium berufen worden war. Krüger, der ein sehr feiner und begabter Mann war, hat auch in seiner Schullaufbahn noch Aufstiege zu verzeichnen gehabt. Er ist später Oberstudiendirektor einer Berliner Lehranstalt geworden. Er hat aber auch nach 1933 niemals die Beziehungen zu den Menschen, die ihm einst nahestanden, abgebrochen und ist sich selbst nicht untreu geworden. [...] Den Sederabend 1926 haben wir sehr schön und feierlich in unserem Heim verbracht. Diesmal war es schon Ernst, der die traditionellen Fragen stellte. Diese Aufgabe ist nun im Laufe der Jahre von einem Kinde auf das nächste vererbt worden; in diesem Jahre 1941, wo ich all das niederschreibe, hat Susanne an unserem Tisch die Rolle der jüngsten aus der Tischgesellschaft gespielt. Wo der Tisch stehen wird, an dem einmal Tamara die alten heiligen Worte sagen wird, vermag in diesem Augenblick niemand zu ermessen.
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Für die Osterferien hatte ich eine sehr große Vortragsreise vorbereitet, die mich in eine Gegend führen sollte, die ich noch niemals gesehen hatte und die der durchschnittliche Reisende auch selten aufsucht. Der Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, der damals für den Bezirk Ostpreußen von Rabbiner Dr. Neufeld in Elbing geleitet wurde, hatte mich zu einer Vortragsreise aufgefordert. Da die Großmutter meiner Frau, Frau Katz, kurz darauf ihren achtzigsten Geburtstag feierte und ich wegen der Vortragsreise an dem eigentlichen Tage nicht in Berlin sein konnte, beschloß ich, die Reise über Berlin zu machen, was auch für die Fahrt selbst nur angenehm war, weil man dann in Berlin in den noch leeren sogenannten Korridorzug hineinkam. [...] Der Wahnsinn des Versailler Vertrages hatte mitten durch das Land den polnischen Korridor gezogen 11 . Wenn man in Berlin den D-Zug bestieg, so war es zunächst wichtig, in diejenigen Wagen zu steigen, die ohne Zoll- und Paßrevision den Korridor durchqueren konnten. Dann war die zweite wichtige Aufgabe, wenn man es nicht schon vorher getan hatte, die Bestimmungen zu studieren, wie man sich auf polnischem Gebiet zu verhalten hat. Damals durften (das ist später gemildert worden) beim Halten auf polnischem Gebiete die Fenster nicht herabgelassen, nichts gekauft und nichts hinausgereicht werden. Man mußte sich also für die Fahrt vorher verproviantieren beziehungsweise den Speisewagen benutzen, der dem Zuge mitgegeben war. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen waren ja nur vorübergehend freundliche. Damals war das nicht einmal der Fall. Wenn zum Beispiel Soldaten in Uniform vom Reich nach Ostpreußen fuhren, so hatten sie das Seitengewehr im Packwagen abzugeben. Dieser polnische Korridor wirkte, solange er bestanden hat, wie eine schwärende Wunde im deutschen Volkskörper. Gerade er hat das Gefühl nie einschlafen lassen, daß das nicht so bleiben konnte. Man wurde übrigens sonst während der Durchfahrt nicht belästigt; ein polnischer Schaffner kontrollierte die Fahrausweise, und ein polnischer Zollbeamter fuhr mit, um darüber zu wachen, daß kein Schmuggel getrieben wurde. Die Eingangsstelle in den Korridor war Könitz, ein Ort, der dem bewußten Juden traurige Erinnerungen ins Gedächtnis rief. Hier war vor vielen Jahrzehnten in verbrecherischer Weise eine 11 Durch die Abtretung Westpreußens an Polen hatte das Deutsche Reich keine eigene Landverbindung mehr nach Danzig und Ostpreußen. Auf dem Wege dorthin mußte der sogenannte Polnische oder Danziger Korridor durchquert werden.
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Ritualmordbeschuldigung erhoben worden 1 2 . Die Ausgangsstelle aus dem Korridor in der Richtung nach Ostpreußen war Dirschau, an der Weichsel gelegen. Dann ging es über die große Weichselbrücke, die 1939 von den Polen gesprengt wurde, und man befand sich in dem Gebiet der Freien Stadt Danzig 1 3 . Als man über die Nogat hinüberkam, betrat man bei Marienburg wieder reichsdeutschen Boden. N u n öffneten sich überall die Abteiltüren, und man hatte das Gefühl, wieder ein freier Mensch zu sein. Der Anblick der Marienburg rief gewaltige historische Erinnerungen wach. Ich hatte mich ja schon mit der Verwaltung des deutschen Ordensstaates im Mittelalter befaßt; aber ich wußte noch nicht, daß ich einstmals die Biographie des Begründers des Ordensstaates, Hermann von Salza, schreiben würde 1 4 . Wenn man diese Marienburg in ihrer gewaltigen Größe vom linken Ufer der Nogat aus erblickte, dann bekam man einen Eindruck von diesem gewaltigen Volkstumskampf, den Polen und Deutsche schon vor Jahrhunderten gekämpft hatten und der anscheinend niemals zu Ende gehen dürfte. Mein erster Vortrag war in Elbing. Ich wohnte dort in dem Hotel „Königlicher H o f " . Sehr viele Gasthäuser Ostpreußens führten diesen Namen, wie man überhaupt den Eindruck hatte, daß hier die Tradition besonders hochgehalten wurde. Daß Deutschland inzwischen eine R e publik geworden war, nahm man da wenig zur Kenntnis. Ostpreußen ist immer eine Welt für sich gewesen. Interessant ist auch, daß sich die ostpreußischen Juden wie überall auch hier bis zu einem gewissen Grade der Landesart assimiliert hatten. Sie erschienen mir oft sehr viel schwerfälliger zu sein, als man sie sonst im Reiche ansah. Elbing gehörte ja eigentlich noch nicht zu Ostpreußen; es war eine Stadt Westpreußens. Aber seitdem der Korridor vorhanden war, teilte die Stadt das ostpreußische Schicksal. Dr. Neufeld, der dort den Vortrag leitete, war ein sehr betriebsamer Herr, der übrigens auch eine Reihe ganz brauchbarer wissenschaftlicher Untersuchungen über die Juden im thüringisch-sächsischen Kreis
In der sogenannten „Könitz-Affäre" des Jahres 1900 waren zwei Juden des Ritualmords beschuldigt worden, was später vor Gericht widerlegt wurde. An dieser Stelle des Buches bleibt ungesagt, daß von Seiten der Nazis inzwischen wieder die gleichen haltlosen Anschuldigungen aufgebracht wurden. 13 Im Gefolge der Friedensverhandlungen war Danzig 1920 zu einer halbautonomen Freien Stadt unter einem Hochkommissar des Völkerbundes gemacht worden. 14 Vgl. SV Nr. 341. 12
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geschrieben hat. Seiner jüdischen Einstellung nach war er damals ein entschiedener Gegner des Zionismus; deswegen ist er auch heute schon seit vielen Jahren in Palästina, wie das so manche verstanden haben, rechtzeitig hinüberzukommen, während oft andere, die ihr Leben der Idee geweiht hatten, das eben nicht im gegebenen Augenblicke schafften. Neufeld hat mich sehr nett in seinem Häuschen aufgenommen. Er wohnte damals weit draußen in einem hübschen Siedlungshause, das mir sehr gut gefallen hat. [...] Von Elbing fuhr ich in die äußerste Ecke des deutschen Sprachgebietes, die schon außerhalb der deutschen Reichsgrenze lag, nach Memel, also nach Litauen. Schon die Fahrt dorthin war nicht uninteressant, ist ja Ostpreußen durchaus keine einheitliche Landschaft. Es weist sehr viele Verschiedenheiten auf, und manches kann man schon vom Zuge aus beobachten. Die Fahrt führte über Braunsberg und Königsberg bis nach Insterburg, wo ich im Vorbeifahren jenes Gebäude sah, in dem ich 1918 im Lazarett gelegen hatte. Das Deutsche Reich war damals in Tilsit zu Ende. Dann ging es über Gilge und Russ, die Mündungsarme des gewaltigen Memelflusses. Die Fahrt über diese riesigen Brücken war eine Fahrt über ein Stück Niemandsland. Dann hielt der Zug in Pogegen, und man war auf litauischem Boden. Heute gehört das alles wieder zu Deutschland, aber damals kam man in eine andere Welt. Keiner von den Beamten, welche die Zoll- und Paßkontrolle vornahmen, sprach ein Wort Deutsch, obgleich ja auch von dem Sprachgewandtesten kaum zu verlangen ist, daß er die litauische Sprache fließend beherrscht. Ich habe mich übrigens später auch mit dem Litauischen beschäftigt und gerade an dieser Sprache eine große Freude gewonnen, weil das Litauische die älteste indogermanische Sprache in Europa darstellt, die heute noch viel von ihrem alten Sprachcharakter bewahrt hat. Während zum Beispiel die anderen Sprachen nur noch Ein- und Mehrzahl besitzen, so hat das Litauische auch noch die Zweizahl, den sogenannten Dualis, der allerdings gerade damals durch Verfügung der Regierung abgeschafft wurde. Es wollte mir scheinen, als ob die Menschheit da oben verhältnismäßig kleine Sorgen hatte. Zunächst also umgaben mich die Laute einer neuen Sprache, was auch für den vielerfahrenen Reisenden immer ein eigenartiges Gefühl ist. Das litauische Visum hatte ich mir selbstverständlich in Breslau verschafft. Es war das gar keine einfache Angelegenheit. Es war nur zu bekommen, wenn man eine besondere Einreiseerlaubnis hatte. Auch dieser Staat kapselte sich nach Möglichkeit von der Umwelt ab.
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Langsam fuhr der litauische Zug durch das winterliche Memelland. Da oben wehte schon eine ganz andere Luft. O h n e Pelz hätte ich diese Reisen nicht machen können. Die Stationsnamen waren nur in litauischer Sprache angebracht. Unter den Reisenden hörte man sie aber nur selten. So kam ich also schließlich in Memel an, das gar nicht mehr Memel hieß, sondern den litauischen Namen Klaipeda führte. Hier erwartete mich an der Bahn Herr Leon Scheinhaus, mit dem ich auch die ganze vorbereitende Korrespondenz geführt hatte. Dieser Herr, vielleicht eine der interessantesten Persönlichkeiten, denen ich auf meinen vielen Vortragsreisen begegnet bin, war russischer Jude, was etwas ganz anderes bedeutet als polnischer Jude. Er war ein bedeutender hebräischer Schriftsteller und hatte auch in deutscher Sprache mancherlei veröffentlicht. Dabei war er von Beruf nicht etwa Gelehrter, sondern Holzkaufmann, eine von jenen gewaltigen Kaufmannspersönlichkeiten, die einstmals den russischen Holzexport auf dem Memelfluß beherrschten. Nachdem der Bolschewismus in Rußland zur Herrschaft gekommen war, hatte er sein Vermögen eingebüßt. N u n hatten ihm die neuen Grenzen jede geschäftliche Betätigung genommen. Er lebte jetzt ganz den jüdischen Interessen und im besonderen dem Verein für jüdische Geschichte und Literatur. Auch sein Bruder war eine eigenartige Persönlichkeit. In dessen Hause sah ich eine bedeutende Sammlung von Erinnerungen an die Zeit Napoleons I. Leon Scheinhaus war auch in dem allgemeinen Leben der Stadt eine sehr angesehene Persönlichkeit. Damals 1926 war noch kein Gegensatz zwischen Deutschen und Juden, im Gegenteil, die kultivierten Juden und die Deutschen hielten gegen die Litauer zusammen. Bei meinem Vortrag, der an sich ein rein jüdisches Thema behandelte, waren auch die geistigen Kreise des memelländischen Deutschtums vertreten. Für den Vortrag stand die Aula einer großen Schule zur Verfügung. Scheinhaus hatte meinen Vortrag durch einen großen Artikel im „Memeler Dampfboot", in dem er meine bescheidenen Verdienste weit über Gebühr hervorhob, vorbereitet 15 . Dieses „Memeler Dampfboot" war eine sehr alte und die angesehenste Zeitung in deutscher Sprache dort oben. In früherer Zeit war sie übrigens von dem Memeler Rabbiner Dr. Rülf im Nebenamt geleitet worden. Es hatte ja Zeiten gegeben, w o zwischen Deutschtum und Judentum kein Riß klaffte, und auch unter jüdischer Leitung ist das „Memeler Dampfboot" stets eine Vertreterin der deutschen Sache
15
Konnte nicht ermittelt werden.
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gewesen. „Ultima Thüle" nannten die gebildeten Memelländer sehr gern ihre geliebte Stadt. Der Bau der Stadt machte schon einen durchaus russischen Eindruck. Die Häuser waren nicht hoch. Das Wichtigste in ihnen war der Ofen, den man möglichst nicht ausgehen ließ. Ich bin später noch öfters da gewesen, auch in den Weihnachtsferien, als es ganz schön kalt war und dauernd ein starker Wind durch die Straßen fegte. Der richtige Memelländer ging dieser Kälte aber nicht nur mit Ofenwärme zu Leibe; vor allem mußte diese Kälte innerlich bekämpft werden, und das geschah durch eine Fülle von heißem Grog, ab und zu unterbrochen durch andere Sorten konzentrierten Alkohols. Wenn man, wie ich hoffe, auch sonst mit meiner Vortragstätigkeit zufrieden war, so war man doch durchaus nicht damit einverstanden, daß ich die Auffassung vertrat, auch heißer Tee könne dasselbe leisten. Ich habe hier oben besonders liebe Menschen kennengelernt, die sich Mühe gaben, mir das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Hier war man ja besonders glücklich, wenn jemand diese weite Reise machte und etwas Anregung ausstreute. Von all diesen lieben Menschen, soweit sie überhaupt heute noch am Leben sind (Leon Scheinhaus ist vor einigen Jahren einem Leiden erlegen), befindet sich heute kein einziger mehr im Memelgebiet. Als das Memelland zu Deutschland zurückkehrte 1 6 , haben vorher sämtliche Juden das Land verlassen und sind nach Litauen gegangen und damit heute russische Bürger geworden, nachdem Litauen zu einem Teil der Sowjetunion geworden ist 17 . Auch die Synagoge, in der ich auf diesen Reisen oft gewesen bin, steht nicht mehr, sie ist abgetragen worden. Damit hat ein Stück jüdischer Geschichte seinen Abschluß gefunden. Aber als ich Ostern 1926 hier ankam, da war davon noch nichts zu merken. Es pulsierte ein lebendiges jüdisches Leben. Die Memeler Juden gliederten sich deutlich in zwei Teile. Auf der einen Seite standen die deutschsprachigen Juden und auf der anderen diejenigen, die aus Litauen zugezogen waren. Diese nahmen auch an Vorträgen jüdischen Inhalts, die in deutscher Sprache abgehalten wurden, keinen Anteil. Es waren doch Menschen ganz anderer Art. Ich habe sie auch kaum kennengelernt. Manchmal, wenn man nach dem Vortrag in dem Café Tel Aviv saß, konnte 16
Die Ü b e r g a b e geschah am 22. 3. 1939, ein halbes Jahr vor A u s b r u c h des Zweiten Weltkrieges. 17 C o h n hat hier die jüngsten Ereignisse vor Augen, nämlich die A u s r u f u n g der Sowjetrepublik Litauen am 21. 7. 1940 u n d ihre Eingliederung in die Sowjetunion am 3. 8. 1940.
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ich sie beim Kartenspiel beobachten. Vielleicht war ihnen ihr Judentum so selbstverständlich, daß sie jüdische Vorträge nicht nötig hatten. Bei meiner ersten Anwesenheit in Memel war ich in dem prachtvoll eingerichteten Hotel Victoria untergebracht. Das erste war, daß ich nach dieser langen Reise meinen äußeren Menschen ein wenig in Ordnung brachte. Unendlich ist auch die Gastfreundschaft dieser Menschen gewesen. Ich lernte damals die russische Sitte der Sakuska 1 8 kennen. Vor jedem Essen gab es eine Unzahl kalter Vorgerichte. In Unkenntnis dieser kulinarischen Angelegenheit habe ich diese Gerichte das erste Mal für das Hauptessen angesehen und zog mir den Zorn der Hausfrau zu, als ich nachher nichts mehr zu essen vermochte. Alles wurde immer mit sehr viel Liebe gereicht, und es machte Freude zu sehen, wie man sich Mühe gab. Das ganz große Erlebnis dieser Fahrt aber war das Wiedersehen mit dem Meere. Da wohl nur wenige meiner Leser jemals am Kurischen Haff gestanden haben, so möchte ich diese Eindrücke etwas näher beschreiben. Bei Memel erreicht das Kurische Haff das offene Meer. Ich fuhr mit der Straßenbahn hinaus und kletterte dann auf der durch die Brandung ziemlich glitschig gewordenen Mole bis zur äußersten Spitze vor, wo der Leuchtturm stand. Wie unterscheidet sich doch das Meer in dieser Jahreszeit von dem, wie man es sonst im Sommer auf Badereisen zu sehen gewohnt war! Das Wasser wurde vom Sturm gegen den Strand gepeitscht, an dem ich dann entlang wanderte. Die hebräische Kindergärtnerin von Memel, Gittel Tennenbaum, begleitete mich. Wir haben uns sehr gut verstanden, da uns das gleiche zionistische Ideal verband. Sie war eine Jüdin aus Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina oder dem Buchenlande, wie man jetzt zu sagen pflegt. Damals war Czernowitz rumänisch, heute gehört es zur Sowjetunion 1 9 . Gittel Tennenbaum ist später Kindergärtnerin in Leipzig geworden, dann habe ich ihre Spur verloren. Als wir an jenem Morgen am Strande der Ostsee entlang wanderten, von Palästina und der Zukunft unseres Volkes sprachen, spülte das Meer zu unseren Füßen Bernstein heran. Ich sammelte eine ganze Menge, kaufte auch noch einem Jungen etwas ab. U m dieses Bernsteins willen sind in der Vergangenheit jüdische Händler von weit her in das Samland
Sakuska: kalte Vorspeisen wie Fisch, Gurke usw. Im Juni 1940 hatte Stalin von Rumänien ultimativ die Abtretung der Nordbukowina mit Czernowitz verlangt und durchgesetzt. 18
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gewandert, denn einstmals gehörte der Bernstein zu den begehrtesten Schmuckgegenständen römischer Frauen! [...] Das Herrliche solcher Spaziergänge bestand auch darin, daß der Strand frei von Menschen war und man wirklich das Gefühl hatte, Zwiesprache mit der Natur zu halten. Wenn einen jemand begleitete, mit dem man die gleichen Interessen teilte, so störte es nicht. Manchmal bin ich aber auch ganz allein da draußen gewesen und habe in diesen Stunden die Sammlung gefunden, die ich für meine geistige Arbeit brauchte. [...] Für einen Aufenthalt in Memel hatte man sich persönlich bei der Polizei zu melden, um den Paß abstempeln zu lassen. Hier war es nicht wie in Polen, w o eine Vertretungsmöglichkeit durch den Hausdiener bestand. Aber die memelländische Polizei waren alte deutsche Beamte, wie überhaupt das Memelland eine gewisse Autonomie besaß und in einem stetigen Kampf gegen die Übergriffe der litauischen Behörde lag. Nach dem Vortrag mußte ich auch noch an einem Fest der Brudervereinigung Memel der Tilsiter Loge „Zu den drei Erzvätern" teilnehmen, die im Victoria-Hotel stattfand. Aber nur bis zwölf Uhr habe ich es ausgehalten und nur in sehr bescheidenem Umfange an den kulinarischen Genüssen teilgenommen. Nach einem Vortrag war ich immer ziemlich erschöpft. Am nächsten Tage hieß es schon weiterfahren, wieder Reisestrapazen auf sich nehmen und am Abend frisch zu sein. Da ich im gleichen Hotel wohnte, war es nicht so schwer, heimlich zu verschwinden und das Fest nicht zu stören. [...] Am nächsten Morgen ging es also weiter. Die nächste Etappe war Alienstein. Dies ist der Hauptort des südlichen Ostpreußens. Ich mußte zunächst nach Tilsit zurück und dann nach Süden abbiegen. In der Zeit nach dem Ende des Weltkrieges hatte auch hier eine Abstimmung stattgefunden, aber die Bevölkerung hat fast hundertprozentig ihr Bekenntnis zu Deutschland abgelegt. In Allenstein sprach ich über Ferdinand Lassalle. Auch hier habe ich eine Reihe von Menschen kennengelernt, die mir interessant waren. Einen alten Bekannten traf ich in dem Zahnarzt Dr. Krüger, dem ich in früheren Jahren in Brückenberg begegnet war. Dann lernte ich den Lehrer Silberpfennig kennen und ein Fräulein Ladendorff. Diese erwähne ich aus dem folgenden Grunde: Georg Hermann schildert in seinem Roman „Eine Zeit stirbt" so schön, wie es üblich ist, den Vortragenden am nächsten Tage durch die Stadt zu führen, damit er die Sehenswürdigkeiten besichtigt 20 . Hier in Alienstein hatte diese Funktion die genannte Dame übernommen sowie der Lehrer. Sie sprach ununterbrochen, so daß ich auf diese Weise die Möglichkeit hatte, mir alles 20
G. Hermann: Eine Zeit stirbt. Berlin 1934.
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anzusehen und die Eindrücke in mich aufzunehmen. Auf Antworten legte sie keinen Wert, was mir ganz angenehm war. Ich sah unter anderem auch das alte Schloß aus der Deutschordenszeit. Der letzte Vortrag auf dieser Reise führte mich nach Braunsberg. Diese Stadt liegt im katholischen Ermland, während das übrige Ostpreußen vorwiegend protestantischen Charakter hat. Dieses Ermland hat eine ganz andere geschichtliche Vergangenheit, wie sich überhaupt der eigenartige Zauber dieser Provinz nur dem erschließt, der mit der Vergangenheit des Landes etwas näher vertraut ist. In Braunsberg befindet sich eine katholische Akademie, die den Nachwuchs an Priestern für das Gebiet erzieht. Vom Ermland wird in diesen Blättern noch später des öfteren die Rede sein. Braunsberg hatte nur eine kleine jüdische Gemeinde, die aber gut zusammenhielt und die von dem Kaufmann Schachmann betreut wurde. Er gab sich sehr viel Mühe um den Zusammenhang. [...] Von Braunsberg fuhr ich noch einmal nach Elbing, das auf dem Rückwege lag, vor allem um Dr. Neufeld Bericht zu erstatten, wie die Vortragsreise verlaufen war. Dabei zeigte er mir noch die Schönheiten Elbings, das eine für ostdeutsche Verhältnisse recht alte Stadt ist. Auf unserem Gange durch die alten Straßen begleitete uns eine Schülerin von ihm, Lotte Becker, damals Abiturientin. Sie hat später, als sie in Breslau studierte, lange in unserem Hause verkehrt, bis sie ihr Referendarexamen gemacht hat. Dann ist sie nach Prag ausgewandert und nun auch für uns wie so viele andere verschollen. Gerade das ist ja auch das Erschütternde an unserem Zeiterleben, daß man Menschen, die einem nahegestanden haben, gänzlich aus dem Gesichtskreis verloren hat. [...] Das Vierteljahr von Ostern bis Pfingsten pflegt normalerweise das Schönste zu sein. Mancher Ausflug ließ sich machen, und das habe ich auch stets ausgenützt, nicht zum wenigsten deshalb, um auch den heranwachsenden Kindern etwas von ihrer Heimat zu zeigen. So machte ich einmal, während meine Frau mit Ruth zum achtzigsten Geburtstag der Großmutter in Berlin war, mit Ernst und dem Ehepaar Rechtsanwalt Polke einen Ausflug nach Ingramsdorf. Wir liefen von dort nach Domanze, das in dieser Jahreszeit durch seine Fliederblüte besonders schön ist, und von dort bis hinüber zu der Eisenbahn, die Schweidnitz über den Zobten nach Breslau verbindet. Es gibt nichts Schöneres, als sich so seine Heimat zu erwandern, und ich wünschte, daß ich das auch heute noch könnte. Einmal machte ich auch mit meiner Frau eine schöne Wanderung von Sibyllenort nach Bohrau, von wo aus wir wieder nach Hause
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zurückfuhren. Dieses Sibyllenort hat einen eigenartigen Charakter, der heute vergangen ist. Deswegen mögen meine Eindrücke an diesen O r t noch festgehalten werden. Sibyllenort war durch Jahrzehnte hindurch der Sommersitz der sächsischen Könige gewesen. Hier konnte man früher König Albert sehen und dann seinen Bruder und Nachfolger König Georg. Den letzten sächsischen König Friedrich August, von dem so viele scherzhafte Erzählungen im Umlauf sind, habe ich in Sibyllenort niemals erblickt. Was hier im Laufe der Zeit an Kulturwerten geschaffen worden ist, bleibt ein Verdienst der sonst in der Geschichte so schlecht beurteilten deutschen Kleinstaaterei. Man konnte früher auch das Schloß besichtigen, in dem sich eigenartige Sammlungen befanden, auch ein Hoftheater vorhanden war, wie es das 18. Jahrhundert liebte. N u n ist das alles von den Nachfahren längst versteigert worden und nur die Erinnerung ist geblieben. Die Geschichte ist darüber hinweggegangen. Einen anderen Ausflug machten wir mit beiden Jungens mit der berühmten Trebnitzer Kleinbahn, die seit vielen Jahrzehnten in ihrem „Eiltempo" von Breslau über entlegene Dörfer nach Trebnitz fährt. Den Kindern machte das natürlich besonderen Spaß, als wir damals nach Hünern fuhren. [...] Ich habe nun sehr viel von Reisen erzählt, und es könnte so klingen, als ob mein ganzes damaliges Leben nur das Warten von einer Reise auf die andere gewesen wäre. Aber das. ist durchaus nicht der Fall. Abgesehen von der üblichen Schularbeit, die stets zu leisten war, ging die wissenschaftliche Arbeit ihren Gang. Mein Buch über die Flotte Friedrichs II. war im Verlag von Priebatsch erschienen 21 . Gerade an diesem Buche habe ich, was den Absatz anbelangt, sehr viel Freude erlebt und auch einen gewissen klingenden Lohn gehabt. Diese entlegenen flottengeschichtlichen Studien haben mir stets besondere Freude gemacht. Immer wenn ich eine solche Arbeit abgeschlossen hatte, nahm ich mir eigentlich vor, das Gebiet nicht mehr zu beackern, und bin aber dann doch immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Methodisch habe ich diesen Flottenarbeiten insofern sehr viel zu verdanken, als sie mich immer wieder zu schärfster Quellenanalyse zwangen, während die zusammenfassenden Arbeiten, die unter einem anderen Gesichtswinkel standen, das nicht verlangten. [...] Ein Wort auch über die Schullaufbahn der Jungen. Wölfl hatte sich am Johannesgymnasium sehr gut eingerichtet und war Ostern mit einer
21
Vgl. SV Nr. 198.
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Prämie nach Hause gekommen, worauf ich natürlich sehr stolz war, zumal ich auch selbst an der gleichen Anstalt manche Prämie eingeheimst hatte. Ernst ging damals in die Jüdische Volksschule am Rehdigerplatz, wo er eine sehr gute hebräische Grundlage bekam. Heute ist diese Sprache seine Umgangssprache geworden. In den ersten Schuljahren war Ernst auch, wie sehr viele Kinder, außerordentlich fromm. Schon im vergangenen Jahre, als wir in Kudowa in einem jüdischen Restaurant aßen, hatte er das lange Tischgebet sehr gut zu beten verstanden. So große Mühe ich mir auch damit gab, die kindliche Frömmigkeit habe ich bei den Kindern nicht so erhalten können, wie ich mir das gewünscht hätte. In den Jahren des Zweifeins haben sie sich anders entwickelt. Wo sie heute stehen, vermag ich nicht mehr zu sagen, nachdem man so viele Jahre von ihnen getrennt ist. Damals lebte in unserem Hause ein Großonkel meiner Frau, Jonas Rothmann, bis es gelang, für ihn einen Platz in der jüdischen Altersversorgungsanstalt auf der Kirschallee frei zu bekommen. Das war ein interessanter Mann, der trotz seines hohen Alters sehr plastisch zu erzählen wußte. Als ob es gestern war, so berichtete er von dem polnischen Aufstand von 1847, als sich die Sensenmänner gegen Deutschland erhoben 22 . Als junger Mensch hatte er große Reisen gemacht, war noch mit einem Segelschiff in Australien gewesen. [...] Ich hatte eine Aufforderung erhalten, in der Saar-Loge in Saarbrücken zu sprechen. Diese Reise wollte ich mit einer Erholungsreise in Frankreich verbinden. [...] Damals [1926] gehörte das Saargebiet nicht zu Deutschland; es war das letzte jener Territorien, in denen auf Grund des Versailler Vertrages eine Volksabstimmung stattzufinden hatte. Das Saargebiet aber gehörte zollpolitisch zu Frankreich. Deswegen hatte man sich auch vor der Einreise dorthin einer Kontrolle durch französische Zollbeamte zu unterziehen. Auch das gesamte linke Rheinufer war damals noch besetzt. Im Saargebiet galt die französische Währung. In Saarbrücken selbst wurden wir geradezu fürstlich aufgenommen. Wir wohnten in einem Hotel, in dem man sich beim Abenddiner nicht allein setzen durfte. Im entscheidenden Moment schob einem der Herr Ober diskret den Stuhl unter den dazu bestimmten Körperteil. Das Milieu dieses Hotels war überhaupt eigenartig, ganz anders als das jener ostpreußischen Gasthöfe, in denen ich mich so wohlgefühlt hatte. Hier war eine internationale Luft. Man hörte neben der deutschen Sprache auch schon viel Französisch, doch ist der Charakter des Saargebietes, 22 Wohl der Aufstand von 1846, der sich gegen Preußen und Österreich richtete.
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wie sich später bei der Volksabstimmung zeigen sollte, ein gänzlich deutscher gewesen. Die Franzosen, die dort 1926 lebten, waren eben dorthin versetzte Beamte und dergleichen. So wollte es mein damaliges Schicksal als „Wanderredner", daß ich in einem Jahre gerade in den beiden entgegengesetzten Orten des deutschen Sprachgebietes zu reden hatte, in Memel und in Saarbrücken. Beide Orte trugen ihr besonderes Grenzlandschicksal. Über den Vortrag in der Saar-Loge selbst ist nichts Besonderes zu berichten, abgesehen davon, daß ich sehr nett und herzlich aufgenommen wurde und auch meine Frau sich wohlfühlte. Wirtschaftlich ging es den Juden Saarbrückens damals ausgezeichnet. Aber was will das besagen? Als ich später in Saarbrücken sprach, nachdem es wieder an Deutschland gekommen war, waren die meisten der Juden schon abgewandert. Heute dürfte kaum noch ein Jude in Saarbrücken sein. Gerade Reichtum ist etwas, was rasch wieder vergeht, viel rascher, als in der Regel die Besitzer im Augenblicke anzunehmen geneigt sind. Wir benutzten den Tag nach dem Vortrag, um einen Rundgang durch die Stadt Saarbrücken zu machen. Das Saargebiet erinnerte mich in hohem Maße an das oberschlesische Industriegebiet. Wie dort so auch hier geben die Gruben und die Hütten dem Gebiet seine charakteristische Prägung. Das war ja auch der Grund, warum Frankreich so gern die Gruben haben wollte. Sonst bietet die Stadt, abgesehen von einigen bemerkenswerten Gebäuden, nichts Besonderes. Ich habe aber auch immer den Rhythmus des Hohenliedes der Arbeit in mich aufzunehmen versucht. So saßen wir am nächsten Tage im Zuge nach Paris. Es war ein eigenartiges Gefühl, das mich in diesem Augenblicke packte. Zweimal war ich als Soldat kurz vor Paris gewesen, einmal im September 1914, als wir glaubten, im raschen Siegeszug des Bewegungskrieges bis in die Hauptstadt vorzustoßen, und dann noch einmal 1918, als ich in Chäteau-Thierry nur noch achtzig Kilometer von Paris entfernt war. Aber beide Male war es uns ja nicht geglückt, die Hauptstadt zu nehmen. Und nun fuhr ich im D-Zug dahin, auf diesem Wege, der mit so viel Blut getränkt war. Man hat einmal das Wort geprägt: Einmal Soldat, immer Soldat. Daran ist sicher etwas Richtiges. Meine Gedanken waren, als ich durch die Landschaft fuhr, bei den. vielen toten Kameraden, denen eine Heimkehr nicht beschieden war und die nun schon viele Jahre dort unten schlummerten. Damals aber hatte man wenigstens das Gefühl, daß das nicht mehr wiederkommen würde. Darum gingen auch die Gespräche, so weit man mit den Mitreisenden überhaupt in ein Gespräch kam. Es war für mich ein besonders aufregender Augenblick, als ich von dem Fenster
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des Abteils die Höhe bei Château-Thierry erkannte, auf der ich im Jahre 1918 gelegen hatte. Es war wieder alles so, als ob es gestern gewesen wäre. Aber ich wollte mich nicht allzulange von diesen Gedanken beherrschen lassen, wenn auch die Treue über das Grab hinaus für jemanden, der wirklich kameradschaftliche Gefühle hegt, selbstverständlich ist. [...] Ich will auf diesen Erinnerungsblättern nicht in Wettbewerb mit all denen treten, die versucht haben, den Glanz von Paris zu beschreiben, jenen eigentümlichen Hauch uralter Kultur, wie sie wohl kein anderer Ort auf der Erde aufzuweisen hat. Ich glaube auch kaum, daß ich dazu imstande wäre. Ich habe das Glück gehabt, Paris nicht nur dies eine Mal besuchen zu dürfen, sondern auch später noch wiederholt. Ich habe es unter den verschiedensten Blickpunkten gesehen, vor allem in späteren Jahren, dann nicht mehr mit den Augen des Fremden, sondern mit den Augen meines Sohnes, der sich dort eine Existenz aufzubauen versuchte. Damals 1926 aber sahen wir die Stadt mit den Augen begüterter Reisender. Gewiß waren wir nicht so reichlich mit Mitteln ausgestattet wie jene Dollarfürsten, die im Sommer aus Amerika zu kommen pflegten, und dann in den Riesenhotels der Champs-Elysées wohnten. Damals war der französische Franc ins Wanken gekommen, und das Wertverhältnis zur deutschen Mark war ein günstiges. Außerdem hatte ich mein Honorar in Saarbrücken in Franken bekommen. Es war so großzügig ausgefallen, daß es dazu reichte, sämtliche Fahrkarten in Frankreich zu bezahlen. Es hat mir nicht gelegen, diese Frankenentwertung auszunützen, wie mir so etwas überhaupt immer schrecklich war, weil ich wußte, wieviel Elend dies für die Bevölkerung mit sich brachte. Immerhin konnten wir es uns damals in Paris leisten, sehr viel mit dem Auto zu fahren. Es war billiger als in Deutschland die Straßenbahn. Dadurch konnten wir in verhältnismäßig kurzer Zeit viel sehen, ohne die Aufnahmefähigkeit durch Pflasterlaufen herabzusetzen. Was uns beide in gleicher Weise am meisten beeindruckt hat, war jene einmalige Straße, die sich vom Louvre durch den Tuileriengarten bis zum Triumphbogen hinzieht. Hier hat sich alles abgespielt, was französische Geschichte bedeutet. Unsere Tage haben nun jenen Gefilden wieder ein neues Blatt hinzugefügt 23 . Wir waren am Denkmal des unbekannten Soldaten, wo meine Frau einige Blumen niederlegte. Wir erlebten stimmungsvolle Augenblicke in Notre Dame, wir wühlten in den Bücherkästen am Seineufer, nahmen den Zauber des Quartier Latin 23
Anspielung auf die Siegesparade der deutschen Wehrmacht 1940 auf den Champs-Elysées.
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in uns auf, wohnten durch Zufall einer Preisverleihung in der Sorbonne bei. Wir fuhren nach dem Bois de Boulogne hinaus, waren auch einmal in Versailles, wohin damals noch eine Straßenbahn ging. Später sind alle Straßenbahnen von Paris durch Autobusse ersetzt worden. Dafür waren wehrpolitische Gründe maßgebend; aber auch diese haben ja Frankreich vor seinem Schicksal nicht bewahren können. In Versailles waren alle Erinnerungen an die Kaiserkrönung 24 von 1871 ausgelöscht, während alles zu sehen war, was an den Vertrag von 1919 erinnerte. Ich sah in Versailles im Vorbeifahren auch das Hotel des Reservoirs, wo die deutsche Waffenstillstandskommission ihr Quartier hatte, deren Mitglieder mehr oder weniger wie Gefangene behandelt wurden. Heute, da wir die Folgen des Versailler Vertrages so sehr spüren, wissen wir, wie falsch das alles gewesen ist. Gerade diese Stunden in Versailles haben mir, und wie könnte das für einen Historiker anders sein, die ganze tragische Verquickung menschlicher Schicksale erneut aufgezeigt. Ich habe niemals, auch wenn es sich nur um eine Erholungsreise handelte, die großen Zusammenhänge aus den Augen verlieren können. [...] Das Leben des Parisers spielt sich nicht zum geringsten Teil in kleinen Cafés ab, wo er früh im Stehen sein Frühstück einnimmt und öfters einmal, wenn es die Arbeit zuläßt, zu Gaste ist. Niemals nimmt der Pariser mit neugierigen Blicken von dem anderen Kenntnis. Man hat eine große Achtung vor dem Privatleben des anderen, in das man sich nicht einmischt. Beim Mittagbrot zum Beispiel sitzen die fremdesten Menschen dichtgedrängt nebeneinander und bemühen sich, sich nicht im Wege zu sein. Es wird keine zwangsmäßige Konversation gemacht, sondern jeder hängt seinen Gedanken nach. Wir hatten damals meist in dem Restaurant Richelieu gegessen auf der gleichnamigen Straße, unweit der Nationalbibliothek. Einmal fuhren wir auch mit der damals noch vorhandenen uralten Zahnradbahn nach Sacré-Cœur hinauf. Diese große Kirche war 1926 noch nicht vollendet 25 ; aber von dort aus (es ist der Hügel von Montmartre) hat man einen unvergleichlichen Blick über die Stadt, den man niemals vergißt und der sich tief in die Seele einprägt. Wir gingen auch durch die Gassen der heiligen Butte, so lautet ja der Name für den Hügel von Montmartre, wo noch eine eigenartige Selbstverwaltung besteht, die in taktvoller Weise für bedürftige Menschen sorgt. Unwillkürlich denkt man, wenn man seinen Murger im Kopfe hat, Richtiger: Kaiserproklamation. Die Kirche von Sacré-Cœur wurde in den Jahren 1 8 7 6 - 1 9 1 9 errichtet, doch wurde die Treppenanlage davor erst 1929 angelegt. 24 25
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daß dort die unsterblichen Gestalten der Boheme auftauchen werden 26 ; aber das ist nun längst vorbei. Von diesem alten Leben von Montmartre ist heute nichts mehr zu spüren und war es auch schon 1926 nicht mehr. Der moderne Künstler legt keinen Wert darauf, an seinem äußeren Aussehen als solcher erkannt zu werden. So ist Montmartre mehr oder weniger zu einer Art Fremdenbetrieb geworden. [...] Wir waren damals auch noch am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, in Frankreichs Hauptstadt, wo auf allen Gassen getanzt wurde und das Volk sich auf der Straße vergnügte. Paris hat nicht, wie die meisten Leute glauben, eine einheitliche Verwaltung, sondern jedes Arrondissement führt sein Eigenleben und feiert an diesem Tage für sich selbst. Wie oft hatte ich im Unterricht jenen 14. Juli 1789 und den Sturm auf die Bastille dargestellt. N u n durfte ich diesen Tag dort verleben. Selbstverständlich suchte ich die Stelle auf, w o eben dieses französische Gefängnis bestanden hat. N u r eine Gedenksäule erinnert noch daran. Die Menschheit hat ja ein geringes Gedächtnis für die Schrecken der Weltgeschichte, aber der Historiker weiß, wieviel Blut damals geflossen ist. Heute sagt man, daß dies für die Freiheit der Menschheit geschah; aber die Unschuldigen, deren Häupter mit denen der Schuldigen unter dem Fallbeil fielen, werden es deswegen nicht leichter gehabt haben. Man denkt immer, daß die eigenen Zeiten die schlimmsten sind. Es ist vielleicht auch gut, daß das Gedächtnis eines Volkes nicht alles bewahrt; aber der Geschichtsforscher sieht die Dinge mit Röntgenstrahlen. Es ist oft schwer, auf einer solchen Reise den Genuß des Augenblicks mit den Reflexionen zu vereinigen. Wenn man ein schwerlebiger Mensch ist, so gelingt das eben nur in beschränktem Umfange. Wir machten auch bei der Venus von Milo einen Anstandsbesuch und ließen uns von der Gioconda anlächeln. Museumsbesuche haben immer etwas sehr Strapaziöses, auch wenn wir uns wirklich bemühten, eine kleine Auswahl zu treffen, Eindrücke festzuhalten. Doch muß ich ehrlicherweise sagen, daß unter dem Vielen, was ich in meinem Leben zu sehen das Glück hatte, von dem, was ich in Museen sah, am wenigsten geblieben ist. Wir wagten uns auch bis zur ersten Etage des Eiffelturms. D o r t hatte ich schon genug, weil ich nicht schwindelfrei bin. Vom Eiffelturm hatte mir meine Mutter viel erzählt. Meine Eltern waren im Jahre 1889 dort, als der Eiffelturm damals anläßlich der Weltausstellung errichtet wurde
26
Henri Murger verfaßte das Libretto für Puccinis Oper „La Boheme".
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und als ein Weltwunder galt. Ich bewahre noch heute die Zeitung auf, die damals auf dem Eiffelturm gedruckt worden ist und die meine Eltern mitbrachten. Aber noch 1926 imponierte diese kühne Konstruktion des Turmes, der gegenüber dem Trocadero gelegen ist. Vor einigen Jahren ist der Trocaderopalast, als wiederum in Paris eine Weltausstellung stattfand, die letzte vor Ausbruch des Weltkrieges, gänzlich umgestaltet worden 27 . So gingen die eindrucksvollen Tage von Paris zu Ende. Inzwischen hatten wir uns auch entschlossen, wo wir hinfahren wollten, und so saßen wir eines schönen Tages in einem herrlichen Zuge, der vom Gare Montparnasse nach der Bretagne rollte. [...] Als wir an Rennes vorbeifuhren, stiegen andere Erinnerungen auf. Hier hatte sich die Tragödie des Dreyfusprozesses abgespielt, aber hier hatte auch nach der unerforschlichen Güte des Ewigen Theodor Herzl sein jüdisches Erlebnis gehabt 28 . Hier ist gewissermaßen der moderne Zionismus geboren worden, der die Erlösung für unser Volk bedeuten soll. [...] Schließlich kamen wir in St. Malo an. [...] St. Malo war im Mittelalter eigentlich ein Seeräubernest, und es kann sein, daß deswegen der Einwohnerschaft die Umstellung auf den Fremdenverkehr sehr leicht geworden ist. Die Bevölkerung von St. Malo, les Malouins, wie sie sich nannte, war auf allen Meeren zu Haus. [...] Ein harter Menschenschlag war hier in unablässigem Kampfe mit dem Meere geprägt worden, viele von ihnen mögen von Sturmfahrten nie wiedergekehrt sein und den Seemannstod gefunden haben. Hier sahen wir manche Sturmflut, wie ich sie auch auf Sylt niemals erlebt hatte. In wenigen Augenblicken stieg das Meer um fast zehn Meter. [...] St. Malo vorgelagert ist eine Unzahl von Inseln oder richtiger von kleinen Klippen, die unbewohnt sind. Romantische Seelen lassen sich von der Flut hier einschließen und warten dann abgeschieden von der Menschheit ab, bis sie wieder an den. Strand zurückkönnen. Auf einem dieser Eilande ruht auch der Dichter Chateaubriand. Nach seinem letzten Willen kündet keine Inschrift die Stelle, wo er begraben ist, und doch finden unzählige Menschen alljährlich den Weg zu dieser so eigenartigen und stimmungsvollen Ruhestätte des großen Dichters. [...] Die Weltausstellung von 1937. Damals wurde das Palais de Chaillot erbaut. Vor dem Kriegsgericht in Rennes wurde in mehreren Verfahren der Spionageprozeß gegen Hauptmann A. Dreyfus geführt, der 1906 zu dessen völliger Rehabilitierung führte. Die Dreyfus-Affäre erschütterte die französische Öffentlichkeit. Der dabei zutage getretene Antisemitismus veranlaßte Theodor Herzl zur Abfassung seines Buches „Der Judenstaat" (1895). 27 28
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Manchmal ging ich am Abend in den Hafen. Dann fuhr der Dampfer nach Southampton ab, und auch da gab es allerlei zu beobachten. Man sah die sorgsam gebügelten Stewardessen sich um die neuen Gäste bemühen; alles war von einer letzten Sauberkeit. Ich konnte beobachten, wie Franzosen und Engländer sehr wenig miteinander harmonierten. Durch den niedrigen Stand des französischen Franken konnten es sich damals sogar englische Arbeitslose leisten, über das Wochenende einen Ausflug nach der nahegelegenen Bretagne zu machen. Kurz bevor das Schiff abging, warfen die Engländer dann die für sie wertlosen kleinen französischen Münzen vom Schiff herunter. Das war etwas, worüber sich die Franzosen mit Recht jedesmal kränkten. [...] Während ich das alles niederschreibe, ist jene friedliche Gegend längst Kriegsgebiet geworden. Kein Sommerfrischler wird in diesem Jahre 1941 die Bretagne aufsuchen. Dafür aber werden sich hier die Bombenflugzeuge ein Stelldichein geben. In der Geschichte von St. Malo wird ein neues Blatt geschrieben. Noch ist nicht abzusehen, wann wieder einmal friedliche Menschen hier eine solche sommerliche Erholung finden werden, wie wir sie damals gefunden haben. So manches friedliche Bild steigt noch auf. So gab es zum Beispiel in St. Malo ein Freiluftkino. Man setzte sich auf den Marktplatz und konnte sich nun verschiedene Filme ansehen. Damals war ja noch die Zeit des stummen Films, den man mit vollem Genuß im Freien sehen konnte. [•••] Besonders hatte ich mich mit einer alten Zeitungsfrau angefreundet. Sie ließ sich gern etwas von Deutschland erzählen, zumal sie von diesem Lande eine ganz barbarische Vorstellung hatte. So wollte sie zum Beispiel nicht glauben, daß es in der „Bochie", wie sie sich ausdrückte, auch Kinos gäbe. Gerade in den entlegeneren Teilen Frankreichs lebte noch sehr viel von der Greuelpropaganda des letzten Krieges, wo man den Franzosen erzählt hatte, daß deutsche Soldaten Kinderhändchen abhackten. So betrachtete man uns zuerst mit einer Art respektvollem Mißtrauen, aber in den Wochen, in denen wir dort waren, gewöhnte man sich an uns. [-] _ Die Stimmung unter den Einwohnern in St. Malo war zeitweise eine recht erregte. Es hing das damit zusammen, daß die Währung damals so ins Wanken kam und am Abend, immer wenn der neue Kurs herauskam, sich im Stadtinneren lebhaft diskutierende Gruppen sammelten. Der Franzose ist ja nicht so leicht geneigt, alles hinzunehmen, was ihm von den Regierenden auferlegt wird, wie das andere Völker tun. Er ist gewöhnt, sein Schicksal selbst zu gestalten. Wir hatten ja, die wir aus Deutschland kamen, gerade auf dem Gebiete der Inflation schon
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mancherlei Erfahrungen. Ohne daß ich es wollte, wurde ich damals ein Nutznießer dieses bedauerlichen Geschehens. Ich konnte mir sogar einige Sachen kaufen, die ich mir in Deutschland damals nicht hätte leisten können. Aber ich weiß, daß ich das letzten Endes mit einem großen inneren Widerstreben getan habe. [...] Auf dem Rückweg hielten wir uns noch einmal in Paris auf und stiegen wieder in dem gleichen Hotel ab. Wir nahmen zum Abschied noch einmal schöne Eindrücke aus der unsterblichen Stadt mit und fuhren dann vom Ostbahnhof wieder nach Deutschland. Wir hatten wirklich alle Veranlassung, für diese Reise dankbar zu sein, die noch lange in unserer Seele nachklang. [...] Ich hatte bald nach Schulbeginn die Verfassungsrede zu halten. Der Verfassungstag der Weimarer Republik war am 11. August, und die zu erfüllende Aufgabe war gar nicht so einfach. Man wußte ja, daß ein großer Teil des Lehrerkollegiums der Republik gegenüber (nun sagen wir es einmal möglichst zahm) sehr zurückhaltend war. Aber ich habe diese Aufgabe einigermaßen gemeistert. Auch hielt ich in dem neuphilologischen Seminar, das Direktor Gabriel für die Studienreferendare leitete, einen Vortrag über die Frankreichreise. Ich hatte nachher den Eindruck, daß ich zu pazifistisch gesprochen hatte. Aber ich konnte unter dem Eindruck des Erlebten das nur so sagen, wie mir ums Herz war. Vielleicht darf ich noch etwas Abstoßendes nachtragen, das mir auf dieser Reise aufgefallen war. Aus der Besichtigung der Schlachtfelder, besonders der Schlachtfelder von Verdun, war ein Geschäft gemacht worden. Auf den Boulevards von Paris standen große Autos, die die Fremden einluden, die Schlachtfelder zu besichtigen. Es war alles mit eingeschlossen, und die verschiedensten „Attraktionen" wurden angepriesen, Besichtigung des Bajonettengrabens und daran anschließend Déjeuner. Ich war entsetzt und habe dem auch in einem Artikel im „Schild", dem Organ des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, Ausdruck gegeben29. Selbstverständlich habe ich an einer solchen Fahrt nicht teilgenommen; mir hat schon das Anpreisen genügt. Es war mir unfaßbar, daß das, was der ganzen Erde heiliges Vermächtnis sein sollte, nur eine Geschäftsangelegenheit wurde. [...] Und nun ist es Zeit, wieder von meinen literarischen Plänen und Arbeiten zu sprechen. Damals tauchte zuerst der Gedanke auf, eine Biographie über Hermann von Salza zu schreiben30. Anlaß dazu war nicht 29 30
Vgl. SV Nr. 201. Vgl. SV Nr. 341.
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nur meine Arbeit über die Hohenstaufen, bei der ich festgestellt hatte, daß es eine ausreichende Biographie über den großen Ordensmeister nicht gab, sondern auch die Tatsache, daß mich die Ostpreußenreise von Ostern sehr beeindruckt hatte. Der Abschluß dieser Arbeit hat sich dann noch lange hingezogen. Bis zu einem gewissen Grade ist ein Buch ja schon fertig, wenn man den ersten Gedanken dazu gefaßt hat. Es ist das gewissermaßen die geistige Zeugung. Meine Biographie über Bebel verlangte die üblichen Umarbeitungen, die aber diesmal sehr gering waren und zu denen eben der Verlagslektor verpflichtet war, wenn er sein Amt richtig auszufüllen beabsichtigte. So kamen wieder die Herbstfeiertage heran und mit ihnen die innere Einkehr und der Rückblick auf ein schönes und erfolgreiches Jahr. Mich beschäftigte damals ein neuer literarischer Plan, der auch zu Ende geführt wurde. Ein jüngerer Kollege, Dr. Klibansky, beabsichtigte eine jüdische Jugendbücherei herauszugeben und verhandelte auch mit mir darüber. Ich dachte an einen Beitrag über Walter Rathenau sowie einen über Johannes Capistrano. Beide Persönlichkeiten hatten im jüdischen Schicksal eine Rolle gespielt. Auch wenn Walter Rathenaus Stellung im Judentum erst ganz am Schluß seines Lebens eine positive wurde, hat er doch als Jude sein Leben gelassen. Die Schrift über Walter Rathenau habe ich auch geschrieben, während der Johannes Capistrano nur ein Projekt geblieben ist. Allerdings ist auch die Schrift über Walter Rathenau schließlich nicht gedruckt worden, weil die Großloge des Ordens Bne Brith, die diese Jugendbücherei übernahm, Bedenken bekommen hat. Verhandlungen mit jüdischen Stellen waren bei literarischen Plänen immer sehr viel schwerer als Verhandlungen mit anderen. Doch bedaure ich es nicht, daß ich diese Schrift verfaßt habe. Ich habe bei der Beschäftigung mit den Arbeiten von Rathenau sehr viel gelernt und einen Einblick in diese eigenartige Psyche gewonnen. Uber Capistrano habe ich mehrfach Artikel in jüdischen Zeitungen geschrieben 31 , besonders auch über die furchtbare Verbrennung von Juden, die zu seiner Zeit auf dem Breslauer Salzring, der heute Blücherplatz heißt, geschehen ist 32 . Heute
Vgl. SV Nr. 167, 219, 240, 490. Der italienische Franziskanerprediger Capistrano entfachte mit dem Vorwurf des Hostienfrevels die schlimmste Judenverfolgung des mittelalterlichen Breslau. Im Mai 1453 wurden die Breslauer und niederschlesischen Juden gefangen gesetzt. Sie wurden so lange gefoltert, bis sie alle Beschuldigungen gestanden. Darauf wurden 41 Juden auf dem Breslauer Salzring verbrannt, bis auf den Rabbiner, der sich schon selbst das Leben genommen hatte. König Ladislaus 31
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versucht man übrigens von katholischer Seite her, Capistrano persönlich von jeder Schuld freizusprechen; aber immerhin haben seine Reden doch den Ausschlag gegeben. Bei einer privaten Zusammenkunft bei meinem Bruder Hugo lernte ich den Professor Bretholz kennen. Er war mir aus der Geschichtswissenschaft bekannt; aber ich wußte damals noch nicht, daß ich mich mit seinen Werken in späteren Jahren würde sehr auseinanderzusetzen haben, als ich für die Germania Judaica arbeitete 33 . Bretholz war getaufter Jude; trotzdem hat er in den letzten Jahren seines Lebens hauptsächlich für jüdische Geschichtswissenschaft gearbeitet. Er war tschechoslowakischer Staatsangehöriger und lange Landesarchivar von Brünn gewesen. In der tschechoslowakischen Republik war es auch möglich, daß man sich zum jüdischen Volkstum bekannte, ohne der jüdischen Religionsgemeinschaft anzugehören. Der Herbst 1926 brachte mir dann überhaupt eine Fülle von persönlichen Bekanntschaften mit den führenden Historikern. Es fand nämlich in Breslau der Historikertag statt, an dessen Veranstaltungen ich teilnahm 34 . Geleitet wurde diese bedeutsame Veranstaltung von dem Professor Reincke-Bloch, auch einem getauften Juden, der einstmals nur Hermann Bloch geheißen hatte und durch Adoption zu dem weiteren Namen gekommen war. Er war übrigens eine Zeitlang auch mecklenburgischer Staatsminister gewesen; wissenschaftlich war er besonders auf dem Gebiet der Hohenstaufen zu Haus. Es ließe sich mancherlei zu diesem Manne sagen, der nicht gern an sein früheres Judentum erinnert werden wollte und der im Grunde auch eine tragische Erscheinung der Assimilationszeit war. Er ist nicht sehr alt geworden und hat diese Zeiten nicht mehr erlebt, die für ihn auch eine Erschütterung seiner ganzen Existenz gebracht hätten. Den Historikertag leitete er mit sehr
von Böhmen verlieh der Stadt Breslau am 30. Januar 1455 das Privileg, fortan keine Juden mehr in ihren Mauern dulden zu müssen. 3 3 Germania Judaica. Hg. v. J. Elbogen, A. Freismann und H. Tykocinski. Bd. 1-2 (bis 1238). Frankfurt a. M. 1917-1934. Cohn arbeitete bis 1941 an dieser Enzyklopädie mit, deren weitere Bände nicht mehr erscheinen konnten. 3 4 Vgl. den Bericht über die fünfzehnte Versammlung Deutscher Historiker vom 3. bis 9. Oktober 1926, Breslau 1927. Das Buch enthält auf S. 96ff ein Verzeichnis der Teilnehmer des Historikertages und auf S. 114ff ein Verzeichnis der Mitglieder des Verbandes Deutscher Historiker im Jahr 1926. In beiden Verzeichnissen ist Cohns Name angeführt. Die gedruckten Mitgliederverzeichnisse des Verbandes enthalten Cohns Namen bis 1932.
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viel Umsicht, die auch allgemein anerkannt wurde. Immer verstand er es, die richtigen Worte zu finden. Eine solche Tagung stellte ja an den Leiter gewaltige Anforderungen. Bei den Vorbereitungen hatte ihm sein Kollege Richard Koebner, ebenfalls ein Jude, sehr geholfen. Ich freute mich nun außerordentlich, einen großen Teil der Männer kennenzulernen, die mir aus ihren Schriften seit langem vertraut waren. Es ist ja der Zweck derartiger Veranstaltungen, diese persönlichen Bekanntschaften zu vermitteln. Das ist wichtiger als das Hören der Vorträge, die man nachher auch gedruckt lesen kann. Mein alter Freund Eduard Sthamer kam damals nach Breslau und war auch Gast in unserem Hause. Fast alle diese Männer, die ich damals kennenlernte beziehungsweise wiedersah und die meist erst im mittleren Alter standen, sind heute nicht mehr unter den Lebenden. Bedeutende Hoffnungen der Wissenschaft sind frühzeitig mit ihnen ins Grab gesunken. Da wäre vor allem Fedor Schneider zu nennen, der ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte in Frankfurt am Main war, hervorgegangen aus der Schule des Preußischen Historischen Instituts in Rom. Ihn lernte ich erst damals kennen. Über meine Arbeiten aber wußte er sehr gut Bescheid, und wir waren auch auf dieser Tagung sehr viel zusammen. Die Fühlung ist auch bis nach seinem Tode erhalten geblieben. Selbst nachdem er so frühzeitig hinweg mußte, hat mir seine Frau noch seine letzten Arbeiten zugeschickt. Ich bewunderte an ihm im persönlichen Umgang besonders die ungeheure Präsenz seines Wissens. Fedor Schneider stellte mich auch einer der großen „Kanonen" der deutschen Geschichtswissenschaft vor, dem Geheimrat Alexander Cartellieri, der ausdrücklich darum bat. Cartellieri hatte nämlich mein damals erschienenes Buch über die Flotte Friedrichs II. zur Besprechung zugeschickt erhalten. Seinen Bruder Otto, dem ich von meiner Heidelberger Zeit her soviel verdankte, habe ich ja öfters auf diesen Blättern erwähnt. An einem Abend veranstaltete der Verlag B. G. Teubner im Hotel „Goldene Gans" einen großen Empfangsabend für die Freunde seines Hauses. An diesem Abend sprach Professor Schnabel. Das war derjenige Gelehrte, der in dem ausgezeichneten neuen Geschichtsbuch die neuere Geschichte behandelt hatte35. Ich war zu diesem Abend eingeladen, weil ich mich besonders um die Einführung dieses Geschichtsbuches am Johannesgymnasium bemüht hatte und an seiner Verbesserung stets 35 F. Schnabel: Geschichte der neuesten Zeit (Teubners Geschichtliches U n terrichtswerk für höhere Lehranstalten, Teil 4). Leipzig 10. Aufl. 1930.
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mitarbeitete. Später bin ich dann auch noch Autor des Teubnerschen Verlages geworden, der ja der älteste und angesehenste Verlag auf dem Gebiet der Schulbücher in Deutschland war. Der Höhepunkt der Tagung war der große Empfang, den die Stadt Breslau im Remter unseres herrlichen Rathauses gab 36 . Man kann sich wohl keinen schöneren Rahmen für einen Historikertag vorstellen, als diesen Festsaal, den Bürgersinn des Mittelalters geschaffen hat. Hier brauchte nicht erst eine besondere geschichtliche Stimmung geschaffen zu werden, hier war sie von vornherein da. Natürlich hat man sehr viele Vorträge gehört; nicht alles ist davon in der Erinnerung geblieben. Zu den Berichterstattern, die die großen Zeitungen zu einer solch bedeutenden Tagung entsandten, gehörte auch Werner Mahrholz, der durch eine sehr lesbare und knapp gehaltene Literaturgeschichte bekannt geworden ist. Mit ihm verstand ich mich sehr gut. Daß ich mit den Berichterstattern überhaupt Fühlung bekam, lag daran, daß ich auch selbst Zeitungsberichte übernommen hatte, vor allem für die Breslauer Volkswacht 37 . Auch Werner Mahrholz ist sehr früh gestorben. Durch eine besonders taktlose Bemerkung bei einer Diskussion machte sich damals der später sehr bekannte Rundfunksprecher Erich Landsberg mißliebig. Dieser sehr begabte Mann, der übrigens wie die meisten tüchtigen Breslauer Schüler des Johannesgymnasiums war, hatte nicht die Fähigkeit, im richtigen Augenblick den Mund zu halten. Solche Menschen haben dem Judentum immer außerordentlich geschadet. Von der Kampfstimmung späterer Jahre merkte man auf dem Historikertage eigentlich nur etwas in den Zusammenkünften der Geschichtslehrer, sonst herrschte der Geist reiner Wissenschaft, dem es nur um die Erkenntnis ging. Bei den Geschichtslehrern spielte natürlich die Auffassung eine große Rolle, und damals war es die Frage, die auch später vor allem auf dem Osloer Tage diskutiert wurde, ob die Geschichtsbücher pazifistisch gehalten sein sollten. Der Abschluß einer solchen Tagung war immer ein Ausflug in die Umgebung 38 . Es wurden Stätten aufgesucht, bei denen sich die Naturschönheit mit der Geschichte traf. So kam es, daß der Breslauer Historikertag zunächst nach Landeshut fuhr, wo eine Besichtigung der sogenannten Gnadenkirche erfolgte, eine der Kirchen, die Karl XII. für die Protestanten in Schlesien erwirkt hatte. Das Haupterlebnis aber auf Vgl. den Bericht über die fünfzehnte Versammlung Deutscher Historiker, S. 43-47. 3 7 Vgl. SV N r . 208-212. 3 8 Vgl. Bericht über die fünfzehnte Versammlung Deutscher Historiker, S. 91f. 36
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jener Exkursion war die Besichtigung des Klosters Gnissau. Ich möchte mich auch hier nur auf das Persönliche beschränken und nicht der Gefahr erliegen, gar eine Geschichte dieser berühmten mittelalterlichen Abtei einzufügen. Nachdem sie viele Jahrzehnte als Folge der Säkularisation sehr vernachlässigt worden war, war sie erst vor einigen Jahren wieder in kirchliche Hände gekommen 3 9 . Die Benediktiner hatten hier in kurzer Zeit Imponierendes geleistet. Der Historikertag wurde von dem einunddreißigjährigen Abt Pater Schmitt begrüßt. Im allgemeinen glaubt man ja wohl, daß ein A b t ein würdiger alter Herr sein müsse; dies war aber ein junger Mann, der von Tatkraft erfüllt war. Die eigentliche fachmännische Führung lag in den Händen des Pater Nikolaus von Lutterotti. E r war auch der Historiker des Klosters und hat sich einen bedeutsamen Namen in der schlesischen Geschichtswissenschaft gemacht. E r verstand es wundervoll zu führen und den Geist dieser alten Kulturstätte wieder lebendig zu machen. Die Mönche waren auch prächtige Regisseure. Als der Historikertag die Hauptkirche betrat, ertönte zur Begrüßung die gewaltige Orgel, deren Eindruck sich niemand entziehen konnte. Ein Frühstück in der Klosterbrauerei ließ auch den Körper zu seinem Recht kommen. Dann ging es weiter nach dem kleinen Schömberg mit seinen eigenartigen Laubengängen, damals unweit der Grenze gelegen. D e r Abend wurde mit einem großen Essen abgeschlossen, das die Stadt Landeshut gab, und dann die Heimfahrt angetreten. Es war erstaunlich, was sich alles in einen solchen Tag hineinbringen ließ. Für manchen der älteren Teilnehmer war es auch körperlich eine nicht unerhebliche Anstrengung. So erlitt auch der Berliner Stadtschulrat Reimann, der seinerzeit meinen Vortrag in der Berliner historischen Gesellschaft geleitet hatte, in der Kirche in Gnissau einen Ohnmachtsanfall. D o c h rasch ist das in Vergessenheit geraten, und das Positive ist geblieben. Ehe ich in Gedanken von diesem Historikertag Abschied nehme, möchte ich doch noch den einen oder den anderen Namen erwähnen. Da trat ich zum Beispiel mit dem Staatsarchivrat Loewe in Verbindung, der sich auf dem Gebiete der historischen Bücherkunde große Verdienste erworben hat 4 0 . Auch er ist leider nicht alt geworden. Auch mit dem mittelalterlichen Historiker der Universität Greifswald, Professor Hofmeister, erneuerte ich die Bekanntschaft. 3 9 Im Jahr 1919 hatten aus Prag vertriebene deutsche Benediktiner das Kloster Gnissau wiederbegründet. 4 0 V. Loewe gab 1927 die Bibliographie der Schlesischen Geschichte heraus.
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Seitdem habe ich, wenn es irgend ging, die Historikertage besucht und habe dadurch viel Förderung in meinen Arbeiten gefunden. Der Mensch braucht zum Leben auch die Bestätigung dessen, was er kann. Wenn man eben einen etwas abseitigen Beruf hat, dann sind solche Zusammenkünfte erst recht eine Lebensnotwendigkeit. Der geistige Mensch ist ja ein Wesen eigener Art und lebt nach seinen eigenen Gesetzen; vielleicht ist das für die Umwelt nicht immer ganz einfach. Der Winter brachte mir dann noch eine sehr interessante Bekanntschaft, das heißt nicht persönlich, nur durch einen Vortrag. In einer Werbeveranstaltung des Keren hajessod, die im Savoy-Hotel stattfand, sprach der Professor Oppenheimer. Das war derjenige jüdische Nationalökonom, der in scharfer Polemik gegen den Kommunismus für Genossenschaftswesen eintrat. Nach seinen Ideen war auch eine Siedlung in Palästina aufgebaut worden. Bei jener Veranstaltung saß ich neben dem Professor Frank, einem berühmten Mediziner, der sich besonders im Kampfe gegen die Zuckerkrankheit einen großen Namen gemacht hat. Solche Persönlichkeiten wie Oppenheimer und Frank, Männer aus jüdischem Blute, werden in späteren Zeiten, wenn man Geistesgeschichte in Deutschland wieder objektiver darstellen wird, rühmend genannt werden. Aber bleiben wir bei den persönlichen Erlebnissen. Ich übernahm auch wieder einen Zyklus für Arbeiterjugendliche, den ich in meiner Wohnung abhielt. Es hat mir Freude gemacht, begabten jungen Menschen, auch wenn sie ohne Vorbildung zu mir kamen, Zusammenhänge höherer Art klar zu machen. Für derartige pädagogische Aufgaben muß man natürlich eine besondere Zuneigung haben, abgesehen von der Veranlagung. Selten habe ich auf diesen Blättern von dem Erleben der Kunst sprechen können. Der Stoff, der sich mir aufdrängt, ist so groß, daß ich schon manchmal fürchte, zu breit zu werden. Aber eine Theateraufführung aus jenem Winter möchte ich doch erwähnen. Es war das Stück von Franz Werfel „Paulus unter den Juden" 41 , das auf mich einen gewaltigen Eindruck gemacht hat. Vor allem war es die Gestalt des Rabban Gamaliel, die ehrfurchtgebietend war. Hier packte mich auch die Gewalt des Blutes. Nur ein Jude konnte das so schildern. Neben der Kunst aber war es doch immer wieder Schule und Wissenschaft, die mein Leben ausfüllten. Das Provinzialschulkollegium veranstaltete damals einen Fortbildungskurs für Studienräte. Hier wurde ich dazu ausersehen, eine Probestunde für Staatsbürgerkunde zu geben, 41
1926.
F. Werfel: Paulus unter den Juden. Dramatische Legende in 6 Bildern. Berlin
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weil in der Provinz Schlesien dieses Fach nur am Johannesgymnasium gelehrt wurde. [...] Die Veranstaltung wurde von dem Schulrat Tschersich geleitet, der die Geschichte in der Provinz Schlesien betreute. Vor allem aber verdankte ich dieser Probestunde die Bekanntschaft mit dem Regierungsrat Friedrich Block, einem Juden, mit dem mich dann sehr viele Jahre der Freundschaft verbanden. Er war ein sehr begabter Kopf mit vielen Interessen. Er ist übrigens noch Oberregierungsrat geworden und hat sich lange rührende Mühe gegeben, für mich eine Beförderung durchzudrücken, was ihm aber nicht gelungen ist. Am 9. November 1938, als in Deutschland überall die Synagogen brannten, ist er freiwillig aus dem Leben geschieden. Er hat übrigens eine Arierin geheiratet, die Tochter eines Breslauer Postrates. Sie hat ihm auch in den schweren Jahren nach 1933 die Treue gehalten. Als kleine Anmerkung möchte ich noch anfügen, daß mir von den Kollegen der Anstalt keiner ein nettes Wort zu dem Erfolg in der Probestunde gesagt hat, während das von den anderen, die nicht zur Anstalt gehörten, getan wurde. Ich würde das hier nicht anmerken, wenn mir nicht auch darin etwas Charakteristisches zu liegen scheint. Wenn man als Jude etwas mehr leistet als die anderen, so wird das erst recht nicht gern gesehen; aber ebenso wenig darf man natürlich Schlechteres leisten, denn eine jüdische Amtsvernachlässigung wäre auch schlimmer gewertet worden. Alle diese Dinge zeigen so recht die seelisch komplizierte Situation unseres Volkes in der Zerstreuung, über die schon viel geschrieben worden ist. Einmal sprach ich damals in der Lessing-Loge einige einleitende Worte zu dem „Dybuk" von Anski 42 . Dieses geheimnisvolle Stück mystischchassidischer Prägung hat auf mich stets einen großen Eindruck gemacht. Da ich gerade beim jüdischen Kulturkreis bin, so möchte ich auch erzählen, daß wir in jenem Winter von der berühmtesten hebräischen Schauspielergruppe, der Habimah43, Beer-Hofmanns unsterbliches Stück „Jaäkobs Traum" in hebräischer Sprache hörten 44 . Die Vorstellung fand im Lobetheater statt. Das Haus war bis auf den letzten Platz gefüllt. Der jiddische Dichter Salomon Anski schrieb das Drama: Der Dybuk. Dramatische Legende in 4 Akten. Berlin 1921. 4 3 Die Habimah war ein 1916 in Moskau gegründetes jüdisches Theater, das durch Gastspiele internationalen Ruf erlangte. 1927 setzte sich diese Bühne nach Amerika ab. 42
4 4 R. Beer-Hofmann: Die Historie von König David. Ein Zyklus. Jaakobs Traum. Ein Vorspiel. Berlin 1917.
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Abgesehen von den hebräischen Stunden, die ich bis dahin gehabt habe, war es das erste Mal, daß die Klänge des Hebräischen in solcher Fülle lebendig mein Ohr trafen. Die Renaissance der hebräischen Sprache erscheint mir immer als eines der großen Wunder unserer Geschichte. An diesen Theaterabend werde ich stets mit größter Ergriffenheit zurückdenken. Uns, der älteren Generation, wird ja die hebräische Sprache kaum noch Umgangssprache werden; aber zwei meiner Kinder leben nun schon in ihr und können in ihr all das sagen, was ihr Herz erfreut und was sie bedrückt. An der Ckanukka-Einbescherung dieses Jahres hatte unsere kleine Ruth nun schon ihre Freude. Diese jüdischen Feste haben wir durch alle Zeiten hindurch unseren Kindern zum Erlebnis zu bringen versucht. Trotz der vielen Arbeit des Tages fand ich damals immer noch Zeit und Spannkraft, an dem geistigen Leben der großen Stadt in seiner Mannigfaltigkeit teilzunehmen. Vor allem besuchte ich regelmäßig die Sitzungen der historischen Sektion der vaterländischen Gesellschaft. Einmal hörte ich bei dieser Gelegenheit einen Vortrag des Professor Pfitzner aus Prag45. Dieser, seiner Herkunft nach ein Sudetendeutscher, hat eine große politische Karriere gemacht. [...] Ich habe übrigens Pfitzner einige Jahre später auf dem Historikertage in Göttingen kennengelernt, doch ist nicht anzunehmen, daß er sich heute noch dieser Bekanntschaft erinnern würde46. Nach seinem Vortrag wurde ich von dem Vorsitzenden der historischen Sektion, Professor Reincke-Bloch, aufgefordert, einen Vortrag zu halten, und ich kündigte als Thema an: „Über den gegenwärtigen Stand der Forschung über Friedrich II." Der Vortrag hat dann auch einige Zeit später stattgefunden, und ist mir, soweit man das selbst beurteilen kann, gut geglückt. In dem Jahresberichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur erschien dann auch ein ausführliches Referat47. Im Anschluß an meinen Vortrag hat Reincke-Bloch besonders freundliche Worte gefunden, um meiner Arbeit gerecht zu werden. Er sprach sogar von einer Lebensarbeit, die ich der Erforschung der Normannen- und Stauferzeit gewidmet habe. Damals sagte er auch den Hörern, daß ich nun an der Biographie Hermanns von Salza arbeitete, und er betonte seine Freude, daß dies der Fall wäre.
Pfitzner sprach dort am 16. Dezember 1926 über die Besiedlungsgeschichte Schlesiens im Mittelalter. Vgl. Neunundneunzigster Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 1926. Breslau 1927, S. 69. 4 6 Vgl. unten S. 643. 4 7 Vgl. SV N r . 270. 45
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Seit dem Historikertage bin ich überhaupt wieder sehr zur exakten Forschungsarbeit zurückgekehrt, und ich bin heute rückschauend außerordentlich dankbar, daß dies der Fall war. Man ist sich selbst immer über seine eigene Begabung am wenigsten im klaren. Ich habe lange gezweifelt, ob meine Begabung mehr auf dem Gebiete des Journalismus oder auf dem Gebiete der Wissenschaft oder gar schließlich auf dem des Unterrichtes zu suchen ist. Wenn es nicht anmaßlich klingt, so will ich hoffen, daß ich schließlich auf allen Gebieten wenigstens etwas habe vollbringen können. In den Weihnachtsferien war ich ein paar Tage in Altheide. [...] In der Abgeschiedenheit von Altheide las ich ein Buch, in dem ich den Spruch eines alten Juden fand, der mir oft in meinem Leben noch weitergeholfen hat: „Es ist nichts, es ist nichts, es geht vorüber". Wenn man sich das immer vor Augen hält, so werden alle Leiden kleiner, die sonst leicht über uns Herr werden können. [...] In diesem Winter war ich zweimal im polnischen Oberschlesien. Wenn man den Hörern dort einmal gefallen hatte, so wollten sie einen immer wieder hören. In Königshütte beeindruckte mich am stärksten die Arbeit der Hochöfen, die ich beobachten konnte. Ich sah, wie ein riesiger Magnet das alte Eisen aus den Waggons emporsaugte und dann in den Hochofen hineinfallen ließ. Es ist das hohe Lied von Eisen und Kohle, das Lied der Arbeit, das dieser Teil Schlesiens verkündet und dessen Schönheit so wenige begreifen. Etwas Neues war auf dieser Reise der Besuch von Bielitz. Dieser Ort hieß damals polonisiert Bielsko. Man sah, wenn man dort nur einen Blick über den Marktplatz warf, daß dies eine deutsche Kolonialstadt war, wie man sie überall im Osten findet. Ich sprach dort ebenfalls in einer Loge des Ordens Bne Brith und lernte in der Person ihres Präsidenten Eugen Kellner, der im Beruf Rektor einer Volksschule war, einen recht interessanten Mann kennen. Meine große Zuhörerschaft war dort ganz anders zusammengesetzt als sonst. Die Schwesterstadt von Bielitz, von ihr nur durch ein Flüßchen getrennt, ist nämlich der Ort Biala, der schon in Galizien liegt. Bielitz ist gewissermaßen einer der äußersten Vorposten der deutschen Siedlung. So waren damals auch viele Ostjuden unter meinen Hörern, aber ich habe niemanden näher kennengelernt, obwohl sicherlich mancher dagewesen wäre, von dem in jüdischem Sinne viel zu lernen war. Bielitz selbst bewahrt in seinem Stadtbilde auch mancherlei Erinnerung an die österreichische Zeit. Typisch für alle Länder, die einstmals zu dem großen Kaiserstaat gehört haben, ist ja vor allem das Cafehaus. Man führte mich, als ich ankam, sofort in das Cafehaus, weil ich dort irgend
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jemandem vorgestellt werden sollte. Als ich unterwegs fragte, ob es denn sicher sei, daß wir den Herrn dort träfen, wurde mir die bedeutsame Antwort zuteil: Wenn er nicht hier sitzt, dann sitzt er eben in dem anderen Cafehaus; um diese Zeit trinkt man in Bielitz seinen Schwarzen. Wenn sich diese Gewohnheit heute, was anzunehmen ist, noch erhalten hat, so dürfte sich aber der Kaffee in einen Mischkaffee verwandelt haben. [...] Das nächste Vierteljahr war, wie stets vor dem Abiturium, ein sehr arbeitsreiches. Wir gönnten uns aber damals auch manche Zerstreuung. Es war die Zeit, in der in Breslau die großen Künstlerfeste im Messehof stattfanden, an denen wir beide mit großer Begeisterung teilgenommen haben. Ich habe es sogar noch gelernt, der Muse Terpsichore zu huldigen, so daß mein alter Tanzlehrer Bär, wenn er es gesehen hätte, wahrscheinlich noch nachträglich erfreut gewesen wäre. Von diesen Festen brachte man dann einen gewissen Auftrieb für den Alltag mit nach Hause und das Bewußtsein, noch nicht ganz zu den alten Knochen zu gehören. Ich denke heute noch sehr gerne an diese Feste zurück und an die Menschen, die man auf ihnen kennengelernt hatte. Für das Frühjahr [1927] stand uns etwas sehr Schönes bevor. Ich hatte vom Magistrat Breslau einen recht anständigen Zuschuß für eine Studienreise nach Sizilien bekommen, eine Reise, auf die ich auch meine Frau mitnehmen wollte. [...] Diese sizilische Reise sollte für mich die Erfüllung eines langjährigen Wunschtraumes bedeuten. So viele Jahre, ja fast schon zwei Jahrzehnte, hatte ich mit meinen Gedanken da unten gelebt. Nun sollte ich selbst das sehen, was ich wiederholt in den Büchern, in den Quellen und Chroniken erlebt hatte. [...] Wir fuhren zunächst von Breslau nach Wien. Für die damaligen politischen Verhältnisse Europas ist es charakteristisch, daß wir auf dieser Nachtfahrt vier Paß- und Zollkontrollen durchzumachen hatten, eine reichsdeutsche, zwei tschechische und eine österreichische. Man kann sich vorstellen, daß da an viel Schlaf nicht zu denken war. Wir hatten uns auch, da es damals noch keine Devisenvorschriften gab, mit den verschiedensten Geldmünzen versehen, um wenigstens nachts auf einem tschechischen Bahnhof etwas Warmes trinken zu können. Seitdem sind ja nun die Grenzen auf dieser Strecke zum größten Teil in Fortfall gekommen. Bei der Einfahrt in Wien fiel mir, der ich das schon einmal gesehen hatte, auf, daß herrliche Siedlungsbauten am Stadtrande lagen. Diese waren in der Zeit geschaffen worden, als Wien eine sozialistische
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Regierung hatte, die übrigens auch 1927, als wir diese Reise machten, noch bestand 48 . Wir stiegen in Wien nur um, gönnten uns für die Fahrt nach dem Süden den Zuschlag zur zweiten Klasse, und dann hatte ich die Freude, meiner Frau wenigstens vom Abteilfenster aus diese grandiose Fahrt durch die Alpen zeigen zu können. [...] Als wir dann über die neue Grenze Italiens kamen, machten wir auch unsere erste Bekanntschaft mit dem Faschismus, der ja damals schon eine Reihe von Jahren am Ruder war. Eine Fülle von Uniformierten der verschiedensten Art, vor allem von Schwarzhemden, bemächtigte sich des Zuges. In erster Reihe wurde kontrolliert, ob nicht irgendwelche verbotenen Zeitungen mit hineingenommen wurden. Da wir uns aber vorher informiert hatten, so hatten wir nicht, wie man das wohl früher getan hätte, irgendwelches Zeitungspapier zum Einpacken genommen, sondern meine Frau hatte für alles Säckchen genäht. Das große Aufgebot von Menschen gegenüber friedlichen Italienfahrern erschien uns etwas komisch, aber irgendwelche Schwierigkeiten haben wir nicht gehabt. Unser erstes Reiseziel war Venedig. [...] Venedig hat ein doppeltes Gesicht. Wenn es schönes Wetter ist, so hat man das Gefühl, in einem verzauberten Schloß zu sein; wenn es aber regnet, so sieht man überall, daß es sich um eine Ruine der Vergangenheit handelt, um etwas, was gewesen ist und eigentlich keine Zukunft hat. So ein Regentag war eben damals. [...] Wir fuhren am nächsten Morgen mit dem Vaporetto zum Markusplatz. Da aber an dem Tage eine große faschistische Kundgebung stattfand, hatten wir keine Möglichkeit, in den Dogenpalast zu kommen, den ich gern gezeigt hätte. Aber das Bild, das diese Republik Venedig noch nach Jahrhunderten aufzuweisen hat, wenn man über den Markusplatz geht und von der Piazetta über das Meer schaut, ist Erlebnis genug. Wir sahen den Colleoni, das schönste Reiterdenkmal, das es überhaupt gibt. Irgendwo in einer Trattoria am Markusplatz aßen wir Mittag. Die viele Blechmusik des großen Aufmarsches machte ein wenig wirr im Kopf; es paßte so gar nicht zu dem vornehmen Bild der Lagunenstadt. Aber vielleicht sind wir früher alle mit einer falschen Vorstellung nach Italien gefahren. Vielleicht hat der italienische Faschismus das Recht der Lebenden auf ihr Land angemeldet; vielleicht sind es die Italiener eben müde, nur die Museumswärter für
Von 1926 bis 1929 stand Bundeskanzler Ignaz Seipel von der ChristlichSozialen Partei an der Spitze einer Koalitionsregierung. Die Stadt Wien hatte jedoch traditionell sozialistische Bürgermeister, von 1923 bis 1934 war es Karl Seitz. 48
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Europa zu sein, und insofern machte gerade dieser große Aufmarsch ein wenig nachdenklich. [...] Wir wohnten auch in Rom wieder in einem Hotel am Bahnhof, was sich auf Reisen am besten bewährt, wenn man nicht die Absicht hat, lange zu bleiben, sondern bald wieder weiterfahren muß. In Rom begann nun für mich der wissenschaftliche Teil der Reise. Schon im Hotel fand ich eine Karte des Professors Ermanno Loevinson vor, der uns für den gleichen Abend zum Abendbrot einlud. Es war das wohl ein wenig viel; aber es war andererseits selbstverständlich, daß wir hinfuhren. Zum ersten Mal kam ich auf diese Weise auch in eine römische Privathäuslichkeit. Bei meiner Reise nach Rom im Jahre 1910 hatte ich dazu ja keine Gelegenheit. Da ich auf dieser Studienfahrt eine große Anzahl von Gelehrten kennengelernt habe, so will ich versuchen, ihr Profil festzuhalten. Schon Loevinson lohnt ein Wort. Wie der Kenner aus seinem Namen unschwer erraten wird, handelt es sich bei ihm um einen deutschen Juden. Loevinson war damals schon ein ziemlich alter Herr. Er war vor Jahrzehnten aus Deutschland ausgewandert, als er sah, daß der zunehmende Antisemitismus ihm keine wissenschaftliche Karriere ermöglichte 49 . In Italien hat er diese Karriere in hervorragendem Maße zu absolvieren vermocht. Er ist einer der führenden Männer des italienischen Archivwesens gewesen, der aber - denn der italienische Staat verlangte damals kein Sacrificium intellectis - seinem Judentum immer treu geblieben ist. Er hat auf jüdischem Gebiete eine große Anzahl von Arbeiten veröffentlicht und vor allem eine Art jüdischen Baedeker für Rom geschrieben: Roma israelitica 50 . Ich habe mit ihm viele Jahre in engen wissenschaftlichen Beziehungen gestanden und die meisten seiner Arbeiten in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums angezeigt 51 .
Der Archivar und Historiker Hermann (Ermanno) Loevinson, 1863 in Berlin geboren, ging 1891 an das Staatsarchiv nach Rom. Danach war er bis 1930 Direktor des Staatsarchivs in Parma. Neben den Beiträgen zur Verfassungsgeschichte der westfälischen Reichsstiftsstädte, Paderborn 1889, publizierte er auch in italienischer Sprache, bis er 1943 aus R o m deportiert wurde. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. 49
Roma israelitica; Wanderungen eines Juden durch die Kunststätten Roms. Frankfurt a. M. 1927. Bald darauf von Cohn rezensiert. Vgl. SV Nr. 284. 51 Vgl. SV N r . 358, 420. 50
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Auch er hat noch erleben müssen, daß in Italien die Rassengesetzgebung eingeführt wurde, allerdings nach seiner Pensionierung 52 . O b er in diesem Augenblicke noch am Leben ist, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls ist er schon im höchsten Greisenalter und wohl auch fast erblindet. Damals wurden wir sehr liebenswürdig aufgenommen. Die Gespräche an jenem Abend gingen weniger um die Wissenschaft als vielmehr um die Struktur des neuen Italiens. Er war ein glühender Faschist, wie damals sehr viele italienische Juden, und er sagte mir, daß Italien noch niemals solche glücklichen Zeiten gesehen habe wie unter Mussolini. Auch seine Kinder - ich erinnere mich im Augenblick nicht mehr, ob es eins oder zwei waren - standen in den Reihen der faschistischen Jugendorganisation. Am nächsten Morgen, als wir noch beim Frühstück saßen, machte er uns seinen offiziellen Gegenbesuch und gab uns einige Ratschläge für den Tag mit. Vor allem hat er mir auch sehr sachdienliche Hinweise für meinen Besuch im Preußischen Historischen Institut und für meine Arbeit im Staatsarchiv von Neapel gegeben. Ich hatte für Rom nur einen einzigen Tag zur Verfügung und vor allem den Ehrgeiz, neben dem sehr wichtigen Besuch im Historischen Institut [...] ein Wiedersehen mit all den Dingen zu feiern, die mir so tief ins Herz gewachsen waren, und andererseits sie meiner Frau zu zeigen. Ich bemühte mich, die Perlen herauszusuchen, obwohl es schwer ist, etwas wegzulassen. [...] Jedenfalls habe ich die alten Vertrauten wiedergesehen. Ich sah im Geiste noch einmal Marcus Tullius Cicero seine Rede halten und die Rostra besteigen. Dann ging es mit einer Droschke nach der Via Lucchesi ins Preußische Historische Institut. Dort wurde ich von Dr. Vehse sehr liebenswürdig empfangen. In den Kreisen der Erforscher der italienischen Geschichte war ich nun doch schon lange Jahre bekannt. Er sagte mir, daß sie einen Teil meiner Bücher hätten und die fehlenden jetzt bestellt haben. Vor allem aber benutzte ich die Zeit meines Aufenthaltes dort, um die Zeitschriften zu lesen. Denn hier waren alle die historischen Zeitschriften der örtlichen italienischen Geschichtsvereine ausgelegt, die in Deutschland der Forschung kaum erreichbar waren. Es war für mich ein schwerer Entschluß, von dort wegzugehen. Innerlich hatte ich den Gedanken gefaßt, wenn es irgend einmal möglich sein sollte, an dieses 52
Die italienischen Rassengesetze, die Novembergesetze, datieren v o m 17. November 1938. Ihr Text ist gedruckt bei Renzo de Feiice: Storia degli hebrei italiani sotto il fascismo, Turin 1961, 562-66. Über ihre Bedeutung vgl. Susan Zucotti: The Italians and the Holocaust. Persecution, Rescue and Survival. N e w York 1987, S. 28-51.
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Historische Institut zu gehen. Ich habe mich später noch sehr darum bemüht, doch ist aus diesem Plan wie aus so machem andern nichts geworden, wie noch an seiner Stelle berichtet werden wird 53 . Dann saßen wir im Café Aragno, wo ich 1910 so oft mit Ittmanns gesessen hatte. Und wieder stieg die Erinnerung an jene Episode auf, die ich damals dort erlebt hatte. 1910 kursierte in Rom noch sehr viel falsches Geld, und als in diesem Café uns der Kellner wieder einmal falsches herausgab, murmelte Ittmann vor sich hin: „Alter Ganeff, worauf der Kellner in deutscher Sprache sagte: „Was soll man machen?" Offenbar hatte also seine Wiege nicht am Tiber, sondern an der Weichsel gestanden. Alle diese Erscheinungen waren übrigens aus Italien verschwunden, ich meine damit nicht den Kellner, sondern das falsche Geld, die Bettelei und die willkürlichen Preise. Der Unterschied war in die Augen springend. Jetzt herrschte unbedingte Ordnung und vor allem feste Preise. In früheren Jahren war jeder Einkauf eine Art Lotteriespiel gewesen. Dann ging es noch über den Corso Umberto, an dem Hause vorbei, wo einst Goethe gewohnt hatte, nach der Piazza del Popolo und hinauf nach dem Pincio. Das, was ich so oft erlebt hatte, einen Sonnenuntergang über St. Peter, was ich sogar in einem Gedichte zu verherrlichen gewagt hatte, das wollte ich meiner Frau zeigen. [...] Am nächsten Vormittag besuchten wir noch die Laterankirche, wo einst Papst Innocenz III. die berühmte Synode im Jahre 1215 abgehalten hat, auf der zum ersten Mal der Gedanke auftauchte, daß die Juden ein besonderes Abzeichen zu tragen hatten 54 . Ein Stück gingen wir dann noch auf der Via Appia nuova spazieren; hier hatte sich viel verändert, hier sah man Radioantennen neben der römischen Wasserleitung. In einem kleinen Gasthause nahe bei unserem Hotel nahmen wir die Collazione ein und um ein Uhr saßen wir im Zuge nach Neapel. [...] Die Fahrt ging an Montecassino vorbei, wo hoch oben die berühmte Benediktinerabtei auf dem Berge thront, eine Pflanzstätte des Wissens, wie es nur wenige auf der Welt gibt. Immer hatte ich gehofft, auch einmal dort oben arbeiten zu dürfen, aber bisher hat sich dafür noch keine Gelegenheit geboten. Nun war jeder Stationsname schon eine Rückkehr zu den Gebieten, auf denen ich so viele Jahre geforscht hatte. Da kamen wir an Acerra vorbei, wo einst Thomas von Acerra geherrscht hatte, der Siehe unten S. 499. Das bekannte IV. Laterankonzil von 1215. Während der Niederschrift dieser Erinnerungen wurde mit Wirkung vom 15. 9. 1941 allen Juden über sechs Jahren das Tragen des Judensterns vorgeschrieben. 53
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mir aus der Stauferzeit vertraut war. Da erblickte ich den Namen Aquino, wo Thomas, der große Scholastiker, gewirkt hat 55 . Damals wußte ich noch nicht, daß mich meine wissenschaftlichen Arbeiten auch einmal zu ihm führen würden. Noch konnte ich auf dieser Bahnfahrt Gegenwart und Vergangenheit nicht ganz in Einklang bringen. Ich glaubte immer, daß an diesen Haltepunkten irgendeiner meiner alten Freunde auftauchen würde, in Ritterrüstung oder in der Kutte des Mönchs; aber anstatt dessen erschien ein Eisverkäufer und brüllte seine Cassata aus. Ich will nicht gerade sagen, daß das bei der Wärme des Tages lästig war, aber es war immer ein Aufwachen aus dem Traum. Ich habe ja oft in meinem Leben mehr in der Traumwelt gelebt als in der Gegenwart. Dann sahen wir allmählich am Horizont den Vesuv aufsteigen. Nun kamen die Erinnerungen an den furchtbaren Ausbruch im Jahre 79 nach Beginn der üblichen Zeitrechnung und an die Zerstörung von Pompeji und Herculanum. Als wir in Neapel ausstiegen, dachte ich zunächst in einem Irrenhause anzukommen. Ich war schon in Italien gewesen und wußte, mit welchem Temperamentsüberschwange die Italiener ihre Angelegenheiten öffentlich zu erledigen lieben. Hier aber hatten wir das Gefühl, wir würden ausgeraubt werden. Eine Unzahl von Leuten stürzte sich auf uns, um sich unseres Gepäcks zu bemächtigen. Gewiß, sie wollten uns nicht umbringen, gewiß, sie wollten uns nicht der Camorra ausliefern. Jeder einzelne von ihnen wollte uns nur im Triumph in sein Gasthaus bringen. Es waren im Grunde die gleichen Methoden wie in vergangenen Zeiten, nur daß die Ausplünderung auf dem Wege über die Rechnung erfolgen sollte. Es gelang mir aber, sämtliche Offensiven glänzend abzuschlagen. Wir hatten schon vorgesorgt. Mein Freund Professor Sthamer, der jahrelang in Neapel gelebt und dort am Staatsarchiv gearbeitet hatte, hatte uns die Pension empfohlen, in der er immer wohnte. [...] Auch in Neapel war es schwer, mit der zur Verfügung stehenden Zeit richtig auszukommen und all das zu bewältigen, was wir uns vorgenommen hatten. Auch hier will ich nicht alles niederschreiben, was sich mir wieder in das Bewußtsein drängt. [...] Als das Wetter an diesem Tage besser wurde, gingen wir am Meer entlang bis zum Posilipp. Wie schön war es, wieder einmal am Meere sein zu dürfen. Es war nur eigentlich ein paar Monate her, seit wir in St. Malo am Wasser gestanden hatten. Aber welcher Unterschied gegenüber den Gestaden des 55 Thomas stammte aus der Grafschaft Aquino und trug deshalb seinen Beinamen. Er lebte und lehrte meist fern von seiner Geburtsheimat.
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Mittelmeeres. Heute, da ich das niederschreibe, ist das alles Kriegsgebiet, aber damals im Frühjahr 1927 war tiefster Friede. Viele Menschen waren dort, um sich für ein langes Jahr im Norden mit der Sonne des Südens zu sättigen. [...] Am nächsten Tage traten dann schon andere Interessen in den Vordergrund. Schriftlich hatte sich bei uns der Advokat Bevere angemeldet. Mit diesem Herrn stand ich schon längere Zeit in Briefwechsel. Er hatte für mich im Staatsarchiv von Neapel kopiert. Auch an ihn war ich durch Sthamer empfohlen worden. Er entpuppte sich als ein sehr netter alter Herr, der sich sehr freute, als ich ihm zur Begrüßung mein Buch über die Flotte Friedrichs II. schenkte, für das er mir auch eine Urkundenabschrift besorgt hat. Er übernahm nun meine Einführung beim Staatsarchiv in Neapel. Wir fuhren mit der Straßenbahn dorthin. Es war mir so, als begleitete mich der Geist Friedrichs II. Wir stiegen zum Kloster San Severino hinauf. Im Klosterhof umfing mich zum ersten Male in Neapel Ruhe. Sonst war ja die ganze Stadt von einem geradezu höllischen Lärm erfüllt, so daß, wer aus dem Norden kam, eigentlich das Gefühl hatte, es sei dauernd Revolution. Der Advokat Bevere brachte mich zu dem Abteilungsleiter, dem Grafen Filangieri di Candida. Auch mit ihm war ich wissenschaftlich seit langem bekannt, wie es ja überhaupt in der Gelehrtenwelt so ist, daß die paar Menschen, die auf dem gleichen Gebiete arbeiten, sich gut untereinander kennen, oftmals ohne im ganzen Leben einander zu begegnen. Dieser Graf war ein Mann von höchster Kultur. Er stammte aus einer Familie, die schon in der Zeit Friedrichs II. eine wichtige Rolle im Lande gespielt hat. Aber bei ihm war es nicht wie mitunter bei Vertretern des Uradels, daß man schon eine Müdigkeit spürte. Immerhin war bemerkenswert, daß ein Nachfahre aus einem so berühmten Geschlecht nun der Hüter der archivalischen Schätze war, die seine Vorfahren mehr oder weniger mit Blut geschrieben hatten. Wir kamen bald in das wissenschaftliche Gespräch, auf das es mir ankam. Ich sagte ihm, daß ich die Absicht hätte, meine flottengeschichtlichen Arbeiten auf die Zeit König Karls I. von Anjou auszudehnen und daß ich dazu eben auch die Registerbände aus der Zeit dieses Königs, die sich im Neapolitaner Staatsarchiv befänden, benutzen möchte. Er sagte mir, daß es leider kein Sachverzeichnis zu diesen Registerbänden gebe und daß es notwendig wäre, die Register Blatt für Blatt durchzusehen, was eine Arbeit von Jahren wäre. Eine ähnliche Forschungsarbeit hatte ja Sthamer für die Castellbauten geleistet. Filangieri meinte, ich solle mich
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bemühen, für ein paar Jahre nach Neapel abkommandiert zu werden. Ich habe mich später, wie ich noch erzählen werde, darum sehr bemüht. Aber auch dies ist eine der „unerfüllten Geschichten" geblieben, an denen nun einmal das menschliche Leben so reich ist. Aber ich darf gewiß nicht klagen. Immerhin habe ich doch eine Menge sehen und erleben dürfen. So hatte es keinen Zweck, in diesen wenigen Tagen in Neapel eine Arbeit an den Registern aufzunehmen. Das war auch die Meinung von Filangieri; aber die persönliche Bekanntschaft bedeutete doch sehr viel. Wir haben unsere Beziehungen seitdem durch all die Jahre aufrechterhalten. Filangieri hat sich auch immer bemüht, mir Publikationsmöglichkeiten in Neapel zu verschaffen. Gerade als die Dinge im besten Zuge der Entwicklung waren, kam die italienische Rassengesetzgebung, die mir die Veröffentlichung unmöglich machte. Ich hatte sogar selbst schon für eine Neapolitaner wissenschaftliche Zeitung eine Arbeit ins Italienische übersetzt, die nun wie so vieles andere im Schreibtisch liegengeblieben ist. Filangieri war aber auch nach dieser Gesetzgebung stets von wissenschaftlicher Hilfsbereitschaft erfüllt; so hat er auch meinen Geschwistern Proskauer, als sie von Neapel aus nach Amerika fuhren, beigestanden und wissenschaftliche Hinweise gegeben. Ich hatte gerade bei meiner Korrespondenz mit den italienischen Gelehrten das Gefühl, daß sie diese Dinge, die auch über Männer gekommen waren, die sich immerhin um die italienische Geschichte verdient gemacht hatten, in keiner Weise billigten. In den nachfolgenden Tagen war uns Bevere oft ein getreuer Begleiter und ein Wegweiser zu manchen Schönheiten Neapels, die man sonst als Fremder nicht so leicht entdeckt hätte. [...] Über Pompeji ist so viel geschrieben worden, daß ich glaube, nichts Wesentliches hinzufügen zu können. Das Erschütternde ist, daß hier wirklich eine ganze Stadt auf einmal zugrunde gegangen ist, daß sie gewissermaßen mitten im Leben vom Tode überrascht wurde und daß man alles so sieht, wie es die Menschen eben verlassen hatten, um ihr Leben zu retten. Es sollen bei der Zerstörung von Pompeji verhältnismäßig wenig Menschen zugrunde gegangen sein, weil sich die Katastrophe nicht so ganz plötzlich vollzog. Eintausendneunhundert Jahre ist das nun schon her, und doch konnte man in diesem Augenblicke ihnen in ihr Leben hineinschauen, sah sie in Gedanken in ihren schönen Häusern sitzen, sah das Heer der Sklaven, das sich bemühte, ihnen das Leben zu erleichtern. Das alles hatte etwas Gespensterhaftes. Selbst die lärmendsten und geräuschvollsten Touristen
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verstummten hier und wurden ehrfurchtsvoll vor dem, was sich hier einstmals abgespielt hat. Ich wandelte wie im Traum durch diese Gassen und glaubte, daß die Menschen überall wieder erscheinen müßten. Diese Totenstadt Pompeji steht doch in einem mächtigen Gegensatz zu dem brausenden Leben von Neapel selbst. Man brauchte am Abend, wenn man auf der Station in Neapel wieder ankam, eine ganze Zeit, um sich zurechtzufinden. [...] N u n sollte ich also die Fahrt über das Mittelmeer machen, auf die ich so oft meine Admiräle aus der Zeit der Normannen und Staufer begleitet hatte. Wie gerne hätte ich selbst das K o m m a n d o übernommen, aber dazu fehlten mir doch wohl die nautischen Kenntnisse. Schließlich waren es ja auch keine Galeeren mehr, die von Ruderern bedient wurden, sondern es war ein modernes Dampfschiff. Mit größtem Interesse beobachtete ich die Manöver, die das Schiff machte, um aus dem Hafen herauszukommen. „ L a poppa e pronta", meldete der Offizier durch das Telefon dem Kapitän. Dann legte das Schiff ab und suchte sich seinen Weg durch diesen Golf von Neapel in den dämmernden Abend hinein. [...] Als ich um halb sieben wieder an Deck kam, fand ich meine Frau schon vor, und wir genossen zusammen die in Worten nicht wiederzugebende herrliche Einfahrt in die Conca d'ore von Palermo. Ich habe in späteren Jahren an einem Buche über Sizilien im Urteil seiner Besucher gearbeitet, das auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Aus der Lektüre vieler sizilischer Reisebeschreibungen weiß ich, daß fast jeder, der auf diesem Wege sizilischen Boden betreten hat, darin wetteiferte, diese Einfahrt zu beschreiben. H o c h über der Stadt thront der Monte Pellegrino. Es ist eine Fahrt in eine Märchenlandschaft hinein. Manchmal hat man ja überhaupt auf Sizilien den Eindruck, daß es die Insel der Seligen sein könnte. Das, was sich zu tief in das H e r z des Menschen gegraben hat, läßt sich ja bekanntlich am schwersten mit Worten wiedergeben. [...] Wir hatten Quartier in der Albergo Patria bestellt in der Via Alloro. Es klappte sehr gut, und wir waren mit der Unterbringung in diesem bescheidenen Gasthaus der Altstadt sehr zufrieden. [...] Bei der ganzen Vorbereitung meiner Reise hatte ich mich schon brieflich der Unterstützung des damals berühmtesten sizilischen Gelehrten, des Syrakusaner Professors Paolo Orsi zu erfreuen gehabt, von dem ich dann Näheres erzählen will, wenn ich in meiner Beschreibung bis Syrakus gelangt bin. Durch diese freundschaftliche Vorberatung haben wir es immer sehr gut getroffen und das Milieu gefunden, das für eine gelehrte Reise das richtige ist. Ich wollte es eigentlich gar nicht glauben, daß ich in Palermo war. Durch zwanzig Jahre hatte mir diese Stadt als ein Sehnsuchtsziel
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vorgeschwebt, seitdem Hampe zuerst in Heidelberg im Sommersemester 1907 die Liebe zu der Gestalt des Stauferkaisers Friedrich II. in mein Herz gelegt hatte. Was hatte ich seitdem nicht alles über ihn gelesen und auch selbst geschrieben. Nun sollte ich es sehen, sollte an den Stellen stehen, an denen sich teilweise sein Leben abgespielt hatte. Wir gönnten uns nur die Zeit zu einem ausgiebigen Frühstück, denn nach einer Seefahrt und nach einer etwas verstörten Nacht hat man ja immer gesteigerten Hunger. Dann aber ging es sofort zu einem ersten Rundgang. Unweit unseres Hotels war der Platz der Sizilischen Vesper. Von hier aus war im Jahre 1282 der Aufstand gegen die Herrschaft der Anjous losgebrochen. Das war eigentlich schon etwas nach „meiner Zeit", denn damals lebte ich nur bis zum 13. Jahrhundert. Jetzt habe ich mich allmählich bis ins 14. Jahrhundert vorgearbeitet. Dann aber führte uns unser Weg sofort zu dem Dom von Palermo, zu den Gräbern Rogers II. und Friedrichs II. Enkel und Großvater ruhen nebeneinander in gewaltigen Porphyrsärgen. Am Grabe Kaiser Friedrichs II. lag damals ein Kranz mit folgender Inschrift in deutscher Sprache: „Die neue Jugend eines neuen Landes dem großen Kaiser". Mir wollte es scheinen, als ob das ein Zeichen wäre für die damals schon mächtig sich vorbereitende nationale Erhebung der deutschen Jugend. Wir standen tief ergriffen vor dieser Stelle, wo die Reste jenes größten mittelalterlichen Herrschers ruhten. Auch meine Frau, die ja an allen meinen in den letzten Jahren erschienenen Büchern den wärmsten Anteil genommen und mir auch viel geholfen hatte, fühlte die gleiche Stimmung. In diesem Augenblick wirklich tiefster Ergriffenheit trat der Custode an uns heran mit den für Italien charakteristischen Worten: „Si paga per le tombe" (Man bezahlt für die Gräber). Man bezahlt eben immer in diesem Lande. Insofern haben sich in Sizilien noch ein wenig die Traditionen aus der Zeit der Normannen erhalten; nur die Methoden sind andere geworden. Doch ich will nicht übertreiben. Mit meinem freien Eintrittschein des italienischen Unterrichtsministeriums brauchte ich in allen Sehenswürdigkeiten, die von staatlicher Seite betreut wurden, nichts zu bezahlen. Der Dom von Palermo unterstand aber dem Erzbischof, und hier galt mein Schein nicht. Ich war ja auch gar nicht böse wegen dieser paar Centesimi. Es war nur, daß eben die Stimmung zerstört wurde. [-] Mittags aßen wir im Hotel, dann folgte eine sehr notwendige Ruhe, denn es war etwas viel, was wir uns zugemutet hatten. Nun gingen wir zur Universität, um Professor Garufi aufzusuchen. Es war dies derjenige Palermitaner Professor, mit dem ich seit langer Zeit, eigentlich seit Beginn
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der Arbeiten auf diesem Gebiete, in Briefwechsel stand. Da er in diesem Augenblicke sehr beschäftigt war, bat er uns um sechs wiederzukommen. Wir benutzten die Zeit zu einem Spaziergang durch die berühmte Via Maqueda, die bis hinunter zum Meere führte. Die Zwischenzeit muß Garufi benutzt haben, um den Rektor der Universität über meine bescheidene Person ins Bild zu setzen, denn ich wurde von dem Pedell, der mich erwartete, in das Amtszimmer des Rektors Professor Ercole Franco geführt, um ihm vorgestellt zu werden. E r war über meine Arbeiten erstaunlich unterrichtet, woraus ich eben schloß, daß Garufi ihn unterrichtet hatte. Franco hielt eine kleine italienische Ansprache an mich, die ich aus dem Stegreif erwidern mußte. In solchen Augenblicken hilft nur Mut. Man muß in die fremde Sprache hineinspringen wie ins Wasser. Dann haben wir mit Garufi eine nette Stunde in einer Konditorei verplaudert. Garufi war eigentlich immer glücklich, wenn er nicht über die Wissenschaft zu reden brauchte. E r war damals schon ein älterer Herr und dürfte heute nicht mehr am Leben sein. Dafür machte es ihm viel Freude, sich mit meiner Frau zu unterhalten. Im allgemeinen gehen nämlich die sizilischen Frauen nicht aus. Das ist ein Überbleibsel aus jener Zeit, da in Sizilien noch der Islam herrschte, und gar eine Frau im Cafehaus immer eine Sensation war. Wir wurden überhaupt durch unser Aussehen in Palermo bald unfreiwillig bekannt. Nach deutscher Sitte hatten wir immer eine schwarze Aktentasche bei uns, während der vornehme Palermitaner nichts trägt. Diese Aktentasche bekam dann dort den Namen „la borsa tedesca". Die Palermitaner sind ein liebenswürdiges Völkchen, aber sie machen gern einen Jokus. Immer wenn wir zur Universität kamen, hatten sich Studenten aufgebaut, die uns mit irgendwelchen Zurufen begrüßten, die wir nicht immer verstanden. D e r Dialekt Siziliens ist von dem des übrigen Italien erheblich verschieden; man kann sich nur allmählich hineinhören. [...] Wir hatten ein schönes Zimmer ziemlich hoch oben im Hotel und mußten uns auch erst belehren lassen, wie man das Zimmer kühl hält. In den nordischen Ländern ist man doch gewöhnt, früh wenn man weggeht, die Fenster weit zu öffnen und die frische Luft hineinzulassen. Das darf man in Sizilien nicht tun, weil sonst die Wärme unerträglich wird. Es gab überhaupt vieles zu beobachten, was ganz und gar von dem Leben abwich, wie es bei uns üblich war. So wurden an jedem Morgen durch die Gassen von Palermo Ziegen getrieben, die vor den Augen der Besteller gemolken wurden. Die Hausfrauen ließen aus den verhältnismäßig hohen Häusern Körbchen an Stricken herunter und schrien ihre Bestellungen
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den Gemüsehändlern zu. Dann packten diese die Ware in die Körbchen, und sie wurden hinaufgezogen. Das Geld kam auf die gleiche Weise hinunter. Bei alldem spielte das Gebrüll eine wichtige Rolle. Man hatte überhaupt den Eindruck, daß es den südlichen Menschen größte Freude machte, soviel wie möglich zu schreien. Erst ganz allmählich gewöhnte man sich daran. Zuerst hatte man immer den Eindruck, es sei etwas Besonderes los, allmählich aber merkte man, daß das so zum Leben gehörte. Die Gassen des alten Palermos sind außerordentlich eng, was letzten Endes seinen Grund darin hat, daß der Sonne nicht soviel Zutritt gewährt wird. Der aus dem Norden kommende Mensch sieht die Sonne als seinen Freund, der südliche Mensch sieht sie als seinen Feind an und versucht, sich vor ihr soviel wie möglich zu schützen. Charakteristisch für Palermo und oft in Reisebeschreibungen erwähnt, sind jene zweirädrigen Karren, die mit bunten Bildern bemalt sind, auf denen sich noch immer Darstellungen aus der großen Zeit der Normannenkönige befinden. Während im allgemeinen das Volk ein geringes geschichtliches Interesse hat, bewahrt der Sizilianer an jene Zeit eine lebendige Erinnerung. Die Gestalt des König Rogers ist für ihn nicht gestorben, während er die spanische Epoche, die mit der Sizilischen Vesper einsetzt, als eine Zeit der Fremdherrschaft empfindet. Und doch hat auch diese Zeit auf ihn gewirkt, wie ja überhaupt in Sizilien jede einzelne Epoche ihre Spuren dem Lande aufgeprägt hat. So ist aus der spanischen Zeit ein Hang zur äußeren Eleganz geblieben. Wenn der Palermitaner für nichts anderes Geld ausgibt, die Stiefel läßt er sich dauernd putzen, und sie spiegeln sich in herrlichem Glanz. Meine Studienreise war ja nun nicht für das Studium des gegenwärtigen Palermos bestimmt. Ich hatte meine Zeit ja vor allem der Vergangenheit zu widmen, und das, was ich hier anmerke, sind nur kleine Beobachtungen, die man so nebenbei in sich aufgenommen hat. Der zweite Tag in Palermo gehörte also vor allem der eingehenden Besichtigung des Palazzo Reale. Der Ingenieur Cusano führte uns in liebenswürdigster und aufopferungsvollster Weise. Er erzählte uns, wie man sich eben gerade im Augenblick bemühte, die alten Bauformen aus dem, was spätere Zeit verunstaltet hatte, wieder herauszuarbeiten. Es war hier sehr viel gesündigt worden, aber nun traten an verschiedenen Stellen die Grundformen aus der arabisch-gotischen Zeit wieder hervor. Wie muß dieser Palazzo ausgesehen haben, als er noch in seiner ganzen Größe mit den Mosaiken aus der maurischen Zeit bedeckt war. An dem Tage, als wir den Palast besichtigten, wurde noch gearbeitet, wie ja
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überhaupt die Erneuerungsarbeiten in keiner Weise abgeschlossen waren. Der Ingenieur führte uns durch alle Teile. Nun sahen wir auch die herrliche Capella Palatina schon etwas genauer, die dem Auge durch die Vielfalt des Dargestellten so sehr viel bietet. Sehr häufig ist die Kunst der Normannen von Kunsthistorikern mit dem Worte „Mischkultur" etwas verächtlich abgetan worden. Aber ohne mich in den Streit der Fachleute einmengen zu wollen, glaube ich, daß dieses Urteil durchaus ungerecht ist. Was hier geschaffen wurde, ist eben nur verständlich, wenn man begreift, aus wieviel verschiedenen Wurzeln dieser Staat erwachsen ist. [...] Am Nachmittag jenes Tages besuchten wir die Kirche Santa Maria dell'Ammiraglio, die heute den Namen Martorana führt. Diese Kirche hatte für mich besondere Bedeutung. Sie war von dem Admiral Georg von Antiochia gestiftet worden, dem Admiral Rogers II., dem ich eine Biographie in meiner 1910 erschienenen Geschichte der sizilischen Flotte unter der Regierung Rogers I. und Rogers II. gewidmet hatte 56 . Wahrscheinlich hat dieser Admiral, der früher ein Seeräuber gewesen sein mag, am Ende seines Lebens, von Gewissensbissen bedrückt, diese Kirche gestiftet, um sich auf diesem Wege den Zugang ins Himmelreich zu sichern. Man sieht ihn dort (alles Bildliche sind wiederum Mosaiken) wie er zur Jungfrau Maria betet, fast wie eine kleine Schildkröte. Wir machten in dieser Kirche die Bekanntschaft des dortigen Geistlichen Professor Ribaudo, eine Bekanntschaft, die uns in den nächsten Tagen sehr viel Anregung bot. Ribaudo war nicht nur Geistlicher, er war auch Kunsthistoriker. Wer könnte das auch nicht sein, der ein solches Kunstwerk zu betreuen hat. In diesem Augenblick hatte er nicht viel Zeit; er bat uns abends noch einmal wiederzukommen. Wir haben ihn dann auch an späteren Tagen öfters gesprochen. So saßen wir an einem Abend in seiner Priesterwohnung zusammen, die wie alle derartigen Wohnungen einen eigenen Zauber ausströmte, und sahen ein grundlegendes Werk über Monreale durch. Ribaudo erklärte uns, wie der Künstler, der dies geschaffen hatte, noch ganz im Arabischen wurzelte, wie glänzend er in der Darstellung von Ornamenten war, aber noch ganz unsicher, wenn es sich um Bilder handelte. Bekanntlich lehnen ja Juden und Mohammedaner die Darstellung von Menschen im Kultischen ab. So kommt es, daß arabische Künstler, wenn sie zum Schmuck christlicher Gotteshäuser herangezogen wurden, eben in den Bildern noch unsicher waren. An jenem Abend sprachen wir auch eingehend über sizilische Geschichte. Ribaudo entwickelte in einer Gedankenfolge, die mir ganz neu 56
Vgl. SV N r . 2.
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erschien, daß er die Sizilische Vesper, die im allgemeinen immer als ein großes Glück für das Land gepriesen wird, für ein Unglück ansieht. Sie habe Sizilien vom Festlande getrennt und zu einem Nebenlande Spaniens gemacht. Erst mit Garibaldi fing für Sizilien eine neue Epoche an. Ich will hier nicht dazu Stellung nehmen, inwieweit er recht hat; jedenfalls hatte man den Eindruck, daß es ein Mann mit selbständigem Denken war und von einem großen Weitblick. Mit Ribaudo kam ich auch, eigentlich das einzige Mal auf dieser Reise, in ein Gespräch über den Faschismus. Im allgemeinen waren die Sizilier sehr ängstlich. Sie gingen diesen Gesprächen aus dem Wege, so wie wir das später auch in Deutschland erlebt haben, schließlich befanden sich doch unweit von Sizilien die Liparischen Inseln, an denen wir nachts vorbeigefahren waren. Dorthin schickte das faschistische Italien alle diejenigen, die sich politisch mißliebig gemacht hatten, soweit eine Verschickung überhaupt noch in Frage kam57. So war man sehr ängstlich, weil man sich auch gegenseitig nicht traute. Aber in der Einsamkeit der Priesterwohnung äußerte sich Ribaudo etwas ausführlicher, und seine Einstellung zum Faschismus war durchaus nicht so ablehnend. Er hielt ihn für tief verankert, weil er meinte, daß der Faschismus es verstanden habe, in Italien die gewerkschaftlichen und syndikalistischen Forderungen zu erfüllen. Sicherlich hatte er damit Recht, denn wenn man den Unterschied des vorfaschistischen Italien zu dem faschistischen ins Auge faßte, dann mußte man schon deutlich erkennen, daß für die arbeitenden Massen allerhand geschehen war. Wir sagten Ribaudo selbstverständlich auch, daß wir Juden sind. Damit nahmen wir ihm geradezu einen Stein vom Herzen. Die Menschen Siziliens konnten sich nämlich unseren Typ so gar nicht erklären, der doch anders war als der der sonstigen deutschen Reisenden. Ich benutzte auch die Gelegenheit, um ihn zu fragen, ob es in Palermo Juden gebe. Er sagte mir, daß nur ganz wenige vorhanden seien, die erst in den letzten Jahren aus Triest und den sonstigen früher österreichischen Landesteilen zugezogen wären. Da wir gerade die Pessachzeit hatten, und mir sehr viel daran gelegen war, zu Mazzoth zu kommen, so fragte ich ihn auch deswegen, worauf er mir sehr nett erwiderte, die einzige Möglichkeit, Auf den Liparischen Inseln befand sich ein italienisches Staatsgefängnis. Ein Konzentrationslager war es nie, doch wurden hier in faschistischer Zeit auch prominente Juden inhaftiert. Vermutlich spielt Cohn auf solche Vorkommnisse an. Vgl. Meir Michaelis: Mussolini and the Jews. German-Italian Relations and the Jewish Question in Italy 1922-1945. Oxford 1978, S.27. 57
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zu ungesäuertem Brote zu kommen, sei die Hostie zu nehmen. Unter diesen Umständen wird man verstehen, daß ich auf die Innehaltung des Speisegesetzes für die Pessachwoche verzichten mußte. Alle diese schwierigen Gespräche, auch über nationalökonomische Dinge, vollzogen sich in italienischer Sprache. Wenn manchmal ein Begriff nicht ganz klar war, dann griffen wir zum Lateinischen, denn diese Sprache hat wie keine andere die Fähigkeit, alles mit letzter Klarheit auszudrücken. Ribaudo erfaßte im Gespräche mit außerordentlicher Geschwindigkeit, was man meinte. Das ist übrigens etwas, was man bei katholischen Geistlichen häufig beobachten kann. Dadurch, daß der Priester mit sehr vielen Menschen zusammenkommt, die ihn schließlich alle mehr oder weniger in Seelennöten aufsuchen, fühlt er sich rasch in das hinein, was der andere denkt. An einem Tage fuhren wir nach Monreale hinauf. Zunächst ging es mit der Straßenbahn aus Palermo hinaus, dann mit einer Funiculare nach Monreale hinauf. Es war ein etwas altmodisches Bähnchen, wo eine kleine Lokomotive den Wagen stieß. Als die Bahn den Berg hinauffuhr, öffnete sich der Blick über das Meer. Man kann es verstehen, warum die späteren normannischen Könige diesen Dom hier oben schufen. Der Dom von Monreale ist eine der Perlen altnormannischer Baukunst. Hier wirken die Mosaiken am stärksten. Hoch oben thront Christus in byzantinischer Auffassung als Pantokrator, als Allesbeherrscher. Hier oben in dieser Kirche wird das Herz Ludwigs IX., des Heiligen, aufbewahrt, der auf dem Kreuzzug nach Tunis starb. Hier ruhen die normannischen Könige Wilhelm I. und Wilhelm II. Bekanntlich ist das Geschlecht der Normannen verhältnismäßig rasch erloschen. Es mag so scheinen, als ob die südliche Luft dem nordischen Menschen auf die Dauer nicht bekommt. Wundervoll war der Kreuzgang, der den klösterlichen Frieden atmete. Gewiß, das Kloster bestand nicht mehr, das liberale Italien hat ja die meisten Klöster säkularisiert. Aber man konnte sich gut vorstellen, wie hier die Mönche ihr beschauliches Dasein geführt haben, und man hatte das Empfinden, daß sie aus jedem Winkel hervortreten müßten. Hier saßen wir lange und atmeten den Frieden ein, genossen die Blumenpracht. [...] Nachdem ich Monreale gesehen hatte, war ich innerlich ruhiger geworden. Nun hatte ich das Gefühl, daß ich das, wonach ich mich auf der Reise am meisten gesehnt, in mich aufgenommen hatte. [•••] Garufi führte mich auch an einem anderen Tage bei der Società di Storia Patria ein, die ein bedeutendes Gebäude besaß und vor allem über eine einzigartige Bibliothek verfügte. Wie gern hätte ich hier in dieser
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Bibliothek, die dem Andenken Michele Amaris geweiht war 58 , gearbeitet, hier, wo eigentlich alles zusammen war, was man zum Arbeiten braucht. Ganze Säle sind auch voll von den Erinnerungen Siziliens an den Freiheitskampf unter Garibaldi. Ich wurde dem Präsidenten der Gesellschaft, Professor Sanzone, vorgestellt. Ich schenkte dann der Gesellschaft meine Bücher zur sizilischen Geschichte, soweit sie noch nicht in ihrem Besitz waren, und empfing dann ein sehr liebenswürdiges Dankschreiben, das auf meine bescheidenen Verdienste hinwies. Ich hatte überall in Sizilien den Eindruck, kein Fremder zu sein, sondern gewissermaßen Heimatrechte zu haben, weil ich mich mit solcher Freude der Erforschung der Geschichte der Insel gewidmet hatte. Einen Tagesausflug machten wir nach Cefalü. [...] Für uns war die Besichtigung des alten Normannendoms der Hauptzweck, in dessen Apsis sich wieder prachtvolle Mosaiken befinden. Das Ganze war aber sehr vernachlässigt, besonders der Kreuzgang. Diejenigen Denkmäler, die der Staat unter seine Obhut genommen hat, sind in gutem Zustande; aber die Kirche hat in Sizilien wenig für die Erhaltung der Baudenkmäler getan; woran das liegt, vermag ich natürlich nicht zu ermessen, vielleicht ist es auch seitdem anders geworden. Bei der Besichtigung dieses Domes gerieten wir eigentlich zum ersten Male in die Gewalt eines Nachfahren der normannischen Seeräuber. Der Herr Custode, der übrigens gräßlich duftete, schloß uns ein, um nachher mit uns die Verhandlungen über die Gebühren aufzunehmen. Dadurch, daß wir in der Mittagstunde gekommen waren und ihn in seiner Ruhe gestört hatten, war er besonders ungnädig. Als wir auch noch den Kreuzgang sehen wollten, erklärte er, daß dies nur möglich wäre, wenn er den Schlüssel von dem Custoden des Kreuzgangs holte, und das koste natürlich eine besondere Gebühr. Nachher stellte es sich aber heraus, daß er mit diesem Custoden des Kreuzgangs identisch war und daß das Ganze nur eine Erpressung war. Da wir aber nicht die Absicht hatten, unsere Tage im Dome von Cefalü zu beschließen, so zahlten wir ihm das, was er wollte, zumal es ja nicht so sehr viel war. Mir hatte der Ausflug das gebracht, was ich mir wünschte. Hier in Cefalü war ja wohl das Sprungbrett für die Normannen zur Eroberung der Insel. [...] Es mag genug sein mit dem, was ich von diesen Tagen in Palermo erzählt habe. Es ist lange nicht alles von dem, was ich sah, manche Einzelheiten sind in meinem Reisetagebuch niedergelegt; aber immerhin 58
Michele Amari (1806-1889), bedeutender Historiker der arabischen und mittelalterlichen Geschichte Siziliens.
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dürfte es doch einen Eindruck vermitteln von dem, was mir die Stadt der Normannen gegeben hat. Nicht zum wenigsten war ich dankbar dafür, daß ich soviel Hilfsbereitschaft und kollegiales Entgegenkommen gefunden hatte. Ich weiß nicht, ob der Mensch ein Recht darauf hat, auf sich selbst stolz zu sein. Ich bin immer der Meinung, daß man gar nicht bescheiden genug sein kann und daß man all das, was man leistet, an dem messen soll, was Größere geschaffen haben. Aber immerhin durfte ich mir doch in diesem Augenblicke sagen, daß das Entgegenkommen, das ich gefunden hatte, darauf zurückzuführen war, daß ich viele Jahre hindurch mit eiserner Energie geforscht und geschrieben hatte. Und insofern erfüllte mich doch ein großes Gefühl der Befriedigung. Dieses Jahr 1927 war sicher in meinem Leben einer der Höhepunkte. Nun saßen wir in der Eisenbahn. [...] Wir fuhren an den Liparischen Inseln vorbei, die ich schon in einem anderen Zusammenhange erwähnt habe, und plötzlich lag Messina vor uns. Das war eine neue ganz gleichmäßig erbaute Stadt. Das alte Messina ist durch das furchtbare Erdbeben von 1908 völlig zerstört worden. Man sieht auch vom Abteil aus noch viele Spuren jener schrecklichen Verwüstung, die in dreißig Sekunden achtzigtausend Menschen das Leben kostete. Noch standen in Messina viele Baracken; obwohl damals schon neunzehn Jahre vergangen waren. Noch immer waren nicht für alle Bewohner Häuser errichtet worden. In Messina mußten wir den Zug wechseln. Bisher waren wir in der Richtung von Südwesten nach Nordosten gefahren; jetzt fuhren wir von Nordosten nach Südwesten. Wieder ging die Fahrt am Meere entlang; aber es war nun ein anderes Meer, auf das wir sahen. In Gedanken ging es zur jenseitigen Küste, zur Küste Palästinas. [...] Dann ging es an Taormina vorbei, das wir noch später sehen sollten. Unser heutiges Reiseziel war Catania. [...] In den Morgenstunden sahen wir uns zuerst ein wenig die Stadt an, die durch häufige Erdbeben wenig von der alten Zeit noch bewahrt hat, waren im Dom, den Roger I. auf Säulen, die er aus einem alten Tempel genommen hatte, aufgerichtet hat. Dann warfen wir einen Blick nach dem alten Hafen, aus dem uns ein übler Geruch vertrieb. Inzwischen war es zehn geworden. Ich begab mich in die Universität, von der die Inschrift „Gymnasium Siculorum" grüßte. Hier wollte ich den Präsidenten der Società di Storia Patria per la Sicilia orientale begrüßen, Herrn Professor Casagrandi. Diese Gesellschaft für vaterländische Geschichte des östlichen Sizilien hatte ja die Übersetzung meines Hohenstaufenbuches übernommen, und nun wollte ich über den Fortgang der Arbeit verhandeln.
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Ich wurde in einen Raum geführt, in dem ein sehr alter Herr saß, den ich für alles andere als für den Präsidenten selbst hielt. So erzählte ich ihm, wer ich wäre und was ich wollte; er tat auch so, als ob er das eben alles nachher an der richtigen Stelle ausrichten würde. Nachher stellte es sich heraus, wer er war. Es war immerhin ein ganz neckisches Spiel. Casagrandi hat übrigens auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht. Trotz seines hohen Alters faßte er außerordentlich schnell und war ein wundervoller Kopf. Seinen „Zorn" zog ich mir übrigens dadurch zu, daß ich nicht wußte, wer die heilige Agathe war. Später habe ich diese beträchtliche Lücke in meinem Wissen ausgefüllt. Mit dieser Heiligen hat es nämlich eine besondere Bewandtnis. Sie gilt vor allem als die Schutzheilige gegen Erdbeben. Wenn ihr Schleier den Lavamassen entgegengetragen wird, dann sollen diese zum Stehen kommen. Der aus dem Norden kommende Mensch hat ja nun wirklich keine Ahnung, was Erdbeben bedeuten. Man kann es sich schon vorstellen, daß diese verängstigte Bevölkerung Siziliens, denen das Erdbeben unzählige Male die Existenz vernichtet hat, alles glaubt, was ihr über den Augenblick hinweghilft. Professor Casagrandi erzählte mir also, daß der Raum der Zeitschrift im Augenblick durch das Jubiläum der siebenhundertjährigen Wiederkehr der Gebeine der heiligen Agatha nach Catania völlig in Anspruch genommen sei. Im nächsten Jahre aber solle mein Buch in Abschnitten in der Zeitschrift erscheinen. Glücklicherweise ist das dann doch nicht geschehen, sondern das Buch ist, wenn auch mit Verspätung, als Ganzes in Buchform herausgekommen, was mir entschieden lieber war 59 . Wir sprachen dann noch über eine Reihe von deutschen Gelehrten, besonders auch über Hans Niese, der im Weltkriege gefallen war. Einen Augenblick verwechselte mich Casagrandi mit meinem Freunde Sthamer, was aber gewiß alles andere als eine Kränkung bedeutete. Auf diese Verwechslung konnte ich ja eigentlich nur stolz sein. Das Entscheidende der Unterhaltung aber war, daß er mich an Professor Libertini verwies, der die Übersetzung meines Buches übernommen hatte. So begaben wir uns zu dessen Wohnung auf der Ätnastraße. Das ist die eigentliche Hauptstraße Catanias, die sehr lang und gerade auf den Ätna zuführt. Welch ein unbeschreibliches Panorama, wenn man diesen gewaltigsten der europäischen Vulkane vor sich sieht. Wir hatten es schon auf unserer Fahrt nach Catania bewundert. Eine Besteigung des Ätna, die sonst in
59
Vgl. SV Nr. 379.
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das Programm jeder Sizilienfahrt gehörte, konnten wir auf dieser Reise leider nicht mehr durchführen. Professor Libertini entpuppte sich als ein jüngerer, sehr orientierter Mann. Er war Vizepräsident der Gesellschaft. Die Ubersetzung meines Buches war offenbar deswegen nicht recht vorwärts gekommen, weil er sich mit Casagrandi überworfen hatte. Überall, wo Menschen miteinander zu tun haben, spielen ja leider solche persönlichen Gegensätze und Eifersüchteleien eine nicht unbeträchtliche Rolle. Nicht der geringste Erfolg meiner sizilischen Reise bestand darin, daß durch die persönliche Bekanntschaft mit Libertini nun die Frage der Ubersetzung meines Buches neu aufgerollt und energisch in Angriff genommen wurde. Mit Libertini habe ich mich auf dieser Reise auch später sehr gut verstanden. Unsere wissenschaftliche Freundschaft hat sich seitdem immer vertieft. Er war sehr froh, daß durch meinen Besuch bei Casagrandi die Sache nun wieder ins Rollen kam. Er versprach, sich wieder an die Arbeit zu machen. [...] Wir wollten an diesem Tage noch bis Syrakus kommen. [...] Welche Erinnerungen schließt nicht allein dieser Name in sich! Da steigen die entferntesten Jahrtausende auf, die Zeit der sizilischen Expedition, als die Athener versuchten, Syrakus zu erobern 60 . War das auch nicht „meine" Epoche im Sinne der Forschungsarbeit, so empfand man doch alles als Teil seines eigenen Selbst. In Syrakus waren wir durch die Güte Professor Orsis wieder sehr gut untergebracht. Wir wohnten in der Pensione Internazionale, und als ich sagte, daß ich auf Empfehlung Orsis kam, bekam ich noch einen besonderen Rabatt. Von unserem Zimmer hatten wir einen märchenhaften Blick über den großen Hafen von Syrakus. Was hatte sich nicht alles an weltbewegenden politischen Schicksalen in diesem Hafen abgespielt! Zu unseren Füßen war die berühmte Quelle der Arethusa, die von so vielen Sagen umwoben ist. Bei allem wissenschaftlichen Interesse erforderte auch die Landschaft ihr Recht. Hier in Syrakus wollten wir nicht nur sehen und studieren, hier wollten wir uns auch ein wenig erholen. [...] Am nächsten Tage führte uns unser Weg zunächst in das Museum. Wir kamen an dem imposanten Dom vorbei, der ältesten christlichen
6 0 Die Katastrophe der Athener Flotte vor Syrakus ereignete sich im Jahr 414 vor Christus.
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Kirche Europas, die auf einem Minervatempel aufgebaut war 61 . Aus den Wänden des Domes ragen noch heute die Säulen des alten Tempels empor. Jahrtausendelang hat man an dieser Stelle zur Gottheit gebetet, nur war diese jeweils eine andere geworden. In dem Museum von Syrakus war das Schönste die Venus Anadyomene. Hier kann man wirklich von klassischen Linien sprechen. Nachdem wir schon eine ganze Stunde herumgegangen waren, kam Professor Libertini aus Catania mit seiner Frau, die sich auch als Dr. phil. entpuppte. Er erzählte mir, daß er im Auftrag des Ministeriums einen Führer durch dieses Museum schrieb. Wir nahmen zusammen noch einmal eine gründliche Besichtigung des Museums vor, und ich konnte ihm sogar bei der Entzifferung einer Inschrift helfen. Libertini ist eigentlich von Beruf Archäologe. Er hatte die Übersetzung meines Buches übernommen, weil er schon andere Bücher aus dem Deutschen übertragen hatte. Er blieb selbst noch im Museum, um dort zu arbeiten, während wir mit seiner Frau nach dem Castello Maniace hinauswanderten und auch noch durch die Stadt gingen. Wichtig war bei der Besichtigung von Syrakus vor allem, daß man sich mit der Topographie der Stadt vertraut machte. Das heutige Syrakus ist ja nur ein kleiner Teil des Riesenraumes, den einstmals die antike Stadt einnahm. Wir wohnten auf der Halbinsel Orthygia. Wollte man in die Teile kommen, wo sich das Leben in der Antike abgespielt hatte, so mußte man ein weites Gebiet durchwandern, das heute ziemlich wüst und leer ist. Unterwegs sah ich an einem Gasthaus die Aufschrift: „Hier verkauft man das Chinin des Staates", ein Beweis dafür, daß die Umgegend noch immer malariagefährdet war. Wir haben es auch vermieden, nach Sonnenuntergang noch vor der Stadt spazierenzugehen. Draußen ist der gewaltigste Eindruck das griechische Theater, das heißt ich muß das einschränken. Ich möchte annehmen, daß nur der den Eindruck wirklich als gewaltig empfinden wird, der in seinem Leben einmal eine griechische Tragödie gelesen und erfaßt hat. So ein antikes Theater ist doch etwas ganz anderes als ein modernes. Wir sitzen heute in geschlossenen Räumen, meist in den Abendstunden, dann auch schon müde und abgekämpft, aber der antike Mensch füllte den Tag mit seinem Theaterbesuch aus. Er saß in einer Szenerie, bei der die Natur die Kulissen lieferte. Wenn hier die Gestalten der Tragödie erschienen, dann nicht als Erfindung des Dichters. Es muß so gewesen sein, als ob das Leben selbst 61
Cohn gibt hier die ältere Deutung des Domes als Minervatempel wieder, was noch heute durch den Namen der anliegenden Straßen bestätigt wird. Inzwischen sieht man den antiken Bau eher als Athenatempel an.
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spielte. Es schien mir, als rauschten die Worte des Sophokles auf: „Vieles Gewaltige gibt es, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch." 62 Damals war die Kunst noch ein Erlebnis der Menge. In dem antiken Theater von Syrakus fanden noch immer Festspiele statt, in denen allerdings nicht mehr in der Ursprache gespielt wurde, sondern nur in der Übersetzung. Als ich so still auf den Steinstufen saß, hatte ich auch ohne Schauspiel die völlige Illusion der Aufführung. Es war wie eine Verbundenheit über Zeit und Raum hinweg mit jenem Geist der Antike, dem die Gesittung unserer Tage so viel zu danken hat. Unmittelbar neben dem griechischen Theater liegt das römische Amphitheater, aber was ist da doch für ein Abstand! Panem et circenses! Das ist der Ruf der Römer gewesen63. Von der Tragödie eines Äschylus oder Sophokles bis zu Kämpfen in der Arena ist gewiß ein weiter Weg. Ich sah das berühmte Ohr des Dionys. An diese Stelle knüpft sich ja fälschlich die Sage, daß hier Dionys die Gespräche der kriegsgefangenen Athener belauscht haben soll. Wir waren in den weiten Steinbrüchen, wir standen am Grabe des Dichters und Grafen von Platen, dem Heine so übel mitgespielt hat64. Wir besichtigten die Katakomben, durch die uns ein Franziskaner führte. An einer Stelle war deutlich der Fisch, das Symbol des frühen Christentums, zu erkennen. Quod sumus eritis - Was wir sind, das werdet Ihr sein. Der Ruf, den die Toten den Lebendigen senden. Die Dinge, die man hier in den Katakomben gefunden hat, befinden sich heute im Syrakusaner Museum. Allmählich bekamen wir das Gefühl, daß sich in unserer Seele all das Mannigfache, was wir gesehen und erlebt hatten, ordnete und setzte. [...] Den Sederabend mußten wir in Syrakus ganz still für uns verleben. Ich hatte die Haggada mit, die ich für mich las. Unser Wirt veranlaßte uns, die Karfreitagsprozession anzusehen. Es ist bemerkenswert, wie sich die südlichen Menschen die Religion ganz anders gestalten, als die Menschen im Norden. Es war geradezu ein großes Volksfest. Die Gestalt der Jungfrau Maria und die Christusgestalt wurden vorangetragen, sehr viele niedliche Kinder folgten; dann kam der Erzbischof mit der Monstranz unter einem Baldachin. Man hatte das Gefühl, wenn man das sah, daß der Katholizismus die Menschen da unten sehr glücklich machte. Auch in Aus der Tragödie „Antigone", V. 332f. Brot und Spiele. Zitiert nach Juvenals Satiren. 6 4 Eine literarische Fehde zwischen den Dichtern Platen und Heine war durch gegenseitige Verunglimpfungen zum Skandal geworden. Heine hatte Platens antisemitischen Spott mit Anspielungen auf dessen Homosexualität erwidert. 62 63
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den Kirchen ging es in Syrakus immer sehr laut und geräuschvoll zu. Es war ein ewiges Kommen und Gehen, und man machte hier genau so viel Lärm wie im Kino. [...] Bei unserer Sizilienreise hatten wir im Interesse der Konzentration auf manches verzichtet, was sonst im Programm einer solchen Reise zu stehen pflegt. Vor allem hatte ich von dem Besuche vieler der berühmten Stätten der Antike abgesehen, die mich an und für sich sehr angezogen hätten. Ich habe Segesta nicht gesehen und so manches andere, was mir aus Reisebeschreibungen wohl vertraut war. Doch sollte uns die Rückreise noch einen sehr wichtigen und unvergeßlichen Eindruck bringen. [...] In Catania setzte ich mich telefonisch mit Libertini in Verbindung. Wir machten eine Rundfahrt durch die Stadt, damit ich wenigstens Gelegenheit hätte, einen Blick auf das Castello Ursino zu werfen, das ja aus der Zeit Friedrichs II. stammt und dessen Erneuerung in Angriff genommen werden sollte. Die Bekanntschaft mit Libertini war mit das wichtigste Ergebnis der Reise. Als ich schon in der Bahn saß, kam er noch einmal ins Abteil herein und riet mir, wie es auch Orsi getan hatte, für meine weiteren Studien den Weg über das Preußische Historische Institut in Rom einzuschlagen. Ich erwiderte ihm darauf, daß eben dieser Weg durch den Antisemitismus in Deutschland für mich besonders schwer wäre. Ich habe es übrigens später versucht, aber dabei keinen Erfolg gehabt, wie ich im einzelnen noch aufzeigen werde. Wenn Menschen späterer Zeit vielleicht einmal ein Urteil darüber abzugeben haben, was ich wissenschaftlich geleistet oder nicht geleistet habe, so muß stets im Auge behalten werden, unter welchen Schwierigkeiten sich der Jude durchzusetzen hatte, der treu zum Glauben der Väter stand. Was für Menschen des anderen Glaubens oder der anderen Rasse, wie man heute sagen würde, bei gleicher oder auch bei geringerer Begabung ohne weiteres durchzusetzen war, bedeutete für uns stets Kämpfe besonderer Art. Vielleicht wird man meinen, daß man auf diese Weise auch seine Kräfte gestärkt hat. Das ist sicherlich richtig; aber auf der anderen Seite sind dadurch auch sehr viel Energien verbraucht worden, die sonst für andere Arbeit zur Verfügung gestanden hätten. Doch ist der Stolz, Jude zu sein, jedes Opfer wert, auch wenn man es damit bezahlt, daß man nicht die Leistungsmöglichkeiten hat, die anderen zur Verfügung stehen. [•••] . . . . . . • . * . Giardini ist die Bahnstation für Taormina. Da wir schon mit dem Gelde ein wenig knapp waren, liefen wir den Berg nach Taormina hinauf, was in der südlichen Wärme eine große Anstrengung bedeutete und leider auch
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VII. Kapitel
meiner Frau nicht sehr gut bekommen ist. Schon beim Hinaufklettern öffnete sich ein Blick über das Meer, den man niemals vergessen kann. Dort sind der Küste viele Felsklippen vorgelagert. Von einem geht die Sage, daß Polyphem ihn dem Odysseus nachgeworfen hat, als dieser ihn geblendet hatte und ihn nachher noch verhöhnte. In diesen Ländern mit alter Kultur ist es so, daß für den Gebildeten an jeder Stelle die Vergangenheit lebendig wird. Taormina ist ein Treffpunkt der eleganten Welt; aber das interessierte uns wenig, zumal ja auch schon dafür die Jahreszeit etwas vorgeschritten war. Was Taormina, abgesehen von der einmaligen Schönheit der Landschaft zu bieten hat, ist das griechische Theater, das noch geschlossener erhalten ist als das von Syrakus. Es erweckt den Geist der Antike, den Geist der Humanität, der unserem Geschlecht so fern ist, zum Leben. Wir setzten uns still auf die steinernen Stufen und versuchten, uns die Menschen lebendig zu machen, die einst hier gespielt hatten, und immer wieder ging dann der Blick hinunter über das Meer und auf der anderen Seite hinauf auf die Berge, und alles Kleine und Niedrige schwand aus der Seele. [...] Der Abstieg war wesentlich angenehmer als der Aufstieg. Man konnte die Schönheit der Landschaft noch einmal von ganzem Herzen genießen. Dann kamen wir in einen sehr überfüllten Zug hinein, der nach dem Norden ging. Wir mußten stehen, bis wir im Trajekt über die Straße von Messina hinübergekommen waren. Das Übersetzen der für das Festland bestimmten Eisenbahnwagen geschah auf großen Fährbooten, auf die die Wagen hinaufgeschoben wurden. Es war eine kurze Fahrt über das Meer. Allmählich verdämmerte hinter uns die Küste Siziliens, die Küste dieser Insel, die uns so viele und unvergeßliche Stunden geschenkt hat. Man verläßt einen Ort und ein Land, in dem einem Erlebnisse geschenkt wurden, sicherlich immer mit großer Wehmut, aber auf der anderen Seite doch auch mit großer Dankbarkeit, wenn alles sich so abgewickelt hatte, wie man es in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen wagte. In späteren Jahren sind wir übrigens noch einmal durch diese berühmte Meerenge gefahren, als wir von Palästina nach Europa zurückfuhren. So befanden wir uns also in diesem Augenblick zwischen Scylla und Charybdis. Unwillkürlich kam der Gedanke an Schillers „Taucher" und an jenes Experiment Friedrichs II. über Tiefseeforschung, auf das ja wahrscheinlich das Schillersche Gedicht zurückgeht, wie ich einmal in einer Abhandlung nachzuweisen versuchte 65 . Von den großen Strudeln, 65
Nicht ermittelt.
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von denen die Sage erzählt, ist in Wirklichkeit nichts zu merken. Der Trajektdampfer gleitet still und ruhig über das Meer. Die sizilische Reise also war abgeschlossen. [...] Der sizilische Traum war ausgeträumt. [...]
VIII. A U F D E R H Ö H E DES L E B E N S (1927-1930) „Nie habe ich mich Schlesien stärker verbunden gefühlt, als wenn ich im Riesengebirge war." Wenn man nach einer solchen Reise wieder in den Alltag hineinspringt, so ist der Ubergang immer sehr schwer. Diesmal aber war er schwerer als gewöhnlich. Dort unten war ich überall als der deutsche Gelehrte aufgenommen worden, der sich durch seine Veröffentlichungen einen Namen errungen hatte, aber nun war ich wieder der „Pauker", der seine fünfundzwanzig Stunden zu geben hatte. Die Gespaltenheit meines Daseins zwischen Wissenschaft und Schule kam mir besonders zum Bewußtsein. Immer wieder habe ich damals mit dem Entschluß gerungen, irgendwie aus dem Schuldienst herauszukommen. Nun, das Schicksal hat mir nur sechs Jahre später diesen Entschluß abgenommen. Heute bin ich natürlich sehr glücklich, daß ich diese sechs Jahre noch durchgehalten habe, die mir im Unterricht manche Freude gebracht haben. Wissenschaftlich arbeitete ich jetzt besonders am „Hermann von Salza", las auch sehr viel italienische Literatur. Im Haushalt hatten wir es so eingeteilt, daß meine Frau mir jetzt wieder alles schrieb, was ich auch immer besonders begrüßt habe, weil man sich durch nichts näher steht als durch die gemeinsame Arbeit. Im Mai feierten wir Wölfls zwölften Geburtstag. Er hatte uns besonders im vergangenen Jahre sehr viel Freude gemacht, und wir richteten ihm gern dieses Fest aus. Die Kindergeburtstage waren auch für uns immer etwas besonders Schönes. Mein tägliches Leben brachte viele andere Pflichten, vor allem auch im Kuratorium der Jüdischen Schule, die oft sehr zeitraubend waren, aber über die ich doch heute sehr glücklich bin, weil sie unseren Kindern die Schule in diesen Zeitläuften geschaffen hat. Mit dem Professor Reincke-Bloch, dessen Namen ich schon öfters erwähnt hatte, hatte ich im Anschluß an einen Vortrag von Werner Milch in der Historischen Sektion der vaterländischen Gesellschaft1 1
W. Milch hatte am 19. Mai 1927 in der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur über Gustav Adolfs literarischen Nachruhm gesprochen.
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eine Unterredung wegen meiner Zukunft. Ich berichtete ihm von meiner Studienreise, und er riet mir, mich wegen Kommandierung an das Historische Institut in Rom und der Arbeit im Staatsarchiv in Neapel an das Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung zu wenden, um für ein Jahr beurlaubt zu werden. Ich sollte mich auf ihn und Hampe in Heidelberg beziehen. [...] Noch im Mai 1927 schloß ich die Regestensammlung zum „Hermann von Salza" ab, so daß ich dann an die stückweise Ausarbeitung gehen konnte. Es war die erste große wissenschaftliche Biographie, die ich mir zu schreiben vorgenommen hatte, und man konnte erst dann an die Niederschrift herangehen, wenn man den Mann deutlich vor sich sah. Gewiß mußte in einer wissenschaftlichen Lebensbeschreibung jedes Wort quellenmäßig belegt werden; aber man mußte doch den Menschen als Ganzes vor sich sehen. Hier war es oft nicht ganz leicht, die richtige Linie einzuhalten. Der damals sehr in Mode stehende Ernst Kantorowicz hat in seiner großen Biographie über Kaiser Friedrich II. einen Weg eingeschlagen, den ich niemals billigen konnte 2 . Man hat bei diesem Werk den Eindruck, daß nicht die Quellen die Hauptsache sind, sondern das, was der Autor in sie hineinschaut. Diesen Weg, der oft zu einem größeren literarischen Erfolge führt, wollte ich nicht gehen. Dafür hat der Wissenschaftler, der methodisch gründlicher arbeitet, immer [die berechtigte Hoffnung], daß von seinem Schaffen etwas mehr übrigbleiben wird. In dieser Zeit trat ich dem schon genannten Regierungsrat Friedrich Block näher, der ebenso wie ich viel Interesse an der Gestalt des großen Staufers hatte. In jenem Sommersemester habe ich auch das erste Mal in der Städtischen Volkshochschule gewirkt, und wenn mein Hörerkreis auch zunächst klein war, weil die Menschen mich erst kennenlernen mußten, so habe ich doch an dieser Arbeit eine immer steigende Freude gehabt. Doch davon wird später noch mancherlei zu erzählen sein. Ich war auch ein eifriges Mitglied im Verein für Geschichte Schlesiens. Dieser Verein unternahm in jedem Jahre eine Wanderfahrt in einen geschichtlich bedeutsamen Ort der Heimatprovinz. In jenem Sommer 1927 ging die Reise nach Münsterberg und Heinrichau 3 . Besonders das
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Vgl. unten S. 548. Vgl. den Bericht über die Vereinstätigkeit 1927 in der ZVGS 63 (1929), S. 428ff. 3
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VIII. Kapitel
letztere ist ein altes schlesisches Kulturzentrum, das einst die grauen Mönche aus dem französischen Citeaux geschaffen haben und das der Säkularisation zum Opfer gefallen ist. Unter verständnisvoller Führung fanden wir uns sowohl hier wie in Münsterberg rasch in den Geist jener vergangenen Zeiten zurück. Die Stadt Münsterberg hat ihren Namen davon, daß hoch über der Stadt das Münster emporragt. An jener Wanderfahrt nahm auch der Kommerzienrat Pinkus aus Neustadt O/S teil. Dieser Mann, einer der führenden Industriellen Ostdeutschlands, war ein leidenschaftlicher Freund schlesischer Geschichte. Er besaß die größte Bibliothek auf diesem Gebiete. Nach dem Umbruch von 1933 ist die Bibliothek von staatlicher Seite angekauft worden und in die Landesbibliothek nach Ratibor gekommen 4 . Sein Name wird seitdem nicht mehr erwähnt 5 . Er ist auch von allen Anstalten, die Pinkus in Neustadt geschaffen hat, entfernt worden. Gerade dieser Mann ist ein Beweis dafür, von welcher Liebe der Jude auch zu dem Lande sein kann, in dem er lebt. Dabei ist Pinkus sicher nicht der einzige, der sich so um die engere Heimat gemüht hat. Anfang Juli machte ich noch einen Ausflug nach Kudowa. Ich fuhr immer gern dorthin, weil ich ja meinen Bruder dort wußte. Er hatte mich gebeten, hinzukommen, weil er mit mir wegen der Zukunft seiner Tochter Annie sprechen wollte. Was ich auch immer von der Welt gesehen habe, der Blick vom Schloßberg von Kudowa auf das Bad hinunter gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Wie schnell konnte man dem eigentlichen Badebetriebe entrinnen, wenn man da hinaufging. Selbst wenn man mit dem Herzen nicht in Ordnung war, gab es sanft ansteigende Wege, die einen langsam hinaufführten. Zu den Wünschen, die ich mir gern noch einmal erfüllen möchte, gehört der, von dort oben über die schlesische Landschaft blicken zu dürfen. Aber vielleicht wäre auch das jetzt sehr wehmutsvoll, wie so manches andere, wenn der Bruder nicht mehr da ist, an dem ich so gehangen habe. [...] Oft habe ich schon auf diesen Blättern von meiner großen und tiefen Liebe zum Riesengebirge gesprochen, eine Liebe, die sich mit jedem Besuch immer mehr verstärkte. Was war es für ein schönes Gefühl, wenn Die Oberschlesische Landesbibliothek wurde 1938 von Ratibor nach Beuthen verlegt und mit ihr auch die Schlesierbibliothek von Max Pinkus. 5 Als dieser bedeutende Mäzen 1934 starb, fiel auf, daß keiner der vielen nichtjüdischen Freunde oder Geförderten dem Toten die letzte Ehre erwies. Lediglich Gerhart Hauptmann und seine Frau kamen zur Beisetzung des Freundes. K. Schwerin: Max Pinkus, seine Schlesierbücherei und seine Freundschaft mit Gerhart Hauptmann; in: JSFUB 8 (1963), S. 210-235. 4
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man als Schulmeister gleich vom Unterricht auf den Freiburger Bahnhof gehen und von dort in die Freiheit fahren konnte. [...] In Krummhübel hatten wir uns einen mit Pferden bespannten Wagen an die Bahn bestellt. Dann ging es in langsamer Fahrt den Berg hinauf. Mit jedem Schritt wurde die Luft klarer und reiner, und immer schöner wurde der Ausblick auf die Berge und hinunter ins Tal. Gewiß, ich hatte erst vor kurzer Zeit den einsam ragenden Gipfel des Ätna gesehen; aber der heimische Berg, die Schneekoppe, löste doch immer wieder ganz andere Empfindungen in mir aus. [...] Wir waren auch einmal auf der Schneekoppe oben. Selten trifft man es dort, daß man einen wirklich weiten Ausblick über das Land hat, meist ist die Koppe in Wolken gehüllt. Aber doch ist es jedesmal ein schönes Gefühl, wenn man den Aufstieg geschafft hat. Zum Hinaufgehen benutzten wir den Jubiläumsweg und zum Abstieg den steilen Zickzackweg, bei dem man immer sehr gut aufpassen muß, daß man nicht ins Rollen kommt. Der kleine Ernst übersah noch nicht recht die Größe der Gefahr, und wir mußten sehr auf ihn aufpassen. Auf dieser großen Fahrt begleitete uns auch mein Schwiegervater, der einige Tage zu Besuch war. Das Schönste an einem solchen Marsch ist eigentlich immer der Weg. Viele Wanderer machen den Fehler, daß sie Wert darauf legen, in Rekordzeit zu marschieren, um damit renommieren zu können. Dafür sitzen sie dann um so länger in den Bauden, was manchmal ganz nett sein kann, aber schließlich nicht die Hauptsache eines Marsches in den Bergen ist. Jedes dieser Berggasthäuser hat seine eigene Stimmung. Es ließe sich viel sagen, wenn man diesem Stimmungsgehalt nachgehen würde. Am meisten hat mich von den Bauden auf der reichsdeutschen Seite immer die kleine Teichbaude angeheimelt, wie überhaupt diese Stimmung an dem kleinen Teich eine einzigartige ist. In jeder Jahreszeit ist dieser Bergsee anders, aber immer war es mir, als ob ich die versunkene Glocke aus dem Wasser tönen hörte 6 . Gern bin ich auch von Brückenberg aus nach der Annakapelle gewandert. Auch für den Andersgläubigen ist die Stimmung einer solchen Kapelle immer ein Erlebnis. O f t war es aber auch schön, nur irgendwo in den Wald zu gehen und die Einsamkeit zu suchen. Das letztere ist in dem Ferienmonat nicht ganz einfach. Da wandern sehr viele Menschen, die sich mehr oder weniger bemüßigt fühlen, mehr laut als schön zu singen, und wenig harmonisch die Frage aufzuwerfen: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?" Gewiß, es heißt, singe, wem Gesang gegeben. Aber der Schutzmann, der einmal 6
Eine Anspielung auf G. Hauptmanns Märchendrama „Die versunkene Glocke" von 1896.
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VIII. Kapitel
gegen grölende Studenten einschritt und von diesen hingewiesen wurde, „so heißt es bei Uhland", hat mit Recht darauf geantwortet: „Wir sind nicht in Uhland, sondern in Deutschland" 7 . [...] Wenn ich in Brückenberg das Bedürfnis spürte, beten zu gehen, ging ich in das Logenheim in Krummhübel. Dort sprach ich auch den Rabbiner Dr. Salli Lewi aus Mainz, den ich schon seit Jahren kannte und der mir immer sehr sympathisch war. Ihn hat das Geschick gerade vor wenigen Wochen hinweggerafft, als er im Begriff war, nach Amerika auszuwandern. Ein Herzschlag hat seinem Leben ein Ende gemacht, was bei den Aufregungen, die eine Auswanderung mit sich bringt, doch eben häufiger vorkommt. Salli Lewi gehörte zu den deutschen Rabbinergestalten, die neben einer sehr umfangreichen Seelsorge immer Zeit dazu fanden, wissenschaftlich zu arbeiten. Sonst haben wir uns von den zahlreichen Bekannten, die es in Brückenberg gab, möglichst fern gehalten. Mein ganzes damaliges Leben brachte mich mit soviel Menschen in Berührung, daß ich in den Ferien nicht das Bedürfnis spürte, mich viel zu unterhalten, zumal ich häufig in solchen Gesprächen der Gebende war und mich dann bei der Lebhaftigkeit meines Temperamentes sehr verausgabte. Die Kunst zu schweigen ist etwas, was man erst allmählich lernen muß. [...] Wenn man am Abend noch einmal vor das Haus ging und dann so allmählich die Berge verdämmern sah, dann zog Frieden und Ruhe in das Herz ein, dann spürte man etwas von dem, was Gerhart Hauptmann und vielleicht in noch höherem Maße sein Bruder Carl in ihren Dichtungen empfunden haben. Nie habe ich mich Schlesien stärker verbunden gefühlt, als wenn ich im Riesengebirge war. Ganz habe ich auch auf solchen Reisen den Geist nicht spazierenschicken können. Kartenspielen war mir nicht gegeben, und viele Bekanntschaften habe ich nicht gewollt. So habe ich Bücher gelesen, zu denen ich zu Hause nicht kam, habe auch immer auf solchen Reisen kleine schriftstellerische Arbeiten vorgenommen, die mir Freude machten und die eine Erholung von der schweren Forschungsarbeit bedeuteten. Überallhin hat mich auch die Sorge um die Zukunft unseres Judentums begleitet. Auf einem Spaziergang mit Salli Lewi haben wir eingehend über das Buch von Felix Theilhaber „Der Untergang der deutschen Juden" gesprochen 8 . Auch er zweifelte gleich mir nicht an dem Resultat. [...] In 7
U m der Pointe willen erzählt, wobei angemerkt sei, daß lediglich die Worte „Singe, w e m Gesang gegeben" einem Gedicht Uhlands („Freie Kunst") entnommen sind, während die poetische Frage natürlich von Eichendorff stammt. 8 Vgl. die Rezension Cohns SV Nr. 176.
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die Sommerferien fiel auch diesmal der Tag der Zerstörung Jerusalems, der 9. Ab. Ich hörte die Klagegesänge, die Echa, beim G'ttesdienst in Krummhübel. [...] Nach der Rückkehr nach Breslau setzte die Arbeit in gewohnter Weise wieder ein: Schule und Journalismus, und nun vor allem auch die Niederschrift des „Hermann von Salza". Wenn man im besten Schreiben war, mußte man sich häufig von der Arbeit losreißen, um die Alltagsarbeit zu schaffen. Das ist oft das schwerste Opfer, das man bringen kann. Das heißt, nicht den Faden zu verlieren, bis man wieder am Schreibtisch landet und weiter arbeiten kann. Für diese doppelte und dreifache schwere Arbeit fand ich immer wieder den Ausgleich in weiten Wanderungen vor die Tore der Stadt, bei denen mich meine Kinder begleiteten. Ich habe mich bemüht, ihnen allen, soweit es jeweils die Umstände zuließen, die Umgegend Breslaus zu zeigen. Gerade auf diesen Wanderungen ist man sich sehr nahe gekommen. Wie viele dieser Wanderungen haben sich wiederholt! Von einer Schulfahrt möchte ich erzählen, die etwas Besonderes bot. Das gesamte J o h a n nesgymnasium fuhr in einem Sonderzug zur Gartenbau- und Gewerbeschau nach Liegnitz. Wunderbar schön war dort die Dahlienschau. In Liegnitz hatte ich gute Freunde in der Familie Fränkel. Frau Fränkel, die ich auch auf meinen Vortragsreisen dort immer aufsuchte, begleitete mich auf die Ausstellung. Die alte schlesische Piastenstadt Liegnitz habe ich auch sehr geliebt. Ich sah sie sonst meistens am Abend, wenn ich im Winter zum Vortrag hinkam. N u n war ich ganz froh, sie auch einmal an einem schönen Spätsommertage kennenzulernen. Bei der Anfertigung einer Karte für meinen „Hermann von Salza" half mir damals auch der Bibliothekar Dr. Ernst Honigmann von der hiesigen Universitätsbibliothek. Auch er hat später ein schweres Schicksal durchzumachen gehabt. Nach 1933 ging er nach Belgien, wo er mehrere Jahre auf Grund eines Stipendiums der Rockefeller-Stiftung wissenschaftlich arbeiten konnte und auch manches veröffentlicht hat. Aber er hatte das Unglück, seine junge Frau sehr früh zu verlieren. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien oder vielleicht schon früher wurde er in ein Internierungslager nach Südfrankreich geschafft und von seinen Kindern getrennt. Seitdem habe ich seine Spur verloren 9 . Solange er in Belgien war, habe ich mit ihm lebhaft korrespondiert.
[-]10 Ernst Honigmann starb 1954 in N e w York. In der chronologischen Folge der Darstellung vermißt man hier eine Erwähnung der Teilnahme Cohns am Deutschen Historikertag vom 19. bis 9
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Im O k t o b e r 1927 hatte ich wegen meiner Zukunft eine eingehende Unterredung mit dem Regierungsrat Hamburger im Oberpräsidium. Er sagte mir bei dieser Gelegenheit, daß ich auf der Liste derer stände, die für einen Oberstudienratsposten in Frage kämen. Solche Gänge habe ich im Grunde sehr selten gemacht und auch nicht gern. Im Grunde haben sie auch nichts erreicht, was ich ja schließlich nicht so bedaure. Aber in dem Alter, in dem ich damals stand, war ich doch, wenn ich ehrlich sein soll, auch recht ehrgeizig. [...] Eine sehr interessante Bekanntschaft machte ich damals in dem Dichter und Schriftsteller Arthur Holitscher. E r sprach in der jüdischen H o c h schule über das Thema: „Das Judentum in der kommenden Weltkrise". Holitscher gehörte zu den Menschen, die ehrlich von den Ideen erfüllt waren, die in Rußland eine neue Weltordnung geschaffen haben. E r hatte die Fähigkeit, in seinen Reisebüchern die Welt so lebendig zu machen, wie das nur wenige verstehen. Ich hatte den Eindruck, es mit einer bedeutenden Persönlichkeit zu tun zu haben. Wir sind auch noch jahrelang in Fühlung geblieben. E r hatte es als freier Schriftsteller nicht so leicht. So war ich glücklich, daß ich ihm später einige Rundfunkvorträge verschaffen konnte. Was aus ihm nach 1933 geworden ist, ob er noch am Leben ist, ob es ihm vielleicht geglückt ist, nach Rußland zu kommen, das weiß ich nicht 1 1 . Auch er gehört zu den vielen Menschen, die einem einstmals nahestanden und die nun unter die Uberschrift gehören: „Verwehte Spuren". Am Tage nach seinem Vortrag verabredeten wir einen gemeinsamen Gang zum Grabe Lassalles, und ich zeigte ihm auch das Grab des im Kapp-Putsch ermordeten Schottländer. Sicher gehört Holitscher zu den Menschen, die, ähnlich geartet wie ich, die Dinge des Lebens nicht so sehr aus der Praxis heraus ansehen, sondern aus der Ideenwelt, die doch ganz anders ist als die rauhe Wirklichkeit. Ich schenkte ihm damals meine sozialistischen Jugendschriften, und er sandte mir als Gegengabe von Berlin her den zweiten Teil seines Bekenntnisbuches „Aus dem Leben eines Rebellen" 1 2 . Holitscher sagte mir damals, wie sehr er unter der 23. September 1927 in Graz. Sein Name findet sich jedenfalls im gedruckten Teilnehmerverzeichnis. 11 Arthur Holitscher starb 1941 in der Schweiz. 12 Der erste Band der Lebenserinnerungen Arthur Holitschers war 1924 unter dem Titel „Lebensgeschichte eines Rebellen" erschienen. 1928 folgte als Fortsetzung „Mein Leben in dieser Zeit (1907-1925)". Dazu Cohns Rezension SV N r . 292.
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Tatsache litte, daß er überall anstieße, aber er könne eben nicht anders reden und schreiben, als er es meinte. Nun, im Anstoßen habe ich es ja seitdem ziemlich weit gebracht, und das ist nun auch eben ein Stück Schicksal, das man tragen muß. Im Herbst begehen wir immer das Simchat Tbora-Fest. Solange wir auf der Wölflstraße wohnten, haben wir es meist in der Synagoge des jüdischen Krankenhauses gefeiert. Es ist bekanntlich Brauch, daß an diesem Tage diejenigen jüdischen Jungen zur Thora gerufen werden, die noch nicht Barmizwab, noch nicht dreizehn Jahre alt sind. Ich war als Vater sehr stolz, daß mein achtjähriger Sohn Ernst als erster aufgerufen wurde und sehr schön seinen Segensspruch sagte. Wölfl wurde dazu aufgerufen, die Thora zusammenzurollen. Ruth war natürlich auch mit und machte den Besuchern viel Spaß. Bekanntlich sind ja am Tage der Gesetzesfreude die strengen Verordnungen über die Ruhe im G'tteshaus für die Kinder gelockerter. So tat unsere Ruth damals den klassischen Ausspruch: „Wenn Wölfl schön betet, bekommt er einen Bonbon." [...] Die weniger erfreulichen Dinge lagen in meinem Amt als Testamentsvollstrecker nach meinem seligen Vater, das ich viele Jahre hindurch geführt habe und das mir sehr viel Aufregung gebracht hat. Aber auch solchen Dingen darf man sich nicht entziehen, wenn man mitten im Leben steht. [...] Eine ganz interessante Arbeit erwuchs mir damals am JüdischTheologischen Seminar Fränckelscher Stiftung. Das Seminar hatte damals besonders viele ostjüdische Hörer, die kein reguläres deutsches Abiturium besaßen, die aber die Universität besuchen wollten. Sie mußten sich einer Ergänzungsreifeprüfung unterziehen, und für diese sollten die Kollegen Kober, Schäffer und ich sie vorbereiten. Abgesehen davon, daß diese Arbeit eine recht erfreuliche Nebeneinnahme bedeutete, brachte sie mich auch mit unseren östlichen Glaubensbrüdern in nähere Fühlung. Wieviel ließe sich über die Typen sagen, die man kennenlernte. Diese jungen Menschen waren ihrem Charakter nach durchaus gutartig. Sie waren auch meist von einer nicht durchschnittlichen Begabung, denn sonst wären sie ja auch nicht nach Deutschland gekommen. Was ihnen aber fehlte, war jedes Verhältnis zu den einfachsten zivilisatorischen Vorstellungen. Das Seminar lieferte ihnen sehr großzügig die Unterrichtsmittel wie Atlanten und Ähnliches; aber es war fast niemals zu erreichen, daß sie diese Bücher auch im richtigen Augenblicke zur Stelle hatten. Auch Pünktlichkeit war ihnen sehr schwer beizubringen. Sie konnten durchaus nicht begreifen, daß man auf Pünktlichkeit Wert legte und sahen darin eine der vielen Torheiten der deutschen Juden. Wenn wir
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sie zivilisatorisch nicht für voll nahmen, so nahmen sie uns jüdisch nicht für voll. Der Grund, warum das deutsche Judentum soviel Geld dafür ausgab, um ihnen den Besuch des theologischen Seminars und der Universität zu ermöglichen, lag wohl letzten Endes darin, daß die deutschen Juden einfach nicht die genügende Anzahl von Menschen für den Rabbinernachwuchs zur Verfügung stellten. Nach 1933, als andere akademische Berufe sich schlössen, drängte dann auch die jüdische Jugend Deutschlands stärker zum Rabbinerberufe. Vor 1933 aber war das nicht der Fall. Vor allem mangelte es den jungen Juden in Deutschland an den notwendigen hebräischen Kenntnissen. Der Ostjude brachte auf das Rabbinerseminar in der Regel mehr hebräische Kenntnisse mit, als sie der Westjude sich nach sechs- bis siebenjährigem Studium erwarb. Ich persönlich habe übrigens auch zu diesen meinen Hörern bald einen ganz guten Konnex gefunden, wie es mir ja gegeben war, mich mit den verschiedenartigsten Menschen zu verstehen, die mir anvertraut wurden. Auch die jungen Ostjuden haben gemerkt, daß ich es mit ihnen gut meinte, wenn ich ihnen auch durchaus nichts durchgehen ließ, und sie sich daran gewöhnen mußten, Ordnung zu halten und pünktlich zu sein. Das Problem Ost- und Westjude schließt ja so viele Fragen in sich; aber den Rahmen des Selbsterlebten will ich auch hier nicht überschreiten. Jedenfalls haben diese Kurse mir menschlich und jüdisch eine ganze Menge gegeben und mich für meine spätere Tätigkeit am Seminar, von der noch zu sprechen sein wird, gut vorbereitet. Auch dieser Winter brachte wieder auswärtige Vorträge; zunächst sprach ich in Kattowitz über Walter Rathenau, ein vom jüdischen Standpunkt nicht ganz einwandfreies Thema, das ich aber doch gern behandelte. Auf jener Vortragsreise in Kattowitz sprach ich nicht nur in der Loge, sondern auch im Verein für jüdische Geschichte und Literatur über Schicksalsstunden der jüdischen Geschichte. Hier hatte ich ein andersartiges Publikum, wie ja Kattowitz damals überhaupt interessant war, weil in dieser Stadt sich Ost- und Westjudentum begegneten. [...] Wir haben auch in diesem Winter regelmäßig die Theateraufführungen der Volksbühne besucht. Es waren häufig Tendenzstücke, die man sah. Es lag das damals in der Zeit, in der das deutsche Volk in zwei Gruppen auseinanderklaffte: Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold. So gab es auch zwei Besucherorganisationen, von denen eben die eine republikanisch und die andere national eingestellt war. So formulierte man damals den Gegensatz. Alles war damals ein Problem. Es war eine welterschütternde Angelegenheit, ob ein Junge einen schwarzrotgoldenen
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Wimpel am Fahrrad hatte oder einen schwarzweißroten. Da die Volksbühnenorganisation die stärkere war, so hatte sie auch auf den Spielplan den größeren Einfluß. Von den Stücken, die damals gegeben wurden, ist wohl wenig übriggeblieben. Ich erinnere mich an das Schauspiel von Bruno Frank „Zwölftausend", das im Grunde dasselbe Problem behandelte, das schon Schiller in „Kabale und Liebe" behandelt hat 13 . Man arbeitete damals sehr mit Schwarzweißmalerei. Ich habe übrigens im Unterricht der Prima stets die Theateraufführungen besprochen, und die jungen Männer im Sinne von Lessings Hamburger Dramaturgie in der Kritik des Schauspiels geschult. Am 31. Dezember saß ich wieder in der Eisenbahn. Eine große Vortragsreise lag vor mir; am gleichen Abend sollte ich in der Amicitia-Loge in Posen sprechen. Ich hatte diesen Vortrag vor allem deswegen übernommen, um einmal die Stadt Posen kennenzulernen. In das polnische Posen zu kommen, war keine so einfache Angelegenheit. Erst hatte man einen Kampf um das Visum durchzufechten; da ich ja aber schon öfters Visa bekommen hatte, so ging das verhältnismäßig leicht. Früh um halb sieben ging der Zug; aber schon an der Grenze in Trachenberg mußte ich heraus und dort ziemlich lange in der eiskalten Zollhalle warten, bis die deutsche Paßkontrolle vorbei war. Erst ging es in einem Grenzzuge nach Rawitsch, dann ging es wieder heraus. Jetzt kam die polnische Paßund Gepäckkontrolle, dann wieder eine halbe Stunde warten. Weiter ging es nach Lissa, wo der Zug das Bedürfnis empfand, nach dieser „Riesenleistung" wieder eine dreiviertel Stunde zu halten. Man mußte sich für eine solche Reise reichlich mit Lektüre und Essen versehen. Die osteuropäische Ebene lag unter Schnee und Eis begraben. Aber schließlich kam ich doch in Posen an. Der Gepäckträger empfahl mir, im christlichen Hospiz abzusteigen als dem einzig deutsch geleiteten Gasthaus. Ich habe das auch nicht bereut und mich dort in dieser einen Nacht sehr wohl gefühlt. Da ich Posen vorher nicht gesehen hatte, so kann ich auch nicht sagen, ob die polnische Herrschaft viel für den Ausbau der Stadt getan hatte. Mir wurde aber gesagt, daß das meiste noch aus der deutschen Zeit stammte. Am Nachmittag bin ich durch die Straßen gegangen, habe mir von außen Schloß und Synagoge angesehen und den charakteristischen Ring, der wie überall, wo Deutsche kolonisiert haben, eine viereckige Form 13
Bruno Franks Drama von 1927 handelt vom Schacher eines deutschen Fürsten um zwölftausend Soldaten. Das Stück stand 1927/28 auf dem Spielplan des Breslauer Thalia-Theaters. Vgl. K. Weber: Geschichte des Theaterwesens in Schlesien. Dortmund 1980, S.279.
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aufwies, nur daß er jetzt Rynek hieß. Überall bekam man auf deutsche Fragen deutsche Antworten; nur das Fräulein auf der Post antwortete Polnisch. Am späten Nachmittag holte mich dann der Rechtsanwalt Martin Cohn aus meinem Quartier ab. Er war auch der Vorsteher der Posener jüdischen Gemeinde. Der größte Teil der deutschsprechenden Juden hatte ja die Provinz Posen verlassen, nachdem sie polnisch geworden war. Martin Cohn hatte eine Ostjüdin geheiratet und war geblieben. Er hatte auch Polnisch sprechen gelernt und konnte, wie er mir erzählte, bereits vor Gericht in polnischer Sprache plädieren. Er betonte, daß das Deutschtum Anlehnung an das Judentum suchte; er war sich aber klar darüber, daß, wenn die Deutschen je in Posen wieder zur Macht kämen, sie den gleichen Antisemitismus betätigen würden wie vorher. Nun, mit dieser Prophezeiung hat er mehr als recht gehabt. Mit diesem Rechtsanwalt ging ich dann noch durch die Stadt. Er machte mich auf manches aufmerksam, was ich sonst nicht gesehen hätte. So zeigte er mir das Amtsgebäude der ehemaligen Ansiedlungskommission. Er erzählte mir, daß die Deutschen seinerzeit nur ganz wenige polnische Güter enteignet haben und diese anständig bezahlt hatten. Das Ansiedlungsgesetz aber gab den Polen nun Gelegenheit, die gleiche Westmarkenpolitik zu treiben, wie die Deutschen früher Ostmarkenpolitik, nur eben wohl schärfer 14 . Zum Abendbrot schickte mich Martin Cohn, ohne mich einzuladen, in das jüdische Restaurant von Hirschlik, was ja ganz interessant war. Nach den Anstrengungen des Tages mußte ich mich erst durch schwarzen Kaffee in die notwendige Form setzen, um den Vortrag bewältigen zu können. Er fing übrigens das war wohl schon der Einfluß des Ostens - reichlich spät, erst um zehn Uhr an. Ich sprach über jüdische Sozialreformer. Im Saal war eine ungeheure Hitze. Es brannte ein riesiger Kanonenofen, und ich konnte deswegen nicht so lange sprechen, wie ich eigentlich beabsichtigt hatte. Die Leute aber hörten gut zu, obwohl mein Vortrag nur der Auftakt zu einer Silvesterfeier war. Das hatte ich übrigens vorher nicht gewußt. Als ich sie nun alle in Gesellschaftstoilette sah, konnte ich es mir nicht entgehen lassen, ihnen eine kleine Pille wegen der Berechtigung einer jüdischen Silvesterfeier zu verabfolgen 15 . Eine interessante Bekanntschaft machte ich in dem berühmten Rabbiner Freimann, dessen Name in der jüdischen Welt einen bedeutenden 14
Der Deutsche Ostmarkenverein war 1894 in Posen gegründet worden und hatte im Gegenzug die Gründung eines polnischen Westmarkenvereins zur Folge. 15 Vgl. oben S. 59.
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Klang hatte 16 . Er hat dann später auch Posen verlassen und ist nach Berlin übergesiedelt, w o er bis zu seinem Tode den konservativen G'ttesdienst betreute. Nach dem Vortrag blieb ich nicht allzulange mehr da. Mir lag nichts daran, die Silvesterfeier bis zuletzt mitzumachen. Rechtsanwalt Cohn begleitete mich noch ein Stück durch das nächtliche Posen; den Rest ging ich allein. Es fiel mir auf, wieviel polnische Schutzleute nachts stark bewaffnet durch die Straßen patrouillierten. [...] Am nächsten Morgen [...] saß ich im Zug, der mich zunächst bis Thorn zu führen hatte. Hier handelte es sich darum, daß ich noch rechtzeitig den Anschluß nach Ostpreußen bekam, denn am Abend hatte ich schon wieder in Alienstein zu sprechen. [...] Zwischen Thorn und Allenstein lag dann noch eine polnische und deutsche Zollkontrolle, an denen jene Zeit der künstlichen Grenzen in Europa nicht gerade arm war. Einen mächtigen Eindruck machte jedesmal die Fahrt über die gewaltige Weichselbrücke bei Thorn. Alle derartigen großen Bauwerke stammten ja noch aus der deutschen Zeit. Die Polen selbst haben niemals etwas Derartiges zustande gebracht. Wenn an einer Stelle eine neue Brücke aufgebaut war, dann war sie einfach von einer anderen Stelle entfernt worden, wie das zum Beispiel mit der Weichselbrücke bei Marienwerder geschehen war. Thorn selbst habe ich leider niemals zu sehen bekommen, und doch hätte mich gerade diese Stadt aus mancherlei Gründen besonders interessiert; ist sie ja auf der einen Seite eine Gründung aus der Zeit des Deutschen Ordens, andererseits wird sie in der jüdischen Geschichte immer ihren Klang behalten, weil es die Stadt ist, in der Hirsch Zwi Kalischer gewirkt hat, der Mann, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts als einer der ersten erkannt hatte, was Palästina für die Wiedergeburt des Judentums zu bedeuten hat 17 . In Allenstein war ich schon einmal gewesen, und so will ich, um nicht zu breit zu werden, von diesem O r t nichts weiter erzählen. Ich sprach dort über jüdische Erziehungsprobleme. Das war ein Thema, bei dem ich immer wieder betont habe, wie falsch vom Standpunkt der Gesunderhaltung des jüdischen Volkes die einseitige Berufswahl der jüdischen Jugend wäre 18 . Aber erst die Ereignisse nach 1933 haben wohl einen Teil 16
Rabbiner Jakob Freimann (1866-1937) stammte aus Krakau und starb in Berlin. 17 Siehe oben S. 356. 18 Vgl. SV Nr. 214, 247.
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der deutschen Juden belehrt, daß das, was mir vorschwebte, wohl doch das Richtige gewesen ist. Manchmal ist man gewissermaßen unglücklich, wenn man recht behält, bedeutet das doch, daß die Volksgemeinschaft erst durch harte Erfahrungen hindurchgehen mußte, ehe sie den Weg der Gesundung fand. Deswegen scheinen mir auch letzten Endes alle Schickungen, die unsere Gemeinschaft nach 1933 getroffen hat, von der höheren Führung aus gesehen, trotz aller Härten im einzelnen ein Stück der Wiedergeburt unseres Volkes zu bedeuten. Hoffentlich ist das die letzte Lehre, die die Juden auf ihrem Wege durch die Jahrtausende erfahren müssen. Von Allenstein fuhr ich nach Osterode. Damit lernte ich wieder einen neuen Ort Ostpreußens kennen, an dem ich noch nicht gewesen war. Hier erwartete mich nicht nur eine eigenartige Landschaft; hier erwartete mich auch in der Person des Herrn Samulon ein besonders interessanter Mensch. Ich habe später auf Grund von Material, das er mir zur Verfügung stellte, die Geschichte seiner Familie erforscht und in den Blättern der Gesellschaft für jüdische Familienforschung veröffentlicht 19 . Die Familie Samulon gehörte zu einer der seit sehr langer Zeit in Ostpreußen nachweisbaren jüdischen Familien, deren Geschichte sich auch stets in dem gleichen Hause abgespielt hat. Herr Samulon war ein alter Herr, aber durchaus kernig und gesund, wie ja das ostpreußische Klima solche Menschen hervorbringt. Nachdem ich mich in meinem Gasthaus eingerichtet hatte (es hieß diesmal nicht Königlicher Hof, sondern Deutsches Haus), hatte ich Herrn Samulon aufgesucht, und wir verabredeten für drei Uhr einen Spaziergang, der einer der eigenartigsten werden sollte, die ich jemals in meinem Leben gemacht habe. Es war eine gewaltige Kälte, und der Drewenzsee, um den sich Osterode malerisch gruppiert, war völlig zugefroren. Am Rande des Sees tummelte sich die Jugend auf Schlittschuhen, und über den See hinweg gingen Pferdeschlitten. Ich habe zusammen mit Herrn Samulon den ganzen See zu Fuß überquert. Es waren sechs Kilometer hin und zurück, und man hatte das Gefühl, wie man es beim Lesen des Gedichtes „Der Reiter und der Bodensee" einst empfunden hat 20 . Das Eis hatte eine Mindestdicke von dreißig Zentimeter. Es war natürlich mit diesem Spaziergang nicht die geringste Gefahr verbunden. Ab und zu knallte es, als wenn Schüsse losgelassen worden wären. Mein Begleiter erklärte mir, daß das mit der großen Kälte zusammenhinge. Wenn das Eis immer stärker friere, so entständen beim Zusammenziehen Risse und 19 20
Vgl. SV N r . 319. Eine bekannte Ballade des Dichters Gustav Schwab.
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dadurch eben auch die Geräusche. Der Drewenzsee ist von riesigen Wäldern fast ganz umschlossen. Herr Samulon erzählte mir, daß in den nächsten Tagen Holz für eine Million Reichsmark zum Verkauf käme. Die Ortschaften, die um einen solchen See herumliegen, stehen im Winter in einem regeren Verkehr miteinander als im Sommer. Ich habe auch in Ostpreußen mitunter den eigenartigen Segelschlittensport beobachten können; der Wind jagt dann die Schlitten, auf denen wie bei einem Schiff Segel befestigt sind, wie einen Pfeil über die gefrorene Fläche. Das Erlebnis dieses nachmittäglichen Spazierganges hat in meiner Seele bis zum heutigen Tage nachgewirkt. Die Natur ist mir hier ganz nahe gekommen. Ich kann nur immer wieder sagen, daß Erlebnisse in der Natur zu dem ganz Großen gehören, was eine Menschenseele aufzunehmen hat. Mir tun alle diejenigen geradezu leid, die in ihrem Leben niemals zur Natur gefunden haben und für die der Aufenthalt in geschlossenen Räumen das „höchste Glück" bedeutet. Allmählich stieg aus der Tiefe des Sees eine gewaltige Kälte empor. Ich war dann ganz froh, da ich ja mit meinem Schuhwerk nicht für einen derartigen Spaziergang ausgerüstet war, als wir in der gemütlichen Wohnung von dem Ehepaar Samulon beim Kaffee saßen und ich mich erwärmen konnte. Gegen Abend ging ich wie immer, wenn ich auf einer Vortragsreise war, zur Post. Meine Frau hat mir in alle Orte geschrieben. Ich wollte, auch wenn ich unterwegs war, nicht die Verbindung mit zu Hause verlieren. Auf diesen Blättern habe ich wohl selten über kulinarische Genüsse berichtet, und ich werde das auch weiterhin kaum tun. Nur hier möchte ich einmal eine kleine Ausnahme machen. Beim Abendbrot bei Samulons lernte ich das Nationalgericht der Ostpreußen kennen: Gänseweißsauer. Da oben ist ja das Land der Gänse. In allen Orten habe ich eine ausführliche und eingehende Bekanntschaft mit der ostpreußischen Gans gemacht [...] Ich habe nicht die Feder eines Heinrich Heine, der einen Hymnus auf Schalet zu schreiben imstande war 21 ; aber ich glaube, daß dieses ostpreußische Gänseweißsauer, das ist nämlich kalte Gans in Gelee, wahrscheinlich damit konkurrieren kann. Ich bin mit der ostpreußischen Kost auf diesen Reisen schlecht mitgekommen. An jenem Abend gab es dann noch Spickgans auf Kommißbrot. Wenn ich jetzt in meinem Reisetagebuch blättere, so finde ich im Anschluß an jenes Abendbrot das Wort angemerkt: „O, daß ich tausend Mägen hätte". Ich Die Anspielung bezieht sich wohl auf Heines „Schalet, schöner Götterfunken", doch findet sich der Lobpreis des Schalet mehrfach bei Heine. 21
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mußte selbstverständlich sehr vorsichtig sein, denn schließlich war ich ja nicht dort hinaufgefahren, um eine Mastkur zu machen, sondern um den Menschen in ihrer geistigen Abgeschiedenheit etwas zu bieten. Sicher aber ist, daß eine sehr reichliche Zufuhr von Gans in jeder Fasson nicht gerade befruchtend auf das Gehirn wirkt. Doch genug von jenen Dingen, zumal ich das im Kriegsjahr 1941 schreibe, w o vierhundert Gramm Fleisch die Woche ausreichen müssen. Auch in Osterode sprach ich über jüdische Erziehungsfragen und bekam schnell Kontakt mit dem mir noch unbekannten Publikum. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Elbing, und ich benutzte dazu eine Eisenbahnstrecke, die mir noch nicht bekannt war. Die kleinen Querverbindungen durch das ostpreußische Land sind häufig außerordentlich reizvoll. Auf diesen Strecken kennt man noch die Einrichtung der gemischten Züge, das heißt Güter- und Personenzug zusammen. Manchmal rangiert der Zug lange auf einer kleinen Station hin und her, bis schließlich der Milchwagen angekoppelt ist und es weitergehen kann. Aber dabei kann man so schön die Menschen beobachten, und schließlich kommt man auch mit diesem Tempo zum Ziele. Ich gehöre zu den merkwürdigen Menschen, die im Grunde viel lieber Personenzug fahren, weil man von der Reise ein größeres Erlebnis hat. Selbstverständlich weiß ich, daß das auf größeren Strecken nicht möglich ist. Am Bahnhof in Elbing erwartete mich Rabbiner Dr. Neufeld; später kam auch Lotte Becker, von der ich schon erzählt habe. Eigentlich sollten wir in einem A u t o nach der Marienburg fahren, aber das hatte eine Panne. So fuhren wir gegen zehn U h r mit der Eisenbahn. Wohl hatte ich auf meiner letzten Vortragsreise, als ich von Berlin herkommend, ostpreußischen Boden betrat, die Marienburg gesehen, aber ich hatte sie noch nicht besichtigt. N u n war ich sehr glücklich, der ich damals mitten in meiner Arbeit über Hermann von Salza steckte, daß ich sie jetzt sehen durfte. Gewiß haben die Jahrhunderte hier mancherlei geändert. Geblieben ist aber die gewaltige und kühne Anlage dieser Schöpfung des Deutschen Ordens, der seinen Stil von Palästina bis nach dem fernen Ostpreußen mitgenommen hat. Ich beschäftigte mich damals gerade mit einer Deutschordensfestung in Palästina, und manches, was ich nun hier sah, erinnerte mich an das im Studium Gefundene. Andererseits stiegen auch Erinnerungen an den Mont St. Michel auf. Im kleinen Remter sah ich die Säule, auf deren Tragfähigkeit die gesamte Marienburg ruhte, eine Säule, auf die es die Polen bei einer Belagerung besonders abgesehen hatten. Wir hatten Gelegenheit, eine kleine Führung mitzumachen. Über
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das, was in so einem Augenblick der Fremdenführer mehr oder weniger gewohnheitsmäßig sagt, wurde mir diese Stunde zu einer festlichen. Die gewaltige Leistung dieses Männerbundes des Deutschen Ordens, die ja nur natürlich wie jede Leistung den Keim des Vergehens in sich trug, wurde mir lebendig. Ich glaube ja auch nicht, daß es Aufgabe des Historikers ist, gewissermaßen nachrichtend sein Urteil abzugeben, wie es die Menschen vorher hätten machen sollen, sondern daß er sich bemühen muß, die Menschen aus dem heraus zu verstehen, was sie damals gewollt haben. Und so glaube ich, daß ich den Deutschen Orden begriffen habe, der hier oben an der Grenze der Zivilisation dem Christentum eine neue Stätte bereitete. Es stieg mir auch das Gedicht unseres großen schlesischen Landsmannes Felix Dahn über die Marienburg auf, als ich von einem Fenster über die Landschaft hinunterschaute 22 . Dieser Blick über die Nogat ist etwas Unvergeßliches. Man glaubt förmlich zu sehen, wie die Ordensritter im Kampfe gegen die anrückenden Polen standen. Meine beiden Reisebegleiter hatten keinen Paß mit. So durften sie nicht über die Nogat hinübergehen, denn das andere Ufer gehörte schon zum Freistaat Danzig. Da ich aber im glücklichen Besitze eines Passes war, wollte ich doch wenigstens für kurze Zeit den Boden des Freistaates betreten haben. Auf der einen Seite der kleinen Holzbrücke saß in barbarischer Kälte ein reichsdeutscher Zollbeamter, der sich den Paß ansah, und am anderen Ende der Holzbrücke saß ein deutscher Beamter des Freistaats Danzig, der sich wiederum an meinem Bilde erfreute. Es kam einem das alles ziemlich sinnlos vor, da ja an beiden Ufern der Nogat deutsche Menschen wohnten. [...] Den Rückweg machte ich dann über die große Eisenbahnbrücke, über die ich ja schon früher im Zuge gefahren war, und wiederum mußte ich zweimal meinen Paß zur Kontrolle vorweisen. Der Weg über diese Brücke war insofern nicht ganz einfach, als sie außerordentlich glatt war und wenig von Fußgängern benutzt wurde. Vielleicht konnten sich auch Deutschland und Danzig nicht darüber einigen, wer hier Sand zu streuen hatte. Jedoch gehört dieses Problem nunmehr seit 1933 auch der Vergangenheit an 23 . Auf dem Rückweg genoß ich noch einmal den Blick auf die Marienburg [...]. Felix Dahns Ballade „Die letzten Ritter von Manenburg" mit dem Beginn: „Sie sahen, sie waren verloren, verlassen in Jammer und Not". 23 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Reich wirkte sich nur indirekt auf Danzig aus. Die Wiederangliederung Danzigs erfolgte erst 1939 bei Kriegsausbruch. 22
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Dr. Neufeld, der die Gegend natürlich sehr gut kannte, hatte mir geraten, nicht die Reichsbahn zu benutzen, sondern mit der Kleinbahn zu fahren und vorher Frauenburg zu besichtigen. [...] Frauenburg ist Bischofssitz mit einer imposanten Domkirche, die wir auch besichtigten. Hier war einstmals Nikolaus Kopernikus Domherr, einer der ganz großen menschlichen Geister. Sein Andenken wurde nun durch Gedenktafeln geehrt, nachdem man ihn im Leben sehr bekämpft hatte. Aber das ist nun einmal das Schicksal der großen Geister, daß ihnen erst die Nachwelt gerecht wird. Heute zweifelt man nicht mehr an der Richtigkeit des kopernikanischen Weltbildes; aber damals konnte sich die Kirche dazu nicht durchringen. Wir hatten im Dom eine sehr gute Führung. Wir sahen sehr viele wertvolle Dinge, die die Holzschneidekunst des Mittelalters gefertigt hatte. Diese Dome des Ostens sind ja nicht aus edlem Gestein errichtet, wie die Dome des Südens; es würden hier auch Marmor und Sandstein rasch vergehen. Um so mehr muß man bewundern, welche edlen Formen aus sprödem Backstein geschaffen wurden. Wir besichtigten den Kopernikusturm, kehrten dann noch in einem Gasthaus ein. Man muß das im winterlichen Ostpreußen verhältnismäßig oft tun, wenn man gesund bleiben und den Wärmeverlust ausgleichen will. [...] Und dann fuhr ich langsam durch das dunkel werdende Land, denn früh bricht ja die Nacht herein, nach Braunsberg, wo ich von Herrn Schachmann erwartet wurde, bei ihm noch einmal Kaffee trank und dann für ein paar Stunden in einem riesigen Hotelbett verschwand, um dann schwarz bekleidet auf das Vortragspult zu steigen. Hier sprach ich diesmal über jüdische Sozialreformer. Am nächsten Tage hatte ich eine weitere Reise zu machen, die mir aber schon vertraut war; ich fuhr nach Memel, wo ich wiederum das Gefühl hatte, ein sehr willkommener Gast zu sein. Den Memeler Aufenthalt habe ich ja schon das vorige Mal eingehend beschrieben. Nun vertieften sich die Eindrücke noch einmal, und ich feierte vor allem das Wiedersehen mit der winterlichen Ostsee. Übrigens war es da oben nicht so kalt wie im Innern Ostpreußens. Ich kam sogar in Tauwetter hinein. Da es damals keine Schneeabfuhr gab, so bedeutete das, wenn man nicht mit den landesüblichen Gummischuhen ausgerüstet war, aufgeweichte Schuhe und nasse Füße. In Memel habe ich diesmal auch einen Sabbat verbracht. Wenn ich so zurückschaue, in wie vielen G'tteshäusern habe ich gebetet, von denen leider ein großer Teil nun nicht mehr existiert. Doch sind die steinernen Häuser nur vergänglich; der Glaube bleibt unvergänglich. Von Memel ging es wieder nach dem reichsdeutschen Teil Ostpreußens zurück. Wie oft habe ich bei jener Vortragsreise meinen Paß vorgezeigt,
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wieviel Stempel und Visa waren da drin. Es ist schade, daß man sich den Paß nicht als Andenken aufheben durfte; er mußte jeweils, wenn er erneuert wurde, abgegeben werden. Und jetzt besitzen wir ja auch keinen Paß mehr, sondern nur eine Kennkarte mit einem großen „ J " 2 4 . [...] In Lyck lernte ich zwei Menschen kennen, von denen ich etwas mehr erzählen möchte. D e r eine von ihnen war der Prediger Fein und der andere der Rechtsanwalt Klewanski. Dieser hatte sich deswegen in dem abseits gelegenen Lyck niedergelassen, weil er ein schwerer Asthmatiker war und man ihm das Klima sehr empfohlen hatte. E r hat es auch dort sehr rasch zu einer mehr als guten Praxis gebracht. Nach 1933 ist er nach Straßburg gegangen, und ich habe dann nichts mehr von ihm gehört. E r erzählte mir, er habe mich das letzte Mal in Bad Salzbrunn sprechen hören. So klein ist oft die Welt, daß man Menschen an einer Stelle wiederfindet, wo man sie nicht vermutet hätte - das heißt, ich habe Klewanski seinerzeit in Salzbrunn gar nicht kennengelernt. Es liegt ja im Wesen eines Vortragsredners, daß er zwar seinen Hörern bekannt ist, daß er aber von ihnen selbst nur einen Bruchteil kennenlernt. Ich bin später noch oft in Lyck gewesen und habe mich immer gut mit ihm verstanden. Auch der Prediger Fein war ein interessanter Mensch, vielleicht ein wenig zu sehr von sich überzeugt, wie häufig Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, ihr Können an dem anderer zu messen. Fein führte mich in Lyck auf den jüdischen Friedhof, der zwar nicht groß, aber bemerkenswert ist. Einstmals war Lyck ein Zentrum hebräischer Buchdruckerkunst, und bedeutende Gelehrte haben hier gewirkt. Dann haben auf dem Lycker Friedhof so manche Kriegsgefallene, auch Russen, ihre Ruhestätte gefunden. Fein erklärte mir sehr eingehend den Verlauf der großen Ostpreußenschlacht um Lyck 2 5 . Wenn man das so oft im Unterricht darzustellen hatte, so bedeutete es nicht wenig, wenn man es nun selbst sehen durfte. In der gemütlichen Wohnung von Klewanski lernte ich auch zum ersten Mal den Wert eines großen Radioapparates kennen. Wenn man so weit ab in der ostpreußischen Einsamkeit saß und mit ein paar Griffen die ganze Welt an sich heranbringen konnte, so war das etwas
Der Kennkartenzwang für Juden wurde am 23. 7. 1938 eingeführt. A m 7. Februar 1915 begann bei Lyck die zweiwöchige „Winterschlacht in Masuren". Die russischen Truppen wurden hier ähnlich vernichtend geschlagen wie schon im August 1914 bei Tannenberg. 24 25
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vollkommen Märchenhaftes. Laute der finnischen, der litauischen, der türkischen Sprache klangen an. [...] 26 Die Fahrt ging an der Feste Lotzen vorbei, die sich im Weltkrieg niemals den Russen ergeben hat. Das ganze masurische Land war in Schnee und Eis begraben. Wohl weiß man, daß sich hier unzählige Seen befinden; aber nun war alles gleichmäßig in tiefsten Schnee gehüllt, und nur wenn eine Fläche besonders glatt anmutete, so konnte man annehmen, daß darunter sich nicht Land, sondern Wasser befand. Man hat mir immer wieder gesagt, wie schön Masuren im Sommer ist; aber leider habe ich nie Gelegenheit gehabt, im Sommer dorthin zu kommen, da ja der Sommer keine Vorträge bringt. Dann ging die Reise die mir nun schon bekannte Strecke nach Breslau zurück, wo ich glücklicherweise alles gesund antraf. [...] Meine Vortragstätigkeit erfuhr damals dadurch eine Erweiterung, daß ich nun auch zu Vorträgen im Breslauer Sender herangezogen wurde. Im allgemeinen hatte ich es mir im Laufe der Jahre angewöhnt, durchaus frei zu sprechen und den Vortrag gewissermaßen Auge in Auge mit dem Publikum zu formen. Gewiß hatte ich mir jeden Vortrag vorher zurechtgelegt; aber sehr häufig sprach ich dann ganz anders, wie es mir der Augenblick eingab, selbstverständlich aber immer gebunden an das angekündigte Thema. Ganz anders aber mußte ein Vortrag verlaufen, wenn man im Sender sprach. Hier waren auch alle Vorträge vorher der Zensur einzureichen. Denn damals war jeder derartige Vortrag eine umkämpfte politische Angelegenheit. Man mußte sich auch bei einer hohen Konventionalstrafe verpflichten, von dem Manuskript nicht abzuweichen. Überdies wußte man, daß ein Beamter den Durchschlag des Manuskriptes mitlas und angewiesen war, sofort den Strom wegzunehmen, wenn man vom Texte abwich. Technisch verlief ein derartiger Vortrag folgendermaßen: Man hatte sich rechtzeitig im Sendehaus auf der Schottländerstraße einzufinden, die heute Waldenburger Chaussee heißt 2 7 . Wenn die Zeit gekommen war, wurde man von dem Ansager in den Vortragsraum geführt, während noch die vorige Veranstaltung vom Stapel ging. Hier mußte nun jede Verständigung durch Zeichen erfolgen; man durfte weder husten, noch An dieser Stelle fehlt Seite 720 des Originaltyposkripts. D e r fehlende Text schilderte offenbar den weiteren Aufenthalt in Lyck. 2 7 Die Breslauer Straßennamen zu Ehren jüdischer Persönlichkeiten waren 1933 umbenannt worden. 26
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sich die Nase wischen, weil ja jedes Geräusch durch den Äther fortgetragen wurde. So breitete man sein Manuskript, das man zu Hause mit der Stoppuhr genau auf die vorgeschriebene Minutenzahl nachgeprüft hatte, vor sich aus und las es dann herunter. Dieser von dicken Teppichen belegte Vortragsraum hatte etwas unendlich Stimmungstötendes. Vor sich hatte man ein kleines Guckfenster, hinter dem der technische Beamte der Reichspost saß, dessen Aufgabe es war, je nach der Stimme des Vortragenden die Lautstärke der Sendung zu „mixen". Ich mußte mir, wenn ich im Sender sprach, immer ganz lebendig vorstellen, daß irgendwo Menschen saßen, die das in sich aufnahmen. Man weiß ja nie, wer wirklich zuhört. Sicher schalten sehr viele Rundfunkhörer sofort ab, wenn ein Vortrag angekündigt wird. Manchmal bekommt man aber auch nach so einem Vortrag sehr ulkige Zuschriften. Das erste Man sprach ich in Hartlieb, wo sich der Sender befindet, über August Bebel. Für jede Quartseite Schreibmaschine benötigte ich zwei bis drei Minuten. Ich hatte die Zeit so genau eingeteilt, daß ich eine halbe Minute vor acht U h r fertig war. Die größte Sensation, daß ich im Radio sprach, hatte natürlich die Familie und vor allem meine Mutter, die bis in ihre letzten Lebenstage hinein eine Anhängerin des Rundfunks gewesen ist. Sie war natürlich nicht wenig stolz, einen Vortrag ihres Sohnes auf diese Weise zu hören. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß diese Rundfunkvorträge auch sehr gut honoriert wurden. Sofort nach dem Vortrag bekam man ein stattliches Kuvert in die Hand gedrückt, in dem sich der Nervus rerum befand. Ich habe eine ganze Reihe von Malen in Hartlieb gesprochen; auch konnte ich die Manuskripte meiner Vorträge an andere deutsche Sender verkaufen, wo sie ein anderer vorlas und dafür ein nicht zu hoher Abzug am Honorar gemacht wurde. Wie auf fast allen Gebieten, so hat auch auf diesem Gebiet das Jahr 1933 dieser meiner Tätigkeit ein frühes Ende bereitet. O b ich in diesem Leben noch einmal Gelegenheit haben werde, durch den Äther zu sprechen, weiß ich nicht. Ich hatte immer gehofft, daß dies in Jerusalem der Fall sein würde. Ich werde nie vergessen, wie ich in Jerusalem, als ich bei einem Freunde abends saß, aus dem Radio die Stimme des Ansagers hörte: Po Jeruschalajim medabereth2S. D e r Rundfunk ist ja das bedeutendste Mittel, um auf Menschen zu wirken; aber in den Kriegszeiten dient er häufig ganz anderen Zwecken. An meinem Schreibtisch machte es mir sehr große Freude, daß die Gestalt Hermann von Salzas immer plastischer herauswuchs, trotz aller
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Hebräisch: „Hier spricht Jerusalem".
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Inanspruchnahme auf den verschiedensten Gebieten. Es war schwer, nicht bei der Arbeit bleiben zu können; aber das war nun einmal nicht möglich. Oft habe ich damals diejenigen Männer beneidet, die nur der Wissenschaft leben konnten. Ich konnte nicht voraussehen, wie rasch mir dieser Wunsch in Erfüllung gehen sollte, allerdings auf einem Wege, wie ich ihn nicht vermutet hatte. Von seiten der Frau mußte man mit viel Nachsicht rechnen; aber ich hatte das Gefühl, daß meine Frau in meine Arbeit so hineingewachsen war, daß sie die Freude an dem Werden jedes Werkes hatte, auch dort, wo sie dadurch eben nicht die Ansprüche an die Zeit des Mannes machen konnte, die vielleicht sonst möglich gewesen wären. Und doch führte ich lange nicht ein so abgehetztes Dasein, wie ich es bei Bekannten beobachtet hatte, die damals sehr beschäftigte jüdische Anwälte waren. Und wenn ich mich heute frage, wovon nach der großen Zäsur unseres Lebens im Jahr 1933 mehr übriggeblieben ist, so möchte ich doch annehmen, daß das bei meiner Arbeit der Fall gewesen ist, denn das viele Geld, das jene Anwälte verdient haben, ist nun schon längst wie gewonnen, so zerronnen. Geistige Arbeit trägt einen anderen Lohn, der nicht immer materiell faßbar ist. [...] An manchem meiner Bücher erlebte ich große Freude. So waren von meinem August Bebel, vielleicht nicht zum wenigsten durch die Wirkung des Rundfunkvortrages, in verhältnismäßig kurzer Zeit eintausenddreihundert Exemplare verkauft worden. Jeder Erfolg machte natürlich Lust zu weiterer Arbeit. Im Jüdisch-Theologischen Seminar hatte ich zusätzlich noch einen Erdkundekurs übernommen, so daß es uns in diesem Winter wirtschaftlich erfreulicherweise recht gut ging. Daraufhin faßten wir für den Sommer neue Reisepläne und beschlossen, den internationalen Historikertag in Oslo zu besuchen. Gerade schon die Vorfreude auf eine solche Reise ist immer etwas Herrliches gewesen. Diese Reise sollte das halten, was wir uns vorgenommen hatten. Durch meinen Vortrag im Rundfunk war ich mit dem Arbeiter-RadioClub in Beziehungen gekommen. Man war dort mit meinem Bebelvortrag sehr zufrieden, wie ja überhaupt der Rundfunk die beste Propaganda darstellt. Man möchte so manche Einzelheit seines Lebens festhalten; aber ich will mich nur auf die Dinge beschränken, die von allgemeinem Interesse sind. Es war mir eine selbstverständliche Pflicht, immer am Jahrzeittage meines Vaters Kaddisch zu sagen. Das würde ich hier auch gar nicht erwähnen, aber im Zusammenhang damit steht ein kleines Erlebnis, das mir wert erscheint, festgehalten zu werden. Ich konnte
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einmal, weil nachmittags Konferenz war, nicht zu der festgesetzten Zeit in der Synagoge sein, um dieser Pflicht zu genügen. Als ich das Herrn Rabbiner Dr. Hamburger sagte, meinte er, ich solle mit ihm in den Verein Machsike Thora gehen. Dort war ich noch nie gewesen. Es war dies der jüdische Lernverein, wo vor allem Ostjuden Thora und Talmud lernten. Dieser Begriff des „Lernens", das heißt des Lesens eines bestimmten Abschnittes und des Diskutierens darüber, ist ja den meisten Westjuden ganz fremd, und doch hat dieses Lernen das Judentum durch unzählige Generationen geleitet. Ich sah nun diese äußerlich würdigen Gestalten über den Folianten gebeugt; sie waren selbstverständlich sofort bereit, einen Minjan zu bilden, so daß ich Kaddisch sagen konnte. Es machte mir oft Freude, wenn mich frühere Schüler, auch nachdem sie lange unsere Anstalt verlassen hatten, besuchten und mich wegen ihrer Zukunft um Rat fragten. Manchem hatte ich da wirklich helfen können. Einem zum Beispiel, S., der gerne Philologe werden wollte 29 , riet ich, keinesfalls Lehrer zu werden, weil er sich vor der Klasse nicht durchsetzen würde. Er ist dann auch meinem Rate folgend, Bibliothekar geworden, und ich bin ihm später begegnet, als er in der Stadtbibliothek schon in Amt und Würden war. Gerade, daß ich mit den Schülern so gut stand, wurde mir häufig von den Kollegen verübelt, aber schließlich ist das ja nicht etwas, was man bewußt tut, um den anderen den Boden abzugraben, sondern was sich aus dem Verhältnis von Mensch zu Mensch ergibt. [...] Einen Schatten warf damals schon Wölfls Barmizwah voraus; aber es war eine sehr freudige Erwartung. Wir hatten die Absicht, diesen Tag wirklich zu einem Fest zu gestalten, das ihm Zeit seines Lebens in Erinnerung bleiben würde. In einem näheren Verkehr stand ich damals zu dem Kollegen Klibansky, der am jüdischen Reform-Realgymnasium unterrichtete 30 . Als er seinen ersten Sohn bekam, wurde ich zu der Beschneidungsfeier eingeladen und auch zum Pidjan ha-ben. Damit hat es folgende Bewandtnis: Wenn ein 29
Vermutlich der unten S. 6 4 6 erwähnte D r . Süßmann.
30
E r i c h Klibansky ( 1 9 0 0 - c a . 1 9 4 1 ) war nur kurze Zeit Studienrat am J ü d i -
schen Realgymnasium in Breslau, v o n w o aus er 1 9 2 9 an eine K ö l n e r Schule berufen wurde. H i e r bewahrte er viele Kinder v o r der D e p o r t a t i o n ,
bis er
und seine Familie selbst deportiert wurden. P. A r n s b e r g : Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. B d . 3. D a r m s t a d t S. 246f.
1983,
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Jude, der nicht selbst Cohen, also Priester ist, als erstes Kind einen Sohn bekommt, so gehört dieser nach dem Rechte der Thora dem Priester. Er muß also bei dem Priester ausgelöst werden, und dies geschieht in einer besonderen Feier, indem einem Priester eine vorgeschriebene Anzahl von Silbermünzen überreicht wird. Das Haus Klibansky war ein streng orthodoxes Haus. So erlebte ich diesen jüdischen Brauch, der ja für mein Haus nicht in Frage gekommen wäre, weil ich ja selbst aus einem Priestergeschlecht stamme. Bei dieser Feier fungierte als Priester der alte Rabbiner Cohn, der früher in Rawitsch war. Er war ein sehr würdiger und gelehrter Mann, der aber im Breslauer jüdischen Volksmunde den Beinamen Charlie Chaplin führte. Diejenigen meiner Leser, die diesen berühmten jüdischen Filmschauspieler jemals gesehen haben, werden vielleicht den Zusammenhang ahnen. Für die anderen aber muß das wohl erklärt werden. Ein Teil der komischen Wirkung von Charlie Chaplin beruhte auf der eigenartigen Form seiner Hosen, die ihm immer bis auf die unmöglichen Füße herunterhingen. Dieses also war das tertium comparationis mit dem ehrwürdigen Rabbiner Cohn aus Rawitsch. Der letztere war im Besitz von Korkenzieherhosen, die in lustigen Schlangenlinien nach unten glitten. Es war immer schwer, ernst zu bleiben, wenn man ihn sah. Es ist nur zu hoffen, daß in der anderen Welt, in der er sich nun schon lange befindet, eine andere Kleidertracht in Frage kommt. Ich habe oft mit Sehnsucht diese streng gesetzestreuen Häuser besucht, mit der Sehnsucht des Menschen, der diesen Weg zurück eben doch nicht mehr findet. Einmal reiste ich zu jener Zeit nach Waldenburg im Auftrag der zionistischen Ortsgruppe. Es handelte sich darum, das zionistische Leben dort etwas zu aktivieren. Ich lernte bei dieser Gelegenheit den Arzt Dr. Leo Cohn kennen, den Bruder des Rechtsanwalts Martin Cohn aus Posen, den ich schon erwähnt habe. Wie schwer war es in jenen sogenannten guten Jahren, die Juden einer liberalen Kleingemeinde für den Zionismus zu erwärmen. Im Mittelpunkt ihres Denkens stand das Geldverdienen. Idealen waren sie schwer zugänglich. Als aber nach 1933 gerade die Transfermöglichkeiten nach Palästina sehr günstig waren, da hätte jeder von dieser Art Rassegenossen am liebsten eine Bescheinigung gehabt, daß er schon seit ungezählten Jahren zu den eifrigsten Förderern des zionistischen Gedankens gehört habe. Und wenn man die Menschen dann mit aller Vorsicht darauf hinwies, daß aber nirgends eine Aufzeichnung über eine Spende von ihnen vorhanden sei, pflegten sie stets zu sagen: Dann muß meine Kartothekkarte verlorengegangen sein. Mit diesen Andeutungen dürfte ungefähr die Atmosphäre der Gemeinde Waldenburg charakterisiert sein. Die paar aktiven Zionisten gaben sich
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natürlich die größte Mühe. Ich erreichte damals wenigstens das Versprechen, regelmäßig zusammenzukommen. Vor allem schnitt ich auch die Frage der Gewinnung der Jugend an. Nach 1933 ist uns dann die Jugend in großen Mengen zugeströmt. Sehr viel bedeutete für mich auch die Freundschaft mit dem Regierungsrat Friedrich Block, den ich ja schon erwähnt habe und von dessen traurigem Ende ich schon sprach 31 . Er war damals um mich viel ehrgeiziger bemüht als ich selbst. Er wollte durchaus, daß ich eine große Karriere machte und befördert würde. Wenn ein einflußreicher Mann nach Breslau kam, so verabsäumte er es nicht, mich mit ihm einzuladen. So lernte ich in seiner Wohnung den Ministerialrat Hubrich aus dem Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung kennen, der sich auch später sehr warm für mich interessierte. Erfreulicherweise habe ich es nie verstanden, mich richtig in Szene zu setzen, wie dies zum Beispiel mein Mitschüler Siegfried M[arck] so großartig verstanden hat. An jenem Abend gab sich Block die größte Mühe, das Gespräch auf Gebiete zu bringen, wo ich dann Gelegenheit hatte beziehungsweise haben sollte, über meine Arbeiten zu reden. Ich habe übrigens an dem gleichen Abend auch den Direktor des Breslauer Museums der Bildenden Künste, Dr. Wiese, kennengelernt, der auch nach 1933 um sein Amt gekommen ist 32 . Man hat ihm vor allem den Vorwurf gemacht, daß er in seinem Museum der sogenannten „entarteten Kunst" einen zu weiten Spielraum eingeräumt hat. Ich bin überzeugt, daß Wiese nur das N o t w e n digste aufgenommen hat, um diese Epoche nicht ganz zu übergehen. Ich persönlich fand übrigens diese Bilder, im Gegensatz zu meinem Schwager Kurt Proskauer, geradezu grausig 33 . Als ich einmal mit einer Klasse das Museum besuchte, fragte ich den aufsichtsführenden Beamten, wie er das überhaupt aushielte, diese Bilder dauernd zu sehen. Es waren das solche Bilder, bei denen alle natürlichen Farbenverhältnisse geradezu in ihr Gegenteil umgekehrt waren.
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Vgl. oben S. 435 und S. 463. Erich Wiese (1891-1979) wurde 1933 entlassen. Erst nach dem Krieg konnte er seinen Beruf fortführen und leitete von 1950-1958 das Hessische Landesmuseum in Darmstadt. 33 Willy Cohns Schwester Erna hatte 1914 den Zahnmediziner Kurt Proskauer (1887-1972) geheiratet, einen Bruder von Ella Proskauer. Proskauer übergab vor seiner Auswanderung nach Haifa seine medizinhistorische Sammlung dem Reichsverband der Zahnärzte Deutschlands. Er veröffentlichte seit 1913 zahlreiche Werke zur Geschichte der Zahnmedizin, zuletzt noch 1962 eine Bildgeschichte der Zahnheilkunde. 32
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Als das Frühjahr wieder ins Land kam, machten wir auch unsere gewohnten Spaziergänge und freuten uns an dem Glück der Kinder. Wenn sie Karussell fahren durften, wenn sie draußen Milch trinken konnten und sich an der O d e r lagern durften, waren sie schon restlos glücklich. Heute ist es schon schwerer, ihnen selbst diese bescheidenen Freuden zu vermitteln. Für die großen Ferien beschlossen wir, diesmal nach Wölfeisgrund zu gehen. Wir fuhren zu Pfingsten hin, um dort Wohnung zu mieten. Wir hatten außerordentliches Glück und fanden in einem abseits gelegenen Haus bei Schulz N r . 47, was wir suchten. Hier konnten die Kinder dann nach Herzenslust am Wasser bauen; ich selbst konnte an einem schönen Tisch im Freien arbeiten. Es wären für mich keine Ferien gewesen, wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt hätte, wie ich das immer nannte, mein Büro aufzuschlagen. Vielleicht war es unrecht, aber ich konnte nun eben nicht anders, als auch in den Ferien zu schreiben, wenn mir etwas einfiel. Wir benutzten diesen Pfingstausflug auch, um von Wölfeisgrund nach Maria Schnee hinauf zu pilgern, jener katholischen Wallfahrtsstätte, die, über dem Tal gelegen, außerordentlich von Stimmung erfüllt ist. Diesen Teil der Grafschaft Glatz kannte ich ja noch kaum, während ich im Riesengebirge vertrauter war. Es war hier alles in nicht so großen Maßen, dafür aber sehr viel lieblicher und jedenfalls von Stimmung erfüllt. Wölfeisgrund ist keine Bahnstation und nur mit dem Post- oder Bahnauto von Ebersdorf oder von Habelschwerdt aus zu erreichen. Immer mehr verengt sich, wenn man hinauffährt, das Tal der Wölfel, bis man dann, ziemlich abgeschlossen von der Welt, rings von den Bergen umgeben ist. Im Hintergrund liegt der Glatzer Schneeberg, der damals die Grenze nach Mähren bildete. Wölfeisgrund hat besonders reine Luft, und dadurch wurde es auch ein bevorzugter O r t für lungenkranke Menschen. Ein berühmtes Sanatorium befindet sich dort. Die Barmizwah meines ältesten Sohnes war für uns alle ein sehr freudiges Ereignis. Am Vorabend beteten wir in der Synagoge des Jüdischen Krankenhauses, die ich durch viele Jahre hindurch regelmäßig besucht habe. Die eigentliche Feier fand in der Neuen Synagoge statt. Das entsprach eigentlich nicht meiner jüdischen Auffassung, und ich war deswegen in einen gewissen Konflikt geraten. Wenn ich mich aber doch nach reiflicher Überlegung dazu durchgerungen hatte, die Feier dort stattfinden zu lassen, so geschah das vor allem im Andenken an meinen seligen Vater, der in dieser Synagoge viele Jahre hindurch das Amt eines Vorstehers bekleidet hatte. Mein ältester Sohn trug als dritten Vornamen den Namen Louis, und so sollte auch er an dieser Stelle zum ersten
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Mal zur Thora aufgerufen werden, wo ich aufgerufen worden bin. Wenn dieses Pietätsgedenken nicht gewesen wäre, so hätte es meiner religiösen Überzeugung mehr entsprochen, wenn die Feier in der Storch-Synagoge vor sich gegangen wäre. Schon seit sehr langem war ich ja nicht mit der Amtsführung des Rabbiners Dr. Vogelstein einverstanden, mit dem zu ihrem Unglück wieder der Geist Abraham Geigers in der Breslauer Gemeinde eingezogen war34. Die Vorbereitung meines Sohnes hatte der Lehrer Wolff Davidsohn übernommen, der am Johannesgymnasium amtierte und mit dem ich persönlich recht gut stand. Er verstand es gut, die jungen Menschen mit religiösem Geist zu erfüllen, wenn auch sein Standpunkt eben ein liberaler war. Schließlich muß sich ja jeder Mensch im Leben und somit auch jeder Jude seinen Standpunkt erkämpfen, und man kann ihm die Gewissenskonflikte nicht abnehmen. Wölfl machte seine Sache sehr gut. Es war nicht mehr ganz so einfach wie zu meiner Zeit, als man nur die Segenssprüche über die Thora und den Prophetenabschnitt zu sagen hatte. Jetzt mußten die jungen Leute auch den betreffenden Tboraabschnitt selbst vortragen. Gerade bei einer solchen Feier kam die ganze Schwierigkeit meines Lebens wieder hervor. In dem einen Teil der Synagoge stand ich mit Ernst und mit dem Schwiegervater, in einem anderen Teil befand sich Herr B., und oben in der Frauenempore saß meine Mutter mit meiner Frau, mit Ruth und mit deren Großmutter. In einem anderen Teil war die Großmutter Proskauer mit ihrer Tochter35. Ich wollte auch an diesem Tage alles vermeiden, was dem Jungen irgendwie die Erinnerung für sein Leben trüben konnte. Als man nach dem G'ttesdienst, wie das so üblich war, einen Augenblick im Synagogenhof stand, ging ich auch zu der anderen Gruppe, um zu gratulieren. Was all das in einem solchen Augenblick für seelisches Erleben kostete, kann man schwer in Worte fassen; aber ich weiß, daß meine Kinder es mir immer danken werden, daß ich mich bemüht habe, ihnen die Jugend nicht noch schwerer zu machen, als das nun einmal in diesen Verhältnissen lag. Also der Geist des liberalen Reformjudentums. Auch hier deutet der Verfasser nur an, daß er von seiner ersten Ehefrau Ella geb. Proskauer mit ihrer Mutter Selma Proskauer spricht, die an der Barmizwah ihres Sohnes bzw. Enkels teilnahmen. Bei dem ungenannten „Herrn B . " handelt es sich zweifellos um den zweiten Ehemann von Ella Proskauer, Günther Brienitzer. Ihre Ehe wurde 1922 geschlossen. Beide sollten 1943 in Auschwitz ums Leben kommen. 34
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VIII. Kapitel
Der Verlauf des Vormittages brachte uns dann eine Fülle von Gratulanten. Ich stand damals ja mitten im jüdischen Leben, und all die Organisationen, für die ich tätig war, fühlten natürlich das Bedürfnis, mir an diesem Tage zu sagen, daß sie meine Freude teilten. Sie wußten auch, welches Glück ich empfand, daß mein ältester Sohn nun in die Zahl der jüdischen Männer eingetreten war. Für die Lessing-Loge, der lange Jahre hindurch ein großer Teil meiner Arbeitskraft gehört hatte, sprach Mendel Hoffmann, der Bruder des damaligen Gemeinderabbiners an der Alten Synagoge, Moses Hoffmann. Es fehlte wohl kaum jemand, der in den Kreis des gesetzestreuen Judentums gehörte. Aber auch von den Liberalen waren viele erschienen, und selbstverständlich fehlten auch meine zionistischen Freunde nicht. Es ist schade, daß man des Sabbats wegen an solch einem Tage kein Gästebuch auflegen konnte 36 , dann hätte man die Gestalten aller derer festhalten können, die erschienen. Auch die Klasse, in der ich Ordinarius war, nahm an unserer Freude Anteil, sie schickte durch die Post ein Luxustelegramm. Wenn ich das hier anmerke, so nicht aus Eitelkeit, sondern nur deshalb, weil es mir ein Beweis war, daß meine Jungens an mir hingen. Nicht bei allen Lehrern war es üblich, daß man an den Privatereignissen des Hauses solchen Anteil nahm. Am Abend gaben wir ein größeres Abendbrot für die, die uns besonders nahestanden. Es war eigentlich das einzige Mal, daß in unserem Hause ein so großes Fest gefeiert wurde. Um auch denjenigen, die rituell lebten, die Möglichkeit zu geben, bei uns zu essen, hatten wir das gesamte Essen bei der Ökonomie Kornhäuser, die die Lessing-Loge betreute, angemietet. Da aber erst nach Sabbatausgang gekocht werden konnte, so zog sich der Beginn des Essens sehr lange hin, was für die Hausfrau unangenehm war, denn man mußte nun die tote Zeit des Wartens irgendwie überbrücken. Wenn ich an die Menschen denke, die damals in unserem schönen Speisezimmer auf der Wölflstraße um unseren Tisch saßen, wie wenige von ihnen sind noch auf dieser Welt. Wenn ich mich nicht täusche, so sind meine Frau und ich die einzigen, die sich heute noch in Deutschland befinden. Besondere Freude war es für mich, daß meine Mutter an der Feier teilnahm, die sehr selten aus ihrer Zurückgezogenheit heraustrat. Auch meine Brüder Franz und Hugo waren da. Als eine besondere Ehre 3 6 Für orthodoxe Juden wäre schon die Eintragung in das Gästebuch eine Verletzung der Sabbatruhe gewesen.
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sah ich es auch an, daß Rabbiner Dr. Simonsohn, an dem ich so sehr hing, dieser Feier beiwohnte. Gerade er hatte lange Jahre hindurch verfolgen können, mit welchen inneren Kämpfen ich mich zu einem positiven Judentum durchgerungen und wie ich mich bemüht hatte, mein Haus zu einem wahrhaft jüdischen zu machen. Ich sprach an diesem Abend, wie es sich ja auch für den Gastgeber gehörte, als erster. Ich legte meinen Worten den Ausspruch zu Grunde: Iwrianochi (ich bin Jude). Ich rief meinem Sohne zu, daß er den Stolz auf sein Judentum in jeder Lage seines Lebens beweisen solle. Damals hätte gewiß niemand gedacht, daß ihn das Leben derartig anpacken würde, wie das schon nach wenigen Jahren der Fall war. Aber eins ist sicher, daß er den Stolz auf sein Judentum immer bewiesen hat. So ist das, was ich damals in meinen Worten aussprach, in reichstem Maße in Erfüllung gegangen. Schließlich kommt es nur darauf an, was der Mensch innerlich aus sich macht; alles andere tritt demgegenüber zurück. Es sprach auch Rabbiner Simonsohn. Er faßte in seine Worte eben all das, was er an meinem Ringen und an der Erziehung meiner Kinder hatte beobachten können. Wie traurig ist es, daß gerade dieser Mann, der für die jüdische Jugend Breslaus so unendlich viel geleistet hat, so frühzeitig von dieser Welt hat abberufen werden müssen!37 Mein Bruder Hugo sprach einige Worte auf Mutter, Wölfls Freund Ernst Centawer trug ein Gedicht vor. Es war alles sehr harmonisch, und das größte Glück für mich war, daß der Junge über sein ganzes gutes Gesicht strahlte und zufrieden war. Und wenn er heute vielleicht irgendwo an einem vorgeschobenen Posten am Rande der Wüste der Sahara an sein Elternhaus denkt, so wird ihm auch dieser Tag wieder aufsteigen, und er wird ihm Kraft geben, alles zu überwinden. Letzten Endes trägt die Menschen eben dieser Wille hindurchzukommen über alle Schwierigkeiten des Daseins hinweg. Im Auf und Ab des menschlichen Lebens ist es nun nicht anders, daß oft recht traurige Ereignisse unmittelbar neben den freudigen stehen. Einer meiner jungen Hörer am Seminar, der ein Ostjude war, hatte sich aus irgendeinem nicht näher bekannten Grunde das Leben genommen. Man mußte die Eltern aus Tarnopol in Galizien herkommen lassen, und man hatte ihnen nicht gesagt, daß ihr Sohn freiwillig aus dem Leben geschieden ist. An der Beisetzung in Cosel nahm das ganze Seminar teil. Ich habe nun schon sehr oft an Gräbern gestanden, wie 3 7 Max Simonsohn war der zweite Rabbiner der orthodoxen Storch-Synagoge; er starb 1936 im Alter von 44 Jahren.
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das nun nicht anders ist, wenn man selbst älter wird und andere auf ihrem letzten Wege zu begleiten hat. Ich habe am Grabe vieler junger Menschen gestanden, die der Krieg vorzeitig mitten aus dem Leben geholt hat, aber jene Beerdigung dieses unglücklichen Ostjuden ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Noch niemals und niemals nachher habe ich Menschen am Grabe eines ihrer Dahingegangenen so klagen und jammern hören wie diese Eltern. Wir Westjuden, die wir durch die Disziplin des Preußentums hindurchgegangen sind, haben es gelernt, uns zu beherrschen und unsere Gefühle nach außen so wenig wie möglich zu zeigen. Wir können nun nicht anders sein, und ich möchte darüber auch kein Werturteil abgeben. Es ist sehr die Frage, ob es nicht richtiger ist, in einem solchen Augenblick seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, als sie ganz zu verdrängen. Auch unsere Vorfahren haben geklagt und geweint, wenn sie ein Leid traf. Jede nach außen gezeigte Gemütsäußerung befreit ja viel stärker. Aber wie gesagt, niemand kann anders sein, als ihn Sitte und Erziehung geformt haben. Eben noch klagten die Eltern am Grabe ihres Sohnes. Kaum aber war die Beerdigung vorbei, trug der Vater das Mincha-Gebet vor, wie es die jüdische Pflicht erforderte. Ich begriff in diesem Augenblick, was es bedeutete, seiner religiösen Pflicht zu genügen. Gerade die Tatsache, daß das Judentum uns in jedem Augenblick eine zu erfüllende Pflicht auferlegt, hat unsere Vorfahren, die eben die Erfüllung dieser Pflichten als selbstverständlich ansahen, über alle Schwierigkeiten ihres Daseins hinweggebracht. Bei dieser Beerdigung sprach ein Schüler des Seminars, der Kandidat der Theologie Chameides, in jiddischer und in hebräischer Sprache. Chameides war ein besonders begabter Mann, der später Nachfolger des Rabbiners Louis Lewin in Kattowitz geworden ist. Was nach 1939 aus ihm geworden ist, als Kattowitz wieder deutsch wurde, weiß ich nicht. [...]
Nun hatte ich wieder die Kraft, die viele Arbeit zu schaffen, die mir die Wochen vor den großen Ferien noch brachten. Hieß es ja auch immer, die wissenschaftlichen Beziehungen zu pflegen, regelmäßig in die Historische Sektion der vaterländischen Gesellschaft zu gehen, weil ja die Aussprache mit gleichgestimmten Kollegen oft eine sehr große Förderung der Arbeit bedeutete. Dieser Sommer sollte ein besonders reiches Reiseprogramm bringen. Zunächst hatte ich wieder eine große Schülerfahrt vor mir. Es war das Dürerjahr, und ich fuhr mit meiner Klasse nach Nürnberg, wo fast alle berühmten Bilder des großen Sohnes dieser Stadt vereinigt worden waren
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und die Kulturwelt sich ein Stelldichein gab, um dem Genius Dürers zu huldigen 38 . Ich hatte diesmal meine Klasse auch wieder sehr sorgsam vorbereitet, denn eine solche Reise sollte für die Jungens keine Zerstreuung sein. Sie sollten Geschichte dort erleben, wo sie sich einstmals abgespielt hatte. Nun war ich, wie ich gewiß schon ausreichend genug betont habe, stets mit besonderer Leidenschaft ein Verehrer des Mittelalters. [...] Mir kam es aber vor allem darauf an, daß die Jungens von der schönen mittelalterlichen Stadt eine für ihr ganzes Leben reichende Erinnerung behielten. Später ist Nürnberg die Stadt der Reichsparteitage genannt worden. Seitdem haben viele große Aufmärsche in ihr stattgefunden. Es kann sein, daß mancher von den Jungens, die ich damals mithatte, hier in brauner Uniform durch die Straßen marschiert ist. Jedenfalls sind sie längst in alle Winde zerstreut und haben, was ich am meisten bedaure, wohl auch den Zusammenhang untereinander verloren. Das ist etwas, was man nicht hat abwenden können, obwohl man sich gerade damals die größte Mühe gegeben hat, aus ihnen eine Gemeinschaft zu machen. Dieses Wort von der Gemeinschaft spielte überhaupt in der Pädagogik jener Jahre eine große Rolle. Ich hoffte, eine solche Gemeinschaft durch Hingabe an meine Klasse schaffen zu können. Daß das bei Menschen so verschiedener Herkunft im Grunde eben doch nicht möglich war, mußte ich im Laufe der Zeit einsehen. So waren wir also im alten Nürnberg, und ich führte die Jungens überall herum. Das erste war ein Rundgang, denn es erscheint mir immer, daß der erste Gang, wenn man ihn wohl überlegt hat, entscheidend für den Gesamteindruck einer Stadt bleibt. Nirgends kann man in Nürnberg diesen Gesamteindruck so gut haben, als wenn man von der Burg über die Stadt hinunterschaut. Es ist die Stadt der roten Dächer. Einundzwanzig Jahre lang hatte ich diesen Blick nicht mehr in mich aufnehmen dürfen, und umso dankbarer war ich, daß es mir noch einmal vergönnt war; denn es kann leicht sein, daß dieser Besuch Nürnbergs der letzte gewesen ist. Aber auch das vermag man nicht zu sagen, wie alles Erdendasein ungewiß ist. In den Außenbezirken Nürnbergs hatte sich manches geändert. Hier war neben der alten eine neue Stadt entstanden. Vielleicht ist das an der Entwicklung Nürnbergs gerade so sehr zu begrüßen, daß die moderne Stadt der alten nirgends ins Gehege kommt, daß der moderne Verkehr um
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1928 wurde des vierhundertsten Todestages Albrecht Dürers gedacht.
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die Altstadt gewissermaßen außen herumgeht, und deswegen Nürnberg nicht gezwungen ist, auf Kosten der mittelalterlichen Schönheit sogenannte Sanierungen durchzuführen, wie das zum Beispiel Prag getan hat. Sanierungen, die letzten Endes nichts anderes sind als eine Vernichtung des Mittelalters auf Kosten der Gegenwart. Die Besichtigung der Folterkammer schenkte ich mir in ihren Einzelheiten. Doch sah ich immerhin noch genug Scheußlichkeiten. Doch will es mir heute scheinen, nachdem man so mancherlei erlebt hat, daß das Mittelalter trotz alledem nicht so grausam gewesen ist wie die Gegenwart. Doch mag es mit diesen Andeutungen genug sein; vielleicht unterzieht sich einmal ein späterer Historiker der Aufgabe, in dieser Beziehung Gegenwart und Vergangenheit miteinander zu vergleichen. Ich selbst aber möchte das eigentlich nicht sein. Wir sahen die Sebalduskirche, die Lorenzkirche und das Rathaus. Überall führte ich meine Schüler mit einigen Worten in den Genius loci ein. Wir besuchten die Kirche, in der einst die Meistersinger geprobt hatten. Ich bemühte mich, ihnen hier auch jene Epoche gegenwärtig zu machen, die durch Richard Wagner unsterblich geworden ist. Ich war mit meinen Schülern auch in der Synagoge. Einer von ihnen, der evangelischer Geistlicher werden wollte, es später auch geworden ist, bemühte sich, als wir die Thora aufrollten, einiges zu lesen. Christliche Menschen haben ja sehr selten Gelegenheit gehabt, in unseren Kultus hineinzublicken; vielleicht ist das ein Fehler gewesen. Vielleicht haben sich dadurch häufig falsche Vorstellungen von uns gebildet, die sich vielleicht nicht gebildet haben würden, wenn man von uns mehr Bescheid gewußt hätte. Aber wer vermag das zu sagen; wahrscheinlich liegen ja doch die Ursachen letzten Endes tiefer. Ich war mit meinen Schülern im Haus von Hans Sachs und im Haus Albrecht Dürers. Ich wies sie immer wieder darauf hin, wie bescheiden die Menschen damals gelebt haben. Ich sagte ihnen, daß wir das Mittelalter nicht nach unserem Maßstab zu messen hätten, sondern nach seiner eigenen Gesetzlichkeit. Für meine eigenen späteren jüdisch-geschichtlichen Studien habe ich gerade aus der Besichtigung solcher mittelalterlicher Wohnungen berühmter deutscher Männer außerordentlich viel gelernt. Wie oft hat man gerade in denjenigen Büchern jüdischer Historiker, die so sehr auf den Appell an die Tränendrüse abgestimmt waren, über die Enge des sogenannten Ghettos gejammert. Man hat dabei doch immer wieder übersehen, daß auch die anderen, die die Herrschenden waren, in größter Bescheidenheit lebten, und daß man das alles nicht mit dem Maßstab der Gegenwart messen darf.
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Selbstverständlich waren wir auch in der Dürer-Ausstellung, die ja der Mittelpunkt des Dürerjahres war 39 . Auf mich machte die Madonna mit dem Rosenkranz 40 in ihren leuchtenden Farben den größten Eindruck. Aber auch sein Selbstbildnis, w o die Fülle der Locken über sein Haupt herabrieselt, hat mich tief beeindruckt. Dann aber waren es die Blätter „Ritter, Tod und Teufel", die die letzten Dinge zum Ausdruck brachten, zu denen ein Menschenherz befähigt ist. [...] Einmal besuchte mich abends in unserer Herberge der Kollege Bernheimer. Mit ihm stand ich schon seit Jahren in einem regen Briefwechsel. Er war Herausgeber des Nürnberger jüdischen Gemeindeblattes, für das ich regelmäßig schrieb 41 . Bernheimer hat übrigens bis zur Gegenwart durch alle Schickungen hindurch in Nürnberg ausgehalten und betreut jetzt die örtliche Niederlassung des Jüdischen Kulturbundes. Ein jüdisches Erlebnis anderer Art hatte ich auch noch, als ich in die katholische Frauenkirche kam, von der ich wußte, daß sie an der Stelle stand, w o sich einst unsere mittelalterliche Synagoge erhoben hatte 42 . Was mag heute an der Stelle stehen, w o sich die Synagoge befindet, in der ich damals mit meinen Jungen war? An solchen Stellen ist mir immer die Wiederkehr unseres Schicksals zum Bewußtsein gekommen, wenn auch gewiß 1928 noch niemand mit den Ereignissen von 1933 rechnen konnte. Es ist bekannt, daß von Nürnberg nach Fürth einstmals die erste Eisenbahn ging. Sie ist nun schon längst stillgelegt, und an ihrer Stelle fährt heute die Schnellstraßenbahn Nr. 31 von Nürnberg nach Fürth. Damals sah man aber noch den Bahnhof der alten Ludwigsbahn. Die neue Bahn hält nur dreimal, dann ist man in Fürth. Die Fahrt ging an den Triumphwerken vorbei, die vor allem durch ihre Schreibmaschinen bekannt geworden sind. In Fürth gingen wir zu der alten Veste, wo im Dreißigjährigen Krieg eine Schlacht stattgefunden hatte. Dann stiegen wir nach Zirndorf hinab, einem Ort, der mir durch Jakob Wassermanns Erstlingswerk „Die Juden
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Vgl. den Katalog: Albrecht Dürer. Ausstellung im Germanischen Museum. Nürnberg April bis September 1928. Nürnberg 1928. 40 Wohl „Das Rosenkranzfest". Ebd. Katalog Nr. 55. 41 Unter anderem auch über diese Schülerfahrt nach Nürnberg. Vgl. SV Nr. 272. 42 Die Zerstörung der Synagoge und des Ghettos erfolgte 1349. Anschließend wurde von 1352-1362 die Frauenkirche erbaut, von deren Balustrade ab 1361 die Reichskleinodien gezeigt wurden.
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von Zirndorf" bekannt geworden war 4 3 . Hier nahmen wir noch Eindruck von ein paar schönen Fachwerkhäusern mit, die uns Geist Frankens versinnbildlichten. Gerade dieser Ausflug war trotz historischen Stimmung, die auch ihn umgab, ein schöner Ausgleich die vielen Eindrücke, die sonst auf uns einströmten.
den den der für
Aber ich muß mich kürzer fassen! So saßen wir also eines Tages wieder in der Eisenbahn. Nachts zwischen zwölf und drei U h r zeigte ich meinen Schülern Dresden. Es lag etwas Eigenartiges über der Stadt, die ich noch niemals um diese Nachtzeit gesehen hatte. Ich konnte ihnen wenigstens den Zwinger zeigen, dessen Umrisse aus der Dunkelheit hervortraten. In seinem H o f hielt ich den Jungens um die Mitternachtsstunde einen historischen Vortrag über die sächsischen Könige und im besonderen über August den Starken. [...] Es war schon Ende Juni, als wir nach Breslau zurückkamen und nicht mehr lange hin, bis wir in die Sommerferien fahren konnten. [...] Das Schöne dieser Wochen [in Wölfeisgrund] war, daß sie keinerlei Sensationen brachten, daß wir die Ruhe, den Frieden und die würzige Luft der Glatzer Berge mit aufgeschlossener Seele und dankbar in uns aufnehmen konnten. Wir hielten uns abseits von dem großen Betriebe des Sanatoriums, führten selbst Wirtschaft und waren kaum einmal in einer Gastwirtschaft. [...] Wir spielten damals mit dem Gedanken, uns auf dem Hofeberg, der unweit von unserem Häuschen aufstieg, anzukaufen. Meine Frau und ich waren uns darüber einig, daß im Grunde nur das Leben auf dem Lande wert war, gelebt zu werden. Es schwebte mir damals der Gedanke vor, mich hierher zurückzuziehen und ganz meiner geistigen Arbeit zu leben. Nun, dieser Plan ist wie so viele andere nicht zur Verwirklichung gekommen. Niemand vermag heute zu sagen, ob es uns möglich gewesen wäre, dieses Häuschen, dessen Ausstattung und Aussehen ich damals entwarf, unter den heute obwaltenden Verhältnissen zu halten. Vielleicht sind es auch hier die Dinge, die man nicht erreichte, die in der Erinnerung die verklärtesten bleiben. So gingen diese Wochen in jeder Beziehung angenehm hin, und wir brachten alle die gewünschte Erholung mit nach Haus, obwohl ich nicht ganz ohne Arbeit gelebt habe, was ich eben doch nicht konnte. Solche Ferien gaben mir auch die Zeit, mich mit den Kindern mehr zu befassen, als ich es zu Hause konnte, und mich an ihrer Entwicklung zu freuen, Jakob Wassermann stammte aus Fürth. Sein Roman Zirndorf" erschien 1897. 43
„Die Juden von
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die bei allen dreien eine gute war, obwohl sie alle in ihren Anlagen und in ihren Neigungen sich sehr voneinander unterschieden. Der Älteste war geistig sehr frühreif und machte sich schon zeitig über mancherlei Dinge Gedanken. Aber wenn ich heute, wo schon wieder dreizehn Jahre ins Land gegangen sind, überschaue, wie sie geworden sind, so muß ich dankbar feststellen, daß sie in jeder Beziehung das gehalten haben, was sie versprachen. Anfang August waren wir wieder in Breslau, um die Vorbereitungen zu der großen Reise nach Oslo zu treffen, zu der ich Urlaub bekommen hatte. [...] Schon am 10. August fuhren wir ab. Ich bin heute doppelt glücklich, daß ich es damals geschafft habe, auch meine Frau mitzunehmen. Die gemeinsamen Erinnerungen an diese großen Reisen sind ja heute mit das Schönste, was wir pflegen können. Wir fuhren über Berlin nach Hamburg, wo wir am 11. August früh eintrafen. [...] 1928 war, nachdem die trüben Jahre der Inflation überwunden waren, eine Zeit aufsteigender Konjunktur. Es war gerade der Verfassungstag der Weimarer Republik, an dem wir in Hamburg waren. Man konnte immer an der Art des Flaggens sehen, zu welcher Richtung sich die Besitzer bekannten. Neben der Handelsflagge, die schwarzweißrot war, sahen wir aber auch viele schwarzrotgoldene. [...] Auf dem Dampfer waren wir geradezu fürstlich untergebracht. Wir fuhren erster Klasse. Alle Teilnehmer des Internationalen Historikerkongresses in Oslo 4 4 hatten einen erheblichen Rabatt auf die Fahrpreise bekommen. [...] Eine Fahrt auf der Unterelbe ist in Friedenszeiten immer schön. Dann stellt sich jene behagliche Zufriedenheit ein, die allerdings heute oft fehlen mag, wenn unsere jüdischen Auswanderer in ihrem Reisegepäck zwar wenig Geld, aber dafür umsomehr Zaroth oder, wie man gewöhnlich sagt, Zores mit sich führen und der Schmerz der Trennung von dem, was einem jahrzehntelang lieb und teuer war, noch nicht überwunden ist. Damals aber waren wir auf der anderen Seite des Lebens. Schon an Bord machte man die eine oder andere nette Bekanntschaft mit den Historikern, die das gleiche Ziel hatten. Uns gegenüber saß ein pensionierter Gymnasiallehrer, Professor Dr. Cauer, der sich auf dem Gebiete der Schulgeschichtsschreibung einen bedeutenden Namen gemacht hat. Es gab auch manchmal ganz ulkige Typen. Da war ein jugoslawischer Professor, der einen nicht näher zu beschreibenden Gegenstand sichtbar in seiner Westentasche trug Über den Internationalen Historikertag in Oslo vgl. K. D. Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse. Göttingen 1987, S. 163-189. 44
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und dessen Bordanzug durch einen Tintenfleck geziert war. Dadurch, daß jeder an seinem Liegestuhl seine Visitenkarte angebracht hatte, bekam man rasch einen Uberblick, wer an Bord war. Einer der prominentesten deutschen Historiker war Brandi, der mit seiner Tochter reiste. [...] Abends wurde nach den Klängen eines Grammophons getanzt. Selbst ältere würdige Historiker bewiesen, daß nicht nur der Kopf, sondern auch die Beine eine gewisse Bedeutung haben. Auch ich habe mich mit meiner Frau auf diesem Gebiete betätigt, wohl das einzige Mal, daß ich auf Schiffsplanken getanzt habe, dafür tanzen wir heute auf einem Vulkan. Auf so einer Fahrt lernt man ganz zwanglos so manchen kennen, den man sonst nur aus den Werken kennt. Dies war unter anderem bei dem Archivrat Smidt der Fall, der wie ich mancherlei auf dem Gebiete der unteritalischen Normannen bearbeitet hatte. [...] Die Bekanntschaften beschränkten sich durchaus nicht auf den Kreis der deutschen Historiker. So kam ich unter anderem mit einer holländischen Lehrerin ins Gespräch, die vor allem an Kulturgeschichte und Völkerversöhnung interessiert war. Es war ja die Zeit, in der man glaubte, daß entschiedener Pazifismus die beste Sicherung des Friedens wäre. Die alten Römer, von denen staatspolitisch noch immer sehr viel zu lernen ist, waren allerdings schlauer. Sie vertraten den Standpunkt: „Si vis pacem, para bellum" 45 . Ich muß bekennen, daß ich damals auch sehr in diesem pazifistischen Fahrwasser segelte und wohl die wirklichen Triebkräfte noch nicht ausreichend erkannte. Inzwischen haben wir ja wieder einigen Anschauungsunterricht genossen. [...] Wir standen sehr früh auf, um die Einfahrt in den Oslofjord zu genießen. Viele Stunden fährt der Dampfer durch den Fjord, und wenn auch der Oslofjord nicht zu den berühmtesten der norwegischen Fjorde gehört, war ich doch von dem Eindruck sehr gepackt. Man hat Berge und Meer zusammen. Unmittelbar steigen nicht unbeträchtliche Höhen aus dem Wasser hinauf. Seitdem hat diese so schöne und friedvolle Stelle nun auch in großem Ausmaße den Krieg zu spüren bekommen 4 6 . Auf dem Grunde des Oslofjordes ruht nun so mancher junge Mensch, wenn ihn nicht das Meer inzwischen wieder herausgegeben hat. [...] Der erste Weg in einer Kongreßstadt ist immer der Weg nach der Universität, denn hier muß man seine Papiere in Empfang nehmen und alle die Karten, die dann die Tore öffnen. Es war alles glänzend vorbereitet und klappte auf das Vorzüglichste. Als offizielle Verhandlungssprachen 45
Wenn du den Frieden willst, rüste zum Kriege. Sprichwörtlich nach Vegetius. 46 A m 9. April 1940 hatten deutsche Truppen das neutrale Norwegen besetzt.
Zwischen 1903 und 1905 entstand die Begräbnisstätte der Familie Cohn auf dem jüdischen Friedhof an der Lohestraße.
Das 1902 erbaute Geschäftshaus der Familie am Breslauer Ring 49 (rechte Bildhälfte) führte den Traditionsnamen Trautner.
Das Lehrerkollegium des Johannesgymnasiums um 1914. In der ersten Reihe mit verschränkten A r m e n der Direktor Laudien. U n t e n links: Gertrud C o h n mit ihren beiden Töchtern Tamara und Susanne 1939. Unten rechts: Willy C o h n auf seiner Palästinafahrt von 1937.
Wenn die Kanoniere auf dem Breslauer Truppenübungsplatz Gandau ihre Geschütze auf die Begräbniskapelle des jüdischen Friedhofes von Breslau-Cosel richten sollten, lautete das Kommando: „Allgemeine Richtung: Der Jude" (vgl. S. 190).
Über dem Chanukkafest lag in Willy Cohns Kindheit eine Art Weihnachtsstimmung. Später w u r d e es f ü r ihn ein Fest der jüdischen Selbstbehauptung. Im Bild eine Chanukkalampe von 1857 aus Breslau.
Ferdinand Lassalles Portrait an seinem Grab auf dem Friedhof Lohestraße war aufgrund jüdischer Vorschriften meist verdeckt.
In der N e u e n Synagoge mit ihrer O r g e l wurde eine hohe Musikkultur gepflegt, die manche J u d e n als unjüdisch ablehnten.
Die Jahrhunderthalle von Breslau war der von Hitler bevorzugte Ort seiner Massenveranstaltungen. Üblicherweise beherrschten dann dort seine Braunhemden das Bild. Hitlers Auftritt vom 3. März 1932 (vgl. S. 622) wirkt auf diesem Bild verhältnismäßig zivil, weil die Regierung ein Uniformierungsverbot erlassen hatte.
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waren nur die Sprachen der großen Kulturvölker zugelassen, Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch. D a immer in den verschiedensten Sprachen durcheinandergesprochen wurde, mitunter in einer nicht unbeträchtlichen Geschwindigkeit, so kostete es oft sehr große Konzentration, um sich schnell hineinzufinden. Aber dadurch lernt man ja auch, wenn man eine gewisse Grundlage mitbringt, sehr rasch. Es würde einen ganzen Band füllen, wenn ich alle Eindrücke, die ich damals in mich aufnehmen durfte, wiedergeben würde, und so will ich mich vor allem auf das subjektiv Empfundene beschränken, zumal die eigentlichen Kongreßverhandlungen in umfangreichen Bänden niedergelegt worden sind 4 7 . An der Spitze des Kongresses stand der Professor Halvdan Koht. Dieser Mann, der politisch sehr weit links eingestellt war 4 8 , leitete den Kongreß mit sehr viel Takt und Umsicht. Er war der führende norwegische Historiker. Später hat er sich auf das Gebiet der Politik begeben. Im Jahre 1939 war er norwegischer Ministerpräsident. Nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen ist er nach England gegangen. Zur Eröffnung des Kongresses kam auch der norwegische König, der ja einen Namen hat, der mit meinem verhältnismäßig ähnlich ist. Es war König Häkon V I I . E r machte einen außerordentlich bescheidenen Eindruck; er kam in Zivil und blieb bei der gesamten Eröffnungsverhandlung bis zum Schluß anwesend. Auch er ist ja heute nicht mehr in seinem Lande. Unsere Zeit hat auch vor Königsschicksalen nicht Halt gemacht 4 9 . Der Kongreß gliederte sich in so viele verschiedene Sektionen, daß man nur an den Vorträgen Einzelner teilnehmen konnte. Im Grunde war es auch nicht die Hauptsache, Referate zu hören. Die Hauptsache war, daß man die Berührung mit Menschen fand, denen man sonst kaum wieder begegnen würde, daß man eine Spur von dem Geisteshauch in sich aufnahm, der von ihnen ausging. In dieser Beziehung hat vielleicht den größten Eindruck auf mich der belgische Historiker Henri Pirenne gemacht, der inzwischen auch gestorben ist und der mit einer ungeheuren Rednergabe begnadet war. In der Diskussion sprach vor allem der Wiener Professor Dopsch. Es ging damals um eine grundlegend verschiedene
Ausführliche Angaben bei K. D. Erdmann: Die Ökumene der Historiker, S. 163ff, S. 446. 4 8 Sein Vortrag behandelte das Thema: „Die Bedeutung des Klassenkampfes in der neuesten Geschichte." 4 9 König Häkon hatte zum Widerstand gegen die deutsche Invasion N o r w e gens aufgerufen und war im Juni 1940 ins englische Exil gegangen. 47
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V I I I . Kapitel
Auffassung vom Ende der Völkerwanderung. Aber ich sehe, daß ich doch in Gefahr gerate, auf wissenschaftliche Einzelheiten einzugehen. Einmal fand ein großer Empfang des gesamten Kongresses in dem Akershuis-Kastell statt, den die Stadt Oslo veranstaltete. Dieses Schloß gab einen historischen Rahmen ab, wie er in ähnlicher Form kaum je wieder gefunden werden kann. In manchem erinnerte mich dieses Kastell an das Kastell Maniace, wo ich am anderen Ende Europas vor nicht so langer Zeit mit meiner Frau gestanden hatte 50 . Dieser Empfang war auch dadurch sehr nett arrangiert, daß man nicht an einen bestimmten Platz gebunden war, sondern auf und ab flanieren konnte und sich die köstlichsten Dinge, die Norwegen in reicher Fülle bot, vom Büffett holen durfte. Dabei lernte man zwanglos viele Kollegen kennen und bekam einen Eindruck, wer anwesend war. Ein Loblied muß auch an dieser Stelle jenen wunderschönen norwegischen Studentinnen gesungen werden, die in weißen Kleidern mit blauen Schärpen und bloßen Haaren für das Wohl der Gäste der Stadt Oslo sorgten und überhaupt den Kongreß durch ihren Anblick verschönten. Sicherlich ist es ein Genuß, würdige Gelehrte mit und ohne Bart zu sehen und sie auch reden zu hören; aber selbst der Älteste freut sich noch, wenn er einen Hummer von schöner Hand dargeboten bekommt. Diese Mädchen kamen mir alle wie Isolde Blondhaar vor. Bis zu einem gewissen Grade hat sich besonders hier oben die germanische Rasse rein erhalten. Von den Menschen, die ich damals kennenlernte, will ich nur den einen oder anderen hervorheben. Besonders freundlich war Professor Fedele, der bis vor kurzem noch italienischer Unterrichtsminister gewesen war. Im faschistischen Italien vollzog sich ja der Wechsel der Minister unter anderen Gesichtspunkten als in den alten Demokratien. Man wechselte hier die Männer auch, um sie nicht zu sehr zu verbrauchen. Fedele äußerte sich sicherlich weit über Verdienst anerkennend über meine Bücher, die ich zur italienischen Geschichte veröffentlicht hatte. Bei dem großen offiziellen Bankett des Kongresses sprach dieser Gelehrte übrigens wundervoll in lateinischer Sprache. Von den persönlichen Bekanntschaften möchte ich vor allem auch Walter Vogel hervorheben, den ich von früher her kannte und der sich hier besonders dafür einsetzte, um mir weiterzuhelfen. Ich klagte ihm damals mein Leid, wie schwer es sei, neben der Schule auch noch die
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In Syrakus auf Sizilien.
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große wissenschaftliche Arbeit zu leisten. Vogel sprach daraufhin mit Professor Baethgen, der damals am Historischen Institut in Rom war. Walter Vogel sah für mich darin eine Chance. In der Tat haben später auch Verhandlungen stattgefunden, die aber zu keinem Resultate führten. Das habe ich ja auch schon an anderer Stelle angedeutet 51 . Gerade bei Vogel, der mir bis zu seinem Tode stets die Treue gehalten hat, war dieses persönliche Einsetzen für mich besonders anzuerkennen; denn grundsätzlich war er eigentlich Antisemit und lehnte die Juden ab. Er hat darüber übrigens niemals mit mir gesprochen, und ich weiß das lediglich aus seinen Publikationen. Wo er mir helfen konnte, hat er das im reichsten Maße getan. Vogel war wie ich besonders an der Seegeschichte interessiert. Hier bot Oslo Bemerkenswertes. Durch die Jahrtausende hindurch hatten sich zwei alte Wikingerboote in dem Moor gehalten, das Gokstadschiff, das in einem Museum in der N ä h e der Universität untergebracht war, und das Osebergschiff, das wir auf einer Exkursion kennenlernen sollten. Als ich diese Schiffe betrachtete, kam mir so recht zum Bewußtsein, was die Normannen doch für Kerle gewesen waren, daß sie von Norden her kommend, die ganze Welt in Unruhe setzen konnten. Dabei möchte ich die Anmerkung machen, daß man doch eigentlich mehr diejenigen Völker preisen sollte, die die Welt nicht in Unruhe gesetzt haben; aber dann hätten eben die Historiker wohl nicht ausreichend Stoff. Auch den Professor Heisenberg möchte ich noch nennen, den Herausgeber der Byzantinischen Zeitschrift, deren gelegentlicher Mitarbeiter ich war 52 , dessen persönliche Bekanntschaft ich machte. Die Zahl der Männer und Frauen, zu denen ich in Beziehung kam, war übrigens eine sehr große, und die Namen, die ich nenne, sind gewiß nicht nach irgendeinem System aufgebaut, sondern lediglich so, wie sie mir ins Gedächtnis kommen. Bei dem großen Bankett des Kongresses wurden sämtliche Nationalitäten bewußt durcheinander gemischt. Ich hatte das Pech, eine alte englische Professorin, Frau Johnstone, als Tischdame zu bekommen. Gerade das Englische ist diejenige Sprache, zu der ich zeitlebens die geringsten inneren Beziehungen gewonnen habe. Alle Sprachen brausten damals um mich herum. Irgendwie werde ich mich schon aus der Affäre gezogen haben. Das Schrecklichste bei einem solchen Kongreßbankett ist die Fülle der Reden. Nach dem französischen Alphabet sprachen die Vertreter der 51
Oben S. 441 f. Vgl. SV Nr. 8. In der Byzantinischen Zeitschrift wurden verschiedentlich Arbeiten Cohns rezensiert, vgl. SV Nr. 2, 9, 110. 52
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einzelnen Staaten, wodurch Deutschland ziemlich an die Spitze kam. Eine gewisse Anzahl solcher Reden kann man ja verdauen; aber dann kommt es zu einem Streik der Aufnahmefähigkeit, und ich habe es auch nicht ertragen, das ganze Alphabet über mich ergehen zu lassen. Ich glaube, einer der letzten Redner war der Vertreter der Tschechoslowakei, weil im Französischen dieser Name mit T am Anfang geschrieben wurde. Sämtliche Reden wurden übrigens durch Lautsprecher übertragen, was zwar den Lärm erheblich erhöhte, aber keineswegs dazu beitrug, sie verständlicher zu machen. Einen besonders schönen Ausflug machte der Kongreß nach Bygdö. Dieser Ort liegt gegenüber der Stadt Oslo auf der anderen Seite des Fjordes. Man fährt mit einem Fährboot hinüber. Hier ist auch das Osebergschiff aufgestellt, von dem ich schon gesprochen habe. Es steht in einer großen weißen Halle, und gerade von ihm schien mir der Geist der alten Normannen besonders aufzusteigen. Bygdö enthält eins der eigenartigsten Museen, die ich jemals erblickt habe. Das Museum führt den Namen Folkemuseum. Es ist eine riesige Anlage. Hier hat der norwegische Staat gewissermaßen im kleinen einen Überblick über sein ganzes Land gegeben. Wenn man nicht gerade Geographielehrer ist, so hat man in der Regel von der Größe dieses Landes keine rechte Vorstellung. In der Landschaft verstreut, waren hier Bauernhäuser aufgebaut, die jedes das Gesicht einer anderen Provinz trug. Als Schlesier brachte ich durch meine Kenntnis der Kirche Wang eine gewisse Vorstellung mit, wie es im hohen Norwegen ausgesehen haben mag. Eine ganz ähnliche Kirche sahen wir hier, wie sie seinerzeit König Friedrich Wilhelm IV. mit der Kirche Wang für Schlesien erworben hat 53 . In all diesen Häusern saßen Frauen bei ihrer Arbeit, so daß man gar nicht den Eindruck hatte, in einem Museum zu sein, sondern eher das Gefühl hatte, die Menschen in ihrem Heime zu belauschen. Man bemühte sich übrigens damals in Norwegen besonders, die alte Volkskultur zu erhalten und neu zu beleben. Man gab sich auch eine große Mühe um die Volkstänze; aber als wir einmal darüber mit jungen Mädchen sprachen, meinten sie, daß sie doch die modernen Tänze bevorzugten. Es läßt sich eben doch schlecht, auch selbst in choreographischer Beziehung, das Rad der Weltgeschichte rückwärts drehen. [...]
Friedrich Wilhelm IV. erwarb 1840 in Norwegen diese damals zum Abbruch bestimmte Stabholzkirche des 13. Jahrhunderts und ließ sie bis 1844 in Brückenberg unterhalb der Schneekoppe wiedererrichten. Sie ist noch heute eine vielbesuchte Sehenswürdigkeit. 53
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Wir hatten uns seinerzeit besonders an den Professor Hofmeister und seine Frau, die aus Greifswald kamen, angeschlossen, wie auch an den Archivdirektor Dr. Erich Keyser aus Danzig, der auch mit seiner Frau zum Kongreß gekommen war. Erich Keyser hat übrigens später bei den verschiedenen geistigen Kämpfen um die Rückführung Danzigs an Deutschland eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. [...] Auf der Rückfahrt von Bygdö hatte ich mit Erich Keyser eine lange Unterhaltung über meinen werdenden „Hermann von Salza". So gingen die Kongreßtage ihrem Ende entgegen. Sie waren eine riesige Bereicherung meines geistigen Horizonts. Meine Frau hatte einmal bei einer Veranstaltung, die für die Damen besonders angesetzt war, Gelegenheit, in die Aufgaben hineinzublicken, die der norwegischen Hausfrau gesetzt waren. Diese Hausfrauen, die oft weit entfernt von allen anderen Menschen ganz auf sich selbst stehen, haben es recht schwer. Wir essen zum Beispiel das Knäckebrot als Delikatesse; aber die in einer Einzelsiedlung lebende norwegische Hausfrau kann ja nicht so oft Brot backen und muß das für einen großen Teil des Jahres in Vorrat haben. Ehe ich von dem Kongreß Abschied nehme, der mit einer Schlußsitzung wie üblich zu Ende ging, in der der Italiener Volpe einen glänzenden Vortrag über das Risorgimento, die Wiedergeburt Italiens, hielt, möchte ich wenigstens noch zweier Männer gedenken, die ich persönlich kennenlernte und die auf mich einen großen Eindruck machten. Der eine von ihnen war Sebastian Merkle aus Würzburg, ein gewaltiger Mann, der besonders auf dem Gebiete der Kirchengeschichte gearbeitet hatte. Und der andere war der Rumäne Professor Jorga, die Leuchte der rumänischen Geschichtswissenschaft. Ich saß öfters neben ihm und unterhielt mich mit ihm in französischer Sprache. Jorga ist jammervoll zugrundegegangen, und zwar bei dem Umsturz, der durch den Führer der rumänischen Legionäre, Antonescu, hervorgerufen wurde 54 . Jorga hatte sich nämlich nicht ausschließlich auf die Geschichtswissenschaft beschränkt; er hatte sich auch politisch betätigt und mag sich wahrscheinlich dadurch manchen Gegner gemacht haben.
Nicolae Jorga erlangte 1931/32 das A m t des rumänischen Ministerpräsidenten. Seine Ermordung Ende 1940 fiel in eine Zeit, in der das deutsche Reich destabilisierend auf die inneren Verhältnisse Rumäniens einwirkte. Eine Tatbeteiligung des damaligen Ministerpräsidenten Ion Antonescu war wohl nicht gegeben. Antonescu wurde nach Kriegsende 1946 wegen seiner politischen Kooperation mit Deutschland hingerichtet. 54
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Am Schluß des Kongresses war den Teilnehmern eine Exkursion freigestellt. Wenigstens etwas sollte man noch von der Natur Norwegens und dem Lande mitnehmen, ehe man ihm wieder den Rücken kehrte. Wir hatten uns zu der Exkursion nach Oseberg entschlossen. Es war der Ort, wo das Schiff gefunden worden war, das wir in Bygdö gesehen haben. Diese Exkursion fand in Autos statt. Zufällig kam in das Auto, in dem der Platz für meine Frau und für mich vorgesehen war, auch der Führer der polnischen Delegation, Professor Dembinski nebst Tochter. Auch ein anderer polnischer Gelehrter fand hier seinen Platz. Dembinski erzählte mir, daß er in Breslau studiert hatte und Schüler Professor Caros war. Der Name des letzteren war mir bekannt. Caro, der Jude war, hatte in Breslau einen Lehrstuhl für Geschichte innegehabt; sein Hauptwerk ist eine Geschichte Polens 55 . Letzten Endes ist er überhaupt der Vater einer polnischen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Dembinski, der fließend deutsch sprach, sagte viel Nettes und Liebes über seinen längst verstorbenen Lehrer. Wie notwendig wäre es einmal, eine Geschichte der Breslauer jüdischen Gelehrten zu schreiben, die hier gewirkt haben und in der man aller der Männer zu gedenken hätte, die heute nicht mehr genannt werden. Hoffen wir, daß ihnen die Geschichte einmal Genugtuung widerfahren läßt. [...] Das erste Mal wurde an der Stelle gehalten, wo sich die norwegischen Königsgräber befanden. Hier ruhten die Ahnen von Harald Harfangar. Hier hatten die alten Nordmänner ihre Könige begraben. Sie ruhten in riesigen Schiffsgräbern. Die Stimmung hier war das Entscheidende: dumpf und düster. In den Gräbern selbst hatte man seinerzeit wenig gefunden; sie waren schon in der Vorzeit geplündert worden. Aber man bekam doch von diesem Besuch den Eindruck mit, unter welchen religiösen Vorstellungen jene Germanen der Vorzeit gelebt hatten, die ihren Toten keine bessere Mitgabe wußten als all das, was sie im Leben erfreut hatte. Dann ging es zum Auto zurück und weiter nach Larvik. Wir waren schon einhundertvierzig Kilometer von Oslo entfernt. Hier waren wir zu einem opulenten Diner eingeladen. Bei Tisch sprach ich noch den einen oder anderen der Kongreßteilnehmer, den kennenzulernen ich bisher keine Gelegenheit hatte. So kam ich gegenüber von A. O. Meyer zu sitzen, dem ich einen Gruß vom Kollegen Mittelhaus auszurichten hatte. A. O. Meyer, der sich auf dem Gebiete der neueren Geschichte Der Breslauer Professor Jacob C a r o ( 1 8 3 6 - 1 9 0 4 ) hatte die 1840 von Richard Roepell begonnene Geschichte Polens (bis 1506) bis 1888 in fünf Bänden fortgesetzt. 55
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einen besonderen Namen gemacht hatte, war ein etwas verschlossener Mann. Vielleicht darf hier angemerkt werden, daß auf dem Kongreß von deutscher Seite vor allem die politisch rechts Eingestellten vertreten waren. Für die Auswahl der offiziellen Mitglieder zeichnete ja der Verband der deutschen Historiker verantwortlich, und da war diese Auswahl letzten Endes begreiflich. Ich selbst war durchaus privatim hingefahren, was einem, wenn es auch mit mehr Kosten verbunden war, eine viel freiere Stellung gab. In den Verhandlungen hatte ich nur einmal selbst das Wort ergriffen. [...] Um halb sechs am nächsten Morgen mußten wir wieder aufstehen, denn der Tag der Rückreise war da. Für diese hatten wir uns eine andere Route gewählt, wie es ja überhaupt schön ist, auf Reisen immer eine neue Strecke zu nehmen. Wir fuhren auf dem Landwege durch das südliche Norwegen und dann durch Schweden. So saßen wir also jetzt in einem sehr bequemen Zuge in der Richtung nach Göteborg. Auch in diesem Zuge wehte noch die Luft des Historikerkongresses, von dem ich innerlich sehr bereichert heimkehrte. Gewiß, die Haupthoffnung, mit der er mich damals entließ, an das Historische Institut nach Rom zu kommen, ist nicht in Erfüllung gegangen; aber dafür sind eben die anderdn innerlich wertvollen Dinge geblieben. Man soll niemals bedauern, daß Dinge nicht in Erfüllung gegangen sind, die man unter einem anderen Gesichtspunkt einstmals erstrebt hat. Kurz vor der Bahnfahrt lernte ich einen recht interessanten griechischen Gelehrten kennen, den Professor Sotiriades. Die Fahrt ging an vielen bemerkenswerten Stellen vorbei; wir fuhren über den Glommen, dessen gewaltige Wassermassen zur Gewinnung von Elektrizität benutzt wurden. Weißschäumende Gischtmengen quetschten sich durch engen Durchlaß, um zwanzig Meter tief herunterzustürzen. Wir kamen dann an Frederikshall vorbei, bei dessen Belagerung der große schwedische König Karl XII. gefallen war. Dieser Karl XII. war uns ja in Schlesien eine vertraute Erscheinung; hier hatte er bei seinem meteorartigen Auftreten für die Protestanten die Gnadenkirchen erwirkt. Wir konnten vom Abteil her einen Blick auf die riesige Festung werfen, die in manchem an unser heimisches Glatz erinnerte, nur daß sie viel gewaltiger war. Langsam kletterte der Zug zur Grenzstation Kornsjö in die Höhe. Hier fand die schwedische Paß- und Zollkontrolle statt, die aber sehr milde war. Da wir uns in Schweden nicht aufhalten wollten, brauchten wir nicht einmal das Gepäck zu öffnen. [...] Als wir nach Trelleborg kamen, war es schon vollständig finster. Wir bestiegen den Fährdampfer, der uns nun nach Deutschland hinübertragen sollte. [...] Ich war immer glücklich, wenn ich
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nach der Rückkehr von einer solchen Reise alle Kinder wohl und munter zu Hause antraf. Andererseits waren die ersten Tage immer sehr schwer. Sie brachten ja nicht nur die Umstellung auf den Alltag; sie brachten auch die Erfüllung der mit einer solchen Kongreßfahrt übernommenen journalistischen Pflicht. Solche Reisen hätten sich wirtschaftlich sehr viel schwerer ermöglichen lassen, wenn ich nicht darüber auch für verschiedene Zeitungen geschrieben hätte 56 . Selbstverständlich machte mir das auch große Freude, und im Schreiben stieg das Erlebte wieder auf, und ich konnte mir noch einmal über das klar werden, was ich in mich aufgenommen hatte. [...] Allmählich kamen auch auf Grund meiner Forschungen über Hermann .von Salza kleinere Nebenfrüchte zustande, die wieder in wechselseitiger Beziehung zu der Osloer Reise standen. So schrieb ich einen größeren Aufsatz über das Thema: Hat Hermann von Salza das Deutschordensland betreten? Diese Arbeit ist dann in der Historischen Vierteljahrsschrift erschienen 57 , in der ich schon früher einmal eine größere Arbeit veröffentlicht hatte. Dieser Aufsatz ist aber nicht der einzige geblieben, der aus diesem Themenkreise herauswuchs, und wenn die Ereignisse nach 1933 nicht meine wissenschaftliche Arbeit auf ganz andere Gebiete gelenkt hätten, so wäre sicher noch mehr entstanden. Es hing aber auch mit der damaligen Lage Ostpreußens zusammen, daß diese Arbeiten aus dem rein Geschichtlichen immer mehr in das Politische hinüberwuchsen. Es handelte sich ja damals nicht so sehr darum, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, sondern den deutschen Charakter Ostpreußens zu verteidigen. Ich persönlich habe stets auf dem Standpunkt gestanden, daß Politik und Wissenschaft durchaus getrennt werden müssen. Ich selbst, der ich mich an und für sich stets recht gern politisch betätigt habe, lehnte es ab, Politik und Wissenschaft zu vermengen. Der Herbst des Jahres brachte uns wieder die Einkehr der jüdischen Feiertage. Nun konnten schon zwei Söhne am Gebet teilnehmen. Bei Ernst machte sich besonders der Segen der jüdischen Schule bemerkbar. Innerhalb des weiteren Familienkreises nahmen wir damals an der Barmizwahfeier meines Neffen Hans Proskauer teil, die harmonisch verlief, wenn auch nicht in dem jüdischen Geiste, den ich bei der Feier für meinen Sohn Wolfgang beschworen hatte. An dem Abendbrot bei Proskauers nahm unter anderem auch der langjährige Freund meines Schwagers, der inzwischen schon lange verstorbene Gynäkologe Professor Heimann teil, ein Altersgenosse von Franz. Als damals eine Gans auf den Tisch kam, 56 57
Vgl. SV Nr. 280. Vgl. SV Nr. 311.
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deren Tranchieren Schwierigkeiten machte, sagte ich zu Heimann, mit dem ich mich aus den Tagen des AMV her duzte: „Mach Du es doch, Du hast schon manche Gans tranchiert". Für die Herbstferien hatten wir uns, obwohl wir in diesem Jahre schon mehr als reichlich unterwegs gewesen waren, noch eine kleine Reise vorgenommen, die vor allem eine Belohnung für Wölfl darstellen sollte und ein nachträgliches Barmizwahgeschenk. Wir wollten ihm Prag zeigen. [...] Als ich das letzte Mal in Prag gewesen war, war es noch eine österreichische Provinzstadt gewesen. Nun war es die Hauptstadt des jungen tschechoslowakischen Staates und hatte ein ganz anderes Gesicht gewonnen. Die deutsche Sprache war in den Straßen sehr in den Hintergrund getreten, und nicht alle wollten mehr deutsch antworten. Vom Wenzelsplatz aus gingen wir nach der Teynkirche und genossen den schönen Blick über den alten Ring. Es war Laubhüttenfest. So gingen wir sofort in die alte Judenstadt, von der ja leider durch die Sanierungsmaßnahmen nur noch wenig steht. Wir kamen gerade zum Schluß des Mussaf des Gottesdienstes in die Altneuschul. Ich ging mit meinem Jungen in den unten gelegenen Männerraum, während meine Frau in die nur durch Gitter nach der Männerschule geöffnete Frauenschule emporstieg. Es war für mich ein erschütterndes Gefühl, an derselben Stelle zu beten, wo dies Juden nun schon ununterbrochen seit siebenhundert Jahren taten. Damals wußte ich noch nicht, daß mir in viel späteren Jahren beschieden sein sollte, den Geist des alten jüdischen Prags in einer größeren wissenschaftlichen Arbeit zu beschwören58. Ich war damals auch überaus glücklich, meinem ältesten Sohne diese für uns Juden besonders geweihte Stätte zeigen zu können. Wir sahen auch in der Altneuschul die Fahne, die die alte Judengemeinde von Kaiser Ferdinand für ihren Anteil an der Verteidigung von Prag bekommen hatte59. Dadurch, daß damals Feiertage waren, konnten wir leider den berühmten Judenfriedhof mit dem Grabe des hohen Rabbi Low nicht sehen. In der Stadt sahen wir aber dessen Denkmal, das allerdings, nachdem Prag zu Deutschland kam, in den letzten Jahren aus den bekannten Gründen entfernt worden ist60. Nicht ermittelt. Das Privileg, eine eigene Fahne führen zu dürfen, wurde den Prager Juden 1357 von Kaiser Karl IV. verliehen. Privileg und Fahne wurden unter den Kaisern Ferdinand III. und Karl VI. erneuert. Die erhaltene Fahne stammt aus dem Jahr 1716. 6 0 Es steht heute wieder an der Ecke des neuen Prager Rathauses. 58
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Von der Prager Judenstadt gingen wir zur Moldau hinunter, am Kai entlang bis zur Karlsbrücke und durch das Altstädter Tor hinüber. Damals wußte ich noch nicht, daß die Juden, wenn sie von außerhalb her über diese Brücke gebracht wurden, auf ihrem letzten Gang zum Friedhof Zoll zu bezahlen hatten. Wir erfreuten uns an dem Blick auf Kleinseite und Hradschin. Was hat diese alte Brücke nicht alles an Geschichte im Laufe der Jahrhunderte gesehen; was sahen nicht die heiligen Gestalten der Barbara und des Nepomuk, die sich aus Stein gemeißelt auf ihr befinden. Dann kamen wir auf den Marktplatz der Kleinseite, mala strana, wie es auf tschechisch heißt. Mir kam es nur darauf an, meinen Lieben den Gesamteindruck zu zeigen. Durch die Thungasse stiegen wir auf steiler Treppe zum Hradschin empor. Für eine Führung durch das gewaltige Gelände der Prager Burg, die damals auch Regierungssitz des Präsidenten Masaryk war, war es schon zu spät geworden. Wir betrachteten den Veitsdom von außen, den die tschechische Regierung damals vollendete. Die gewaltige Last seines Baues verteilten die gotischen Strebepfeiler. Im Innern der Burg wirkte das Mittelalter besonders stark. Wir gingen dann bis zum Daliborka, zum Hungerturm, und aßen später in einem kleinen Restaurant gegenüber dem Veitsdom. Am Nachmittag hatten wir dann Gelegenheit, den Veitsdom von innen zu sehen, der in seinem wiederhergestellten Zustand die reinste Gotik darstellt. Ich hatte ja schon in meinem Leben das Glück, sehr viele gotische Bauwerke zu sehen und sollte auch später noch die Bekanntschaft mit anderen machen. Dieses Hinaufstreben aus der Tiefe, diesen Gottesgedanken, verkörpert das Gotische wie keine andere Baukunst. Dann sahen wir auch das Schloß und die alte Burg, die mir persönlich von einer anderen Reise her bekannt war. Der größte Saal in der Burg ist der deutsche Saal, der größte Saal der Welt, der ohne jede Stütze erbaut worden ist61. Nachher warfen wir noch einen Blick in die Goldmachergasse. All das war mir ja so vertraut, als ob ich es täglich sehen würde. Am lebendigsten hat diese Welt Max Brod in seinem Roman „Tycho Brahes Weg zu Gott" dargestellt62. Aber auch über das moderne Prag müssen ein paar Worte gesagt werden. In fast amerikanischem Tempo hatte die Stadt damals die stille Ruhe von Jahrhunderten überwunden. Glücklicherweise war das aber 61
Der Thronsaal der Prager Burg wurde zwar von einem deutschen Architekten erbaut, wird aber sonst nach seinem Bauherren Wladislaw-Saal genannt. 62 M. Brod: Tycho Brahes Weg zu Gott. Ein Roman. München 1915.
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ohne weitere Eingriffe in die alte Substanz vonstatten gegangen. Das neue Prag hatte sich nach draußen in die Landschaft entwickelt. Der tschechoslowakische Staat wollte in allem und jedem seine westliche Orientierung andeuten und von Deutschland so weit wie möglich abrücken. Es ist hier nicht meine Aufgabe zu untersuchen, inwieweit überhaupt ein Staat aus der natürlichen Gegebenheit seiner geographischen Lage heraustreten kann. Wie auch immer sich die Zukunft gestalten mag, sicher ist, daß Prag eine Stadt im Herzen Mitteleuropas bleiben wird. [...] Dann setzte der Winter mit großer Arbeit wieder ein. Die Kurse am Seminar, die mir auch materiell eine große Hilfe gewesen waren, gingen zu Ende; nur die wenigsten der ostjüdischen Studenten hatten wohl schließlich die Ergänzungsprüfung gemacht. Man erlebt immer wieder, daß sich bei solchen Kursen zuerst die Menschen drängen, und nachher wird ihre Zahl recht klein. Innerhalb der Sozialdemokratischen Partei wurde ich damals zu einem größeren geschichtlichen Schulungskursus herangezogen. Ich habe mich übrigens bei solchen Kursen immer sehr bemüht, sie möglichst weit weg von der Tagespolitik zu halten. Das lag nicht immer im Sinn der Hörer, die viel lieber die Dinge erörtert wissen wollten, die ihnen im Augenblick am Herzen lagen. Aber ich vertrat den Standpunkt, daß Schulungskurse vor allem Kenntnisse zu übermitteln hatten und daß auf ihnen tagespolitische Erörterungen unbedingt vermieden werden mußten. An diesen Kursen beteiligten sich in großer Zahl die sogenannten Jungsozialisten. Sie äußerten immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der damaligen Leitung der Sozialdemokratischen Partei. Es ist sicher, daß diese jungen Menschen, die mit der bürgerlichen Haltung der damaligen Parteileitung wenig einverstanden waren, vor allem diejenigen waren, die viel später dann leicht radikalen Beeinflussungen zugänglich wurden, eben den beiden radikalen Parteien, die sich damals am rechten und linken Flügel immer mehr herausbildeten. Aber auch diese Andeutungen, die aus der persönlichen Erinnerung herauskommen, mögen genügen. Aus dem Leben der Lessing-Loge möchte ich hier einen Vortrag des Großpräsidenten des palästinensischen Distrikts, Professor Dr. Jellin, erwähnen, der zuerst hebräisch, dann deutsch sprach. Damals war der Nervenarzt Dr. Prager Präsident der Lessing-Loge, der ihn auch hebräisch begrüßte. Man konnte den langsam gesprochenen Worten recht gut folgen. An diesem Abend war im Logentempel alles anwesend, was sich in Breslau dem Zionismus verbunden fühlte. Heute dürfte ich wohl der letzte von ihnen sein, der sich noch hier befindet. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich auch noch einer Veranstaltung des Komitees pro Palästina gedenken, die in Form einer großen Kundgebung im
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Breslauer Konzerthaus stattfand 63 . Hier sprach der neue Oberpräsident von Niederschlesien, Lüdemann, den ich später auch noch persönlich kennenlernen sollte und der nach 1933 auch ein schweres Schicksal zu ertragen hatte 64 . Es sprach an diesem Abend (diese Rede stand im Mittelpunkt), der englische Oberst Wedgewood und außerdem der Breslauer Universitätsprofessor Jirku, der Palästina auf einer Reise gesehen hatte. Von zionistischer Seite sprach der Präsident der zionistischen Vereinigung für Deutschland, Blumenfeld. Der große Saal des Konzerthauses war bis auf den letzten Platz gefüllt. Ich persönlich liebe ja solche großen Kundgebungen nicht; aber ich sehe ein, daß sie notwendig sind, bei uns Juden besonders notwendig, weil sich dadurch der Geldbeutel leichter in Bewegung setzen läßt. Dieser an und für sich schön verlaufene Abend hatte für mich insofern etwas Peinliches, als es mir immer unangenehm ist, wenn Juden durch Christen an ihre jüdischen Pflichten erinnert werden mußten. Damals dürfte die Breslauer Gemeinde etwa fünfundzwanzigtausend Menschen umfaßt haben, von denen aber nur ein Bruchteil der zionistischen Gedankenwelt irgendwie verbunden war. Aber Männer wie Wedgewood und Jirku sprachen mit letzter Begeisterung von diesem Judenlande. Der deutsche Jude hat den Zionismus erst dann zu würdigen gewußt, als er ihm eine Zufluchtsstätte bot. Und da ich gerade bei Erlebnissen aus dem jüdischen Kreise bin, will ich auch hier einflechten, daß ich in diesem Winter an einer Großlogentagung des Ordens Bne Brith teilnahm. Über den Sinn dieser Tagung, die gewaltige Unkosten verursachte, konnte man ganz verschiedener Meinung sein, falls man nicht den Standpunkt vertritt, daß auch hier die persönliche Begegnung von Wert sein kann. Das große Erlebnis auf dieser Tagung war die Rede des Großpräsidenten Rabbiner Dr. Leo Baeck, des Mannes, der seine jüdische Berufung nach 1933 auch dadurch bewiesen hat, daß er in den schwersten Zeiten an die Spitze der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland getreten ist und sie auch heute noch leitet, nicht ins Ausland desertiert ist wie so mancher Rabbiner, der seine Gemeinde im Stich ließ. Gegenüber dieser groß angelegten, von letzter Gedankentiefe erfüllten Rede stand die Über die Großkundgebung des Pro-Palästina-Komitees vgl. auch J. Walk: Die „Jüdische Zeitung für Ostdeutschland", S. 36f. 6 4 Hermann Lüdemann (1880-1959), Oberpräsident von Niederschlesien von 1929-1932, wurde 1933 in das Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy verbracht. Nach dem Krieg war er von 1947-1949 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. 63
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Diskussion auf einem kläglichen Tiefstand. Da pflegen Diskussionen sehr häufig zu stehen; aber ich habe oft beobachten können, daß wir Juden uns in dieser Beziehung noch schlechter eine Beschränkung aufzuerlegen vermögen. Ich hatte immer den Eindruck, daß jeder, der eine so weite Reise gemacht hatte, sich wenigstens dadurch schadlos halten wollte, daß er etwas sagte. Das Hauptthema, das damals zur Diskussion stand, die Erhaltung des Judentums, ist durch diese Erörterungen wenig gefördert worden. Das Judentum ist jedoch dadurch stärker erhalten worden, daß es 1933 auch denen, die von ihm wenig wissen wollten, erneut zum Bewußtsein gebracht wurde. [...] Allzuviel Verkehr haben wir auch in diesem Winter (wie erfreulicherweise auch sonst) nicht gepflegt. Es waren nur ein paar Menschen, die uns nahestanden. Damals war ich öfters mit dem Kollegen Klibansky von der jüdischen Schule zusammen, der sich sehr an mich angeschlossen hatte. Im Kuratorium selbst konnte ich nicht immer mit meinen Meinungen durchdringen. So sehr ich auch den Rabbiner Dr. Simonsohn persönlich schätzte, so wenig war ich oft mit der äußeren Form seiner Geschäftsführung, die mir nicht preußisch genug war, einverstanden. Aber die Hauptsache bleibt ja doch, und das habe ich ja auch schon an anderer Stelle erwähnt, daß das Werk der jüdischen Schule durchgehalten wurde und ausgebaut worden ist. Öfters kam auch der schon erwähnte Friedrich Block zu uns, der an allem, was meine geistige Arbeit anbelangte, das wärmste Interesse hatte. Sehr viel Freude hatte ich auch an den Arbeitsgemeinschaften der Jüdischen Volkshochschule, in die ich immer mehr hineingewachsen war. Es ergab sich da auch manche menschliche Bemühung, und ich saß gern mit meinen Hörern auch außerhalb der Kurse zusammen. Ich habe das immer besonders anerkannt, wenn Menschen, die im Berufsleben standen, ihre Abende nicht dazu verwandten, um geistlos Karten zu spielen, sondern wenn sie trotz aller Ermüdung des Alltags dann doch noch die Kraft fanden, zu oft nicht leichten Arbeitsgemeinschaften zu gehen. So ging das Jahr 1928 zu Ende, das uns in jeder Beziehung doch sehr viel Glück gebracht hatte und für das wir sehr dankbar sein konnten. Ich mag damals wohl auch auf der H ö h e meines Schaffens gestanden haben. Am 12. Dezember war ich vierzig Jahre alt geworden. „Der Mann von 40 Jahren" ist Gegenstand eines Romans gewesen, den der jüdische Dichter deutscher Zunge Jakob Wassermann geschrieben hat. Die H ö h e des Lebens hat man mit diesem Zeitpunkt erklettert. Gewiß sagt man, daß dann noch ein breiter Rücken vor einem liegt; aber immerhin steigen doch schon die Schatten des Abends auf. Ich weiß, daß dieser vierzigste
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Geburtstag für mich auch eine gewisse innere Krise war und daß ich eine gewisse Zeit brauchte, um sie zu überwinden. Wenn sich eine Null an die Lebensjahre ansetzt, so fordert sie zu verstärkter Selbstbesinnung auf. Der fünfzigste Geburtstag zehn Jahre später fiel dann in eine besonders trübe Zeit. Von Vortragsverpflichtungen, die ich in diesem Winter erfüllte, seien die Vorträge im „Kreis der Freunde" genannt. Das waren ein paar junge jüdische Kaufleute, die sich aus gesellschaftlichen Gründen zusammengefunden hatten, die aber auch den Wunsch spürten, in den Abendstunden Bildungsfragen durchzusprechen. Ich habe in diesem Kreise sehr oft und gern gesprochen. A b und zu trat nun auch der Tod an uns heran. D a ß der alte Onkel Jonas Rothmann, der eine Zeitlang in unserem Hause gelebt und den ich sehr gern hatte, damals mit einundneunzig Jahren im Altersversorgungsheim starb, war nur ein Tribut an die Zeit, ebenso wie der Tod der Großmutter meiner Frau, Auguste Katz, die auch ein gesegnetes Alter erreicht hatte. Ich war mit ihr immer gut ausgekommen. Dagegen war es schon tragischer, daß der Professor Reincke-Bloch, dem ich in den letzten Jahren wissenschaftlich näher getreten war, verhältnismäßig jung an einer Lungenentzündung starb. Bei Männern des Geistes schien es mir immer so, als ob der Tod ein besonders unerwünschter Gast sei, weil das in einem langen Leben erworbene Wissen mit ihnen in das Grab sank. Aber vielleicht ist auch da die Erneuerung durch den Generationenwechsel eine Notwendigkeit. [...] Nachdem der „Hermann von Salza" nun in Schreibmaschinenabschrift schön vorlag, hieß es, ihm jetzt den Weg zur Druckerschwärze zu erkämpfen. Nachdem ich mit dem Verlage von M. und H . Marcus wegen der Herausgabe meiner „Flotte Friedrichs I I . " eine Differenz gehabt hatte, entschloß ich mich doch, mit ihm wegen der Herausgabe dieses Buches in Verhandlungen zu treten. Es war immerhin der angesehenste wissenschaftliche Verlag in Breslau, der auch sehr gute Beziehungen zu Universitätskreisen hatte. Es ist Theodor Marcus auch geglückt, den „Hermann von Salza" in einer Reihe unterzubringen, welche die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur herausgab 6 5 . An der Spitze stand damals der Geheimrat Kroll, der sich sehr entgegenkommend erwies und den D r u c k durch Bewilligung eines größeren Zuschusses ermöglichte. Das Buch ist dann im Jahre 1930 erschienen und ist bisher 65
In der Schlesischen Gesellschaft hielt C o h n auch am 13. 12. 1928 einen
Vortrag über H e r m a n n von Salza. Vgl.
101. J a h r e s - B e r i c h t der Schlesischen
Gesellschaft für vaterländische C u l t u r 1928. Breslau 1929, S. 167.
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das letzte große wissenschaftliche Buch geblieben, das ich in Deutschland herausbringen konnte 6 6 . Das Jahr 1929 brachte die Gründung des Jüdischen Museums, an dem ich sehr interessiert war. Das Museum trat im Februar 1929 mit einer großen Ausstellung im Kunstgewerbemuseum hervor. Abgesehen davon, daß ich für den Katalog den historischen Teil geschrieben hatte, was ich schon erwähnte 6 7 , so lag jetzt die ganze Pressekampagne in meinen Händen. Ich habe eine große Anzahl von Artikeln nicht nur für fast alle jüdischen Zeitungen des großen Sprachgebietes, sondern auch für die meisten großen schlesischen allgemeinen Zeitungen geschrieben 6 8 . Damals nahm man auch in der nichtjüdischen Presse sehr gern von dieser Ausstellung Kenntnis, die ja gleichzeitig ein Stück Heimatgeschichte verkörperte. Mir hat diese Arbeit, obwohl sie wieder ein hohes M a ß geistiger Konzentration verlangte, sehr viel Freude gemacht. N u n sind diese Ausstellungsgegenstände, soweit sie nicht beschlagnahmt worden sind, längst in alle Welt zerstreut, und der gedruckte Katalog und jene Aufsätze sind wohl das, was die Zeiten am längsten überdauern werden. D e r Katalog ist später eine bibliographische Seltenheit geworden und dürfte heute im Antiquariatsbuchhandel nicht mehr zu haben sein. Ich habe diese Arbeit vor allem um der Sache willen übernommen, habe aber auch immer wieder bewundert, wie sich ein Mann wie Felix Perle in diese Dinge hineinfand, die doch abseits von seiner eigentlichen beruflichen Arbeit lagen. Der Winter [Anfang] des Jahres 1929 brachte eine gewaltige Kälte, wie wir ja überhaupt in den letzten Jahrzehnten manchmal außerordentliche Kältewellen zu überwinden hatten. Aber damals war es wenigstens noch so, daß man für den Privathaushalt genügend Kohlen zu kaufen bekam. Unser Johannesgymnasium mußte allerdings wegen Koksmangel schließen, da die Stadt die vorhandenen Koksmengen brauchte, um wenigstens die Krankenhäuser zu beliefern. Als meine Frau am 20. Februar ihren Geburtstag hatte, fuhren wir bis nach Scheitnig hinaus, stiegen an der Paßbrücke aus und gingen an der Oder entlang. Meine Frau Vgl. SV N r . 341. W . Cohn: Geschichte der Juden in Schlesien; in: Katalog der vom Verein „Jüdisches Museum Breslau" in den Räumen des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer veranstalteten Ausstellung «Das Judentum in der Geschichte Schlesiens» vom 3. Februar bis 17. März 1929, verfaßt von Erwin Hintze, Breslau 1929. Vgl. oben S.362. 6 8 Vgl. SV N r . 312-316, 318, 320, 322. 66 67
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hatte noch niemals einen großen Strom gefroren gesehen. In Berlin ist ja das Klima durch den Einfluß der See im allgemeinen schon milder. Wir konnten über den gefrorenen Fluß auf das linke Ufer hinübergehen, wo wir dann im Wappenhof einkehrten und uns bei einem kleinen Imbiß an einem großen Kanonenofen erwärmten. Es war übrigens der letzte Tag dieser großen Kälte; am nächsten Tage kam der Umschwung, und das Eis brach auf. Ich habe winterliche Kälte immer sehr gern gehabt. Heute in den Kriegsjahren ist das natürlich anders; wenn man dem Körper weder innerlich noch äußerlich die notwendige Wärme zuführen kann, dann überwiegen die Sorgen um den Alltag die Freude an der erfrischenden Kälte, die letzten Endes dem im Norden lebenden Menschen seine Gesundheit erhält. Wegen der Kohlennot mußten wir, da an und für sich die Schule geschlossen war, die Reifeprüfung im Elisabethgymnasium abhalten. Die Räume waren mir ja gut vertraut. Trotz der gesundheitlichen Warnungen, die ich erfahren hatte, konnte ich es doch nicht lassen, weiter zu arbeiten. Aus meiner Beschäftigung mit Hermann von Salza erwuchs noch eine weitere Untersuchung: „Hermann von Salza im Urteil der Nachwelt", die dann im Elbinger Jahrbuch erschienen ist 69 . Außerdem schrieb ich für meine Reihe der sozialistischen Jugendschriften einen „Wilhelm Liebknecht" 70 . Es ist das die letzte Schrift in dieser Reihe geworden. Wilhelm Liebknecht ist bekanntlich der Kampfgenosse von August Bebel gewesen und eine Persönlichkeit, die mir menschlich sehr nahe trat. Er war so ganz anders als Karl Liebknecht. Daneben trieb ich damals viele paläographische Studien, das heißt, ich beschäftigte mich mit den mittelalterlichen Schriftzeichen, weil ich damals stark damit rechnete, an das Historische Institut nach Rom zu kommen. In diesem Falle hätte ich viel Urkunden zu entziffern gehabt. Diese H o f f n u n g wurde unter anderem auch dadurch enttäuscht, daß Baethgen, der sich in Oslo so sehr für meine Zukunft interessiert hatte, als ordentlicher Professor nach Königsberg berufen worden war. Damals war ich sehr ehrgeizig, und wenn ich hörte, daß ein Mensch in meinen Jahren vorwärts kam, so gönnte ich ihm das gewiß von Herzen, aber es tat mir doch auch leid, daß ich es eben nicht schaffen konnte. N u n , inzwischen hat man das ja auch alles überwunden. Von manchen wenig erfreulichen Dingen will ich nur im Vorbeigehen sprechen. Unsere alte Firma „Geschwister Trautner Nachfolger", an der 69 70
Vgl. SV Nr. 384. Vgl. SV Nr. 340.
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ich so sehr hing, kam damals vor allem durch das Verhalten eines Neffen, der sogar den Namen Cohn abgelegt hatte, immer mehr in Schwierigkeiten, die dann schließlich 1932 leider zum Konkurs führten. Durch mein Amt als Testamentsvollstrecker war ich mit allen diesen Dingen verbunden. Ich stand meinen Geschwistern trotz aller sonst schon so in Anspruch nehmenden Arbeit zu den schwierigsten Verhandlungen zur Verfügung. O f t habe ich es allerdings bitter empfunden, daß, wenn es um meine Interessen ging, manche von ihnen nicht in gleicher Weise bereit waren, an ihnen teilzunehmen. In die Werkstätte eines geistigen Arbeiters haben sie nicht alle einzublicken vermocht. Doch liest man ja immer wieder, daß es den Menschen häufig so gegangen ist, daß der engere Kreis sie am wenigsten anerkannt hat. Innerhalb der Arbeit, die das Jüdische Museum mit sich brachte, fand auch eine Tagung der jüdischen Museumsvereine Deutschlands statt. Bei dieser hielt der junge Kunstgelehrte Dr. Hallo aus Kassel einen Vortrag. Hallo, der aus einer alten jüdischen Handwerkerfamilie stammte, war eine große Hoffnung jüdischer Forschung; er ist leider sehr früh gestorben. Wenn ich die Namen überfliege, die ich mir von den Teilnehmern notiert habe, so bin ich einem von ihnen, dem damals in München ansässig gewesenen Kunsthistoriker Harburger Jahre später in Tiberias begegnet, wo er eine Pension betrieb. Erich Toeplitz, der von der Frankfurter Gesellschaft zur Erforschung jüdischer Kunstdenkmäler angestellt war und der damals den Eindruck machte, als ob er Verfolgungswahn hätte, ist auch früh gestorben. Was mag aus Meyer Balaban geworden sein, dem bedeutenden jüdischen Historiker, der damals Professor in Warschau war? O b er heute im Ghetto eingeschlossen lebt, ob er zugrunde gegangen ist oder rechtzeitig auswandern konnte? 71 Eine sehr interessante Persönlichkeit war auch Sandor Wolff aus Eisenstadt, der sich um die Erforschung der dortigen Judengemeinde große Verdienste erworben hat. Eisenstadt ist eine besonders alte Judengemeinde, die bis in die Gegenwart ihr Eigenleben bewahren konnte, und sich an jedem Sabbatabend durch Vorlegen der Kette von der Welt abschloß. Wolff gehörte zu den Menschen, die für eine solche Idee, die Erforschung der Heimatgemeinde, ihre ganze Persönlichkeit einsetzen konnten. Von der großen Menge der Juden hat es im Grunde doch nur eine verhältnismäßig kleine Zahl gegeben, die über den Alltag hinaus Freude und Erholung darin fanden, daß sie etwas trieben, was bleibenden Wert besaß. Aber vielleicht ist diese Einschränkung für die Menschen überhaupt zu machen. 71
Meyer Samuel Balaban, geboren 1877 in Lemberg, starb am 24. 12. 1942 im Warschauer Ghetto.
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VIII. Kapitel
In diesem Winter 1928/1929 war ich zu Vortragsreisen nur wenig außerhalb von Breslau. Es war auch so genug Arbeit. Immerhin habe ich auf einer oberschlesischen Reise Hindenburg besucht und im Anschluß daran Kattowitz. Ich sprach dort über das Judentum in der Geschichte Schlesiens. Das gleiche Thema, das eben aus meiner Arbeit für den Jüdischen Museumsverein erwachsen war, behandelte ich auch in einem Vortrag des Vereins für Geschichte Schlesiens, in dem ich eben nur dieses eine Mal gesprochen habe 72 . Dieser Vortrag hatte übrigens für den Leiter des Schlesischen Geschichtsvereins ein unangenehmes Nachspiel. Es war schon eine Zeit, in der man es in manchen Kreisen nicht gern sah, wenn das Judentum in allzu günstiger Beleuchtung herausgestellt wurde. Archivdirektor Dersch, der damals den Verein leitete, ist dann später nach dem Westen versetzt worden. Man behauptete, daß eben diese Versetzung auch mit meinem Vortrag in Zusammenhang stand. Was daran wahr ist, konnte ich niemals feststellen 73 . In Kattowitz beobachtete ich, wenn ich in größeren Abständen hinkam, auch immer die Fortschritte, die der O r t gemacht hatte. Äußerlich sah man manches, was solche Fortschritte bewies. So fuhr ich auf der Rückreise, anstatt mit der ziemlich vorsintflutlichen Straßenbahn mit einem modernen Autobus. Aber in den Gesprächen mit Dr. Aronade, mit dem mich eine aufrichtige Freundschaft verband, hörte ich doch immer wieder, wie gering der polnische Staat verankert war und daß alles nur auf sehr unsicheren Füßen stand. Der Historiker wird wohl sagen müssen, daß der Zusammenbruch eines Staates niemals nur aus äußeren Gründen erfolgt, sondern daß auch innerlich Verfallserscheinungen vorhanden sein müssen. Aber eine Betrachtung darüber würde den Rahmen dieser Erinnerungen sprengen. Auf der Rückreise von Kattowitz kehrte ich bei Frau Böhm in Beuthen ein, die sich immer herzlich freute, wenn sie mich wiedersah. In unserem häuslichen Kreise ging alles erfreulicherweise seinen normalen Weg, wenn auch mancherlei Spannungen, die in unseren Familienverhältnissen lagen, nicht ausblieben. Ernst bestand damals seine Aufnahmeprüfung in die Sexta des Johannesgymnasiums. Die Grundschuljahre auf der Jüdischen Schule waren für ihn vorbei. Ich machte mir damals in meinem Tagebuch die Anmerkung: „Die erste Prüfung seines Lebens hat er bestanden. Welche schwereren werden ihm noch später bevorstehen?" N u n , das ist in reichlichem Maße in Erfüllung gegangen. Soweit ich sein Leben heute aus großer Entfernung 72 73
A m 12. Dezember 1932. Vgl. unten S. 655. Vgl. unten S. 656.
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verfolgen kann, scheint er die großen Prüfungen, die ihm bisher bestimmt waren, auch bestanden zu haben. E r ist ein Mann von besonderer Zuverlässigkeit geworden und wird hoffentlich seinen Weg weiter gehen. Solange die Kinder noch im Hause waren, freute man sich an jedem kleinen Fortschritt, an jeder Etappe ihres Daseins, und das gab dann immer die Kraft, auch Schwierigkeiten des Alltags zu überwinden. Ostern [1929] fuhr ich für ein paar Tage nach Krummhübel und zwar in das Logenheim. Es war dasselbe Haus, das früher „Giersdorf" hieß und das mir schon von einer anderen Reise her bekannt war. Glücklicherweise waren sehr wenig Menschen da, und so konnte ich vor allem die Einsamkeit finden, die ich suchte, um nach der großen Gehirnarbeit des Winters zu mir selbst zu kommen. Es war zwar schon April, aber doch noch völliger Winter. Es lag hoher Schnee, und der Schneesturm brauste durch die Berge. Aber wenn man körperlich gesund ist, gibt es doch eigentlich nichts Schöneres, als sich durch solchen Sturm in die H ö h e zu kämpfen und dann vielleicht wieder im Rodelschlitten in kurzer Zeit herunterzusausen. Ich habe es oft in diesen Blättern betont, daß mir das Riesengebirge ein Stück Heimat ist und daß ich nicht das Gefühl hatte, hier ein Fremder zu sein. Ich war glücklich, wieder einmal an der Kirche Wang stehen zu können und hinunterzuschauen. Es lag damals so hoher Schnee, daß es unmöglich war, den Friedhof um die Kirche zu betreten, der besonders stimmungsvoll ist. Einmal kletterte ich ganz allein nach der Schlingelbaude und rodelte dann nach Krummhübel hinunter. In dem Heim war es recht gemütlich. Mit Hilde Lomnitz, einer Tochter jener Dame, die im Auftrage der Loge das Heim bewirtschaftete, verstand ich mich sehr gut. Wenn draußen der Schnee niederrieselte und drinnen das Grammophon den damals beliebten Schlager „Wenn der weiße Flieder blüht" spielte, wagte ich es sogar, nach diesen Klängen zu tanzen. Ich habe in Krummhübel auch viel gelesen. Damals beschäftigten mich besonders jene Bücher, die das Erlebnis des Krieges behandelten. Ich habe dann über diese damals vieldiskutierten Romane auch mancherlei Vorträge gehalten. Im Mittelpunkt stand besonders das Buch von Remarque „Im Westen nichts Neues" 7 4 ; aber auch das Buch von Glaeser „Jahrgang 1902" 7 5 , ferner das von Renn „Der Krieg" 7 6 . Heute werden diese Bücher selbstverständlich nicht mehr genannt. Immerhin dürfte es interessant sein, später 74 75 76
E. M. Remarque: Im Westen nichts Neues. Berlin 1929. E. Glaeser: Jahrgang 1902. Berlin 1928. L. Renn: Krieg. Frankfurt a. M. 1929.
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VIII. Kapitel
einmal festzustellen, ob ihnen noch eine Renaissance bestimmt war. So etwas kann man niemals vorher wissen. Die Literaturgeschichte beweist, daß manches nach vielen Jahrzehnten, wenn der Geschmack wieder ein anderer geworden ist, noch einmal aufsteigt. Und es kann ja leicht sein, daß nach dieser Zeit des zweiten großen Weltkrieges dann für längere Zeit eine Epoche wirklich friedlicher Gesinnung kommt und man wieder über Bücher sprechen wird, die bei aller realistischen Darstellung des Krieges doch den Krieg als solchen ablehnen. Es war mir in jenen Jahren ein innerliches Bedürfnis, und es geschah nicht etwa, weil ich darüber zu reden hatte, daß ich alles, was an bedeutsamen Neuerscheinungen herauskam, auch wenn irgend möglich las. Ich wollte nicht neben meiner Zeit leben; ich wollte an den Schwingungen, die sie mit sich brachte, regen Anteil nehmen. [...] Im Hause von Friedrich B l o c k lernte ich auch den Vizepräsidenten des Provinzial-Schulkollegiums, Irmer, kennen, eine besonders hochstehende Persönlichkeit, die alles andere war als ein verknöcherter Verwaltungsbeamter. Irmer war ein vielseitig interessierter Mensch, der auch literarisch tätig war. O f t war das ein Maßstab für die Bewertung von Menschen, ob sie neben dem, was die tägliche Amtsarbeit mit sich brachte und was selbstverständlich erledigt werden mußte, auch noch die Kraft fanden, anderes zu treiben, was über den Alltag hinausging. An diesem Abend sprach ich auch wieder den Ministerialrat Hubrich, den ich schon erwähnt habe und der sich besonders für meine römische Angelegenheit einsetzte. Er versprach, den Dezernenten im Ministerium, Oberregierungsrat Leist, dafür zu interessieren, und er hat dieses Versprechen auch gehalten. Es kam dann später (und das will ich hier gleich erzählen, um die Angelegenheit bis zum Ende darzustellen) zu einem Briefwechsel mit dem Geheimrat Paul Kehr, der nach dem Fortgang von Baethgen wieder die Leitung des Historischen Instituts in die Hand genommen hatte. Der Briefwechsel war zunächst ganz freundlich; aber nachher verlief er doch ohne Resultat 7 7 . Paul Kehr wollte, daß ich ohne meine Familie nach R o m übersiedelte, was ich aber durchaus nicht wollte. D e r damalige Archivrat Dr. Randt vom Breslauer Staatsarchiv, der später in Breslau Archivdirektor wurde und heute am Institut für Deutsche Ostforschung in Krakau
Vgl. oben S. 441 f. und S. 499. Eine Nachfrage beim Deutschen Historischen Institut in R o m erbrachte keine weiteren Aufschlüsse, „weil das Institutsarchiv dank Kehrs eigenwilliger Regentschaft gerade in den kritischen Jahren sehr lückenhaft ist." Freundliche Auskunft vom 5. 1. 1993. 77
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arbeitet78 und der Kehr gut kannte, riet mir im Grunde ab. Er meinte, daß Kehr einen nur stark für seine eigenen Zwecke ausbeuten würde und daß man wenig Zeit für seine eigene Wissenschaft haben würde. Nun, es ist wenigstens sicher, daß aus den Dingen nichts geworden ist; andererseits aber konnte ich doch feststellen, daß ich bei Männern sehr viel Hilfsbereitschaft gefunden hatte, die ich doch eigentlich kaum kannte und auf deren Hilfe ich keinen Anspruch hatte. Es war immer wieder Friedrich Block, der diese Herren, die damals an leitenden Stellungen standen, für mich zu interessieren wußte. Die Reifeprüfung war erfreulich ausgegangen; besonders in meinen Fächern war ich recht gut abgeschnitten. Es freute einen schließlich doch, wenn das Mühen langer Jahre von Erfolg gekrönt war. Zu den Abiturienten dieses Jahres gehörte Heinz Sandberg, der Sohn des Rechtsanwalts Sandberg und Enkel des einstmals in Breslau sehr berühmt gewesenen Internisten Sandberg. Er ist auch ein Abkömmling des großen Botanikers Ferdinand Cohn. Die Abschiedsfeier der Abiturienten, die üblich war, fand diesmal nicht in einem Lokal, sondern in der Wohnung von Sandbergs statt, erfreulicherweise ohne alkoholische Exzesse, aber sonst sehr harmonisch. Auch dieser Jahrgang ist nun im wörtlichste Sinne über alle vier Enden der Welt verstreut. Beim Sederabend des damaligen Passahfestes konnte nun schon Ruth die ersten Sätze der üblichen Fragen sagen. Den größten Teil aber sagte noch Ernst, und das Tischgebet verrichtete Wölfl. Es war doch ein großer Stolz, wenn drei Kinder sich tätig beteiligen konnten. Oft war an diesen Abenden auch Bernhard Rothmann unser Gast, der dann auf so traurige Weise aus dem Leben gegangen ist. Als das neue Schuljahr einsetzte, bekam ich im Stundenverteilungsplan 22 Stunden in der Oberprima. Der Nichtschulmann kann es wohl kaum ermessen, was das für eine Arbeit bedeutet. Ich hatte es meist auch mit Fächern zu tun, die ich mir ganz neu erst aufbauen mußte. Ich habe es durchaus vermieden, immer denselben Sauerteig wiederzukäuen, sondern habe immer versucht, wenn es irgend ging, den Unterricht neu und lebendig zu gestalten. [...] Der genaue Name lautete „Institut für Deutsche Ostarbeit". Das am 20. April 1940 (dem Geburtstag des „Führers") von Generalgouverneur Hans Frank gegründete und ihm unterstellte Institut diente der wissenschaftlichen Bemäntelung territorialer und völkischer Ansprüche auf Polen. An seiner Eröffnung wirkten zahlreiche Breslauer Gelehrte, unter ihnen Hermann Aubin, mit. Vgl. Jomsburg 4 (1940), S. 279-281. Über Randt vgl. W . Leesch: Die deutschen Archivare 1500-1945. Biographisches Lexikon. München 1992, S. 473. 78
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VIII. Kapitel
Durch meine Arbeiten auf dem Gebiete der jüdischen Geschichte Schlesiens war ich darauf aufmerksam geworden, daß sich im Breslauer Polizeipräsidium die Staatsbürgerrolle der Breslauer Juden von 1812 befand. Zum allgemeinen Verständnis möchte ich hier einschalten, daß der Staatskanzler Hardenberg damals verfügte, daß alle Juden, die sich im März 1812 und spätestens bis zum September jenes Jahres bei den Polizeistellen meldeten, für Staatsbürger erklärt würden, ohne Rücksicht auf frühere Herkunft 7 9 . Diese Staatsbürgerrolle ist ein einzigartiges Material zur Erfassung des jüdischen Personenstandes. Ich hatte bei dem Polizeipräsidenten den Antrag gestellt, sie benutzen zu dürfen, und im Frühjahr des Jahres 1929 bekam ich nun die Genehmigung. Bei dieser Gelegenheit lernte ich den Polizeirat Kurt Gröba kennen. Auch das war eine interessante Persönlichkeit. Er hatte nichts von einem Polizeibeamten an sich, war ein feingeistiger Mensch, vor allem nationalökonomisch interessiert. Er war ein persönlicher Freund des Professor Andreae. Gröba wies mich in ein Zimmer, wo der Polizeiinspektor Heinrich arbeitete und wo ich die Staatsbürgerrolle benutzen konnte. Ich habe dann mehrere Monate im Polizeipräsidium gearbeitet und einen Teil selbst exzerpiert. Später hat dann auf meinen Antrag der Polizeipräsident genehmigt, daß die Staatsbürgerrolle in die Breslauer Stadtbibliothek entliehen wurde. Dort hat dann eine Hilfskraft der Synagogengemeinde, die mir auf meinen Antrag zur Verfügung gestellt wurde, einen großen Teil abschreiben können. Die Abschrift besitze ich noch heute. Sie hat mir häufig bei wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch bei Auskünften für Familienzwecke gute Dienste geleistet 80 . Zuerst kam ich nicht allzuviel zum Arbeiten, denn der Polizeiinspektor Heinrich war ein sehr gesprächiger Herr, und für ihn war es durchaus nicht die Hauptsache, daß viel gearbeitet wurde. Diese Verwaltungspolizei arbeitete auch nicht in Uniform. So kam es, daß mich die Besucher häufig für einen Polizeibeamten hielten, und ich auf diese Weise manchmal auch Gelegenheit hatte, die Psyche der Menschen von dieser Seite her zu studieren. Solche mittleren Verwaltungsbeamten machten sich das Leben nicht allzu schwer. Die Hauptsache war, daß die Akten nicht allzu rasch erledigt wurden, weil es nachher eben neue gab. Wie oft habe ich damals hören müssen, wenn der Herr in der Kantine verschwand: „Nicht wahr, Sie sind so freundlich und sagen, wenn jemand Das bekannte Emanzipationsedikt für die preußischen Juden vom 11. März 1812 enthielt in § 3 eine solche Bestimmung. 8 0 Vgl. unten S. 566. 79
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kommt, daß ich nur rasch einmal austreten mußte". In diesem Falle wußte ich, daß ich ziemlich lange Zeit allein bleiben würde. Aber die Menschen, die bei der Polizei aus irgendeinem Grunde vorsprechen, sind begreiflicherweise nicht geneigt, aufzumucken, sondern fassen sich auch in Geduld, wenn sie längere Zeit zu warten haben. Ernsthaft gesehen ist trotzdem die Stellung dieser Verwaltungsbeamten eine sehr starke. Sie sind diejenigen, die in den Apparat am besten eingearbeitet sind und die keine Regierung, welche Richtung sie auch immer haben mag, entbehren kann. Und so muß man sich auch damit abfinden, wenn sie ihre Arbeit in sehr langsamem Tempo machen. Der Polizeiinspektor Heinrich hat mir übrigens bis zur Gegenwart durch alle Wechselfälle hindurch sein Interesse bewahrt. Er leitet gegenwärtig die Schankkonzessionsstelle. Es waren damals schon politisch sehr erregte Tage. Wenn ich im Polizeipräsidium arbeitete, so konnte ich oft beobachten, wie Transporte von Nationalsozialisten, die irgendwo in den Vororten von Breslau illegal geübt hatten, eingeliefert wurden. Auch schon in Krummhübel hatte ich Ostern merken müssen, wie sehr sich das Bild wandelte. Gerade als ich damals dort war, fand eine nationalsozialistische Versammlung statt, die Krummhübel sehr in Aufregung setzte. Auch der Antisemitismus war in diesem Orte im Steigen begriffen. Das war dort im Grunde nicht so erstaunlich, weil die Juden, besonders in den Jahren der Inflation, sehr in den Vordergrund getreten waren. Wenn ich mir damals in mein Tagebuch notierte, daß Krummhübel ohne Juden sich nicht halten könnte, so war das aber doch ein entschiedener Irrtum. Diese Orte haben sich auf ein ganz anderes Publikum umzustellen verstanden. Wir haben uns häufig eingeredet, daß es ohne uns nicht geht; aber das ist doch wohl nicht der Fall. Gelegentlich sprach ich, wenn so ein Transport gerade im Hofe des Polizeipräsidiums angekommen war, auch mit Gröba über diese Dinge, obwohl ich mir im allgemeinen eine große Reserve auferlegte. Dieser Polizeirat war an sich ein loyaler Beamter der Weimarer Republik. Um so mehr machte es auf mich Eindruck, als er mir einmal in seinem Amtszimmer sagte, daß er der Meinung sei, daß diese Bewegung doch eigentlich der Herr der Lage wäre. Ich sah ihn etwas erstaunt an, denn die meisten von uns waren damals noch nicht geneigt, sie ernst zu nehmen; aber Gröba hat doch den größeren Weitblick bewiesen. Man spürte ja auch in der Schule, mit welcher fanatischen Begeisterung sich einzelne der jungen Leute dieser Richtung in die Arme warfen. Es schien auch so, als ob all das, was zur Abwehr von der anderen Seite geschah, nicht ordentlich durchgriff.
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VIII. Kapitel
Der Polizeirat Gröba war auch sonst sehr an meinem Schicksal interessiert. Einmal ließ er mich durch den Polizeiinspektor Heinrich in sein Amtszimmer bitten und sagte mir, daß jetzt die Möglichkeit bestände, über den Kopf der Fakultät hinweg Honorarprofessoren an der Universität zu bestellen. Der Dozent am Jüdisch-Theologischen Seminar, Dr. Israel Rabin, sei in dieser Richtung sehr beflissen, aber man möchte lieber mich ernennen. Ich hatte damals den Eindruck, daß Professor Andreae, der mit Gröba sehr befreundet war, diesen zu dieser Unterredung veranlaßt hatte. Damals schwebte auch auf Veranlassung von Friedrich Block die Frage, ob ich zum Fachberater am Provinzialschulkollegium für Geschichte ernannt werden solle. Da außerdem noch meine Berufung an das Historische Institut in Rom in Frage kam, bestanden drei Zukunftsmöglichkeiten. Doch war ich im Laufe der Zeit bei all den Schwierigkeiten, die in meinem Namen und in meinem Glauben lagen, schon etwas skeptisch geworden, und ich notierte damals in meinem Tagebuch: „Schließlich werden alle drei schiefgehen". Es ist dies eine der wenigen Prophezeiungen in meinem Leben, mit der ich recht behalten habe. Auf Wunsch von Friedrich Block nahm ich in jenen Monaten (es war das Frühjahr 1929) an einem Empfangsabend des Philologenvereins teil, den dieser im Festsaal des Hauptbahnhofs veranstaltete. Freiwillig wäre ich zu so etwas niemals gegangen. Es war auch reichlich spießig, wenn man die würdigen Herren nach der Rangordnung aufgebaut sah. Ich war nicht der einzige, der so empfand. Auch der Kollege Adam, der ein etwas modernerer Mensch war, empfand in gleicher Weise. Gerade die Philologen haben die Zeit sehr verschlafen, was sich später, wie so manches andere, bitter rächte. Einen schönen Frühjahrsausflug machte ich mit Ruth und Ernst nach dem Zobten. Ich war immer besonders stolz, wenn ein Kind so weit war, daß es mitwandern konnte. Wir hielten uns an diesem Tage möglichst abseits von den sonntäglichen Menschenmassen, die das Zobtengelände bevölkerten, und lagerten im Walde, wo wir uns unsere Feldflasche im Bache spülten und aus den mitgenommenen Vorräten aßen. Beide Kinder hatten eine große Freude an der Natur, die ja auch ihre Zukunft bestimmt hat. Wir gingen dann durch das herrliche Schalkethal und landeten in Ströbel. Dort kam ich mit einem Arbeiter ins Gespräch, der mir über seine Lohnverhältnisse berichtete. Er verdiente damals achtundsechzig Pfennig die Stunde, womit er seine Familie zu ernähren hatte. [...] Wissenschaftlich tauchte damals der Plan auf, meine flottengeschichtlichen Arbeiten wieder aufzunehmen. Beim Durchsehen meiner Notizen stieß ich auf viel Material, das ich zur Flotte Karls I. von Anjou
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gesammelt hatte, des Königs, der nach der Hinrichtung Manfreds in Neapel Herrscher in Unteritalien und Sizilien geworden war. Im Laufe der Zeit ist dann aus dieser Arbeit auch etwas Größeres entstanden. Diese Untersuchungen sind in vielen Fortsetzungen in italienischer Sprache in einer wissenschaftlichen Zeitschrift Catanias erschienen81. Um zu Pfingsten wieder etwas herauszukommen, unternahm ich mit meiner Frau eine besonders schöne Rucksackwanderung durch das Riesengebirge. Für den Schlesier ist dieser Rucksack in guten Tagen ein besonders erfreulicher Reisebegleiter geworden, nach 1933 aber für den Juden das Gepäckstück, von dem er hofft, daß er es auf alle Fälle mitnehmen kann, den Friedhof ausgenommen. Die Verkehrsverhältnisse nach dem Riesengebirge hatten sich im Laufe der Zeit sehr verbessert. Im elektrischen Zuge fuhren wir bis nach Schreiberhau hinauf. Vor vielen Jahrzehnten mußte man noch von Petersdorf mit dem Wagen hinauffahren. Nun glitt der Zug geräuschlos und ohne Rauchwolken zu verbreiten, die Serpentinen hinauf. Schreiberhau ist ja eines der größten Dörfer Deutschlands und verfügt über vier Bahnhöfe. Am Bahnhof Mittel-Schreiberhau mit seiner Sagenhalle weht die Luft der Künstlerkolonie. Wir hielten uns aber in Ober-Schreiberhau nicht auf, kauften nur einige Lebensmittelvorräte ein, versahen uns mit etwas tschechischem Geld und wanderten dann auf die Berge. An der Josephinenhütte ging es vorbei und dann durch die Zackelklamm, die meine Frau noch nicht kannte. Gewiß, der Zacken muß immer gestaut werden, damit er dann tosend hinunterstürzen kann, und sicher gibt es in den Alpen Gewaltigeres; aber für den Schlesier ist der Zackelfall doch etwas, an dem er besonders hängt. Von der Zackelfallbaude hatten wir einen schönen Blick auf das Tal, und nach kurzer Rast ging es dann weiter zur Neuen Schlesischen Baude, von wo der Blick nun schon bis zum Hochstein reichte. Unser Tagesziel war die Schneegrubenbaude. Sie liegt in der schon respektablen Seehöhe von 1490 Metern und ist eine der höchsten Gaststätten in den Bergen. Wie wir hinaufkamen, hüllte sie sich in einen dichten Nebel. Wir hatten das Gefühl, auf einer Insel zu sein. Ich liebe diese Stimmungen besonders; sie geben den Eindruck der Abgeschlossenheit von der ganzen Welt, und ich habe mich ja immer gern auf mich selbst zurückgezogen. In diesen Berggasthäusern übernachtet man einfach und bescheiden, aber doch sauber und ordentlich. Es war übrigens an diesem Abend eine erhebliche Kälte, trotzdem das Frühjahr ja schon weit vorgeschritten war. Wenn man abends am Baudentisch sitzt, schließen sich die Menschen leichter auf. 81
Vgl. SV Nr. 321, 368, 382, 387, 388, 401.
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Wir kamen zufällig mit einer Gesellschaft zusammen, die viel Interesse für den Rundfunk hatte. Ich erzählte von meinen Vorträgen im Sender. Sie sprachen besonders begeistert von Erich Landsberg, der damals immer den „Blick in die Zeit" gab und der später nach dem Umsturz schleunigst Breslau verlassen hat. Als wir an diesem Abend in der Baude saßen und draußen die Nebelmassen vorbeiwallten, da mußte ich an das Wort Gerhart Hauptmanns denken: Gequollne Wolken ziehen übern Grat Und lassen ausgequetscht wie nasser Schwamm Ihr Wasser unter sich 82 . Am nächsten Morgen wanderten wir frisch und ausgeruht weiter. Zunächst ging es an die Elbquelle, wo wir unsere Feldflasche mit dem Quellwasser füllten. Wenige Monate waren es erst her, da hatte uns ein stolzes Schiff die Mündung der Elbe hinangetragen. Nun standen wir an der Stelle, wo sie ihren Ursprung nahm. Dann ging es ohne Rast an der Elbfallbaude vorbei, von der ich wußte, daß sie einen stark tschechischen Charakter hatte und hinunter nach Spindelmühle. Dieser Abstieg war besonders schön. Von überall her kamen Bächlein, die die junge Elbe speisten. Wir waren ziemlich einsam im Walde und konnten uns der Stimmung hingeben. In Spindelmühle blieben wir zwei Nächte und hatten im Haus Hollmann mit dem Nachtquartier rechtes Glück. Wir waren uns beide immer damit einig, daß wir uns etwas Bescheidenes suchten, wo man abends auf einer Veranda sitzen konnte und nicht gezwungen war, Konversation zu machen. Ich fand Spindelmühle, das die Tschechen in „Spindlermühle" umgenannnt hatten 83 , sehr verändert, aber meines Erachtens nicht zu seinem Vorteil. Man hatte den Eindruck, daß es ein mondäner Vorort von Prag geworden war; es war etwas hineingekommen, was in den Ort gar nicht paßte. Unsere schlesischen Berge vertragen die Menschen sehr schlecht, die nur sich und ihren Betrieb mitbringen. Nachdem wir uns in Spindelmühle gut ausgeruht hatten, wanderten wir nach Johannisbad weiter. Der Aufstieg über den Planur zu den Keilbauden war ziemlich beschwerlich, aber im Walde dann sehr abwechlungsreich. Am Schluß war noch ein schroffes Stück zu überwinden; doch gingen wir an den Keilbauden vorbei. Es gibt gewiß Wanderer,
82
Etwas frei zitiert aus dem 1. Akt des Dramas „Die versunkene Glocke".
83
Tschechisch eigentlich „Spindleruv Mlyn".
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die keine Gaststätte auslassen; aber zu denen gehörten wir nicht. Erst in der Fuchsbergbaude kehrten wir ein; das letzte Stück dorthin war wieder eine Wanderung durch den Nebel. Oben bemerkten wir eine rege Bautätigkeit. Wenn man aus dem Reiche kam, fiel einem doch auf, daß die Tschechoslowakei ein Staat war, der durch keine Reparationen belastet wurde. Die Bewohner da oben waren aber alle deutsch und haben ihr Deutschtum durch diese für sie schweren Jahre durchgehalten. Wenn man als Jude durch diese Gegenden wanderte, so befand man sich immer in einem Gewissenskonflikt. Es war mir auf der einen Seite bekannt, daß die deutsch-böhmischen Heimatvereine immer mehr ins antisemitische Fahrwasser steuerten, und es war mir andererseits bekannt, daß die tschechoslowakische Republik eine sehr judenfreundliche Politik betrieb. Und trotzdem - und daraus mag man eben die ganze Problematik unseres Daseins in der Zerstreuung entnehmen - fühlte man stärker mit den Deutschen des böhmischen Riesengebirges, die mit allen Kräften sich gegen die aufgezwungene Tschechisierung wandten. [...] Wir mußten die Reise abbrechen, denn wir bekamen aus Breslau die Nachricht, daß Wölfl ziemlich ernstlich an Masern erkrankt war, und Elternpflichten gehen ja immer vor. [...] Damals bekam ich einen sehr schönen wissenschaftlichen Auftrag. Ich sollte für die Quellensammlung, die im Verlag von B. G. Teubner schon seit vielen Jahren erschien, ein Quellenheft über Kaiser Friedrich II. zusammenstellen. Diesen Auftrag übernahm ich besonders gern. Die damit verbundene Arbeit war ja insofern nicht so groß, als ich gerade dieses Material aus jahrelangen Studien einigermaßen zu beherrschen glaubte. Andrerseits bekam ich gerade dadurch die Möglichkeit, mit diesem Büchlein an weitere Kreise heranzukommen. Der Geschichtsunterricht an den deutschen höheren Schulen war damals in einer Umstellung begriffen. Im Sinne des Arbeitsunterrichtes bemühte man sich, die Schüler der höheren Klassen die Ergebnisse des Unterrichts aus den Quellen sich selbst erarbeiten zu lassen. Selbstverständlich war das nicht für alle Epochen möglich, aber immerhin sollten die jungen Leute, von denen wir hofften, daß sie später einmal wissenschaftliche Arbeiter werden würden, es auch lernen, in die Werkstätte der Geschichtswissenschaft hineinzugehen. In diesem Sinne sollte auch mein Quellenheft wirken, und es hat sich wohl dann auch nach seinem Erscheinen im Jahre 1930 an den deutschen Schulen gut eingeführt und ist mit einer verhältnismäßig hohen Auflage rasch vergriffen gewesen 84 .
84
Vgl. SV Nr. 338.
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Auch hier hat das Jahr 1933 der Entwicklung ein plötzliches Ende bereitet. Nicht nur, daß an eine Neuauflage des Heftes nicht mehr zu denken war, so ist auch der Geschichtsunterricht wieder in die alten Bahnen zurückgelenkt, durch den Lehrervortrag eine bestimmte Gesinnung zu erzeugen. Doch habe ich an diesen Dingen ja nicht mehr verantwortlich mitzuarbeiten gehabt. Die Korrespondenz über dieses Buch brachte mich mit dem Verlagsleiter des Verlages Teubner oder besser der betreffenden Abteilung Dr. Aengeneyndt in Verbindung, dem ich schon auf dem Breslauer Historikertage nähergetreten war und der eine sehr aufgeschlossene Persönlichkeit gewesen ist. Es war doch eine große Freude, für einen solch bedeutenden Verlag zu arbeiten, dem auch drucktechnisch ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung standen, als etwa dem Verlag M. und H. Marcus. Und schließlich brachte dieses Büchlein auch eine erwünschte Einnahme, was bei wissenschaftlichen Arbeiten sehr selten ist. Es hätte mir noch eine größere Einnahme gebracht, wenn das nicht nach 1933 alles vorbei gewesen wäre. Ich habe selbstverständlich in meinem Leben, und das wird man wohl auch aus diesen Blättern gespürt haben, nie sehr nach irdischem Erwerb gestrebt, aber nun wäre man allmählich in die Jahre gekommen, wo man die Früchte dessen, was man sich in früherer Zeit erarbeitet hatte, hätte genießen können. Aber das ist wieder ein Schicksal, das man mit Hunderttausenden von Juden zu teilen hat und über das man gewiß nicht klagen darf. Gerade im Jahre 1929 war ich im schönsten Aufstieg begriffen. Eine Arbeit förderte immer die andere, und mit diesen Arbeiten wuchs auch die Schwungkraft der Seele. Sehr viel Freude machte mir auch die Herausgabe der Staatsbürgerrolle der Breslauer Juden. Ich habe ja schon davon erzählt, daß ich im Polizeipräsidium sie selbst abgeschrieben habe beziehungsweise abschreiben ließ. Nun handelte es sich darum, den dort erwähnten Persönlichkeiten im einzelnen nachzugehen und ihre Spuren festzustellen. Diese Arbeit führte mich dann ins Breslauer Stadtarchiv, wo mir der damalige Leiter Professor Wendt außerordentlich behilflich war 85 . Auch im Archiv der Synagogengemeinde fand ich in der Person des damaligen Leiters, des
Wendt machte Cohn die reiche Personaliensammlung Breslauer Bürger im Stadtarchiv zugänglich. 85
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Rabbiners Dr. Heppner, jede Unterstützung 86 . Der erste Teil dieser Staatsbürgerrolle ist sodann in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland erschienen 87 . Leider ist niemals die gesamte Arbeit herausgekommen. Sie wäre von größter Bedeutung für die jüdische Familienforschung gewesen, aber es hat sich niemand gefunden, der sie finanziert hätte. Ich war nicht der Mann dazu, der bei reichen Juden angeklopft hätte, um darum zu bitten. Die Veröffentlichung dieser Staatsbürgerrolle mit einem großen Anmerkungsapparat hätte die Familiengeschichte der Breslauer Juden und der vieler anderer Orte auf eine ganz sichere Grundlage gestellt. Um nur eins aus der Fülle des damals erschlossenen Materials herauszuheben: Ich konnte den Vater Ferdinand Lassalles, Heymann Lassal, als Breslauer Handlungsgehilfen feststellen und sogar das Haus, in dem er gewohnt hat 88 . Es steht noch heute als eines der schönsten Bürgerhäuser der Stadt Breslau; es ist die sogenannte Oppenheimersche Stiftung am Blücherplatz. Bei diesem Oppenheimer war der alte Lassal in Stellung. Doch ich verliere mich in Einzelheiten und will zur Hauptlinie zurückfinden. Der Lehrkörper der Breslauer Städtischen Volkshochschule veranstaltete in jedem Semester eine Lehrerberatung im Breslauer Rathaus. Das Eindrucksvollste an diesen Beratungen war das Rathaus selbst, das in seiner historischen Größe immer wieder auf einen wirkte, sooft man es auch betrat. Bei diesen Beratungen selbst ist wie bei allen derartigen Beratungen im Grunde herzlich wenig herausgekommen. Vielleicht war es nicht ohne Bedeutung, daß sich die Mitglieder dieses sehr großen Lehrkörpers ein wenig kennenlernten; aber schließlich saßen dann doch immer die zusammen, die sich sowieso nahestanden. An der Spitze der Volkshochschule stand Dr. Mann, dessen Spur ich nach 1933 auch völlig verloren habe. [...]
8 6 Rabbiner Aron Heppner (1865-1938) ist der Verfasser der hier mehrfach herangezogenen Schrift „Jüdische Persönlichkeiten in und aus Breslau". Breslau 1931. Für Heppner und seine Familie war das Novemberpogrom von 1938 mit seinen Folgen ein solcher Schock, daß der gesundheitlich angeschlagene Archivar am 3. 12. 1938 in Breslau verstarb, wie sein Nachfolger, Rabbiner Bernhard Brilling, später berichtete. B. Brilling: Das Archiv der Breslauer Jüdischen Gemeinde; in: J S F U B 18 (1973), S. 258-284, hier: S. 270.
Vgl. SV Nr. 344. Diese Angaben finden sich bei W . Cohn: Staatsbürgerrolle, S. 151 und 158f. Vgl. SV Nr. 344. Das Haus am Blücherplatz trug 1812 die N r . 15 und nach der Neubenennung die Nr. 4. 87
88
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VIII. Kapitel
Der Sommer 1929 war der Ausstellungssommer für Breslau. Das Scheitniger Gelände war von einer Ausstellung für Wohnung und Werkraum erfüllt 89 . Man zeigte neue Wohntypen, die wie alles Neue zunächst sehr angefeindet waren, sich aber im Laufe der Jahre gut in das Breslauer Stadtbild einpaßten. Wie ist wegen dieser Ausstellung der damalige Bügermeister Mache, der zweite Bürgermeister von Breslau, angefeindet worden! Ich habe ihn übrigens später in einer persönlichen Angelegenheit kennengelernt. Als ich im Vorzimmer wartete und mit dem alten Ratsdiener, der schon bei so vielen Bürgermeistern Dienst getan hatte, ins Gespräch kam, sagte mir dieser ganz von allein, wie unendlich fleißig Bürgermeister Mache wäre. Seine politischen Gegner griffen ihn besonders deswegen an, weil er aus kleinen Verhältnissen stammte und durch die Partei emporgekommen war. Nach 1933 ist er wie auch der Oberpräsident Lüdemann, von dem noch zu sprechen sein wird, ins Konzentrationslager gekommen; aber beide haben meines Wissens die schwere Zeit überstanden 90 . Mache soll jetzt ein Fischgeschäft in Leerbeutel haben; jedoch vermag ich nicht mit unbedingter Gewißheit zu sagen, ob dies der Fall ist. In jenem Sommer nahm ich auch an einer Wanderfahrt der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur nach Oppeln teil 91 . Solche Wanderfahrten bringen immer sehr viel Anregungen mit. Damals war für mich das historisch Wichtigste, daß man bei Besichtigung der Stätte, wo das alte Piastenschloß abgebrochen wurde, um einem Neubau zu weichen, den Eindruck mitnahm, daß auch schon vor dem Eintreffen der Deutschen in Schlesien eine nennenswerte polnische Kultur bestanden hat, eine Tatsache, die sehr gern von tendenziös gefärbter Geschichtsforschung abgeleugnet wird. Meine ganze wissenschaftliche Auffassung wandte sich immer dagegen, ganz gleich ob es sich um jüdische oder um allgemeine Geschichte handelte, wenn Politik und Geschichte zusammengebracht wurden. Doch ist das wohl eine alte Sünde der Menschen. Auf dieser Wanderfahrt kamen wir auch nach dem oberschlesischen Bad Carlsruhe, das einstmals ein Modebad gewesen war, damals aber schon verträumt von den Erinnerungen zehrte.
Die von Heinrich Lauterbach geplante Werkbundausstellung „Wohnung und Werkraum" W U W A fand vom 15. Juni bis 15. September 1929 statt. 9 0 Zu Lüdemann siehe oben S. 508, zu Mache siehe oben S. 279. 91 Über diese „Wanderversammlung" vom 23. 6. 1929 vgl. 102. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 1929. Breslau 1930, S. 4. 89
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Unser häusliches Leben ging seinen gewohnten Gang. Wie glücklich war ich beim Besuch der Synagoge, in die ich damals noch vor allem im pietätvollen Gedenken an meinen Vater ging, wenn ich auf dem Platz B 79 stehen konnte, rechts und links von mir je einen Sohn. So hatte oft der Vater mit uns gebetet. Nun wollte ich meine Jungens zu guten Juden erziehen. Heute sind sie weit in der Welt, die Synagoge ist abgerissen 92 . Was aber, wie ich hoffe, geblieben ist, ist der Geist unseres Glaubens und das, was man in die Herzen der Kinder gelegt hat und von Zeit und Raum unabhängig ist. [...] Kurz vor den Sommerferien fand noch eine Beratung des Vorstands der Jüdischen Volkshochschule statt. Damals Versuchte Albert Lewkowitz eine Mendelssohnfeier in großem Stile zu veranstalten und sich dafür erhebliche Mittel zur Verfügung stellen zu lassen 93 . Nun war gerade Mendelssohn im Judentum eine sehr umkämpfte Gestalt. Eigentlich hatte man weniger gegen ihn persönlich einzuwenden, denn an der Reinheit seiner Gesinnung war nicht zu zweifeln, als daß man sich mit der durch ihn geschaffenen Richtung im Judentum nicht abfinden wollte. So bestand die Gefahr, daß eine solche Mendelssohnfeier die Zerrissenheit im deutschen Judentum noch verstärken würde. Außerdem hatten wir bei jener Beratung das Empfinden, daß der vorhin genannte Herr sich selbst gern ein wenig in Szene setzen wollte. Eine solche Betriebsamkeit war mir persönlich immer außerordentlich unangenehm. Das Gute, das diese Mendelssohnfeier (ich meine nicht die örtliche in Breslau, sondern die gesamtjüdische) für die Wissenschaft brachte, war die Herausgabe der gesammelten Werke von Mendelssohn, für die auch die Nachfahren, die selbst dem Judentum nicht mehr angehörten, große Summen zur Verfügung stellten 94 . Ich bin, abgesehen von solchen wissenschaftlichen Ergebnissen, niemals ein übermäßiger Freund solcher Feiern gewesen. Auch diese Feiern haben in der Regel die Menschen nicht veranlaßt, die Werke der großen Geister zu lesen. Aber nun hieß es, nach einem langen arbeitsreichen Jahre, das mir auch gesundheitlich einen gewissen Zusammenbruch gebracht hatte, ausruhen und Erholung suchen. Ich hatte mich auf den Rat unseres bewährten alten Hausarztes, des Onkel Perls, und meines Bruders Franz entschlossen, die Kaltwasserheilanstalt des Dr. Schweinburg [in Zuckmantel] aufzusuchen. Die Neue Synagoge war in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 in Brand gesteckt und ihre Ruine noch im selben Monat abgerissen worden. 9 3 In das Jahr 1929 fiel der 200. Geburtstag dieses jüdischen Philosophen. 9 4 M. Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von I. Elbogen, J. Guttmann und E. Mittwoch. 16 Bde. Berlin 1929. 92
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VIII. Kapitel
Meine Frau fuhr mit Ernst und Ruth nach dem Ostseebad Kahlberg bei Elbing, und Wölfl ging mit einem Freunde auf eine große Fahrt, die die jungen Leute bis nach dem Harz brachte. Er sah sehr viel Schönes. [...] Es waren über zwanzig Jahre ins Land gegangen, seitdem ich nicht mehr in Zuckmantel gewesen war. Aus meinem damaligen Spielgefährten war nun der Chefarzt des Sanatoriums geworden. Der alte Sanitätsrat Schweinburg war wohl noch Jude; aber dieser Dr. Schweinburg war entweder selbst getauft, wie ich dort hörte, oder er hatte zum mindesten seine Kinder taufen lassen. Doch auch diese Treulosigkeit gegen den Glauben der Väter hat ihn nach der Besetzung des sudetendeutschen Gebietes vor seinem Judenschicksal nicht bewahren können, und er hat wohl auch nichts von dem irdischen Besitz, den er damals anhäufte, gerettet. Aber diese Entwicklung war im Jahre 1929 gewiß nicht zu ahnen, und ich persönlich habe alle Veranlassung, jenen Wochen außerordentlich dankbar zu sein. Sie waren für mich geradezu ein Jungbrunnen, und wenn ich das jedes Jahr hätte tun können, hätte ich meine Kräfte sehr viel besser bewahrt. Ich mußte oft an das alte medizinische Wort denken: Quod ignis non curat, aqua curat 95 . Es waren die Prießnitzschen Methoden 96 , mit denen man in Zuckmantel arbeitete. Ich habe davon ja schon früher einmal erzählt. Erfreulicherweise brauchte ich nicht in einem der Haupthäuser zu wohnen, wo ein sehr großer Betrieb war; ich wohnte abseits, tief im Park im Haus „Stillfried". Wenn ich auch immer ein paar Minuten bis zu der Kuranstalt zu gehen hatte, so hatte ich es doch dadurch viel ruhiger. Zuerst hielt ich mich ganz abseits von dem Betriebe. Ich hatte das Bedürfnis, möglichst wenig zu sprechen; ich wanderte stundenlang in den herrlichen Hochwäldern des Altvatergebirges, die ich ja wenig kannte, und wo man nur selten Menschen traf. Ich hatte Freude an den Gesprächen mit Waldarbeitern, die mir von ihrer sozialen Lage erzählten. Ich ging oft hinauf nach der Wallfahrtsstätte Mariahilf, die in manchem an Maria Schnee bei Wölfeisgrund erinnerte. Auch durch Regen ließ ich mich von diesen Wanderungen selten abhalten. Damals hatte ich einen dunklen Regenmantel, und so passierte mir des öfteren, daß ich dort oben für einen katholischen Geistlichen gehalten wurde. Die einfache Religiosität dieser Menschen, die dort hinaufpilgerten und Bereits oben S. 76 anläßlich des ersten Aufenthaltes von 1904 auf deutsch zitiert: Was das Feuer nicht heilt, heilt das Wasser. 9 6 Vincenz Prießnitz ( 1 7 9 9 - 1 8 5 1 ) gehört mit seinen Kaltwasserkuren zu den Begründern der Naturheilkunde. 95
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dadurch hofften, von allen ihren Gebrechen geheilt zu werden, habe ich oft bewundert. Als ich dann, nachdem ich mich schon wohler fühlte, aus meiner selbstgewählten Zurückhaltung ein wenig heraustrat, machte ich unter anderem die Bekanntschaft eines netten alten Herrn Deucht aus Troppau, dem ich einige schöne Autofahrten zu verdanken hatte. Einer dieser Ausflüge führte uns hinauf nach Reihwiesen. Dieser Ort liegt immerhin siebenhundertneunzig Meter über dem Meeresspiegel, und in vielen Serpentinen schlängelt sich der Weg hinauf. Herr Deucht gehörte zu den vernünftigen Autofahrern, das heißt ihm lag an dem Weg. Er wollte durch eine schöne Landschaft nicht rasen, sondern sie genießen. Von oben hatten wir einen schönen Blick über das geliebte schlesische Land, über das Altvatergebirge und auf die Bischofskoppe. Oben auf der Höhe machten wir einen Spaziergang nach dem sagenumwobenen Sühnteich, einem romantischen Hochmoor. Hier war ein großes Schweigen in der Natur, man konnte den großen Pan belauschen, ein Stück unberührter Wildnis lag um uns; nur ein schmaler Knüppeldamm bildete den Weg. Wir kamen auf dem Rückweg an dem eigenartigen Gasthaus zum Seehirtenhof vorbei, und dann ging es wieder auf der gleichen Autostraße ins Tal hinab. [...] Zuckmantel lag geographisch an der Grenze Deutschlands, Polens 97 und der Tschechoslowakei. So versammelten sich dort Menschen verschiedenster Art, unter denen aber die Juden durchaus überwogen. Es waren viele Juden aus Galizien da, die, weil sie keinen offiziellen Paß besaßen, in der Fremdenliste als aus einem anderen Orte herstammend in Erscheinung traten. Ich habe viele von ihnen kennengelernt und mich bemüht, in ihre Wesensart hineinzukommen. An einer Ehe, die dieser Sommer zwischen einem Breslauer Juden und einer galizischen Jüdin zustande brachte, bin ich vielleicht nicht ganz unschuldig gewesen, das einzige Mal, daß ich mich darin betätigt habe. Sonst habe ich in meinem Leben keine Neigung zum Schadchen gespürt und überlasse das Ehestiften Berufeneren. Das Ehepaar, das auf Rechnung dieses Sommers zu setzen ist, ist heute schon seit Jahren auf den Philippinen, und auch von ihm habe ich nichts mehr gehört. Dieses junge Mädchen, das, wie sehr häufig die Ostjüdinnen, von einem großen Liebreiz war, hat übrigens damals den klassischen Ausspruch getan: „Was soll ich den graden Weg gehen, wenn ich den krummen gehen kann." Das ganze Verhältnis, das
9 7 Die damalige polnische Grenze lag von Zuckmantel etwa 65 Kilometer entfernt.
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diese Menschen zum Staate hatten, war auf einer solchen Auffassung fundiert, die unserer preußischen Auffassung mit dem unbedingten Respekt vor staatlichen Anordnungen geradezu ins Gesicht schlug. Religiös waren die Ostjuden tiefer fundiert; sie haben übrigens am Sabbat regelmäßig in einem Zimmer gebetet. Einen ganz anderen Typ stellten die Prager Juden dar, deren zivilisatorische Höhe eine sehr viel größere war, die aber dafür wieder vom Judentum nichts wußten, obwohl gerade die Tradition der Stadt Prag ihnen eine große Verpflichtung auferlegt hätte. Unser Volk setzt sich eben aus den verschiedenartigsten Typen zusammen. Selbstverständlich bin ich auch dort geistig nicht gänzlich müßig gewesen; das war mir nie möglich. Nicht nur, daß ich eine sehr umfängliche Korrespondenz mit der Hand zu erledigen hatte, was eine ziemlich mühsame Angelegenheit war. Damals begann ich das erste Mal mit der Niederschrift meiner Lebenserinnerungen. Leider ist mir dieses Manuskript durch einen hier nicht zu erörternden Umstand in späteren Jahren abhanden gekommen. Aber auch dieses hat sein Gutes; denn ohne diesen Verlust hätte ich mich sicherlich nicht zu der Neuabfassung entschlossen, die ja nun viel umfangreicher geworden ist. [...] Nun konnte wieder die Arbeit des Alltags einsetzen. Neu beschäftigte mich nun eine größere Arbeit über Christian Wilhelm von Dohm, mit dem ich mich an sich schon öfters befaßt hatte, die dann in der Encyclopaedia Judaica erschien 98 . Die Zahl der wissenschaftlichen Zeitschriften, die mir zur Verfügung stand, war damals nicht unbeträchtlich, und ich hatte nie Sorge, wie ich meine Arbeiten unterbringen konnte. Jetzt ist das natürlich ganz anders geworden. Am 11. August feierte die deutsche Republik ihren Verfassungstag. 1929 sollte die Feier für die gesamte Beamtenschaft ganz groß in der Jahrhunderthalle vor sich gehen. Die Hauptrede hatte Oberpräsident Lüdemann übernommen. Sein Berater war der Regierungsrat Josef Marcus, der an mich herantrat, damit ich ihm bei der Beschaffung des Materials für diese Rede behilflich wäre. Vor allem lag dem Oberpräsidenten an Worten Ferdinand Lassalles. Als ich dann seine Rede in der Jahrhunderthalle hörte, konnte ich so manchen Ausdruck aus meinem Lassallebüchlein wiederfinden. Das freut letztlich den Autor, der ja seine Bücher nicht dazu schreibt, daß sie unbekannt bleiben. Andererseits empfiehlt sich gewiß nicht, bei einer solchen Veranstaltung mit 30.000 Menschen die
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Vgl. SV N r . 343.
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Quelle einer Festrede zu nennen. Lüdemann gab sich damals außerordentliche Mühe, die Weimarer Republik im Herzen der Breslauer Bevölkerung zu verankern. Heute wissen wir, daß allen diesen Bemühungen kein Erfolg beschieden war. Wir haben hier nicht zu untersuchen, warum dem so war. Ich selbst hatte an dem gleichen Verfassungstage im Johannesgymnasium die Festrede zu halten, die mir wohl auch geglückt ist. N u r einmal mußte ich mich unterbrechen, um einen Jungen zu rügen. Es war das der Primaner Niesel-Lessenthin, der ironisch grinste. Mehr wagte man damals noch nicht; immerhin war es eines der ersten Anzeichen für das, was die nächsten Jahre bringen sollten. Am gleichen Abend fand noch ein großes Volksfest im Südpark statt. Ich saß mit meiner Frau am Tische von Lüdemann, zusammen mit Josef Marcus und dem Oberpostrat Seile, der der eigentliche Leiter des Festes war. Aber auch hier hatte man leider die Empfindung, daß es doch eine befohlene Angelegenheit war. An jenem Abend sah ich auch wohl das einzige Mal in meinem Leben einen Boxkampf; aber ich habe mich für diese Art der Volksbelustigung nicht erwärmen können. Mir erschien das schrecklich roh. Und doch möchte man heute meinen, daß jeder Boxkampf immer noch besser ist, als daß die Menschen sich in dieser Weise umbringen, wie es in dem gegenwärtigen Kriege der Fall ist. Der Sport kann für gesunde Männer die naturgegebene Ablenkung sein. [...] Im Verlage der Volkswacht, in dem meine Jugendschriften erschienen waren, vollzog sich damals eine an sich erfreuliche Umwandlung. Es wurde ein besonderer Leiter für die Verlagsabteilung eingestellt, Gebhardt, der früher bei Priebatsch war. Er versprach mir, sich besonders für meine Jugendschriften einzusetzen, und er hat das später auch reichlich getan. Die Tatsache dieser Erweiterung der Verlagstätigkeit gab mir wieder den äußeren Mut, an dem Abschluß meiner Jugendschrift über Wilhelm Liebknecht zu arbeiten. Auch dieses Büchlein ist schließlich in dem genannten Verlage erschienen". Leider hat dieser Verlagsleiter, der ein sehr umgänglicher netter junger Mann war, durch Freitod vorzeitig geendet. Es wurde erzählt, ohne daß ich in der Lage war, die Wahrheit dieses Gerüchts nachzuprüfen, daß eine Frau im Spiele war. Ein neuer schöner wissenschaftlicher Auftrag wurde mir durch den mehrfach genannten Professor Andreae zuteil. Dieser gab die Schlesischen Lebensbilder heraus. Er legte Wert darauf, daß in jedem Bande
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Vgl. SV Nr. 340.
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auch die Biographie eines bedeutenden schlesischen Juden erschien. So bat er mich, für den damals in Vorbereitung befindlichen Band die Biographie von Marcus Brann zu übernehmen 100 . Ich tat dies um so lieber, weil ich Brann in seinem Leben recht nahegestanden hatte und weil ich damals durch die Arbeit für das Jüdische Museum erneut in die jüdisch-schlesische Geschichtsforschung hineingekommen war, die das Lieblingsgebiet von Brann darstellt. Das Jahr 1929 wie auch das folgende wurden überhaupt für mich wissenschaftlich besonders erfolgreich. O b dieser Anstieg später noch angehalten hätte, wenn eben nicht das Schicksal mit rauher Hand alles oder wenigstens sehr vieles abgeschnitten hätte, vermag ich natürlich nicht zu beurteilen. Ich war damals von all diesen Arbeiten, wie man sich ja vorstellen kann, außerordentlich erfüllt. Ich lebte vor allem ihnen. Ich begann damals nun auch das Diktat der Schrift über Liebknecht. Diese Jugendschriften habe ich meist unmittelbar, nachdem ich den Stoff mir völlig zurechtgelegt hatte, in die Maschine diktiert, und es war nachher bei der Durchsicht und auch bei den Korrekturen kaum notwendig, etwas zu ändern. Eine solche Arbeit erfordert gewiß eine hohe Konzentration; aber ich habe das sehr gern auf diese Weise gemacht. Denn eigentlich war es mir immer schrecklich, wenn ich auf Wunsch eines Verlagslektors oder irgendwelcher anderer Instanzen an einer fertigen Arbeit noch herumzubessern hatte. Ich habe oft in Büchern gelesen, daß es mir nicht nur allein so gegangen ist, sondern daß auch andere Autoren die Erfahrung machten, daß ein einmal abgeschlossenes Werk den Autor im Grunde eben nicht mehr interessiert und jede Beschäftigung mit ihm eine Rückkehr in ein überwundenes Stadium bedeutet. Daß das Jahr 1929 das Mendelssohnjahr war, habe ich ja schon öfters betont. So mußte ich auch eine Mendelssohnfeier in Militsch abhalten, die von den Gesängen des Kantors Lachs umrahmt war und die würdig und ordentlich verlief. Wieder war es Frau Dr. Jutkowski, die das alles aufs beste vorbereitet hatte. Damals hatte ich auch die Freude, daß ein süddeutscher Rundfunksender einen meiner Vorträge brachte. Literarisch trat ein Projekt an mich heran, das mir schon sehr lange am Herzen lag, dem aber eine Erfüllung leider nicht mehr bestimmt war. Der Leiter des Weltverlages, Alexander Eliasberg, den ich ja auch schon erwähnt habe, bat mich, für seinen Verlag
100
Vgl. SV N r . 365.
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eine Sammlung jüdischer Kriegsbriefe vorzubereiten. Er war wohl durch meine verschiedentlichen Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Schild" des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten darauf aufmerksam geworden. Es wäre schön gewesen, wenn dieses Buch noch hätte herauskommen können! Allmählich kam auch der Druck des „Hermann von Salza" in Gang. Nachdem die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft eine Bezuschussung der Arbeit abgelehnt hatte, war, wie schon erwähnt, die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur in die Bresche gesprungen. Ein sehr schönes Gutachten über die Arbeit war auch von dem Bibliotheksdirektor Dr. Krollmann aus Königsberg eingegangen. Darüber hatte ich Veranlassung, mich besonders zu freuen, weil Krollmann zu den besten Kennern der ostpreußischen Geschichte gehörte und wirklich als berufenster Gutachter gelten konnte. So war nun der Druck des Buches endgültig gesichert. Mein Verleger Marcus, der an und für sich sehr tüchtig war, war aber letztlich so wie die meisten wissenschaftlichen Verleger. Ein geldliches Risiko wollte er niemals selbst tragen und wuchtete das gern auf andere ab. Nun, die Hauptsache bleibt ja, daß er den Druck derjenigen Manuskripte, für die er sich einsetzte, erreichte und als Erwerbsquelle hat man sie ja doch niemals angesehen. Mit dem Herausgeber der Teubnerschen Jahrbücher, dem Oberstudiendirektor Dr. Wilmanns, kam ich damals auch in eine rege Korrespondenz, die besonders mit meiner Arbeit über Friedrich II. im Urteil der Nachwelt zusammenhing 101 . Außerdem hatte ich in jener Zeit für eine in Catania erscheinende Zeitschrift eine größere Arbeit zu liefern, die mir viel Freude gemacht hat. Von persönlichen wissenschaftlichen Bekanntschaften möchte ich aus jener Zeit den Professor Elbogen erwähnen. Mit ihm war ich in seiner Eigenschaft als Herausgeber der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland in Briefwechsel getreten. Im Grunde war es nur die Erneuerung einer alten Bekanntschaft, denn vor Jahrzehnten war er vorübergehend mein Religionslehrer am Johannesgymnasium gewesen. Aber damals war ich noch ein kleiner Junge. Elbogen war nun in Berlin Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und hatte in der jüdischen Wissenschaft, besonders durch sein Werk über die Entwicklung des jüdischen G'ttesdienstes, einen bedeutenden Namen bekommen 102 . Allzuviel persönliche Förderung habe ich übrigens von ihm nicht erfahren. Aus irgendwelchen Gründen, hinter Vgl. SV N r . 346, 487. J. Elbogen: Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung. Leipzig 1913. 101
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die ich nicht gekommen bin, mochte er mich nicht besonders. Nun, Sympathie und Antipathie sind Dinge, die sich im Leben nicht ertrotzen lassen. Ehe der Winter seinen Einzug nahm, haben wir uns noch nach Kräften mit frischer Luft erfüllt. Oft steckte ich mir mit meiner Klasse besonders weite Wanderungsziele. Da ich ja meist nur Klassenlehrer der oberen Klassen war, so konnte ich diesen großen Männern schon etwas Ordentliches zumuten. Einmal bestellte ich sie an die Endstation der Linie 18 nach Zimpel, und wir liefen von dort bis nach Sibyllenort. Es war eine Tour, die man in der Regel von Breslau aus nur mit der Bahn machte. Als wir so durch die schlesische Landschaft zogen, flog ganz niedrig über uns ein französischer Flieger hinweg, der damals die Strecke Paris-PragBreslau-Warschau bediente. Damals war das ein großes Ereignis, und nun gehört auch diese Fluglinie wie so viele andere einer abgelaufenen Epoche an. Immer fiel mir beim Wandern durch die schlesische Landschaft auf, wie sehr hier die großen Dominien überwogen. In allen Dörfern war es fast das gleiche Bild: ein großes Schloß, ein riesiges Wirtschaftsgebäude, aber wenig Bauernstellen. Da ich mich immer sehr für soziale Fragen interessierte, schien mir darin etwas Ungesundes zu liegen, obwohl ich mir von Sachverständigen sagen ließ, daß die Versorgung der großen Städte gerade durch die großen Dominien besser gewährleistet sei, als durch Kleinbauern; aber andererseits liefert eben die Dominialwirtschaft doch immer aufs neue Proletariat. [...] Unter meinen Kollegen haben mir nur verhältnismäßig wenige nahegestanden. Als die ersten Korrekturen der italienischen Übersetzung meines Hohenstaufenbuches herauskamen, half mir bei ihnen der Neuphilologe unseres Johannesgymnasiums, Kollege Adam. Nach 1933 habe ich ihn übrigens auch nur noch ganz vorübergehend gesprochen. In unserem Hause verkehrte damals der jüngere Kollege Kliefoth. Das war ein besonders begabter junger Physiker, der auch bei den Schülern sehr viel Freunde hatte und im besonderen bei meinem Sohne Ernst sehr beliebt war. Ich habe selten einen Menschen von solcher Reinheit des Empfindens getroffen, wie er es gewesen ist. Er ist heute, nachdem er inzwischen Studienrat geworden war, Assistent am Physikalischen Institut der Breslauer Universität und hat sicher (wenn er, was ich hoffen will, durch diese Zeit gut durchkommen sollte) eine große wissenschaftliche Zukunft vor sich. Er hat mir übrigens immer, was man besonders anmerken muß, die Treue gehalten. Der Herbst 1929 war politisch eine sehr erregte Zeit. Wenn es auch noch einige Jahre dauern sollte, bis der große Umsturz wirklich kam,
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die Sturmzeichen mehrten sich nun doch beängstigend. Vielleicht wird der spätere Historiker einmal sagen, daß der so frühe Tod Gustav Stresemanns, der letzten Endes das Opfer des Alkoholismus seines Vaters war, ein besonderes Unglück für Deutschland bedeutete. Vielleicht hätte sein diplomatisches Geschick manches verhindern können. Doch kann es auch sein, daß diese Auffassung von all denen abgelehnt werden wird, die in der Geschichte den Ablauf großer Ereignisse, aber nicht das entscheidende Wirken einzelner Personen sehen wollen. Wenn ich aber, wie ich mir vorgenommen habe, in diesen Erinnerungen vor allem im Rahmen des Selbsterlebten bleibe, dann muß angemerkt werden, daß sich an den Anschlagsäulen Breslaus die antisemitischen Plakate mehrten, daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei eine große propagandistische Tätigkeit entfaltete, die auf die Psyche des deutschen Menschen abgestimmt war. Dadurch, daß ihm immer wieder das gleiche eingehämmert wurde, wurde es schließlich wirksam. Auch in der Schule merkte man schon hier und da die zunehmende antisemitische Stimmung. Da das Johannesgymnasium über etwa fünfzig Prozent jüdischer Schüler verfügte, war natürlich der Boden für große Gegensätze geschaffen, und es bedurfte aller Geschicklichkeit der Leitung, um da hindurchzukommen. Wenn ich meine Tagebücher aus jener Zeit durchblättere, so habe ich dem nun schon lange verstorbenen Direktor Gabriel oft den Vorwurf gemacht, daß er es an der nötigen Härte fehlen ließ. Ich hatte immer das Gefühl, daß er lavierte, um eine Stellungnahme zu vermeiden. O b ich ihm mit diesem Urteil Unrecht getan habe, mag dahingestellt bleiben, die Entwicklung der Dinge hätte er wohl nicht aufhalten können. Andererseits muß man anerkennen, daß es durch seine Einwirkung niemals zu irgendwelchen größeren Exzessen gekommen ist. Da ich persönlich, wenn ich so sagen darf, im Unterricht ziemlich temperamentvoll war, bedeutete es eine große Beherrschung, wenn man sich besonders im Geschichtsunterricht zunehmend jedes Wort überlegen mußte, um auf der einen Seite nichts gegen seine Überzeugung zu sagen, um aber auch auf der anderen Seite keine Ärgernissse zu erregen. Es haben mir später meine Schüler, auch die nationalsozialistischen, oft gesagt, daß ihnen gerade meine Ehrlichkeit gefallen hat, aber daß ich auch niemanden wegen seiner Gesinnung schlechter behandelt habe. Der hauptsächlichste politische Kampf ging damals um die sogenannte Erfüllungspolitik. Ich habe mich auch mit diesen Fragen eingehend beschäftigt. Einmal hatte ich mich ja im Unterricht der Staatsbürgerkunde
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mit dem Dawes- und Young-Gutachten zu befassen 103 , und dann hielt ich auch gern über diese Themen Vorträge in interessierten Kreisen, wie zum Beispiel in dem schon erwähnten Kreise der Freunde. Die nationalgesinnten Schüler nahmen an der Erfüllungspolitik grundsätzlich Anstoß. Sie hatten die Auffassung, daß diese als solche unwürdig sei und daß Deutschland keinesfalls mehr zahlen solle. Es war eine neue Generation von Menschen herangewachsen, die für die Sünden der Generation vorher nicht versklavt werden wollte. Man mußte das gefühlsmäßig begreifen, wenn man demgegenüber auch oft zu betonen hatte, daß auf diese Weise sicherlich ein neuer Krieg kommen würde. Die Jugend sieht eben nicht alles unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung des Lebens an. Diejenigen Kollegen von mir, die klassische Sprachen und ähnliches unterrichteten, hatten es entschieden leichter, und selbst mancher der historischen Kollegen drückte sich im Unterricht vor jeder Stellungnahme. Das ist etwas, was mir in meinem Leben niemals gelegen hat und was ich immer entschieden abgelehnt habe. Wenn mich dann 1933 das Schicksal böser anpackte, als so manchen von den anderen, so hängt das mit dieser meiner Offenheit zusammen, die ich aber trotz alledem nicht bedaure. Letzten Endes kann man nicht anders sein, als man eben ist. Aber auch hier muß ich abbrechen, soviel sich darüber noch sagen ließe. Ein großes Ereignis für Breslau war der Flug des Zeppelinluftschiffes. Wir sahen es über dem Flughafen Cosel dahingleiten. Zu einer Landung kam es nicht. Welche Hoffnungen hat man nicht auf diese Luftschiffe gesetzt, und doch sind sie dann durch die Entwicklung der Flugzeuge verdrängt worden. Ein ruhender Pol in der Flucht der Erscheinungen bildete für mich immer mein religiöses Leben. Jede jüdische Jahreswende war erneut Gelegenheit zur Rückschau und Selbstbesinnung. Wenn die ehrfurchtgebietenden Tage vorbei waren, dann fühlte ich mich immer als ein neuer Mensch. Mir haben immer diejenigen Juden leid getan, denen dieses Erleben nicht beschert war. Am Thorafreudenfest 1929 hatte ich noch in der Neuen Synagoge eine Thorarolle zu tragen; später bin ich in immer stärkerem Maße Besucher der konservativen G'ttesdienste geworden.
Der amerikanische Politiker Charles Dawes hatte als Vorsitzender einer internationalen Kommission ein Gutachten über die deutschen Reparationszahlungen vorgelegt. Der Dawesplan von 1924 wurde 1929 durch den Youngplan ersetzt. 103
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Allmählich kamen auch wieder die Vortragsreisen in Gang. Ich sprach in Liegnitz über neue jüdische Bücher. Es waren das damals die Jahre, da eine sehr starke Bücherproduktion herrschte und vor allem viele jüdische Autoren deutscher Zunge sehr vielbeachtete Romane schrieben. Heute ist ja das Urteil über diese Bücher innerhalb Deutschlands in vernichtendem Sinne gefällt, und doch müßte es außerordentlich interessant sein, einmal später zu hören, wie die Literaturgeschichte über diese Werke urteilen wird. Ich persönlich bin der Meinung, daß neben manchem, was sicher nur eben eine Eintagserscheinung war, doch auch einiges wieder positiver gewertet werden wird. Auch hier will ich der Versuchung entgehen, die Bücher zu nennen, an die man vielleicht denken könnte. Unter meinen auswärtigen Vorträgen muß ich aber einen besonders hervorheben, der für mich viele Konsequenzen haben sollte. Die Jungsozialisten Beuthens hatten mich aufgefordert, dort am 9. November 1929 in einer großen Revolutionsfeier zu sprechen. Manch anderer hätte das vielleicht in einer nun schon so kritisch gewordenen Zeit abgelehnt und hätte sich gesagt: Warum nun heraustreten und sich bemerkbar machen? Aber dieses Lavieren hat mir eben nicht gelegen. Die Stimmung jenes Abends war eine eigenartige. Ich mußte einen Zug benutzen, der ziemlich spät in Beuthen ankam, weil ich mich nicht eher in Breslau freimachen konnte. So wurde ich sofort in das völlig überfüllte Volkshaus gebracht, das auch schon verdunkelt war. Man stellte mich auf die Bühne, und nun mußte ich, ohne daß ich meine Zuhörer sah, sprechen. Beim Reden aber hat mir immer gerade der Kontakt von Auge zu Auge die richtige Intuition gegeben. Ich sprach vor oberschlesischen Bergarbeitern, vor Menschen, die ein hartes Leben zu führen gewohnt waren. Hier konnten keine feingedrechselten Worte das Richtige sein, hier mußte eine schlichte und einfache Sprache zu wirken versuchen. Wie ich später hörte, war man wohl auch mit dem, was ich vorbrachte, zufrieden. Ich selbst hatte auch immerhin das Empfinden, richtig gesprochen zu haben. Man hat über diese Feier selbstverständlich in der Presse mehr oder weniger wohlwollend berichtet. Ein wenig wohlwollender Bericht wurde dem Stadtrat Lauterbach zugeschickt, der ihn zu den Akten nahm und mich auch deswegen interpellierte. Gerade diese Rede hat mir dann 1933 sehr geschadet; aber wenn ich heute an sie denke, so kann ich mir keine Vorwürfe machen. Ich habe eben das gesagt, was ich damals meiner Überzeugung nach glaubte sagen zu müssen. Übrigens erreichte um diese Zeit das Volksbegehren der Nationalsozialisten gegen die Reparationspolitik die bedeutende Stimmenzahl von zehn Millionen. Von meinen winterlichen Kursen war der in der Jüdischen Volkshochschule sehr gut besucht. Es hatten sich 45 Hörer eingefunden. An sich
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war das für den kleinen Raum eine große Belegschaft; aber wie ich schon einmal betont habe, bedeutete es, wenn man an die Zahl der Breslauer Juden denkt, nicht so sehr viel. Die meisten hielten sich doch allem und jedem jüdischen Leben gegenüber abseits. Der Jüdische Museumsverein veranstaltete noch eine kleinere Ausstellung im Kunstgewerbemuseum, die auch im Zusammenhang mit dem 75jährigen Jubiläum des Jüdisch-Theologischen Seminars Fraenckelscher Stiftung im Zusammenhang stand. Diese Anstalt hat es ja leider nicht mehr zum 100jährigen Jubiläum gebracht. Der 9. November 1938 hat ihr den Garaus bereitet. Innerhalb des Kreises der Herren, die damals den Jüdischen Museumsverein leiteten, hatte ich Gelegenheit, in der Wohnung eines Herrn Dr. Schiftan eine außerordentlich sehenswerte Glassammlung zu besichtigen. Die berühmteste derartige Sammlung besaß in Breslau Wilhelm Perlhöfter; auch sie gehört heute der Vergangenheit an. Im Dezember 1929 waren gleichzeitig vier Bücher von mir im Druck beziehungsweise kurz davor: das Quellenheft über Friedrich II., die Monographie über Hermann von Salza, die Jugendschrift über Wilhelm Liebknecht, die italienische Ausgabe des Hohenstaufenbuches. Man kann sich ungefähr vorstellen, was das für eine Korrekturarbeit machte. Ich hätte es niemals geschafft, wenn mir nicht meine Frau dabei sehr zur Seite gestanden hätte. Und daneben liefen ja auch noch die Korrekturen der Abiturientenaufsätze, und so mußte ich oft in diesen Monaten an einen Lieblingsausspruch meines Lehrers Wohlauer denken: „Corriger c'est ma fortune". Damals fand die zehnjährige Feier der städtischen Volkshochschule statt. Ein offizieller Festaktus ging im Breslauer Konzerthaus vom Stapel. Ohne auf alle Einzelheiten einzugehen, dürfte es ganz interessant sein, festzuhalten, mit welcher Kühle der damalige Rektor der Breslauer Universität, Prof. Dr. Ehrenberg, seine Glückwünsche abstattete. Man merkte so recht aus jedem Wort, wie er die Distanz betonen wollte. Der Lehrkörper war auf dem Podium des Konzerthauses versammelt. Man saß da gewissermaßen zur Schau, was ich sehr wenig liebe. Mit großer Wärme sprach der Direktor der Volkshochschule, Dr. Mann. In der Tat bedeutet ja der Gedanke der Volksbildung unendlich viel für ein Volk. Es waren andere Ideale, die uns damals vorschwebten. Der Winter 1929 zu 1930 brachte auch wieder manche auswärtigen Vorträge, von denen ich nur diejenigen erwähnen möchte, die mir in irgendeiner Form ein besonderes Erlebnis vermittelten. So sprach ich einmal in Trebnitz unter Zuhilfenahme von Lichtbildern über das Thema: „Aus einer vergangenen Epoche der Toleranz". Dabei behandelte
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ich Sizilien in der Zeit der Normannen und Staufer. Gerade solche Kleinstgemeinden waren besonders dankbar. Ein anderes Mal sprach ich in Groß Wartenberg. Damals war dieses Städtchen der letzte Ort vor der polnischen Grenze, bis zu der es nur noch drei Kilometer waren. Dann kam das damals polnisch gewesene Städtchen Kempen, übrigens ein Ort, der stets in der Geschichte des Posenerjudentums eine große Rolle gespielt hat 104 . In Groß Wartenberg war gewissermaßen die Welt zu Ende. Die Polen hatten die Schnellzugslinie einfach unterbrochen und den Bahnkörper aufgerissen. Ein Pendelzug von Oels hielt die Verbindung aufrecht. So war Groß Wartenberg gewissermaßen eine verlorene Ecke von Schlesien geworden. Dazu kam noch, daß der Bahnhof ganz abseits lag und man mit dem Postauto oder mit einem Privatwagen in die Stadt fahren mußte. Die Juden in einem solchen Städtchen waren meist Kaufleute oder Destillateure. Besonders der letztere Beruf war beliebt und auch einträglich. Ich war damals in dem Hause des Destillateurs Skalla zu Gast. Die Frau servierte mir einen herrlichen Gänsebraten; aber aus Ehrfurcht vor dem Redner wagte sie nicht, sich hinzusetzen, sondern stand, so lange ich aß. In diesem Städtchen konnte ich mich so gut in das Milieu der Posenschen Kleinstadt hineinträumen, wie es in den vielen Generationen gewesen sein mag, als meine Vorfahren väterlicherseits in Samter lebten 105 . In diesen paar Stunden in Groß Wartenberg hatte ich das Gefühl, daß die Zeit stehengeblieben ist. Nun gehört auch diese Gemeinde der Vergangenheit an, bis sie einstmals wieder auferstehen wird, wenn das im Willen der Vorsehung liegt. Auch nach Glogau kam ich in diesem Winter. Hier war Rabbiner Dr. Lucas, der einstmals in der Wissenschaft des Judentums eine bedeutende Rolle gespielt hat, der aber nun schon seit Jahrzehnten mit keiner Publikation mehr hervorgetreten war 106 . Glogau war eine sehr wenig jüdische Gemeinde, der Vortrag war auch schwach besucht. Es wurde mir gesagt, daß gleichzeitig nicht weniger als drei gesellige Veranstaltungen in jüdischen Kreisen vom Stapel gingen. So war es sehr häufig vor 1933. J. H. Pagel-Blitzer: Kempen in Posen. Erinnerung an Kempen; in: M V B I 51 (1986), S. 16. 105 Der Hinweis ist nur vergleichsweise gemeint, denn politisch hatte Groß Wartenberg nie zur Provinz Posen gehört. Samter liegt 160 km weiter nördlich. 1 0 6 Zu Ehren dieses Rabbiners, der 1943 im Ghettolager Theresienstadt starb, verleiht die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen seit 1974 den Leopold-Lucas-Preis. Vgl. das Buch von F. D. Lucas und M. Heitmann: Stadt des Glaubens. Geschichte und Kultur der Juden in Glogau. Hildesheim 1991. 104
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Nach 1933 war ich dann wiederholt noch in Glogau, und dann war es auch immer recht voll. Jetzt suchten die Juden die Gemeinschaft, der sie in guten Tagen oft fern geblieben waren. Professor Andreae hatte mich zu dem sogenannten Professorium in die Bonbonniere eingeladen. In jedem Jahre versammelte sich das gesamte Professorenkollegium einmal zu einer geselligen Veranstaltung, und nur ganz auserwählte Leute, die nicht dem Dozentenkollegium angehörten, durften daran teilnehmen. Ich habe schon wiederholt erwähnt, daß dieser Professor damals sehr bemüht war, mich zum Honorarprofessor zu machen. Er trug übrigens auch an diesem Abend die Hauptkosten der Unterhaltung und war der Vater des netten Stückes, das damals aufgeführt wurde. In Breslau hatte es großes Aufsehen erregt, daß die Schriftstellerin Ilse Molzahn in einem in Berlin erschienenen Artikel sich über die Vorliebe der Breslauer für Knoblauchwurst lustig gemacht hatte 107 . Im Anschluß an einen damals beliebten Schlager wurde an jenem Abend ein Couplet vorgetragen mit dem Refrain, der sich auf Ilse Molzahn bezog: „Ich klopf auf Deine Hand, Madame, und denk, es ist Dein Mund." [-] Innerhalb der Sozialdemokratischen Partei habe ich in diesem Winter des öfteren gesprochen. Ich war auch in meinem Distrikt zum Funktionär gewählt worden; heute würde man das Amtswalter nennen. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, etwas mehr in die Leitung der Partei hineinzuschauen, wobei ich nicht sagen kann, daß ich angenehm enttäuscht wurde. Es fehlte so sehr der große Zug, und alle Kräfte verbrauchten sich in dem Gegensatz zwischen Rechts und Links. Damals siegte der linke Flügel unter der Führung des Rechtsanwalts Eckstein, den ich auch persönlich kennenlernte und der nach 1933 auch sehr traurig zugrunde gegangen ist 108 . Ich habe mich von den eigentlichen politischen Dingen möglichst fern gehalten und nach dieser Seite niemals einen Ehrgeiz entwickelt, habe aber in diesem Winter häufig in verschiedenen Distriktsversammlungen gesprochen, so einmal in der Nordvorstadt Breslaus, in der trostlosen Atmosphäre eines Wolff-Ausschanks, einer Destille. Ich setzte mich gewiß an jedem Abend sehr für die Ideen ein, die ich vorzutragen hatte; aber man wurde doch das Gefühl nicht los, daß von dieser Seite her kaum noch eine Befreiung der Welt kommen würde. Es war Vgl. darüber I. Molzahn: Im Zeichen des heiligen Nepomuk; in: H. Hupka (Hg.): Meine schlesischen Jahre. München 1964, S. 109-123. 108 Vgl. unten S.606, Anm. 1. 107
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eine Zeit härtester Wirtschaftskrise, die ich persönlich nicht spürte, weil jene Jahre, wie ich schon angedeutet habe, gerade zu meinen guten gehörten. Aber ich merkte die Schwere der Krise nicht nur an den furchtbaren Zahlen der Erwerbslosen; ich merkte sie auch an den Rücksprachen mit den Schülereltern aus den christlichen Kreisen, die dem Mittelstand angehörten und die damals sehr schwer zu kämpfen hatten, um ihre Kinder das Ziel der Schule erreichen zu lassen. In dieser Zeit der Wirtschaftskrise hat sich eben, da die Regierung mit dem Erwerbslosenproblem nicht fertig wurde, mancherlei von dem vorbereitet, was später gekommen ist. Ich war oft sehr unglücklich, wenn ich nicht helfen konnte. Von geistigen Erlebnissen möchte ich noch einen Vortrag des Geheimrats Kroll in der vaterländischen Gesellschaft hervorheben, den dieser dem Andenken an den längst verstorbenen ersten Direktor des Johannesgymnasiums, C. F. W. Müller, widmete 109 . Dieser Typ des Direktors, der sich vor allem als Gelehrter fühlte, war nun längst vorbei. Interessant war auch eine Sitzung der Historischen Kommission im Staatsarchiv, an der ich als Berichterstatter für die Volkswacht teilnahm. Der Stadtschulrat Lauterbach, der damals neben mir saß, sagte mir manche Liebenswürdigkeiten über meine Arbeiten, und doch wußte ich recht gut, daß er immer derjenige gewesen war, der in den Beförderungsfragen zumindest mehr oder weniger passiven Widerstand geleistet hat. Allmählich lernte ich auch, die Menschen nicht so sehr nach ihren Worten als nach ihren Taten zu beurteilen. Es war übrigens auch für jene Zeit charakteristisch, daß trotz der großen Not weiter Kreise gern Feste gefeiert wurden. Man kann es ja schließlich auch den Menschen, denen es gut geht, bis zu einem gewissen Grade nicht verübeln, wenn sie ihr einmaliges Leben nun leben wollen. So veranstaltete auch das Lehrerkollegium des Johannesgymnasiums ein größeres Fest in den Räumen des Alten Turnvereins in Morgenau. Unter den jüdischen Kollegen hatten wir so manchen, dem die heitere Muse zur Verfügung stand. So hatte der Kollege Schäffer eine Parodie auf die „Dreigroschenoper" geschrieben, und der Kollege Kober nach der damals sehr beliebten Melodie des „armen Gigolo" ein Lied auf den armen Direktor verfaßt. In dem Stücke trat ich übrigens auch auf, dargestellt durch die Frau des Kollegen Wenzel, die hierfür den Namen Weconia erhielt. Ich wurde als Vertreter der Wissenschaft in Gegensatz Der Vortrag fand am 21. 2. 1930 aus Anlaß des hundertsten Geburtstages statt. E r ist gedruckt in: 103. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Breslau 1931, S. 200-215. 109
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gestellt zu dem Kollegen Jaekel, der der Vertreter des Turnens und der Leibesübungen war. Bei diesem Kampf um die Schule hat übrigens die Wissenschaft nur den zweiten Platz errungen; vielleicht daß eine spätere Zeit hierin wieder einmal eine Änderung bringen wird. Neben den großen wissenschaftlichen Arbeiten, von denen ich gesprochen habe, traten auch kleinere Aufgaben an mich heran. So freute es mich, daß ich in der Monatsschrift für Höheres Schulwesen, die der damalige Minister Grimme herausgab, einen Aufsatz über die N o t wendigkeit eines besonderen staatsbürgerlichen Unterrichts schreiben konnte 110 . Das Abiturium von Ostern 1930 brachte mir eine besondere Anerkennung durch den Direktor am Provinzialschulkollegium, Dr. Müller. Er äußerte in der Vorbesprechung, die dem eigentlichen Prüfungsakte voranzugehen pflegt, daß ein solches geschichtliches Thema, wie ich es meinen Abiturienten gestellt habe, an keiner anderen Anstalt hätte bearbeitet werden können. Das Lob eines hohen Vorgesetzten zieht dann in der Regel das Lob des nächstfolgenden nach sich. So äußerte sich auch Gabriel, der sonst mit solchen Dingen sehr zurückhielt, besonders anerkennend über meinen bürgerkundlichen Unterricht. Abituriumstage sind nicht nur für den Schüler eine Qual (wie man in der Regel annimmt, wobei zu sagen ist, daß das meist überschätzt wird), auch für den Lehrer ist das nicht so ganz einfach. Es heißt, zwölf Stunden mit nur kurzer Mittagspause anwesend zu sein und verantwortlich zuzuhören beziehungsweise mitzuwirken. Aber immer war man doch stolz, wenn man eine Klasse gut durchs Ziel gesteuert hatte. [...] Im April 1930 hatten wir das Glück, den siebzigsten Geburtstag unserer Mutter zu feiern. Mit Recht hatte sie von einer Feier im größeren Kreise abgesehen und sich für diesen Tag nach Trebnitz zurückgezogen, wohin wir nachfuhren. Ich selbst konnte erst am Nachmittag hinfahren. Wir hatten das Auto meines Bruders Franz zur Verfügung, der selbst leider an der Feier nicht teilnehmen konnte. Sonst aber waren wir lebenden Geschwister sämtlich an Mutters Ehrentage vertreten. Den achtzigsten Geburtstag hat sie leider nicht mehr erleben dürfen; immerhin aber waren ihr noch neun Jahre vergönnt. Damals hat sie nicht geglaubt, daß noch zwei weitere ihrer Söhne vor ihr von dieser Erde abberufen werden würden. [...] 110
Vgl. SV N r . 348.
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Im Hause von Max Silberberg, dem Vorsitzenden des Vereins Jüdisches Museum, fand einmal ein Vortrag des Professors Meyer Balaban statt. Dieser Gelehrte ist die führende Persönlichkeit auf dem Gebiete der polnischen Judengeschichte gewesen. Ich weiß nicht, ob er in diesem Augenblicke noch lebt oder ob er in dem furchtbaren Schicksal, das unsere östlichen Glaubensbrüder in den letzten Jahren getroffen hat, mit hinweggerafft worden ist111. Er sprach damals über die Beziehungen des polnischen Judentums zu den westlichen Juden. Das Publikum, das diesem Vortrag beiwohnte, war ein typisch bürgerliches Publikum, für das die Hauptsache die Veranstaltung im Hause Silberberg war, der damals einer der reichsten Juden Breslaus gewesen ist. Von jüdischen Dingen verstand dieses Publikum, das wohl auch zum Teil getauft war, gar nichts, und noch weniger hatte es eine Ahnung von dem Leben der Ostjuden. Ich konnte übrigens nach dem Vortrage nicht mehr dort bleiben, da ich am gleichen Abend noch eine Verabredung mit Arthur Holitscher hatte, der sich wieder einmal anläßlich eines Rundfunkvortrages in Breslau aufhielt. Ich traf mich mit ihm in einem Kaffeehaus, etwas, was ich sonst selten aufsuchte, und es waren auch noch eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten anwesend, die zum Rundfunk Beziehungen hatten. Balaban hielt übrigens noch einen zweiten öffentlichen Vortrag über die Synagogen in Polen. Dort vertrat er die gleiche These, die auch ich immer in Wort und Schrift verfochten habe, daß die sogenannte jüdische Ghettobildung keine zwangsweise Angelegenheit von staatlicher Seite her war, sondern daß die Juden aus jüdischen Gründen zueinander gezogen sind. Diese These wollten übrigens die Breslauer jüdischen Gemeindegrößen immer sehr ungern hören, weil sie so gar nicht zu der Assimilationstheorie des liberalen Judentums paßte. Auf Veranlassung des Oberschulrats Dr. Tschersich nahm ich damals an einer Zusammenkunft der sozialistischen Lehrer in Liegnitz teil, bei der die Oberschulrätin Dr. Hildegard Wegscheider sprach. Sie war eine interessante Frau, die sich auch später sehr für meine Jugendschriften eingesetzt hat. Sie behandelte in diesem Vortrag neue Wege der preußischen Kulturpolitik. Der Hauptzweck aber war, daß sie die schlesischen Philologen einmal aus eigener Anschauung kennenlernen wollte. Gegen solche Veranstaltungen, auf denen man gewissermaßen vorgeführt wurde, war ich eigentlich grundsätzlich; aber Tschersich hatte mich darum gebeten.
111
Zu Meyer Balaban, vgl. oben S. 513.
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E r strich mich dort besonders heraus, was mir erst recht unangenehm war. Wie ich übrigens wohl schon einmal angemerkt habe, hat gerade dieser Oberschulrat seine Gesinnung nach 1933 gar nicht rasch genug ändern können, um sich persönlich in Sicherheit zu begeben. Osterferien sind für den Schulmann immer etwas sehr Schönes, noch um so schöner, wenn dieser gleichzeitig Vater von Kindern ist, die gut versetzt werden. Das war bei meinen beiden Söhnen der Fall. Zur Belohnung gingen wir dann immer nach der Schule irgendwohin frühstücken. Damals war auf der Gartenstraße ein Automatenrestaurant neu eröffnet worden, und das war ein großes Ereignis. Wie schön war es, wenn man zwei so heranwachsende Jungen ordentlich futtern lassen konnte. Dann feierten wir unsern Sederabend in gewohnter Form mit allen drei Kindern. Aus dem Theaterwinter möchte ich noch ein Stück erwähnen, das, wie die meisten Stücke jener Zeit, eine zeitgeschichtliche Bindung hatte. Es war das Drama von Rehfisch: „Die Affäre D r e y f u s " 1 1 2 . Kein Zufall war es, daß man in dieser Zeit, in der die Judenfrage wieder eifrig diskutiert wurde, die Angelegenheit des unglücklichen Kapitäns Dreyfus wieder hervorholte. Auch waren viele Anspielungen in dem Stück, die auf die eigene Zeit Bezug hatten. Für meine ganze Stellung zu Menschen ist vielleicht die folgende Kleinigkeit nicht ohne Interesse. Es wurde damals in Breslau eine pädagogische Akademie eröffnet 1 1 3 . Wenn ich nicht Jude gewesen wäre und den Namen C o h n getragen hätte, so hätte es wohl keines Zweifels bedurft, daß ich die Professur für mittlere und neuere Geschichte bekommen hätte. So aber erhielt sie ein anderer, den ich diskreterweise Professor X nennen möchte 1 1 4 . E r mußte unter anderem auch eine sehr wichtige Vorlesung über Staatsbürgerkunde übernehmen. In höchsten Nöten kam er zu mir, damit ich ihn mit der notwendigen Literatur und den entsprechenden Ratschlägen versehen sollte. Es ist ja selbstverständlich, daß ich so etwas immer selbstlos getan habe und daß ich den Einzelnen Zurücksetzungen, die ich persönlich erlitt, niemals merken ließ. Es gibt im Leben immer ein Gesetz der Duplizität, das traf auch gerade für diesen Augenblick zu. Ein Breslauer Universitätslehrer, den ich ebenfalls Die Affäre Dreyfus. Schauspiel in fünf Akten von Hans J. Rehfisch und Wilhelm Herzog. Berlin 1929. Das Stück stand 1929/30 auf dem Spielplan des Lobe-Theaters in Breslau. 1 . 3 Die Eröffnung der Pädagogischen Hochschule erfolgte am 15. Mai 1929. 1 1 4 Die Professur erhielt Willy Klawitter. Vgl. dazu H . - L . Abmeier: Professor Dr. Willy Klawitter (1887-1964); in: J S F U B 29 (1988), S. 287-299. 1.2
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diskreterweise Dozent Dr. Y. nennen möchte" 5 , rief mich an und bat mich um ein Buch, das er für den bevorstehenden Hallenser Historikertag brauchte. Er war dort zu einem Vortrag aufgefordert worden, der auf ein Gebiet übergriff, das besonders auch meine Forschungsarbeiten betraf. Auch ihm habe ich selbstverständlich geholfen, soweit ich es konnte. Also fuhr ich nunmehr zu diesem Historikertage und konnte es auch diesmal ermöglichen, meine Frau mitzunehmen, da ich wieder für einige Zeitungen zu schreiben hatte und meine Frau diese Artikel unmittelbar in Halle abschreiben sollte. Wir nahmen eine Reiseschreibmaschine mit. Da der Umweg über Berlin nicht so groß war, schlugen wir ihn ein, und wir haben uns auch in diesen Tagen dort recht wohl gefühlt. Wir wohnten bei den Schwiegereltern. Da es die letzten Tage der Pessachwoche waren, so suchte ich auch verschiedene G'tteshäuser auf. Einmal war ich wieder in der Synagoge auf der Heidereutergasse, wo wir getraut worden waren und wo es mir immer besonders gefiel. Ein anderes Mal besuchte ich mit dem Schwiegervater die Synagoge in der Oranienburger Straße, die mir aber weniger gefallen hat. Natürlich nahm man in einigen Tagen Berlin immer auch etwas von den neuen Eindrücken mit, die die Stadt zu bieten hatte. Damals war für den sogenannten „Provinzialen", wie die Berliner mit dem Unterton der Überheblichkeit zu sagen pflegten, das Warenhaus Karstadt mit seinen Rolltreppen das Neueste. Zuerst war es gar nicht so leicht, den richtigen Augenblick zum Auf- und Absteigen zu finden. Dieses Warenhaus hat einen besonders schönen Dachgarten, von dem man einen einzigartigen Ausblick über Berlin genießen kann. Zufällig trafen wir dort oben einen Vetter von mir, den Dr. Rudolf Jaffe, ein Arztehepaar aus Stettin, das auch jetzt in ein schweres Verhängnis hineingezogen ist. Immer wieder, wenn man auf Namen aus jenen Jahren stößt, muß man feststellen, daß durch die Katastrophe unserer Tage Beziehungen abgerissen sind, die man einstmals für sehr fest hielt. Ein Berliner zur Verfügung Damals suchte im besonderen
Aufenthalt bedeutete, auch wenn man nur wenige Tage hatte, einen Besuch des einen oder anderen Museums. ich mit meiner Frau das Kaiser-Friedrich-Museum auf, das Münzkabinett, um dort die berühmten Münzen aus
' 1 5 Die hier gegebenen Andeutungen treffen nur auf Privatdozent Peter Rassow zu, der dann auf dem Historikertag über das Thema: „Die Politik des Konstanzer Vertrages von 1153" sprach. Vgl. den Bericht über die siebenzehnte Versammlung Deutscher Historker zu Halle a. d. S. vom 22. bis 26. April 1930. München 1930, S. 19ff.
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der Zeit Kaiser Friedrichs II. anzusehen, die sogenannten Augustalen. Zwei schöne Spaziergänge machten wir auch nach Treptow und nach dem Grunewald; besonders dort draußen hat es mir immer gut gefallen, in der Gegend von Onkel Toms Hütte und an der Krummen Lanke. Von einem Theaterabend, bei dem ich ein Stück sah, das den schönen Titel „Meyers selige Witwe" führte, war ich weniger begeistert. Zwar spielte die damals bekannte Schauspielerin Werbezirk mit, aber dieses ganze Stück empfand ich als eine Herabsetzung des Judentums, als eine Selbstverspottung, die ich nicht mochte, die aber so aus dem damaligen Berliner Milieu, in dem Taufe und Mischehe immer mehr überhand nahmen, verständlich bleibt 116 . Dann fuhren wir nach Halle weiter. Ich freute mich schon sehr darauf, nun wieder akademische Luft in einer mir bisher nur flüchtig bekannten Universitätsstadt zu atmen. Die Alma mater Hallensis gehörte ja nicht zu den Universitäten, die so von Zauber erfüllt waren, wie die berühmten süddeutschen. Aber auch am Ufer der Saale, im Gasthaus zum grünen Kranze, saß es sich gut. Hier gab es so etwas wie Stimmung. Hier konnte man sich in das Burschenleben der Vergangenheit hineindenken. Der Hallenser Historikertag war vielleicht nicht ganz so gut organisiert, wie es der Breslauer gewesen war, was immer neidlos anerkannt wurde. Ich erneuerte meine alten wissenschaftlichen Bekanntschaften; man freute sich jedesmal, wenn man seine guten alten Bekannten wieder traf 117 . Deshalb möchte ich mich nur darauf beschränken, die Männer zu nennen, die mir damals als neue Bekanntschaften zuwuchsen. In erster Reihe möchte ich da den Professor Friedrich Schneider aus Jena nennen. Er wurde in der historischen Wissenschaft häufig mit dem Professor Fedor Schneider verwechselt, der übrigens auch wieder in Halle anwesend war und von dem ich ja schon öfters zu berichten hatte. Der Bekanntschaft mit Friedrich Schneider verdankte ich meine spätere Mitarbeit am Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft. Er forderte mich damals auf, eine Arbeit über die Hohenstaufen im Urteil Dantes
Der Direktor des Berliner Kleinen Theaters Fritz Friedmann-Frederick hatte den von ihm verfaßten Schwank „Meyers" im April 1930 in einer Neubearbeitung als „Meyers selige Witwe" auf die Bühne gebracht. Die Titelrolle der Rosalie Meyer spielte Gisela Werbezirk. 117 Dem auf S. 430, Anm. 34 genannten Bericht ist S. 56ff eine Mitgliederliste des Verbandes Deutscher Historiker beigefügt, in der die hier genannten Persönlichkeiten zu finden sind. 116
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zu schreiben 1 1 8 . Ich habe mich in den nächsten Jahren dann in die mir bis dahin noch nicht so sehr vertraute Welt der Göttlichen K o m ö d i e hineingearbeitet, die ich schon gelesen, aber noch nicht studiert hatte. Wenn nicht auch hier die Verhältnisse später meine weitere Mitarbeit unmöglich gemacht hätten, so erscheint es mir sicher, daß ich auf diesem Gebiete noch mancherlei zum Arbeiten gefunden hätte. Wenn auch Publikationsmöglichkeiten nun nicht mehr bestehen, so bin ich doch D a n t e innerlich immer treu geblieben und habe die G ö t t l i c h e K o m ö d i e stets aufs neue vorgenommen. Sie gehört zu den ganz großen Erlebnissen, die uns überhaupt geistig beschieden sein können. Friedrich Schneider gehörte zu den Männern, die es aus irgendeinem G r u n d e nicht zum Ordinarius gebracht haben. Das hängt mit den in akademischen Kreisen leider so beliebten persönlichen Eifersüchteleien und R ä n k e n zusammen, für die ich stets ein sehr geringes Verständnis gehabt habe. Wenn ich sah, wie so mancher von den Teilnehmern jedes Wort und jede Unterhaltung unter den Gesichtspunkt stellte, o b sie ihm nützen k ö n n t e oder nicht, war ich manchmal ganz froh, daß ich auf diesen Historikertagen für mich selbst nichts erreichen wollte. Das war für mich gewissermaßen ein Stück Theater, das man als Zuschauer gern mitmachte. Damals lernte ich auch den Professor Carstenn aus Elbing kennen. E r war dort Professor an der Pädagogischen Akademie und besonders an der Geschichte Ostpreußens interessiert. Meine Beziehungen zu ihm sind auch später immer rege gewesen. D u r c h seine Hilfsbereitschaft wurde ich auch zu einem Vortrage in Elbing über H e r m a n n von Salza aufgefordert, von dem ich noch später erzählen will, und der einer meiner letzten größeren Erfolge wurde, ehe die Zeit des aus der Wissenschaft, mindestens aus dem großen Betrieb der Wissenschaft Ausgeschiedenen anbrach. In Halle lernte ich auch den Oberstudiendirektor D r . Wilmanns aus Barmen kennen, mit dem ich aus der schon erwähnten Arbeit für die neuen Jahrbücher des Teubnerschen Verlages in Briefwechsel gekommen war. Ich wurde auch wieder zu dem Teubnerabend eingeladen. D i e einzige Schwierigkeit bestand für mich immer darin, daß ich den A n dersrassigen nicht durch massenhafte Vertilgung alkoholischer Getränke imponieren konnte. In dieser Beziehung bin ich erfreulicherweise wohl immer ein Outsider geblieben. N u n , man kann eben nicht auf allen Gebieten gleichmäßig tüchtig sein. Eine nette Bekanntschaft machte ich auch noch mit dem O b e r s t u d i endirektor D r . Schreibmüller aus Ansbach. A u c h wir kannten uns schon 118
Vgl. SV Nr. 391.
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brieflich. Ich hatte in meinem Hohenstaufenbuch die furchtbare Sünde begangen, den Markward von Annweiler mit einem n zu schreiben. Schreibmüller, der Spezialist für pfälzische Geschichte war und besonders über die sogenannten Ministerialen Kaiser Friedrichs II. gearbeitet hatte, hatte in dieser erschütternden Angelegenheit an mich geschrieben, und ich hatte ihm Besserung gelobt. Er entpuppte sich übrigens persönlich als ein sehr netter bayrischer Typ. In Halle nahm ich auch viel an den Veranstaltungen des Geschichtslehrerverbandes teil. Hier platzten die Meinungen in jener erregten Zeit begreiflicherweise häufig aufeinander. An der Spitze des Verbandes stand der ehemalige Stadtschulrat Dr. Reimann. Wenn ich auch mit seiner Gesinnung nicht harmonierte, so habe ich doch immer anerkannt, über welches bedeutende Wissen er verfügte. Die große Sensation des Historikertages war der Vortrag von Kantorowicz über Friedrich II. 119 . Ich führte wie immer auf den Historikertagen, so auch damals, ein Kollegheft, und bei diesem Vortrag habe ich mir das schlichte deutsche Wort „Chuzbe" notiert. Es ist sicher, daß Kantorowicz in seinem großen Werke über Friedrich II. Quellenkenntnis bewiesen hat; aber die ganze Aufmachung war doch keine wissenschaftlich befriedigende120. Echte Wissenschaft muß sich unter allen Umständen von jeder Sensationsmache fernhalten. Gewiß, im Augenblick verspricht so etwas manchen Erfolg; aber der Gelehrte ist ja kein Varietekünstler und hat meiner Ansicht nach andere Rücksichten zu nehmen. Kantorowicz las damals in der Aula der Universität, da kein Hörsaal ausreichte. Heute mag er, der vorübergehend ganz außer der Reihe Professor an der Frankfurter Universität geworden war, längst in der Emigration leben. Solche Eintagsberühmtheiten pflegen häufig ebenso rasch wie sie aufgetaucht sind, auch wieder zu verschwinden121. Übrigens will ich, um nicht
119 Kantorowicz sprach über das Thema: „Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte", also weniger über Friedrich II. als die Methode seiner Biographie. Die anschließende Diskussion verlief sehr kontrovers. Bericht über die fünfzehnte Versammlung Deutscher Historiker, S. 25ff.
Kantorowicz hatte seine Quellenkenntnis im zweiten Band seines vieldiskutierten Werkes „Kaiser Friedrich der Zweite", erschienen Berlin 1927, unter Beweis gestellt. 121 Nicht bei Kantorowicz, der seit 1940 in Berkeley und seit 1951 in Princeton lehrte. Vgl. J. Fleckenstein: Ernst Kantorowicz zum Gedächtnis. Frankfurt 1964 (= Frankfurter Universitätsreden; 34). Cohns Urteil könnte 120
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ungerecht zu sein, niemals die Tatsache übersehen, daß Kantorowicz wirklich etwas gekonnt hat, auch wenn das, was er schrieb, in meinen Augen keine Wissenschaft war. Das Schönste an dem Hallenser Historikertag war, was man an Orten zu sehen bekam, die einem doch sonst niemals zugänglich wurden. So habe ich mit meiner Frau auf einer Exkursion die Lutherstadt Wittenberg kennengelernt. Wie unzählige Male hatte man nicht im Unterricht den Thesenanschlag Luthers durchgesprochen. Nun stand man an dieser welthistorisch bedeutsamen Stelle. Was war dieser Mann literarisch fruchtbar! Von einem Lizentiaten der Theologie wurden wir durch die Lutherhalle geführt, wo die Schriften Luthers in unzähligen Ausgaben ausgestellt waren. Der Vorsitzende des Deutschen Historikertages, Professor Brandi, hielt in Wittenberg einen Vortrag über Karl V., der dem Genius loci angemessen war. Nur mußte sich Professor Brandi damals ein wenig über seine Hörer ärgern, die, was bei einer Exkursion verständlich ist, nicht den vollen wissenschaftlichen Ernst mitbrachten, den er mit Recht glaubte erwarten zu müssen. Am Schluß des Historikertages noch eine Autofahrt nach Gernrode und Quedlinburg. Ich saß auf der Hinfahrt in der Nähe von Professor Walter Vogel, der diese Gegend schon kannte und sie mir schön zu erläutern wußte. Wir fuhren an dem trockengelegten, salzigen See vorbei und an dem langen süßen See. Befanden wir uns doch in der Gegend, die seit vielen Jahrhunderten ihre besondere Bedeutung durch die Gewinnung des Salzes hatte. Auch derjenige, der von Halle nichts weiß, verbindet mit diesem Ort die Vorstellung der Halloren 122 . Dann kamen wir nach Quedlinburg. Hier war es die Welt der sächsischen Kaiser, die sich mir erschloß. Das war nicht so eigentlich mein Jahrhundert. Jeder Historiker lebt ja mehr oder weniger in einer bestimmten Epoche. Bei den sächsischen Kaisern hatte ich nur einmal meine Visitenkarte abgegeben, als ich eine kleine Arbeit über die Schlacht auf dem Lechfelde veröffentlichte 123 . Jener frühen Zeit des Mittelalters haftet besonders die schlichte und einfache Größe an. Sie machte in dadurch mitbeeinflußt sein, daß Kantorowicz nach seiner Entlassung in Frankfurt a. M. im Jahr 1935 einen Lehrauftrag am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau annahm. K. Fuchs: Zur Entstehung, Entwicklung und Schließung des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau (Fraenckelsche Stiftung); in: J S F U B 31 (1990), S. 301-306, hier S.304f. 122 Halloren waren die Zunftmitglieder der Saline von Halle. 123 Vgl. SV N r . 1.
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jenem D o m zu Quedlinburg auf mich großen Eindruck. Hier ruhten die sächsischen Kaiser, die ja die eigentlichen Begründer des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation waren. Ich erinnerte mich an dieser Stelle meines Besuches in Meißen, w o mir schon einmal vor Jahren ein Einblick in das Leben dieser Epoche beschert war. Von Quedlinburg fuhren wir nach Gernrode. Gernrode lag auf dem Boden des Fürstentums Anhalt. N o c h war die deutsche Kleinstaaterei nicht recht überwunden. Infolgedessen mußten wir hier eine Rede des Staatsministers von Anhalt über uns ergehen lassen. Ihr folgte eine andere des Konservators, bei der ich in der kühlen Stiftskirche von Gernrode fest einschlief. [...] Am Schluß möchte ich noch anmerken, daß auch die Stadt Halle den Historikertag durch einen Empfang in ihrem Rathaus ehrte. Es sprach unter anderem der Regierungspräsident von Merseburg, ein Herr von Harnack, der Sohn des berühmten evangelischen Theologen in Berlin. Dieser Regierungspräsident war damals ziemlich angefeindet, weil er politisch eine linke Stellung einnahm. Programmäßig erledigte ich noch mit meiner Frau die übernommenen Artikel, die wir gleich an die betreffenden Redaktionen abschickten. Dann fuhr sie noch für ein paar Tage zu einer Tante nach dem benachbarten Gera, und ich selbst fuhr nach Haus. Eine Stunde Aufenthalt in Dresden konnte ich noch zu einem Wiedersehen mit der Brühischen Terrasse benutzen. Das ist etwas, was ich mir niemals habe entgehen lassen und was immer wieder einen Eindruck machte. Auch von diesem Historikertage habe ich in der Lehrerkonferenz berichtet. Ich hielt es für selbstverständlich, daß ich meine Kollegen wenigstens auf diese Weise an den Fortschritten der Wissenschaft teilnehmen ließ. Der Direktor des Johannesgymnasiums hat mich auch immer zu diesen Referaten ermuntert. Unsere Schüler hatten damals übrigens ein Erlebnis eigener Art, das aus allgemeinen und jüdischen Gründen verdient, festgehalten zu werden. Einer unserer Kollegen, Dr. Wenzel, spielte damals eine große Rolle beim Breslauer Rundfunk. Als Ernst Toller über den Breslauer Sender sprach, veranlaßte er ihn, in unserem Gymnasium eine Vorlesung zu halten. Toller erzählte (wohl im Anschluß an sein Buch „Das Schwalbennest") 124 , wie man ihm auf der Festung immer wieder dieses Schwalbennest zerstörte, an dem er Freude hatte. Es ist hier nicht meine Aufgabe, über
24
Ernst Toller veröffentlichte 1924 einen Lyrikband „Das Schwalbenbuch".
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die Persönlichkeit v o n Toller z u sprechen 1 2 5 . A u c h er gehört heute z u denen, die nicht mehr genannt werden. [...]
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Der Schriftsteller Ernst Toller (1893-1939), Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Samotschin/Prov. Posen, war als Mitglied der Münchner Räteregierung 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden. 1933 emigrierte er in die USA.
IX. ZEITEN P O L I T I S C H E R E R R E G U N G (1930-1931) „Und doch war das schließlich alles nur ein Vorspiel für das, was uns später bevorstand." Der Verein Jüdisches Museum unternahm damals einen Ausflug nach Dyhernfurth. Hier hatte einstmals eine bedeutende jüdische Gemeinde bestanden, eine Gemeinde, die sich, und das ist vielleicht charakteristisch für das Judentum unserer Vergangenheit, eigentlich um eine Druckerei entwickelt hat. Die Dyhernfurther Drucke sind einstmals durch den ganzen Osten gegangen und haben in der Geschichte des hebräischen Buchdruckes ihre Bedeutung gehabt. Von dieser Gemeinde war im Jahre 1930 nur noch der Friedhof übriggeblieben. Heute ist auch dieser Friedhof nicht mehr vorhanden. Er ist am 9. November 1938 zerstört worden. Diesem Friedhof, der besonders stimmungsvoll in den alten herrschaftlichen Park eingebettet ist, der einst dem sehr judenfreundlichen schlesischen Provinzialminister Grafen Hoym gehörte, galt unser Besuch. Die kunsthistorische Führung hatte Professor Grotte übernommen; aber er machte das alles so nüchtern und ohne jede Spur jüdischen Empfindens. So sprach ich selbst dann noch einige Worte und versuchte, den zahlreichen Menschen, die uns auf dieser Fahrt begleitet hatten, klar zu machen, was dieser Friedhof einst für unsere Ahnen bedeutet hat, die ihre Toten in Breslau nicht beisetzen durften und sie den weiten Weg bei Hitze und Kälte hierherbringen mußten 1 . In der Stadt Dyhernfurth selbst war die ehemalige Synagoge nach Auflösung der Gemeinde an die Stadt verkauft worden, die sie in ein Feuerwehrdepot umgewandelt hat. Ganz deutlich konnte man auch nach dem Umbau noch die Konturen des alten G'tteshauses erkennen. Man hatte, um uns die Besichtigung zu erleichtern, auch einen Teil der Feuerwehrwagen herausgerückt. Es muß übrigens hinzugefügt werden, daß die Juden niemals aus Dyhernfurth vertrieben worden sind, sondern Erst 1762 erhielt Breslau einen eigenen jüdischen Friedhof. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Dyhernfurth vgl. B. Brilling: Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Entstehung und Geschichte. Stuttgart 1972, S. 57-69. 1
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daß sie freiwillig abzogen, als ihnen das hebräische Buch nicht mehr soviel bedeutete und der Zug nach der Großstadt auch diese kleine Gemeinde zur Auflösung brachte. In der jüdischen Geistesgeschichte aber wird Dyhernfurth, durch das ich auch noch später jüdische Menschen führen durfte, immer lebendig bleiben. Gerade im Anschluß an diese Besichtigung von Dyhernfurth möchte ich, auch wenn ich mich damit nicht gänzlich an das zeitliche Erleben halte, einen anderen großen jüdischen Eindruck erwähnen, den ich gleichfalls dem Verein Jüdisches Museum zu verdanken hatte. Er unternahm nämlich eine Autofahrt nach Krakau, damit wenigstens ein kleiner Teil der Breslauer Juden einen Einblick in die Welt der Ostjuden gewann. Leider wurde diese Autofahrt am Sabbat angetreten, weil den meisten aus beruflichen Gründen nur das Wochenende zur Verfügung stand. Ich habe mich ein wenig geschämt, als wir durch jüdische Städtchen fuhren und die Juden den Sabbat feierten. Andererseits bedauerte ich es nicht, daß ich an diesem Ausflug teilgenommen habe, der mir eine Welt erschloß, die ich später niemals mehr wiedergesehen habe und die auch im wesentlichen 1939 zugrunde gegangen ist. Ich fuhr in dem Auto, das meinem Verwandten und Freunde Emil Kaim gehörte. Außer seiner Frau und seiner Schwiegermutter saß auch meine „Freundin" Paula Ollendorff darin. Ich hatte mich noch nicht gesetzt, so begrüßte sie mich mit den Worten, daß sie für Sozialismus und Zionismus nichts übrig hätte. Ich nehme nicht an, daß sie mir damit etwas Angenehmes sagen wollte. Aber überlassen wir das dem ewigen Richter. Die Fahrt ging über Ohlau, Brieg, Oppeln, Peiskretscham und Tost nach Beuthen. In Tost fiel mir im Vorbeifahren besonders eine alte Burgruine auf2. Als ich nun diese Straße in einem erheblichen Tempo in einem glänzenden modernen Wagen dahinsauste, da gingen meine Gedanken zweihundert Jahre rückwärts. Ich sah die Altvorderen, wie sie die Reise auf dieser Straße zu Fuß oder in einem bescheidenen Wägelchen antraten, um vielleicht nach Leipzig zur Messe zu fahren, vor allem aber, um in mühsamer Arbeit den Lebensunterhalt für ihre Familie zu gewinnen. Jedes dieser Örtchen, die ich nannte, war für sie einstmals eine Übernachtungsstätte. An jedem der Orte hatte sich, nicht zum mindesten, um durchreisenden Juden diese Übernachtung zu ermöglichen, eine Gemeinde gebildet. So erklärt es sich, daß in Schlesien diese Gemeinden im Abstand einer Tagesreise entstanden sind. Wegen
Das Schloß Tost war seit dem Brand von 1811 eine Ruine. Wenige Jahre zuvor hatte hier Joseph von Eichendorff einen Teil seiner Kindheit verlebt. 2
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IX. Kapitel
der Sabbatfahrt schämte ich mich auch vor dem Geist dieser frommen Vorfahren. In Beuthen machten wir einen kurzen Aufenthalt, um das Mittagbrot einzunehmen, dann ging es bis an die Grenze. Es dauerte eine ganze Zeit, bis auf der Landstraße zwischen Beuthen und Königshütte die Pässe abgestempelt waren. Da aber unsere Exkursion dem polnischen Konsulat in Breslau gemeldet war, so hatten wir keine Schwierigkeiten. Bis Kattowitz hatte man noch das Gefühl, in Europa zu sein; aber in dem Augenblick, als man die galizische Grenze überschritt, hatte man fast das Gefühl, in einen anderen Erdteil zu kommen. Der Autofahrer merkte es zunächst an den Straßen und an den Schlaglöchern; aber es war auch im ganzen eine andere Welt. Unwillkürlich mußte man an die Romane von Franzos denken und besonders an sein „Halbasien"3. Das erste galizische Städtchen, das wir durchfuhren, war Trzebinia. Hier sah man eine Fülle östlicher Glaubensbrüder, alle im Kaftan. Vor dem Städtchen sah man viele Gänse, die man dort als das Schwein des Ostjuden bezeichnete. Wie gern wäre ich ausgestiegen und hätte an einem G'ttesdienst teilgenommen; aber besser war es vielleicht, daß sie gar nicht merkten, daß ein Jude mit seinem Auto den Sabbatfrieden störte. Vor der Einfahrt nach Krakau erblickten wir den Hügel des polnischen Nationalhelden Kosciuszko4 und die alte Befestigung der Barbakane. Die ganze Exkursion war in einem fürstlichen Hotel untergebracht, das ganz europäisch war. Ich war übrigens Gast des Vereins und hatte als Entgelt die Verpflichtung übernommen, einen kleinen Vortrag über die Geschichte der Juden in Krakau zu halten. Der europäische Glanz des Hotels stand im Gegensatz zu der großen Armut, die man sonst sah. Ich werde mich natürlich hüten, auf Grund der Eindrücke, die ich in zwei Tagen in mich aufgenommen habe, ein endgültiges Urteil über Polen zu fällen. Gleich nachdem wir uns ein wenig vom Reisestaub gesäubert hatten, unternahmen wir unter der Führung des Direktors Wiese vom Schlesischen Museum für Bildende Künste eine Besichtigung der Jagiellonischen Bibliothek, in deren Hof sich das Standbild des Kopernikus erhebt. Vor noch gar nicht so langer Zeit hatte ich an seinem Grabe in Frauenburg K. E. Franzos: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien. 2 Bde. Leipzig 1876. 4 Der Kopiec Kosciuszki (Kosciuszkohügel) war im 19. Jahrhundert zur Erinnerung an den Helden des polnischen Freiheitskampfes von 1794 Tadeusz Kosciuszko (1746-1817) aufgeschüttet worden. 3
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gestanden. Polen und Deutsche haben ihn in gleicher Weise für sich in Anspruch genommen. Durch die wundervolle Handschriftensammlung führte uns eine polnisch-jüdische Gelehrte, Fräulein Dr. Lydia Ameisenowa 5 . Auch sie ist heute, wie so viele andere, verschollen. Man wagt gar nicht die Frage aufzuwerfen, was aus der ganzen jüdischen Intelligenz in Polen geworden ist. Daran schloß sich eine Besichtigung der Marienkirche an, in der sich damals der berühmte Marienaltar des Veit Stoß befand 6 . Im Halbdunkel dieser Kirche war nicht allzuviel an Einzelheiten zu erkennen. Großen Eindruck machte auf mich auch die Frömmigkeit des polnischen Volkes, in dem der Katholizismus immer sehr verankert war. Dann ging es hinauf nach dem Wawel, der berühmten Burg der polnischen Könige. Ich kletterte in der Sommernacht den Berg empor und nahm von dort eine eigenartige Stimmung mit. Ich konnte einen Blick in den Schloßhof werfen und über die Weichsel. Welches Schicksal hat das polnische Volk im Laufe der Jahrtausende erfahren! Damals 1930 befand es sich in einer relativ glücklichen Epoche. Es konnte noch nicht ahnen, daß ihm kaum ein Jahrzehnt später ein erneutes furchtbares Schicksal bevorstehen würde, indem es noch einmal aufgeteilt werden würde. Neben dem Wawel befand sich das Judenviertel, der sogenannte Kazimierz. Hier oben wohnten Zehntausende von Juden. Es ist der geschlossenste Eindruck einer Judensiedlung, den ich jemals in meinem Leben empfangen habe. Als wir dort hinaufkamen, war der Sabbat gerade zu Ende. Die Juden öffneten ihre Läden, und der Alltag trat wieder in seine Rechte. Kaftan und Käppchen herrschten vor. Man sah manches durchgeistigte Gesicht, dem man das Talmudstudium von den Zügen ablesen konnte. Die Wohnungen waren von einer äußersten Primitivität. Wenn man auch überzeugt war, daß dort oben viel Armut herrschte, so konnte ich doch auf der anderen Seite die Vorstellung nicht loswerden, daß die Juden Krakaus, soweit sie dort wohnten, sehr wenig Wert darauf legten, ihre Wohnungen zu verbessern und etwas für die Schönheit des Alltags zu tun. Das waren eben Dinge, die ihnen nicht lagen, und diese 5
Vermutlich die bekannte polnische Buchwissenschaftlerin Zofia Ameisenowa. Ö b sie auch den Vornamen Lydia trug, ist ungewiß. 6 Die Formulierung macht deutlich, daß C o h n vom Abtransport des Krakauer Marienaltars Kenntnis hatte, der 1940 von den Deutschen nach Nürnberg verbracht worden war. Nach freundlicher Auskunft des Stadtgeschichtlichen Museums Nürnberg vom 6. 7. 1994 erfolgte die Rückgabe des Altars an die polnischen Behörden im April 1946.
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Vorstellungen haben sie leider mit nach Palästina hinübergenommen, wie ich mich später überzeugen konnte. An diesem Abend wollte ich nur einen ungefähren Eindruck der Judengasse haben. Am nächsten Tage war eine ausführliche Besichtigung vorgesehen, von der noch viel zu erzählen sein wird. Ich kehrte dann noch mit dem mich begleitenden Herrn Ludwig Laqueur in einer jüdischen Teestube ein, von der aus wir die auf- und abflutenden Menschen beobachten konnten. Der nächste Tag war ein Sonntag. Man sah auf den Straßen Krakaus viele Legionäre. Es sollte eine große politische Demonstration der Bauernpartei gegen Pilsudski stattfinden. Wir erblickten auch Abteilungen der polnischen sozialistischen Partei, der PPS 7 . Selbstverständlich bemühten wir uns als Gäste Polens, uns von alledem möglichst fernzuhalten. Zunächst fand eine Besichtigung des Wawels statt, wo die polnischen Könige begraben waren. Dann ging es in das Museum Czartoryski. Wir wurden von dem Kustos geführt, der sich charakteristischerweise der französischen Sprache bediente. An und für sich konnte ja jeder gebildete Pole Deutsch; aber sich auf polnischem Boden der deutschen Sprache zu bedienen, das hätte seinem nationalen Empfinden widersprochen. Die Sprache der Diplomaten war gewissermaßen neutraler Boden. Dieses Museum war vor allem der Kunst gewidmet; Einzelheiten sind mir, wie so häufig bei Museumsbesuchen, nicht in Erinnerung geblieben. Darauf folgte ein großes Festessen in der Loge, bei dem der Verein Jüdisches Museum offiziell von dem Kultuspräsidenten Dr. Landau begrüßt wurde. Ergänzend möchte ich noch bemerken, daß nicht alle Juden Krakaus in der Judengasse wohnten, sondern daß die Gebildeten oder besser gesagt die Assimilierten in die anderen Stadtteile gezogen waren und sich in Haltung und Kleidung von der polnischen Bevölkerung nicht unterschieden. Dieses Festessen war ein großes Attentat auf den Magen. Wenn ich an diese Speisenfolge denke, so wird mir verständlich, warum in den sogenannten guten Zeiten vor 1914 so viele polnische Juden Stammgäste von Karlsbad oder Marienbad waren. Ich habe in meinem Leben immer sehr wenig für so ausgiebige Festessen übrig gehabt. Selbstverständlich mußten auch hier Reden vom Stapel gehen. Auch ich hatte hier mein Sprüchlein über die Geschichte der Juden in Krakau zu sagen. Ich hätte mich gern davor gedrückt, weil es mir so unwürdig war, zwischen Suppe, Die Polska Partia Socjalistyczna war 1892 nach dem Vorbild der deutschen SPD gegründet worden. 7
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Fisch und Braten Ernsthaftes aus jüdischer Geschichte zu berichten. Aber da ich mich nun einmal zu dieser Rede verpflichtet hatte und dafür mitgenommen worden war, blieb mir nichts anderes übrig, als es zu tun. Aber ich habe sicher in meinem Leben besser gesprochen als bei jenem Essen. Am Nachmittag fand dann der Gang durch das Judenviertel statt, und wenn ich auch im Zuge einer größeren Gesellschaft gehen mußte, so werden doch diese Stunden für mich unvergeßlich sein. Ich bemühte mich, mich innerlich auf das einzustellen, was ich zu sehen bekam. Dort oben in der Judengasse des Kazimierz befindet sich auch ein alter Friedhof. Auf ihm ruht einer der jüdischen Geistesheroen, der Rabbi Moses Isseries, der in der hebräischen Literatur mit der Abkürzung Remo bezeichnet wird8. Wenn Josef Caro den Schulchan aruch, den gedeckten Tisch, geschrieben hat, so hat Remo das Tischtuch, die Mappa, dazu geliefert9. Das will heißen, daß er zu dem Gesetzbuch Caros gewissermaßen ein erweiterndes, erläuterndes geschaffen hat. Als sein Todestag gilt der Lag beomer. An diesem Tage pflegten Zehntausende von polnischen Juden zu seinem Grabe zu pilgern. Die polnische Staatsbahn legte dazu Sonderzüge ein. Jeder fromme Jude, der das Grab Remos besuchte, legte an seinem Grabe einen Zettel, kwittlach genannt, nieder. Auf ihm verzeichnete er seine Wünsche, die er an den Ewigen zu richten hatte. In seiner naiven Frömmigkeit war der Jude Polens ganz davon überzeugt, daß der große Meister Remo, der an diesem Tage eine besondere Sprecherlaubnis bei dem Ewigen hatte, seine Wünsche, wenn sie am Grabe niedergelegt waren, oben ausrichten würde. So war der Friedhof, da Lag beomer noch nicht lange vorbei war, von unzähligen solcher Zettel bedeckt, die langsam vergingen. Sie durften keinesfalls etwa zusammengekehrt und entfernt werden. Diese Empfindungswelt ist von der unseren so verschieden, daß man sich erst langsam in sie hineinfinden muß. Zweifellos liegt in diesem Glauben auch eine gewisse Assimilation an den Glauben der katholischen Kirche. Andrerseits habe ich in Erez Israel beobachten können, daß dort eine ähnliche Sitte besteht. Zwischen die Ritzen der Klagemauer oder, wie wir Juden sie besser nennen, der Westmauer, schiebt man die gleichen Zettel. Man Rabbi Moses Isseries lebte Mitte des 16. Jahrhunderts in Krakau. Sein Kommentar „Mappa" ergänzte den Schulchan Aruch um das aschkenasische Brauchtum in den Ritualgesetzen. 9 Josef Caro (Karo) war ein spanisch-jüdischer Schriftgelehrter des frühen 16. Jahrhunderts. 8
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wirft sie auch in die Höhle Machpela, wo die Erzväter ruhen, weil man überzeugt ist, daß sie einen besonderen Weg zum Herrn finden. Mögen Religionswissenschaftler untersuchen, ob das Christentum diesen Brauch von den Juden entlehnt hat oder ob das Umgekehrte der Fall ist. Der Jude, der gewöhnt ist, westjüdische Friedhöfe zu besuchen, vermißt auf dem alten jüdischen Friedhof in Krakau all das, was uns das „Haus des Lebens" versöhnlicher macht: die Blumen und die Pflege der Grabstätte. Wir wanderten durch viele Synagogen, die sich dort oben in reicher Zahl befinden. In vielen von ihnen wurden uns prächtige silberne Becher und Ahnliches gezeigt. Wer weiß, ob alle diese kostbaren Thoravorhänge heute noch vorhanden sind! Wer weiß, was aus diesen Juden Krakaus geworden sein mag. Wenn mich auf der einen Seite auch all das religiös sehr beeindruckte, so bedrückte mich doch wieder, was ich dort an Not und Elend sah. Ich wurde aber immer wieder das Empfinden nicht los, daß viele der Menschen einfach nicht den Trieb hatten, aus der Tiefe ihres Daseins emporzukommen. Ich sah eine Mutter in einem ziemlich verwahrlosten Zustand auf der Treppe ihres Hauses sitzen, wie sie ihrem Kinde irgendeinen Brei zu essen gab. Wir wurden da oben auch sehr angebettelt, obwohl der Verein als Ganzes der Kultusgemeinde Krakau einen ansehnlichen Betrag zur Verfügung gestellt hatte. Aber viele glaubten, daß sie noch selbst ein besonderes Anrecht auf eine Extragabe besaßen. Ab und zu kam man auch in Gespräche mit Einzelnen. Ein junger, sehr intelligenter Bursche fragte mich, ob man in Breslau auch „lernte", das heißt, sich mit dem Talmudstudium beschäftigte. Ich konnte ihn in dieser Beziehung beruhigen, weiß aber nicht, ob er wirklich innerlich beruhigt war. Allzugroßes Vertrauen zu den hebräischen Kenntnissen der Westjuden schien er nicht zu haben. Die Besichtigung des Judenviertels war für mich das abschließende Erlebnis von Krakau. Da ich am nächsten Tage, einem Montag, schon wieder in der Schule sein sollte, so mußte ich die Nacht daran geben, um bei den sehr schlechten Verbindungen rechtzeitig in Breslau einzutreffen. [...] Obwohl Krakau für Breslau eigentlich die nächstgelegenste große Stadt ist, waren die Verbindungen in polnischer Zeit sehr jammervoll. Beide Seiten waren wohl nicht daran interessiert, sie zu verbessern. Vom Bahnhof aus ging ich sofort in die Schule und gab die nicht unbeträchtliche Anzahl von Stunden. Ich habe es nie bedauert, wenn ich mich an solchen Tagen verhältnismäßig sehr angestrengt habe. Die Anstrengung verging, das aber, was blieb, waren die Eindrücke.
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Selbstverständlich habe ich auch über das, was mir die Reise gebracht hat, in verschiedenen jüdischen Zeitungen berichtet 10 . Es bleibt einiges nachzutragen, was ich noch vor dieser Reise erlebt habe. Es fand in Breslau eine Tagung der deutschen Volkshochschulen statt, die in dem Neuen Magdalenengymnasium draußen in Scheitnig vor sich ging. Als ich diese prächtige Anstalt sah und sie mit unserem alten, ziemlich verbauten Johannesgymnasium verglich, beschlich mich ein klein wenig Neid in bezug auf die Nervenersparnis, die man da draußen sicher hatte, wenn man dort unterrichtete. Wir litten am Johannesgymnasium oft sehr darunter, daß wir wegen des Straßenlärmes nicht die Fenster öffnen konnten. Gewiß, das alte Magdalenengymnasium, das unendlich lange Zeit in besonders ungünstigen Räumen der inneren Stadt untergebracht war, hatte schon Anspruch auf diese Verlegung gehabt, nachdem auch das Elisabethgymnasium moderne Räume erhalten hatte. Die Tagung verlief in den üblichen Formen, die solche Tagungen eben mit sich bringen. Eine eindrucksvolle Rede hielt der Leipziger Professor Kessler über das Thema: „Wie kann die Volkshochschule für das öffentliche Leben bilden?" Ich saß damals neben Paul Eggers, den ich schon in anderem Zusammenhange erwähnt habe, als von der Breslauer Volksbühne die Rede war. Wir hörten auch eine Rede des Ministerialrats Becker. Aber diese ganze Volkshochschulbewegung gehört ja nun in dieser Form lange der Vergangenheit an. Im Vorraum des Magdalenengymnasiums war eine Buchausstellung aufgebaut. Auch die Volkswacht hatte einen großen Tisch errichtet. Meine verschiedenen Jugendschriften kamen da gut zur Geltung. Ich hoffe, daß man es mir nicht als ungebührliche Eitelkeit anrechnen wird, wenn ich betone, daß ich mich darüber sehr gefreut habe. Es lag auch ein Empfehlungsbrief der Oberschulrätin Wegscheider bei, den diese besonders für meinen „Wilhelm Liebknecht" geschrieben hatte und der vervielfältigt worden war. Politisch wurden die Zeiten damals schon sehr erregt. Das fand auch auf diesem Volkshochschultag einen gewissen Ausdruck. Es war besonders die Gestalt des Dr. Frick, die in der nationalsozialistischen Bewegung immer führender hervortrat. Wie stolz war ich auch, als ich die ersten Exemplare meines „Hermann von Salza" in der Hand hatte. Der
10
Vgl. SV Nr. 350.
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Verlag Marcus hatte sich diesmal, auch was die Ausstattung anbelangt, etwas angestrengt und eine gebundene Ausgabe neben der broschierten herausgebracht. Gerade nach dem Erscheinen des Buches fand eine Wanderversammlung der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur nach Militsch statt 1 1 . An ihr nahm auch der Präses der Gesellschaft teil, Geheimrat Kroll. Ich konnte ihm schon während der Autofahrt von dem Erscheinen des Buches berichten und ihm für seine tätige Hilfe danken, die er dabei geleistet hat. Es ging bei dieser Fahrt zunächst nach Brustawe im Kreise Militsch. Diese Gegend ist durch ihre Teichwirtschaft berühmt; auch ist hier ein idealer Nistplatz für Vögel. Wir hörten einen Vortrag des damaligen Landrats Sperling. So einen O r t wie Brustawe (sein Name ist übrigens heute längst verdeutscht 1 2 ) würde man außerhalb einer solchen Exkursion niemals kennengelernt haben. Diese Teiche um Militsch haben noch etwas Vorzeitliches. Das einzige, was der Breslauer in der Regel von ihnen weiß, ist, daß sie ihm seinen Weihnachtskarpfen liefern. Von Brustawe ging es weiter nach Kraschnitz, wo eine Frühstückspause stattfand. In Wembowitz hielt der Landrat von der H ö h e einer Windmühle aus einen Vortrag über die ungerechte Grenzziehung gegen Polen, wie sie der Versailler Vertrag mit sich gebracht hat. Es war doch eben eine schwärende Wunde im Körper des deutschen Volkes, und man muß begreifen, daß dies nicht für alle Zeiten so bleiben konnte. Es ist verhältnismäßig leicht, einen Krieg zu gewinnen; es ist aber, so will mir scheinen, schon viel schwerer, einen maßvollen Frieden zu schließen. Das haben nur die wenigsten gekonnt. Solange die Welt sich in dieser Beziehung nicht ändern wird, wird sie immer wieder von neuem Unheil heimgesucht werden. Dann wurde eine Rundfahrt durch Militsch unternommen, die ihr Ende in dem schönen Gymnasium fand, an dessen Spitze ein alter Mitschüler von mir, D r . Krebs, stand. Dieses Gymnasium war als Grenzlandanstalt von der Regierung besonders schön ausgestattet worden. Es ist ja nicht richtig, wie so häufig behauptet wird, daß die sogenannte Systemzeit für die nationalen Belange nichts übrig gehabt hat. Das Militscher Gymnasium allein beweist schon das Gegenteil. Man wollte, indem
Über diese „Wanderversammlung" am 22. 6. 1930 vgl. 103. Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Breslau 1931, S. 5. 12 Brustawe erhielt 1937 den Namen Eichensee. 11
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man es schuf, die Bevölkerung veranlassen, ihre Jugend an Ort und Stelle zu erziehen, sie dem Grenzland zu erhalten und nicht fortzugeben. Es entsprach den wissenschaftlichen Aufgaben der vaterländischen Gesellschaft, daß nun auch Vorträge gehalten wurden, die zu dem Geist des Ortes in Beziehung standen. Bemerkenswert ist der Vortrag, den Professor Koebner hielt und in dem er betonte, daß das Deutschtum bei der Kolonisation Schlesiens nicht in einen leeren Raum vorgestoßen sei. Ich glaube, daß gerade diese These manchen Hörern nicht sehr angenehm ins Ohr geklungen hat. Es gehörte zu den schon fast dogmatisch feststehenden Anschauungen der schlesischen Kolonialgeschichte, daß alles und jedes hier im Osten erst von den Deutschen geschaffen worden ist. Wenn nun gerade ein jüdischer Gelehrter wie Koebner etwas anderes betonte, so wird das manchem nicht recht gewesen sein. Im übrigen ist vielleicht hier wissenschaftlich noch anzumerken, daß erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit in einem großen Buche eines arischen Gelehrten etwas Ähnliches mit vielen Begründungen ausgeführt worden ist, wie es Koebner behauptet hat 13 . Das Buch wird übrigens im Augenblick restlos totgeschwiegen. Wann wird die Zeit kommen, die Wissenschaft von der Politik trennt! In der Mittagspause lösten wir uns von unserer Reisegesellschaft und gingen zu unseren alten Freunden Dr. Jutkowskys, die uns sehr liebevoll aufnahmen. Am Nachmittag wurde noch auf der weiteren Autofahrt eine Volksschule in Donkawe besichtigt, fast unmittelbar an der polnischen Grenze. Auch hier wurde im Sinne der deutschen Kulturerhaltung das Menschenmöglichste für die Volksschulkinder getan. Man hatte den Eindruck, daß der Landrat Sperling, der trotzdem über 1933 hinaus nicht in seinem Amte geblieben ist, ein besonders guter Vater für den ihm anvertrauten Grenzkreis war. In dieser Volksschule hingen auch die Bilder der beiden Reichspräsidenten Ebert und Hindenburg. Nun ging die Fahrt weiter nach dem Städtchen Trachenberg, wo wir das Schloß besichtigten. Der Name des ehemaligen Oberpräsidenten, des Fürsten Hatzfeldt, war für jeden Schlesier immer mit dem Schlosse von Trachenberg verbunden 14 . Ein kleiner Imbiß wurde noch im Hotel „Deutsches Haus" eingenommen, dann machte ich mit meiner Frau noch einen Spaziergang durch die nächtliche kleine Stadt. Wir hatten die Empfindung, daß ähnlich das Städtchen ausgesehen haben müßte, in dem Die Anspielung gilt vermutlich dem Buch von Rudolf Kötzschke: Geschichte der ostdeutschen Kolonisation. Leipzig 1937. 14 Fürst Hermann von Hatzfeldt-Trachenberg (1848-1933) war in den Jahren 1894-1903 Oberpräsident von Schlesien gewesen. In den Jahren 1919-1921 übernahm er das Amt des deutschen Bevollmächtigten für Oberschlesien. 13
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einst Hermann und Dorothea gespielt hat. Eine wertvolle Bekanntschaft auf jener Reise war mir die des Professors Rosenthal, eines berühmten inneren Mediziners, des Sohnes unseres Gemeinderabbiners. In jenem Sommer 1930 beging das deutsche Volk die Feier der tausendjährigen Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Deutschland 15 . Überall wurden Reden gehalten, und ich hatte den Auftrag für diese Festrede in unserem Gymnasium. Ich glaube, daß ich es bei solchen vaterländischen Reden an der notwendigen Wärme des Gefühles nicht fehlen ließ; nur daß ich eben auf die Revanchetöne verzichtete und die Jugend nicht zu einem neuen Kriege aufputschte. Jetzt kam der Sommer ins Land. Für ihn hatten wir uns einen eigenartigen Plan vorgenommen, und es wurde vielleicht der schönste Sommer, der uns überhaupt im Leben beschert war. [...] wir hatten durch einen günstigen Stern bei einem Förster in der Grafschaft [Glatz] gemietet. [...] Kurz vor dem großen Walde, der Habelschwerdt von Hohndorf trennt, liegt ein Forsthaus, Wüstung genannt. [...] Nur dreihundert Menschen wohnten hier, und es gab weder Fleischer noch Bäcker. Die meisten buken ihr Brot selbst. Zweimal in der Woche erschien aus einem benachbarten Orte ein kleiner Wagen, auf dem man Semmel und Kuchen zu kaufen bekam. Es gab keinen Arzt am Ort und keine Apotheke. Die einzige Verbindung mit der Welt war der öffentliche Fernsprecher vom Gasthaus, aber auch der Förster hatte ein Telefon. [...] Wir sind dann vier Jahre hindurch in jedem Sommer nach Hohndorf gefahren, und wir hatten sogar die Absicht, uns dort ein Häuschen zu bauen und uns vielleicht überhaupt gänzlich dorthin zurüchzuziehen, bis auch dieser Plan wie so viele andere durch die Ereignisse von 1933 unmöglich wurde. Aber in diesen Sommern und besonders in dem ersten haben wir eine tiefe Verwurzelung mit dem Boden verspürt. Wir haben gemerkt, was es heißt, auf dem Lande zu leben, und wir sind auch vielen Menschen des Ortes nähergekommen. [...] Ein besonders eigenartiges Erlebnis eines solchen längeren Aufenthalts in der Grafschaft ist auch die dortige Mundart. Sie ist wieder gänzlich verschieden von der Mundart des Riesengebirges, die mir von früher her vertrauter war. Die Grafschaft gleicht ja als ganzes gewissermaßen einer Festung, die tief ins Böhmische hineinreicht und von der übrigen Welt ziemlich abgeschlossen ist. So wurde der Grafschafter eine Menschenart für sich. Die Sprache blieb von fremden Beimischungen bewahrt. Ich habe Ein politisch motiviertes Gedenkjahr, das mit der Räumung des Rheinlandes von der französischen Besatzung zusammenfiel. 15
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gern auch die Grafschafter Heimatzeitungen und Zeitschriften gelesen. Einer der bekanntesten Grafschafter Heimatdichter, Karger, lebte auch in Hohndorf. Seine Dichtung hatte nicht den Ehrgeiz, in die höchsten Regionen des Erlebens zu führen; sie wollte den Grafschafter Menschen bloß ihre Landschaft näherbringen 16 . Ein eigenartiger Hauch wehte auch um die alten Freirichtereien. Das sind heute meistens Gasthöfe oder größere Wirtschaften; aber einstmals wurde in ihnen noch Gericht gesprochen. Hier mag der Schulze seinen Wohnsitz gehabt haben, als er an der Spitze deutscher Kolonisten in dieses Land kam, das er aus dem Walde herausschlug. Der letztere Ausdruck ist durchaus wörtlich zu nehmen. Nirgends sind hier Slawen aus ihren Sitzen verdrängt worden. Das erkannte man auch immer beim Wandern an den Ortsnamen, die darauf hinwiesen, daß alles einstmals neu gerodet worden war. Eine unserer Wanderungen führte uns auch über die damalige Grenze. Der kleine Fluß Adler oder wie er in der slawischen Form heißt, Erlitz, trennte Deutschland von der Tschechoslowakei. Aber auf beiden Seiten dieses Flüßchens wohnten deutsche Menschen. Wir wanderten von Hohndorf durch den Wald zunächst nach der Brandbaude, stiegen nach Langenbrück hinunter, wo wir in einem Gasthaus eine kurze Rast machten und gingen dann über die Grenze. Eine kleine Brücke führte über die Erlitz, und beiderseits lagen die Zollhäuser. Kam man auf die andere Seite, so befand man sich in Kronstadt im Adlergebirge. Aber auch hier war die Bevölkerung durchaus deutsch, wenn man auch in der Mundart den weicheren österreichischen Ton merkte. Eine alte Kirche stand im Ort, die einst die Prämonstratenser gebaut hatten. Es hat immer einen besonderen Hauch, wenn man eine politische Grenze überschreitet, die ja gleichzeitig eine Währungsgrenze darstellt. Jenseits von Kronstadt stiegen die Adlerberge in die Höhe, die ich selbst leider niemals durchwandert habe. An einem Sonntag holte uns Franz mit seinem Auto ab, eine Tatsache, die an und für sich für Hohndorf schon eine Sensation bedeutete. [...] Als Autofahrer kommt man ja um das stolze Gefühl, einen Berg selbst bezwungen zu haben; aber ich muß anmerken, daß ich in meinem Leben nur selten Gelegenheit hatte, die Berge von der Perspektive des Autofahrers aus zu sehen und daß ich das im Grunde auch nicht bedauere. Da wir an diesem Tage noch ein großes Programm abzuwickeln hatten, konnten wir uns leider nirgends aufhalten. Dann kletterte der 16
Robert Karger (1874-1947) dichtete im Glatzer Dialekt. Er gab den beliebten „Guda Obend-Kalender" heraus.
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Wagen nach Seitenberg an der Biele hinunter, und von dort ging es auf glatter Straße nach Landeck. Dieses schon aus der Zeit Friedrichs des Großen berühmte Bad sah ich damals zum ersten Mal. Meine Mutter war dort mit ihrem Fräulein Grete zur Kur und freute sich natürlich sehr über unseren Besuch. Wir verlebten eine schöne Stunde an dem Waldtempel, einer alten romantischen Stelle unweit des Bades. Als düsterer Schatten lag damals über unserer Familie die immer bedrohlicher werdende Lage der Firma Geschwister Trautner Nachfolger. Ich mußte, da ich ja auch das dornenvolle Amt der Testamentsvollstreckung zu betreuen hatte, die Gelegenheit benutzen, um mit meinem Bruder die Situation durchzusprechen. Ich sagte ihm, welche Besorgnis ich angesichts der personellen Verhältnisse in der Leitung für die Zukunft der Firma hätte. Dieses gute alte Geschäft, aus dem mein seliger Vater in fleißiger und mühevoller Arbeit ein großes Vermögen gebildet hatte, war nun dadurch, daß eine junge Generation dieses Geschäft nicht mehr als Verpflichtung ansah, in eine überaus schwere Lage gekommen. Nicht nur, daß wir ja auch selbst noch die Reste unseres Vermögens in diesem Betriebe stecken hatten, war für Franz und mich, die wir uns immer darum bemüht hatten, auch die Tradition der Familie aufrecht zu erhalten, noch sehr viel anderes in Gefahr. Leider haben meine schwärzesten Befürchtungen nur recht behalten. Später, als die Firma im Jahre 1932 in Konkurs gegangen war, mußte ich oftmals an jenes Gespräch im Walde bei Landeck denken. Es ist im Leben oft besser, wenn man nicht recht behält. Mutter war ein wenig traurig, daß ein Teil der karg bemessenen Zeit auf diese Weise verlorenging; aber es ließ sich nicht ändern. Dann machte ich mit Franz noch einen Besuch bei Sanitätsrat Lachmann, der auch der Arzt meiner Mutter war. Bei dieser eigenartigen Persönlichkeit möchte ich noch ein wenig bleiben dürfen. Lachmann hatte damals schon eine jahrzehntelange Praxis als Badearzt in Landeck hinter sich. Er war ein glühender Zionist und immer von dem Gedanken erfüllt, daß es möglich sein müsse, die klassischen Bäder von Tiberias in Palästina (warme Bäder wie Landeck) zu neuem Leben zu erwecken. Es ist nur sehr wenigen Menschen vergönnt, das, was sie sich vorgenommen haben, auch wirklich zu erreichen. Zu diesen zählt Lachmann. Er ist später tatsächlich nach Palästina übergesiedelt und Arzt in Tiberias geworden. Als ich im Jahre 1937 mit meiner Frau in Palästina war, auch Tiberias aufsuchte und von dort aus nach den heißen Quellen fuhr, kam ich mit dem arabischen Badediener in ein in hebräischer Sprache geführtes Gespräch über Dr.
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Lachmann. Er war voll des Lobes über ihn, was mir ein Beweis dafür war, daß Lachmann es verstanden hatte, auch hier die Menschen für sich zu gewinnen. Leider konnte ich ihn an diesem Tage nicht sprechen, da er von Tiberias abwesend war. Vor einigen Wochen las ich, daß Lachmann nun in Erez Israel gestorben ist. Er hat das Glück, an das Ziel seiner Lebensarbeit gekommen zu sein, und es ist zweifellos, daß das von ihm Geleistete für das uralte Bad Tiberias eine neue Zukunft einleiten wird. Es scheint ein weiter Weg von Landeck nach Tiberias; an beiden Städten aber fließen heiße Quellen, die kranken Menschen helfen wollen, und derselbe Jude hat ihre Heilwirkung studiert und zum Segen der Patienten angewendet. Auch das kurze Gespräch, das wir damals in seinem Sprechzimmer führten, drehte sich um Tiberias und um seine Zukunft. Das Schicksal von Dr. Lachmann bewies mir, wie schon so oft, daß man das, was man mit eiserner Energie erstrebt, schließlich auch erreicht, wenn man sich durch nichts von dem einmal ins Auge gefaßten Ziel abbringen läßt. [...]
Als wir wieder in der Einsamkeit unseres Forsthauses saßen, kam es uns ganz unwahrscheinlich vor, daß wir das alles an einem Tage bewältigt hatten. Aber dann war es auch wieder schön, nur vom Rauschen des Waldes umgeben zu sein. [...] Wir haben Hohndorf die Treue gehalten, solange wir dorthin fahren durften. Dieses Stück schlesischer Heimat wird immer in unseren Herzen bleiben, wohin uns auch das Schicksal stellen sollte. Dann kam wieder der Alltag. Die Kinder kamen gesund und vergnügt nach Hause. Die Jungens hatten noch nach ihrer Wanderfahrt durch die Grafschaft ein Lager bei Militsch gehabt, das ihnen auch landschaftlich andere Eindrücke bot. Als ich kurz nachher zu einem Vortrag nach Militsch kam, klagte mir eine alte Jüdin, die inzwischen lange in das Paradies eingegangen ist, ihr Leid, daß durch den Aufenthalt dieses jüdischen Bundes bei Militsch einer ihrer Töpfe trefe geworden sei. Es war nämlich selbstverständlich, daß bei den Lagern der jüdischen Bünde die Speisegesetze nach Möglichkeit gehalten wurden, auch wenn manche der Jungens es zu Hause nicht taten. Jene fromme Jüdin muß aber doch Bedenken gehabt haben, ihn nachher wieder in ihrem Haushalt zu verwenden. Wenn einmal später die Geschichte des deutschen Judentums geschrieben werden sollte, dann wird man auch dieser Bünde zu gedenken haben, die in jahrelanger Schulung ihre Menschen dazu vorbereiteten, Aufbauer Palästinas zu werden. Sie haben den Kern für die gestellt, die nachher
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IX. Kapitel
nicht aus Überzeugung, sondern aus Not über das Meer gegangen sind. [...] Damals saß ich vor allem über der Flotte Karls I. von Anjou. Vielleicht wird derjenige, der in seinem Leben selten Gelegenheit hatte, sich von dem wissenschaftlichen Eros fortreißen zu lassen, etwas überlegen lächeln und meinen, daß das gewiß doch kein Thema wäre, das einen mit Leidenschaft packen könne; aber vielleicht hat dieser Zeitgenosse unrecht. Wenn aus Tausenden und Abertausenden von Einzelnotizen das historisch abgerundete Bild aufsteigt, wenn die Menschen plötzlich Leben gewinnen und man mitten unter ihnen steht, dann erlebt man als wissenschaftlich arbeitender Geschichtsforscher unvergeßliche Stunden, und da ich immer ein romantischer Mensch war, so machte es mir Freude, jene Kapitäne und Admiräle König Karls von Anjou auf ihren Fahrten zu begleiten und ihr Leben noch einmal zu fühlen. Eine solche Arbeit ist gänzlich unabhängig davon, ob sie einmal viele oder wenige Leser finden wird. Es ist im übrigen anzunehmen, daß das letztere der Fall sein dürfte und daß die größte Freude an einer solchen Arbeit immer der haben wird, der sie schreibt. Kurz nach den Sommerferien erschien dann auch meine Arbeit über die Staatsbürgerrolle der Breslauer Juden, deren Fortsetzung leider niemals mehr herausgekommen ist 17 . Das Schlimmste, woran man sich in der Stadt wieder zu gewöhnen hatte, war für mein Gefühl das Telefon. Ich halte dieses Instrument für eine Erfindung des Teufels und bin heute glücklich, daß ich keines mehr habe. Wenn man so mitten im Leben stand, wie das damals bei mir der Fall war und besonders auch seine Vortragsbeziehungen zu pflegen hatte, so war das Telefon allerdings nicht zu vermeiden. Aber manchmal war es auch schlimm, wenn man mitten aus den Gedanken herausgerissen wurde, die man sorgsam aufgebaut hatte. Die Zeiten fingen übrigens an, von Tag zu Tag politisch erregter zu werden. Man merkte das doch sehr, und es wurden eben Dinge zum Problem, die es kurz vorher noch nicht waren. Besonders fühlbar war das bei den Rundfunkvorträgen, die sehr viele Instanzen zu passieren hatten, bis sie genehmigt waren. Alles und jedes war damals ein Spiel der Parteien und eine Auseinandersetzung unter ihnen. Leiter der Vortragsabteilung im Breslauer Sender wurde Dr. Waldemar von Grumbkow, der der
17
Vgl. SV Nr. 344.
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Sozialdemokratischen Partei angehörte. Er war eine anima Candida, ein reiner Mensch in jeder Beziehung, für den Sozialismus ein Ideal bedeutete und der nichts gemeinsam hatte mit den Menschen, für die die Partei nur ein Sprungbrett bedeutete, um ihre Geschäfte zu machen. Er hat seinen Idealismus später sehr bezahlen müssen 18 . Journalistisch erhielt ich damals einen sehr interessanten Auftrag. Die am meisten gelesene jüdische Zeitung Deutschlands, das Jüdische Familienblatt, brachte damals eine Artikelserie heraus: „Mit jüdischen Augen durch deutsche Lande". Daraus sollte eine Art jüdischer Baedeker entstehen. Für diese Folge von Aufsätzen hatte ich die Aufsätze über Nieder- und Oberschlesien und im besonderen über Breslau übernommen. Es machte mir außerordentlich viel Freude, den vielfältigen Spuren jüdischen Lebens in der Heimatprovinz nachzugehen und den Besucher gewissermaßen von Ort zu Ort zu führen 19 . Immer wieder hatte ich feststellen müssen, wieviel Menschen es gibt, die ihr ganzes Leben in einem Orte verbringen und doch am Ende nichts von ihm wissen. Soweit ich es beurteilen kann, ist diese Artikelserie damals viel gelesen worden und mag etwas dazu beigetragen haben, Unkenntnis zu beseitigen. Inwiefern mancher Leser des Familienblattes seine Lektüre nur auf die Familienanzeigen beschränkte, dürfte im einzelnen schwer feststellbar sein. Die Arbeiten über die Juden in Breslau habe ich zu den verschiedensten Zeitpunkten meines Lebens immer wieder aufgenommen und hoffe, vielleicht doch noch einmal eine Geschichte der Juden in Breslau vollenden zu können, die ich immerhin für die ersten Jahrhunderte abgeschlossen habe 20 . Damals neigte sich das Leben eines meiner liebsten Hörer auf der Städtischen Volkshochschule, Döring war sein Name, seinem Ende zu. Als ich davon hörte, habe ich ihn sofort in seiner Wohnung besucht, und dabei zum ersten Mal in meinem Leben in die Existenz einer erwerbslosen Familie in der westlichen Vorstadt Breslaus Einblick gewonnen. Auch das haben die meisten bürgerlichen Juden Breslaus nicht gewußt, daß von der halben Million Breslauer der größte Teil in diesen unendlich hohen Waldemar von Grumbkow (1888-1959) verlor 1933 seine Anstellung beim Breslauer Rundfunk und lebte danach u. a. als freier Schriftsteller. Über ihn A. Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. 2, S. 491-494. 19 Vgl. unten S. 594, Anm. 38. 2 0 Das Manuskript ist offenbar verloren und befindet sich nicht im Nachlaß Willy Cohns in den Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem. 18
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IX. Kapitel
und so eng aneinandergebauten Häusern sein Leben fristet. Von welch musterhafter Sauberkeit war die bescheidene Häuslichkeit dieser Familie. Wie klaglos trugen sie ihr Schicksal, und wie nahmen sie täglich aufs Neue den Kampf auf und fanden doch die Kraft, sich noch geistig fortzubilden. Solange dieser junge Mann es noch körperlich konnte, war er den weiten Weg nach der Paradiesstraße gekommen und hatte sich auf das eifrigste an den Diskussionen beteiligt. Auch in den Kursen der Städtischen Volkshochschule merkte man immer mehr den erregten Pulsschlag der Zeit. Oft standen sich die Menschen in den radikalsten Ansichten einander gegenüber, doch ist es mir immer geglückt, den Frieden und das Niveau einer akademischen Arbeitsgemeinschaft zu erhalten. Die Herbstwahlen brachten schon 100 Abgeordnete der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in den Reichstag. Man merkte deutlich, wohin die Fahrt ging. Eine kleine Genugtuung hatte ich für meine wissenschaftliche Arbeit. Die dem Orden Bne Brith angehörige Zacharias-Frankel-Loge verteilte an dem sogenannten Frankel-Tage (Frankel war der erste Direktor des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars) einen Preis, der jüdischen Gelehrten zufiel, die durch ihre Arbeiten die jüdische Wissenschaft gefördert hatten. Diesmal wurde mir der Betrag zuerkannt. Er sollte für die weitere Herausgabe der Staatsbürgerrolle Verwendung finden. Da es dazu nicht mehr kam, so habe ich ihn nicht erhoben; aber ich habe mich doch sehr gefreut, daß man an mich gedacht hat. Ehe der Winter ins Land kam, wollte ich die Lungen noch einmal mit frischer Luft erfüllen und die Nerven kräftigen. Ein paar Tage taten da manchmal Wunder. So fuhr ich wieder in die Grafschaft, diesmal aber nach Kudowa, wo ich im Elisenhof abstieg. Ich hatte dadurch zwar die Möglichkeit, wenn ich es wollte, jederzeit mit meinem Bruder zusammen zu sein, aber andererseits konnte ich mir selbst und meiner Erholung leben. [...] In diese stillen Herbsttage fiel unser Versöhnungsfest. Da in Kudowa, das im Sommer von jüdischen Kurgästen voll war, nun einschließlich der Logierhausbesitzer und Ärzte nicht mehr so viele da waren, daß ein Minjan zustande kommen konnte, so fuhr ich am Vorabend dieses uns heiligsten Tages nach Nachod, wo ich mir im Hotel Beranek ein Zimmer nahm. Ich habe ja schon öfters von der Nachoder Synagoge und von der Gemeinde erzählt. Noch immer betete dort der alte Kantor Liebowitz vor, aber ein neuer Rabbiner amtierte jetzt dort, Dr. Stransky. Es ist das Schöne an unserem G'ttesdienst, soweit er in hebräischer Sprache gehalten wird, daß er in der ganzen Welt dieselben Gebete aufweist und im Grunde auch von den gleichen Melodien
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getragen ist. So kam ich bald in die richtige Jom Kippur-Stimmung hinein, die eine Konzentration ganz auf die eigene Seele verlangt. Der G'ttesdienst wurde am Tage vernünftigerweise etwas unterbrochen. Man ging in der herbstlichen Mittagsonne ein wenig spazieren, ohne dadurch aus der Stimmung herauszukommen. Ich hatte alle synagogalen Ehren abgelehnt und mich auf die letzte Bank im G'tteshaus, die Schnorrerbank, zurückgezogen. Man wußte ja, wer ich war, und wollte mich ganz gern etwas ins Licht setzen. Aber ich mochte nicht; ich wollte mit mir und mit meinem Gotte allein sein. Das Schönste waren eigentlich die Predigten. Vielleicht wird man fragen, aus welchem Grunde ich gerade die Predigten des verehrten Dr. Stransky gut fand, wo ich doch schon die ganz großen Kanzelredner wie Maybaum und Guttmann gehört hatte. Aber das Rätsel ist rasch gelöst. Dr. Stransky predigte in tschechischer Sprache, und dadurch verstand ich sehr wenig, nur zwei Worte, die offenbar nicht tschechisch sind, sind mir in Erinnerung geblieben, nämlich chuzpah und assus panim. Diese beiden Worte waren mir bekannt, und ich konnte mir aus ihnen konstruieren, was er wohl etwa seiner Gemeinde gesagt hat. Das erste Wort ist, wie auch Reichsminister Dr. Goebbels inzwischen festgestellt hat, unübersetzbar, das zweite aber bedeutet „freches Gesicht". Offenbar riet Dr. Stransky seinen Gemeindemitgliedern eben zur Bescheidenheit, wie das so viele Rabbiner im Laufe der Jahrhunderte getan haben. Ich habe den Eindruck, daß der Erfolg ein erschütternder war. Im übrigen also konnte ich während seiner Predigten meinen Gedanken nachhängen und mir darüber klar werden, ob der Weg, den ich bisher gegangen bin, und den ich weiter gehen wollte, der richtige war. Als der Jom Kippur zu Ende war, fuhr ich mit dem deutschen Postauto, das damals die Verbindung zwischen Kudowa und Nachod aufrecht erhielt, wieder zurück. Ich hatte das Gefühl, mit meinem Schöpfer ins Reine gekommen zu sein. [...] Die Rückfahrt machten wir über Gießhübel, einem ebenfalls deutschen Orte jenseits der Grenze und kamen dann über Lewin nach Hause. Diese Stadt ist übrigens auch umbenannt worden und heißt heute Hummelstadt21. Diese vielen Veränderungen der Ortsnamen lassen einem manchmal das Gefühl aufkommen, nicht mehr in der eigenen Heimatprovinz zu sein, sondern in einem fremden Land. So kam ich erfrischt und von Arbeitswillen erfüllt nach Hause zurück. Die Tätigkeit setzte auch gleich auf allen Gebieten ein. Zunächst gab es 21
Lewin wurde Ende 1938 in Hummelstadt umbenannt.
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I X . Kapitel
einen Rundfunkvortrag über geschichtlich berühmte Schlesier zu halten, dann mußte ich nach Militsch fahren, wie schon so oft. Meine Tätigkeit in der Partei erforderte auch manchen Vortrag in den Distrikten. Ich habe übrigens damals immer in politisch gemäßigtem Sinne gesprochen und war nicht dafür, daß die Regierung Brüning gestürzt würde, weil ich das Bewußtsein hatte, daß nach ihrem Sturze eben der Nationalsozialismus zur Herrschaft kommen würde. Die Deutschnationalen hatten übrigens diese Einsicht nicht, und so ist dann alles gekommen, wie es kommen mußte, um mit Georg Hermann zu reden. Ganz überraschend trat damals eine interessante Aufgabe an mich heran. Eines Tages erschien bei mir ein Herr, dem man sofort die Zugehörigkeit zur „Grünen Front" ansah, man merkte, daß er vom Lande kam. Er stellte sich als Forstverwalter aus Günthersdorf vor und bat mich um die Anfertigung eines geschichtlichen Gutachtens in einem Streite, den die Herrschaft Wartenberg mit der Kirche führte 22 . Ohne daß ich einen Ton sagte, bot er mir für den ersten Schriftsatz die Summe von einhundert Mark. Ich war natürlich bei der bescheidenen Einstellung, die der Historiker zu den Erzeugnissen seines Gehirns hat, von der Höhe dieser Summe erschüttert; als ich aber nachher mit einem befreundeten Anwalt darüber sprach, sagte er mir, das sei gar nichts, ich hätte die Honorierung nach der Höhe des Objektes fordern müssen, dann wären ganz andere Summen herausgekommen. Aber so etwas hat mir niemals gelegen. Ich war erstaunt, daß man mich von diesen Kreisen her überhaupt gefunden hatte. Die Arbeit als solche war recht interessant und bot mir die Möglichkeit des Einblicks in ein anderes Gebiet der Geschichte. Es drehte sich im wesentlichen um die Frage, wer bei der Kirche des Ortes unterhaltspflichtig sei, ob die Herrschaft oder die Kirchenverwaltung. Erst viele Jahre später habe ich bei ganz anderen Gelegenheiten erneut die Möglichkeit gehabt, in solchen Rechtsfragen beratend tätig zu sein, die sich mit geschichtlichen Fragen überschnitten. Von geistigen Erlebnissen, bei denen ich der Empfangende war, möchte ich eines Vortrages gedenken, den Martin Buber bei der Eröffnung des neuen Semesters der jüdischen Volkshochschule hielt. Er sprach damals über Messianismus. Wenn er auch nicht die Fähigkeit hatte, die Dinge besonders klar darzustellen, so blieb doch der Eindruck einer sehr großen Persönlichkeit. Vielleicht hatte Buber schon bis zu einem gewissen Grade die Höhe seines Schaffens überschritten; aber es gibt wohl kaum einen Vielleicht Günthersdorf, Kreis Ohlau, doch gab es diesen Ortsnamen viermal in Schlesien. 22
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Juden, der Jahrzehnte hindurch einen größeren Einfluß auf die jüdische Jugend ausgeübt hat, als Martin Buber. Wenn so viele jüdische Menschen, die gerade aus den besten Kreisen stammen, den Weg nach Palästina gefunden haben, so ist das nicht zum mindesten ein Verdienst Bubers 2 3 . Ein anderes jüdisches Erlebnis war ein Vortrag, den Isaak Plessner über ostjüdische Musik hielt. Bei dieser Gelegenheit wurden hebräische Schallplatten vorgeführt, die die Buchhandlung von Julius Hainauer zur Verfügung gestellt hatte. Dort war jetzt mein Vetter Ernst Chef, der sehr viel jüdische Interessen hatte und in dieser Beziehung ganz anders eingestellt war, als mein Großvater Julius Hainauer. Wie wenig haben die Juden des Westens auch von diesen Kulturgütern, die in der Musik enthalten sind, gewußt. In dem ersten Vierteljahr des Winters 1930 zu 1931 hatte ich nicht weniger als drei Vortragszyklen gleichzeitig laufen. In der Akademie des Humboldtvereins las ich über die Reichsverfassung. Hier hatte ich fünfzig Teilnehmer. In der Städtischen Volkshochschule hatte ich sechzig Hörer, und auch der Kurs in der Jüdischen Volkshochschule war sehr gut besucht. Das bedeutete, daß drei Abende in der Woche besetzt waren. Außerdem war ich damals Oberprimanerhäuptling und hatte die Verantwortung für das Schicksal einer großen Gruppe junger Menschen. Ein Teil von ihnen lieferte für die Prüfung große Jahresarbeiten, die oft schon den Umfang von Doktordissertationen hatten. Die Durchsicht dieser Arbeiten erforderte selbstverständlich sehr viel Zeit. Man kann sich wohl vorstellen, wie beschäftigt ich in diesem Winter war. Dazu kam noch, daß die Arbeitsgemeinschaften in der Städtischen Volkshochschule durch die Zuspitzung der politischen Verhältnisse besonders viel Umsicht erforderten. Hier hatten nämlich die Teilnehmer das Recht, frei ihre Meinung zu äußern. Es ist ganz selbstverständlich, daß die Erwerbslosen, die unter den Nöten des Alltags sehr litten, all das vorbrachten, was sie bedrückte. Damit war aber die Gefahr der Zusammenstöße politisch verschieden denkender Menschen gegeben, und es erforderte eine sehr hohe Konzentration von Seiten des Lehrers, um über diese Schwierigkeiten hinweg zu kommen. Trotz alledem habe ich diesen Unterricht immer besonders gern gegeben. Und um das Maß vollzumachen, wuchsen damals auch die Schwierigkeiten für die Firma Trautner. Als mein Bruder Rudolf, der mich oft sehr gekränkt hatte, mit der Bitte an mich herantrat, daß wir Geschwister mit unserem weiteren Vermögen der Firma zu Hilfe kämen, sagte ich selbstverständlich zu. 23
Nicht zum mindesten = nicht zuletzt.
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IX. Kapitel
Ich tat dies vor allem im Andenken an meinen Vater, dessen Firma ich so lange halten wollte, wie es irgend ging. Felix Perle, der ein sehr gewiefter Kaufmann war und mit dem wir freundschaftlich sehr viel verkehrten, riet mir auf das Dringendste ab. Er sagte mir, ich solle vor allem an meine Frau und an meine Kinder denken. Ich habe seinen Rat nicht befolgt, sondern das getan, was ich glaubte, vor meinem Gewissen verantworten zu können. Ich glaube auch, so im Sinne meines Vaters gehandelt zu haben. Wenn ich heute die Dinge überdenke, so möchte ich meinen, daß meine Entscheidung auch da richtig war, wo mir kein Dank erwachsen ist. Vielleicht sogar, daß mein Bruder Rudolf heute, da er weit von mir getrennt ist und vielleicht manchmal die Vergangenheit überdenkt, nun erst erkennt, was ich ihm damals gewesen bin und wie ich gehandelt habe. Und letzten Endes bemüht man sich ja nicht, ein anständiger Mensch zu sein um des Dankes willen, sondern um vor seinem Gewissen zu bestehen. Die Fülle der Aufregungen, die mir die Trautner-Angelegenheit noch in den nächsten Jahren brachte, ist kaum in Worte zu fassen, und die Schädigung meiner Gesundheit ist nicht zum mindesten darauf zurückzuführen. Aber wir Juden haben ja immer die Meinung gehabt, daß Familie verpflichtet. Mögen die anderen Mitglieder der Familie und ihre Nachkommen einmal in späteren Zeiten meinen Nachkommen gegenüber in ähnlicher Weise handeln. Es liegt im Wesen solcher Erinnerungen, daß man die Ereignisse anführt, so wie sie sich eben abgespielt haben, ohne eine besondere methodische Ordnung in sie zu bringen. So will ich jetzt einen Abend schildern, den ich bei meinem Vetter Walter Goldstein verlebt habe. Dieser Vetter war ursprünglich Jurist gewesen und nun Schriftsteller geworden. Er hat im Laufe der Zeit zwei Biographien geschrieben, eine über Jacob Wassermann und eine über Carl Hauptmann 24 . Es ist gar keine Frage, daß dieser Vetter ein begabter Mensch war. Aber auf der anderen Seite hatte er das, was meine Kinder im Schülerausdruck der Gegenwart als einen „Knall" bezeichnen würden. Vielleicht würden sie sogar sagen, er hatte einen „Sonderknall". So brachte er zum Beispiel in seine Bücher ganz persönliche Dinge hinein, die gar nicht hineingehörten, wie zum Beispiel seine eigene Ehescheidung. Als ich viele Jahre später in Palästina war, hörte ich, daß er in einem Dorfe bei Haifa gesiedelt hatte, und zwar 24 W. Goldstein: Wassermann. Sein Kampf um Wahrheit. Leipzig 1929. Ders.: Carl Hauptmann. Ein Lebensbild. Schweidnitz 1931.
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in Kirjath Bialik. Als ich mich nach seinem Schicksal erkundigte, sagte man mir kurz und bündig, jetzt seien schon seine Kühe verrückt. An jenem Abend also fanden wir in seinem Hause noch die „Dichterin" Lessie Sachs. Auch sie war eine Marke besonderer Art. Sie hat später in vorgerückten Jahren einen getauften Juden, den Pianisten Wagner, geheiratet, der je nach Bedarf entweder Jude war oder Christ. Die beiden sind dann zusammen nach Amerika ausgewandert. Sie ist eine eifrige Besucherin der vornehmen New Yorker Synagogen geworden, weniger wohl aus religiöser Überzeugung, als um ihrem Manne Konzertabende zu verschaffen. Das Gewissen scheint für viele eine Angelegenheit zu sein, von der man besser nicht Gebrauch macht. Dann war noch an dem Abend eine Dame da, die mich sehr interessierte, ein Fräulein Dr. Eichbaum, die Assistentin des Professors Dr. Aubin 25 . Vielleicht hat er heute schon vergessen, daß er damals sogar eine jüdische Assistentin beschäftigte. Inzwischen wurde die politische Erregung in Breslau immer größer. Einmal fand auf dem Ring eine große Demonstration der Erwerbslosen statt, weil der Magistrat sich geweigert hatte, eine Kohlenbeihilfe zu zahlen. Wäre man dem Erwerbslosenproblem anders zu Leibe gegangen, so wäre uns sicher manches erspart geblieben. Bei der Festveranstaltung der Zacharias-Frankel-Loge hatte ich den Festvortrag über das Judentum in der Geschichte Schlesiens zu halten, und im Anschluß daran war ich auch mit meiner Frau zu dem Festessen eingeladen. So etwas habe ich im Grunde immer sehr ungern gemacht, wie ich mich niemals gern im Rampenlicht gesellschaftlicher Ereignisse bewegte. Wenn man damals durch die Straßen Breslaus ging, so konnte man an jeder Hauptecke einen Nationalsozialisten stehen sehen, der seine Zeitungen ausrief. Seit kurzem stand nun neben ihm auch ein Mann des Reichsbanners 26 , der das gleiche mit seinen Zeitungen machte. So zerrissen war damals das deutsche Volk. Vielleicht ist es ein charakteristisches Zeichen für jenen unruhigen Winter, daß wir damals häufig Gerda Eichbaum, 1903 in Mainz geboren, promovierte 1928 in Gießen über ein germanistisches Thema und folgte im nächsten Jahr „als wissenschaftliche Privatassistentin" Hermann Aubin nach Breslau. 1933 emigrierte sie nach Neuseeland. An der Aubin gewidmeten Festgabe von 1950 war sie mit einem Beitrag beteiligt. Vgl. L. Petry: Erinnerungen an Hermann Aubin; in: J S F U B 27 (1986), S. 343-349, w o Petry sie als Aubins Sekretärin bezeichnet. 25
2 6 Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war ein 1924 gegründeter Bund von Kriegsteilnehmern zur Verteidigung der Weimarer Republik.
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von nächtlichen anonymen Telefonanrufen gestört wurden, die keinen anderen Zweck hatten, als einen Juden um seine Nachtruhe zu bringen. Man konnte so etwas von einem Telefonautomaten aus machen, ohne besonders Geld auszugeben. Manchmal hatte man überhaupt das Gefühl, an jedem Tage könne der Bürgerkrieg ausbrechen. Daneben aber hieß es seine Nerven zu bewahren und die große Arbeit des Tages zu leisten. In einem Vortrag in der Lessing-Loge behandelte ich den russischen Fünfjahresplan. Ganz gleich, wie man zu jenen Ideen des Bolschewismus stehen mag, war es doch interessant, sich mit dem ersten Versuch einer staatlich gelenkten Wirtschaft zu befassen. Vieles, was später in Deutschland geschah, ist sicher unter Benutzung dieser Ideen gemacht worden. Wenn ich zu Vorträgen gebeten wurde, dann besonders außerhalb Breslaus, wobei aktuelle Themen bevorzugt wurden. So sprach ich in Liegnitz über Weltwirtschaftkrise und Judentum. Immer wieder wies ich darauf hin, daß gegenwärtig eine Zeitenwende auch für das Judentum wäre und daß es daraus seine Konsequenzen ziehen müßte. Vor allem betonte ich, daß es notwendig wäre, aus den vermittelnden Berufen herauszukommen und die neue Generation zu produktiveren [Berufen anzuleiten]. Aber bis auf geringe Kreise sind die meisten erst später durch die Tatsachen belehrt worden. Jenen Vortrag in Liegnitz hielt ich am 11. Dezember [1930], am Vorabend meines Geburtstages. In einer Nacht voll Nebel kam ich nach Breslau zurück, es war schon nach Mitternacht. Meine Frau hatte mir den Geburtstagstisch schön aufgebaut und meine Lieblingsblumen auf den Korridor gestellt. Am nächsten Morgen sagte mir Ruth ein Gedicht auf; auch meine Klasse hatte ein Gedicht gemacht und brachte ein Hoch auf mich aus. Wenn man weiß, wie Jungens häufig ihren Schulmeister oder wie sie so nett sagen, ihren „Pauker" (womöglich noch mit einem Zusatz) ablehnten, so kann man daraus doch vielleicht entnehmen, daß ich mich bei meinen Zöglingen einer gewissen Beliebtheit erfreute. U m so lieber arbeitete man dort. Schwierigkeiten ergaben sich mitunter, wenn ein jüdischer Kollege an der Anstalt war, der nicht so das Fingerspitzengefühl hatte, wie man sich in diesen Zeitläuften verhalten mußte. Das war damals bei einem Studienreferendar der Fall, dessen Namen ich aber nicht nennen möchte. Er bekam einen antisemitischen Drohbrief. Daraus ergaben sich dann wenig erfreuliche Besprechungen. An einen jüdischen Lehrer wurden damals eben sehr große Anforderungen gestellt. Es hieß, in jedem Augenblick der Situation gewachsen zu sein. U n d doch war das alles nur ein Vorspiel für das, was uns später bevorstand.
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Die bewußten Kreise im Judentum fühlten aber immer mehr, daß die Rettung unserer Gemeinschaft nur in der Richtung des Aufbaues Palästinas liegen konnte. So fand damals eine große Kundgebung für das arbeitende Palästina statt, bei der ein Palästinenser namens Elieser Liebenstein sprach. Diese Palästinenser waren natürlich nicht in Palästina geboren, sondern es waren vor längerer Zeit eingewanderte Ostjuden. Wenn sie vor einem deutschjüdischen Publikum sprachen, so bedeutete es immer eine Erschwerung der propagandistischen Situation, daß sie so wenig Gefühl für die straffere preußische Haltung hatten, die uns Lebensbedürfnis war. Sonst war dieser Abend, diese Kundgebung für das arbeitende Palästina, die der Jungjüdische Wanderbund veranstaltete27, ein sehr großer Erfolg, der auch manchen nachdenklich machte. Man kann gar nicht ausdenken, wie sich das Schicksal unserer Gemeinschaft gestaltet hätte, wenn damals in einer Zeit, die kaum eine Devisenbewirtschaftung kannte, jüdisches Kapital, jüdische Intelligenz und Arbeitskraft nach Erez Israel geströmt wären. Aber wann haben die Juden auf die gehört, die ihr Schicksal planen wollten. Nun kam im Kreislauf des Jahres wieder die Chanukkafeier für unsere drei Kinder, zu der meine Frau wie immer alles aufs Schönste vorbereitet hatte. In der Weihnachtsnacht [1930], kurz nach Mitternacht, fuhr ich zu einer erneuten Vortragsreise nach Ostpreußen. In dieser Nacht pflegen sehr wenige Menschen zu reisen, die dem Christentum angehören. So war der Zug sehr schwach besetzt. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß ich in dem Wagen, der damals paßfrei durch polnisches Gebiet nach Ostpreußen befördert wurde, mit einem palästinensischen Juden zusammenfuhr, der die Riesenreise von Palästina machte, um seine Mutter in Memel zu besuchen. Man kann sich vorstellen, worum in dieser Nacht unsere Gespräche gingen, soweit wir nicht schliefen. Zwei Juden fuhren in der Nacht, der das Christentum seine Entstehung verdankt, durch die Gefilde Osteuropas und sprachen über die Zukunft des Landes, das die Wiege des Judentums gewesen ist und mit dem sie alle Wünsche für die Zukunft ihres Volkes verbinden. Dieser Mitreisende hatte einst im Weltkrieg auf englischer Seite unter Trumpeldor an den Dardanellen mitgekämpft, wo er in dem Zionist Mule Corps stand, das damals von
2 7 Der Jungjüdische Wanderbund war 1925 als Ableger des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands entstanden.
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Palästina aus aufgestellt wurde 28 . Es saßen also zwei Juden im gleichen Abteil, die im Weltkrieg auf verschiedenen Fronten gekämpft haben, auch ein Schicksal unserer Tage. In diesem [jetzigen] Kriege wenigstens können Juden auf beiden Seiten einander nicht gegenüberstehen; auf deutscher Seite sind höchstens jüdische Mischlinge eingezogen worden. Der D-Zug eilte durch die nächtlichen Gefilde. Es ging durch die ganze Provinz Posen hindurch, an Inowrazlaw 29 und Bromberg vorbei. Als der Morgen aufdämmerte (in dieser Jahreszeit war ja sechzehn Stunden Nacht), waren wir im nördlichen Westpreußen bei Pelplin. Dann hielten wir längere Zeit in Dirschau, der Grenzstation zu dem Freistaat Danzig. Meine Frau hatte mich für die Riesenreise sehr gut mit Proviant ausgestattet, denn auf polnischem Boden durfte man nichts kaufen. Allerdings sagte mir der polnische Zugbegleiter, der diesen Zügen zur Überwachung mitgegeben war, daß er mir, wenn ich es ihm gesagt hätte, gern etwas heißen Kaffee besorgt hätte. Nun, es ist auch so gegangen. Nachdem wir bisher in süd-nördlicher Richtung weitergefahren waren, ging es nun weiter nach Osten. Es war ja eine mir bekannte Gegend, durch die ich kam, die ich ja auch auf diesen Blättern schon ausreichend geschildert habe. Wieder sah ich vom Zuge aus die Marienburg, mit der ich mich innerlich verbunden fühlte. Dann klangen Stationsnamen auf wie Elbing und Braunsberg. In Königsberg konnte ich einen neuen Bahnhof bewundern. Es ging weiter über Tapiau, Wehlau bis nach Insterburg. Hier machte ich Station. Den ersten Vortrag hatte ich zwar erst in Memel zu halten; aber es war nicht möglich, diese Fahrt an einem Tage zu bewältigen. So stieg ich im Bahnhofshotel in Insterburg ab. Gern feierte ich mit diesem Orte ein Wiedersehen, dem ich doch aus der Zeit des Weltkrieges zu großem Danke verpflichtet war. Es war ein richtig ostpreußischer Wintertag. Ununterbrochen gingen große Schneemassen nieder und hüllten den Ort in ein weißes Gewand. Ich ging durch die Straßen, durch die ich vor über zwölf Jahren im Lazarettkittel gegangen war, sah noch einmal den Dessauer Hof, in dem seinerzeit der General Rennenkampff abgestiegen war 30 . 2 8 Josef Trumpeldor, ein Offizier russischer Herkunft, leitete im GallipoliFeldzug 1914/16 das Zion Mule Corps der Engländer und organisierte nach der Oktoberrevolution den jüdischen Pogromselbstschutz in Rußland. 2 9 1905 umbenannt in Hohensalza, polnisch Inowroclaw. 3 0 Während der russischen Besetzung Insterburgs 1914 befand sich hier das Hauptquartier des Generals Paul von Rennenkampff.
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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schneite es noch ununterbrochen. A n so einem Tage tat man in Ostpreußen am besten daran, möglichst lange unter dem dicken Federbett zu bleiben. Der erste Anblick, der sich mir bot, als ich durch das Fenster hinausschaute, war die Kleinbahn, deren Betrieb noch genau der gleiche war wie 1918. Ehe der Zug über die Straße fuhr, lief vor ihm ein Mann mit einer Klingel und kündigte auf diese Weise das Erscheinen des „Expreßzuges" an. Dann schaukelten die Wagen langsam über die Straße und verschwanden irgendwo. Ehe ich meinen Zug zur Weiterreise bestieg, machte ich noch einen Spaziergang durch die Schluchten. Das hatte ich auch noch nicht im Winter gesehen; man war fast einsam da draußen, nur einen Lokomotivführer traf ich, der sich gleich mir noch im Freien erging. Auch hier war alles mit tiefstem Schnee bedeckt und eine große Stille lag über der Landschaft. So saß ich schließlich wieder in der Eisenbahn und fuhr weiter nach Osten. Immer riesiger wurden die Schneemassen. Man wunderte sich überhaupt, daß der Zug sich noch durchkämpfte, aber die ostpreußische Eisenbahnverwaltung war darauf vorbereitet. Überall standen Schneepflüge bereit. Der Lokomotivführer, mit dem ich am Morgen spazierengegangen war, hatte mir geschildert, wie notwendig es manchmal ist, die stärkste Maschine hinter den Schneepflug zu spannen, um die Strecke freizubekommen. Auf eingleisigen Strecken würden Schneekreisel verwendet, die nach beiden Seiten den Schnee wegfegten. Im deutschen Eisenbahnwagen, der gut geheizt war, saß man ganz schön und gemütlich. In Tilsit war die deutsche Zollrevision, in Pogegen die litauische, doch das kam mir ja schon alles sehr bekannt vor, und ich fühlte mich ganz heimisch. Auf den Nebengleisen erblickte ich nun schon russische Eisenbahnwagen, die als Souveränitätszeichen Hammer und Sichel aufwiesen. Langsam fuhr der Zug durch das Memelland. Dann war ich wieder auf dem Bahnhof der Stadt Memel, wo, als ob es gestern gewesen wäre, Léon Scheinhaus zu meiner Abholung bereit stand. Diesmal wohnte ich nicht im Hotel, sondern bei dem Zahnarzt Dr. Jacobsohn. Gerade dies bot mir mancherlei Einblicke in das Leben der Juden in Memel. Seine Mutter war eine litauische Jüdin, noch der alten Art, ganz fromm, aber nicht nur äußerlich das Religionsgesetz haltend, sondern von einer wirklichen großen Frömmigkeit erfüllt. Sie war eine Frau wie aus einem Guß, in der nichts gebrochen war. Diesen Sabbat im Hause von Frau Jacobsohn werde ich nicht vergessen. Sie wohnte in einem ganz kleinen Häuschen, das von dem Hause ihres Sohnes durch einen Gang zu erreichen war. Dort hatte sie ein Stübchen, in dem ein riesiger Ofen stand, der bei der großen Kälte niemals ausging
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und in dessen unerschöpflichem Rohr immer irgend etwas Gutes und Aufwärmendes vorhanden war. Als Hausangestellte hatte sie eine Litauerin, eine ehemalige Nonne. Diese konnte nicht Deutsch. Wenn ich einiges im Litauischen gelernt habe, so verdanke ich es besonders ihr. Sie hat mich auch bei späterem Aufenthalt in Memel immer besonders gut betreut. Die Hauptsache ist dort, daß man es warm hat, und diesem Zusammenhalten der Körperwärme gilt ein wesentlicher Teil der Sorge. Um so angenehmer empfindet man dann die durchwärmte Stube. Am Sabbatnachmittag waren bei Frau Jacobsohn zwei Abgesandte der Jeschiwa von Slobodka31. Sie zogen durch die jüdischen Gemeinden, um Unterstützungen zu erhalten. Solange aber der Sabbat währte, sprachen sie nicht über den eigentlichen Zweck ihrer Reise. Für mich war es von hohem Reiz, in der Unterhaltung mit diesen klugen Menschen in die geistige Welt des Ostjuden hineinzuschauen, von der ich doch nur gelegentliche Kenntnisse hatte, wobei zu sagen ist, daß sich der litauische Jude von dem Juden Galiziens eben doch erheblich unterscheidet. Was mag aus all diesen Menschen nun geworden sein, wie viele von ihnen mögen in den Stürmen des gegenwärtigen Krieges zugrunde gegangen sein, und was mag aus dieser berühmten Stätte der Talmudweisheit geworden sein? Die Familie Jacobsohn ist übrigens, wie ich erfahren habe, zu einem vorausgewanderten Sohn nach Südafrika gegangen, und es geht ihr dort befriedigend. Ich bin überzeugt, daß die alte Frau Jacobsohn bei ihrem zähen Lebenswillen auch heute noch auf dieser Erde wandeln wird. Ich werde ihr immer dankbar sein für alle die Güte, die sie an mich verschwendet hat. Wenn ich dann von Memel abfuhr, dann war ich mit soviel Lebensmitteln ausgerüstet, daß ich einer achttägigen Belagerung in der Eisenbahn ruhig hätte ins Auge schauen können. Als ich in Memel ankam, war nur noch Zeit, sich rasch etwas in Ordnung zu bringen und dann in die Synagoge zu gehen. Denn da die Sonne bekanntlich von Osten nach Westen wandert, Memel aber noch die mitteleuropäische Zeit hat, so fängt dort der Sabbat besonders zeitig an. Ich sprach wieder Rabbiner Lazarus, der inzwischen trotz vorgeschrittener Jahre noch einmal geheiratet hat. Am nächsten Morgen machte ich die schon geschilderten üblichen Gänge, die der Ausländer in Memel zu erledigen hat. Dann ging ich R. Isaak Blaser, ein Anhänger der Mussarbewegung, gründete in Slobodka bei Kowno eine Jeschiwa, die im 20. Jh. fast die gleiche Bedeutung gewann, wie sie früher die Jeschiwa von Woloszyn hatte. 31
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an die Stelle, w o die Danje ins Kurische Haff mündet. Ich sah das einzige litauische Kriegsschiff, über das der Staat verfügte. Es war eigentlich ein Polizeischiff, das die Aufgabe hatte, den sehr beliebten Alkoholschmuggel zu verhindern. Da der litauische Staat einen sehr hohen Zoll auf Alkohol legte, war der Anreiz für die Schmuggler sehr groß. Von diesem litauischen Kriegsschiff, dem Stolz der Litauer (es war übrigens ein ehemaliger deutscher Minenleger), erzählte der Memeler Klatsch das folgende: Eines schönen Tages war das ganze Kriegsschiff verschwunden. Was hatte sich ereignet? Auf seiner Jagd nach Alkoholschmugglern war es einem Schiff von Danzig auf die Spur gekommen. Die Besatzung des Danziger Fahrzeuges aber hatte es sich angelegen sein lassen, die litauischen Seehelden ihrerseits reichlichst mit dem kostbaren Alkohol zu erfüllen, was diese sich gern gefallen ließen. Und als sie am nächsten Morgen aus ihrem Rausche aufwachten, da befanden sie sich nicht im Hafen von Memel, sondern im Hafen von Danzig. Der Alkoholschmuggler hatte seinerseits das Kriegsschiff, das auf seine Fährte gesetzt war, aufgebracht. Was an dieser Geschichte wirklich wahr ist, vermag ich nicht zu kontrollieren. Si non e vero, bene e trovato. Jedenfalls soll das die einzige Heldentat sein, die die litauische Marine ausgeführt hat. Das Schiff sah sonst sehr nett und manierlich aus. Wieder stand ich am Baltischen Meere. Das Kurische Haff war fast völlig zugefroren; so gewaltig war die Kälte. Ganz klein war ich beim Anblick dieser Unendlichkeit. All das, was einem sonst groß und wichtig vorkam, verschwand hinter diesem gewaltigen Anblick. Es ist gut, wenn der Mensch sich von Zeit zu Zeit ganz klein vorkommt. Gerade wenn man gewisse geistige Erfolge aufzuweisen hat, so ist das besonders notwendig, sonst verliert man die Distanz und überbewertet seine eigene Leistung. Es wurde mir schwer, mich vom Anblick des Meeres loszureißen; aber bei der großen Kälte konnte man dort nicht lange sein, auch wenn man sich noch so warm eingepackt hatte und aus der Pelzmütze nur die Nasenspitze herausragte. Als ich in die Stadt zurückfuhr, sah ich die großen Tankanlagen Dapolin neben den Tanks des sowjetrussischen Staatstrustes. Das Thema meines Vortrages, dem ja vor allem der Zweck meiner Reise gewidmet war, lautete: Judentum und Wirtschaftskrise. Ich schickte übrigens für diese Vorträge immer eine Liste zur Auswahl. Es war dann doch charakteristisch, welches Thema gewählt wurde. Auch hier empfand man es offenbar als zweckmäßig, sich über ein gegenwartsnahes Problem unterrichten zu lassen. Ich mußte im übrigen mit einer gewissen Vorsicht sprechen. Im Memelgebiet galt das litauische Kriegsrecht. Die
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litauische Regierung stand dem Sozialismus in jeder Beziehung ablehnend gegenüber. Nach dem Vortrag, der programmmäßig vonstatten ging, saßen wir wieder eine Zeitlang in dem Café Tel-Aviv. Das gehörte als Abschluß dazu, und ich konnte mich dem nicht entziehen. Am nächsten Tage saß ich aufs neue in der Eisenbahn, um nach dem nächsten Vortragsort zu fahren. Ich hatte, solange ich auf litauischem Boden war, einen interessanten Reisegefährten. Es war ein memelländischer Bankdirektor, der nach Heydekrug fuhr und der litauisch gesinnt war. Er erzählte mir viel von den Leiden der litauischen Bevölkerung, solange das Memelland unter deutscher Herrschaft war. Er beklagte sich vor allem über die Unterdrückung der litauischen Sprache, von der er mir viel erzählte. Die Litauer halten sich für ein altes Kulturvolk, das im Zuge der ostdeutschen Kolonisation mehr oder weniger ausgerottet worden ist. Gerade für einen Mann wie mich, der von der deutschen Wissenschaft her gewöhnt war, die Dinge von der anderen Seite her zu sehen, war diese Unterredung außerordentlich lehrreich. Der Herr schenkte mir den Text der litauischen Nationalhymne, die ich noch heute aufbewahre. Mich persönlich hat ja die litauische Sprache wegen ihrer Verwandtschaft mit dem Sanskrit besonders interessiert. Dann tauschten wir noch Briefmarken. Briefmarkensammler sind Menschen, die sich überall verstehen. Als ich wieder allein war und das Gehörte in mir nachklingen ließ, konnte ich meine Aufmerksamkeit auch verstärkt der Umgebung widmen. Ich sah draußen in der eisigen Kälte die typisch russischen Panjewagen stehen, das sind kleine Wagen mit zottigen Pferden. Der östliche Mensch läßt diese Pferde bei jeder Witterung draußen im Freien, und die Pferde sind so abgehärtet, daß ihnen das wenig ausmacht. [...] Bei der Fahrt in den dämmernden Abend hinein fiel mir auf, daß hier die Eisenbahnbeamten anders ausgerüstet waren als im übrigen Deutschland. Anstelle der sonst beliebten flachen Mütze trugen sie eine Kappe, die auch über die Ohren zu ziehen war. Still und wie verloren lagen die kleinen Bahnhöfe, aus denen, wenn der Zug hielt, die wenigen Reisenden rasch heraustraten und möglichst schnell Schutz vor der Kälte im Zuge suchten. In Lyck wurde ich wieder von Rechtsanwalt Klewanski begrüßt und wieder im Königlichen Hof untergebracht. Diesmal war eine sehr nette Nichte von ihm zu Besuch, eine Studentin aus Königsberg. In Lyck habe ich mich immer besonders heimisch gefühlt, und ich habe auch in diesen Tagen, die ich mich dort aufhielt, allerhand erlebt. Der Vortrag selbst, der in einer Konditorei stattfand, lief ordentlich vom Stapel. Ich lernte unter
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anderem dort auch die Schwester des ermordeten Reichstagsabgeordneten Hugo Haase kennen 32 . Sie war mit dem Apotheker von Lyck, Herrn Frankenstein, verheiratet. Ich erzählte ihr von meiner Serie sozialistischer Jugendbücher, die ich geschrieben habe, und wir planten, daß ich auch ein solches Büchlein über ihren Bruder schreiben sollte. Aus diesem Plan ist durch die Ereignisse der Zeit dann auch nichts mehr geworden. Die Juden Lycks schienen mir ganz besonders auf einem Pulverfaß zu sitzen. Die Stimmung in der Bevölkerung war offenbar sehr antisemitisch, aber in um so höherem Maße machten sich die Juden das Leben so angenehm, wie es ging. Den Silvesterabend von Lyck, den ich in dem Hause des Vorsitzenden der Gemeinde, Herrn Hirschfeld, verlebte, werde ich nicht vergessen. Es war ein besonders vergnüglicher Abend. Man vergaß mal für eine Nacht alles, was einen irgendwie bedrücken konnte. Ein ungelöstes Problem ist für mich immer geblieben, wie diese Familie Hirschfeld die schwedische Staatsangehörigkeit erwerben konnte. Man sah ihnen auf große Entfernung an, daß die Wiege ihrer Vorfahren am Jordan gestanden hatte. Aber dieses zu untersuchen ist nun auch nicht meine Aufgabe. Jedenfalls war es an dem Abend sehr nett. Auch wenn es eine bedauerliche Inkonsequenz von mir war, daß ich den Silvesterabend feierte, so bin ich doch ehrlich genug zuzugeben, daß ich mich glänzend amüsiert habe. [...] Von meinem Hotel aus konnte ich den Wochenmarkt Lycks beobachten. Da der kleine Ort nicht über eine Markthalle verfügte, so wickelte sich alles bei dieser gewaltigen Kälte im Freien ab. Stundenlang standen die Bauern geduldig, bis sie ihre Waren losgeworden waren. Die Lebensmittelpreise waren dort oben verhältnismäßig gering. All das gab so einen Einblick in eine fremde Welt einfacher Menschen. Auch von Lyck ist mir der Abschied wieder sehr schwer geworden. Als der Reisetag kam, mußte ich schon früh bei Dunkelheit heraus und im Schlitten zur Bahn fahren. Dann saß ich in einem Eisenbahnwagen, der nach Korschen fuhr. Allmählich wurde es Tag, und die tiefverschneiten Wälder traten aus der Dunkelheit allmählich hervor. Die Erinnerung an die herrlichen Tage von Lyck klang noch lange nach, als ich so in den dämmernden Morgen hineinfuhr. Vorbei ging es an der Festung Lotzen, die im Weltkrieg sich so tapfer gehalten hatte, vorbei an Osterode und dann der Hauptstrecke bis nach Deutsch-Eylau. Hier mußte ich umsteigen, und nun ging es nach einem Vortragsort, den ich noch nicht kannte, nach Marienwerder. Auch hier erwarteten mich Erlebnisse eigener Art. Hier in Marienwerder war 32
Hugo Haase war am 7. November 1919 an den Folgen eines Attentates gestorben.
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Professor Dr. Schumacher Oberstudiendirektor des Gymnasiums, mit dem ich über meinen „Hermann von Salza" schon in Korrespondenz stand. So konnte ich während meines Aufenthaltes in Marienwerder auch meinen wissenschaftlichen Interessen nachgehen. Die persönliche Bekanntschaft mit ihm gehört zu den wertvollsten meines Lebens. Auch mit ihm habe ich die Fühlung nach 1933 nicht verloren. Die jüdische Bildungsarbeit in Marienwerder stand unter der Leitung des Lehrers Rosenberg, ein lieber und bescheidener Mann. Ich habe ja schon oft betont, daß diese jüdischen Beamten der kleinen Orte alles andere als auf Rosen gebettet waren. In seiner bescheidenen Häuslichkeit habe ich mich sehr wohl gefühlt. In Marienwerder hatte ich ein Privatquartier im Hause des Großkaufmanns Davis. Er war Leiter der dortigen Filiale eines in Ostpreußen sehr verbreiteten jüdischen Warenhauskonzerns, der Firma Conitzer. Im allgemeinen war ich auf diesen Vortragsreisen kein Freund der Privatquartiere. Aber hier traf ich es sehr gut; man ließ mir meine Ruhe, ich glaube sogar, daß die Hausfrau damals verreist war; eine ältere Hausangestellte besorgte alles Notwendige. Einer meiner ersten Wege war in das dortige Gymnasium, wo ich den Oberstudienrat Colle kennenlernte, den Bibliothekar der Anstalt. Er zeigte mir sofort in seinem Katalog, daß man den „Hermann von Salza" angeschafft hatte. Dann sagte er mir die Adresse des schon genannten Direktors Schumacher, und ich gab dort meine Visitenkarte ab. Er rief mich dann bald an, und wir verabredeten für den nächsten Tag einen Spaziergang durch die Stadt. Schon am Telefon sagte er mir liebenswürdigerweise, daß man sich in Königsberg bei der Einweihung des neuen Staatsarchivs viel über mich und mein Buch unterhalten habe. Man wird es mir hoffentlich nicht als unangemessene Eitelkeit anrechnen, wenn ich sage, daß ich mich darüber sehr gefreut habe. Am nächsten Morgen, einem Sabbat, ging ich selbstverständlich in die Synagoge, die übrigens ganz neu und besonders schön war. Hätte die Gemeinde gewußt, was ihr in ein paar Jahren bevorstehen würde, sie hätte sie gewiß nicht mehr so schön gebaut. Aber vielleicht ist es gut, daß wir Menschen niemals wissen, was uns bevorsteht. Ich wurde als erster zur Thora gerufen. An wieviel Stellen der Erde habe ich so im Laufe der Jahre schon den Segensspruch über unsere heilige Thora gesagt, die uns erhalten bleibt, auch wenn viele unserer Synagogen zugrunde gegangen sind. Dann suchte ich den Direktor in seinem Amtszimmer auf. Er führte mich zunächst in seine Privatwohnung. Dann besichtigten wir das Ordensschloß, das mit zu den kühnsten Bauten gehört, die der Deutschor-
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den in Ostpreußen errichtet hat. Vieles erinnerte mich an die Bauten Siziliens. Wir sprachen über diese innere Verwandtschaft, die auch sonst in der Literatur betont worden ist. Schumacher war mir der beste Führer, auch bei der Besichtigung des Domes. Immer wieder staunt man, was die Menschen des Mittelalters mit verhältnismäßig geringen Mitteln technischer Art haben schaffen können. An einer Stelle bei der Besichtigung des Ortes machte mich mein liebenswürdiger Führer darauf aufmerksam, in welcher Weise der Deutschorden in seinem Schloß die Abortfrage gelöst hatte. Im allgemeinen werden ja diese Dinge mehr oder weniger mit Stillschweigen übergangen. Doch ist für das Bestehen einer Gemeinschaft auch dies von größter Bedeutung. Hier in Marienwerder war ein hoher Turm errichtet, der bis zur Höhe der Wohnräume der Ritter hinaufführte und mit ihnen durch einen Gang verbunden war. Dadurch wurden die Abfallstoffe beseitigt, die sonst eine Gefahr für die Gemeinschaft dargestellt hätten. Wenn man von einem Spezialisten geführt wird, so erblickt man doch manches, was einem sonst entgeht. Schumacher hatte auch eine sehr angenehme Art, all das zu erklären, ohne seine eigene Arbeit allzusehr in den Vordergrund zu schieben. Der Nachmittag des Sabbats wurde von mir im Hause des Lehrers Rosenberg verlebt. Wir verrichteten das Abendgebet. Dann machte er Hawdolo, und allmählich wurde es Zeit, zu dem Vortrag im Deutschen Hause zu gehen, den ich diesmal im Rahmen des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten hielt. Auswärts habe ich verhältnismäßig selten für diese Organisation gesprochen. Das hing auch damit zusammen, daß der RJF auf stark assimilatorischem Standpunkt verharrte, was mich trotzdem nicht hinderte, stets meinen zionistischen Standpunkt zu betonen. Als Thema hatte sich Marienwerder gewählt: „Was hat die jüdische Geschichte den Menschen der Gegenwart zu sagen?" Das ist übrigens ein Thema, das ich sehr gern behandelte. Ich gab mir immer Mühe, es unter den Gesichtspunkt zu stellen, daß unsere Geschichte uns in besonderem Maße verpflichtet, Haltung zu bewahren. Ein Volk, das auf eine solche Geschichte zurückschauen darf, hat auch eine große Verpflichtung für die Zukunft. Oft hat es mir leid getan, daß die Juden sich mit diesem kostbaren Gut ihrer Geschichte viel zu spät und unzureichend beschäftigt haben. Was ich an dieser Stelle tun konnte, um sie aufzurütteln, das habe ich gewiß getan. Der nächste Morgen brachte mir durch die Freundlichkeit des Herrn Davis noch eine überaus interessante Autofahrt. Wir fuhren nach Kurzebrack an der Weichsel. Das war eine dieser Stellen, wo der Vertrag
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von Versailles eine irrsinnige Grenzziehung gemacht hatte. Hier hatte Deutschland zwar theoretisch das rechte Ufer der Weichsel zugesprochen erhalten, aber nur zu ganz bestimmten Stunden durften die Anwohner an den Weichseldamm heran. Uberall waren Tafeln in polnischer Sprache, die die Bewohner Marienwerders doch meist nicht verstanden, die regelten, wohin man gehen durfte und wohin nicht. Man mußte sehr aufpassen, wollte man sich nicht einer Grenzverletzung schuldig machen, die irgendwo in einem polnischen Gefängnis geendigt hätte. Da ich ja unter ortskundiger Führung stand, bestanden für mich keine persönlichen Bedenken, und ich konnte mich um so mehr der historischen Bedeutsamkeit der Stelle widmen. Die Polen kümmerten sich zum Beispiel in keiner Weise um die Erhaltung des östlichen Deiches, so daß die Hochwassergefahren für Ostpreußen besonders große waren. Außerdem hatten sie die große Brücke, die bei Marienwerder über die Weichsel ging, einfach abtransportiert und dadurch eine sehr wichtige Schnellzugverbindung unterbrochen. So eine blutende Grenze lebte natürlich im Bewußtsein des Volkes und ließ das Unrecht des Versailler Vertrages nie in Vergessenheit geraten. Als ich viele Jahre später aus Palästina zurückfuhr, kam ich gerade über die Frage der Weichselgrenze mit einem französischen Professor ins Gespräch. Der kleine Ort Kurzebrack war, abgesehen von dem Verkehr, der sich aus den Besuchen an dieser Grenze Interessierter ergab, auch vollständig abgestorben. [...] Von Osterode fuhr ich nach Elbing, wo ich von dem Arzt Dr. Levy, dem Leiter des Literaturvereins, erwartet wurde. Das war ein besonders prächtiger Mensch, ein sehr großer Kenner der ostpreußischen Geschichte. An dem Nachmittag, der mir in Elbing zur Verfügung stand, war ich bei Professor Carstenn eingeladen. Von ihm hatte ich schon berichtet, als ich vom Hallenser Historikertag erzählte. Er war Professor an der Pädagogischen Akademie in Elbing und ein bedeutender Forscher auf dem Gebiete der ost- und westpreußischen Geschichte. Unsere Gespräche gingen teils um diese Themen, teils auch um die Frage der Methodik des Unterrichts an den Akademien. [...] Mit Elbing war die Vortragsreise beendet, mit der ich in jeder Beziehung zufrieden sein konnte. Ich konnte nun die lange Rückreise nach Breslau antreten. [...] Nun aber setzte auch die Arbeit in der Schule wieder ein. Es liefen damals Klagen von Eltern über mich ein. Vielleicht ist es ganz charakteristisch, daß diese Klagen nicht etwa von christlichen Eltern oder, wie man heute sagen würde, von arischen Eltern einliefen, sondern von jüdischen Eltern, die assimilatorisch eingestellt waren und denen es nicht paßte, daß ich ihre Söhne in jüdisch-positiver Weise beeinflußte.
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Besonders möchte ich an dieser Stelle den Inhaber der damaligen großen jüdischen Seidenfirma D. Schlesinger mit Namen Fritz Schlesinger erwähnen. Sein Sohn hatte, nachdem er bei mir das Abiturium gemacht hatte, sich dem Studium der judaistischen Fächer zugewandt. Es ist ihm übrigens daraus eine schöne Zukunft erwachsen, und er ist heute schon lange in Palästina. Der Vater aber, der später auch geschäftlich zusammengebrochen ist, hat durch Selbstmord geendet. Damals gab es für die jüdischen Großkaufleute kein anderes Ideal, als daß der Sohn in ihr Geschäft eintreten sollte. An diesem Beispiel wird so recht klar, wie oftmals die Jugend instinktiv viel besser weiß, was für ihre Zukunft von Bedeutung ist. Gerade die Kreise der jüdischen Großkaufmannschaft waren oft von einer außerordentlichen Engstirnigkeit und ließen jedes Verständnis für größere Gesichtspunkte vermissen. [...] Es freute mich, daß mich das Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung auch weiterhin zu Gutachten über zur Prüfung vorgelegte Geschichtsbücher heranzog. Es war eine sehr verantwortungsvolle Arbeit, denn man mußte sich ja auch in die Seele des Autors hineindenken, für den es einen schweren Schlag bedeutete, wenn so ein Buch nicht genehmigt wurde. Auch der Verleger hatte ja meist recht erhebliche Kapitalien in den Druck hineingesteckt. Das durfte mich aber alles nicht bei meiner Arbeit beeinflussen. Ich hatte den wissenschaftlichen Charakter zu prüfen und vor allem auch darauf zu sehen, ob der Geist der Bücher sich mit dem Gedankengut der Weimarer Verfassung vertrug. Diese Gutachtertätigkeit (eine Seltenheit bei geistiger Arbeit) wurde auch gut genug honoriert. Die Verleger hatten beim Einreichen der Bücher die Prüfungsgebühren bei dem Ministerium zu hinterlegen. Eine große Freude hatte ich auch, daß die Erstauflage meiner Jugendschrift über August Bebel vergriffen war und der Verleger der Volkswacht, Max Tockus, mir mitteilte, daß er eine neue Auflage veranstalten wollte. Ich habe das Manuskript bis auf unwesentliche kleine Änderungen für die zweite Auflage unverändert übernommen. Wissenschaftlich arbeitete ich vor allem an der Untersuchung über die Flotte Karls I. von Anjou, die mir viel Freude machte und die dann in den nächsten Jahren in italienischer Sprache erschien 33 . [...] Aber eine sehr trübe Wolke erschien am Horizont, abgesehen von den politischen Verhältnissen, bei denen man manchmal das Gefühl 3 3 Offenbar ein Versehen des Autors, denn seine Darstellung befindet sich hier im Jahr 1930/31 und der erste Teil seiner Untersuchung erschien bereits 1929 in italienischer Sprache, vgl. SV N r . 321.
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hatte, daß sie zum Bürgerkrieg drängten. Es waren dies die bösen und traurigen Verhältnisse bei unserer alten und von uns doch sehr geliebten Firma Geschwister Trautner Nachfolger. Die Firma mußte ihre Zahlungen einstellen und strebte einen Vergleich an. [...] Ich möchte nicht darauf eingehen, welche Ursachen zu dem Zusammenbruch der Firma geführt haben. Es ist sicher, daß die jungen Chefs nicht solide genug gelebt haben. Von diesem Schicksal wurde auch mein Bruder Hugo sehr schwer getroffen, den der Zusammenbruch der Firma nicht nur sein ganzes Vermögen, sondern auch seine Gesundheit kostete. Er ist im nächsten Jahre leider sehr früh einem Herzleiden erlegen, das sich durch diese Dinge sehr verschlechtert hatte. [...] Für mich war das Ganze ein furchtbar schwerer Konflikt zwischen den Interessen der alten Firma des Vaters und denen meiner Kinder; denn das betonte immer wieder mein Freund Felix Perle, daß ich nicht das Recht hätte, den Kindern ihr Vermögen für später zu nehmen. In dieser für mich sehr bösen Zeit, die in der Schule auch zeitlich mit den Vorbereitungen zum Abiturientenexamen zusammenfiel, hat mir meine Frau, zum Teil weit über ihre Kräfte hinaus, zur Seite gestanden. Sie hat im wesentlichen die Verhandlungen mit dem Justizrat Wolff geführt und ihn über alles informiert. Ohne sie hätte ich das niemals bewältigen können, zumal ich auch seelisch furchtbar litt. Schließlich haben wir der Firma doch eine neue Deckungszusage gegeben. Sie ist aber dadurch nicht gerettet worden, sondern 1932 in den Konkurs gegangen. Mein Bruder Hugo hat ihn (vielleicht war das für ihn gut) nicht mehr erlebt. [...] Das erste Vierteljahr von 1931 brachte eine besonders rege Vortragstätigkeit, sei es in Breslau, sei es außerhalb von Breslau. So sprach ich einmal an einem Sonntagvormittag in einem Nebenraum der VorwärtsTurnhalle im Rahmen des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten über „Das Judentum in der Wirtschaftskrise der Gegenwart". Ein anderes Mal sprach ich in Striegau, einer kleinen Gemeinde, die an der Strecke von Königszelt nach Liegnitz gelegen ist. Ich habe dieses Milieu der Kleinstgemeinden, die, wenn sie auch vollzählig versammelt waren, manchmal nur ein Zimmerchen füllten, immer sehr gern gehabt und mit demselben Enthusiasmus gesprochen, als wenn es sich um viele Menschen gehandelt hätte. Dieses Publikum war auch besonders dankbar. Ein anderes Mal sprach ich in Neumarkt. Durch diesen Ort war man schon häufig durchgefahren, wenn einen der Schnellzug nach Berlin brachte. Wenn man zurückfuhr, fing man schon dort an, sich etwas fertigzumachen, weil es ja nun nicht mehr weit bis Breslau war. Aber
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ausgestiegen war man doch dort niemals. Der Reichsbahnhof von Neumarkt liegt abseits von der Stadt. Das hängt damit zusammen, daß, als die Eisenbahnen aufkamen, diese kleinen Städte mit der Teufelserfindung möglichst nichts zu tun haben wollten. So war es dann notwendig, als man die Eisenbahn schließlich doch brauchte, eine besondere Anschlußbahn zu bauen, damit die Stadt nicht ohne das immerhin wichtige Verkehrsmittel blieb. Diese Anschlußbahn hatte die Firma Smoschewer errichtet, und auf sie stieg man um und fuhr nun in einem Triebwagen in die kleine Stadt ein. Im Mittelalter hatte Neumarkt sogar eine sehr bedeutsame Judengemeinde gehabt34; aber nun wohnten nur noch wenige Juden dort. Der Zug in die Großstadt hatte sie verjagt. Und vielleicht ist es charakteristisch, daß mir ein junger Mann, der Sohn des Destillateurs, bei dem ich zu Gaste war, erzählte, daß er kein jüdisches junges Mädchen gefunden habe, die nach Neumarkt ziehen und ihn heiraten wollte. Den Vortrag leitete dort ein früherer Mitschüler vom Johannesgymnasium her, der Rechtsanwalt Danziger. [...] Große Freude hatte ich auch an den Fortschritten jedes einzelnen Kindes. Besonders Wölfl, der sehr sprachbegabt war, machte sehr gute Fortschritte im Hebräischen. Er verstand schon zu Purim die unpunktierte Megilla. Bei Ernst war es wieder erstaunlich, in welchem Maße er durch den Jung-jüdischen Wanderbund in die Probleme des Sozialismus hineingewachsen war. Er war damals erst neuneinhalb Jahre alt. Wenn ich mit ihm wanderte, so konnte er darüber schon ausgezeichnet und im Zusammenhange sprechen. Das lag eben damals sehr in der Luft. Die Kinder von heute wissen von diesen Dingen schon nichts mehr, dafür haben sie genügend anderes erfahren. [...] Eine andere oberschlesische Vortragsreise führte mich nach Ratibor. Dort amtierte der Rabbiner Dr. Krengel. Mein Vortrag fand in den Centraihallen statt. Ich war gerade an einem Tage da, an dem die nationale Erregung sehr hoch ging. Man feierte das zehnjährige Gedenken der Abstimmung35. Dabei wurde wieder alles aufgewühlt, was die Gemüter nicht zur Ruhe kommen ließ. Immer wieder stieß ich in Oberschlesien darauf, welches Unglück der Genfer Spruch nicht nur für das Land,
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Vgl. B. Brilling: Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 132-134. Mit dieser Gemeinde wird der 1986 gefundene Schatz in Zusammenhang gebracht. R. Sachs: Der Schatzfund von Neumarkt/Schlesien; in: Schlesien. Kunst Wissenschaft - Volkskunde 36 (1991), S. 71-75. 35 Die oberschlesische Volksabstimmung hatte am 20. März 1921 stattgefunden.
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sondern für Europa bedeutete. Dieses Unrecht hat die ganze Welt nachher bitter bezahlen müssen und bezahlt es noch heute. Die schönste Vortragsreise aber in diesem Winter führte mich nach Trautenau. Damit hatte es folgende Bewandtnis. Die Silesia-Loge in Liegnitz war mit der Menorah-Loge in Trautenau besonders befreundet. Man hatte anscheinend in Liegnitz an meinen Vorträgen Gefallen gefunden und mich deswegen dorthin empfohlen. [...] Ich bin später noch sehr häufig nach Trautenau gekommen. Vor allem muß ich eines Mannes gedenken, mit dem mich dann langjährige Freundschaft verband. Es war dies der Professor Hugo Stern vom dortigen Realgymnasium. Er war ein begeisterter Jude und ein glühender Zionist 36 . Das Schicksal aber hat es nicht gewollt, daß er an das Ziel seiner Sehnsucht kam. Als das sudetendeutsche Gebiet in das Großdeutsche Reich heimkehrte, ließ er sich vorher noch an ein Gymnasium des inneren Böhmens versetzen. Später ist er dann wohl ganz aus dem Schuldienste ausgeschieden, da ja auch da die Judengesetze durchgeführt wurden. Er hat sich in den Dienst des Prager Palästinaamtes gestellt, sich dabei gesundheitlich bis zum letzten aufgerieben und ist frühzeitig gestorben. Man hat mir seinerzeit geschrieben, daß seine Beisetzung eine Anteilnahme gefunden hat wie nur selten in Prag. Damals, also 1931, lernte ich ihn zum ersten Mal kennen. Ich war menschlich von ihm sofort sehr beeindruckt. Wir haben uns ausgezeichnet verstanden. Das hing damit zusammen, daß unsere Prognose über die Zukunft des Judentums die gleiche war. Die Brüder der Menorah-Loge segelten sonst durchweg in einer hochbourgeoisen Auffassung. Trautenau war nicht weit von der deutschen Grenze. Man sah dort mit Entsetzen, was sich für das Judentum vorbereitete. Man fühlte sich gewissermaßen noch auf einer einsamen Insel und hoffte, daß das Ungewitter an einem selbst vorübergehen würde. Darin hat man sich ja nun gewiß bitter getäuscht. Man hatte mich um ein aktuelles Vortragsthema gebeten. So sprach ich über „Die Lage des Judentums in Deutschland". Dabei vertrat ich die These, und das scheint mir wert, hier festgehalten zu werden, daß man dem Judentum in Deutschland nur helfen könnte, wenn man Deutschland hilft. Vielleicht bedarf diese These, die den meisten sehr abwegig erschien, einer Erläuterung. Ich vertrat die Auffassung, daß der zunehmende Hugo Sterns Bedeutung für die israelitische Kultusgemeinde Trautenau, zu deren Vorstand er gehörte, wird auch von anderer Seite bestätigt. Vgl. Rudolf M. Wlaschek: Jüdisches Leben in Trautenau/Nordostböhmen. Ein historischer Rückblick. Dortmund 1991, vor allem S. 19ff, über das Schulwesen S. 26ff. 36
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Antisemitismus in Deutschland und das Erstarken der nationalsozialistischen Bewegung vor allem seinen Grund in der Reparationspolitik hatte, die Deutschland eben zwangsläufig immer mehr in das nationalistische Fahrwasser triebe. Alle anderen Hilfsmaßnahmen für das Judentum in Deutschland erschienen mir unzureichend, abgesehen von der Förderung des Palästinagedankens, der für mich außerhalb jeder Diskussionsmöglichkeit stand. Oft ist es ja doch unser Unglück gewesen, daß wir uns zu grundsätzlichen Erkenntnissen sehr schwer haben durchringen können und daß wir im allgemeinen das gemacht haben, was der Österreicher so gern tat und treffend „fortwurschteln" nannte. Meine Hörer in der Menorah-Loge hörten sich das gewiß voll Interesse an. Was blieb ihnen schließlich schon übrig? Im Grunde ist das doch der hilfloseste Mensch, der einem Vortragenden ausgeliefert ist, und meine Hörer haben mir geradezu oft leid getan. Aber sie haben sich schließlich ihr Schicksal selbst eingebrockt, und ich konnte es dann nicht mehr abwenden.
Um aber noch einmal auf jenes Vortragsthema zurückzukommen. Es sind seitdem zehn Jahre ins Land gegangen. Man hat gewiß reichlich Gelegenheit gehabt, nachzuprüfen, ob man die richtige Einstellung hatte oder nicht. Und deswegen möchte ich mit aller Ehrlichkeit betonen, daß ich auch heute noch glaube, daß das, was ich damals gesagt habe, das Richtige war. Aber diese Erkenntnis, daß die gesamte Politik Deutschland gegenüber hätte umgestellt werden müssen, hat sich Europa nicht zu eigen gemacht. Die Folge davon ist dieser Krieg, in dem wir nun noch 1941 stehen. [...] Inzwischen näherte sich das Schuljahr seinem Ende. Das Johannesgymnasium hatte einen neuen Dezernenten bekommen in der Person des Oberschulrates Dr. Kurfess. Er war wie sein Vorgänger katholischer Geistlicher und damals ein eifriger Zentrumsmann. Dieser so mächtigen Partei mochte er wohl auch die Stelle zu verdanken haben. Er hat übrigens nach 1933 einen grundsätzlichen Stellungswechsel vollzogen, hat geheiratet und ist von der Kirche exkommuniziert worden. Ich persönlich bin mit ihm ganz gut ausgekommen, wenn er auch den Standpunkt vertrat, daß die wissenschaftliche Arbeit für einen Gymnasiallehrer nicht das Richtige wäre, sie käme der Schule nicht zu Gute. Nun, ich habe mich gewiß nicht durch seine Auffassung beeinflussen lassen, glaube aber, daß meine wissenschaftliche Arbeit meine Leistungen in der Schule nicht vermindert hat, sondern gerade das Gegenteil zur Folge hatte. Kurfess hat übrigens erreicht, daß er im Gegensatz zu anderen, die sich im Zentrum
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betätigt hatten, nicht pensioniert wurde, sondern als Studienrat (also eine Rückversetzung) beschäftigt wurde. [...] Wir verlebten den Sederabend wieder in gewohnter Weise, gratulierten mit allen drei Kindern Mutter zum 71. Geburtstag. Dann fuhr ich ins Riesengebirge, in dem auch noch zu Ostern der Winter herrschte, um mir nach all dem, was ich erlebt und gearbeitet hatte, wieder etwas Frische zu holen. [...] Das Hochgebirge war in dieser Jahreszeit sehr einsam, und ich bin meistens allein gewandert. Öfters war der Briefträger mein Begleiter, der mir viel aus seinem Dasein erzählte. Jeden Tag kam er von unten herauf, ging über die Schlingelbaude zur Hampelbaude (die Teichbaude war damals im Winter geschlossen), von der Hampelbaude zum Schlesierhaus. Dreimal in der Woche stieg er zur Schneekoppe empor, auf dem Rückweg bestellte er dann noch die Prinz-Heinrich-Baude, und von dort ging es mit dem Rodelschlitten zu Tal. Einmal traf ich ihn gerade auf diesem letzten Stück, und er nahm mich auf seinem Schlitten mit bis zur Schlingelbaude hinunter. In jeder Baude bekam er etwas zur Stärkung. Sonst wäre die Tour auch im Winter, wenn es hieß, gegen den Sturm anzukämpfen, nicht zu leisten. Er erzählte mir, daß in seiner Instruktion stand, er solle sich keiner besonderen Gefahr aussetzen und den Weg auf die Koppe nur wagen, wenn es die Witterung zuließ. Wir waren oft die einzigen Wanderer, die unterwegs waren, und haben uns in diesen Tagen sehr gut miteinander verstanden. Ich kannte ja auch noch seinen Vorgänger, der damals schon im Ruhestand lebte, und diesen Weg bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr gemacht hatte. Wenn man gesund war, konnte ich mir eigentlich nichts Schöneres denken, als Briefträger auf dem Riesenkamm zu sein; höchstens, daß der Wetterwart auf der Schneekoppe noch mehr zu beneiden war, nicht deswegen, weil er der höchste Beamte Preußens war, sondern vor allem darum, weil er nur sehr selten Besuch bekam und sicher war, daß man ihn nicht mitten in der Arbeit störte. Die Einsamkeit da oben hätte mir nicht sehr viel angehabt. Man mußte schon das Gebirge ziemlich kennen, wenn man in dieser Jahreszeit wanderte. Oftmals kam plötzlich Nebel auf, und man sah kaum die Hand vor Augen. Dann hieß es, sich möglichst genau an die Stangenmarkierung zu halten und nicht vom Wege abzuweichen. In jedem Winter kam es doch wieder vor, daß einzelne leichtsinnige Menschen diese Vorsichtsmaßnahme außer acht ließen, vom Wege abkamen und erfroren. Es konnte dann mitunter Jahre dauern, bis man die Reste von ihnen fand. Ich war fast täglich auf der Wiesenbaude. Über die Hampelbaude stieg ich hinauf und wanderte dann quer über den Kamm. Hier und
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da kam ich mit einem der einsamen Wanderer ins Gespräch. Einmal war es ein alter Musiker, der über die Berge ging. Beim einsamen Wandern ist die größte Gefahr, daß einen plötzlich eine unüberwindliche Müdigkeit packt. Würde man dieser nachgeben, so bedeutete es das Einschlafen und den weißen Tod. [...] Manchmal kehrte ich auch auf der Riesenbaude ein, die schon jenseits der damaligen Grenze lag. Sie befindet sich in einer Seehöhe von 1396 Metern und hatte damals noch völlig den alten Baudencharakter. Es gab noch kein elektrisches Licht, und die Stimmung wurde nicht durch befrackte Kellner gestört. Das gegenüberliegende Schlesierhaus gab sich ganz modern. Wer das Riesengebirge nur im Sommer kennt, wo ganze Horden von Fremden den Kamm bevölkern und oftmals jede Stimmung töten, kennt es im Grunde gar nicht. Ich habe es oft am meisten in den sogenannten toten Jahreszeiten geliebt, wo die Schar der Fremden es mied und man um so mehr von der Natur den wirklichen Genuß hat. Gewiß, man mußte, da unser heimisches Gebirge oder, wie man zu sagen pflegte, der Berggeist Rübezahl sehr launenhaft war, immer auf einen Witterungswechsel gefaßt sein. Man konnte bei schönstem Wetter weggehen, und plötzlich setzte der Schneesturm ein. Noch am letzten Tage meines Aufenthalts packte mich zwischen Heinrichbaude und Schlingelbaude ein derartiges Unwetter. Ich wollte in einer kleinen Schutzhütte Zuflucht suchen, die sich halbwegs befand; aber sie war geschlossen. Ich war froh, als ich dann noch die Schlingelbaude erreichte. Die Baudenwirte kennen den Charakter ihrer Berge, besonders in der Zeit der Schneeschmelze mit ihrer Lawinengefahr. Alle Bauden sind miteinander telefonisch verbunden. Bei den wenigen Gästen, die um diese Zeit in den Bergen sind, wissen sie ziemlich genau um die Wanderungen des einzelnen Bescheid und rufen sich untereinander an, wenn sie besorgt sind. Außer mir war nur noch eine aus drei Köpfen bestehende Familie auf der Schlingelbaude, um die wir einmal am Abend sehr besorgt waren, als plötzlich so ein Wetter einsetzte, das Schneesturm und Absinken der Temperatur zur Folge hatte. Gar mancherlei ließe sich noch über diese Tage der Einsamkeit und der Selbstbesinnung auf der Schlingelbaude sagen. Ich wurde innerlich ganz ausgeglichen und kam nach dem Vielen, was mir dieser Winter gebracht hatte, wieder mit mir selbst ins reine. [...] Diesmal brachte auch der Sommer noch eine gewisse Vortragstätigkeit, die mit der politischen Lage zusammenhing. Die Führer verschiedener
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Jugendverbände baten mich, über die Lage im Sozialismus zu sprechen. Bei diesem Vortrag gehörte auch Wölfl zu meinen Hörern. Ich war sehr stolz darauf, daß nun schon mein ältester Sohn an dieser meiner Arbeit teilnehmen konnte. Einmal fuhr ich auch wieder nach Waldenburg, wo ich vor der dortigen jüdischen Jugend sprach, die in dieser Gemeinde ziemlich zahlreich war und um deren Entwicklung sich ein netter junger Mann, Herr Böhm, sehr kümmerte. Den Arzt Dr. Leo Cohn, mit dem ich dort zusammen war, habe ich auch später oft noch wiedergesehen. Er ist heute schon längst in Palästina. Bei dieser Zusammenkunft der jüdischen Jugend behandelte ich das Thema „Der junge Mensch und die Probleme unserer Zeit". Der Grundgedanke dieser Ausführungen war, der jüdischen Jugend stets mit erneuter Eindringlichkeit klarzumachen, wie krisenhaft unsere Zeit für das Judentum war und daß sie von der Jugend den Bruch mit allem Bisherigen verlangte. Wenn ich in meinem Leben auf irgend etwas stolz sein darf, so ist es höchstens dies, daß ich durch die Eindringlichkeit dessen, was ich sagen durfte, vielleicht doch den einen oder anderen auf den chaluzischen Weg gewiesen habe und daß mancher meiner jungen Hörer von damals nun längst in Erez Israel ein normales Dasein führt, die Rückkehr zum Boden gefunden hat und nicht aufs neue als Händler in einem anderen Teil der Erde die Wiederkehr des gleichen Judenschicksals mit herbeiführt. Gerade bei diesen Vorträgen vor jungen Menschen bin ich immer mit letztem Einsatz dessen, was ich in mir hatte, vor das Rednerpult getreten. Ich war glücklich, wenn ich dann ein Aufleuchten des Verständnisses in den Augen der jungen Menschen sah. Weniger glücklich waren häufig die Eltern, denen ich anmerkte, daß sie es mir zum Vorwurf machten, ich nähme ihnen ihre Kinder. Heute sind dieselben Eltern vielleicht glücklich, daß ihre Kinder rechtzeitig über das Meer gefunden haben und sie dadurch anfordern konnten. Aber rechtzeitig das zu erkennen, was notwendig ist, ist nicht immer die Stärke unseres Volkes gewesen. [•••] Mein Buch „Hermann von Salza" war nun in die Welt hinausgegangen. Was mir an Kritik ins Haus flatterte, waren Meinungsäußerungen der verschiedensten Art, so wie das immer ist. Es würde hier den Rahmen sprengen, wenn ich im einzelnen darauf eingehen wollte. Nur ist es für die Verhältnisse charakteristisch, daß bei der Besprechung wissenschaftlicher Arbeiten schon nicht mehr ausschließlich geistige Gesichtspunkte den Ausschlag gaben, sondern auch antisemitische Motive mitspielten, wie das bei der Kritik der Fall war, die ein junger Privatdozent, Erich Maschke, an
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meinem Buche übte 37 . Hier waren es eben keine sachlichen Auslassungen mehr, die der Autor ohne weiteres hinzunehmen hat, sondern das, was ich andeutete. Dafür ist Maschke heute Professor in Jena und hat sich mit Haut und Haar der neuen Zeit verschrieben. Doch glaube ich, daß wissenschaftliche Arbeit immer nur nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten gewertet werden soll, und daß sich dieser Gesichtspunkt auch später wieder durchsetzen wird. In der städtischen Volkshochschule behandelte ich damals den russischen Fünfjahresplan. Es war das ein sehr interessantes Gebiet, mit dem man sich auseinanderzusetzen hatte, ganz unabhängig davon, ob man mit den Ideen des großen östlichen Nachbarn sympathisierte oder nicht. Ich habe übrigens immer, wenn ich diese Dinge zu behandeln hatte, betont, daß es für uns außerordentlich schwer ist, sich über Rußland ein Bild zu machen, weil die Bücher allein nicht maßgebend sind und weil die Besucher doch nur das zu sehen bekommen, was sie sehen sollen. Rußland tat auch in der Gegenwart noch das, was es schon einmal in der Zeit des guten Potemkin getan hatte. Auch das muß hier eingefügt werden, daß mein Kollege Richter, mit dem ich einstmals vor vielen Jahren einträchtiglich zum Staatsexamen gearbeitet hatte, nun, da die Zeiten andere geworden waren, mir in der Lehrerkonferenz vorwarf, ich treibe kommunistische Propaganda. Ich bin ihm selbstverständlich auf das Schärfste entgegengetreten, und auch der Direktor hat mich nicht im Stich gelassen. Jahre später ist mir erst klar geworden, was Richter beabsichtigte. Für den Fall der Machtübernahme war er als Direktor für das Johannesgymnasium in Aussicht genommen, weil Gabriel in diesen Kreisen als unzuverlässig galt. Richter war schon immer ein Mann gewesen, der rücksichtslos nach oben strebte und unter allen Umständen Karriere machen wollte. Seine geistigen Fähigkeiten standen damit nicht in Einklang. Das Schicksal hat ihn übrigens um die Früchte seines wenig erfreulichen Verhaltens, das nicht aus Überzeugung diktiert war, gebracht. Als es soweit war, war er schon tödlich am Krebs erkrankt.
Vgl. SV N r . 341. Maschkes Rezension ging von einer grundsätzlich anderen Wertung Hermann von Salzas als einer Art Führerpersönlichkeit aus und bemängelte bei Cohn eine methodische Unschärfe und die fehlende Einsicht in solche Größe. Direkte persönliche oder antisemitische Anspielungen finden sich nicht darin. Erich Maschke verlor 1945 seine Professur, wurde von den Russen zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und kam Anfang 1954 wieder frei. 37
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In diesem Frühjahr hatten wir auch den Besuch von Franz, der im Winter in Italien gewesen war und sich dort erfreulicherweise auch erholt hatte. Seine Gesundheit war leider schon lange sehr wankend. Auf dieser Reise hatte er in Locarno Emil Ludwig besucht. Dieser, bekanntlich der Sohn des Breslauer Augenarztes Hermann Cohn, war damals auf der Höhe seines Ruhmes. Mein Bruder hatte von ihm persönlich keinen sehr günstigen Eindruck. Er erzählte mir, wie eitel er war und wie gänzlich auf sich selbst eingestellt. In einem Schrank hatte er alle seine Werke aufgebaut, nebst den Übersetzungen in die vielen verschiedenen Sprachen. Ich habe Emil Ludwig persönlich nie kennengelernt, nur einmal mit ihm über ein Drama, das er über Kaiser Friedrich II. geschrieben hatte, in Briefwechsel gestanden. Der 1. Mai brachte die übliche Maifeier; ich ging ein Stück im Umzug mit, habe aber dann meinen Unterricht wie üblich erteilt. Es hat mir niemals gelegen, aus irgendwelchen Privatgründen heraus Kollegen mit meiner Vertretung zu belasten. Meine wissenschaftliche Arbeit erstreckte sich damals besonders auf die Flotte Karls I.; die scharfe Konzentration wissenschaftlicher Quellenforschung tat mir gerade im Hinblick auf die vielfache Vortragstätigkeit geistig sehr gut und verhinderte, mich zu verlieren. Die Artikelserie, die ich für das Israelitische Familienblatt übernommen und die ich schon erwähnt hatte, „Mit jüdischen Augen durch deutsche Lande", veranlaßte mich zu einer Reise nach Oels, wo ich den Spuren der Juden nachgehen wollte 38 . Bei dieser Gelegenheit besuchte ich den dortigen Bezirksrabbiner Dr. Wahrmann. Auch meine Frau begleitete mich auf dieser Reise, da sie ja meist die Artikel schrieb, die sich daraus ergaben. Ich habe übrigens mit Wahrmann später noch am Jüdisch-Theologischen Seminar zusammen amtiert, ohne daß ich ihm persönlich irgendwie nähergetreten bin. Er gehörte wohl zu denjenigen unserer östlichen Glaubensgenossen, die sich zwar äußerlich in Deutschland eingefügt hatten, die aber doch von einer ganz anderen Konstitution waren (ich meine das geistig) als wir. Die Freude an der Entwicklung der Kinder war etwas, was mich durch alle Anfechtungen des Lebens und auch durch die größte Arbeit immer wieder hindurchsteuerte. Wölfl war sechzehn Jahre und geistig weit über sein Alter entwickelt. Für seine Zukunft vollzog sich damals etwas, was für ihn von entscheidendster Bedeutung werden mußte. Er
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Ein Artikel konnte nicht ermittelt werden.
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erhielt eine Einladung, den Sommer bei einer Arztfamilie in Frankreich zu verbringen. Diese Familie des Dr. Schwarz hat ihn dann von 1933 an betreut. Ein altes Fräulein namens Freund, die einstmals in jenem Hause Erzieherin gewesen war, hatte diese Beziehung angebahnt. Dadurch, daß Wölfl 1931 in Frankreich gewesen und die französische Sprache gut erlernt hatte, fand er an ihr einen Rückhalt, als er 1933, durch besondere Umstände gezwungen, Breslau in wenigen Tagen verlassen mußte. Es sind prachtvolle Menschen, die ich das Glück hatte, auch später selbst kennenzulernen. Es war selbstverständlich eine jüdische Familie Elsässer Herkunft und der Doktor ein bedeutender Chirurg. Aber ich will den Ereignissen nicht vorgreifen, es war dies hier nur anzudeuten, da von der Entwicklung der Kinder gesprochen werden muß. Wie stolz war Ruth, daß sie am damaligen Wochenfeste schon das Sch 'ma mitsingen konnte. Ich war nicht weniger stolz darauf, als sie mich in die Synagoge auf den Platz begleitete, wo ich einst neben meinem Vater gestanden hatte. Damals erfuhr ich auch eine äußere Anerkennung für meine wissenschaftliche Arbeit. Die vaterländische Gesellschaft für das östliche Sizilien in Catania ernannte mich zu ihrem korrespondierenden Mitglied 39 . Es ist ja so selten, daß gelehrte Arbeit und noch dazu, wenn es sich um die eines Juden handelt, äußere Anerkennung findet. So habe ich mich damals sehr gefreut, und ich bin dieser Arbeit zur sizilischen Geschichte auch dann treu geblieben, als in Italien die Rassengesetzgebung einsetzte, die die Juden unter ähnliche Beschränkungen stellte, wie das in Deutschland nach 1933 geschah. Doch man kann sich ja nicht von einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Liebe loslösen; man muß nun auf der Linie bleiben, solange es irgend geht. In den Pfingstferien fuhr ich mit meiner Frau nach Hohndorf, um dort nach einem geeigneten Sommerquartier Umschau zu halten. Auf der Hinreise machten wir in Glatz Station, wo mich einer meiner Schüler namens Lewy führte, weil ich auch hier Material für die obengenannte Artikelserie suchte. Sowohl er als auch der Kantor Ledermann waren mir Cohn greift hier den Ereignissen vor. Seine Darstellung hat an dieser Stelle etwa den Frühsommer 1931 erreicht. Zwar dürfte Cohn durch Voranfrage schon eher von der beabsichtigten Ehrung erfahren haben, doch nahm ihn die „Società di Storia Patria per la Sicilia Orientale" offiziell erst auf ihrer Hauptversammlung am 24. Januar 1932 als „socio corrispondente" auf. Seitdem findet sich Cohns Name in den jährlich gedruckten Mitgliederlisten der Gesellschaft bis zum Jahre 1938. E r fehlt ohne nähere Begründung ab 1939. Archivio Storico per la Sicilia Orientale, Seconda serie 28 (8), (1932), hier S. 522: „Atti della Società". 39
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recht behilflich. Der Bruder dieses Schülers hatte übrigens am dortigen Gymnasium als Jahresarbeit eine recht brauchbare Arbeit über die Juden in Glatz verfaßt. Ich wertete das übrigens als ein positives Zeichen unserer Zeit, daß junge jüdische Menschen sich nun doch verstärkt mit der Geschichte ihres Volkstums befaßten. Von Glatz aus fuhren wir nach Habelschwerdt, wo wir im Hotel „Grüner Baum" übernachteten. Ich finde, schon der Name eines solchen Gasthauses hat etwas sehr Anheimelndes. Ist so ein Name nicht netter als die farblosen internationalen Bezeichnungen wie Grand Hotel und Ähnliches? [...] Wir hatten unsern alten Freund, Lehrer Exner, benachrichtigt, und am nächsten Morgen wanderten wir gemeinsam nach unserem geliebten Dorf empor. Der Rucksack wurde auf einem Stock aufgebaumelt, und dann ging es los. Wir fanden für die Pfingsttage in einem netten Stübchen bei der Frau Täuber Aufnahme. Das ist immer die sogenannte gute Stube, die die Bauersleute an Fremde vermieten. Bei unserem Förster konnten wir für die Sommerferien kein Quartier bekommen, da sie in diesem Jahre nicht mehr vermieten wollten. Wir fanden aber für uns und zwei unserer Kinder, Ernst und Ruth, sowie für unsere Emma gute Unterkunft bei dem Bauern Schwarzer in dem unteren Teile von Hohndorf, dem sogenannten Niederdorf. Ernst sollte in einem gegenüberliegenden Gehöft bei dem alten Beck wohnen, der dort ein kleines Stübchen in seinem Ausgedinge hatte. So war der Zweck unserer Pfingstreise erfüllt, und wir konnten mit Ruhe den Sommerferien entgegensehen. Ich werde auch noch zu erzählen haben, daß wir eine sehr gute Wahl getroffen hatten. [...] In einem großen Gegensatz zu der friedlichen Ruhe so eines weltabgeschiedenen Dörfchens stand die politische Erregung, die diesen Sommer in Deutschland durchzitterte und von der vieles zu berichten ist. Immer schärfer wurde der Gegensatz der verschiedenen Richtungen, und immer mehr hatte man das Gefühl, auf den Bürgerkrieg loszusteuern. Als wir zurückkamen, war gerade der Stahlhelmtag. Der Stahlhelm war diejenige politische Organisation, die damals in Deutschland die rechtsstehenden deutschnationalen Kreise umfaßte, die im wesentlichen ihr Ideal im alten Preußentum sahen 40 . Sie zeichneten sich übrigens durch eine Diszipliniertheit des Auftretens aus, aber in ihren Reihen standen nicht mehr die Juden; es waren im wesentlichen die Teilnehmer des Weltkrieges. Der gespannten Atmosphäre konnte man eigentlich nirgends entgehen. In alle 40 Vgl. V. R. Berghahn: Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918-1935. Düsseldorf 1966.
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Diskussionen spielte die Erregung hinein, und selbstverständlich machte sie sich auch in der Schule bemerkbar. Wir wußten im Lehrerkollegium, wo jeder einzelne politisch stand, wenn es auch bei der Erziehung gebildeter Menschen eigentlich nur sehr selten zu Diskussionen kam. Der Fall Richter, den ich angedeutet habe, machte hierbei eine Ausnahme. Schwieriger war es schon mit den Schülern. Da ich in diesen Jahren immer eine Prima zu betreuen hatte, blieb an mir persönlich eine große Verantwortung hängen, die ich übrigens sehr gern auf mich genommen habe. Es ist mir auch immer geglückt, die Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn ich jetzt Vorträge zu halten hatte, so waren es meist solche aktueller Art. Es liegt in der Natur des Menschen, daß er gern wissen möchte, was die Zukunft bringt. So wie man heute im Jahre 1941 von seinen Rassegenossen oft gefragt wird, was man glaubt, das kommen wird, so geschah das auch 1931 von all jenen, mit denen man überhaupt in Berührung kam. Und doch bleibt es immer eine mißliche Sache um Prognosen. Man kann wissen, nach welcher Seite die Tendenz der Geschichte läuft; Einzelvoraussagen sind schwer möglich. Außerdem kommt noch dazu, daß die Menschen, wenn sie eine derartige Meinung über die Zukunft einholen, trotzdem nur das hören wollen, was sie hören möchten. Wenn man in einem solchen Augenblick eine Prognose wagt, die nicht der vulga opinio entspricht, dann bekommt man ablehnend zu hören, daß man wohl auch nicht schlauer sei, als sie selbst. Sehr wenige konnten sich damals zu der Auffassung durchringen, daß hinter der nationalsozialistischen Bewegung doch ein großer Teil der deutschen Jugend stand. Das Berliner Tageblatt zum Beispiel, das Deutschland nach außen hin repräsentierte, pflegte die Bewegung in der Regel zu bagatellisieren. [...] Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur unternahm auch in diesem Jahre wieder eine Wanderversammlung, an der ich mit meiner Frau teilnahm 41 . Sie führte uns über Hohenfriedeberg nach Bolkenhain. Im Mittelpunkt stand ein Vortrag des Professors Andreae über Hans von Schweinichen, den er nach der Besichtigung der Bolkound Schweinhausburg hielt. Dieser Hans von Schweinichen war ein sehr lebenslustiger Mann gewesen. Zwei Vorträge behandelten ganz andere Gebiete. Professor Bederke sprach über die Kohlensäure. Er führte aus, daß dieselbe Kohlensäure, 41
Über diese „Wanderversammlung" am 14. 6. 1931 vgl. 104. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 1931. Breslau 1932, S. 6.
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der wir die Heilkraft unserer schlesischen Bäder verdanken, eben auch die Macht sei, die diese furchtbaren Bergwerkkatastrophen wie im Neuroder Revier mit sich bringt, gegen die bisher noch kein Mittel gefunden werden konnte. Schließlich sprach der alte Geheimrat Rosenfeld über große Heilkünstler. Rosenfeld, der ein getaufter Jude war, war übrigens auch AMVer. Er war, nachdem er in seiner Jugend ein mächtiger Säufer vor dem Herrn gewesen war, nun ein ebenso glühender Bekämpfer des Alkohols und versuchte, den Studenten das Trinken auf jede Weise zu verekeln. Am Nachmittag des Exkursionstages fand noch eine Kaffeetafel in Bad Salzbrunn statt, zu der die Kurverwaltung eingeladen hatte. Dann ging es wieder im Auto nach Hause. In Salzbrunn hatte ich auch noch meine Waldenburger Freunde gesprochen, und der schon erwähnte Herr Böhm brachte mir schönes Material über die Geschichte der Waldenburger Gemeinde. [...] Und dann kamen jene schönen Wochen in Hohndorf, die in vielem wieder dem vorigen Sommer glichen. Aber diesmal hatten wir nur zwei Kinder mit, nachdem Wölfl stolz, mit einem Rundreiseheft versehen, nach Paris gefahren war. Er war erst sechzehn Jahre alt, aber so selbständig erzogen, daß wir ihn ganz beruhigt fahren lassen konnten. [...] Hier habe ich, wenn die Kinder beschäftigt waren, sehr viel geschrieben. Gerade in der Einsamkeit brachen Gedanken aus mir hervor, die ich in der Großstadt so nicht formulieren konnte. In diesen Sommeraufenthalten habe ich oft die dichterische Ader strömen lassen, aus der heraus so manche Novelle entstanden ist. Vielleicht hat die Menschheit nichts verloren, wenn all das nicht hat gedruckt werden können. Immerhin hat mir das Niederschreiben genug Freude bereitet. [...] Mitten in diese friedliche Stille platzte eine der größten Wirtschaftskrisen, die Deutschland je erlebt hat. Die Darmstädter Bank mußte ihre Zahlungen einstellen, und sämtliche Banken schlössen vorübergehend ihre Schalter. Glücklicherweise hatte ich mich für die ganzen Ferien mit den erforderlichen (wie man sich vorstellen kann, nicht sehr großen) Zahlungsmitteln versehen, so daß unser persönliches Leben nicht unmittelbar betroffen wurde. Aber man kann ja solche Katastrophen nicht nur aus diesem persönlichen Gesichtswinkel heraus ansehen. Das Vertrauen zu den Banken war für lange erschüttert. Da bei der eigenartigen Situation, unter der wir Juden in der Zerstreuung leben, alles auch eine innerjüdische Rückwirkung hat, so hat den immer stärker einsetzenden Antisemitismus noch gefördert, daß gerade unter den Direktoren der
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Dresdner Bank der Direktor Goldschmidt einer der einflußreichsten war. Dieser Mann ist übrigens ein reger Förderer jüdischer Wissenschaft gewesen. Er vor allem hat die Encyclopaedia Judaica finanziert, die nach seinem pekuniären Zusammenbruch leider ein Torso geblieben ist. Sie versprach, eine der bedeutendsten Schöpfungen jüdischer Wissenschaft zu werden 42 . In unser Hohndorf kamen diese Dinge nur in schon etwas abgeklungenem Zustand. Unser Bauer hatte keinen Radioapparat. Wohl besaß der Lehrer einen solchen, aber es liegt überhaupt nicht im Wesen des Bauern, sich so schnell aus seiner Ruhe bringen zu lassen. Die Arbeit des Tages hat den Vorzug vor allem andern. Gewiß, ab und zu fand eine Sitzung der Gemeindevertreter statt. Wir merkten das immer daran, wenn unser Bauer sich die Stiefel putzte und abends noch einmal fortging. Die Zeitung wurde nur wenig von ihm gelesen und hauptsächlich daraufhin verfolgt, wie sich die Preise auf dem Viehmarkt entwickelten. Der Verkauf von einem Stück Vieh, das man jahrelang mit Mühe großgezogen hatte, war ein Ereignis, und wer da nicht richtig disponierte, kam um die Frucht langjähriger Arbeit. Mir ist der Viehhandel, an dem leider früher auch sehr viele Juden beteiligt waren, immer besonders gräßlich gewesen, weil er doch letzten Endes darauf hinauslief, den Bauern zu betrügen. Und doch ist er nicht gänzlich zu entbehren, weil der Bauer in der Zeit seiner großen Arbeit sein Vieh nicht zu Markte bringen kann und schließlich auch in der Stadt auf denselben Kreis von Händlern gestoßen wäre. Der Abtransport einer Kuh, eines Kalbes oder eines Stieres hatte immer etwas Melancholisches, wenn man wußte, daß diese nun ihren letzten Gang antraten. Der Transport eines Bullen mußte mit sehr großer Vorsicht durchgeführt werden; das waren manchmal recht unangenehme Herrschaften. [...] Bald nachdem wir nach Breslau zurückgekehrt waren, kam auch Wölfl blühend und gesund von seiner großen Reise zurück. Dieser Aufenthalt in einer kultivierten Familie von Paris hatte ihm außerordentlich gut getan und war ein gesunder Gegensatz zu dem Leben im Wanderbund, das zwangsläufig eine gewisse Vernachlässigung der äußeren Formen mit sich brachte. Er hatte natürlich auch unendlich viel Schönes gesehen und vor allem hilfsbereite und gütige Menschen gefunden. Die Stadt an der Seine, die so viele angelockt hat, wurde auch ihm zum Schicksal, allerdings unter Umständen, die damals noch nicht vorauszusehen waren.
Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 1 10 (bis „Lyra", mehr nicht erschienen), Berlin 1928-1934. 42
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Die Nachwirkung der Erholung wurde für uns alle dadurch beeinträchtigt, daß die Wellen der politischen Erregung immer höher schlugen. Ein Volksentscheid hatte damals das Volk besonders gespalten, und eigentlich lebte man schon mitten drin im Bürgerkrieg. [...] Auch in diesem Sommer hatte ich wieder eine Studienfahrt mit der Oberprima zu absolvieren. Diesmal ging die Reise nach Berlin. [...] Das Hauptereignis des damaligen Berlins war die große Funkausstellung, die sich um den Funkturm gruppierte 43 . Ich muß es zu meiner Schande gestehen, daß es mir in meinem ganzen Leben niemals geglückt ist, einen Einblick in die Welt des Radios zu tun. Ich habe mich selbst immer (im Anklang an das Wort Idiot) als Radiot bezeichnet und damit sicher das Richtige getroffen. Aber Primaner wußten in diesen Dingen außerordentlich gut Bescheid, und die meisten waren sehr froh, wenn sie in diesen Hallen die verschiedenen Apparate fachmännisch begutachten konnten. Es war auf dieser Reise überhaupt interessant, die Typen der jungen Leute zu beobachten, die sich eigentlich in zwei Teile gruppieren ließen. Auf der einen Seite die Gents, denen ein elegantes Taschentüchlein aus der Rocktasche hervorsah, und auf der anderen der Wandervogeltyp, der auch wenn er durch die Museen ging, am liebsten nicht den Rucksack abgelegt hätte. Wir konnten unseren Schülern sehr vieles zeigen. Was die historische Seite anbelangt, so hatte ich sie auch diesmal möglichst ordentlich vorbereitet. Es war ein gewisses Risiko, wenn man in einer politisch so erregten Zeit mit einer Klasse Potsdam besuchte. Hier mußten sich ja die verschiedenen Weltanschauungen sehr stoßen. Aber vielleicht gab ich selbst ein Beispiel, wie man doch über diesen Dingen stehen konnte. Die Jungens kannten meine Einstellung, und doch sahen sie, wie ich mich bemühte, ihnen die Gestalt Friedrichs des Großen nahezubringen, mit welcher Ehrfurcht ich mit ihnen die Stätten betrat, wo er gewirkt hat. Ich habe schon oft in diesen Blättern von Potsdam gesprochen und von der Verehrung, die ich für diesen Ort hegte. Man braucht bei einer Führung durch Potsdam nicht viel zu sagen. Der Genius loci wirkt auf die Seelen aufgeschlossener Jugend. [...] Da ich auch immer großen Wert darauf legte, daß meine Schüler die Entstehungsgeschichte einer Stadt begriffen, machten wir auch einen Spaziergang durch Alt-Berlin, durch jene Gegenden an der Spree, die
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Die Funkausstellung dauerte vom 21. bis 30. August 1931.
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die Keimzelle der Millionenstadt gewesen sind. Dabei war mir mein Schwager Ernst behilflich, der hier sehr gut Bescheid wußte. Damals war wohl davon noch mehr übrig, als es heute der Fall ist. Die übliche Städtesanierung vernichtet leider unendlich viel, was nie mehr zu ersetzen ist. Dem gleichen Ziel, die Vergangenheit Berlins zu begreifen, galt auch ein Besuch des Märkischen Museums. Aber vor allem gehörte diese Reise doch der Gegenwart. So besichtigten wir das Ullsteinhaus, wo die Berliner Illustrierte in nicht weniger als zwei Millionen Exemplaren hergestellt wurde. Draußen am Tempelhofer Felde fuhren wir mit dem Lift das Hochhaus hinauf, und bekamen den gesamten Betrieb in einer sehr guten Führung zu sehen. Heute heißt der Ullsteinverlag „Deutscher Verlag", aber die Berliner Illustrierte erscheint dort noch weiter, wenn auch in ganz anderem Gewände. Der wohl größte Bucherfolg, der von diesem Haus in die Welt hinausgegangen war, dürfte der Roman von Remarque „Im Westen nichts Neues" gewesen sein. Vorbildlich waren übrigens in diesem Betriebe die sozialen Einrichtungen für die Belegschaft. Im allgemeinen liest man heute häufig, daß erst die gegenwärtige Zeit etwas für ihre Arbeiter und Angestellten tut. Ullstein galt ja als eine verjudete Firma, und doch hat sie hier Bedeutendes auch auf diesem Gebiete geleistet. Man kann zu der Mechanisierung geistiger Werte stehen, wie man will; Ullstein hat es immerhin verstanden, unter der Parole „Das Ullsteinbuch blieb im Coupé, was tu ich nun am Stölpchensee?" auch gute Bücher in Massen unter das Volk zu bringen. Und Lesen ist immerhin eine friedliche Beschäftigung, die mancher andern, die bei der heutigen Jugend beliebt ist, vorzuziehen ist. Ein mächtiger Eindruck war für Lehrer und Schüler der Besuch des Flughafens Tempelhof, den wir so einrichteten, daß wir bis zum Abend draußen bleiben konnten und auf diese Weise noch die Ankunft eines Nachtflugzeuges erlebten. Das war wirklich wie im Märchen, als um den riesigen Flugplatz die Lämpchen aufglühten, die dem Piloten anzeigen sollten, wo er aufzusetzen hatte. Vorher hatten wir unter Führung eines Piloten den gesamten Betrieb auf dem Flugplatze kennengelernt, waren auch wenigstens teilweise auf die Wetterwarte hinaufgeklettert, wo gerade ein abfahrender Flugzeugführer sich noch die letzten Informationen für seinen Flug holte. Gerade als Laie stand man mit tiefster Ehrfurcht vor all diesem, das die Erfüllung der Ikarussehnsucht des Menschen bedeutete. Nur ist das Furchtbare, daß diese herrliche Erfindung heute dazu dient, Not und Tod über den Erdball zu streuen. [...] Ein Erlebnis durch die Jahrtausende zurück bedeutete aber der Besuch in der vorderasiatischen Abteilung des Alten Museums. Hier erblickten wir unter der Führung des Kustoden Dr. Martini, eines Verwandten des
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Kollegen Mittelhaus, vor allem das Ischtartor44. [...] Ich sah es nicht nur mit den Augen des interessierten Historikers, der an allem, was die Vergangenheit uns bewahrt hat, lebendigstes Interesse nimmt. Ich sah es auch mit den Augen des Juden; denn auf diesem Bauwerk haben in der Zeit, als das jüdische Volk in den Tagen Nebukadnezars das erste Mal in die Zerstreuung ging, schon jüdische Augen geruht. Mir wurde in diesem Augenblick die ganze Größe der göttlichen Führung bewußt, die uns in so wunderbarer Weise durch die Zeiten geführt hat. Was ist übrig geblieben von diesen Tagen Nebukadnezars: ein herrliches Tor in einmaliger Schönheit. Aber wir sind lebendig. Vielleicht macht diese Tatsache, daß wir noch leben und vorhanden sind, den anderen Völkern auf dieser Erde keine sehr große Freude, und wir haben Anzeichen, daß das letztere wirklich der Fall ist. Aber immer noch glauben wir, daß wir unsere Aufgabe auf dieser Erde noch nicht erfüllt haben und die Thora Gottes über die Erde tragen sollen. Es zeigt sich doch, daß das Wort mächtiger ist als alle Bildwerke, wenn auch diese zunächst mehr zum Auge sprechen. Während wir in andächtiger Stimmung vor diesem Überrest einer vergangenen Zeit standen, mußte ich an Jeremias denken, der in jenen Tagen gelebt hatte und dessen herrliche Worte wohl mit zu dem Größten gehören, was jüdischer Geist jemals hervorgebracht hat. Niemals kann man ja gänzlich aus seinem Bluterbe heraustreten, und überall überschneidet sich unser Empfinden. Ich habe mich immer dagegen gewendet, daß man zwischen dem, was man als Mensch, Deutscher oder Jude empfindet, trennt. Man ist nur ein ganzes Wesen, wenn man überhaupt ein Mensch ist. Alles mündet schließlich in einen Strom. [...] Als ich wieder nach Hause kam, hatte meine Frau alles aufs beste vorbereitet und auch einen Teil der immer sehr großen Post erledigt, die auf mich wartete. Ich hatte damals so vielfache Beziehungen, daß es allein nicht zu schaffen war. Aber gerade in der Vielfältigkeit der geistigen Welt lag auch Antrieb und Freude. Weniger erfreulich waren die vielfachen Konferenzen, an denen man teilzunehmen hatte. Sehr wenig liebte ich die Lehrerkonferenzen, die alles andere als eine Lebensgemeinschaft von Menschen darstellten, die an der Erziehung der ihnen anvertrauten Schüler zu arbeiten hatten. Und nun kam noch dazu, daß damals im Herbste 1931 die politischen Gegensätze besonders zerreißend wirkten. Zum Beispiel waren regelmäßig schon ein halbes Jahr vor der Reifeprüfung die Versehentlich steht in der Vorlage „Istar-Altar", ein Beispiel für wiederholt zu bemerkende H ö r - bzw. Diktatfehler. 44
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sogenannten Charakteristikenkonferenzen abzuhalten. In ausführlichen Niederschriften mußten über die einzelnen Schüler Urteile niedergelegt werden, die dann bei der Reifeprüfung unter Umständen entscheidend ins Gewicht fielen. Hatte zum Beispiel ein Schüler eine sehr gute Charakteristik, wies aber vielleicht durch die Aufregungen der Prüfung sonstige Mängel auf, so war man geneigt, eher darüber hinwegzusehen. Unter Bruch des Amtsgeheimnisses hatte Kollege Wenzel den Schülern von den Ergebnissen der Konferenz Mitteilung gemacht. Dadurch waren unter der Schülerschaft sehr große Erregungen entstanden, und man wußte ja zunächst nicht, auf welchem Wege sie Kenntnis erhalten hatten. Ich beantragte damals dienstlich bei dem Direktor eine Untersuchung der Vorgänge, die eben dieses Resultat zutage brachte. Der Winter wurde überhaupt durch die Erregungen der Zeit wenig erfreulich. Wir wurden nachts immer wieder durch Anrufe Unbekannter gestört und ließen dann unseren Apparat durch Kriminalpolizei und Fernsprechamt überwachen. Das hätte an und für sich alles schon ausgereicht, um das Leben zu komplizieren; daneben aber gingen auch noch die unzähligen Konferenzen und Besprechungen bei Justizrat Bendix in den Fragen der Testamentsvollstreckung und der damit zusammenhängenden TrautnerAngelegenheit. Wir hatten an Justizrat Bendix, der im Jahre 1940 in sehr hohem Alter gestorben ist, den besten und treuesten Berater. Trotzdem er damals schon im Greisenalter stand und äußerlich einen sehr hinfälligen Eindruck machte, hat er doch mit wundervoller Geisteskraft diese sehr schwierigen Dinge zu meistern verstanden. Man hat ihm oft die größten Schwierigkeiten gemacht, besonders dann, wenn er im Interesse der ihm anvertrauten Mündelgelder durchaus nicht davon abgehen wollte, nur an das Wohl der Enkelkinder von Louis Cohn zu denken. Er ist niemals einer Schwierigkeit ausgewichen. Für ihn gab es nur den Standpunkt eines durch nichts zu erschütternden Rechtsbewußtseins. Er hätte sich oft das Leben leichter machen können, wenn er sich weniger Skrupel gemacht hätte. Daß er sie sich aber gemacht hat, dafür bin ich ihm immer dankbar gewesen. Wenn ich mit anderen Anwälten so oft schlechte Erfahrungen gemacht hatte, was Bendix gewesen ist, hat das wieder ausgeglichen. Auch hier hatten wir als Juden in der Beurteilung wieder unter den Schlechteren zu leiden. Damals fing meine Gesundheit zu wanken an. Schon im Sommer 1931 hatte ich in Hohndorf durch Ohnmachtsanfälle die ersten War-
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nungssignale erhalten. Ich konnte mich sehr schwer entschließen, zu einem Facharzt zu gehen. Mir ist nichts gräßlicher gewesen, als viel mit seinem Körper anzugeben. Im allgemeinen pflegen Juden sehr häufig Hypochonder zu sein. Schließlich mußte ich aber dem vereinten Druck der Familie doch nachgeben und konsultierte Dr. Meidner. Das war auch ein alter AMVer, mit dem ich immer sehr gut gestanden hatte. Als ich ihm nichts über meine Beschwerden sagen wollte, weil mir das Auskramen der sogenannten Anamnese besonders gräßlich war, erklärte er, daß er in diesem Falle mit dem Auspumpen des Magens beginnen müßte. Um dem zu entgehen, habe ich ihm dann schließlich einiges gesagt. Das Resultat war, daß er zwar kein organisches Herzleiden, aber doch vasomotorische Störungen feststellte, die mich seitdem niemals mehr verlassen haben und die mir in mehr oder weniger großen Abständen das Leben oft sehr schwer gemacht haben. Ich habe seitdem eigentlich sehr selten das Gefühl gehabt, noch ein gänzlich gesunder Mann zu sein. Trotzdem habe ich, wenn ich ein einziges Mal über mich selbst etwas Lobendes sagen darf, meine Arbeit mit eiserner Energie auch nach den schlechtesten Nächten geleistet. Vielleicht war letzte Ursache für diese Dinge, abgesehen von einer erblichen Disposition, meine starke Sensibilität, die mich innere Konflikte besonders schwer empfinden ließ. Mit äußeren Dingen bin ich immer viel leichter fertig geworden. Aber wenn sich in meinem näheren Umkreis irgend etwas ereignete, was meinem Empfindungsleben zuwider war, so konnte mich das sehr quälen und die unangenehmsten Anfälle auslösen. Dazu hat auch die Trautner-Angelegenheit sehr viel beigetragen, die mich innerlich quälte. Nun, es trägt eben jeder Mensch sein Teil und muß versuchen, mit ihm fertig zu werden. [...] Neben diesem allem ging auch noch die große wissenschaftliche Arbeit. Ich hatte damals etwas besonders Schwieriges vor, nämlich die Darstellung der Marine aus der Zeit König Karls I. von Anjou. Darüber habe ich ja schon verschiedentlich auf diesen Blättern berichtet. Es hieß aus tausenden und abertausenden Einzelnotizen ein Bild aufzubauen, das von dem Leben dieser Flotte deutliche Anschauung gab. Man muß als Historiker die Energie haben oder vielleicht, vulgärer ausgedrückt, eben das Sitzfleisch, um auf Tausenden von Zetteln das zusammenzutragen, was später erst dargestellt werden kann. Heute, da ich dieses niederschreibe, ist erst ein Teil der Arbeit gedruckt. Es bleibt die Frage, ob ich den Druck der ganzen Arbeit noch erleben werde. Gerade eine so spezialisierte Arbeit wird wahrscheinlich immer nur einmal gemacht. Ich studiere heute seit über dreißig Jahren die Entwicklung der süditalienischen Marine, und ich weiß nicht, ob das einer noch einmal tun wird.
Zeiten politischer Erregung (1930-1931)
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Der Herbst brachte auch wieder die Feiertage im Kreislauf des Jahres. Damals konnte ich noch gut fasten. Ich habe dieses Fasten niemals als eine Last empfunden, sondern als eine freudige Hingabe an eine Idee. Gerade in Zeiten, die besonders große Anforderungen an die Nerven stellten, habe ich es als einen Segen empfunden, daß man sich einmal für ganze 24 Stunden von allem isolieren konnte, was die Umwelt brachte. Ich habe später oft verstanden, was katholischen Menschen die sogenannten Exerzitien bedeuteten, Zeiten, in denen sie sich von der Welt isolierten und in denen sie ausschließlich der Arbeit am eigenen Ich lebten. In der Entwicklung des Seelenlebens meiner Kinder ist die Stellung zum Glauben eine ganz verschiedene gewesen. Wölfl hatte den Glauben damals schon teilweise verloren. Diese Krisis bleibt ja keinem jungen Menschen erspart, und hoffentlich findet er ihn später einmal wieder. Dafür war Ruth damals in ihrer frommen Epoche. Sie weigerte sich zum Beipiel, die Neue Synagoge zu betreten, weil dort eine Orgel aufgestellt war 45 . So mußte ich mit ihr die Storch-Synagoge auf der Wallstraße besuchen. Es war der Einfluß der jüdischen Schule am Rehdigerplatz, die sich große Mühe gab, die Kinder zu einer einheitlichen Weltanschauung zu erziehen. [...]
4 5 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es nur vereinzelt Instrumentalmusik in Synagogen gegeben. Seit den Kämpfen innerhalb des Judentums um Reformen im Gottesdienst galten Orgelsynagogen als Reformsynagogen.
X. U N T E R D E M Z E I C H E N A M A L E K S (1931-1933) „Und denke daran, was Amalek Dir getan hat. Vergiß es nicht." Das politische Leben wurde immer unerfreulicher. Wenn ich auch glücklicherweise innerhalb der Partei keine große Rolle spielte, so nahm ich doch an allen Vorgängen regsten Anteil. Damals brachte der Rechtsanwalt Eckstein die Sozialdemokratische Partei zu einer Spaltung. Er gründete die sozialistische Arbeiterpartei, die nun zwischen den Kommunisten und den Sozialdemokraten stand. Damit war die Stoßkraft der alten Partei erheblich geschwächt. Ich habe diese Spaltung stets für ein sehr großes Unglück angesehen. Überall zeigte sich im deutschen Parteienwesen die Tendenz zur weiteren Aufspaltung, und gerade diese Spaltungen haben die Brücke für die Machtergreifung durch den Faschismus gebildet. Das kann ich gerade aus den Verhältnissen Breslaus, die ich lebhaft verfolgte, genau bezeugen. Eckstein hat die Schuld, die er begangen hat, früh mit dem Tode sühnen müssen 1 . Ich möchte damit übrigens über ihn als Menschen keinerlei herabsetzendes Urteil fällen. Einmal habe ich ihn dazu zu wenig gekannt, und dann bin ich davon überzeugt, daß er glaubte, das Richtige zu tun. Das meint sicherlich jeder Politiker; aber der große Politiker übersieht die Zusammenhänge doch etwas weiter.
1
Vgl. oben S. 540. Der langjährige Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Breslau, Rechtsanwalt Dr. Ernst Eckstein (1897-1933), gründete nach seinem Ausschluß aus der SPD 1931 den ersten Ortsverein der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) in Breslau und gehörte dann dem Vorstand dieser Partei an. Nach der Machtergreifung der Nazis wurde er in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 verhaftet, in das Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy verbracht und dort zu Tode gefoltert. Er starb am 7. Mai 1933. Seine Beerdigung wurde zu einer Demonstration der Breslauer Arbeiterschaft. F. Osterroth: Biographisches Lexikon des Sozialismus. Bd. 1. Hannover 1969, S. 71.
Unter dem Zeichen Amaleks (1931-1933)
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Selten habe ich auf diesen Blättern von der großen Zahl von Schülern, die ich im Laufe der Zeiten unterrichtet habe, namentlich gesprochen. Das würde im einzelnen auch nicht nötig sein. Hier und da muß ich eine Ausnahme machen. So will ich Ernst Cohn erwähnen, der damals Privatdozent der Rechtswissenschaften an der Universität in Frankfurt am Main wurde und dessen Name später, als er in sehr jungen Jahren ordentlicher Professor in Breslau wurde, sehr häufig in der Zeitung genannt war 2 . An seinen Namen hat sich dann ein ungeheurer Skandal geknüpft, für den er persönlich nichts konnte. Er wurde zum Fanal dafür, daß die „Verjudung" der Breslauer Universität nicht weitergehen dürfe. Seine Vorlesungen konnte er nur unter polizeilichem Schutze halten, und die ganze Universität war zeitweise von Kriminalbeamten besetzt. Man mußte einen besonderen Ausweis haben, wenn man in das Zeitschriftenzimmer der Universitätsbibliothek wollte, das in der Universität selbst untergebracht war. Bei diesen Skandalen gegen Ernst Cohn, die in eine etwas spätere Zeit fallen, zeichnete sich einer meiner Abiturienten aus dem Wintersemester 1931/32 besonders aus: Herbert Radecker. Gerade mit ihm habe ich noch bis vor kurzem in regster Fühlung gestanden. Er hat sich zu mir immer wunderbar benommen. Er, der der Sohn eines Landjägers war, gehörte zu den sogenannten alten Kämpfern der Partei, der eben wie so viele andere junge Menschen entsetzt von der Hoffnungslosigkeit der Zeit zum Radikalismus übergegangen war. Jetzt scheint er allerdings nach schwerer Kriegsverletzung und nach manchem, was er erlebt hat und das zu erzählen heute noch nicht die Zeit gekommen ist, schon desillusioniert zu sein. Er war in einer Klasse mit einem Jungen namens Werner Cohn, der auf den entgegengesetzten politischen Standpunkt festgelegt war. Als wir in Potsdam waren, hätten sich die beiden auf der Brücke über die Havel beinahe furchtbar in die Haare bekommen. Und der Dritte aus diesem
2 E. J. Cohn hatte in Breslau studiert und über diese Jahre anschaulich berichtet. Vgl. E. J. Cohn: Student in den Zeiten der N o t ; in: Leben in Schlesien. Hg. v. H . Hupka. München o. J., S. 241-252. Rechtsgerichtete Kreise entfesselten ab Mitte 1932 ein Kesseltreiben gegen die Berufung des Frankfurter Privatdozenten Ernst Joseph Cohn auf einen juristischen Lehrstuhl in Breslau. Cohn konnte im Wintersemester 1932/33 seine Vorlesungen nur unter massivem Schutz des Rektors Carl Brockelmann und der Polizei abhalten. Nach der Machtergreifung 1933 wurde Cohn bald beurlaubt und ging ins englische Exil. Die Verleihung einer Honorarprofessur durch die Universität Frankfurt 1957 war eine Geste der Rehabilitierung. H . Heiber: Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1. München 1991, S. 115-134.
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X. Kapitel
Kreise, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, war Ernst Kottow. Vielleicht ist es interessant, die Schicksale dieser drei jungen Menschen zu verfolgen. Als ich in Palästina war und oben auf der Höhe des Karmel spazieren ging, fuhr mir ein Auto nach, und aus ihm stieg Ernst Kottow. Er war dort Chauffeur geworden und Mitglied einer Autokooperative, sehr glücklich und zufrieden. Werner C o h n ist nach 1933 nach Italien gegangen, hat dort studiert, auch seine Doktorprüfung bestanden, mußte dann, nachdem Italien die Judengesetzgebung einführte, nach Frankreich weitergehen und dürfte heute auch dieses Land wieder verlassen haben. Radecker, der zu dem Kreise um Heines gehörte 3 , hat Jura studiert, aber niemals seinen Referendar machen können. Im Polenfeldzug bekam er einen schweren Schuß zwischen Magen und Darm, mußte aber dann noch den Frankreichfeldzug von 1940 mitmachen. Nachdem er notdürftig ausgeheilt war, klappte er gesundheitlich zusammen und ist heute, soviel ich weiß, in O s t r o w o im Warthegau Rechtswahrer. Vor den Herbstferien fuhr ich noch zu einem Vortrag nach Liegnitz, w o ich über Walter Rathenau sprach. Dann aber war es so weit, daß ich noch einmal ausspannen mußte, wollte ich den Winter einigermaßen durchhalten und den Aufregungen, die er zweifellos bringen würde, gewachsen sein. So fuhr ich wieder nach Kudowa. [...] Ich wohnte wieder im Elisenhof, weil ich dort immer Ruhe und Einsamkeit fand. Mit Franz harmonierte ich, wie stets. [...] Franz verschaffte uns durch eine Fahrt nach Adersbach und Wekelsdorf einen besonders herrlichen Autoausflug. Obwohl diese Felsenstädte gar nicht weit von der schlesischen Grenze liegen, war ich doch noch nie hingekommen, weil die Fahrt von Breslau etwas umständlich ist. Von Kudowa aus und noch dazu mit dem Auto ist es nicht sehr weit. Wir fuhren wieder am Zollamt bei Nachod vorbei, bogen aber dann ab und fuhren am Tale der Mettau entlang. Unterwegs kehrten wir in Wekelsdorf im Hotel zum Eisenhammer ein, wo Franz ein fürstliches Mittagessen spendierte. Er war in diesen Dingen sehr großzügig und freute sich, wenn andere sich mit ihm freuten. Dann ging es weiter zum Felsenhotel in Adersbach. Leider erlaubte es ihm sein gesundheitlicher Zustand nicht
3
Edmund Heines (1897-1934) stand seit 1931 an der Spitze der schlesischen SA. Er wurde beim Röhmputsch von der SS ermordet. Vor seiner Karriere als Breslauer Polizeipräsident war Heines Chauffeur des jüdischen Verlegers Theodor Marcus.
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mehr, die sehr anstrengende zweidreiviertel Stunden in Anspruch nehmende Wanderung durch die Felsen mitzumachen. Er blieb während der ganzen Zeit im Gasthaus sitzen, während wir hindurchgeführt wurden. Es ist wirklich ein großes Erlebnis zu sehen, welch oft groteske Gestalten die Natur aus diesen Felsen geschaffen hat. Das Stimmungsvollste war eine Kahnfahrt auf einem 700 m hochgelegenen See. Auch die lautesten Menschen, die an einer solchen Führung teilnahmen, verstummten dort oben. Geräuschlos glitt der flache Kahn über das stille, schweigende Wasser. An einer anderen Stelle mußten wir viele hundert Stufen klettern. Überall waren es neue Eindrücke, die uns erfüllten. An einer Stelle sahen wir eine Gedenktafel, die man für Goethe errichtet hatte, der auch einmal hier durchgekommen war 4 . Noch schöner wäre es gewesen, hätte man ganz allein wandern dürfen; aber jeder, der dies hier wagen würde, wäre sicherlich restlos verloren. Im Auto ging es dann nach Gnissau, wo ich schon einmal gewesen war. Wir kamen gerade zum Schluß einer Führung durch die Josefskirche. Franz und seine Frau konnten wenigstens ein paar Eindrücke noch mitnehmen. Der zweite Turm der Hauptkirche war damals gerade fertig geworden 5 . Wieder bewunderte ich, was ich schon 1926 bewundert hatte, wie sehr es die Mönche verstanden, die Stimmung, die ihre Seele selbst erfüllte, an ihre Besucher weiterzugeben. Von dort aus fuhren wir über Friedland nach Halbstadt und dann weiter nach Braunau. Wir mußten an diesem Tage sehr häufig die Grenze passieren. Dieses Braunauer Ländchen sprang damals noch als böhmischer Besitz nach Deutschland hinein, zwischen Schlesien und der Grafschaft Glatz. Der Rückweg führte uns über Wünschelburg auf den Kamm der Heuscheuer. Es lag ein dichter Nebel über der Landschaft. Man mußte sehr vorsichtig fahren, wollte man gut über die großen Serpentinen hinunterkommen. Um sieben Uhr waren wir wieder in Kudowa. Das ist der Vorteil einer Autoreise, daß man ohne große Anstrengung so viele Eindrücke in sich aufnehmen kann. [...] Es war mir übrigens selbstverständlich, daß ich mich auch mit der Sorge um das soziale Schicksal meiner Schüler belastete. So besuchten mich mitunter auch Schülermütter; öfters kam in jener Zeit Frau Ermold, A m 30. August 1790. Vgl. K . - H . Ziolko: Goethes Schlesische Reise. München 1992, S. 39. 5 Der 1913 abgebrannte Nordturm war in den Jahren 1930-31 originalgetreu wiedererrichtet worden. 4
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die in sehr schwieriger Lage war und drei Söhne großzuziehen hatte. Einer von ihnen, Ulrich, war einer meiner liebsten Schüler, der mir in jeder Beziehung half, wenn es darum ging, den Geist der Klasse zu bessern und durch vorbildliches Verhalten für kameradschaftliche Gesinnung zu sorgen. Wie das Leben immer die Besten hinwegrafft, so ist auch er gerade jetzt vor wenigen Tagen im russischen Feldzug gefallen. Er hat wahrgemacht, was er auch immer in Friedenszeiten gelebt hat, anderen ein Vorbild zu sein. Wie viele meiner Schüler mag inzwischen ein ähnliches Los erreicht haben, ohne daß ich es weiß. [...] An einem Sonnabend hatte ich in Militsch gesprochen. Am Sonntag früh fuhr ich nach Breslau zurück. Unmittelbar vom Odertorbahnhof begab ich mich in den Gloria-Palast, einem großen Kino auf der Schweidnitzerstraße. Dort wurde eine große zionistische Kundgebung veranstaltet und es lief ein Film zur Werbung für das palästinensische Jugenddorf Ben Schemen. Ich hatte es übernommen, dazu den einführenden Vortrag zu halten. Mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand, setzte ich mich für diese Sache ein. Ben Schemen ist später vielen jüdischen Kindern aus Deutschland Heimat und Verwurzelung im Lande geworden. Wahrscheinlich bin ich einer der letzten, der damals in diesem Saale war und der führend im Zionismus tätig war. Man kann nicht immer sein Schicksal an dem messen, was man gewollt und erstrebt hatte, obwohl ich gern dem Ideal gelebt hätte, das ich so oft anderen Menschen in glühendsten Farben schildern durfte. Nun dürfen es wenigstens meine Kinder erfüllen. In Breslau setzte jetzt auch mit ganzer Kraft die Arbeit in der Volkshochschule ein. Ich hatte diesmal besonders viel Teilnehmer. Nicht weniger als 140 Menschen hatten sich für meinen Kursus gemeldet. So konnte ich ihn nicht in irgendeinem Klassenzimmer abhalten, sondern ich mußte dafür die Aula, den größten Raum im Johannesgymnasium, in Anspruch nehmen. Das Intime des Unterrichts ging dabei natürlich verloren; und die Anstrengung für die Lehrer ist eine besonders große. Doch hat mir gerade jenes Wintersemester, in dem ich auf so viele Menschen wirken konnte, trotz der Schwierigkeiten, die sich aus der erregten politischen Situation ergaben, sehr große Freude bereitet. Die Hetze gegen die Städtische Volkshochschule war von Seiten reaktionärer Kreise sehr groß. An der Spitze stand besonders der Breslauer Philologenverein, der überhaupt der Vater aller Feindschaft gegen Fortschritt jedweder Art war. Die Dinge spitzten sich zeitweise so zu,
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daß auch der Direktor der Volkshochschule, Dr. Mann, dagegen Stellung nehmen mußte. Man hatte damals eine Möglichkeit, Dinge abzuwürgen, die einem nicht paßten, indem man ihnen möglichst die pekuniäre Grundlage entzog. Es war die unglückselige Zeit der Notverordnungen und der sich überstürzenden Sparmaßnahmen 6 . Wir stehen heute jener Epoche schon so fern, daß man ruhig sagen kann, daß dies das Verkehrteste war. Ein großzügiges Arbeitsbeschaffungsprogramm hätte mehr erreicht als das dauernde Abwürgen von Institutionen, das letzten Endes nur die Erwerbslosigkeit erhöhte. Gerade diese politischen Fehler haben dann zu den verzweifelten Konsequenzen geführt, die wir 1933 erlebten. Doch letzten Endes wird über all das erst später die Geschichtsschreibung ihr Urteil abzugeben haben. Die politische Erregtheit der Zeit machte es besonders schwer, immer wieder die geistige Konzentration zur abstrakten wissenschaftlichen Arbeit zu finden. Ich freue mich, daß ich es geschafft habe und daß besonders die Arbeit über die sizilische Flotte, die später in italienischer Sprache erschien und die ein sehr schwieriges Quellenstudium erforderte, im wesentlichen geschafft worden ist. Gerade heute fand ich eine Erwähnung dieser Arbeit in einem neuen deutschen wissenschaftlichen Werk; es sind das die kleinen Anerkennungen, über die man besonders glücklich ist, wenn man wissenschaftlich Gebiete beackert, die abseits der großen Heerstraße liegen. Nebenher ging wie stets eine umfassende journalistische Tätigkeit, die mir Bedürfnis war. Sie erstreckte sich sowohl auf jüdische wie auf allgemeine Zeitungen. Zusammen mit dem Verlagsleiter der Volkswacht hatten wir damals auch verschiedene Pläne zum Ausbau der Reihe der Lebensbilder, die ich geschrieben habe. Dazu ist es ja dann leider nicht mehr gekommen, und es dürfte wohl kaum noch einmal dazu kommen. Auch im Rundfunk hatte ich zu sprechen. Hier war eine neue Organisation geschaffen worden, die jede Woche unter eine bestimmte Idee stellte. Verschiedene Vortragende hatten Themen zu behandeln, und am Ende der Woche war dann wieder von einem anderen die Zusammenfassung zu geben. So stand einmal eine Woche unter dem Gedanken der schlesischen Geschichte, und ich war dazu aufgefordert worden, die Zusammenfassung zu liefern. Das erforderte eine ziemlich
6 Die Notverordnungen der Regierung Brüning, insbesondere die 3. Notverordnung vom August 1931.
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intensive Beschäftigung mit sämtlichen Vorträgen, die eben in dieser Woche gehalten worden waren. [...] 7 Von einer sehr kurzlebigen journalistischen Gründung möchte ich sprechen. Das Berliner Tageblatt wollte für seine Breslauer Leser eine Stadtausgabe herausbringen, die es „Breslauer Stadtblatt" nannte. Mit der Redaktion wurde der Rundfunksprecher Erich Landsberg betraut, von dem ich ja schon erzählt habe. Aber schon nach wenigen Nummern gefiel das Blatt den Leitern des Hauses Mosse nicht und stellte sein Erscheinen ein. Erich Landsberg hatte mich auch zur Mitarbeit aufgefordert, aber durch den frühen Tod dieser Zeitung ist daraus nichts mehr geworden. Die Breslauer jüdische Volkshochschule eröffnete ihr Wintersemester mit einem Vortrag von Franz Werfel. Dieser jüdische Dichter deutscher Zunge war damals sehr im Vordergrunde des Interesses. Manche behaupteten sogar, er sei getauft, etwas, was ich nicht nachzuprüfen vermochte, was ich persönlich aber auch nicht glaubte. Unter den vielen seiner Werke hat das Drama „Paulus unter den Juden" auf mich den größten Eindruck gemacht, bei dem ich bewundert habe, welche Fähigkeit der religiösen Kraft Werfel in seiner Darstellung besaß 8 . Wie so oft war es eine Enttäuschung, wenn man den Dichter auf dem Vortragspult erlebte. Nicht jedem ist ja die Fähigkeit zum Sprechen gegeben, und es ist auch nicht immer ein Verdienst, wenn man sprechen kann. Aber wenn man es nun nicht kann, dann sollte man es eben lassen. So las Werfel ziemlich kümmerlich einen geschriebenen Aufsatz vor. Vielleicht war der Sensationshunger der damaligen Menschen daran schuld, daß der Dichter an das Vortragspult kam. Die Masse wollte eben ihren Liebling von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Übrigens machten mir meine beiden Söhne schon Konkurrenz im Halten von Vorträgen. Beide hielten in ihren Bünden, die im Jüdischen Jugendheim tagten, das damals am Schweidnitzer Stadtgraben untergebracht war, kleine Referate. Ernst war doch erst zwölf Jahre alt, aber verstand es doch schon, Fragen bis zum Letzten durchzudenken. Trotzdem bin ich sehr glücklich, daß er kein überzüchteter Intellektueller geworden ist. Das jüdische Volk braucht auch denkende Bauern.
Textlücke am Seitenende der Vorlage (S. 961). F. Werfel: Paulus unter den Juden. Dramatische Legende in sechs Bildern. Berlin 1926. 7 8
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Die auswärtige Vortragsarbeit war in diesem Winter nicht ganz einfach. Überall wollte man sparen, auch in den jüdischen Organisationen, obwohl es ja den Juden als solchen gar nicht so schlecht ging. Zuerst wurde dabei immer mit der geistigen Arbeit gespart. Im Grunde schämte ich mich oft für meine Rassegenossen, die einen Vortrag absagten, weil sie nicht glaubten, die Kosten von zwanzig oder dreißig Reichsmark aufbringen zu können. Und doch haben sie sicher an ihrer eigenen Lebenshaltung nicht die geringsten Abstriche gemacht. So mußte damals von meiner Frau und von mir durch Korrespondenz eine ziemlich unproduktive Arbeit geleistet werden. Sehr viele Briefe, die wir hinausgehen ließen, hatten keinen Erfolg. Immerhin kam für die Weihnachtsferien wieder eine ostpreußische Vortragsreise zustande, über die ich noch berichten werde. Es lag im Wesen jener unruhigen Zeit, daß so im Leben der Stadt große Gegensätze bemerkbar waren. Da feierte zum Beispiel unser Johannesgymnasium in den Räumen der „Bonbonniere" (so hatte sich damals der Friebeberg genannt, ein altes Vergnügungslokal) ein großes Fest. An ihm nahmen 600 Menschen teil, und ich war auch unter ihnen. Die jungen Leute vergnügten sich, so wie es im Stile der Zeit lag. [Der ganze Verlauf des Festes wurde auch in] 9 der Presse besprochen und von antisemitischer Seite sehr angegriffen, obwohl es auf ihm nicht freier zuging wie auf anderen Festen auch. Aber eine Anstalt, die eben zu fünfzig Prozent von jüdischen Schülern besucht wurde, wurde mit einem anderen Maßstab gemessen. Fast um dieselbe Zeit war ein großer Streik bei Linke-Hofmann 1 0 . Ich machte damals gerade eine Wanderung mit meinen Schülern, die mich in jene Gegenden führte, und sah die Streikposten vor dem Betriebe stehen. Dabei gab es damals so viel Arbeit und so viele Menschen konnten ihre Bedürfnisse nicht befriedigen. Wahrscheinlich war die Regierung zu schwach, um die produktiven Maßnahmen durchführen zu können. Jedenfalls hatte man immer das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Der einzige Nutznießer dieser bösen Verhältnisse war letzten Endes die üppig aufblühende Skandalpresse, die auch in Breslau sehr emporschoß. Der Kritiker gab es genug, aber wo waren die, die durch energisches Textlücke am Seitenende der Vorlage (S. 963) im Umfang einer Zeile, hier sinngemäß ergänzt. 10 Die 1871 gegründete Linke-Hofmann-A. G. war das größte Industrieunternehmen Breslaus für Eisenbahnen-, Lokomotiv- und Maschinenbau. 9
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Eingreifen in der Lage waren zu bessern? Ich besuchte damals häufiger die Distriktsveranstaltungen meiner Partei. Durch die Spaltung hatte sie sehr verloren. Im Süden Breslaus (hier wohnte ja vor allem das Großbürgertum) hatte sie sowieso niemals sehr viel Anhänger gehabt. Man nannte diesen Distrikt den Hausmeisterdistrikt, weil es neben jüdischen Intellektuellen wohl hauptsächlich Hausmeister waren, die ihm angehörten. Bei einer Distriktsversammlung (es war allerdings nicht mein Distrikt) lernte ich den früheren Oberpräsidenten von Schlesien, Philipp, kennen, der damals Schlichter war 11 . Vielleicht kann man sich unter diesem einfachen Titel nicht viel vorstellen; es war aber doch ein sehr wesentliches Amt, etwa das, was man heute den „Treuhänder der Arbeit" nennt. Ihm oblag es vor allem, für den sozialen Frieden zu sorgen; doch war das Resultat kein so erschütterndes, weil dem Staate die Machtmittel nicht zur Verfügung standen. [...] Auch zur jüdischen Lage der damaligen Zeit muß ein Wort gesagt werden. Wir hatten immer mehr das Gefühl, vogelfrei zu sein. Jeder, der ein wenig Fingerspitzengefühl hatte, wußte, daß es auch hier so ausgehen würde, wie es in der Weltgeschichte letzten Endes immer ausgegangen ist, daß man den Juden für alles Unglück verantwortlich machte. Ich gehöre gewiß zu den Letzten, die es ableugnen, daß schwere Fehler gemacht worden sind und daß bei rechtzeitiger Erkenntnis der Situation vieles zu verhüten gewesen wäre. Aber das Mittel des Universalprügelknabens war nun doch auch nicht das Richtige. Damals kamen die sogenannten Boxheimer Dokumente heraus, die das Programm aufzeigten, das sich die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei vorgenommen hatte, wenn sie einmal an der Macht sein würde 12 . Nachdem sie jetzt acht Jahre an der Macht ist, muß man sagen, daß sie dieses Programm etappenweise, aber nunmehr doch fast restlos durchgeführt hat. Sogar jener Punkt ist in die Praxis umgesetzt worden, daß die Lebensmittel in erster Reihe für die Volksgenossen da sind und nur das, was nicht gebraucht wird, für die
" Im Jahre 1919 war kurzfristig der sozialdemokratische Arbeiter Felix Philipp Oberpräsident von Niederschlesien geworden. 12 1931 verfaßte Werner Best nach Gesprächen hessischer NSDAP-Funktionäre im Boxheimer H o f bei Bürstadt den Entwurf von Sofortmaßnahmen im Falle eines kommunistischen Umsturzes. Darin wurde auch die Liquidierung politischer Gegner angekündigt. Als diese Boxheimer Dokumente bekannt wurden, schien es Hitler ratsam, sich von ihnen zu distanzieren. Ein Hochverratsverfahren gegen Werner Best wurde 1932 eingestellt.
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„Gäste", unter welche Rubrik eben wir Juden fallen. Als damals die erste Nachricht von diesem Programm durch die Presse ging, da reagierte man vor allem mit dem Schrei nach dem Staatsanwalt. Man hätte aber vielmehr die Axt an die Wurzel des Übels legen und dafür sorgen müssen, daß die allgemeinen sozialen Zustände eine Besserung erführen. Man muß, ganz gleichgültig wie man zu den Dingen steht, immer wieder hervorheben, wie das alles bis in die letzten Konsequenzen geplant war. Am schwierigsten war die Lage für die ewig Schwankenden. Viele fühlten (ich denke hier ausschließlich an die Menschen deutschen Blutes), daß das Dritte Reich im Anmarsch sei. Viele wollten nun unter allen U m ständen oben bleiben und den Anschluß nicht verpassen. Der Direktor des Johannesgymnasiums, Dr. Gabriel, war politisch auf die Demokratie festgelegt. Aber er gehörte nicht zu den Menschen, die konsequent waren. Er hat sich eigentlich erst, nachdem er vom Amt suspendiert war und ihm das Schwanken nichts mehr nützte, zu dieser Konsequenz durchgerungen. Damals aber versuchte er noch den Anschluß zu finden. So machte er ziemlich unvermittelt eine Gedenkfeier für die Gefallenen der Anstalt. Es waren zehn Jahre vergangen, seitdem die Gedenktafel (ein Fenster) aufgehängt worden war. Die Rede übertrug er dem besonders nationalistisch eingestellten Professor Pürschel, der das lateinische W o n „invictis victi victuri" zugrunde legte, auf Deutsch: „Den Unbesiegten, die Besiegten, die einst siegen werden". Er benutzte dieses Thema natürlich gründlich zu einen Aufputschen für die Revanche. Heute stehen wir mittendrin in den Früchten, und das deutsche Volk muß alles das mit seinem Blute bezahlen. Ich erteilte meinen Unterricht so, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, und bin der Linie treu geblieben, die ich nun einmal eingeschlagen hatte. Der Oberschulrat Dr. Kurfess besuchte mich im bürgerkundlichen Unterricht, den ich mit besonderer Liebe gab, und sprach sich annerkennend aus, wie mir der Direktor nachher sagte. Immer wenn ein höherer Vorgesetzter kam, wurde ich besonders herausgestellt. Ich war gewissermaßen der Mannequin des Johannesgymnasiums. Wenn aber der hohe Besuch vorbei war, wurde ich wieder in die Versenkung getan. Wenn es sich um Beförderung und dergleichen handelte, wurde ich fein säuberlich übergangen. Es ist das auch ein Stück des Judenschicksals, mit dem man sich abzufinden hat und mit dem ich mich abgefunden habe, wenn ich auch ehrlich sagen muß, daß es mir oft schwergefallen ist. Ich will mich auf diesen Blättern keineswegs besser machen, als ich gewesen bin. Alle diese oft unerfreulichen Erlebnisse haben mir aber doch
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die eigentliche Freude am Unterricht, die Hauptsache einer Lehrerexistenz, niemals rauben können. Mein Leben war ja auch erfreulicherweise so reich, daß es nicht nur auf die Schule abgestellt war. Gewiß, der kleine Ärger des Alltags konnte einem schon mancherlei antun. Ich hatte damals einen Schüler (seinen Namen will ich nicht nennen, weil es sich nicht lohnt, ihn festzuhalten), der es besonders darauf anlegte, mich zu ärgern und mir im Unterricht Fallen zu stellen. Hier aber bin ich aufs Ganze gegangen, habe dem Direktor erklärt, daß ich diesen Schüler keinesfalls weiter unterrichten würde. Ich habe es durchgesetzt, daß eine Konferenz zusammentrat und daß dieser Schüler, was im Abiturientenjahre etwas Außergewöhnliches darstellte, in die Parallelklasse versetzt wurde. Ich habe mir niemals die Untergrabung meiner Autorität gefallen lassen und war der Meinung, daß, wenn man erst einmal nachgab, man dann für alle Zeiten verloren war. Ausweichen und sich ducken habe ich stets als unmännlich empfunden und habe es immer vermieden. Das Allerschlimmste, was uns Juden in der Zerstreuung begegnen kann, ist, daß unser Charakter leidet und daß wir Menschen werden, die nicht mehr wagen, Stellung zu nehmen und sich männlich zu benehmen. Selbst nach 1933 habe ich mich bemüht, diese meine Haltung konsequent durchzuführen, auch in Fällen, wo andere aus Angst um ihr Schicksal lieber geduckt haben. Das hervorzuheben ist im Grunde eigentlich gar nicht notwendig; es erscheint mir selbstverständlich, daß man so sein muß; aber nicht alle sind in ihrem Verhalten von dem gleichen Gedanken getragen.
Daß ich in den Weihnachtsferien wieder nach Ostpreußen fahren konnte, beglückte mich besonders. Wenn ich auch gewärtigen mußte, daß auch da draußen die brennenden Probleme erörtert werden würden und schon die Vortragsthemen, die die verschiedenen Orte gewählt hatten, durchaus Zeitprobleme waren, so war es doch ein verändertes Milieu, eine gewisse Distanzierung von Breslau, was mir guttat. Die Fahrt nach Ostpreußen habe ich so oft geschildert, daß ich mich diesmal sehr kurz fassen will. Der plombierte Wagen nach Ostpreußen hatte wieder sehr wenig Fahrgäste. Mir gegenüber saß ein Arier, wie man heute sagen würde, der sich für die lange Reise durch polnisches Gebiet, wo man bekanntlich nichts kaufen konnte, gut ausgerüstet hatte. Zu seiner geistigen Nahrung hatte er „Mein Kampf" mitgenommen, das Buch von Adolf Hitler, und sich außerdem mit einer Cognacflasche versehen. Es war nun nett zu beobachten, wie er abwechselnd einige Seiten las und sich dann immer wieder mit einem Schluck stärkte.
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Selbstverständlich liegt es mir fern, zwischen den Dingen irgendeinen Zusammenhang konstruieren zu wollen. Ich fuhr damals bis Deutsch-Eylau durch, mußte dann auf der Strecke in Riesenburg umsteigen, um nach Marienwerder zu gelangen, wo ich den ersten Vortrag zu halten hatte. Ich wohnte diesmal im Hotel, und ich sprach über die Wirtschaftskrisis und ihre Wirkung auf das Judentum. Unter den Menschen, die ich in Marienwerder kennenlernte, möchte ich vor allem den Rechtsanwalt Schloßberg und seine Frau nennen. Dieser hat dann lange Zeit nach 1933, als er in Marienwerder nicht mehr Anwalt sein konnte, als zionistischer Propagandist sehr gewirkt, und er ist ein hervorragender Redner gewesen. Heute dürfte er längst in Palästina sein. Von Marienwerder ging es nach Elbing, wo sich wieder Dr. Levy um mich kümmerte. Ich benutzte meinen damaligen Aufenthalt, um auf der Stadtbibliothek zu arbeiten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich den dortigen Archivdirektor Dr. Bauer kennen, und er forderte mich für das nächste Jahr zu einem Vortrag über Hermann von Salza auf; auch sollte ich für das Elbinger Jahrbuch eine Arbeit liefern. Ich habe dann auch einen Aufsatz über „Hermann von Salza im Urteil der Nachwelt" 1 3 geschrieben. Bei dieser Gelegenheit will ich noch nachtragen, daß mich in diesem Winter Dante besonders beschäftigte und die schon erwähnte Arbeit über die Hohenstaufen im Urteil Dantes, die ich im Dantejahrbuch veröffentlichen konnte 14 . Es freut mich natürlich sehr, daß ich in den besonders schwierig zu behandelnden Kreisen Ostpreußens nun ein wenig Fuß fassen konnte. Von Elbing ging es nach Allenstein. Das bedeutete eine Fahrt quer durch das Innere Ostpreußens, etwas, was ich sehr liebte. Es war so geruhsam, daß man alle Hast der Großstadt vergaß. So saß ich gerade auf dieser Fahrt eine ganze Zeit im Wartesaal von Maldeuten. Diese kleine ostpreußische Station ist mir dadurch in Erinnerung geblieben, daß ich dort längere Zeit unter einem Weihnachtsbaum saß und mich an der Stimmung des kleinen Bahnhofs erfreute. Die Wirte dieser Stationen sind überaus glücklich, daß die Züge nicht immer unmittelbar Anschluß haben. Dadurch haben sie eine kleine Existenzmöglichkeit. Je nachdem, ob ein Gast einen heißen Tee oder einen steifen Grog zu sich nahm, konnte man feststellen, ob er Ostpreuße war oder aus dem Reich stammte. Dann ging es weiter nach Mohrungen, der Geburtsstadt Herders. 13 14
Vgl. SV Nr. 384. Vgl. SV Nr. 391.
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X. Kapitel
In Allenstein wohnte ich in der Pension Rieß und sprach über ein Thema aus der jüdischen Geschichte. Dann fuhr ich auf der südlichen Strecke nach Lyck, an Orteisburg vorbei, dem Ort, wo Skowronnek seinen berühmten Roman spielen ließ, in dem er den Ausbruch des Krieges von 1914 vorwegnahm 15 . Hier in Masuren herrschte wieder eine gewaltige Kälte. Wenn man ein Stückchen des zugefrorenen Fensters auftaute und über die Landschaft sah, fiel das Auge auf riesige Wälder, in denen ab und zu ein Förster auftauchte, der schwer bewaffnet gegen die Wolfsgefahr war, oder man sah zugefrorene Seen. Ab und zu stieg jemand ein, der in einen riesigen Pelz gehüllt war. [...] Die Lage der Juden in Lyck hatte sich erheblich verschlechtert. Gerade wenn man im Abstand von einem Jahr wieder in dieselbe Gegend kam, konnte man das beurteilen. Noch hielten sie sich, noch versuchten sie, im Wirtschaftsleben dadurch eine Macht auszuüben, daß sie den Zeitungen, die besonders hetzten, die Annoncen entzogen. Die N o t der Zeit schloß sie auch stärker zusammen. Vielleicht war es ganz passend, daß ich dort das Thema über den sozialen Gedanken im Judentum behandelte. Einmal war ich auch in der Synagoge, in der eine furchtbare Kälte herrschte. Wieder fand die Sylvesterfeier bei Hirschfelds statt; wieder hatte ich ein paar sehr erfreuliche weibliche Bekanntschaften, und noch einmal schwang ich das Tanzbein. In Erinnerung ist mir geblieben, wie nett ein jüdischer Sextaner aus Gumbinnen den Kegelklub imitierte, so daß man jeden einzelnen der Kleinstädter vor sich sah, die man im Leben niemals erblickt hatte. Soweit die Zeit es gestattete, bin ich auch trotz sehr großer Kälte wieder gelaufen. Ich sah die Artilleriestellungen, von denen aus die Russen 1914 ihre Geschütze gegen Lyck in Stellung gebracht hatten. Von dieser Stadt aus fuhr ich nach Rastenburg, durch das Land der masurischen Seenplatte. Ein Gespräch im Abteil ist mir in Erinnerung geblieben, das so ganz die winterliche Stimmung Ostpreußens charakterisierte. Mit rührender Ausdauer unterhielten sich zwei Fahrtgenossen über das Thema: „Wird die Großmama, wenn wir nach Rastenburg kommen, Kaffee aufbrühen?" Da ich ja am Bahnhof von meinen Bekannten in Empfang genommen wurde, habe ich leider nicht feststellen können, ob sie den Kaffee aufgebrüht hat oder nicht.
15
Der Hinweis bezieht sich vermutlich auf den Roman „Sturmzeichen" von Richard Skowronnek, der ab Mai 1914 in der Berliner Illustrirten Zeitung zum Vorabdruck kam.
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In Memel wohnte ich wieder bei Dr. Jacobsohn, und es war im Grunde nicht so, als ob ein ganzes Jahr vergangen wäre. Das litauische Dienstmädchen küßte mir die Hand, weil ich einiges zu ihr in ihrer Sprache sagen konnte. In Memel hatte ich sogar zwei Vorträge zu halten. Einmal sprach ich im Literaturverein, und einmal sprach ich in der Wizo, der zionistischen Frauenorganisation16. In den Privatgesprächen wollte man vor allem etwas über den Stand der Hitlerbewegung in Deutschland hören. Man kann verstehen, daß das auf den Juden wie ein Alpdruck lag, auch auf denen, die zunächst nicht unmittelbar betroffen werden konnten. Die Kälte war diesmal eine besonders grausame. Ich war ja nun schon an einiges gewöhnt, aber diesmal fegte der Wind so, daß man trotz Wollweste und Pelz und Pelzmütze das Gefühl hatte, daß man in Spinnweben gekleidet war. Trotzdem fuhr ich mit der Straßenbahn zum Meer hinaus, um es wenigstens zu sehen. Den gewohnten Spaziergang aber am Strande entlang konnte ich wegen des furchtbaren Wetters nicht machen; zu sehr tobte der Sturm. Durch Memel fließt bekanntlich das kleine Flüßchen Danje. Ab und zu wurde die Brücke fortgefahren, damit der Eisbrecher hindurch konnte, um eine Fahrrinne zu schaffen. In der Wizo behandelte ich das Thema: „Überwindung jüdischer Not durch jüdische Selbstbesinnung". Ich vertrat in diesem Jahre immer den Standpunkt der Eigenhilfe und des Aufbaus aus eigenen Kräften heraus. Die Leiterin der Wizo, Frau Dr. August, war ein besonders hochstehender Mensch. Dann waren die Tage in Memel zu Ende, die für mich immer zu rasch vorbei waren. Der Abschied von Jacobsohns und von Scheinhaus fiel mir sehr schwer. Merkwürdig waren auf litauischer Seite wieder die Coupegespräche. Einer meiner Reisegenossen war ein Chaluz, ein anderer ein memelländischer Bauer. Es fiel mir auf, in welch großem Gegensatz die erdverbundene Ruhe des Bauern zu der Fahrigkeit des jungen Juden stand. Vielleicht ist dieser Chaluz nun inzwischen auch ein ruhiger Bauer geworden, der die Hast abgelegt hat. Das ist es vor allem, was wir unserem Volke wünschen, daß es zur Ruhe kommen und nicht mehr abhängig sein möge von den jeweiligen Neuigkeiten des Alltags. Als ich dann bei Tilsit über die Grenze kam, stieg ein deutscher Landwirt ein, der ganz große Propaganda für Hitler machte. Er sagte immer wieder, daß dieser die einzige Rettung für Deutschland bedeute. [...]
16 Die Women's International Zionist Organisation (abgekürzt WIZO, Weltorganisation zionistischer Frauen) wurde 1920 in London gegründet.
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X. Kapitel
In Breslau strömte nun wieder sehr viel auf mich ein. Die Dinge bei Trautner spitzten sich immer mehr zu, und allmählich hatte man die Überzeugung, daß die Firma nicht mehr zu retten war. [...] Die Abende waren viel durch Kurse und Vorträge in Anspruch genommen. In dem überaus besuchten Kurs der Volkshochschule las ich das „Kapital" von Karl Marx. Ist das an und für sich schon keine leichte Aufgabe, weil es zu dem geistig Schwersten gehört, was je geschrieben worden ist, so wachsen diese Schwierigkeiten noch, wenn es sich darum handelt, das einem großen Kreise geistig nicht vorgeschulter Menschen faßlich zu interpretieren. Man lernt übrigens dabei selbst sehr viel. Einmal sprach ich auch im Jüdischen Speisehaus auf der Antonienstraße. Dabei bekam ich das erste Mal Berührung mit dem jüdischen Proletariat, das in seiner Struktur wieder ganz anders ist als das allgemeine. Da unsere Rasse viel erregter ist als die arische Rasse, so war es auch an diesem Abend erheblich unruhiger, als wenn ich in einer Distriktsversammlung der Partei sprach. Immerhin freute es mich, daß mir einige meiner Hörer nach diesem Vortrag sagten, daß noch keiner mit ihnen so den Kontakt gefunden habe. Dieses jüdische Proletariat haben wir ja nun in den letzten Jahren näher kennengelernt. Es sind häufig die Kreise, die keine Disziplin halten können und das Leben den Gemeindeinstanzen außerordentlich schwermachen. Man kann sich vorstellen, daß ich bei dieser außerordentlichen Inanspruchnahme nur höchst selten dazu kam, Vorträge anzuhören. Einmal war dies der Fall, als der Individualpsychologe Professor Adler in Breslau sprach. Die Individualpsychologie fing damals an, an die Stelle der Psychoanalyse zu treten. Vielleicht war es auch für die Zeitverhältnisse charakteristisch, daß immer irgendeine Richtung in Mode sein mußte. Ich kann hier zu diesen verschiedenen Systemen gewiß nicht Stellung nehmen, aber mir will es scheinen, als ob jedes einzelne einen Weg zur Erkenntnis bedeutete, aber keines das Recht auf Ausschließlichkeit besäße. Abgesehen von dem öffentlichen Vortrag, den Professor Adler hielt, fand dann noch eine Veranstaltung in der Wohnung einer Schülerin von mir, Frau Bertha Kamm, statt. Wenn ich an diesen Nachmittag denke, so wird mir noch heute ganz anders. Es war eine Fülle von Intellektuellen da versammelt, meist Frauen, deren äußere Reize umgekehrt proportional zu dem waren, was sie sich einbildeten. Sie sonnten sich, im Schatten eines Großen des Geistes zu sein. Mir ist so ein ästhetischer Tee immer ganz besonders gräßlich gewesen. Aber vielleicht bin ich kein Maßstab, weil ich mich überhaupt durch ziemliche Menschenscheu auszeichnete. Aber wenn ich so anhimmelnde Weiber sah, bei denen ich das Gefühl hatte,
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daß es doch nicht richtiger Ernst gewesen ist, sondern nur die Sucht, eine Rolle zu spielen, so war ich froh, wenn ich möglichst rasch wieder die gastliche Stätte verlassen konnte. Immer wieder war ich sehr glücklich und zufrieden, wenn ich aus dem so unruhigen Leben der damaligen Zeit, das große Anforderungen an die Nerven stellte, in die Welt des Mittelalters flüchten durfte. Ich hatte mir eine doppelte Existenzform geschaffen. Auf der einen Seite bemühte ich mich, an allem und jedem teilzunehmen, was die Zeit bot. Ich wollte niemals neben meiner Zeit leben. Aber dann brauchte ich doch zum Ausgleich dieses Mittelalter, wo die Dinge schon eine Distanz hatten. So habe ich mich in diesem Winter besonders intensiv mit Dante beschäftigt, aus dem ich mir das Wort zu eigen machte: „Jedes Übel ist dadurch zu ertragen, daß man es überwindet". Es ging in der Politik wirklich sehr bewegt zu, sowohl in der Außenpolitik als auch in der Innenpolitik. Außenpolitisch kam damals der chinesisch-japanische Krieg in Gang, der noch heute nicht abgeschlossen ist und unter Umständen noch viele Jahre dauern kann 17 . Auch das Verhältnis von Deutschland zu Litauen hatte sich sehr getrübt. Es drehte sich dabei um die angeblich schlechte Behandlung der memelländischen Deutschen. In Breslau war Herr Landerer litauischer Konsul. Ich deutete ja schon einmal an, daß Juden sehr gern Ehrenkonsuln wurden. In diesen kritischen Tagen mußte das Konsulat von einem besonderen Posten bewacht werden. In der Innenpolitik brachte jeder Tag eine besondere Erregung, und die Gegensätze spitzten sich immer mehr zu. Sehr große Freude machte mir ein Vortrag, den ich in der gefüllten Aula des Matthiasgymnasiums zu halten hatte. Ich sprach anläßlich des siebenhundertjährigen Bestehens des Deutschordensstaates. Bei solchen Gelegenheiten kam es mir so recht zum Bewußtsein, wie tief man in dieser Welt des Deutschtums lebte. Ich weiß nicht, ob ich die deutsche Geschichte richtig gesehen habe; jede Zeit hat eine andere Schau. Nur eines weiß ich, daß, was ich auch immer sagte, aus tiefstem Herzen kam. Gewiß, man hat in manchen Punkten eine Entwicklung durchzumachen gehabt. Das erscheint mir auch keine Schande zu sein. Wichtig bleibt nur, daß man an das glaubt, was man sagt. Bei diesem Vortrag über den
17 A m 18. September 1931 waren japanische Truppen in die Mandschurei eingefallen.
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X. Kapitel
Deutschordensstaat hatte ich auch die Freude, daß so mancher aus der Familie zu meinen Hörern gehörte. Gerade weil ich in diesem Punkte so wenig verwöhnt worden war, empfand ich es als besonders angenehm. Meine Schwester Erna war mit ihrem jüngeren Sohne gekommen; fast niemals fehlte unter meinen Hörern ein Vetter meiner Frau, Bernhard Rothmann, und mein Vetter Paul Lyon kam ganz regelmäßig. [...] In der Innenpolitik tobte damals besonders der Kampf um Brüning. Ich hatte einmal Gelegenheit, eine auf Schallplatten aufgenommene Rede von ihm zu hören, die außerordentlich vornehm in der Gesinnung war und die andauernd durch Zwischenrufe der Nationalsozialisten gestört wurde. Es fehlte wohl Brüning die harte Hand, die für diese Zeitläufte notwendig gewesen wäre. Am 3. März sprach Adolf Hitler in der Jahrhunderthalle. Es war ein riesiges Ereignis. Aus der ganzen Provinz waren die Kreise gekommen, die sich zu seiner Bewegung bekannten. Welcher Gegensatz zu dem Goethejahr, das man in Deutschland anläßlich des 100. Todestages des Dichterfürsten begehen wollte. Der großen Masse des deutschen Volkes ist Goethe immer ein Fremder geblieben. Am 4. März ist unsere Susanne geboren worden. Der Vorabend ihres Eintrittes ins Leben stand gewissermaßen unter dem Zeichen Adolf Hitlers, und die ganzen neun Jahre ihres bisherigen Daseins haben unter dem gleichen Zeichen gestanden. Es war für meine Frau erfreulicherweise eine leichte Geburt. Susanne Auguste (den zweiten Namen gaben wir ihr nach der Großmutter meiner Frau Auguste Katz) ist vom ersten Tage ihres Lebens an ein normales und gesundes Kind gewesen, das uns (abgesehen von unvermeidlichen Krankheiten) stets Freude bereitete. Bei den Geschwistern herrschte natürlich große Freude über die kleine Schwester. Nur Ruth war zuerst etwas eifersüchtig, denn bis jetzt war sie diejenige, die am meisten verwöhnt worden war. Nun mußte sie dieses Vorrecht an das nächste Kind abtreten. Alle drei Kinder waren natürlich an diesem Tage nicht zu Haus. Sie waren bei Brienitzers, die sich in solchen Zeiten immer aufmerksam benahmen und uns die Lage erleichterten, wenn es auch sonst mancherlei Schwierigkeiten gab, die in den Verhältnissen begründet waren. Wir hatten eine tüchtige jüdische Säuglingsschwester, die meiner Frau das Wochenbett sehr erleichterte. Unser damaliger Frauenarzt, Dr. Braun, ein ehemaliger Assistent von Geheimrat Rosenstein, ist heute schon viele Jahre in den Vereinigten Staaten.
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Für mich ging das Leben seinen gewohnten Gang weiter; aber ich freute mich doch sehr an dem kleinen Menschlein und an seinem Gedeihen, das man von Tag zu Tag verfolgen konnte. Der Eintritt des Menschen in das Leben hat mancherlei Gänge zur Folge, bis das Ereignis von den verschiedenen Stellen beurkundet ist. Susanne erhielt sogar noch von der Stadt ein Sparkassenbuch über drei Reichsmark, die aber inzwischen wieder eingezogen worden sind18. Auch mußte die Steuerkarte berichtigt werden. Gern nahm man diese Dinge auf sich, und ich habe sie auch später bei Tamara gern getan und würde sie auch noch öfters machen. Leider habe ich aber auch schon solche Gänge machen müssen, wenn es sich darum handelte, zu den Behörden zu gehen und von dem Tode eines Lieben Mitteilung zu machen. In meiner wissenschaftlichen Arbeit hatte ich damals die Korrekturen für das im Verlage von B.G. Teubner neu herauskommende Werk „Staatsbürgerkunde" von Kania mitzulesen. Ich hatte an diesem Buche sehr mitgearbeitet, und dieser meiner Mitarbeit ist dann auch in der Einleitung gedacht worden 19 . Wenn nicht der Umbruch von 1933 gekommen wäre, der ja ein anderes Staatsrecht brachte, so hätte dieses Buch sicherlich noch viele Auflagen erlebt, und ich hätte an seiner Gestaltung weiter mitarbeiten können. Gerade die Staatsbürgerkunde hatte ich am Johannesgymnasium immer mehr ausgebaut. In der Politik tobte damals der Wahlkampf um den Reichspräsidenten. Ich war Wahlvorsteher in meinem Wohnbezirk. Es wurden in diesem Bezirke im ersten Wahlgang 512 Stimmen für Hindenburg, 80 Stimmen für Düsterberg, 212 Stimmen für Hitler und 38 Stimmen für Thälmann abgegeben. Der erste Wahlgang brachte bekanntlich nicht die Entscheidung. So mußte ein zweiter Wahlgang stattfinden, der noch einmal die Gemüter auf das äußerste erregte20. Die allgemeinen Gesundheitsverhältnisse in der Stadt Breslau waren damals schlecht. Die Schulen mußten wegen Grippe schließen, was 18
Vermutlich schon aufgrund des Gesetzes über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens vom 14. 7. 1933, RGBl I, S.479f. 19 H. Kania: Staatsbürgerkunde auf Grund vergleichender geschichtlicher Übersichten. 6. Aufl. Leipzig 1932. Im Vorwort dankt der Verfasser Cohn für die Heranführung des Stoffes bis an die Gegenwart. 20 Die beiden Wahlgänge zur Reichspräsidentenwahl erfolgten am 13. März und am 10. April 1932.
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Lehrer und Schüler mit einem nassen und einem heiteren Auge ansahen. Ich habe in solchen außergewöhnlichen Ferienzeiten immer nach dem Spruche gehandelt: „Frei wovon, frei wofür?" Mein Kursus in der Städtischen Volkshochschule ging damals zu Ende. Einer meiner getreuesten Schüler, der Postschaffner Kaluba, hielt eine kleine Ansprache zum Abschluß. Gerade wenn die einfachen Menschen, die von Haus keine Redner waren, das sagten, was ihnen aus dankbarem Herzen kam, so hat man sich immer besonders gefreut. Auch Kaluba hat es übrigens nach 1933 böse erwischt; er wurde aus seinem Amte als Postschaffner entlassen. Vielleicht hat man ihn im Zeichen des Menschenmangels jetzt wieder eingestellt. Mein letzter Vortrag in diesem Winter behandelte das folgende Thema: Planwirtschaft, Sozialisierung, Genossenschaftswesen und Autarkie. Es war eine besonders diskutierte Frage, die auch bei der kommenden Neuordnung eine Rolle zu spielen hatte, ob Deutschland mit seinen wirtschaftlichen Reserven leben könnte oder ob die Wirtschaft der Erde eine Weltwirtschaft darstellen sollte, die durch gegenseitigen Austausch lebte. Eine der kleinen Maßnahmen, die man damals vornahm, war eine Haussuchung im „Braunen Haus" auf der Bischofstraße, dem damaligen Sitz der NSDAP. Mit diesen Haussuchungen hat man natürlich nichts geschafft. Man sollte im Völkerleben wie bei der Gesundheit nicht die Symptome bekämpfen, sondern die tieferen Ursachen. Immerhin sickerte von dieser Haussuchung durch, daß in Breslau für die Zeit nach der Machtübernahme für das Schulwesen wie auch für die anderen Behörden für jede Stelle bereits ein entsprechender Mann vorgesehen war. Pünktlich nach vierzehn Tagen konnte meine Frau ausgehen. Am kommenden Sabbat ging sie in die Synagoge, um die Kleine einsegnen zu lassen. Aus Gründen der Pietät ließen wir die Feier wieder in der Neuen Synagoge vornehmen, obwohl meine religiöse Einstellung sich anders entwickelt hatte. An demselben Tage wurde auch der Freund meines Sohnes Ernst, Ernst Miodowski, Barmizwah. Nach der Feier ging ich mit Ruth (die Jungens hatten ja Schule) zu Wertheim und dann zu Fache, wo sie nach Herzenslust futtern durfte. Ich möchte übrigens auch anmerken, daß es der Sabbat sachor war, an dem Susanne eingesegnet wurde. Es ist der Sabbat, an dem zusätzlich die Worte der Thora verlesen werden: „Und denke daran, was Amalek Dir angetan. Vergiß es nicht." 21 21
Deuteronomium 25,17.
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Susannchens ganzes Leben hat bisher unter diesem Zeichen gestanden, und vergessen wird sie es nicht. Am Purimfest durfte Ruth bei der Feier der zionistischen Ortsgruppe als eine der Hoftänzerinnen der Königin Esther auftreten. Sie war auf diese Auszeichnung sehr stolz. Wissenschaftlich ging es bei mir damals steil aufwärts, was mich freute. Der Rückschlag sollte nicht allzulange auf sich warten lassen. In den sehr angesehenen „Hansischen Geschichtsblättern" war eine überaus günstige Besprechung durch einen jüngeren Gelehrten erfolgt 22 . Es war dies Hans-Gerd von Rundstedt, der Sohn des Kommandierenden Generals des Breslauer Wehrkreises. Inzwischen ist dieser General einer der bedeutenden Heerführer im gegenwärtigen Kriege geworden. Auch für die „Historische Zeitschrift", das angesehenste geschichtliche Organ in Deutschland, bin ich Mitarbeiter geworden. Ich konnte in ihr einige Bücherbesprechungen veröffentlichen23. Aber nun war es Zeit, daß ich wieder einmal ausspannte, denn gesundheitlich ging es mir nicht mehr zum besten. Die Störungen des Kreislaufes machten sich wieder unangenehm bemerkbar. Ich flüchtete mich in meine geliebten Riesenberge, wo man zu Ostern noch vollkommenen Winter erwarten durfte. Mit der elektrischen Eisenbahn ging es nach Hirschberg und dann weiter nach Krummhübel. Dort hatte ich Gelegenheit, in einem Auto bis nach dem Milchschlößchen in Brückenberg mitzufahren. Hier suchte ich noch einmal den Verschönerungsrat auf, denn oben auf dem Kamm dürfte es ja damit schwerer sein, verproviantierte mich noch etwas, gab meinen Rucksack bis zur Schlingelbaude einem Hörnerschlitten mit und wanderte dann los. Mit jedem Schritt durch den winterlichen Wald blieb das Tiefland mit allen seinen Sorgen weit unten. In der Schlingelbaude kehrte ich nur kurz zu einem Teller Suppe ein; es war ein so großer Betrieb, daß ich dort nicht bleiben wollte, und so stieg ich weiter zur Hampelbaude auf. Kurz vor dieser geriet ich in einen schweren Sturm, und es war nicht daran zu denken, daß ich an diesem Tage noch weiter wandern konnte. Aber oben auf der Hampelbaude waren alle Zimmer besetzt. Nur im Massenlager war noch ein Bett zu haben. Zuerst war mir das nicht so sehr sympathisch; aber dann war es doch auch ganz nett, so etwas einmal zu erleben. Eine Trennung nach den Geschlechtern ließ sich nicht durchführen. Ich war übrigens einer der wenigen, der allein
22 23
Vgl. SV Nr. 341. SV Nr. 385, 400.
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wanderte; die meisten waren sogenannte Baudenehepaare. Die Baudenwirte pflegen nämlich recht großzügig zu sein und nicht die Vorlegung eines standesamtlichen Trauscheins zu verlangen. Auch brauchten sich die meisten für die eine Nacht, die sie da oben verbrachten, nicht ins Fremdenbuch einzutragen. Die Hampelbaude liegt 1290 Meter über dem Meeresspiegel, also für deutsches Mittelgebirge sehr hoch. Der Sturm nahm immer mehr zu, und man konnte gar nicht mehr hinaus. So saß man in einem der Gastzimmer, die dort oben besonders stimmungsvoll in schlesischer Bauernart ausgestattet sind. Es war interessant, die verschiedenen Menschentypen zu beobachten. Man sah so manchen Sportler, den man um seinen gestählten Körper beneiden konnte. Aber auch manche Menschen erblickte man, für die der Sport nicht die Hauptsache war und denen man schon an ihrer Kleidung ansah, daß sie gräßlich angaben. Zufälligerweise war an dem Abend auch der Direktor Krebs aus Militsch mit seiner Frau oben. Als ich nachts einmal heraus mußte, blickte ich auf die aufgehende Sonne und sah, wie der Sturm über die Berge fegte. Früh war es sehr kalt, bis dann die Heizung wieder einsetzte. Aber trotz des ungünstigen Wetters wanderte ich nach dem Frühstück weiter. Ich wollte nur bis zur Riesenbaude kommen; aber auch das war nicht ganz einfach. Jeder Schritt mußte gegen den Sturm erkämpft werden. Dort oben auf der Riesenbaude beschloß ich, meine Ferien zu verbringen. Sie war ganz altmodisch und besaß nicht einmal elektrisches Licht. Aber gerade das reizte mich, dieses Altväterische, im Gegensatz zu dem mondänen Betrieb im gegenüberliegenden Schlesierhaus. Mit vollem Bewußtsein hatte der Baudenwirt der Riesenbaude seine Gaststätte im alten Stile erhalten. Ich bekam ein kleines Zimmerchen, das nur durch einen Benzinofen zu heizen war. Manchmal war es so kalt, daß man sich schon frühzeitig ins Bett legte. Aber dafür hatte ich schon vom Fenster einen herrlichen Blick auf die Koppe und den Koppenplan. Die Gäste, die auf der Riesenbaude längere Zeit blieben, waren meist Menschen, die das gleiche suchten wie ich: abseits der Großstadt einige Tage unmittelbar mit der Natur zu leben. Im allgemeinen zog ich mich ganz auf mich selbst zurück; nur zwei Bekanntschaften möchte ich erwähnen: Dr. Agath aus Breslau, ein später Nachkömmling einer sehr bekannten Breslauer Bürgerfamilie und eine Sportlehrerin aus Hirschberg, deren Namen ich nicht weiß, denn da oben stellte man sich in der Regel nicht vor, die ich aber in meinem Tagebuch „das blonde Wunder" genannt habe. Sie war eine erstklassige Skiläuferin, aber man konnte sich auch mit ihr gut unterhalten. Ich empfand es als besondere Auszeichnung, wenn sie sich
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zu mir, der ich ja schon nicht unerheblich die Vierzig überschritten hatte, an den Tisch setzte. Wenn es das Wetter irgendwie erlaubte, bin ich täglich mindestens acht Stunden im Freien herumgetürmt. Wohnt man auf dem Hochgebirgskamm, dann fällt ja die Anstrengung des jeweiligen Aufstiegs fort. Man ist früh am Morgen ganz frisch. Die dünne Luft erleichtert das Atmen. Gerade das merkte ich bei meinem Herzen besonders. Oft wanderte ich nach der Wiesenbaude hinüber, dort gab es Brot zu kaufen, dort fand sich sogar ein Barbier, denn wenn man eine so nette Bekanntschaft hatte, dann wollte man ja nicht mit einem Wochenbarte herumlaufen. Manchmal wanderte ich im dicksten Nebel, und erst unmittelbar vor der Baude sah man die Umrisse des Hauses aus ihm emportauchen. Manchmal ging es weiter nach der Geiergucke, wo die Tschechen eine große Kaserne errichtet hatten. Auch kurz bis vor die Rennerbaude bin ich gekommen. Es war immer das Dreieck Riesenbaude, Wiesenbaude, Heinrichbaude, das ich ablief. Ab und zu machte man eine flüchtige Bekanntschaft. Dort oben werden die Menschen ja aufgeschlossener als unten im Tal. Ich lernte tschechische Juden kennen, von denen einer schon einmal in New York gewesen war, und mir viel von Ellis Island erzählte und von der Hilfsbereitschaft der New Yorker Glaubensgenossen gegenüber den Einwanderern, die dort warten müssen. Mehrfach besuchte mich auch ein früherer Schüler namens Schacher, der sehr aufmerksam war. Er brachte mir aus dem Tal Lebensmittel herauf; denn einen Teil der Mahlzeiten bereitete ich mir selbst. Auf den Bauden war die Verpflegung auf die Dauer doch zu teuer. Es machten das übrigens die meisten so. Ich lernte auch einen Arzt Dr. Braunschweig aus Heidelberg kennen, der mit seinem Sohne wanderte. Sie wollten mir da oben den Völkischen Beobachter zum Lesen geben; aber ich lehnte das ab. Ich wollte in diesen Tagen möglichst wenig von der Politik hören. Wie ja der Name wohl sagt, waren Vater und Sohn Juden; aber sie schwammen durchaus im Assimilationsfahrwasser. Der Vater gehörte der Verbindung im K C „Bavaria" an. Mir ist in Erinnerung geblieben, daß mich der Sohn eindringlich auf den Ernst der Hitlerbewegung aufmerksam machte. Interessant war es auch, die Lektüre der Menschen zu beobachten. Da die Tage noch ziemlich kurz waren, brachten sich die meisten irgend etwas zum Lesen mit. Der eine hatte das berühmte Buch von
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Hans Grimm „Volk ohne Raum" in seinem Rucksack 24 , der andere Günthers „Rassenkunde" 25 . Ich selbst hatte mir die „Göttliche Komödie" mitgenommen. Es war doch immerhin bemerkenswert festzustellen, in welchem Umfange in dieser Zeit die politische Lektüre überwog. Am liebsten unterhielt ich mich mit dem alten Hausdiener der Riesenbaude. Durch ein furchtbares Schicksal hatte er in längst vergangener Zeit seine ganze Familie durch eine Lawine verloren. Er erzählte mir, wie oft er schon Menschen an der Schneekoppe gerettet hatte. Im Winter war die Benutzung des sogenannten Jubiläumsweges verboten, und doch gab es immer wieder Leute, die auf diese Warnung nicht hörten und dann noch das Leben der Retter gefährdeten. Auch ich erlebte es einmal, wie jemand, der sich verstiegen hatte, von dort heruntergeholt werden mußte. Wollte man um diese Jahreszeit über den Koppenplan nach der Koppe zu klettern, so mußte man unter allen Umständen Eissporen an die Schuhe schnallen, die leihweise in der Riesenbaude zu haben waren. Aber auch diese einfache Vorsichtsmaßnahme wurde nicht von allen beachtet. Dieser alte Hausdiener da oben war knorrig geworden, wie die Berge selbst. In einem langen Leben hatte er genug gesehen, und es konnte ihn nichts mehr erschüttern. Außerdem war ich noch mit einem acht Monate alten Kind sehr befreundet, das ich behütete. Es besaß einen Korb, wie ihn Kinder des Tieflandes besitzen, der auf Kufen aufmontiert war. Trotz seines Alters war das Kind viel draußen. Die reine Luft dort oben ist ja gänzlich ohne Bazillen. Es war übrigens nicht das höchstgeborenste Kind jener Gegend; auf der Koppe befand sich ein noch höhergeborenes. Das große Ereignis des Tages war die Ankunft der Post. Ich hatte mir meine Briefe, weil sie über die böhmische Seite zu lange gebraucht hätten, nach dem Schlesierhaus bestellt; aber ich hatte meist nicht nötig, sie dort abzuholen. Der Briefträger, den ich noch vom vorigen Jahr her gut kannte, brachte sie über die Grenze herüber. In der winterlichen Landschaft spielten diese von Menschenhand gesetzten Grenzen keine große Rolle. [...] Als Sonderberuf gab es dort oben noch immer Wasserträger. Einer von Ihnen war ein gebildeter Mann. Er hatte einstmals vor langen Jahren das Abiturium gemacht, nun war er ein Vagant geworden, der durch die Welt zog.
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H. Grimm: Volk ohne Raum. München 1926. H. F. K. Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes. München 1922.
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Leider hatte diese schöne Reise, die mir das Gleichgewicht der Seele gab, einen sehr bösen Abschluß. Ich wurde ans Telefon gerufen. Das bedeutete schon nichts Gutes. Meine Frau teilte mir am Abend mit, daß mein Bruder Hugo gestorben war. Wenn wir auch nach der Art seines Herzleidens leider schon lange damit rechnen mußten, so ist es doch immer bitter, vor der vollendeten Tatsache zu stehen. Es war eine böse Nacht, die ich dort oben verlebte, denn erst am nächsten Morgen hatte ich die Möglichkeit, hinunterzukommen. Wenn auch leider in den letzten Jahren so manches zwischen mich und Hugo getreten war, so stieg in diesem Augenblick doch all das Positive wieder auf, das uns in vergangenen Jahrzehnten verbunden hatte. [...] In Breslau blieb mir gerade noch soviel Zeit, daß ich mich umziehen konnte, um zur Überführung zurechtzukommen. Durch das innerlich wenig verwandtschaftliche Verhältnis zu meiner Schwägerin Eva und ihren Kindern war für mich alles doppelt schwer. Ich wußte nicht, wie weit ich zu gehen hatte, um ihnen meine Hilfe anzubieten; doch besuchte ich mit meinem angeheirateten Neffen, dem Ingenieur Robert Levy, den Rabbiner Vogelstein, um das Notwendigste über die Beisetzung zu besprechen. Es war vielleicht auch schon charakteristisch für das ganze Verhalten dieser Linie zu uns, daß Hugo nicht in unserem Erbbegräbnis auf der Lohestraße beigesetzt werden sollte, wo auch Martin seine letzte Ruhe gefunden hatte, sondern draußen in Cosel. Aber es war dies noch nicht das Schlimmste, was uns in diesen Tagen bevorstand. Am meisten tat mir meine alte Mutter leid, die nun das zweite Mal einen Sohn hinauszubegleiten hatte. Wenn auch Martin und Hugo nicht ihre leiblichen Kinder gewesen waren, so hatte doch jeder von ihnen ihrem Herzen sehr nahegestanden. [...] Die nächsten Wochen waren noch sehr schlimm. Es kam der Konkurs der Firma Trautner, mit dem wir wohl schon rechneten, der aber nun als Tatsache doch schmerzte. Es ergaben sich auch noch bittere pekuniäre Schwierigkeiten. In diesen Zeiten klammerten sich auf der einen Seite mein Bruder Rudolf und auch meine Schwägerin Eva an mich. Besonders Rudolf übte erneut einen furchtbaren Druck auf mich aus, daß ich weitere materielle Opfer bringen sollte. Ich verdanke es vor allem Felix Perle, daß er mich davor bewahrte. Es hätte ja geheißen, noch das Lebendige auf das Tote zu legen. Warum ich das alles mit einer so verhältnismäßigen Ausführlichkeit schildere? Nun, diese Dinge haben, abgesehen von dem schweren Verlust eines Bruders, für den ich Kaddisch gesagt habe, in die tiefsten Tiefen
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meines seelischen Lebens gegriffen und nicht zum mindesten dazu beigetragen, daß mein Herz- und Gefäßleiden sich sehr verschlimmerte. Unter nichts habe ich mehr gelitten, als unter seelischer Unfeinheit, und die habe ich damals reichlich zu spüren bekommen. Der Dienst in der Schule und die allgemeinen Verhältnisse nahmen auf diese Dinge keine Rücksicht. Es war andererseits auch immer mein Ehrgeiz, im Dienst nichts von dem merken zu lassen, was mich irgendwie bedrückte. Noch immer tobte der Wahlkampf um den Reichspräsidenten. Zeitweise war auf dem ehemaligen Kaiser-Wilhelms-Platz, der dann Reichspräsidentenplatz hieß und heute Hindenburgplatz heißt, ein beleuchtetes Standbild von Hindenburg aufgestellt. Dieser ist dann im zweiten Wahlgang gewählt worden. Um diese Zeit entschloß sich auch die Regierung, die SA und die Schutzstaffel der nationalsozialistischen Partei aufzulösen 26 . Diese Maßnahme konnte aber, nachdem die Bewegung bereits einen solchen Umfang erreicht hatte, keine Wirkung mehr ausüben. Sie mußte sogar das Gegenteil von dem bewirken, was man eigentlich wollte. Wieder war es die wissenschaftliche Arbeit und das engere Familienleben, das mich schließlich doch über alles hinweg brachte. Wissenschaftlich lebte ich damals vor allem in der Durchdringung von Dantes „Göttlicher Komodie" für die Untersuchung über die Hohenstaufen im Urteile Dantes. Eine Ausschöpfung der „Göttlichen Komödie" ist ja ganz unmöglich. Ich habe sie immer wieder gelesen und war jedesmal aufs neue gepackt von dem, was sie mir gab. Gewiß, die Lektüre ist nicht leicht, denn es heißt, sich hindurchkämpfen durch unzählige geschichtliche Anspielungen. Dann aber bleibt die gewaltige Schau menschlicher Leidenschaften und des Suchens nach Reinheit und Klarheit. Bei der Beschaffung der Danteliteratur stand mir der Bibliotheksrat Dr. Schneider von der Universitätsbibliothek sehr zur Seite. Hilfsbereitschaft habe ich überhaupt stets bei allen Gelehrten gefunden, mit denen ich zusammenzuarbeiten hatte. Und wenn mich die inneren und äußeren Nöte zu sehr plagten, dann flüchtete ich in die Natur hinaus. So machte ich wieder einmal mit Ruth einen schönen Ausflug auf den Zobten. Ruth hatte sich inzwischen zu einer ausgezeichneten Läuferin entwickelt und ist an diesem Tage bis zur Zobtenbaude hinaufgeklettert. Dort oben war es noch rauh 26
Mit der „Verordnung zur Sicherung der Staatsautorität" vom 13. April 1932 wurden SA, SS und andere militärähnliche Organisationen der NSDAP aufgelöst.
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und kalt. Zwei mächtige Kanonenöfen brannten. Gewiß, der Zobten liegt nur 800 Meter über dem Meeresspiegel; aber da er als ehemaliger Vulkan unmittelbar aus der Ebene heraufragt, läßt es sich schon klettern. Der Aufstieg ist ziemlich steil. Auf dem Rückweg, den wir bei großer Glätte und starkem Nebel antraten, kehrten wir noch bei meinem Vetter Apotheker Lewy ein, der am Fuße des Zobtens ein Wochenendhäuschen besaß. Seine Frau tat das, was seinerzeit im Abteil zwischen Lyck und Rastenburg so eifrig diskutiert wurde, ob nämlich die Großmutter Kaffee aufbrühen würde. Irma brühte Kaffee auf und hat auch Ruth wieder ordentlich durchgewärmt. Mit Julius Lewy habe ich immer sehr gut harmoniert. Er war ein glühender Zionist, der seine Apotheke auf dem Neumarkt rechtzeitig verkaufte und nach Haifa übersiedelte. Als ich nach vielen Jahren das Glück hatte, nach Palästina zu kommen, besuchte ich ihn in seiner schönen Apotheke auf der Höhe des Berges Karmel. Leider hat seine Frau nur einige Jahre drüben leben dürfen; sie ist vor Jahresfrist gestorben, ein selten prächtiger Mensch, ebenso Apotheker wie ihr Mann. Zum Sederabettd hatte ich diesmal den jüngeren Nachwuchs der Familie eingeladen: Gerhard, den älteren Sohn meines Bruders Rudolf, Paul, den jüngeren Sohn meiner Schwester Erna, und Eva, die jüngste Tochter meines verstorbenen Bruders Hugo, die damals zeitweise religöser gesinnt war. Wenn auch die Kinder solches zumeist nicht zu Hause erlebten, so ist in ihnen vielleicht doch die Erinnerung an diesen Abend geblieben. Sie wird ihnen wieder aufsteigen, gerade jetzt, wo sie unter ganz anderen Verhältnissen leben, am wenigsten vielleicht in der Seele der kleinen Eva, die mir ganz entfremdet worden ist. [...] In jener Zeit bekam ich die Aufforderung aus Catania, dort einen Vortrag zu halten. Daraus ist dann nichts geworden, und zwar waren es lediglich materielle Dinge, die es verhinderten. Ich konnte es mir nicht leisten, auf eigene Kosten zu fahren. Andererseits waren die Italiener nicht geneigt, den Vortrag zu honorieren. Jemand, der italienisches Wesen sehr gut kennt, hat einmal treffend gesagt: „Die Italiener schreiben pagare klein." Aber leider ist auch das Leben eines Gelehrten nicht umsonst. So ist aus dieser zweiten Reise nach Catania nichts geworden, obwohl ich sie natürlich gern gemacht hätte. In Breslau übernahm ich einen Vortrag vor den Bildungsfunktionären und später einen Kursus im Gesamtverband der Arbeitnehmer. Das
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rauchige Milieu des Gewerkschaftshauses war mir nicht immer angenehm. Es war nur sehr schwer zu erreichen, daß die Leute auf die Zigarre verzichteten. Dem letztgenannten Kursus legte ich als Thema das Parteiprogramm der N S D A P zugrunde. Ich war wohl der einzige, der damals in Breslau erkannte, daß man sich mit diesem Programm ernsthaft auseinanderzusetzen hatte. Ich habe diesen Kursus vor sehr interessierten Menschen nicht in dem Sinne der Bagatellisierung durchgeführt, wie das damals sehr häufig üblich war, sondern habe mich bemüht, es zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit dieser Gedankenwelt kommen zu lassen. Ich habe beim Durcharbeiten dieser Dinge selbst sehr viel gelernt. [...]
Der 1. Mai brachte wieder einen Umzug, den letzten Umzug, den die Sozialdemokratische Partei in Breslau veranstaltete; dann war ihre Zeit abgelaufen. Ich nahm an ihm teil, weil ich das für meine Pflicht hielt, obwohl ich mich innerlich schon sehr aus dem Parteigetriebe losgelöst hatte, das mich gar nicht mehr befriedigte. Aber ich wollte mir nicht den Vorwurf machen, daß ich im letzten Augenblick desertierte, wie das viele andere taten, um sich ein Alibi zu beschaffen. Damals gingen von Bekannten in diesem Umzug noch der Stadtrat Frey, der Rechtsanwalt Bandmann, der Verleger Tockus und der Frauenarzt Kleemann mit. Keiner von ihnen ist heute noch in Breslau. Alle sind sie irgendwo draußen in der Welt. Am Nachmittage des Maifesttages machte Susannchen im Kinderwagen ihren ersten größeren Spaziergang nach dem hübschen Restaurant „Gartenschönheit" auf der Kürassierstraße. Als wir dort gemütlich saßen, kam Wölfl mit der Nachricht, daß ihm sein Fahrrad gestohlen worden sei. Er war natürlich sehr unglücklich. Es war eine besonders gute Maschine, die er ordentlich im Schuß gehalten hatte; aber er war glücklicherweise in einer Fahrradversicherung, und er kam dadurch zu einem neuen Rade. Radfahren war damals eine große Leidenschaft von ihm und er war ein begeistertes Mitglied des Radfahrerbundes Solidarität, mit dem er viele schöne Fahrten gemacht hat. Er hat uns überhaupt damals in jeder Beziehung große Freude gemacht. Im Mai war er siebzehn Jahre geworden und stand ausgezeichnet in der Schule. Obwohl er sich im Abiturientenjahr befand, gab er doch sehr viele Stunden und konnte sich ziemlich viel Geld zurücklegen, das er auf sein Sparkassenbuch einzahlte. Wer hätte damals von uns geahnt, daß wir ihn kaum noch ein Jahr im Elternhaus haben würden und daß er dann rasch auswandern mußte. Das Geld, das er sich gespart hatte, konnte er
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sich noch mitnehmen. So hat es ihm wenigstens den Anfang eines neuen Lebens erleichtert. Auch Ernst stand in der Schule ausgezeichnet; man hat überhaupt selten etwas gemerkt. Er brachte immer sehr schöne Arbeiten nach Hause. Ruth war sogar die Beste in der Klasse. In einem Fach unterrichtete ich Wölfl selbst; es war dies die Bürgerkunde, in der ich ja allein den Unterricht gab. Sonst war es nicht üblich, daß der Vater den Sohn unterrichtete, damit nicht in der Beurteilung irgendwelche Konflikte entstanden. Die Bürgerkunde aber war für das Reifezeugnis nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Wölfl hat übrigens, wenn ich mich recht erinnere, einen sehr guten Vortrag über den russischen Fünf jahresplan gehalten. So war viel Freude in unserem Haus; es war der letzte Sommer, in dem wir alle Kinder bei uns hatten; dann haben sie sich unter dem Zwang der Verhältnisse allmählich lösen müssen. Vielleicht kommt noch einmal eine Zeit, in der man über all das Leid sprechen können wird. Aber zunächst bin ich ja noch bei der Darstellung von viel Freude, und an sie muß man sich in der Erinnerung besonders klammern. Mit meiner Klasse machte ich damals eine Wanderung in eine Gegend um Breslau, die ich, trotzdem ich ja sonst ein eifriger Wanderer war, noch gar nicht kannte. Wir fuhren die Eisenbahnstrecke nach LaskowitzBeckern, an Tschechnitz vorbei, das heute Kraftborn heißt, weil sich dort ein großes Kraftwerk befindet 27 . Wir wanderten dann über Kottwitz und Meieschwitz am Jungfernsee vorbei nach dem malerisch gelegenen Zinnobersee. Hier machten wir unser Lager. Es war wie ein kleines verwunschenes Märchen in dieser Gegend, die von Breslau aus etwas umständlich zu erreichen und deswegen auch nicht so überlaufen ist. Beim Wandern durch diese Landschaft fiel einem die furchtbare Zerrissenheit des deutschen Volkes auf. Die Dörfer, die stärker industriellen Charakter trugen, wie zum Beispiel Peisterwitz, wo Tabak verarbeitet wurde, gehörten zu der politischen Linken, während die Orte, die einen stärker agrarischen Charakter aufwiesen, zur politischen Rechten gehörten. Nach dem Lager am Zinnobersee wanderten wir dann weiter zur Oder, über die wir mit einer Fähre setzten, und fuhren von Linden nach Hause. Es waren zwanzig Kilometer, die ich damals mit meinen Jungens mühelos lief, immerhin ein Beweis, daß ich organisch gesund war, wenn mich auch die funktionellen Störungen oft quälten. Man hätte eben ein ländliches Leben leben müssen, so in der Schriftstellerkolonie von Schreiberhau.
27
Tschechnitz war 1936 in Kraftborn umbenannt worden.
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X. Kapitel
Damals bekam ich einen interessanten Besuch eines meiner früheren Schüler. Der Sohn des Oberkantors an der alten Synagoge, Samson Raphael Weiss, hatte eine Jeschiwa, eine Talmudhochschule, in Polen besucht und berichtete mir von seinem Leben dort in Mir. Man kann sich kaum vorstellen, daß sich junge Menschen ganz in diese Welt des abstrakten Denkens zurückziehen; aber er machte einen sehr glücklichen und befriedigten Eindruck. Ich habe es immer bedauert, daß ich in die Welt des Talmuds keinen tieferen Einblick habe tun dürfen. Jedenfalls habe ich das immer als einen Mangel in meiner Bildung angesehen. Es freute mich immer sehr, wenn ein früherer Schüler den Weg zu mir fand. Nicht mit allen konnte man in Fühlung bleiben; aber ein Teil hatte doch das Bedürfnis, seinen Lehrer über das zu unterrichten, was aus ihm geworden war. Gewiß, diejenigen, die einen ablehnten, kamen dann nicht mehr. Ab und zu wurde einem dann etwas zugetragen. So wurde mir einmal gesagt, ein Schüler hätte geäußert, ich verhunze durch meinen Unterricht die ganze deutsche Geschichte. Nun, auch solche Urteile mußte man mit Fassung tragen und sie haben mich nicht übermäßig erschüttert; man konnte ja nur so unterrichten, wie man es selbst als richtig empfand. Es in diesen kritischen Zeiten allen recht zu machen, war gewiß ausgeschlossen. Interessant waren auch oft Gespräche mit aufgeschlossenen Menschen der anderen Rasse. Und da stimmte es mich doch nachdenklich, daß mir einige Herren sagten, sie seien überzeugt, daß nur die Nazis helfen könnten, obwohl sie die Judenhetze verurteilten. [...] In der Wissenschaft brachten mir diese Monate den Abschluß der Dantearbeit, über die ich schon des öfteren berichtet hatte. Sie ist später im neuen deutschen Dantejahrbuch erschienen 28 . Professor Friedrich Schneider hat mich auch immer wieder ermuntert, bei Dante zu bleiben. Aber es kamen dann doch andere Studien, so daß ich zu einer neuen wissenschaftlichen Arbeit über Dante nicht mehr gekommen bin. Bei dem vielen, was ich noch vorhabe und in Anbetracht der Zeitverhältnisse dürfte es auch fraglich sein, ob ich noch einmal dazu komme. Wenn wir uns im allgemeinen bemühten, wenigstens im Schulleben die politische Erregung auf ein Minimum zu dämpfen, so ist das leider 28
Vgl. SV Nr. 391.
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nicht immer gelungen. Junge Menschen sind radikal. So war es an sich natürlich, daß ein Teil von ihnen der äußersten Linken, ein Teil von ihnen der äußersten Rechten angehörte. Das, was man besonders auch von der Leitung erwartet hätte, wäre ein gewisses gleichmäßiges Vorgehen nach beiden Seiten gewesen. Doch das war nicht der Fall. Es kam, wenn gegen die eine Gruppe vorgegangen wurde, zu Denunziationen gegen die andere, im Grunde ein furchtbarer Zustand. Wenn ich klug gewesen wäre, so hätte ich mir damals möglichste Zurückhaltung auferlegt, so wie das zwei andere jüdische Kollegen taten, die beide auch der Sozialdemokratischen Partei angehörten, aber gewissermaßen nur als Rückendeckung für Beförderungen. Einer von ihnen, der übrigens immer mit dem Kopfe wackelte, wofür er nichts konnte, pflegte bei kritischen Situationen austreten zu gehen. Vielleicht war er wirklich nicht mit seinen Verdauungsorganen in Ordnung. Es war besonders der Kampf um die Verweisung eines Schülers, den ich damals zu führen hatte und wo ich verhindern wollte, daß die Mutter ihn freiwillig abmeldete, weil ich dazu keine Veranlassung sah. Schließlich aber hat sie sich doch unter dem Drucke des Direktors breittreten lassen. Es war dem Direktor wieder einmal geglückt, durch eine heikle Situation hindurchzusteuern. Vielleicht war es von seinem Standpunkt aus ganz klug, wie mir später ein juristischer Mitarbeiter des Oberpräsidiums versicherte, aber mir erschien sein Verhalten doch nicht sehr männlich zu sein. Man kann sich aus diesen Andeutungen vielleicht ein Bild machen, wie aufregend das alles war. Andererseits sollte die tägliche Schularbeit unter diesen Dingen nicht leiden, man hatte die Verpflichtung, den Schülern ein gleichmäßiges Gesicht zu zeigen. Denn diese wußten recht gut, was gespielt wurde und wollten am liebsten aus den Mienen des Lehrers alles ablesen. Auch in diesen kritischen Tagen waren mir Wissenschaft und Familie Freude und Entspannung. Vor allem erfüllte es mich mit einem gewissen Stolz, dem man die Berechtigung nicht absprechen können wird, als die ersten Exemplare der italienischen Ausgabe des Hohenstaufenbuches eintrafen 29 . Ich hatte das erreicht, ohne Universitätslehrer zu sein, mit der gewaltigen Belastung, die der Schulunterricht mit sich brachte. Soweit es irgend möglich war, nützte ich jede freie Minute aus, um im Bibliotheks-
29
Vgl. SV Nr. 379.
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X. Kapitel
und Zeitschriftenzimmer zu arbeiten. Der Wissenschaftler, der mit seinen Kenntnissen der Literatur nicht auf der Höhe bleibt, kann nicht auf den Namen eines Gelehrten Anspruch erheben. Wenigstens trifft dies für normale Zeiten zu; heute läßt es sich für mich nicht mehr in gleichem Umfange durchführen. Wenn ich mit Ruth in den Zoologischen Garten ging, der damals einen eigenen Kinderzoo eingeführt hatte, vergaß man wenigstens für Stunden alles, was einen bedrückte. Wie possierlich war es, dem Spiel der jungen Bären zuzusehen. Für die Kinder war es besonders schön, daß sie alle Tiere anfassen durften und sie nicht nur durch das Gitter zu beschauen hatten. Trotz aller Krisen veranstaltete das Johannesgymnasium ein Schulfest. Ich selbst unternahm mit meinen Volkshochschülern eine Wanderung in den schlesischen Spreewald, das ist die Gegend von Wildschütz, wohin ich besonders gern ging. Auf so einem Zusammensein bekam man auch einen ganz anderen Einblick in das Leben dieser Menschen. Die meisten von ihnen waren erwerbslos und mußten von sechs Reichsmark in der Woche leben. Nach der neuesten Notverordnung sollte dieser Betrag sogar auf fünf Reichsmark heruntergesetzt werden. Konnte man sich da wundern, wenn die Menschen in ihrer Verzweiflung radikalen Ideen in die Arme getrieben wurden? Wenn wir so durch die Landschaft wanderten, bemühte ich mich, ihnen den trüben Alltag vergessen zu machen. Schließlich kamen ja die zu mir, die noch nicht gänzlich verzweifelt waren; sehr viele hatten nicht mehr den Auftrieb zur geistigen Arbeit. Mit vielen Opfern an geistiger Energie gelang es mir damals, das Haus Ring 49, das mein Vater mit so großer Liebe aufgebaut hatte, aus dem Trautner-Konkurs herauszuhalten. Die Firma Trautner war von einem Kaufmann namens Braunthal gekauft worden, und er schloß mit uns einen Mietsvertrag. [...] Meine Familie war größer geworden, und es hieß, das Schifflein des Haushaltes durch die Schwierigkeiten hindurchzusteuern. Gewiß hätte man damals richtiger getan, wenn man seine ganze Lebenshaltung völlig umgestellt hätte und von der Wölflstraße fortgezogen wäre. Aber ich hing nun sehr an dieser Wohnung, in der die meisten meiner Kinder geboren waren, und habe mich dazu nicht entschließen können. So mußte man eben Einsparungen an anderen Stellen machen.
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Damals waren zehn Jahre vergangen, daß Walter Rathenau ermordet worden war. Ich wurde zu einem Gedenkvortrag in der Lessing-Loge aufgefordert, der außerordentlich zahlreich besucht war, was wohl auch damit zusammenhing, daß jeder Jude fühlte, daß das Schicksal Rathenaus auch ihm bestimmt sein könnte. Ich bemühte mich, die Gestalt Walter Rathenaus, die, wie schon an anderer Stelle angedeutet, manches Problem in sich barg, so lebendig wie möglich zu machen, und ich glaube auch, daß es mir damals gelungen ist30. Sehr dankbar war ich dem Schicksal, daß es mir eine geistige Beweglichkeit mit auf den Lebensweg gegeben hat, die mir immer wieder die Möglichkeit verschaffte, mich in kritischen Zeiten insofern umzustellen, als ich Erwerb fand, der mir über äußere Schwierigkeiten hinweghalf. In diese Zeiten fielen auch die Vorbereitungen zur Barmizwah von Ernst, die wir selbstverständlich den Zeitverhältnissen entsprechend, in viel bescheidenerem Umfange feiern wollten, als es bei Wölfl der Fall war. Selbstverständlich mußte aber auch dieser Tag aus dem täglichen Gleichmaß herausgehoben werden. Doch davon noch später31. Um für den Winter auch materiell möglichst gerüstet zu sein, schrieb ich damals viele Briefe wegen Vorträgen. Wenn ich auch in den verschiedensten Teilen Deutschlands und der Umgegend Menschen wußte, die mich gerne reden hörten, so war es doch notwendig, sich in Erinnerung zu bringen. Es war bei den meisten Logen und jüdischen Vereinigungen üblich geworden, daß man in erster Reihe die berücksichtigte, die sich meldeten. Auf der einen Seite war mir dieses Sichanbieten immer sehr unangenehm; aber es mußte nun einmal mit in Kauf genommen werden, wollte man nicht die Wirkungsmöglichkeit verlieren. Oft konnte ich bei dieser Korrespondenz beobachten, daß nicht alle Glaubensgenossen den Respekt vor einem jüdischen Geistesarbeiter besaßen. Es gab eine ganze Anzahl von Vereinigungen, die ihre Korrespondenz sehr lässig führten, und manche antworteten überhaupt nicht. Doch will ich dankbar anerkennen, daß auf der anderen Seite dieser Briefwechsel auch wieder viel Freude machte und man aus manchem Briefe entnahm, daß man sich wirklich auf mein Kommen freute und die damit verbundene Ausgabe gern machte. Zur Milieuschilderung des Breslauer Lebens in jener kritischen Zeit sei mitgeteilt, daß an einem Abend in der Südvorstadt gleichzeitig das
30 31
Vgl. SV N r . 380f. S. unten S. 645.
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X. Kapitel
Folgende vor sich ging: Der Stahlhelm hielt eine große Versammlung im Roland ab. Die katholische Kirchgemeinde von St. Carolus veranstaltete im Südpark ein Gartenfest, und ein Teil meiner Glaubensgenossen spielte in der „Barberina" Bridge. Dies war ein inzwischen abgerissenes Lokal auf der Kleinburgstraße. Ich habe mich jedesmal geärgert, wenn ich beim abendlichen Spaziergang den Anblick meiner kartenspielenden Glaubensbrüder genoß. Vielleicht hätte ich in diesem Zusammenhang nicht von Glaubensbrüdern sprechen sollen, sondern besser von Rassegenossen, denn es ist ja die Frage, ob die Kartenspieler eifrige Besucher des G'tteshauses gewesen sind. Ich habe stets eine Abneigung gegen das Kartenspiel gehabt, aber ganz besonders schlimm erschien mir immer das Kartenspiel von Juden in der Öffentlichkeit. Und dann waren wieder Sommerferien, diesmal besonders heiß von mir ersehnt. Wieder ging es mit einem Teil der Familie nach Hohndorf. Die Jungens wollten sich allerdings nicht in dem Dörfchen vergraben, was ich sehr gut verstehen konnte. Wölfl machte eine große Radtour mit seinem Freunde Aron nach Mitteldeutschland, auf der er viel Schönes sah, und Ernst ging zu einem Lager, das die Breslauer zionistischen Bünde gemeinsam mit Gleichgesinnten in Bohrohrädek in der Tschechoslowakei veranstalteten. Er kam dann von dort aus noch nach Hohndorf. Mit Rücksicht auf die kleine Susanne fuhren wir diesmal im Auto. Wir mieteten uns einen Wagen, der auch im Stande war, tüchtig Gepäck mitzunehmen und ersparten uns auf diese Weise das Umsteigen und den schwierigen Anmarsch nach unserem geliebten Dörfchen. Für Susannchen war das nun die erste Autofahrt ihres Lebens, die sie allerdings bei ihrem Alter von wenigen Monaten noch nicht mit Bewußtsein genoß. Eine um so größere Freude hatte Ruth davon. Die Fahrt ging über Nimptsch, wo ich einstmals im Kaisermanöver schöne Tage verlebt hatte, dann weiter über Frankenstein nach Glatz; eine gefährliche Ecke für Autofahrer war immer der Paß von Wartha, wo bei den sieben Kurven manches Unglück passiert ist. In Hohndorf waren wir schnell wieder heimisch. Wir stellten zunächst fest, welche Veränderungen seit dem vorigen Jahre eingetreten waren. Bei Schwarzers, unseren Wirten, war ein kleines Mädchen, Amalie, als Zuwachs eingetroffen, eine neue Scheune hatten sie gebaut, und für Ruth hatten sie - eine besondere Sensation - ein Kinderklo errichtet. Auch hier konnte man ein Anwachsen des Nationalsozialismus bemerken. Noch im vergangenen Jahre hatte ausschließlich das Zentrum Einfluß gehabt.
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Unser Leben ging bald seinen gewohnten Gang. Ruth ging wieder öfters in die Dorfschule, was sie stets mit viel Freude gemacht hat, und ich saß in meiner Laube und erholte mich. Selbstverständlich machte ich auch die üblichen kleinen und großen Wanderungen. Wieder war es Pilz- und Beerenzeit. Einen großen Teil des Tages verbrachten wir damit, die Früchte des Waldes zu suchen. Nach Kronstadt jenseits der Grenze konnte man nun wieder ohne Schwierigkeiten. Ich bin öfters dorthin gegangen, zumal ich mir auch die Post dorthin bestellte. Mit besonderem Verständnis schrieb mir Professor Stern aus Trautenau über die schwierige Lage, in der sich das deutsche Judentum befand. Wenn auch in dieses Dörfchen die großen politischen Ereignisse nur abgeklungen hinkamen, es war noch genug, was man hörte. Im Reiche war jetzt die Regierung Papen am Ruder, und sie setzte kurzerhand die preußische Staatsregierung von Severing ab 32 , ernannte den auf diesen Blättern schon genannten Generalleutnant von Rundstedt zum Inhaber der vollziehenden Gewalt. Auch der Breslauer Oberpräsident Lüdemann war abgesetzt worden 33 . Freiheitspfeile und Hakenkreuz waren die beiden Zeichen, die sich damals feindlich gegenüberstanden. Die auf dem Boden der Weimarer Verfassung Stehenden begrüßten sich mit dem Gruß: „Freiheit". Schon vor meiner Familie fuhr ich in diesem Jahre von Hohndorf fort, weil ich noch den Historikertag in Göttingen besuchen wollte. Ich mußte gerade an dem Tage abfahren, an dem Ernst von seinem Sommerlager nach Hohndorf kam. Wir sind irgendwo in der Grafschaft Glatz aneinander vorbeigefahren. In Breslau hielt ich mich nur kurze Zeit auf. Die Stadt war vom Wahlkampf erfüllt und in einer großen Erregung. Wölfl war schon von seiner Sommerfahrt zurückgekommen, gesund und blühend, und erzählte viel von dem, was er erlebt hatte. Den stärksten Eindruck hatte auf ihn der Mittellandkanal gemacht. Ich bin froh, daß er noch diese Reise machen konnte. Es sollte bisher seine letzte Reise sein, die er unbeschwert durch Deutschland gemacht hat. Abgesehen von einer Schülerfahrt, war die nächste große Reise schon die Fahrt in die Auswanderung.
Franz von Papen hatte am 1. Juni 1932 die Regierungsgeschäfte übernommen und am 20. Juli 1932 die Regierung Preußens unter Ministerpräsident Otto Braun des Amtes enthoben. In dieser Regierung war Carl Severing Innenminister. 3 3 Hermann Lüdemann (1880-1959) war von 1928 bis Juni 1932 Oberpräsident von Schlesien. 32
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So fuhr ich zunächst nach Berlin. Vom Abteil aus sah man überall die Hakenkreuz- und Freiheitsfahnen. Es war der Wahltag, ein Sonntag, an dem ich reiste 34 . In Berlin holte mich der Schwiegervater von der Bahn ab. In einem Wahllokal, einem ziemlich trostlosen Restaurant unweit des Schlesischen Bahnhofs, genügte ich meiner Wahlpflicht. So ein Wahltag selbst pflegte immer verhältnismäßig ruhig zu verlaufen; bis zum Abend vorher tobten sich die Energien der Parteien genügend aus. Bei den Schwiegereltern kam ich gerade zum Mittagbrot. Da es ein schöner Sommersonntag war, machten wir am Nachmittag einen Ausflug in die Umgebung von Berlin, von der ich ja verhältnismäßig wenig kannte. Wir fuhren mit einem elektrischen Zuge bis nach Grünau und dann mit einem Dampfzuge nach Zeuthen. Dort saßen wir lange in einem Gartenlokal am Zeuthener See, was sehr erholsam war. Auch meine beiden Schwäger waren mit. Einer von ihnen war damals in Miersdorf als Gärtner in einem jüdischen Kinderheim in Stellung. Er vertraute mir an, daß er sich verheiraten wollte, und bat mich, bei seinem Vater dahin zu wirken, daß er ihm die Mittel zur Verfügung stellte, damit er in Groß-Gaglow siedelte, was er auch in der Tat später machte. Ohne seine Braut zu kennen, habe ich dem Schwiegervater zugeredet. Ich war damals noch sehr impulsiv; später bin ich in solchen Dingen vorsichtiger geworden. Man soll nicht die Verantwortung für das Schicksal anderer auf sich nehmen. Die Rückfahrt von Zeuthen war ein Erlebnis eigener Art. Wir konnten sie ganz auf dem Wasserwege machen, was natürlich viel schöner ist als im überfüllten Zuge. Die Fahrt ging zunächst in einem Motorboot bis nach Schmöckwitz, dann mit einem Sterndampfer über Grünau und Köpenick nach der Oberbaumbrücke. Bei Schmöckwitz mündet der Seddinsee in die Spree. Die Vororte Berlins und dann Berlin selbst glitten an uns vorbei. Wenn die Mücken uns nicht sehr geplagt hätten, so wäre es eigentlich ganz vollkommen gewesen. Jetzt, da wir schon mehrere Jahre in der Verdunklung leben (ich meine dies in wörtlichem Sinne), kann man es sich schon gar nicht mehr vorstellen, was es bedeutet, an beleuchteten Flußufern vorbeizufahren, wo tausend Lichter glitzern. Abends hörten wir durch den Rundfunk noch etwas über das Wahlresultat. Die Nationalsozialisten zogen als stärkste Partei in den Reichstag ein.
34
Die Reichstagswahl fand am 31. Juli 1932 statt.
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An nächsten Morgen ging es dann zur Staatsbibliothek, wie stets, wenn ich auch nur kürzeste Zeit in Berlin war, und dann sofort zum Potsdamer Bahnhof, um von dort aus nach Göttingen zu fahren. Schon an der Bahn wehte etwas von der Luft des deutschen Historikertages 35 . Ich sprach gleich Professor Walter Vogel, mit dem mich ja so viele wissenschaftliche Beziehungen verbanden. [...] Ich freute mich auf Göttingen, denn diese Universitätsstadt kannte ich noch nicht. Jede deutsche Universitätsstadt hat ja ihr eigenes Milieu. Für mich war Göttingen vor allem mit dem Namen der berühmten Göttinger Sieben verbunden, die 1837 gegen einen Verfassungsbruch protestiert hatten. Das Empfangsbüro des Verbandes deutscher Historiker auf dem Hauptbahnhof wurde von dem Professor Percy Ernst Schramm geleitet, der mir gleich sagte, daß er mich aus meinen wissenschaftlichen Arbeiten kenne und sich freute, mich nun auch selbst zu sehen. Ich wurde im Hotel zur Sonne einquartiert und hatte ein kleines Schlafzimmer und ein gemeinsames Wohnzimmer mit dem jüdischen Privatdozenten Heichelheim. Vielleicht ist das auch schon charakteristisch für die Zeit, daß man auch bei der Quartierverteilung darauf bedacht war, die Möglichkeit von irgendwelchen Differenzen auszuschalten. Der Verband deutscher Historiker war eine Organisation, die auf sehr großer Höhe stand und möglichst alle Differenzen politischer Art fernhalten wollte. Ich machte bald einen kleinen Rundgang durch diese alte Universitätsstadt, die den Charakter geistigen Lebens durchaus bewahrte. Überall an den Häusern waren Schilder mit den Namen der Professoren. In vielem erinnerte mich Göttingen an Heidelberg, wo auch die Universität das Leben in der Stadt beherrschte. Am Abend war Begrüßung der eingetroffenen deutschen Historiker im Gasthaus zur Krone. Diesmal hatte man etwas recht Nettes angeregt. Jeder stellt sich mit seinem Namen und der Stadt vor, aus der er kam. Auf diese Weise hatte man die Möglichkeit, an die Menschen heranzugehen, die einen aus irgendeinem Grunde besonders interessierten. Der Abend wurde von Professor Robert Holtzmann geleitet, der inzwischen ordentlicher Professor in Berlin geworden war und den ich noch gut aus seiner Breslauer Zeit kannte. Holtzmann hatte eine sehr nette und liebenswürdige Art, so etwas zu machen. Die wissenschaftliche Leitung der Tagung lag vor allem in der Hand von Karl Brandi, der Professor in Göttingen war und den ich schon von Oslo her kannte. Brandi verkörperte gewissermaßen den Geist dieser Universitätsstadt, in 35
Vgl. den Bericht über die 18. Versammlung Deutscher Historiker in Göttingen. 2.-5. August 1932. München 1933.
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der er seit Jahrzehnten wirkte. Als Historiker hat sich Brandi immer als sehr abgeklärt und über den Dingen stehend bewiesen. An dem Begrüßungsabend war ich viel mit Hans-Gerd von Rundstedt zusammen, der mich wegen einer beabsichtigten Arbeit über den Deutschen Orden und die Hanse um Rat fragte. Ich saß neben Professor Levison aus Bonn, einem Juden, der besonders in der Zeit des frühesten Mittelalters gearbeitet hatte. Aber es war ja eine alte Erfahrung, daß Juden, die es zu etwas gebracht hatten, anderen Juden gegenüber sehr zurückhaltend waren. Levison lebte übrigens in einer Mischehe. Seine jüdischen Interessen waren wohl sehr dünn, wenn er auch aus repräsentativen Gründen mit auf dem Titelblatt der „Zeitschrift für die Geschichte [der Juden in Deutschland" stand.] 36 Während dieser Tagung hatte ich auch öfters Gelegenheit, den Verlagsleiter der historischen Schulbuchabteilung von Teubner, Dr. Aengeneyndt, zu sprechen, mit dem ich Fragen der Fortführung der historischen Quellensammlung erörterte. Zu allen diesen Dingen ist es dann infolge des Umbruchs im nächsten Jahre nicht mehr gekommen. Uberhaupt war Göttingen für mich selbst gewissermaßen der Abschluß meines Wirkens innerhalb der deutschen Geschichtsforschung, soweit sie sich nach außen abspielte. Es war der letzte Kongreß, an dem ich beteiligt war. Eine Sitzung fand einmal auf dem Röhns statt. Es war dies eine Erhebung bei Göttingen. Dorthin gingen wir am Abend hinaus. Auf dem Rückweg lernte ich zwei jüngere Archivbeamte kennen, mit denen ich mich gut unterhielt. Sonst fanden die Sitzungen wie üblich in der Universität statt. Auch mit dem Leiter des Verbandes der deutschen Geschichtslehrer, dem Stadtschulrat a.D. Dr. Reimann, war ich zusammen. Er stellte mir bei dieser Gelegenheit den Oberst Schwerdtfeger vor, der mir aus seiner Mitarbeit am Berliner Tageblatt gut bekannt war. Er war einer der wenigen höheren Offiziere, die den Weg zur Linken gefunden hatten. Mit einem Spezialkollegen aus dem Gebiet der Normannenforschung, dem Archivrat Dr. Smidt (auch ihn kannte ich ja schon seit langem), sprach ich Probleme meiner engeren Studien durch. Irgendwelche besonderen Sensationen hat dieser Historikertag nicht gebracht. Es ging alles in dem üblichen Kram 3 7 . Die Schatten der erregten politischen Zustände fielen, wenn auch gedämpft, auf unsere Arbeit. In Privatgesprächen wurden
36 37
In der Textvorlage fehlen einige Worte, die hier sinngemäß ergänzt wurden. Etwa ein Diktatfehler, richtig „Tran"?
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diese Dinge übrigens niemals berührt; es war eben ein sehr kultiviertes Milieu, in dem man sich bemühte, dem anderen nicht weh zu tun. Der Abschluß der Tagung war eine wissenschaftliche Exkursion nach Hildesheim. Wieder hatte ich das Glück, in eine historisch bedeutsame Stadt, die ich noch nicht kannte, zu kommen. Den größten Eindruck machte auf mich der Dom mit seinen gewaltigen Bronzetüren. Hier hatte einst Bernward von Hildesheim gewirkt. Es ist erstaunlich, was das Mittelalter, dem doch moderne industrielle Hilfmittel nicht zur Verfügung standen, an handwerklicher Arbeit geleistet hat. Dafür hatte man eben sehr viel Zeit. Auch die Michaeliskirche besichtigten wir. Mittags waren wir im Ratskeller zusammen, der gegenüber dem alten KnochenhauerAmtshaus lag. Ich benutzte eine kurze Pause, um wenigstens einen kleinen Spaziergang um den Markt zu machen, damit die Stimmung des Ortes, unabhängig von allen Gesprächen, auf mich einwirken konnte. Dadurch, daß man immer mit Gelehrten zusammen war, und mit jedem bestimmte Spezialprobleme durchzusprechen hatte, war es eben nicht möglich, den Genius loci so zu genießen, wie ich das sonst auf Reisen gern machte. Immerhin ist doch noch einiges in der Seele haftengeblieben. Auf der Hinfahrt nach Hildesheim unterhielt ich mich viel mit dem schon genannten Robert Holtzmann; in Hildesheim selbst war ich vor allem mit dem Historiker Erich Keyser zusammen. Dann konnte ich noch nach dem Mittagbrot zu der Besichtigung von St. Godehard 38 mitgehen, konnte aber nicht mehr bis zum Schluß bleiben, weil ich unbedingt nach Berlin und dann nach Breslau zurück mußte, um rechtzeitig in die Schule zu kommen. Auf dem Weg zu der zuletzt genannten Kirche kam ich mit Professor Pfitzner ins Gespräch, der damals an der Deutschen Universität in Prag wirkte und sudetendeutscher Herkunft war. Seitdem hat er eine große Karriere gemacht. Er ist heute Vizeprimator, das heißt also Vizeoberbürgermeister von Prag. Da der Primator ein Tscheche ist, so ist eigentlich er der Herr von Prag39. Der Wissenschaft scheint er wohl zunächst Lebewohl gesagt zu haben. Das, was er jetzt produziert, ist nun schon nicht mehr objektive Wissenschaft. Auch ihn interessierte vor 38
In der Vorlage steht irrtümlich „St. Godulla". Zum Ablauf dieses Ausfluges vgl. den in Anm. 35 angeführten Bericht S. 44. 39 Pfitzner wurde nach der Befreiung Prags 1945 als Repräsentant des NSRegimes zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet.
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allem mein „Hermann von Salza", wie ich überhaupt ohne Einbildung feststellen konnte, daß man über mein Schaffen gut unterrichtet war. O b allerdings Herr Pfitzner, der in seinem neuesten Buche über Karl IV. sehr ungerechte Urteile über die Juden gefällt hat 40 , heute noch von mir etwas würde wissen wollen, erscheint mir sehr fraglich. Die Rückreise von Göttingen bis Berlin machte ich mit Dr. Abb zusammen, dem Direktor der Berliner Staatsbibliothek. Es war mir dies eine sehr wertvolle Bekanntschaft, und im Zusammensein im Abteilungsspeisewagen sprach man manche Frage durch. Er war einer der Konservativen der alten Richtung, die von Radikalismus nach rechts und links nichts wissen wollten. Zufällig hatte jemand in unserem Abteil ein Buch von Tucholsky liegenlassen. Das gab Dr. Abb Veranlassung, sich über diesen Schriftsteller zu äußern; er meinte, daß er unendlich geschadet hätte. Damals widersprach ich ihm wohl noch; heute würde ich es kaum noch tun. Gewiß hat Tucholsky vor allem in seiner entzückenden Novelle „Rheinsberg" Schönes geschrieben; aber über seiner Publizistik liegt doch viel Anmaßendes. Es wäre besser gewesen, wenn manches Buch von ihm ungedruckt geblieben wäre. Gerade weil ich wohl auf meinen Gesprächspartner ganz anders wirkte, erzählte er mir manches von der Anmaßlichkeit mancher jüdischer Bibliotheksbenutzer in Berlin. Überschaut man die Dinge heute, nachdem bald ein Jahrzehnt ins Land gegangen ist, so erkennt man, aus wie vielfachen Strömen sich die Mißstimmung gegen uns gebildet hat. Man sagt, daß in einem Geleitzug sich die Geschwindigkeit der Fahrt nach dem schlechtesten Schiff richten muß; so scheint es auch mit der Beurteilung der Juden zu sein. In Berlin übernachtete ich wieder bei meinen Schwiegereltern und benutzte den nächsten Morgen, um einer Kusine meiner Frau die Berichte über den Historikertag zu diktieren. Ich hatte die Reise wieder dadurch möglich gemacht, daß ich für eine Reihe von Zeitungen und Korrespondenzen die Berichterstattung übernommen hatte. Journalistische Berichte müssen ja schnell heraus, wenn sie nicht veralten sollen. Den Abend verlebten wir in Treptow, wo sich noch einige Mitglieder der weiteren Familie hinzufanden. [...] Dann ging es wieder nach Breslau, wo ich erfreulicherweise alles in Ordnung vorfand. Der 11. August war der letzte Verfassungstag der
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J. Pfitzner: Kaiser Karl IV. Potsdam 1938.
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Weimarer Republik. Er traf diesmal mit Tischo be'aw zusammen. O b dies ein Vorzeichen der Vorsehung gewesen sein mag? Immer hat ja der Tag der Tempelzerstörung in unserer Geschichte eine besonders ernste Bedeutung gehabt. Im Gymnasium hielt Kollege Schönfeld eine recht taktvolle Rede. Es war schon nicht mehr ganz einfach, das Richtige zu treffen. Im Hinterhaus unseres Gymnasiums war damals die Handelsschule untergebracht. Diese wenig erfreulichen Jünglinge versuchten die Feier fortgesetzt durch Heilrufe zu stören. Am 13. August war die Barmizwah unseres zweiten Sohnes Ernst. Wieder fand sie aus den schon früher dargelegten Gründen in der Neuen Synagoge statt, und auch er machte seine Sache sehr gut. Es war der Schabbath Nachamu, der Sabbat des Trostes, der ja bekanntlich immer nach dem Tage der Tempelzerstörung gefeiert wird. Den Zeitverhältnissen entsprechend begingen wir diesen Tag im kleineren Maßstabe. Nach der Synagoge fanden sich natürlich eine Anzahl von Gratulanten ein, und am Abend waren Freunde unseres Hauses da. Der Schwiegervater war aus Berlin gekommen, und auch mein Bruder Franz und meine Schwester mit ihrem Manne nahmen an der Feier teil. Auch dieser Junge hat uns immer viel Freude gemacht. Sein Wesen war anders als das von Wölfl; aber niemals gibt es ja zwei Kinder, die sich gleichen, und das ist nur gut. Im Leben eines jüdischen Jungen ist dieser Tag ein Einschnitt. Wie immer er sich auch im Leben entwickelt, so bleibt dieser Tag eine Erinnerung. Ernst hat sein ganzes Sein und seinen großen Idealismus in den Dienst des jüdischen Volkes gestellt. Wenn er auch im Laufe seiner Entwicklung mehr vom Religiösen zum Zionistischen gekommen ist und nun schon seit langen Jahren dem Boden von Palästina dient, so war für ihn die Barmizwah nicht das Ende seiner jüdischen Entwicklung, sondern nur eine Stufe. Bei sehr vielen Juden aus den liberalen Häusern war in der Regel der Segensspruch über die Thora der Abschluß ihrer Beziehungen zum Judentum. Viele von ihnen kamen nicht einmal mehr bei der Trauung mit ihm in Berührung, sondern erst dann wieder, wenn sie auf dem Friedhof bestattet wurden. Dieser ganze Entjudungsprozeß des deutschen Judentums hat wohl auch den Zorn des Ewigen heraufbeschworen, und so mag diese Schickung über uns gekommen sein, die wohl kaum eher ihr Ende finden wird, bis nicht die Seele vieler von dem Geist der Umkehr erfaßt wird. In meiner wissenschaftlichen Produktion kamen nun zwei Arbeiten zum Abschluß. Meine Frau schrieb die äußere Geschichte der Flotte
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Karls I. ins Reine und meine Mutter mit der Hand die Dantearbeit. Mutter hat bis kurz vor ihrem Ende eine wundervolle, klare, saubere und gebildete Handschrift gehabt, die für jeden Setzer ebenso gut lesbar war wie ein Schreibmaschinenmanuskript. Sie war immer sehr glücklich, wenn sie etwas für mich arbeiten konnte und auf die Weise das Gefühl hatte, sich nützlich zu machen. Zwei Besuche möchte ich aus diesen Tagen erwähnen. Mein alter Freund Dr. Jutkowsky kam aus Militsch, um sich mit mir über die Zukunft seines ältesten Sohnes zu beraten. Und dann kam ein früherer Schüler von mir, Dr. Süßmann, der inzwischen Bibliothekar geworden war und auf dessen Lebensweg ich entscheidend eingewirkt hatte. Schon sprach ich auch mit Wölfl seine Zukunftspläne durch. Ich wünschte mir, daß er wie ich selbst sein erstes Sommersemester in Heidelberg verleben sollte. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Er hat dafür sein erstes Semester in Paris verlebt, was wohl kein schlechter Tausch gewesen ist. Vielleicht hätte Heidelberg für ihn nur viele Enttäuschungen gebracht. In der Lehrerkonferenz hielt ich über meine Reise nach Göttingen einen Vortrag, so wie ich das immer gemacht hatte. Viel totes Schreibwerk war mit der Schularbeit verbunden; da ich ja wieder eine Abiturientenklasse hatte, so gab es die Charakteristiken zu schreiben, und man seufzte manchmal unter dieser Schriftlichkeit, die oft so unproduktiv war. Verwaltungsbeamter hätte ich niemals gern werden wollen. Dann gab es auch noch eine andere fixe Idee in der damaligen Pädagogik. Es mußten Konzentrationsthemen gesucht werden, unter die sich der gesamte Unterricht einer Klasse einzuordnen hatte. Dieser Gedanke stand aber auch wieder in einem großen Gegensatz zu dem Eigenleben jedes Faches. Ich schlug damals als Thema vor: „Der Einfluß des Goethejahres 1932 auf die Mentalität des deutschen Volkes." Ich glaube wohl, daß die Kollegen die Ironie dieses Vorschlages gut gemerkt haben; denn dieses mit sehr viel guten Absichten proklamierte Goethe-Gedenkjahr wurde durchaus von dem Bürgerkrieg überdeckt, der überall mehr oder weniger tobte. Überall wütete auch der Abbau. So hatte die Breslauer pädagogische Akademie nach sehr kurzem Bestehen wieder ihr Leben ausgehaucht. Mein Kollege Klawitter war wieder Studienrat an einem Gymnasium geworden 41 . [...]
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Die Pädagogische Hochschule Breslau war infolge der Notverordnungen am 1. April 1932 geschlossen worden.
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In jener Zeit hatte ich auch mit der Verwaltung des Hauses Ring 49 sehr viel Mühe 42 . Es gelang mir, nach und nach alle leerstehenden Räume zu vermieten und die Verwaltung wieder auf eine gesunde Grundlage zu stellen. Es hat sehr viel Energien gekostet, Konferenzen bei Rechtsanwälten, auch Ärger mit meinem jüngsten Bruder und dessen Frau, die selten geneigt waren anzuerkennen, was ich geleistet hatte. Aber ich konnte nicht anders handeln, als ich gehandelt habe. Wenn ich heute rückschauend diese Dinge überdenke, so haben sie mich doch einen Teil meiner Schaffenskraft gekostet, oder besser gesagt, ich mußte durch zusätzliche Belastung aus mir herausholen, was sonst vielleicht der Entspannung gedient hätte. Eines Tages rief mich Professor Andreae an, um mich zu einem Vortrag in der historischen Sektion der vaterländischen Gesellschaft aufzufordern. Bei dieser Gelegenheit teilte ich ihm die Ehrung mit, die mir von Seiten der Sizilischen Gesellschaft in Catania zuteil geworden war und die er nunmehr durch die Pressestelle der Universität bekanntgab. Ich freute mich dann auch sehr, als die Notiz in den Zeitungen erschien und mir von verschiedenen Seiten her gratuliert wurde. Der 31. August war der Todestag von Ferdinand Lassalle. Ich war an seinem Grabe, zu dessen beiden Seiten je eine rote und eine schwarzrot-goldne Fahne wehten. Es war das letzte Mal, daß dies der Fall war. Als ich in diesem Jahre 1941 sein Grab besuchte, war selbstverständlich keinerlei Schmuck an ihm angebracht. Wer weiß, ob es noch einmal in der Zukunft der Fall sein wird. Eines schönen Tages fuhr ich wiederum mit einer Klasse nach Berlin zur letzten Studienfahrt, die ich mit Schülern des Johannesgymnasiums zu machen hatte. [...] Im allgemeinen verlief auch diese Studienfahrt im Rahmen der vorjährigen, und ich will deswegen auch nur das berichten, was ich Neues sah. [...] Ein anderes Mal war ich mit den Jungens im Schloß. Dieses Schloß der preußischen Könige im Herzen Berlins hat auf mich immer einen großen Eindruck gemacht. Von dieser Stätte ist ein Stück Weltgeschichte ausgegangen. Für den Historiker, der das so häufig zu unterrichten hatte, war es schon ein Erlebnis, das sehen zu dürfen. Gewiß war vieles an den ursprünglichen Eindrücken durch das Parvenuhafte überdeckt worden, das in der Zeit Kaiser Wilhelms II. begründet
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Wie oben S. 22 angeführt, blieb das Haus bis 1939 im Familienbesitz.
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war. Er hatte die Tendenz, überall seinen Namen zu verewigen. Und doch hat es mit der Geschichte etwas Besonderes auf sich. Mitunter bleibt das Andenken von denen am längsten, die um die Erhaltung dieses ihres Andenkens am wenigsten bemüht waren. Ich zeigte meinen Schülern auch das Zeughaus, gleichfalls eine Ruhmesstätte des preußischen Soldatentums. Hier waren es vor allem die Masken sterbender Krieger von Schlüter, die mich beeindruckten. Es ist bemerkenswert, wie verschieden die Besichtigung kriegerischer Dinge auf den einzelnen wirkt. Für mich war die innere Konsequenz, daß man den Krieg bekämpfen müsse; aber die junge Generation, für die der Krieg kein eigenes Erlebnis mehr war, sah die Zusammenhänge gerade umgekehrt. Die Folgen davon spüren wir in der Gegenwart. Doch ist es in der Weltgeschichte offenbar niemals anders gewesen. Einmal gingen wir auch durch die Wilhelmstraße. Wenn wir auch in die Regierungsgebäude natürlich nicht hineinkamen, so war es für die Jungen doch eindrucksvoll, einmal an den Stätten vorbeizugehen, wo Geschichte der eigenen Zeit gemacht wurde. An einem Tag, da ich die Klasse unter der Führung eines Kollegen lassen konnte (man besichtigte das Ullstein-Haus, das ich ja schon vom vorigen Jahre her kannte), suchte ich die Akademie der Wissenschaften auf. Hier wurde ich von meinem alten Freunde Eduard Sthamer auf das herzlichste empfangen, der mir von seiner letzten Studienreise nach Sizilien berichtete. Ich war auch wieder in der Staatsbibliothek, um Material zu sammeln. Schon zeichnete sich nämlich in den Umrissen die nächste größere Arbeit ab, die mich beschäftigte. Ich wollte ein Buch „Sizilien in den Augen seiner Besucher" schreiben, ein Buch, von dem in der Tat heute schon ein sehr großer Teil fertig ist und das unter normalen Verhältnissen wohl längst gedruckt worden wäre. Die Berliner Staatsbibliothek besitzt einen Realkatalog, der mir die Möglichkeit gab, die Titel der wichtigsten Bücher, die jemals über Sizilien erschienen waren, herauszusuchen. In Breslau war, da sich die Breslauer Universitätsbibliothek in keiner Weise mit der zentralen Bibliothek Preußens messen konnte, das wissenschaftliche Arbeiten sehr viel schwerer. Übrigens sprach ich auf der Universitätsbibliothek auch meinen alten Breslauer Kollegen Dr. Honigmann. Im Vorübergehen gratulierte mir auch der Direktor Dr. Abb zu meiner sizilischen Ernennung. [...] Ich war also in diesem Winter ziemlich viel gereist, und nun hieß es wieder, seßhafter zu werden und die Arbeit des Tages zu leisten. Da
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ich nie ohne Pläne sein konnte, so stieg am Horizonte meines Schaffens wieder ein anderes Projekt auf. Mein Buch „Das Zeitalter der Normannen in Sizilien", das im Jahre 1920 erschienen war, war vergriffen. Es war von mir verhältnismäßig rasch geschrieben worden und konnte durchaus eine gänzliche Umarbeitung vertragen. Da für diese Arbeit auch die Sizilische Gesellschaft Interesse zeigte, so verhandelte ich mit meinem Verleger Marcus, der sich um die Klarstellung der Verlagsrechte für dieses Buch sehr bemühte, ob es nicht möglich wäre, eine deutsche und eine italienische Ausgabe parallel erscheinen zu lassen. Auch dazu ist es dann nicht mehr gekommen, wenn ich auch das Buch vollkommen fertig geschrieben habe und das fertige Manuskript nach Catania gegangen ist, wo Professor Libertini auch einen Teil übersetzt hat. Ich will hoffen, daß es später einmal doch gedruckt werden kann. Allerdings dürften dann wieder neue Umarbeitungen notwendig sein, etwas, was ich im Grunde sehr ungern tue. Es ist leichter, ein neues Buch zu schreiben, als ein altes zu ergänzen und umzuarbeiten. Aber auch das gehört zu der sogenannten entsagungsreichen Gelehrtenarbeit. [...] Aus dem Familienkreis ist Erfreuliches und weniger Erfreuliches zu berichten. Die Fortschritte bei Susanne konnte man von Tag zu Tag sehen. Das ist ja das Süße an so kleinen Kindern, daß man ihr Gedeihen beinahe stündlich beobachten kann. Erfreulich war es auch, daß es meinen Bemühungen gelang, Mutters pekuniäre Verhältnisse wieder so zu sichern, daß sie eine eigene kleine Wohnung Ecke Charlottenstraße und Kaiser- Wilhelm-Straße mieten konnte, die sie noch sieben Jahre bewohnte, bis sie von dieser Welt abberufen wurde. [...] Von dem weniger Erfreulichen ist zu berichten, daß damals meine Tante, Grete Hainauer, in verhältnismäßig jungen Jahren starb. Sie hat kein sehr besonders glückliches Leben führen können. Auch machte uns der Gesundheitszustand meines Bruders Franz andauernd sehr große Sorge. Soeben hatten wir einen Bruder verloren und mußten damit rechnen, daß auch das Leben von Franz nur begrenzt war. Das Traurige war, daß er als Arzt das selbst wußte. Gewiß, ganz klar ist sich niemand über seinen eigenen Gesundheitszustand und will es vielleicht auch nicht sein. Franz litt an einer schweren Zuckerkrankheit. Daß er es überhaupt noch einige Jahre geschafft hat, verdankt er vor allem der ärztlichen Fürsorge seiner Frau, die sein Dasein in jedem Augenblick überwachte. Bei Franz habe ich es immer so sehr bedauert, daß ein so außergewöhnlicher Geist, wie er es war (und im allgemeinen bin ich mit solchen Superlativen sehr sparsam), in einem solchen Körper
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wohnte. Franz stand geistig auf der H ö h e seines Schaffens. Wenn er noch zehn Jahre hätte leben dürfen, wie vieles hätte er noch geleistet, wenn allerdings nicht durch die Ereignisse, die über uns als Juden gekommen sind, auch seine Schaffenskraft gebrochen worden wäre. So soll man mit der Vorsehung nicht rechten. Es kam das Rosch haschana-Fest 5693. Den Gottesdienst besuchte ich diesmal in der Vorwärtsturnhalle. Kurz nachher konnten wir die Feier unseres neunjährigen Hochzeitstages begehen, indem wir einen größeren Marsch unternahmen. Wölfl steckte schon tüchtig in den Vorbereitungen zum Abiturium, die er wie alles in seinem Leben mit großer Sorgsamkeit betrieb. Am Jom Kippur hatte diesmal Ernst das erste Mal gefastet. Ruth hatte auch schon einen recht netten Freundeskreis. Es waren Kinder aus den zionistischen Familien, die ihr nahestanden, Hanna Kober und Esther Jacobsohn. Heute sind alle diese drei Freundinnen in Erez Israel und sind den Weg gegangen, den sie sich vorgenommen hatten. Das ist doch das Schöne an der Erziehung in den zionistischen Familien, daß wir immer gewußt haben, was wir wollten, und daß wir nicht erst zum Judentum erwachten, als wir von den anderen darauf hingewiesen wurden, daß wir Juden waren. [...] Ein Wort aber muß ich noch zu diesem Simchat Thora sagen. Es war das erste Thorafreudenfest, das Susannchen erlebte. Es war ein alter jüdischer Brauch, daß die Kinder an diesem Tage beschüttet wurden. Das ging folgendermaßen vor sich: Kleine Freunde und Freundinnen wurden eingeladen, dann wurde über das kleine Menschlein ein Schirm gespannt, und über diesen wurden Süßigkeiten geschüttet, um die sich dann die größeren Kinder balgten. Es sollte ein Symbol dafür sein, daß der Lebensweg des kleinen Menschleins immer ein süßer und erfreulicher werden sollte. Es ist schade, daß dieses alte. Brauchtum von so wenigen Juden gehalten wurde; dafür hat man dann, um die Sitten der anderen nachzuahmen, in manchen Häusern den Adventskranz angezündet, wie dieses zum Beispiel von meiner Schwägerin Eva beliebt wurde. Mein erster Vortrag in diesem Winter führte mich nach Liegnitz. Ich sprach über das Thema: „Umkehr und Einkehr, ein Weg aus der Judennot." Ich wußte, daß die Uhr kurz vor zwölf zeigte. Ich fühlte, daß das deutsche Judentum einer Katastrophe von ungeahntem Umfange entgegensteuerte. Ich versuchte, meine Glaubensbrüder aufzurütteln und ihnen den Ernst der Lage zu zeigen. Als ich nachts nach Hause fuhr, herrschte wie oft um diese Jahreszeit ein großer Sturm.
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In der Schule machte mir die Lektüre von „Faust", die ich immer im letzten Halbjahr der Oberprima durchführte, besondere Freude. Nicht immer waren die jungen Leute dazu geistig reif, aber ich vertrat den Standpunkt, wenn sie nicht während ihrer Schulzeit den „Faust" lasen, würden viele von ihnen in ihrem ganzen Leben nicht mehr dazu kommen. Von Jahr zu Jahr hat mir die Interpretation von Goethes größtem Werk immer größere Befriedigung gewährt. Ich will mir gewiß nicht einreden, daß ich den Inhalt des Werkes voll ausgeschöpft habe. Wer vermöchte das zu vollbringen! Aber ich hoffe, ihm doch ein wenig näher gekommen zu sein. Große Freude hatte ich auch an dem Bürgerkundeunterricht, und besonders stolz war ich, daß Wölfl ein Referat bei mir hielt. Er sprach über Geldwesen; er hatte großes nationalökonomisches Verständnis. Ich fuhr auch wieder nach Militsch. Diesmal hatte ich Glück, ein Bekannter von mir, Apotheker Landau, brachte mich im Auto hin. So brauchte ich nicht zu übernachten und konnte außerdem den Genuß einer Fahrt durch die herbstlichen Wälder haben. Der Vortrag fand diesmal im Schützenhaus statt, einem großen Restaurant. Ich behandelte das Thema, das ich schon in anderem Zusammenhang erwähnte, das Deutschland und Spanien einander gegenüberstellte. Ich sah damals, wenn ich über dieses Thema sprach, die Austreibung der deutschen Juden, wie sie die nächsten Jahre brachten, deutlich vor Augen. Glücklicherweise hat man sich nicht alle Einzelheiten vorstellen können; andererseits hätte vielleicht mancher, der wertvolle Zeit hat verstreichen lassen, seinen Aufbruch beschleunigt. [...] Wissenschaftlich gestaltete sich damals vor allem die Neubearbeitung des Normannenbuches. Es machte mir viel Freude, einen Stoff, den ich vor langen Jahren schon einmal angepackt hatte, nun reifer geworden, noch einmal vorzunehmen. Und diese Normannen, die dort unten im Süden in so kurzer Zeit ein großes Reich geschaffen haben, haben meine besondere Liebe gehabt, vielleicht auch nicht zum wenigsten deshalb, weil das Judentum es unter ihnen sehr gut gehabt hat. Es vermag ja kein Mensch aus seiner rassischen Bedingtheit herauszutreten. In dem auch schon des öfteren erwähnten Kreis der Freunde sprach ich wiederholt. Einmal zog ich in einem Vortrag einen Querschnitt durch die weltpolitische Lage. Und nun gab es auch wieder eine Anzahl von Vortragsreisen außerhalb von Breslau. [...] Ich sprach in Ratibor über die Krisen in der jüdischen Geschichte, auch das ein zeitgebundenes Thema. Selbst diejenigen Juden,
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die mit Scheuklappen herumlaufend, aus ihrer Assimilationsideologie nicht heraustreten wollten, hatten immerhin das Gefühl, daß wir in einer großen Krise lebten.[...] Es fiel mir übrigens in Ratibor wie auch schon bei früheren Reisen auf, wieviel Polnisch man auf den Straßen hörte, viel mehr als in der offiziellen Deutschtumspropaganda zugegeben wurde. Von Ratibor fuhr ich umittelbar nach Gleiwitz über die bekannte Umsteigestation Kandrzin, die heute Heydebreck heißt 43 . In Gleiwitz sprach ich in der Humanitas-Loge über Rathenau. Ich wohnte damals bei Dr. Alfred Mamlok, einem Verwandten aus der Zeit meiner ersten Ehe, der sich immer sehr treu und anhänglich gezeigt hat. Damals war in Gleiwitz Dr. Ochs Rabbiner, mit dem ich später am Jüdisch-Theologischen Seminar zusammen amtierte. Nach dem Vortrag besichtigten wir noch das große palastartige Hotel „Haus Hindenburg", das in Gleiwitz errichtet worden war. In Breslau begannen nun zwei Kurse, die ich abzuhalten hatte. In der jüdischen Volkshochschule war es ein Geschichtskurs und in der allgemeinen Volkshochschule ein Kurs über Karl Marx. Hier hatte ich wieder eine sehr große Anzahl von Hörern. Es lag übrigens im Zuge der Zeit, daß ich in dem letzteren Kursus auch die Gegenwartsfragen erörterte. Die Hörer hatten diesen Wunsch, die brennenden Probleme des Tages zu besprechen. Selbstverständlich habe ich dabei immer auf das strengste darauf geachtet, daß das akademische Niveau gewahrt blieb und nicht der Ton der Straße hineinkam. Neben meinem laufenden Kursus in der Städtischen Volkshochschule wirkte ich auch an einem eigenartigen Experiment mit. Die Leitung der Volkshochschule hatte sogenannte kontradiktorische Abende veranstaltet, in denen zwei Vertreter jüdischer Anschauungen, gewissermaßen wie in einem Boxkampf, aufeinander losgelassen wurden. An dem Abend, an dem ich mitzuwirken hatte, muß sich herumgesprochen haben, daß eine Sensation bevorstand, denn der Raum im Zwingergymnasium, das damals am Zwingerplatz beheimatet war, war außerordentlich überfüllt. Zu ernster geistiger Mitarbeit kamen meine geliebten Mitjuden nicht so zahlreich wie zu etwas Sensationellem. In dieser Beziehung wurden sie übrigens sehr enttäuscht. Ich vertrat an diesem Abend die zionistische Weltanschauung, und mein Gegner war Dr. Ernst Fränkel, der seinerzeit Kandrzin war 1934 nach dem bekannten Annabergstürmer in Heydebreck umbenannt worden. Ein Vierteljahr später wurde SA-Führer Peter von Heydebreck von der SS ermordet. 43
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im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten eine Rolle spielte, und der den Standpunkt der Assimilationsideologie einnahm. U m dem Abend alles Sensationelle zu nehmen, hatten wir trotz aller Schärfe der verschiedenen Weltanschauungen vorher das zu Sagende in großen Zügen festgelegt. Herr Dr. Fränkel hat dann später, wie so viele andere, unter der Wucht der Ereignisse seinen Standpunkt geändert und nach 1933 dem Zionismus größeres Verständnis entgegengebracht. Unter den Hörern dieses Abends befand sich, abgesehen von meiner Frau und meinem ältesten Sohn, unter anderem auch Dr. Franz Meyer, der nach 1933 eine Zeitlang in der Führung des deutschen Judentums eine Rolle spielte 44 . Er ist von Seiten des Zionismus in die vorderste Linie gerückt worden und hat dadurch auch die Möglichkeit zu seiner Alijah bekommen. Die theoretische Grundlegung dürfte er sich zum Teil bei mir geholt haben, wie es häufig überhaupt mein Schicksal war, daß ich Anregungen ausstreuen konnte und daß andere von ihnen den äußeren Nutzen hatten. Aber da ja unser Lehrer Moses ein ähnliches Schicksal hatte, befinde ich mich wenigstens nicht in schlechter Gesellschaft. Daß dieser Winter ein sehr erregter werden würde, dafür war das Sturmzeichen die Antrittsvorlesung, die mein ehemaliger Schüler Ernst Cohn als ordentlicher Professor der Rechte zu halten hatte. Man hatte übrigens immer betont, daß man gegen ihn persönlich nichts hätte, daß man aber eine weitere Verjudung der Universität vermeiden wollte. Es haben sich in zunehmendem Maße die unwahrscheinlichsten Szenen abgespielt. Über diese Dinge habe ich auch mehrfach in der jüdischen Presse berichtet 45 . Einem meiner früheren Schüler namens Goldschmidt ist bei dieser Gelegenheit das Nasenbein zerschlagen worden. Man fühlte, daß man in eine Zeit hineinkam, in der Gewalt ein nicht zu unterschätzendes Argument darstellen sollte. Es mag aber auch hier mit dieser Andeutung genügen, für mehr ist die Zeit noch nicht reif. Mit besonderer Liebe habe ich immer die Vorträge in den Kleinstgemeinden gepflegt. So fuhr ich gern wieder einmal nach Neumarkt, einer der kleinsten Gemeinden in der Umgegend von Breslau. Ich sprach dort über den Judenhaß im Lichte der Geschichte und mußte, ehe der Vortrag Franz (Eliezer) Meyer (1897-1972) war Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Breslau und von 1933-1939 Geschäftsführer der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland" sowie der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland". E r wanderte 1939 nach Palästina aus. 4 5 Vgl. dazu oben S. 607. SV N r . 389, 390. 44
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begann, eine ganze Zeit im „Gasthaus zum alten Gottlieb" warten. In diesen kleinstädtischen Gasthäusern habe ich oft recht gern gesessen. Die Hetze der Großstadt klingt dann allmählich ab. Es war nett, die kleinstädtischen Typen zu beobachten. Als ich abends zurückfuhr, wurde ich unfreiwillig Zeuge eines Gespräches zwischen zwei Studenten, in dem der eine der Meinung Ausdruck gab, man müsse alle Juden auf einem Platze zusammentreiben und dann verbrennen. Wenn ich mir diese Äußerung in meinem Tagebuche festgehalten habe, so wohl deshalb, weil sie charakteristisch ist für den Geist der Zeit und vor allem für die Gesinnung der jungen Generation. Ein anderes Mal war ich in jenen Wochen in Hindenburg, wo ich über das Deutschland-Spanien-Thema sprach. Die Loge, in deren Rahmen ich den Vortrag zu halten hatte, war damals in dem geradezu fürstlichen Monopolhotel untergebracht. [...] Wieder ein anderes Mal sprach ich in Bunzlau, wo ich über die Lage des deutschen Judentums zu referieren hatte. An jedem einzigen Abend habe ich mich immer sehr verausgabt, und wenn ich auch häufig ungeheuer erschöpft war, so bedauere ich doch nicht, daß ich das getan habe. Die Kraft, es durchzuhalten, nahm ich aus dem Schöße der Familie, dem alten Hort unseres Judentums. Wieder einmal war Ruths Geburtstag (sie war nun schon acht Jahre alt), und wir hatten die Freude, manche ihrer kleinen Freundinnen bei uns zu sehen. Die zionistischen Bünde brachten damals in einem Kino auf der Gartenstraße ein großes Stück heraus, das in einer Bilderfolge von Sprechchören umrahmt war. Es hieß „Die einzige Lösung", wollte die Judenschaft aufrütteln und zu einem konstruktiven, zionistischen Plane bringen. Einige der Verse, die damals vorgetragen wurden, sind mir etwa in Erinnerung geblieben. Der Gedanke war der: Ihr verdrängt uns von den Plätzen, und geht es-schief, so heißt es: Juden raus. Das Publikum folgte damals mit großem Verständnis; aber die Masse der Breslauer Juden (es dürften damals wohl mindestens 20.000 gewesen sein) fühlte sich in ihren Positionen noch ganz geborgen und glaubte, mit dem Optimismus an der falschen Stelle, daß sich alles schon wieder einrenken würde. Daß wir so spät zu der konstruktiven Lösung des Herzischen Zionismus gekommen sind, das ist der große Vorwurf, den wir uns zu machen haben. Meine Jungens waren mit Leib und Seele bei der Sache. Für Ruth waren die beiden großen Brüder ein solches Vorbild, daß sie ganz von allein in diese Gedankenwelt hineingekommen ist, die dann ihr Leben bestimmte. Die hebräischen Chöre, die wir hörten, zeigten uns, daß die alte Sprache zu neuem Leben erwacht war. Mich haben solche Stunden
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immer gewaltig gepackt und mir die Kraft gegeben, für die Idee zu werben. Von allen Seiten kamen damals Einladungen zu Vorträgen. Auch nach 1933 habe ich noch bis zum 9. November 1938 sehr viel sprechen können46. Seitdem aber bin ich verstummt. So sprach ich einmal in der Spinoza-Loge über Höhe- und Wendepunkte in der Weltgeschichte47. Da dieser Vereinigung einige christliche Mitglieder angehörten, vermied sie in jenem Winter noch die jüdischen Themen. Später ist das dann anders geworden. [...] Am 12. Dezember [1932] feierte ich meinen 44. Geburtstag. Im Hinblick auf den Ernst der Zeit hatten wir von einer größeren Feier, die ich ja auch sonst kaum veranstaltet habe, Abstand genommen. Die Kinder schenkten mir für meine Briefmarkensammlung die Wohlfahrtsmarken, die jedes Jahr herauskamen. Der Tag brachte mir als das schönste Geburtstagsgeschenk einen Erfolg eigener Art. Ich sprach das erste und einzige Mal in meinem Leben im Verein für Geschichte Schlesiens48. Der Abend wurde von dem Direktor des Breslauer Staatsarchivs, Dr. Dersch, geleitet. Als Thema behandelte ich das Judentum in der Geschichte Schlesiens. Ich sprach vor einer überwiegend christlichen oder, wie man heute sagen muß, arischen Zuhörerschaft. Die Gedankengänge, die ich entwickelte, waren in diesem Kreise neu. Irgendeine Opposition kam in der Diskussion nicht zum Ausdruck. Es fiel mir aber auf, daß einer der Hörer mit dem Kopf schüttelte. Das mag wohl einer von denen gewesen sein, deren nationalsozialistische Grundanschauung mit meinen Darlegungen nicht übereinstimmte. In diesen Kreisen hatte sich schon damals die Auffassung gebildet, die immer wieder in Wort und Schrift vertreten wurde, daß die Juden für Schlesien durchaus schädlich gewesen sind. Professor Dersch hat aus der Tatsache, daß er mich noch so kurz 46 Auf Anordnung des Propagandaministeriums vom 3. Oktober 1938 mußten alle Texte von Vorträgen für jüdische Veranstaltungen eingereicht und genehmigt werden, vgl. J. Walk (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Heidelberg 1981, S.244. 47 Die Spinoza-Loge befand sich in Berlin. 48 Vgl. den Jahresbericht des Vereins für Geschichte Schlesiens. Dort ist das Vortragsthema angeführt: „Das Judentum in der Geschichte Schlesiens von seinen Anfängen bis zum Wiener Kongreß". Schlesische Geschichtsblätter 26 (1933), S. 42.
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vor dem Umbruch sprechen lassen hat, sehr viel Ärger erfahren und ist dann von Breslau fortversetzt worden 49 . Vielleicht würde ich heute sogar, wenn ich noch einmal Gelegenheit hätte, über dieses Thema zu sprechen, auf Grund dessen, was ich im Laufe der Jahre gelernt habe, manches anders darstellen. Doch entsprach das, was ich damals vortrug, dem Stande meiner Forschungsergebnisse. Der Vortrag fand in einem Auditorium der Universität statt und war dadurch für mich doppelt erfreulich. In so einem Augenblick sagte ich mir, und es soll dies ja nicht unbescheiden klingen, ich hätte dort vielleicht doch als Lehrer wirken können. Übrigens habe ich immer, wenn ich mit akademischen Kreisen in Verbindung trat, und das war im Laufe dieser Jahre sehr häufig geschehen, das Gefühl gehabt, als durchaus gleichwertig behandelt zu werden. Für diese Behauptung gilt nur die Ausnahme der jüdischen Professoren. Sie betonten gerne die Distanz. Meine Frau hatte seit einigen Jahren sehr hübsche gemalte Bilderbücher angefertigt; das erste Mal hatte sie einen Versuch für Ruth gemacht, als diese noch ganz klein war. Es waren unzerreißbare Bilderbücher. Später hatte sie dann noch mehrere davon hergestellt, und es waren einige sogar verkauft worden. Hätte sie Zeit gehabt, das auszubauen, so wäre daraus sicherlich etwas zu machen gewesen; aber die Pflichten einer Mutter gehen ja nach einer anderen Richtung. [...] Nach dem Gesetz der Duplizität hatte ich damals noch einen zweiten wissenschaftlichen Vortragserfolg. Ich sprach in der Historischen Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur über „Die Hohenstaufen im Urteile Dantes". Es war das Thema, welches ich in der Arbeit für das Dante-Jahrbuch zu behandeln hatte. Professor Andreae leitete die Sitzung. Er sagte mir nach dem Vortrag, daß ich in der historischen Sektion die größte Präsenz jenes Winters gehabt habe. In der Regel nahm nur ein kleiner Kreis an diesen Abenden teil, die ja fachwissenschaftlichen Charakter hatten. Eine Diskussion kam nicht zustande, war auch nicht zu erwarten, da bei solchen Vorträgen schließlich nur der Referent über die 49
Vgl. oben S. 514. Aus den Personalakten des Staatsarchivdirektors Wilhelm Dersch (1877-1942) im Landeshauptarchiv Koblenz (Best. 417 Nr. 7-12) lassen sich Cohns Vermutungen nicht bestätigen. Danach hatte Dersch seine am 1. April 1935 erfolgte Versetzung an das Staatsarchiv Koblenz aufgrund „gesundheitlicher Schädigungen seiner Familie" selbst beantragt. In Koblenz trat Dersch am 30. 9. 1938 in den Ruhestand und starb am 12. 8. 1942 in Darmstadt. Freundliche Auskunft des LHA Koblenz vom 25. 3. 1993.
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Literatur im Bilde ist. Der einzige, der nachher etwas zu meckern hatte, wie der Berliner sagt, war der jüdische Professor Koebner, der meinte, daß die Problemstellung nicht richtig gewesen wäre. Uns Juden fällt es offenbar außerordentlich schwer, einen Erfolg eines Rassegenossen anzuerkennen, wenn man auf demselben Gebiete arbeitet. Von dieser Behauptung gibt es wohl nur die eine Ausnahme, daß wir, wenn es sich um eine große Kanone handelt, um eine Persönlichkeit wie Einstein, gern mit ihr nach außen renommieren und dann oft mehr übertreiben, als es der Sache dienlich ist. Wie alles, was sich über unser Schicksal sagen läßt, hängt auch dies wohl mit unserer anormalen Situation unter den Völkern zusammen und würde sich erst ändern, wenn wir in Palästina ein gänzlich in uns selbst verankertes Volk sein werden. So kamen wieder die Weihnachtsferien heran und mit ihnen für mich eine erneute Reise in mein geliebtes Ostpreußen. Meine Frau fuhr mit ihren Eltern nach Krummhübel ins Logenheim; Ernst fuhr mit seiner neuen Skiausrüstung ins Riesengebirge, und Wölfl saß über seiner Vorbereitung zur Reifeprüfung. Ich sprach mit ihm noch eingehend über seine Zukunft. Wir dachten, daß er erst sein Studium in Deutschland absolvieren sollte und dann nach Palästina gehen würde. Nun, sein Studium hat er außerhalb von Deutschland vollendet, aber die palästinensische Zukunft wird ihm hoffentlich, wenn die Zeitverhältnisse wieder ruhiger geworden sind, noch einmal winken. Der Rektor an der jüdischen Volksschule, Herr Feilchenfeld, sollte seine Mittelschullehrerprüfung ablegen. Es war üblich, daß man dazu das wissenschaftliche Thema, das man bearbeiten sollte, selbst nannte. Er besprach sich darüber mit mir und wählte auf meinen Rat als Thema: „Die Judenpolitik Friedrichs des Großen". So ist eine Arbeit über diesen wichtigen Gegenstand erschienen, die allerdings leider nicht das Licht der Druckerschwärze erblickt hat. Ich habe die Entstehung dieser Arbeit sorgsam überwacht. Herr Feilchenfeld hat auch seine Mittelschullehrerprüfung ordentlich bestanden. Dann also saß ich wieder in der Eisenbahn zu der langen Fahrt nach Nordosten. Sie vollzog sich in der nun schon oft geschilderten Weise. Ich will deswegen nur erwähnen, was als Neues hinzukam. Zunächst fiel mir auf, wie trostlos die Wirtschaftskrise auf das Leben dort oben gewirkt hatte. Der Verkehr war noch weiter zurückgegangen, und man hatte durchaus die Empfindung, daß es so nicht weitergehen
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könnte. Es ist wichtig, das zu betonen, weil sich vor allem daraus die Tatsache der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus erklärt. Bei der Anfahrt nach Marienwerder mußte ich nachts sehr lange im Wartesaal von Riesenburg sitzen. Unter dem Weihnachtsbaum kam ich mit dem Bahnhofswirt und mit einem Eisenbahnbeamten ins Gespräch, das sich vor allem um diese Wirtschaftskrise drehte. In jeder Zeitepoche gibt es eben ein Gespräch, das alle anderen überdeckt. In Marienwerder war ich bei dem Studiendirektor Professor Dr. Schumacher zum Mittagbrot eingeladen. Ich lernte dort auch seine sehr nette Tochter, eine Architekturstudentin, kennen. Professor Schumacher bat darum, zu meinem Vortrag am Abend im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten eingeladen zu werden. Das geschah natürlich auch und war in der kleinen Gemeinde geradezu eine Sensation. Direktor Schumacher galt in Marienwerder als eine der Spitzen der Behörden. Ich sprach an diesem Abend über das Geheimnis der Erhaltung des Judentums. Es ist ja selbstverständlich, daß ich mich auch durch die Anwesenheit eines Außenstehenden in keiner Weise in bezug auf das, was ich sagen wollte, beeinflussen ließ. Interessant ist aber, wie die Anwesenheit des Direktors auf die Juden von Marienwerder wirkte. Es war natürlich vorher verbreitet worden, daß er erscheinen würde, und mit Rücksicht darauf kamen meine teuren Glaubensgenossen ganz pünktlich. Im allgemeinen pflegen sie nämlich unpünktlich zu sein, wovon nur die Beerdigungen eine Ausnahme machen. Zwischen den Stuhlreihen lief auch einer der Herren auf und ab und sorgte für Ruhe und Ordnung. Auf der einen Seite mußte ich innerlich schmunzeln; auf der anderen Seite empfand ich es doch als traurig, daß wir auf solche Dinge erst achten, wenn eine Fremder dabei ist. Hoffentlich wird auch das einmal in einem normalen Volke anders. Ich fand übrigens die Geste von Direktor Schumacher sehr anständig. Die Zeiten waren doch schon recht kritische. Im allgemeinen fing man bereits an, von den Juden abzurücken. Er aber wollte betonen, daß er seine Stellung zu einem jüdischen Gelehrten, dessen Arbeiten er schätzte, nicht änderte. Er hat das übrigens auch später nicht getan. Von Marienwerder ging es zunächst nach Marienburg. Wieder hatte ich Zeit, über die Nogat zu gehen und von Kalthof im Freistaate Danzig die Burg der Deutschordensritter als Gesamteindruck auf mich wirken zu lassen. In Kalthof fiel mir das Folgende auf: Unmittelbar hinter der deutschen Reichsgrenze hatte sich eine ganze Zeltstadt von Danziger Lebensmittelhändlern niedergelassen. Die Einwohner von Marienburg
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kauften jenseits der Grenze ein, weil es hier erheblich billiger war. In Marienburg selbst war infolgedessen unter den Lebensmittelhändlern noch eine besondere Not. Danzig gehörte bekanntlich zum polnischen Zollgebiet. Der Danziger Gulden war von dem Zloty abhängig, und so war für diejenigen, die Reichsmark besaßen, alles sehr billig. Diese unerfreulichen Dinge sind jetzt alle längst verschwunden, und im Augenblick dürfte es sowohl in Kalthof als auch in Marienburg nicht allzuviel zu kaufen geben. Ich war froh, daß ich diesen kurzen Aufenthalt in Marienburg hatte machen können, um mich noch einmal mit dem Geiste des Deutschen Ordens zu erfüllen, denn auf dieser Vortragsreise hatte ich auch über Hermann von Salza zu sprechen. Zunächst aber ging die Fahrt nach Elbing, wo ich von einem jungen Arztehepaar, Dr. Lauter, betreut wurde. Der Arzt Dr. Levy, der das sonst immer getan hatte, hatte sich leider vor einigen Monaten das Leben genommen. Er war ein überaus wertvoller Mensch. Ich sprach hier über den schon geschilderten Vergleich zwischen Spanien und Deutschland. Froh war ich, daß mir der Aufenthalt in Elbing auch die Möglichkeit gab, tüchtig zu laufen. Ich sah auf einem Spaziergang mit Dr. Neufeld den Neubau der Akademie. Es war viel in Elbing gebaut worden. Vielleicht ist es gut, das heute zu betonen, weil jetzt in der Presse so häufig die Meinung vertreten wird, daß in der sogenannten Systemzeit nichts getan worden ist. Von Menschen, die ich damals noch kennenlernte, möchte ich das Arztehepaar Dr. Weisbrem erwähnen und die Schwester von ihm, Frau Eliasberg, die Frau des mir bekannten Verlegers des Weltverlages. In Elbing hatte ich auch noch ein zweites Mal zu sprechen, und zwar in der Menorah-Loge. Dieser Name kam sowohl im deutschen wie im tschechischen Distrikt des Ordens Bne Brith vor. Unwillkürlich dachte ich an die Menorah-Loge in Trautenau, wo ich ja häufiger Gast war.
An einem der Vortage arbeitete ich noch in der Elbinger Stadtbibliothek. Bei dieser Gelegenheit vereinbarte ich mit dem Direktor Dr. Bauer meinen Vortrag über Hermann von Salza für den 7. Januar 1933. Dr. Bauer war auch so gütig, mit mir einen historischen Spaziergang durch die Stadt zu machen, bei dem ich selbstverständlich sehr viel mehr sah, als ich allein gesehen hätte. Wir besichtigten die evangelische Marienkirche, eine alte Deutschordenskirche, und dann die katholische Nicolaikirche. Diese interessierte mich deswegen besonders, weil sich hier eine Reliquie befand, die Hermann von Salza dem Deutschen Orden geschenkt hatte. Es war ein Splitter des sogenannten heiligen Kreuzes.
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Der Aufenthalt in Elbing fiel in die letzten Tage des Chanukkafestes. Den allerletzten Abend verbrachte ich im Hause des Rabbiners. Es war ein Abend mit Niveau. Nach dem Abendbrot wurde vorgelesen, und zwar aus den Chazarenbriefen. Am nächsten Tage war ich bei Frau Neumann eingeladen, einer Dame, die sich besonders um den Elbinger Literaturverein kümmert. Aber das war nicht ihr einziges Verdienst. Ein größeres Verdienst war es, daß sie eine entzückende achtzehnjährige Tochter hatte, mit der ich mich sehr anfreundete. Ich half ihr auch etwas bei den Vorbereitungen zu ihrem demnächstigen Abiturium. Auf diesem Gebiete hatte ich ja Erfahrungen, wenn auch nicht nur auf diesem Gebiete. Da ich ja noch einmal auf der Rückreise nach Elbing zu kommen hatte, so freute ich mich ganz besonders darauf. Es war der 31. Dezember 1932, der Silvestertag. Aber während ich die letzten Silvesterabende immer in vergnügter Gesellschaft in Lyck verbracht hatte, feierte ich diesen Abend ganz einsam, das heißt, ich zog mich früh in mein schönes Hotelzimmer zurück. Es war vielleicht kein Zufall, daß ich damals das von Dr. Neufeld geliehene Buch „Der jüdische Krieg" von Lion Feuchtwanger las50. Ich hörte vom Bett aus die Glocken, die dieses Jahr hinausbegleiteten, und ich sah auf dem Platze vor meinem Hotel den großen Weihnachtsbaum, den die Stadtverwaltung elektrisch beleuchtete. Wenn ich sagte, es sei kein Zufall gewesen, daß ich dieses Buch las: das Jahr 1933 sollte den größten jüdischen Krieg bringen, den die Weltgeschichte bisher gesehen hatte, aber nicht in dem Sinne, wie es heute sehr häufig in der nationalsozialistischen Presse behauptet wird, daß das Judentum einen Krieg gegen die ganze Welt führt, sondern gerade im umgekehrten Sinne, daß es ein Krieg ist gegen das Judentum, der jetzt schon über acht Jahre dauert und der gewaltige Opfer gekostet hat. Wir alle ahnten an diesem Silvesterabend gewiß nicht die Einzelheiten dessen, was uns bevorstand, aber das Gefühl, daß etwas Besonderes in der Luft lag, hatten wir wohl alle. Solange es jüdische Menschen auf dieser Erde geben wird, wird diese Jahreszahl 1933 stets einen besonderen Klang haben. [...] Dann fuhr ich weiter nach Tilsit. Dieser Ort war für mich neu. Hier hatte ich noch niemals gesprochen und deswegen möchte ich etwas näher darauf eingehen. Der Leiter des dortigen jüdischen Lebens war der Rabbiner Rösel. Er war eine Persönlichkeit, die mir sehr lag, ein ernster
50
L. Feuchtwanger: Der jüdische Krieg. Berlin 1932.
Unter dem Zeichen Amaleks (1931-1933)
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Mann, dem alles Eitle fehlte, das man gar nicht so selten bei Rabbinern und wohl auch bei anderen Kanzelrednern findet. Ich sprach in Tilsit in den Räumen der Loge „Zu den drei Erzvätern". Auch diese Loge gehörte zum Orden Bne Brith, und sie verfügte über ein wundervolles Gebäude, das der bekannte Architekt Mendelsohn gebaut hat. Am Nachmittag sollte ich eigentlich noch an einem Kaffee teilnehmen, aber ich lehnte ab. Wenn man eine anstrengende Eisenbahnfahrt hinter sich hat und abends sprechen soll, so ist es besser, wenn man vorher in der Einsamkeit des Hotelzimmers noch einmal die nötige Sammlung findet. Am Abend aber mußte ich an einem Essen im kleineren Kreise teilnehmen. Dieses Abendbrot war schon etwas nach russischer Art, befanden wir uns ja dicht an der Grenze des Deutschen Reiches. Auch in meinem Tilsiter Vortrag behandelte ich das Spanien-Thema. Interessanterweise bestand ein großer Teil der Hörer aus Nichtjuden, die mit aufrichtigem Interesse folgten. Eine Diskussion war nicht vorgesehen. Bekanntlich gibt es in jedem Auditorium Zyniker und Kopfschüttler. Die ersteren haben übrigens nichts mit der griechischen Philosophie zu tun, sondern es sind Zunicker, die dem jeweiligen Vortragenden zunicken. Unter den Kopfschüttlern jenes Vortragsabends befanden sich einige CV-Leute, das heißt Juden, die dem Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens angehörten, den assimilatorischen Standpunkt vertraten und deswegen mit meiner zionistischen Grundeinstellung nicht einverstanden waren. Meist waren es Rechtsanwälte, die wohl für ihre Existenz fürchteten. Ihre letzten Endes ziemlich beschränkte Auffassung hatte sie dann doch nicht vor dem Verhängnis des nächsten Jahres bewahren können. Ich persönlich konnte auch diesen Abend als einen Erfolg buchen. Der nächste Tag brachte mir dann noch einen Eindruck besonderer Art. Ich besorgte mir einen Ausweis, um über die Luisenbrücke nach Übermemel gehen zu können. Der Sohn des Rabbiners Dr. Rösel begleitete mich dabei. Übermemel gehörte schon zu Litauen. Genau in der Mitte der Luisenbrücke befand sich die Reichsgrenze; hier war der Reichsadler angebracht und auf der anderen Seite der litauische Reiter. Das war das Wappensymbol des litauischen Staates. Das Pferd stieg auf den Hinterfüßen in die Höhe. Die Bösartigen pflegten zu sagen, das sei deswegen der Fall, weil der litauische Staat so klein wäre, daß das Pferd nicht mit allen vier Hufen die Erde betreten könnte. Doch das letztere scheint mir mindestens stark übertrieben zu sein. Hier an der Luisenbrücke konnte ich ähnliches beobachten wie an der Nogatbrücke bei Marienburg. Die Lebensmittelpreise in Litauen waren noch geringer als die Lebensmittelpreise im polnischen Zollgebiet. So
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X. Kapitel
konnte man auch hier ganze Karawanen von Hausfrauen sehen, die über die Luisenbrücke pilgerten, um ihre Einkäufe zu machen. Im kleinen Grenzverkehr war nämlich erlaubt, gewisse Mengen einzuführen. Wir delektierten uns auf litauischer Seite an der herrlichen koscheren Wurst und sahen uns den Betrieb dort an. Sehr viele jüdische Händler hatten ihre Stände dort aufgebaut. An dieser Stelle floß die Memel noch als einheitlicher Strom; acht Kilometer abwärts teilte sie sich dann in die beiden Mündungsarme der Gilge und Ruß. Auf dem Rückweg sah ich noch auf deutscher Seite die litauische und deutsche Kirche. Damals wohnten auch noch auf deutschem Boden Menschen litauischer Zunge. Es kann sein, daß diese in den letzten Jahren im Zuge der Aussiedlung der Minderheiten aus Deutschland hinausmußten. Wieviel Leid sich hinter diesen Aussiedelungen verbirgt, wird erst eine spätere Zeit zu erforschen haben. Und dann fuhr ich wieder nach Memel, wo alles so war wie bei meinem früheren Aufenthalte. Wieder wohnte ich bei dem Zahnarzt Jakobsohn. Ein jüdischer Studienassessor Güttkin begleitete mich auf meinen Spaziergängen. Ich wanderte wie stets zum Meer hinaus, wo ich diesmal ein besonderes Schauspiel genießen konnte. Ein lettisches Schiff war gestrandet und saß schon seit längerer Zeit auf dem Sande fest. Man erzählte mir, daß die Versicherungsgesellschaft mehrere tausend Dollar geboten hatte, um das Schiff wieder flott zu bekommen. Es fiel mir auf, daß das Schiff weiter bewohnt wurde. Das geschah wohl auch deshalb, weil es sonst als Strandgut behandelt würde. Reminiszenzen marinerechtlicher Art stiegen auf, von Studien her, die ich einst getrieben hatte, als ich mich mit dem Seerecht der Normannen beschäftigte. [...] Abgesehen von dem Vortrag war ich noch zu einer Teegesellschaft im Hause des Herrn Altschul geladen, wo ich im Zusammenhang über die Lage der Juden in Deutschland referieren sollte. Man verfolgte dort natürlich, auch wenn man so weit im Norden und außerhalb der Reichsgrenzen wohnte, mit brennendstem Interesse und großer Teilnahme alles, was mit dem Schicksal der Glaubensbrüder in Deutschland zusammenhing. Ich konnte nur objektiv erzählen, wie die Lage war und welche Befürchtungen man hegte. In Elbing [...] hatte die Elbinger Altertumsgesellschaft zu meinem Vortrag über Hermann von Salza geladen. Es war außerordentlich voll, über achtzig Menschen füllten den Raum; das ist für einen fachwissenschaftlichen Vortrag sehr viel. Auch dieser Abend war ein voller Erfolg.
Unter dem Zeichen Amaleks (1931-1933)
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Ich habe über eine Stunde frei gesprochen. Im allgemeinen ist es ja bei wissenschaftlichen Vorträgen üblich, daß man sich an ein Konzept hält. Aber in meinen Hermann von Salza war ich ja nun im Laufe der Jahre so hineingewachsen, daß ich glaubte, davon absehen zu können. Dieser Abend war gewissermaßen der Schwanengesang meiner Vorträge in nichtjüdischen Kreisen, wenigstens was die Wissenschaft im großen anbelangt. Es müßte denn sein, daß in späterer Zeit sich die Lage noch einmal gänzlich ändert. [...] An den Vortrag schloß sich dann noch ein Zusammensein im Centralhotel an, wo sich dann noch die geistigen Größen Elbings, soweit sie geschichtlich interessiert waren, versammelt hatten. Ich unterhielt mich besonders mit Professor Carstenn, der mir schon lange wissenschaftlich verbunden war. Von Elbing ging es dann zur letzten Etappe der Vortragsreise nach Osterode. [...] Der alte Herr Samulon in Osterode war tot, aber in unveränderter Schönheit prangte der Drewenzsee, über den ich einstmals mit dem Verstorbenen gewandert war. Hier in Osterrode kümmerte sich besonders der mir sehr sympathische Prediger Mannheim um mich, der mich auch für die Rückreise mit einem außerordentlichen für die lange Fahrt durch Polen ausreichenden Futterpaket versah. [...] Wissenschaftlich fand ich einen sehr erfreulichen Auftrag vor. Für ein im Breslauer Volkswachtverlage erscheinendes Handwörterbuch des deutschen Volkshochschulwesens sollte ich einen Aufsatz über August Bebel schreiben. Der Auftrag kam mir nicht ganz im richtigen Augenblick, denn das neue Vierteljahr versprach auch sonst sehr arbeitsreich zu werden. Doch habe ich es geschafft und die Arbeit fristgemäß abgeliefert51. Bald nach meiner Rückkehr mußte ich im jüdischen Mittelstandsverein in Liegnitz sprechen, aber so eine kleine Reise zählte ja kaum, wenn man eben erst eine so große Reise gemacht hatte. Ernst wirkte in einem Abschiedsabend für Chaluzim mit. Am Schluß dieses Abends wurde mit Hingebung Horrah getanzt, jener fortreißende jüdische Tanz, den ich dann auch noch in Palästina öfters sehen durfte. Ruth probte zur Feier des 15. Schewat. Sie kam also auch schon frühzeitig in das zionistische Leben hinein, und sie war überhaupt bald das jüngste Mitglied des Bundes Habonim52, der an die Stelle des jungjüdischen Wanderbundes getreten war. Ernst ging noch einmal Skifahren, Wölfl stand kurz vor der schriftlichen Prüfung und war schon etwas 51 52
Vgl. SV Nr. 383. „Habonim" hebr. Bauleute, 1932 gegründeter zionistischer Jugendverband.
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aufgeregt, obwohl er eigentlich keine Veranlassung dazu hatte, denn an dem Bestehen der Prüfung bestand gar kein Zweifel. Im Humboldtverein hatte ich einen Kursus zu übernehmen, der noch einmal sehr gut besucht war. Alle diese kleinen Ereignisse meines persönlichen Lebens aber wurden von der Tatsache überdeckt, daß am 30. Januar 1933 Adolf Hitler Deutscher Reichskanzler wurde. Mit diesem Datum habe ich auch die Grenze dessen erreicht, was ich hier zu erzählen beabsichtige. Gewiß, was ich von jenem Tage an bis 1940 erlebt habe, ist nicht minder bedeutsam als das, was ich vorher erlebte. Aber es will mir scheinen, als ob die Zeit noch nicht reif wäre, dies darzustellen, und ich weiß nicht, ob ich noch Kraft und Zeit haben werde, dies später zu tun. Doch bin ich dankbar dafür, daß ich dies Buch unter den nicht leichten Verhältnissen in den Jahren 1940 und 1941 schreiben konnte und daß mir G'tt die Kraft zu seiner Vollendung gab.
Zawiane wiaprem historii slady W s p o m n i e n i a o w r o c t a w s k i c h Z y d a c h p r z e d ich zagiad Brünn Bromberg (poln. Bydgoszcz) 576 Broumov —> Braunau Brückenberg (poln. Bierutowice) 62, 301, 366, 418, 465f, 500", 625 Brünn (tschech. Brno) 430 Brustawe, seit 1937 Eichensee, Kr. Militsch (poln. Brzostowo) 560 Brzeg —> Brieg Brzeg Dolny —» Dyhernfurth Brzostowo —> Brustawe Buchen 401 Buchenwalde (poln. Bartkow) 265 Buenos Aires 23 Bunzlau (poln. Boleslawiec) 84, 278, 654 Bürstadt 614" Bydgoszcz —> Bromberg Bygdö 500, 502 Bystrzyca Ktodzka —> Habelschwerdt Bystrzyca —> Peisterwitz Bytom —> Beuthen O.S. C Catania 7, 392, 454, 455, 457, 459, 595, 631, 647, 649 Caux 143 Cefalü 453 Cernäup —> Czernowitz Cernivci —> Czernowitz
Ortsregister Charleville 245 Chäteau-Thierry 229,255f, 258f, 422f Chelmsko Sl^skie —> Schömberg Chojnice Könitz Chorzów—) Königshütte Cieplice Slgskie Zrój —» Bad Warmbrunn Citeaux 464 Como 113 Cosel (poln. Kozle) 489 Crossen (poln. Krosno Odrzanskie) 408 Cukmantl —* Zuckmantel Czechy —> Friedrichsroda Czermna —» Tscherbeney Czernowitz (rum. Cernäuji, ukrain. Cernivci) 338, 417 Cz^stocice —> Günthersdorf D Danzig (poln. Gdansk) 402, 413,477, 501, 579 Darmstadt 129f, 384, 485*, 656* Davos 408* Deutsch-Eylau (poln. Itawa) 581,617 Dirschau (poln. Tczew) 413, 576 Dittersbach, Kr. Sprottau (poln. Dzietrzychowice) 137 Dobromierz —» Hohenfriedeberg Dolni Adrspach —> Nieder Adersbach Domanice —> Domanze Domanze (poln. Domanice) 419 Donkawe, seit 1937 Freihufen, Kr. Militsch (poln. Dunkowa) 561 Douai 232, 238 Dresden 43f, 63, 95, 97, 118, 318, 337f, 399, 494, 550 Dunkowa —» Donkawe Düsseldorf 134 Dyhernfurth (poln. Brzeg Dolny) 300, 552f Dzietrzychowice —» Dittersbach Dzikowiec —» Ebersdorf E Ebersdorf, Kr. Glatz (poln. Dzikowiec) 486 Eberswalde 318, 319
769
Eichensee —» Brustawe Eisenstadt 513 Elbing (poln. Elbl^g) 412-414, 419, 476, 528, 547, 576, 584, 617, 659, 660, 662f Elblag Elbing Elk —> Lyck Erdmannsdorf —> Zillerthal Essen 338 Ettersburg 98 F Flinsberg (poln. Swieradow Zdroj) 77 Florenz 148 Four-le-Paris 218 Frankenstein (poln. Z^bkowice Sl?skie) 638 Frankfurt a.O. 140, 163, 359f, 401f Frankfurt a.M. 4, 46, 63, 65, 69, 105, 225*, 300, 319-323, 338, 431, 549*, 607 Frauenburg (poln. Frombork) 478, 554 Frederikshall 503 Freiburg i.Br. 127 Freiburg i.Schl. (poln. Swiebodzice) 375 Freihufen —» Donkawe Friedland, Böhmen (tschech. Frydlant) 77, 609 Friedrichshafen 128f Friedrichshöh —> Wembowitz Friedrichsroda —> Friedrichsrode Friedrichsrode 91 Frombork —» Frauenburg Fünfteichen —> Meieschwitz Fürstenstein (poln. Ksi^z) 374f Fürth 493f G Gardelegen 267 Gdansk —> Danzig Gera 550 Gernrode 549, 550 Giardini 459 Giersdorf, Kr. Hirschberg Podgorzyn) 288, 406 Gießen 573*
(poln.
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Ortsregister
Gießhübel, Kr. Grulich (tschech. Olesnice) 569 Givet 244 Gizycko —> Lotzen Glatz (poln. Klodzko) 213, 503, 595f, 638 Gleiwitz (poln. Gliwice) 364, 367f, 407, 652 Gliwice —> Gleiwitz Glogau (poln. Giogów) 26, 539f Glogów - 4 Glogau Górka —> Gorkau Gorkau (poln. Górka) 392 Görlitz (poln. Zgorzelec) 40, 148, 343, 367 Göschenen l l l f Göteborg 503 Göttingen 436, 639, 641f, 644, 646 Graz 4 6 7 ' Greifswald 433, 501 Grenzeck —» Tscherbeney Groß Wartenberg (poln. Syców) 539 Groß Silsterwitz, seit 1937 Senkenberg (poln. Sulistrowice) 392 Groß-Gaglow 640 Groß-Görschen 193 Groß-Rosen (poln. Rogoznica) 279* Gnissau (poln. Krzeszów) 10, 433, 609 Guben (poln. Gubin) 402f Gubin —> Guben Gumbinnen (russ. Gussew) 618 Günthersdorf, Kr. Ohlau (poln. Cz§stocice) 570 Gurs 144' Gussew —> Gumbinnen Gvardejsk —» Tapiau H Habelschwerdt (poln. Bystrzyca Klodzka) 486, 562, 596 Haifa 363, 485", 572, 631 Halbstadt (tschech. Mezimésti) 609 Halle 327, 545-550, 584 Hamburg 101', 104, 134, 285', 347, 349, 400, 495 Hargicourt 232f Hausdorf, Kr. Waldenburg (poln. Jugowice) 395
Heidelberg 6, 54f, 97, 99-104, 106109, 113, 118, 122f, 126f, 131, 133135, 144f, 153, 155, 161, 179f, 182, 300, 323f, 332, 350, 375, 431, 463, 627, 641, 646 Heidelberg, Handschuhsheim 324, 447 Heinrichau (poln. Henryköw) 463 Helgoland 363 Henryköw —» Heinrichau Herculaneum 443 Herzogshufen —» Oltaschin Heydebreck O.S. —> Kandrzin Heydekrug (lit. Silute) 580 Hildesheim 643 Hindenburg —» Zabrze Hirschberg (poln. Jelenia Göra) 61, 78', 366, 406, 625f Hohenfriedeberg (poln. Dobromierz) 597 Hohensalza —» Inowraclaw Hohndorf (poln. Wyszki) 562f, 565, 595f, 598f, 603, 638 Horni Adrspach —> Ober Adersbach Hummelstadt —» Lewin Hünern, Kr. Trebnitz (poln. Psary) 420 I Ilawa - > Deutsch-Eylau Imbramowice Ingramsdorf Ingramsdorf (poln. Imbramowice) 419 Inowraclaw, seit 1904 Hohensalza (poln. Inowrociaw) 576 Inowroclaw —> Inowraclaw Insterburg (russ. Tscherjachowsk) 262-264, 414, 576
J
Jagniftköw —> Agnetendorf Janske Lazne Johannisbad Jaworzyna Sl^ska —> Königszelt Jedlina Zdröj —> Bad Charlottenbrunn Jelenia Göra —> Hirschberg Jena 98, 102, 350f, 354, 546, 593 Jerusalem 8, 38, 274', 275', 322', 323, 330', 382, 481, 567'
Ortsregister Johannisbad (tschech. Janske Läzne) 61, 522 Jugowice —* Hausdorf K Kahlberg (poln. Lysica) 528 Katdowo Kalthof Kaliningrad —> Königsberg Kalthof, Kr. Danzig (poln. Kaldowo) 658f Kamienna Gora —> Landeshut Kandrzin, Kr. Cosel, seit 1934 Heydebreck O.S. (poln. K?dzierzyn) 652 Karlovy Vary —» Karlsbad Karlsbad (tschech. Karlovy Vary) 156-159, 556 Karlsruhe 102 Karpacz —> Krummhübel Kassel 340, 513 Katowice —» Kattowitz Kattowitz (poln. Katowice) 368,387390, 404, 470, 514, 554 Kaunas (Kowno) 10 K?dzierzyn —> Kandrzin Kempen (poln. K§pno) 539 K?pno —> Kempen K?trzyn —> Rastenburg Kiel 266f Kischinew 60f Klaipeda —» Memel Klajpeda —> Memel Klecko —> Kletzko Klein Silsterwitz, seit 1937 Silingtal (poln. Sulistrowiczki) 392 Kletzko (poln. Ktecko) 357 Ktodzko Glatz Kluczbork —» Kreuzburg Koblenz 132f, 656* Kolberg (poln. Kolobrzeg) 71, 159f Köln 133f, 483* Kolobrzeg —» Kolberg Königsberg (russ. Kaliningrad) 226, 414, 512, 533, 576, 580, 582 Königshütte (poln. Krölewska Huta, seit 1934 Chorzöw) 389f, 437, 554 Königswinter 133 Königszelt (poln. Jaworzyna Sl|ska) 586
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Könitz (poln. Chojnice) 412 Konstanz 128f Kornsjö 503 Korschen (poln. Korsze) 581 Korsze —> Korschen Korzeniewo —> Kurzebrack Kotowice —» Kottwitz Kottwitz, Kr. Trebnitz (poln. Kotowice) 633 Kozle —> Cosel Kraftborn —» Tschechnitz Krakau (poln. Krakow) 473*, 516, 553-556, 557*, 558 Krakow —» Krakau Kraschnitz (poln. Krosnice) 560 Kreuzburg (poln. Kluczbork) 206 Krölewska Huta —> Königshütte Kronberg i. Taunus 321 Kronstadt (tschech. Kunstät) 563, 639 Krosnice —> Kraschnitz Krosno Odrzariskie —> Crossen Krummhübel (poln. Karpacz) 61f, 64, 288f, 366, 465-467, 515, 519, 625, 657 - , Oberkrummhübel 288, 341 - , Unterkrummhübel 61 Krzeszöw —» Gnissau Ksi^z —» Fürstenstein Kudowa Zdroj —> Kudowa Kudowa (poln. Kudowa Zdroj) 34, 299f, 318, 320, 344f, 372, 382, 395f, 403, 421, 464, 568f, 608f Kunstat —> Kronstadt Kurzebrack (poln. Korzeniewo) 583f Kwidzyn —> Marienwerder L L^dek Zdroj —» Bad Landeck Landeshut (poln. Kamienna Gora) 432f Langenbrück, Kr. Habelschwerdt (poln. Mostowice) 563 Larvik 502 Laskowice Olawskie —) Laskowitz Laskowitz, Kr. Ohlau, seit 1937 Markstädt (poln. Laskowice) 633 Lausanne 143 Legnica —> Liegnitz
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Ortsregister
Leipzig 97, 417, 553, 559 Lemberg (poln. Lwów) 513 s Leonie 398 Leszno —> Lissa Leuthen (poln. Lutynia) 186 Lewin, seit 1938 Hummelstadt (poln. Lewin Klodzki) 569 Lewin Klodzki —» Lewin Lichtenhain 98 Liegnitz (poln. Legnica) 332, 379f, 467, 537, 543, 574, 586, 588, 608, 650, 663 Lindau 128f Linden am Berge —» Bischwitz am Berge Lissa, Polnisch-Lissa, Kr. Fraustadt (poln. Leszno) 371, 471 Loben —» Lublinitz Locarno 112, 594 Lohe (poln. Sl§za) 183, 344 London 368', 619' Lübeck 285', 400-402 Lubliniec —» Lublinitz Lublinitz, seit 1941 Loben (poln. Lubliniec) 381 Ludwigshafen 55, 68 Lutynia —» Leuthen Luxemburg 216 Luzern 111 Lwów —> Lemberg Lyck (poln. Elk) 479, 580f, 618, 631, 660 Lysica —> Kahlberg M Mailand 112 Mainz 131, 466, 573' Malbork —> Marienburg Maldeuten (poln. Maldyty) 617 Maldyty Maldeuten Marburg a.d. Lahn 303 Mariànské Läzne —> Marienbad Marienbad (tschech. Marianské Lazné) 64f, 158, 556 Marienburg (poln. Malbork) 413, 65 8f, 661 Marienwerder (poln. Kwidzyn) 473, 581, 583f, 617, 658 Markstädt —> Laskowitz
Marseille 237 Meißen 550 Meieschwitz, seit 193.7 Fünfteichen (poln. Myloszyce) 633 Memel (lit. Klaipéda) 338, 414f, 417f, 422, 478, 575-579, 619, 662 Memel, Ubermemel 661 Mentón 170 Merseburg 550 Messina 454, 460 Meziméstí —> Halbstadt Michelstadt 131 Miedzygórze —» Wölfeisgrund Miersdorf 640 Milicz —> Militsch Militsch (poln. Milicz) 335-337, 362, 379f, 532, 560, 565, 570, 610, 626, 646, 651 Mohrungen (poln. Monjg) 617 Montecassino 442 Montevideo 368 Montreux 131, 142f Mor§g —> Mohrungen Moskau 4 3 5 ' Mostowice —> Langenbrück München 7, 52, 5 5 , 6 5 ' , 101,116,146, 148, 153, 155f, 201, 360', 397-399, 513 Münsterberg (poln. Zi§bice) 463f Myloszyce —> Meieschwitz Myslakowice —» Zillerthal-Erdmannsdorf N Nachod (tschech. Náchod) 34, 372374, 568f, 608 Náchod Nachod Neapel 363, 399, 441-446, 463, 521 Neckargemünd 106-108, 324 Neckarsteinach 108 Neisse (poln. Nysa) 366f Neuflize 221f Neuhammer a. Queis (poln. Swiftoszów) 191f, 207, Neumarkt (poln. Sroda Sl^ska) 586f, 653 Neurode (poln. Nowa Ruda) 598 Neustadt O.S. (poln. Prudnik) 464 Neuwelt (tschech. Novy Svét) 96 New York 312', 378, 383, 573, 627
Ortsregister Nieder Adersbach (tschech. Dolni Adrspach) 608 Niemcza —> Nimptsch Nimptsch (poln. Niemcza) 197, 638 Novy Svet —> Neuwelt Nowa Ruda —> Neurode Nürnberg 98, 195, 490-493, 555' Nysa Neisse O Ober Adersbach (tschech. Horni Adrspach) 608 Oels (poln. Olesnica) 23, 205f, 539, 594 Ohlau (poln. Oiawa) 553 Otawa —> Ohlau Olesnica —» Oels Olesnice —» Gießhübel Olsztyn —> Allenstein Oltaschin, seit 1937 Herzogshufen (poln. Ohaszyn) 344 Ohaszyn —> Oltaschin Opava Troppau Opole —> Oppeln Oppeln (poln. Opole) 278, 321, 526, 553 Orteisburg (poln. Szczytno) 618 Oseberg 502 Oslo 432,482,495,498-500,502,504, 512, 641 Osterode (poln. Oströda) 474, 476, 581, 584, 663 Oströda —» Osterode Ostrowo (poln. Oströw Wielkopolski) 608 Oswifcim —» Auschwitz
773
Petrikau, seit 1937 Petersrode (poln. Piotrkow) 273* Piechowice —> Petersdorf Piekary —> Beckern Pilsen (tschech. Plzen) 381 Pinne, Kr. Samter (poln. Pniewy) 389 Piotrkow —> Petrikau Pirmasens 406 Plzen —» Pilsen Podgorze —> Dittersbach Podgorzyn -4 Giersdorf Pogegen (russ. Pogegiai, lit. Pagegiai) 414, 577 Pogegiai —» Pogegen Poköj Bad Carlsruhe Polanica Zdröj —> Bad Altheide Pompeji 443, 445f Pontfaverger 221 Posen (poln. Poznan) 5,65*, 114,261, 471-473, 484 Potsdam 254, 258, 346f, 600, 607 Poznan Posen Prabuty —» Riesenburg Prag (tschech. Praha) 151, 338, 419, 433*, 436, 505-507, 522, 530, 534, 588, 643 Praha —» Prag Preßburg (slowak. Bratislava) 338 Princeton 548* Prudnik —> Neustadt O.S. Psary —» Hünern Pstr^zna Straußdörfel Pyskowice —» Peiskretscham
Q Quedlinburg 549f
P Palermo 446-449, 452f Paramaribo 383 Paris 63, 80, 144, 218, 237, 256, 328, 422-426, 428, 534, 598f, 646 Parma 440* Peiskretscham (poln. Pyskowice) 553 Peisterwitz (poln. Bystrzyca) 633 Pelplin (poln. Pelplin) 576 Peronne 231 Petersdorf, Kr. Hirschberg (poln. Piechowice) 521
R Racibörz —> Ratibor Radköw Wünschelburg Rastenburg (poln. K§trzyn) 618, 631 Ratibor (poln. Racibörz) 464, 587, 651f Rawicz —» Rawitsch Rawitsch (poln. Rawicz) 471, 484 Rechovot (Rechowoth) 404 Reihwiesen (tschech. Rejviz) 529 Reims 219f Rejviz Reihwiesen
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Ortsregister
Rennes 426 Rethel 220 Riesenburg (poln. Prabuty) 617, 658 Rogoznica —> Groß-Rosen Rom 146-153,156, 431, 440-442, 459, 463, 499, 503, 512, 516, 520 Rothenburg o.d.T. 98f, 108, 131, 195 Roye 234-236 Rüdesheim 131 Ruhla 165 S Saarbrücken 314, 421-423 Samotschin 551' Samter (poln. Szamotuly) 6, 18-21, 26, 49, 147f, 234, 357 Sarajewo 207 Schlaney, seit 1937 Schneilau (poln. Sione) 372 Schnellau —> Schlaney ^ Schniebinchen (poln. Swibinki) 226 Schömberg (poln. Chelmsko Sl^skie) 433 Schönlanke 19 Schreiberhau (poln. Szklarska Por?ba) 61, 78, 95, 521, 633 Schreiberhau, Oberschreiberhau 77, 521 Schweidnitz (poln. Swidnica) 204, 206-208, 419 Schwetzingen 111 Sedan 75 Segesta 459 Seitenberg (poln. Stronie Sl^skie) 564 Seiles 221 Senkenberg —> Groß Silsterwitz Shanghai 410 Sibyllenort (poln. Szczodre) 419f, 534 Siechnice —» Tschechnitz Sierck (frz. Sierck-les-Bains) 215 Sierck-les-Bains —> Sierck Silingtal —» Klein Silsterwitz Silute —> Heydekrug Sl?za —* Lohe Slobodka 578 Slone —> Schlaney Soissons 233* Sosnowice Sosnowitz
Sosnowitz (poln. Sosnowiec, Sosnowice) 388, 404f Southampton 427 Speyer 11 Of Spindlermühle (Spindelmühle, tschech. Spindleruv Mlyn) 522 Spindleruv Mlyn —> Spindlermühle Sroda Sl^ska —> Neumarkt Sovetsk —> Tilsit St. Gallen 128 St. Gingolph 143 St. Helena 80 St. Malo 426f, 443 St. Quentin 69, 232f, 245f Starnberg 398 Ste. Menehould 219 St?bark —> Tannenberg Steinbach 131s Stettin (poln. Szczecin) 148, 545 Straßburg 110, 133, 327*, 479 Straußdörfel —» Straußeney Straußeney, seit 1937 Straußdörfel (poln. Pstr§zna) 372 Striegau (poln. Strzegom) 586 Ströbel (poln. Strzeblów) 520 Stronie Sl^skie —> Seitenberg Strzeblów Ströbel Strzegom —> Striegau Stuttgart 287 Sulistrowice —» Groß Silsterwitz Sulistrowiczki —> Klein Silsterwitz Swibinki Schniebinchen Swidnica —» Schweidnitz Swiebodzice —> Freiburg i. Schi. Swieradów Zdrój —> Flinsberg Swiftoszów —) Neuhammer a. Queis Syców Groß Wartenberg Sylt 165f Syrakus 446, 456-460 Szamotuly —> Samter Szczawno Zdrój —» Bad Salzbrunn Szczecin —» Stettin Szczodre —> Sibyllenort Szczytno —» Orteisburg Szklarska Por?ba —> Schreiberhau T Tampadel (poln. T|padla) 392 Tampadla —> Tampadel
Ortsregister Tannenberg (poln. St?bark) 479' Taormina 454, 459f Tapiau (russ. Gvardejsk) 576 Tarnopol (ukr. Ternopol) 489 Tczew - 4 Dirschau Tel Aviv 352, 355, 407* Teplice nad Metuji —> Wekelsdorf Terezin —» Theresienstadt Theresienstadt (tschech. Terezin) 321* Thorn (poln. Torun) 356, 473 Tiberias 513, 564f Tilsit (russ. Sovetsk) 314, 414, 418, 577, 619, 660f Tintigny 217, 231 Tivoli 152 Tormersdorf (poln. Prfdocice) 10 Torun —> Thorn Tost (poln. Toszek) 553 Toszek —) Tost Toulon 134' Trachenberg (poln. Zmigród) 471, 561 Trautenau (poln. Trutnowo) 588, 639 Trebnitz (poln. Trzebnica) 264f, 420, 538, 542 Trelleborg 503 Trier 227f Triest 451 Troppau (tschech. Opava) 76, 529 Troyes 111* Trutnowo Trautenau Trzebinia 554 Trzebnica - » Trebnitz Tschechnitz, seit 1936 Kraftborn (poln. Siechnice) 633 Tscherbenei - » Tscherbeney Tscherbeney, seit 1937 Grenzeck (poln. Czermna) 372 Tscherjachowsk —) Insterburg Tübingen 539* Tunis 452 V Varennes 218 Venedig 359, 439 Verdun 164, 218, 428 Versailles 289, 322, 412, 421, 424
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W W^bnice —> Wembowitz Watbrzych —» Waldenburg Waldenburg (poln. Watbrzych) 374, 484, 592 Walim Wüstewaltersdorf Warmeriville 226f Warschau (poln. Warszawa) 513, 534 Warszawa —> Warschau Wehlau (russ. Znamensk) 576 Weimar 97f, 321, 340, 346, 354, 402 Weimar, Buchenwald 211 Wekelsdorf (tschech. Teplice nad Metuji) 608 Wembowitz (seit 1937 Friedrichshöh (Kr. Militsch), poln. W|bnice) 560 Wessig, seit 1937 Bergmühle (poln. Wysoka) 241, 344 Westerland 166, 347 Wien 133, 338, 438f Wiesbaden 23, 69, 149, 169 Wilczyce —» Wildschütz Wildschütz, Kr. Oels (poln. Wilczyce) 375, 636 Winzig (poln. Winzko) 24 Winzko —» Winzig Wittenberg 549 Wittenberge 400 Wohlau (poln. Wotöw) 24 Wotöw Wohlau Wölfeisgrund (poln. Miedzygörze) 300f, 486, 494, 528 Worms 110, 111* Wrodaw —» Breslau - , Biskupin Breslau, Bischofswalde - , Borek Breslau, Kleinburg - , G§döw —> Breslau, Gandau - , Gaj Breslau, Herdainvorstadt - , Karfowice —> Breslau, Carlowitz - , Kozanöw —» Breslau, Cosel - , Krzyki Breslau, Krietern - , Partynice - » Breslau, Hartlieb - , Rakowiec - » Breslau, Morgenau - , Sfpolno Breslau, Zimpel - , Szczytniki Breslau, Scheitnig - , Zalesie - » Breslau, Leerbeutel Wünschelburg (poln. Radkow) 609 Würzburg 81*, 107, 501
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Ortsregister
Wüstewaltersdorf (poln. Walim) 395 Wysoka —» Wessig Wyszki —» Hohndorf Z Zabrze, seit 1915 Hindenburg (poln. Zabrze) 382f, 514, 654 Z^kowice Sl^skie —> Frankenstein Zeuthen 640 Zgorzelec —» Görlitz
Zifbice —> Münsterberg Zillerthal-Erdmannsdorf (poln. Mystakowice) 61 f Zirndorf 494 Zlate H o r y —> Zuckmantel Zmigröd —> Trachenberg Znamensk —> Wehlau Zuckmantel, Kr. Freiwaldau (tschech. Cukmantl, heute: Zlate Hory) 75f, 113, 527-529