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German Pages [1175] Year 2006
Kein Recht, nirgends Band 1
NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE Eine Schriftenreihe des Historischen Instituts der Universität Stuttgart herausgegeben von JOACHIM BAHLCKE und NORBERT CONRADS Band 13,1
WILLY C O H N
KEIN RECHT, NIRGENDS Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933-1941 Band 1
HERAUSGEGEBEN VON NORBERT CONRADS
2007
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Willy Cohn an Bord der Mariette Pascha, März 1937 (Foto Privatbesitz) 3., unveränderte Auflage, Februar 2007 2., unveränderte Auflage, Januar 2007 © 2006 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91390-0, Fax (0221) 91390-11 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau G m b H Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-32905-1
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
I.
Einleitung
IX
II.
Tagebücher Band 1 1933 193 4 1935 193 6 1937 193 8
1 119 196 311 374 504
Tagebücher Band 2 Vorbemerkung 193 8 1939 1940 1941 Nachwort
527 529 579 738 886 1009
III. Streszczenie w j^zyku polskim — Zusammenfassung in polnischer Sprache IV. Summary — Zusammenfassung in englischer Sprache V.
Literaturverzeichnis
1013 1019 1025
VI. Glossar VII. Abkürzungsverzeichnis
1029 1041
VIII. Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen
1043
IX. Personenregister
1045
X.
1106
Ortsregister
Vorwort Ein Tagebuch wie dieses vorlegen zu können, löst zwiespältige Empfindungen aus. Ganz unverhofft öffnet sich hier die Welt des untergegangenen Breslauer Judentums aus der Sicht eines Mannes, der darin verwurzelt war wie kaum ein anderer. Das ist eine schier unglaubliche, erhellende Entdeckung. Zugleich bedeutet es, eine unsagbar traurige und tragische Geschichte aufschlagen zu müssen. Sie beginnt in geordneten Verhältnissen, die von einem Tag auf den anderen aus den Fugen gerieten, als ein zu allem entschlossenes Regime die Macht in Deutschland ergriff. Seitdem begann eine Verfolgung aller zu Feinden des Systems erklärten Mitbürger. Sie galt am gnadenlosesten den Juden, auch denen in Breslau, die hier so unschuldig und wehrlos waren wie überall. Am Ende war das jüdische Breslau jeden Rechtes beraubt und zerstört. Seine Menschen wurden aus ihrer Stadt vertrieben oder ermordet. Und all das geschah in den letzten Jahren des deutschen Breslau, ehe der Ausgang des Krieges diese Stadt noch einmal völlig veränderte. Für ganz Deutschland gibt es nur wenige Tagebücher dieser Art und dieses Umfanges, noch weniger gilt solches für Breslau, dessen jüdische Gemeinde eine der drei bedeutendsten Deutschlands war. Der Herausgeber wußte seit langem von der Existenz dieser Tagebücher und von der Zurückhaltung der Hinterbliebenen des Autors, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Man konnte davon wissen, seit im Jahr 1975 in Jerusalem und dann noch einmal 1984 in Deutschland die Breslauer Tagebücher Willy Cohns aus dem Jahre 1941 veröffentlicht worden waren. Sie enthielten versteckte Hinweise auf eine viel umfangreichere Überlieferung, wobei die Quelle nicht einmal für das Jahr 1941 gänzlich ausgeschöpft worden war. Seitdem bemühte sich der Herausgeber dieses Buches um genauere Kenntnis und Zugang dazu. Er konnte zunächst im Jahre 1995 die unbekannten ausgearbeiteten Lebenserinnerungen Willy Cohns veröffentlichen. Danach standen ihm auch die Tagebücher Willy Cohns offen, von denen hier lediglich die Tagebuchhefte der Jahre 1933 bis 1941 zum Abdruck kommen, die chronologisch unmittelbar an die Lebenserinnerungen anschließen. Dem persönlichen Dank des Herausgebers an die Familie Cohn für ihr Vertrauen und die Erlaubnis zur Publikation werden sich alle anschließen, die den einzigartigen Wert dieses Tagebuches zu schätzen wissen. Das Vertrauen wuchs in einer über viele Jahre hinweg geführten und von herzlichem Verständnis getragenen Korrespondenz mit Herrn Louis Cohn in Antony bei Paris, dem ältesten Sohn des Autors. Indirekt und direkt waren die anderen Geschwister, Frau Ruth Atzmon-Cohn und Herr Ernst Abraham Cohn in Israel, hierin stets einbezogen. Sie kennen und schätzen den Wert dieses Vermächtnisses, das sie in den Central Archives for the History of the Jewish Peo-
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Vorwort
ple in Jerusalem hinterlegt haben. Nicht minder gilt der Dank dem kürzlich verstorbenen Rabbiner Joseph Walk in Jerusalem, der die ersten Kontakte zur Familie Cohn vermittelte. Frau Hadassah Assouline vom Jerusalemer Archiv ermöglichte danach die Verfilmung. Als alle Tagebuchhefte mit ihren insgesamt 4600 handschriftlichen Seiten vorlagen, war es noch einmal eine Herausforderung, sie zu entziffern, abzuschreiben und den unzähligen Lesarten und Namen nachzugehen. Diese Arbeit zog sich über zehn Jahre hin, weil sie neben der Universitätstätigkeit einherging, weil Mitarbeiter wechselten, andere Vorhaben dazwischen traten und der Herausgeber 2003 die Universität verließ. Im Laufe des Jahrzehnts wurden hierfür Mitarbeiter und Hilfskräfte herangezogen, die entziffernd, recherchierend und lektorierend behilflich waren. Das Hauptverdienst kommt immer noch Isabell Sprenger zu, die eine erste Abschrift des Manuskriptes erstellte. Danach haben Roland Gehrke, Kerstin Jaworski und Katrin Joos am Manuskript gearbeitet, letztere bis zum guten Ende. Das Manuskript warf viele Fragen auf, gab Anlaß zu Briefen, Anfragen und Gesprächen. Für bereitwillig erteilte Hilfe und Auskünfte ist vielen zu danken. Mein Dank gilt insbesondere Arno Herzig (Hamburg), Eberhard Jäckel (Stuttgart), Karol Jonca (Wroclaw), Joachim Köhler (Tübingen), Maciej Lagiewski (Wroclaw), Walter Laqueur (Washington), Anita Lasker-Wallfisch (London), Fritz Stern (New York) und schließlich Matthias Morgenstern (Tübingen), der bei der Lesung und Transkribierung hebräischer Notizen half.
Einleitung „Nirgends ist mehr Recht in Deutschland! Nirgends". Zu dieser Einsicht gelangte der Breslauer Studienrat und Historiker Willy Cohn bereits drei Wochen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten1. Dabei war das, was er an antijüdischen Maßnahmen beobachtete, ja erst der Anfang. Bald sah er die Juden zu „Bürgern minderen Rechtes" degradiert oder gar „aller Menschenrechte beraubt"2. Die Flut an Maßnahmen wider sie setzte alle ethischen Normen außer Kraft, sie überstieg das bisher Vorstellbare. Er mußte sich fragen, „was bedeutet überhaupt jetzt Recht? Es gibt doch nur Gewalt". Mehr noch, was Cohn zuletzt in Erfahrung brachte, war „Mord, schrecklicher Mord auf Veranlassung des Staates"3. Jahr um Jahr sah Cohn diese Pervertierung aller Werte voranschreiten. Er hatte es beizeiten auf den Begriff gebracht: Es gab kein Recht mehr, nirgends. Wer sich näher mit der Geschichte des jüdischen Breslau oder mit der normannisch-staufischen Geschichte befaßt hat, dem muß Willy Cohn nicht mehr vorgestellt werden. Schon vor seinen hier vorgelegten Tagebüchern durfte man den Autor als den bedeutendsten Chronisten des Breslauer Judentums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen4. Diesen Ruf verdankte er vor allem seinen Lebenserinnerungen, die in der Zeit seines Berufsverbotes 1940/41 niedergeschrieben wurden und die 1995 erschienen5. Diese exemplarische Autobiographie eines jüdischen Breslauers war dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Schilderung bewußt in die Welt des Breslauer Judentums einbettete und deshalb für die Geschichte des jüdischen Breslau und seines Milieus so aufschlußreich war. Das Buch wurde bei seinem Erscheinen stark beachtet und seitdem vielfach zitiert6. 1
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Tgb. vom 24. Februar 1933. Die Abkürzung Tgb. verweist auf Tagebucheintragungen Willy Cohns unter dem angegebenen Datum. Tgb. vom 16. und 21. M a ß 1933. Tgb. vom 20. Februar 1940 und vom 23. September 1941. Arno H E R Z I G : Der Historiker Willy Cohn (1888-1941); in: „... der den Erniedrigten aufrichtet aus dem Staube und aus dem Elend erhöht den Armen". Die Fünfte Joseph CarlebachKonferenz. Unvollendetes Leben zwischen Tragik und Erfüllung, hg. von Miriam G L L L I S C A R L E B A C H und Wolfgang G R Ü N B E R G . Hamburg 2002, S. 98-107. Willy C O H N : Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang, hg. von Norbert C O N R A D S (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 3). Köln 1995. Walter L A Q U E U R : Three Witnesses: The Legacy of Viktor Klemperer, Willy Cohn and Richard Koch; in: Holocaust and Genocid Studies, vol. 10, Nr. 3, 1996, S. 252-266. Till van R A H D E N : Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925. Göttingen 2000. Leszek Z I A T K O W S K I : Die Geschichte der Juden in Breslau. Wroclaw 2000. Andreas R E I N K E : Ge-
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Einleitung
Willy Cohn stammte aus einer Breslauer Kaufmannsfamilie, die aus der preußischen Provinz Posen zugezogen war. Seine Mutter war eine Hainauer aus der bekannten Musikverlegerfamilie. Die Eltern hatten es zu Wohlhabenheit gebracht, besuchten die Weltausstellung in Paris und erbauten sich 1902 am Breslauer Ring ein Geschäftshaus im Jugendstil, das bis heute durch seine Großzügigkeit beeindruckt. Sie verstanden sich als deutsche Juden, die ihrem im „Dreikaiserjähr" 1888 geborenen Sohn den Namen des verehrten Kaisers Wilhelm gaben und bei denen zur Weihnachtszeit sowohl der Chanukkaleuchter als auch der Christbaum entzündet wurden. Man hielt sich an die liberale Neue Synagoge am Schweidnitzer Stadtgraben, wo man über einen festen Platz mit eigenem Namensschild verfügte und wo Willy Cohn 1901 seine Barmizwah feierte. Cohn folgte mehr den geistigen Anregungen seiner gebildeten Mutter, wenn er ideelle Werte zeidebens für wichtiger hielt als materielles Gewinnstreben. Er nahm 1906 ein geschichtswissenschaftliches Studium in Breslau auf, das ihn zweimal nach Heidelberg führte1. Als er in Breslau 1909 sein Doktorexamen ablegte, war er noch keine 21 Jahre alt, aber seine Dissertation zur Geschichte der normannisch-sizilischen Flotte2 galt einem Thema, das ihn noch lebenslang beschäftigen sollte. Er hörte es nicht ungern, wenn seine Fachkollegen ihn später als den „Normannen-Cohn" neckten3. Cohn studierte weiter, absolvierte das Staatsexamen für das höhere Lehramt und hoffte auf eine akademische Laufbahn. Er verzichtete schließlich auf solche Pläne, als er bemerken mußte, wie sich die Breslauer Universitätshistoriker ihm, dem Juden, gegenüber reserviert verhielten. Eine förmliche Zurückweisung seines Habilitationswunsches wollte er erst gar nicht riskieren4. Später zerschlugen sich auch die Hoffnungen auf eine Professur für mitdere und neuere Geschichte an der neugegründeten Pädagogischen Hochschule. Seiner Meinung nach hätte er 1929 den Ruf er-
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meinde und Verein. Formen jüdischer Vergemeinschaftung im Breslau des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts; in: Manfred HETTLING, Andreas REINKE, Norbert CONRADS (Hg): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003, S. 1 3 1 - 1 4 7 . Roswitha SCHIEB: Literarischer Reiseführer Breslau. Sieben Stadtspaziergänge. Potsdam 2004. Nicht zu vergessen die hebräische Ausgabe der Lebenserinnerungen durch Emst Abraham COHN, Jerusalem 1999. Cohn hielt auch noch später Kontakt zu dem von ihm verehrten Heidelberger Historiker Karl Hampe, mit dem er im Schriftenaustausch stand. Davon zeugt ein Brief Willy Cohns an Geheimrat Hampe, Breslau 8. Mai 1925, den mir Folker Reichert aus dem Nachlaß Hampe zugänglich machte. Willy COHN: Die Geschichte der normannisch-sicilischen Flotte unter der Regierung Rogers I. und Rogers II. (1060-1154) (Historische Untersuchungen 1). Breslau 1910. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 136. Tgb. v o m 11. Oktober 1935. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 342.
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halten müssen, wenn er nicht „Jude gewesen wäre und den Namen Cohn getragen hätte"1. Also hatte sich Cohn für den Schuldienst entschieden, was seinen Neigungen und Interessen durchaus entgegenkam, so daß er bald in diesem Beruf völlig aufging. Er war ein guter Pädagoge und wurde ein beliebter Lehrer. Auf eine berufliche Absicherung war er inzwischen angewiesen, weil er 1913 geheiratet und für einen eigenen Hausstand zu sorgen hatte. Als 1915 der erste Sohn geboren wurde, herrschte schon seit einem Jahr Krieg, und Cohn stand in Frankreich an der Front. Der zweite Sohn kam im politisch unsicheren Jahr 1919 zur Welt. Das als Frontkämpfer erworbene Eiserne Kreuz trug Cohn lange mit Stolz, es bedeutete ihm viel, und noch 1934 bewarb er sich um das neugeschaffene Ehrenkreuz des Weltkrieges. Er konnte sich nicht vorstellen, daß solche Verdienste eines Tages nichts mehr gelten könnten. Eine gewisse Ernüchterung war schon im Verlauf des Krieges eingetreten, als die Opferbereitschaft von Juden offenbar weniger zählte als die anderer Deutscher. Das ließ ihn zunehmend am Erfolg und am Sinn jüdischer Assimilation zweifeln. Er begann, sich von den liberalen Einstellungen des Elternhauses zu lösen und einem „positiven Judentum" zuzuwenden. Wer den eigenen Wert jüdischer Religion und Tradition vernachlässigte und weiterhin für den Gedanken der Assimilation eintrat, wie es der Verband nationaldeutscher Juden und sein Wortführer Max Naumann taten, beging Verrat am Judentum. Die Zukunft sah Cohn nun im Zionismus und im Aufbau eines jüdischen Palästina. Politisch wandte er sich der Sozialdemokratie zu, trat in die SPD ein, beteiligte sich in sozialdemokratischen Vereinigungen, schrieb Artikel und sozialistische Jugendschriften2. An der Breslauer Freien Jüdischen Volkshochschule wirkte er von ihrer Gründung 1919 bis zu ihrer Schließung mit, ebenso in der LessingLoge und anderen jüdischen Logen Breslaus. Für den Humboldtverein hielt er 1922 in der Aula Leopoldina den Festvortrag zum 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns, die Lessing-Loge wählte ihn 1924 auf ein Jahr zu ihrem Präsidenten. Die Haupttätigkeit blieb sein Lehrberuf am Breslauer Johannesgymnasium. Diese Schule zeichnete sich unter den übrigen Breslauer Gymnasien durch ihren einzigartigen Charakter als Integrationsschule aus. So wie das Lehrerkollegium jeweils zu einem Drittel aus Protestanten, Katholiken und Juden be-
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Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 544. Er schrieb mehrere „der Jugend erzählte" Lebensbilder von Ferdinand Lassalle (1921), Karl Marx (1923), Robert Owen (1924), Friedrich Engels (1925) und August Bebel (1927). Diese Broschüren gehörten zu jenen Büchern, die bei der Breslauer Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in die Flammen geworfen wurden.
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Einleitung
stand, galt ein Gleiches auch für die Schülerschaft, wobei der jüdische Schüleranteil ständig wuchs. Von seinem Eintritt als Studienassessor 1919 bis zu seiner Zwangspensionierung als Studienrat 1933 unterrichtete er hier Geschichte, Deutsch und Erdkunde. Politische oder antisemitische Probleme kannte man an diesem Gymnasium lange nicht. Christliche Religionslehrer lehrten hier neben Rabbinern. Das Kollegium harmonierte, ein moderner Unterricht ermöglichte Klassenfahrten zu den Stätten deutscher Kultur und Geschichte. Damals war es noch möglich, neben der Schultätigkeit wissenschaftlich zu arbeiten, ohne die Schulpflichten zu vernachlässigen. Cohn besuchte nicht nur die Historikertage, sondern korrespondierte mit Fachkollegen1 und publizierte weiter. Ein wissenschaftliches Stipendium ermöglichte ihm 1927 eine Studienreise nach Sizilien2, was den Horizont seiner Kontakte erweiterte. Als sein Hohenstaufenbuch 1932 auch in Italien erschien3, trug es ihm die Mitgliedschaft in der Societä di Storia Patria per la Sicilia Orientale in Catania ein. Bei Beginn des Jahres 1933 stand Cohn auf der Höhe seines Ansehens und seines Schaffens. Er war 44 Jahre alt, seit 1923 zum zweiten Mal verheiratet, Vater zweier Söhne aus erster und zweier Töchter aus zweiter Ehe. Und er war weiterhin voller Pläne. *
Das alles hatte am 30. Januar 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein Ende, für Optimismus blieb wenig Raum. Der Aufstieg Hitlers überschattete alles. Der Einschnitt war für Cohn so tief, daß er diese Zäsur zum vorläufigen Endpunkt seiner Lebenserinnerungen wählte4. Zwar war ihm das, was er in den Jahren danach erlebte, nicht minder bedeutsam, „aber es will mir scheinen, als ob die Zeit noch nicht reif wäre, dies darzustellen, und ich weiß nicht, ob ich noch die Kraft und Zeit haben werde, dies später zu tun." Mit diesen Worten schloß er am 19. September 1941 die Niederschrift seiner Le1
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Zu Cohns Korrespondenten gehörten Leo Baeck, Albert Brackmann, Johannes Bühler, Theodor Goerlitz, Karl Hampe, Walter Holtzmann, Ernst Kantorowicz, Guido Libertini, Carmelina Naselli, Eduard Sthamer. Das Stipendium hatte Cohn bei der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft beantragt. Der Gutachter Albert Brackmann in Berlin hatte Bedenken gegen eine Bewilligung und fragte deshalb bei seinem Heidelberger Kollegen Karl Hampe nach, dessen positives Votum dann offenbar den Ausschlag gab. Den Brief Brackmanns an Hampe, Berlin 22. September 1926, aus dem Heidelberger Nachlaß Hampes verdanke ich der freundlichen Aufmerksamkeit meines Stuttgarter Kollegen Folker Reichert. Willy COHN: Das Zeitalter der Hohenstaufen in Sizilien. Ein Beitrag zur Entstehung des modernen Beamtenstaates (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 134). Breslau 1925. DERS.: L'età degli Hohenstaufen in Sicilia. Traduzione di Guido LIBERTINI (Biblioteca della Società di Storia Patria per la Sicilia Orientale 11,1). Catania 1932. Bei der Entschlußbildung zur Niederschrift 1940 war die Bedeutung des Jahres 1933 längst offenkundig.
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benserinnerungen ab1, und ähnlich notierte er es einen Tag später im Tagebuch. Dieses Mal sollten seine Befürchtungen grausamer eintreffen, als er es ahnte. Zwei Monate später schon erfolgten seine Deportation und Ermordung. Jahrzehntelang waren die Existenz seiner Tagebücher und die zeitgeschichtliche Bedeutung Willy Cohns gänzlich unbekannt. Erst als 1975 in Jerusalem eine Broschüre mit dem Titel „Als Jude in Breslau - 1941" herauskam2 und diese 1984 als Taschenbuch auch in Deutschland erschien3, konnte man auf Cohn aufmerksam werden4. Die Auszüge aus dem Cohnschen Tagebuch von 1941 ließen erkennen, daß hier die gekürzte Fassung einer viel umfangreicheren Überlieferung vorgestellt wurde, was die Frage nach dem tatsächlichen Umfang dieser Tagebücher aufwerfen mußte5. Nach dem Erscheinen der deutschen Auflage nahm ich Kontakt zum Herausgeber Joseph Walk vom LeoBaeck-Institut in Jerusalem auf. Das persönliche Gespräch mit Rabbiner Walk ebnete den Weg zu den Erben Cohns. Ein privater und unzugänglicher Nachlaß Cohns war wunderbarerweise in die Obhut der drei überlebenden Kinder gelangt. Es war nur zu verständlich, wenn diese Dokumente für die Familie zuallererst die letzten schmerzlichen Lebenszeichen ihrer Eltern waren und daß es einer Überzeugungsarbeit bedurfte, in diesen Manuskripten mehr zu sehen, nämlich eine einzigartige historische Quelle für das Schicksal des jüdischen Breslau. Schritt für Schritt gelang es, die bestehenden Bedenken zu mindern. Die erste Überraschung war, daß Willy Cohn in den Jahren 1940/41 die bereits erwähnten, bisher aber völlig unbekannten Lebenserinnerungen niedergeschrieben hatte. Sie waren als Manuskript erhalten, und ich konnte sie 1995 veröffentlichen6. Nach dem Erscheinen dieser Autobiographie „Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang" wurde mir auch die breite Tagebuchüberlieferung Willy Cohns bekannt und zugänglich. Sie erwies sich als weitaus umfangreicher als erwartet. 1 2 3
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Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 664. Willy COHN: Als Jude in Breslau - 1 9 4 1 , hg. von Joseph WALK. Jerusalem 1975. Willy COHN: A l s Jude in Breslau 1941, hg. von Joseph WALK (Bleicher-Taschenbuch). Gerlingen 1984. Das schmale Tagebuch wurde sofort viel zitiert. Norman DAVIES und Roger MOORHOUSE: Die Blume Europas. Breslau-Wroclaw-Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München 2002, S. 488. Soweit ich sehe, gab es nur einen kaum beachteten Versuch, die unmittelbar davor liegenden Tagebücher Cohns auf ihren Informationswert durchzusehen. Moshe AYALON: Jewish Life in Breslau 1938-41; in: Leo Baeck Institute, Year Book 4 1 , London 1996, S. 323-345. Willy COHN: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum v o r seinem Untergang, hg. von Norbert CONRADS (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 3). Köln 1995.
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Einleitung
Die vielgestellte Frage, wie Cohns Manuskripte gerettet werden konnten, obwohl ihr Verfasser ermordet wurde, hat eine ganz einfache Erklärung. Die Deportationen der Breslauer Juden folgten einem ordentlichen bürokratischen Verfahren. Den Betroffenen wurde vierzehn Tage zuvor per Post schriftlich mitgeteilt, wann sie ihre Wohnung zu räumen hatten. Jeder wußte, das bedeutete die „Verschickung". Willy Cohn hatte mit dieser Nachricht schon länger gerechnet und vorgesorgt. Drei Wochen vor dem Deportationsbrief vom 17. November 1941 waren Berliner Verwandte bei ihm zu Besuch gewesen. Paul Zeitz, ein „arischer" Eisenbahnbeamter und seine Frau, eine Verwandte der ersten Ehefrau Willy Cohns. Mit ihnen muß damals verabredet worden sein, daß und wie Cohn im Falle des Falles seine wichtigsten Dokumente bei Familie Zeitz in Berlin sicherstellen könne. Nach dem Bescheid vom 17. November blieben Cohn noch wenige Tage, um das Wertvollste zusammenzupacken und es verabredungsgemäß nach Berlin zu schicken. Dort haben Manuskripte, Tagebücher und wenige Andenken alle Fährnisse überdauert und konnten nach dem Krieg den überlebenden Kindern Willy Cohns übergeben werden. Heute sind erstaunliche 120 Manuskripte Cohns in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem hinterlegt. Sie haben die Signatur P 88 erhalten. Es handelt sich hier um mehrere Entwürfe und Versionen seiner Autobiographie, ein Jugendtagebuch seiner zweiten Frau Gertrud aus dem Jahr 1914 und nicht weniger als 112 erhaltene Tagebuchhefte Willy Cohns aus den Jahren 1907 bis 1941, ein unglaublicher Reichtum. Ihnen geht auch hier ein Jugendtagebuch aus dem Jahre 1899 voraus. Für die vorliegende Edition wurden daraus die 59 geretteten Tagebücher der Jahre 1933 bis 1941 im Umfang von 4600 Seiten erbeten. Sie stellen den unmittelbaren Anschluß an die bereits bekannten Lebenserinnerungen her. Seit dem Studienbeginn 1907 hat Cohn täglich seine Eindrücke festgehalten, so daß man in ihm einen der unermüdlichsten Tagebuchschreiber seiner Zeit kennenlernt. Ihr erhaltener Gesamtumfang dürfte über 10.000 handschriftliche Seiten ausmachen. Tagebuchführen war ihm eine Pflicht, ein selbstauferlegter Zwang. Wenn er es einmal unterließ, entschuldigte er sich am nächsten Tag bei sich selbst. Nur waren seine Tagebücher, anders als die eines Thomas Mann oder auch Victor Klemperer, nie in der Absicht angelegt, sie als Teil des schriftstellerischen Werkes vorzusehen, das einmal für die Öffentlichkeit gedacht war. Cohn schrieb spontan, oft mehrmals am Tag, selten mit dem Vorsatz, die Ereignisse des Tages rückblickend zusammenzufassen. Er verband damit keine gestaltende oder gar literarische Absicht, sondern reihte Wichtiges und Allfälliges aneinander wie es kam. Aber vermag nicht gerade solche Absichtslosigkeit den historischen Wert einer Quelle zu erhöhen? Eben, weil Cohn nicht auf Pointen und den Beifall der Nachwelt bedacht war, sondern nur seinem inneren Bedürfnis folgte, wirkt seine unstilisierte Aussage so glaub-
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haft. Dem steht nicht entgegen, daß dem Historiker Cohn bewußt war, ein exemplarisches Schicksal zu erleiden, das einmal von allgemeinem Interesse sein könnte. 1935 nahm er sich vor, „ich will hinfort in diese Bücher stärker unser Judenschicksal einschreiben, vielleicht ist es für spätere Geschlechter interessant"1. Dabei dachte er vor allem an Kinder und Kindeskinder, ebenso, als er unter dem Eindruck der Breslauer Pogromnacht von 1938 bemerkte: „Oft schreibe ich jetzt in diesem Buch. Wenn es die Zeiten überdauern sollte, wird es vielleicht einmal späteren Generationen sagen, was ein jüdischer Mensch in dieser Zeit gelebt und gelitten hat"2. Da er sich eine spätere Darstellung vorgenommen hatte, wollte Cohn den Stoff dafür sammeln, so wie er es bei seinen bis 1933 reichenden Lebenserinnerungen gehalten hat. Wenn man vergleicht, so gibt es weder für Schlesien noch für Deutschland insgesamt ein jüdisches Tagebuch dieses Umfangs und dieser Kontinuität, sieht man einmal von den bekannten Tagebüchern Victor Klemperers (1881-1960) ab3. Konnte man sich bei Klemperers Lektüre noch damit trösten, daß dieser Zeuge das Letzte überlebt hatte, so gilt solches für Willy Cohn nicht. Er wurde mit seiner jungen Familie 1941 ermordet und hat nie erfahren können, wie diese unheilvolle Zeit endete. Aus Breslau kannte man bislang nur einen einzigen größeren Augenzeugenbericht, das von Ryszard Kincel entdeckte und veröffentlichte Breslauer Tagebuch des Handelsvertreters und Schriftstellers Walter Tausk (1890-1941)4. Anders als es der Titel vermuten läßt, sind darin zusammengerechnet lediglich dreieinhalb Jahre beschrieben, denn die Überlieferung ist fragmentarisch. Und wirklich jüdische Einblicke finden sich bei ihm nur mit Einschränkung, da sich der Autor zum Buddhismus bekannte und längst vom Judentum gelöst hatte. Tausks Tagebuch ist bis Anfang März 1940 erhalten. Auch von Cohns Tagebüchern sind bedauerlicherweise einige Hefte verloren, die größte Uberlieferungslücke liegt im Jahr 1938. Das fällt angesichts der Dichte seiner Überlieferung kaum ins Gewicht, vielmehr machte der außerordentliche Umfang des Erhaltenen eine Kürzung unerläßlich. Wenn der Tagesablauf einem eingespielten Rhythmus folgt, bleiben ohnehin viele Wiederholungen unvermeidlich. Die Kürzungen betreffen daher wiederholte Schilderungen von Wegen und Ausflügen, von Einkäufen und Verwandtenbesuchen, Hobbys, Familieninterna und ganz Privates. Auch für die reichlichen Selbstanalysen von Schlafstörungen und Krankheiten dürften typische Beispiele 1 2 3
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Tgb. vom 19. August 1935. Tgb. vom 30. November 1938, ähnlich am 19. Dezember 1938. Victor KLEMPERER: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, hg. von Waltet NowojSKI unter Mitarbeit von Hadwig KLEMPERER, 2 Bde., Berlin 1995. Walter TAUSK: Breslauer Tagebuch 1933-1940, hg. von Ryszard KiNCEL. Berlin 1975, neue Aufl. Berlin 1988.
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Einleitung
genügen. Bei bestimmten Schwerpunktzeiten der Tagebücher, nämlich der Palästinafahrt 1937, der Pogromnacht 1938 und 2unehmend zum Ende der Tagebücher hin, sind Kürzungen nur sparsam vorgenommen worden. Die Edition wäre auch unvollständig geblieben, wenn sie auf einen Abdruck des Jahres 1941 verzichtet hätte, weil dieser Text schon bekannt sei1. Das ist er nur in unzureichendem Maße, denn die von Walk vorgenommenen Kürzungen waren substantieller Art, abgesehen von sinnentstellenden Fehllesungen2, die zu beheben waren. Walk hatte in seiner Edition von 1975/1984 viele Hinweise auf die damals entstehenden Lebenserinnerungen, die Auswirkungen der existentiellen Not auf das Privadeben und kritische Äußerungen zu Personen und Institutionen des jüdischen Lebens zu kurz kommen lassen. Die aktuelle Bearbeitung erfolgte mit der Zielsetzung, den historischen Aussagewert der Quelle ungeschmälert zu erhalten, politisch Bedeutsames wie auch Verfängliches wiederzugeben, aber Entbehrliches auszulassen. Jede Kürzung wird durch [...] kenntlichgemacht. Die vielen störenden Abkürzungen der Vorlage sind stillschweigend aufgelöst, die zeitbedingte Orthographie behutsam angeglichen, teilweise bewußt beibehalten. Erläuternde Zusätze des Herausgebers sind durch eckige [ ] Klammern kenntlich gemacht, während runde ( ) Klammern bereits aus der Vorlage stammen. Das Tagebuch wurde durch Anmerkungen sparsam kommentiert. Für die Vervollständigung der Register wurden Adreßbücher und Literatur herangezogen. *
Cohns Tagebücher sind ein aussagereiches, erschütterndes Protokoll der systematischen Entfernung3 der jüdischen Breslauer aus ihrem vertrauten Umfeld und der Aushöhlung allen jüdischen Lebens. Das Buch ist dafür an Belegen überreich. Tätigkeit, Schicksal und Ende der jüdischen Einrichtungen lassen sich hier nachlesen. Die Verstoßung aus der geliebten Heimat erzeugte eine schwer erträgliche Spannung, denn „wie schön ist dieses Schlesien, in dem man uns nicht will"4. „Wenn wir Juden in diesen Zeidäuften durch die Landschaft gehen, so tun wir dies mit einem ganz eigenartigen Gefühl. Auf der einen Seite ist es das Land, in dem man geboren ist und dessen Entwicklung man durch Jahrzehnte verfolgt hat, auf der anderen Seite sind wir aus ihm ausgeschaltet und ihm fremd geworden. Wir sind da ganz allein"5. Da blieb nur
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Dem leidet verstorbenen Verleger Heinz M. Bleicher, Gerlingen, sei für sein bereitwilliges Einverständnis zur Einbeziehung des Taschenbuchtextes in diese Edition gedankt. Beispiele bei Walk: „Palästinahandbuch des Asterius" statt Palästinahandbuch des deutschen Vereins. „Arme" statt Arier. „Schlumpe" statt Gelumpe. Zum Begriff der „Entfernung" vgl. Tgb. vom 13. April 1933. Tgb. vom 11. Juni 1936. Tgb. vom 28. April 1935.
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noch der bittere Wunsch, sich bald den Staub von Breslau von den Füßen schütteln zu können1. Die Vielzahl der angesprochenen Themen und Beobachtungen ergibt sich von selbst, weil Cohn mit seiner Heimatstadt und ihrer Umgebung eng vertraut war, viele Persönlichkeiten in der Stadt, den öffentlichen Bildungseinrichtungen, in der jüdischen Gemeinde, persönlich kannte. Vor allem das Bildungsund Schulwesen der Gemeinde lag ihm am Herzen. Hier mischte er sich kräftig ein, und er war enttäuscht, wenn er auf Widerstand und Unverständnis traf. Hinzu kam sein prophetischer Eifer für die zionistischen Ideale, die er bei manchen assimilatorisch und materialistisch gesinnten Glaubensbrüdern vermißte. Er selbst aber wollte sich treu bleiben und keine Kompromisse eingehen, auch wenn es ihm Nachteile einbrachte. Auf die staatlichen Demütigungen, die ihn wie alle Juden trafen, reagierte er mit gleicher verzweifelnder Resignation wie auf persönliche Zurücksetzungen. Was über ihn und alle Juden verhängt war, konnte nur Gottes Wille sein. Ihn quälte die Schuldfrage für diese Geserah. Lag sie womöglich bei den Juden selbst, nicht erst seit heute, sondern bereits seit langem? Sich dagegen zu empören, wäre dann sündhaft. So wirken die Tagebücher bei aller Beredsamkeit wie ein stummer, unterdrückter Schrei seiner inneren Not. Sie bieten nur selten eine massive Kritik am politischen System, am tagtäglichen Unrecht, vielmehr eher leidende Hinnahme nach dem Vorbild biblischer Erduldung. Manche vorsichtige Formulierungen mögen auch damit zu erklären sein, daß man nicht wissen konnte, ob die Tagebücher eines Tages in die Hände der Polizei gelangen würden, die sie dann gegen ihn verwenden könnte. Das Themenspektrum der Tagebücher kann nur in Andeutungen wiedergegeben werden. Ein Kreis zieht sich um das jüdische Umfeld, das Gemeindeleben, das wohl rund um jede Synagoge etwas anders aussah. Es gab kein einheitliches Judentum in Breslau, sondern in der Gemeinde rangen verschiedene Strömungen und Interessen um Ausgleich. Ebenso bestand eine Vielzahl an Institutionen, Sozialeinrichtungen und Gremien, deren Bewegungsfreiheit immer enger wurde. Am Anfang der jüdischen Entrechtung flackerte in Breslau ein Strohfeuer jüdischer Selbsterneuerung auf. Die Breslauer Gemeinde machte aus der Not eine Tugend. Das jüdische Schulwesen wurde überlaufen, weil die jüdischen Schüler von den übrigen Schulen abgewiesen wurden. Das Jüdische Museum feierte seine Neueröffnung im Jüdischen Waisenhaus, und Cohn gehörte als dessen Vorstandsmitglied aktiv dazu. Der Aufschwung der Zeitschriften, der Logen, der ganzen Kulturarbeit brachte eine Scheinblüte. Da Cohn im erzwungenen Ruhestand lebte, konnte er durch Vortragsreisen in Schlesien und Deutschland sein Einkommen aufbessern. Arisierungen und 1
Tgb. vom 17. Mai 1937.
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Berufsverbote entzogen vielen die Lebensgrundlagen. Das beschleunigte überall den Wunsch nach Emigration, wobei fast jedes Aufnahmeland recht war, wenn es nur Juden hereinließ. Cohn sah, „das Sterben der jüdischen Provinz geht in einem sehr schnellen Tempo vor sich"1. Erstaunlich war auch die rege Reisetätigkeit nach Palästina bis 1938, vielfach nur, um das Land kennenzulernen. Auch Cohn besuchte es 1937 mit seiner Frau. Er traf hier schon beinahe mehr alte Bekannte an, als man damit in Breslau rechnen konnte2. Nach der Pogromnacht und dem Kriegsausbruch verstärkte sich das Gefühl, in der „Mausefalle" zu sitzen und die rechtzeitige Ausreise verfehlt zu haben. Schlag auf Schlag wurden nun unter Vorwänden die jüdischen Einrichtungen beschlagnahmt oder verboten. Die ohnehin angespannte Versorgung mit dem Lebensnotwendigen wurde für Juden gezielt verknappt. Die Informationsmöglichkeiten wurden ohne Radio und kritische Presse immer geringer, aber der jüdische „Mundfunk" wußte manchmal sehr genau über das Schicksal der polnischen und anderer Juden Bescheid. Warum nur schritt die zivilisierte Menschheit nicht ein, wenn die Juden im Warschauer Ghetto wie die Fliegen starben3? Das Gespräch nach dem Synagogenbesuch war eine Nachrichtenbörse, auch wenn Cohn oft nicht recht glauben wollte, was er erfuhr. Die ersten Deportationen aus Deutschland sprachen sich in Windeseile herum. Sie begannen in der Regel mit der Beschlagnahme der Privatwohnungen, danach konnten die obdachlos gewordenen Juden ins Unbekannte „verschickt" werden, wo bestenfalls Elend und Ausbeutung warteten und am Ende der Tod. Daß dieses Regime 1941 zum systematischen Mord an den Juden überging, mag Cohn allenfalls geahnt haben. Ein anderer Problemkreis umgibt die Persönlichkeit des Autors. Cohn war ein frommer Jude, dem der Synagogenbesuch und das regelmäßige Gebet ein Bedürfnis waren. Das sieht man diesen Tagebüchern an, in denen der Name Gottes nie ausgeschrieben wird und in denen die hebräischen Begriffe so zahlreich sind, daß sie in einem Glossar erläutert werden müssen. Wenn Cohn 1933 die prachtvolle Neue Synagoge besuchte, dann wegen des hohen Niveaus ihrer Synagogalmusik. Aber die liberalen Predigten des Rabbiners Hermann Vogelstein waren ihm bald ebenso zuwider wie dessen Ansichten in Schulfragen. Da sprachen ihn die Liturgie in der orthodoxen Storch-Synagoge und die Predigten des Rabbiners Max Simonsohn weit mehr an. Seit dem Wohnungswechsel zur Opitzstraße fand Cohn 1934 in der Abraham-Mugdan-Synagoge am Rehdigerplatz seinen religiösen Ort. Nicht nur, weil diese Synagoge für ihn „am bequemsten gelegen" war, zunehmend lernte er ihre Intimität und die 1
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Tgb. vom 24. August 1937. Tgb. vom 29. März 1937. Tgb. vom 26. Januar 1940.
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Predigten des Rabbiners Louis Lewin schätzen. „Wie himmelweit steht doch ein solches Beten in einer kleinen Schule wie der Abraham-Mugdan-Synagoge über dem G'ttesdienst in der Neuen Synagoge. Das hier ist wirklich eine große betende Gemeinde!"1. Als diese Synagoge und ebenso der Betsaal im BeateGuttmann-Heim geschlossen wurde, kam die Storch-Synagoge kaum noch in Frage. Hier trafen sich nach der Zerstörung der Neuen Synagoge die Liberalen und hatten in diesem orgellosen Gotteshaus sogar ein Harmonium aufgestellt. So blieb ihm noch der Gottesdienst im Freundehaus. Cohns religiöse Uberzeugungen hatten in seiner gelebten Religiosität ihre Entsprechung. Er nahm Hebräischunterricht, um die Thora zu verstehen. Er begann zu „lernen", das heißt, die Texte theologisch auszudeuten. Neben dem Gebet war ihm auch das Gespräch mit Gleichgesinnten wichtig, die er in der Synagoge traf. Sehr schwankend war seine Haltung zu Ostjuden. Soweit es sich um „Luftexistenzen" handelte, brachte er ihnen jene Vorurteile entgegen, die allgemein über Ostjuden verbreitet waren, aber ihre Frömmigkeit beeindruckte und beschämte ihn oft. Das politische Urteil Cohns zeigt ähnliche Widersprüche, auch wenn es am Ende von maßloser Enttäuschung und Ohnmacht gegenüber dem Gewaltsystem geprägt war. Cohn kehrte mit dem Eisernen Kreuz aus dem Weltkrieg zurück und freute sich bis zuletzt, wenn er einen Kameraden von der vierten Feldhaubitzen-Munitionskolonne traf2. Der Bericht über die Zwanzigjahrfeier von Verdun 1936 rührte ihn zu Tränen, und trotzig schrieb er: ,Ja, auch ich habe mich mit ganzer Kraft eingesetzt, und ich bedaure nicht, daß ich es getan habe."3 Er hing trotz aller Enttäuschungen mit allen Fasern an Deutschland und seiner Kultur. „Es ist trotz all' dem sehr schwer, sich die Liebe zu Deutschland ganz aus dem Herzen zu reißen"4. Cohn hatte stets sozialdemokratisch gewählt, sein politisches Herz schlug so weit links, daß einige ihn für einen Kommunisten hielten5. Jedenfalls war es seine politische Haltung, die 1933 als Vorwand seiner Entlassung aus dem Beamtenverhältnis herhalten mußte: politische UnZuverlässigkeit*. Diese Begründung war vernichtend, denn sie führte später zur automatischen Ablehnung jeden Stellengesuches, selbst innerhalb der jüdischen Gemeinde. Als Ende 1935 die Direktorenstelle des Jüdischen Reform-Realgymnasiums am Rehdigerplatz neu zu besetzen war, setzte sich die liberale Gemeindefraktion mit dem Argument durch, man könne dieses Amt nicht einem Mann wie Cohn übertragen, der bekannterma-
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8. Oktober 1935. 9. Mai 1933 und 7. September 1941. 15. Juli 1936. 26. Februar 1933. 29. Januar 1933. 18. Juni und 31. August 1933.
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ßen politisch belastet sei1. Immerhin erhielt Cohn im Dezember 1936 einen Lehrauftrag für Geschichte am Jüdisch-Theologischen Seminar, was ihn anmerken ließ, „spät hat man sich meiner erinnert"2. Nicht einmal diese ehrenvolle Berufung befriedigte ihn ganz. Als er nach der Pogromnacht von 1938 den Seminarschlüssel zurückgab, schwang Enttäuschung mit3. Ähnliche Erfahrungen wiederholten sich bei der Frage, wer sich um das verwaiste historische Archiv der jüdischen Gemeinde kümmern sollte, es wurde 1941 Cohns letzte Gemeindeaufgabe. Das Widersinnige an der Situation lag darin, daß Cohn alle Juden verurteilte, die ihr Judesein verleugnet hatten, um Deutsche zu werden, er selbst aber seinen deutschen Patriotismus nicht ablegen konnte, der ihn wiederum hinderte, seine zionistischen Hoffnungen in die Tat umzusetzen. Er hielt die Friedensregelungen von Versailles für ein Unrecht, weshalb er für die revisionistischen Ziele des Dritten Reiches Verständnis zeigte. Als „der Führer" die Grenze nach Österreich überschritten hatte und den „Anschluß" verkündete, meinte Cohn „bewundern" zu müssen, „mit welcher Energie das alles durchgeführt worden ist"4. Auch das Ende der Tschechoslowakei war ihm nur die Wiederherstellung eines jahrhundertealten Zustandes. Ein „unnatürlicher Staat" war verschwunden5. Noch problematischer war, wenn Cohn sich bemühte, die Argumentation von Führerreden nachzuvollziehen, ja, wenn er ihnen teilweise beipflichtete. Schließlich war Hider doch das „Staatsoberhaupt" in der Nachfolge des angesehenen Hindenburg. „Daß das deutsche Volk Lebensraum braucht, kann man verstehen, und wenn man ihm diesen Lebensraum gewährt hätte, so wäre es niemals zu dieser Judengegnerschaft in Deutschland gekommen."6 Cohn sah eine Analogie zwischen dem nationalsozialistischen Postulat nach „Lebensraum" für Deutschland und dem zionistischen Ziel eines jüdischen Staates in Palästina. „Der nationale Gedanke marschiert auf der ganzen Linie. Wenn wir Juden diese nationale Geschlossenheit hätten, so würden wir auch weiter sein."7 Der Wehrmacht attestierte er bei ihrem Vormarsch nach Polen eine „völlige Manneszucht, ... wie ich es auch nicht anders erwartete"8, nur, was man Anfang 1940 an ,,schlimme[n] Dinge[n] über das Verhalten der Deutschen in Posen und Polen" hörte, stand in krassem Widerspruch zur Haager Landkriegsordnung, um die sich wohl niemand
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3. Oktober und 28. November 1935 und öfter. 5. Dezember 1936. 6. Juli und 21. Oktober 1939. 13. und 14. März 1938. 16. März 1939. 31. Januar 1939. 18. Februar 1938. 30. November 1939.
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mehr kümmerte1. Zuvor jedoch, als Hitler den Polenfeldzug scheinbar mühelos gewonnen hatte, vergaß Cohn für einen Augenblick alles, was er seit der Reichpogromnacht erlitten hatte: „Die Größe dieses Mannes, der der Welt ein neues Gesicht gegeben hat, muß man anerkennen."2 Es wäre billig, wollte man Cohns Tagebücher nur auf solche „Stellen" absuchen, um damit den Autor und seine Leidenschronik der political incorrectness zu überführen. Damit geschähe ihm bitteres Unrecht. Aber es waren Sätze wie diese, die fragen ließen, ob es eine Verfälschung des widersprüchlichen Persönlichkeitsbildes wäre, wollte man sie verschweigen. Die Nachwelt ist klüger als es ein um Erklärung und Objektivität ringender Beobachter im Jahr 1939 sein konnte. Cohn kannte weder den Fortgang der Ereignisse, noch hat er je erfahren, was in Auschwitz geplant und verbrochen wurde. Im übrigen steht Cohn auch in seiner Zerrissenheit zwischen täglicher Unrechtserfahrung und politischer Empathie für eine bestimmte jüdische Wahrnehmung, die das Dilemma mancher Juden seiner Zeit ausmachte3. Von dieser „Bewunderung" herab folgte freilich ein um so bittererer Absturz. Der scheinbare Siegeszug des Reiches änderte nichts an der antijüdischen Politik. Vielmehr verschärfte sie sich durch ein Übermaß an Schikanen und Grausamkeiten. Täglich sah Cohn die Zunahme des Unrechts, auch wenn es mit einer Scheinlegalität neuer Gesetze bemäntelt wurde. Als besonders entwürdigend empfand er die Stempelung der Ruhebänke in den Straßen und Anlagen mit dem Aufdruck „für Juden verboten". Das begann Mitte 1939 am Hindenburgplatz, setzte sich auf der Hohenzollernstraße fort, erreichte den Hardenberghügel, den Park von Scheitnig, die Leedeborntrift, den Südpark, den Reichspräsidentenplatz, ja sogar die Bänke in der Kirschallee vor dem jüdischen Altenheim. Mit Empörung vernahm er, wie Deutschland mit den Juden in Polen verfuhr, von ihrer Einpferchung in Ghettos, von ihrer gewollten Verelendung. Das war Willkür. „Deutschland hat den Rest an moralischem Kredit verloren."4 Die darauf folgende Führerrede widerte ihn an, sie war ,4m Ton außerordentlich grob" und von Antisemitismus nur so strotzend, mit einem Wort, sie „war ziemlich gewöhnlich"5. Noch deutlicher wurde er nach der Rede vom 9. November 1941. Hiders „Ton ist furchtbar und eines Staatsoberhauptes unwürdig"6. Zugleich begannen die ersten Deportationen von Juden 1 2 3
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Tgb. vom 26. Januar 1940. Tgb. vom 7. Oktober 1939. Zu diesem problematischen Komplex vgl. Stefan BREUER: Ordnungen der Ungleichheit Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945. Darmstadt 2001. Shulamit VOLKOV: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München 2 2000. Tgb. vom 14. Februar 1940. Tgb. vom 26. und 28. Februar 1940. Tgb. vom 10. November 1941.
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aus Pommern und Stettin nach Polen, über die nach und nach Genaueres nach Breslau drang. Cohn war entsetzt, „welche Verlogenheit" sich hier entlarvte. Das tägliche Leben, die Familie, das Privadeben, die Verwandtschaft in Breslau und Berlin füllen die Tagebücher mehr, als es hier zum Abdruck kommt. Der engere Verwandtenkreis der Cohns bot ein Spiegelbild der Breslauer Gemeinde, denn in ihm fanden sich alle unterschiedlichen religiösen und politischen Haltungen wieder. Familienbegegnungen endeten unvermeidlich in Gesprächen über die politische Lage, und da jeder auf seiner Ansicht beharrte, waren Spannungen nicht selten. Stets waren es die Unterschiede der religiösen, religiös-politischen und allgemein politischen Beurteilung. Auch wenn das Tagebuch die Dinge nur aus der Sicht Cohns berichtet, so läßt sich mitunter verstehen, warum die Verwandten anders dachten. Bruder und Schwester zogen für ihre Familien rechtzeitig die Konsequenzen und fanden einen Weg zur Flucht. Für Willy Cohn aber gab es nur ein einziges legitimes Ziel, Palästina. Der Exodus aus Breslau sollte bei den eigenen Kindern beginnen, wenn auch ungeplant. Der älteste Sohn Wolfgang floh unmittelbar nach seinem Abitur 1933 nach Paris, weil gegen ihn emstzunehmende Drohungen bekannt wurden. In Paris nahm der Achtzehnjährige, ganz auf sich allein gestellt, ein Studium auf. Die beiden jüngeren Kinder Ernst und Ruth entwickelten sich eigenständig. Es bekümmerte den Vater, wenn sie nicht mit zur Synagoge gingen, aber sie teilten seine zionistischen Hoffnungen auf Palästina. Ernst besuchte eine Hachscharah auf Gut Winkel, ehe seine Breslauer Gruppe Ende März 1935 von Triest aus nach Palästina aufbrach, wo den Sechzehnjährigen ein Kibbuz erwartete. Von hier aus unternahm er alles, um die Eltern nachzuholen. Die couragierte Mutter verschaffte der Tochter Ruth 1939 eine Jugendalijah nach Dänemark. Ruth war noch nicht fünfzehn, als man sich für immer verabschiedete. Nur wurde Dänemark im April 1940 von den Deutschen besetzt. Unter schwierigsten Umständen gelangte sie im Dezember 1940 mit einer Sonderhachscharah von Dänemark über Stockholm, Helsinki, Moskau, Odessa, Istanbul nach Palästina. Um diese Zeit liefen schon die deutschen Planungen für den Angriff auf die Sowjetunion. Zwischen der Flucht von Sohn und Tochter lag die Erkundungsfahrt Willy Cohns und seiner Frau 1937 nach Palästina. In dieser „Friedenszeit" herrschte noch ein reger Besucherverkehr zwischen Deutschland und dem englischen Mandatsgebiet Palästina. Man fuhr zu den emigrierten Verwandten und Freunden oder sondierte die Möglichkeiten der eigenen Auswanderung. Als die Eheleute im März 1937 ihre Fahrt antraten, hatten sie ihre Rückfahrkarten bereits gelöst, denn die zwölf Jahre alte Tochter Ruth und die fünfjährige Susanne waren daheimgeblieben. Für Cohn war diese Reise über das Mittelmeer emotional aufwühlend. Er schilderte sie in poetischer Breite, „hochgestimmt"
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und „den Tränen nahe"1. Er war von der Aufbauarbeit des Kibbuz tief beeindruckt, hier war er „eigentlich resdos glücklich" und am Ziel seiner Wünsche 2 , der Blick auf Jerusalem offenbarte ihm „die alte Herrlichkeit unseres Volkes". Wenn man schon nicht sofort bleiben konnte, so wartete hier „ein Stück Lebenserfüllung". Freilich, wovon sollte man im Gelobten Land leben, wenn man zu körperlicher Arbeit nicht geschaffen schien und erst zu regeln war, ob die Breslauer Pensionszahlungen nach Palästina transferiert würden? Seine Ehefrau Gertrud sah viele Dinge nüchterner und praktischer, sie fürchtete, „ihr ganzes Leben hier unglücklich" zu sein und war gegen ein Leben im Kibbuz. Dazu Cohn: „Ich kann keine großen Kämpfe mehr durchfuhren, und so wird dieser Traum ins Nichts zerrinnen"3. Ebenso ernüchternd war, daß der Kibbuz Giwath Brenner seinerseits eine Aufnahme Cohns ablehnte4. Wieder zu Hause in Breslau, stürzte sich Cohn in seine Arbeit und begann immer neue Buchprojekte und Planungen5, mit denen er sich betäubte. „Wenn es nicht Palästina sein kann, so will ich schon gern das Schicksal Deutschlands mittragen"6. Das heißt, Cohn begann zu resignieren und erwog auszuharren, bis nach diesem Krieg und einer eventuellen Niederlage Deutschlands bessere Zeiten anbrächen. Eine solche Einstellung war nur verständlich, weil er noch immer einen Rest an Vertrauen in die Berechenbarkeit des Regimes bewahrt hatte. Um so wuchtiger traf ihn der Schock des 9. November 1938 mit dessen maßloser Gewalt und der Schändung heiligster Traditionen7. Die Neue Synagoge stand in Flammen, die meisten Synagogen und jüdischen Einrichtungen wurden demoliert und teilweise gänzlich beschlagnahmt. Verwandte und Freunde hatte man nach
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Tgb. vom 26. März 1937. Tgb. vom 30. März 1937. Tgb. vom 9. April 1937, ähnlich am 5. April 1937. Tgb. vom 13. September 1937. Solche Planungen durchziehen die Tagebücher seit 1933. Sie galten einer italienischen Ausgabe des Normannenbuches, einer Geschichte der Juden in Breslau, einem Sammelband seiner journalistischen Beiträge (Titel: Im Kampf um die Erneuerung des Judentums), einem Buch seiner Palästinafahrt, einem Sizilienbuch (Titel: Sizilien im Urteil seiner Besucher), einem historiographischen Werk (Titel: Probleme der jüdischen Geschichtsschreibung). Weitgehend fertig wurde ein Buchmanuskript „Pfandrecht und Pfandleihe, ihre Einwirkungen auf das Schicksal der Juden im Mittelalter". Abgeschlossen wurden schließlich die 1995 gedruckten Lebenserinnerungen. Tgb. vom 10. August 1940. Zur Pogromnacht in Breslau gibt es zahlreiche Untersuchungen und Augenzeugenbeobachtungen. Vgl. Herbert SCHULTHEIS: Die Reichskristallnacht in Deutschland in Augenzeugenberichten (Bad Neustädter Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde Frankens 13). Bad Neustadt a.d. Saale 1985. Karol JONCA: „Noc krysztalowa" i casus Herschela Grynszpana (Acta Universitatis Wratislaviensis 1312). Wroclaw 1992. Karol JONCA: Judenverfolgung und Kirche in Schlesien; in: Stefi JERSCH-WENZEL (Hg.): Deutsche - Polen - Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 1987.
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Buchenwald verschleppt, auch den Bruder Rudolf und den Ehemann der Schwester Erna, ebenso mehr als 2000 Breslauer Juden. Als die Verhaftungen in der eigenen Straße begannen, schickte ihn seine Frau auf weite Spaziergänge. Abends wußte man, daß die Polizei sein Haus „ausgelassen" hatte. Auch in den nächsten Tagen hingen die Kinder weiter ängstlich am Fenster und hielten nach ihrem Vater Ausschau. Aus der Gemeinde hörte man vom Schicksal der „Schutzhäftlinge" und von zahlreichen Selbstmorden. Aus der schlesischen Provinz erfuhr man noch Schlimmeres. „Diese Tage zählen meiner Ansicht nach zu den schwärzesten Tagen nicht nur der jüdischen, sondern auch der deutschen Geschichte, und ich glaube, daß sich viele Deutsche ihrer schämen"1. Wieder empfand Cohn den Widerspruch, daß er anderen Standhaftigkeit und Mut vermitteln wollte und konnte, nur bei sich selber sah er die Kräfte schwinden. Längst hatten die quälenden Sorgen eine massive Beeinträchtigung seiner labilen Gesundheit bewirkt. Cohn litt bald ständig unter psychosomatischen Beschwerden und Depressionen, die ihm den Schlaf raubten, so daß er in verzweifelten Augenblicken zu sterben wünschte. Existentielle Ängste hatten sich aller bemächtigt. Es bedrückte ihn, daß seine zwölf Jahre jüngere Frau ihn als Ballast empfinden könnte. Welche Zukunft stand den Töchtern bevor, die an der Jahreswende 1938/1939 noch zu Hause lebten und erst vierzehn (Ruth), sechs (Susanne) und ein halbes Jahr (Tamara) alt waren? Alle in seiner Nähe wollten aus Breslau heraus. Cohn wußte, „Trudi denkt da anders wie ich! Ich sehe überhaupt, daß ich diesen Dingen wenig gewachsen bin und, daß Trudi sie, wenn ich nicht da wäre, besser erledigen könnte"2. Als Ende 1938 die geradezu befreiende Anforderung aus Palästina eintraf, wurde sofort ein Spediteur bestellt und der Verkauf des Familienhauses am Ring in die Wege geleitet3. Aber die Freude war verfrüht, denn einer Realisierung stellten sich erneut unzählige Hindernisse in den Weg. Das war zermürbend. Das permanente quälende Ringen, ob und wie man die Auswanderung erreichen könne, entzweite am Ende die Ehepartner. Wieder stand der Herausgeber vor der Frage, ob es nicht die Diskretion gebiete, so private Erschütterungen zu verdecken. Nur lagen die Ursachen dafür ja nicht im zwischenmenschlichen Bereich. Es war der unmenschliche äußere Druck, der alle tief verletzte1 und gefährdete, bis hin zur Versuchung, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Wollte man das verhehlen, so hieße es, den handelnden Personen übermenschliche Kräfte zuzusprechen. Das Ausmaß der Unterdrückung und die ganze Tragik der gequälten Juden von Breslau wird noch deutlicher, wenn man diese Traumata sichtbar läßt.
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Tgb. vom 13. November 1938. Tgb. vom 20. Dezember 1938. Tgb. vom 31. Dezember 1938.
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Das Tagebuch enthält Begegnungen mit Zeitgenossen, bekannten1 und weniger bekannten. Wenn hier die Namen so vieler passieren und sie alle in das Register aufgenommen wurden, so auch deshalb, um das Andenken jener Menschen zu bewahren, die Breslau gezwungenermaßen verließen oder von hier den Weg in den Tod antreten mußten. Aus diesen Begegnungen sollen drei sehr unterschiedliche hervorgehoben werden, die den Quellenwert dieser Tagebücher noch einmal unterstreichen. Einmal handelt es sich um Fritz Arlt, einen Exponenten der NS-Rassenpolitik, dann um den jungen Kirchenhistoriker Hubert Jedin, dessen Bedeutung sich damals bereits ahnen ließ, und schließlich den führenden Repräsentanten des deutschen Judentums, Oberrabbiner Leo Baeck. Zur Durchfuhrung ihrer Pläne benötigten Polizei und Behörden eine vollständige Erfassung aller Juden und Personen jüdischer Herkunft. Eine der Aufgaben des Rassepolitischen Amtes der NSDAP war daher die genealogische Ermüdung von Juden und „jüdisch Versippten". Was lag näher, als den fehlenden Expertenrat bei der jüdischen Gemeinde selbst einzuholen. Am 15. Juli 1939 erhielt Cohn eine Einladung in das Breslauer Landesamt für Rassen- und Sippenforschung, ein Vorgang, der allein deshalb ungewöhnlich war, als der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Georg Leß und ihr Verwaltungsdirektor Ernst Rechnitz hinzugeladen wurden2. Cohn dünkte die Anfrage unheimlich, irgendein „Chaserfüßchen" mußte dahinter verborgen sein. Aber einem „Wunsch" der Gestapo konnte man sich nicht entziehen. Es stellte sich heraus, daß der Leiter des Amtes für Rassen- und Sippenforschung, der junge SSMann Dr. Fritz Arlt, es auf Cohn abgesehen hatte, dessen Kenntnisse er mit aller ihm zu Gebote stehenden Liebenswürdigkeit abschöpfen wollte. Cohn wurde mit dem Auto durch Breslau chauffiert und durfte Arlt die Einrichtungen des jüdischen Breslau zeigen. Also führte er ihn an das Grab Lassalles und die Gedenkstätten der für Deutschland gefallenen Juden3. An einem anderen Tag arbeiteten sie das Verzeichnis der jüdischen Vereine durch und überprüften im Universitätsarchiv die Dozentenkartei nach Personen jüdischer Abstammung4. Weder fehlte es an Komplimenten für Cohns wissenschaftliches Ansehen, noch an Vorspiegelungen, was es alles auf diesem Gebiet wissenschaftlich zu erforschen gebe.
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Dazu gehören die beiden Musiker Anita Lasker und Konrad Latte. Vgl. Anita LASKERWALLFISCH: Ihr sollt die Wahrheit erben. Breslau - Auschwitz - Bergen-Belsen. Bonn 1997. Über Konrad Latte (1922-2005), den Gründer des Berliner Barock-Orchesters: Peter SCHNEIDER: „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen ...". Wie ein jüdischer Musiker die Nazijahre überlebte. Berlin 2001. Tgb. vom 15. und 26. Juli 1939. Tgb. vom 3. August 1939. Tgb. vom 23. August 1939.
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Cohn hat nie erfahren, wer sich hinter der Maske des Biedermannes verbarg. Erst die Forschungen von Götz Aly haben Fritz Arlt als einen jener Helfershelfer identifiziert, die zu den logistischen Wasserträgern im Vorfeld der „Endlösung" gehört haben1. Ein weiterer Mißbrauch seiner Kenntnisse ist Cohn erspart geblieben, weil Arlts rassepolitische Erfahrungen kurz danach im eroberten Polen und in Oberschlesien benötigt wurden2. Arlt hat nach dem Zweiten Weltkrieg auf seinem Gebiet weitergearbeitet, den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes aufgebaut und danach die Abteilung Bildungsarbeit beim Deutschen Industrieinstitut in Köln geleitet. Gegen Alys „Fälschungen" hat sich Arlt mit einem dubiosen Buch zur Wehr gesetzt, das alle Vorwürfe zurückwies. Er, Arlt, sei ein „Dissident", um nicht zu sagen ein Widerstandskämpfer, gewesen, der in verdeckter Weise Juden geschützt und ihnen geholfen habe. Er habe nach dem Novemberpogrom von 1938 den „Schutz für das Fränkelsche Institut (Jüdische Hochschule) und die jüdischen Professoren" erwirkt3, und als Beweis könne er auf das „Arbeitsverhältnis mit Dr. Willy Cohn" verweisen, das von ihm geradezu „demonstrativ" aufgenommen worden sei! Um dieselbe Zeit konnte Cohn weit erfreulichere Erfahrungen sammeln. Er hatte auf Bitten Leo Baecks die Betreuung größerer Abschnitte der geplanten Germania Judaica übernommen und brauchte dringend den Zugang zu einer wissenschaftlichen Bibliothek. Die öffentlichen Bibliotheken Breslaus waren ihm verschlossen4, aber in der katholischen Diözesanbibliothek auf der Dominsel durfte er frei arbeiten. Von Mai 1939 bis zuletzt war er hier ein gern 1
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Götz ALY und Susanne HEIM: Votdenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hamburg 1991. Fritz Arlt gilt hier als Prototyp der Zuarbeiter im Hintergrund. Seine Dissertation zu den „Volksbiologische[n] Untersuchungen über die Juden in Leipzig" erschien 1938. Er war seit 1934 als Leiter des Amtes für Rassen- und Bevölkerungspolitik im Kreis Leipzig und seit 1936 in gleicher Funktion in Breslau tätig. Isabell HEINEMANN: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas (Moderne Zeit 2). Göttingen 2003, S. 511. Fritz ARLT: Polen-, Ukrainer-, Juden-Politik im Generalgouvernement für die besetzten Gebiete 1939/40 und in Oberschlesien 1941/43 und im Freiheitskampf der unterdrückten Ostvölker. Dokumente, Äußerungen von Polen, Ukrainern und Juden; Richtigstellungen von Fälschungen eines Insiders. Lindhorst 1995, S. 144. Es ist bemerkenswert, daß die letzte Geschichte der Breslauer Stadtbibliothek gerade Willy Cohn als ihren regelmäßigen Benutzer nennt, nicht ohne den seltsamen Zusatz „Nach 1933 haben wir auch ihn nicht mehr wiedergesehen". Ja, warum wohl? Ebenso verwunderlich ist, wenn Norman Davies meint, Willy Cohn habe für seine Forschungsarbeit bis zuletzt ganz normal die Universitätsbibliothek benutzen können. Alfred RÜFFLER: Die Stadtbibliothek Breslau im Spiegel der Erinnerung. Geschichte, Bestände, Forschungsstätte (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 28). Sigmaringen 1997, S. 150. Norman DAVIES und Roger MOORHOUSE: Die Blume Europas, S. 488.
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gesehener Gast, an dessen jüdischer Not alle herzlichen Anteil nahmen. Die Pförtnerin versorgte ihn mit Lebensmitteln, die man als Jude kaum kaufen konnte. Wichtiger aber war ihm der selbstverständliche Umgang, das offene Gespräch und der dabei gewonnene Trost. Am Dom wußte man über die Verbrechen an Juden Genaueres. Cohn erfuhr hier aus sicherer Quelle von der Erschießung von zwölftausend Juden in Lemberg, eine ebenso unfaßbare wie ominöse Nachricht1. Neben dem Archivdirektor Kurt Engelbert und dem Kirchenhistoriker Hermann Hoffmann fand er vor allem bei einem jüngeren Gelehrten menschliches und wissenschaftliches Verständnis. Es war der endassene Privatdozent Hubert Jedin. Er war seiner jüdischen Mutter wegen selbst gefährdet, und man verstand sich als Schicksalsgefährten. Jedin hatte noch Zugang zur Universitätsbibliothek, wo er für Cohn Bücher entlieh, ja diese ihm sogar nach Hause brachte, wenn Cohn ausblieb, was auf dem Dom stets Anlaß zu Besorgnis gab. Jedin ging bald nach Rom, von wo aus er noch Kontakt zu Cohn hielt. In wenigen Jahren wurde er einer der bedeutendsten Kirchenhistoriker der Nachkriegszeit2. Und schließlich wäre Leo Baeck zu nennen, der große Berliner Repräsentant des deutschen Judentums in dieser Zeit3. Man kannte sich seit langem vom Jüdischen Kulturbund und der Logentätigkeit her, wohl auch aufgrund von Baecks Breslauer Verwandtschaft. Baeck schätzte an Cohn auch den Wissenschafder und übertrug ihm nach und nach ganze Provinzen zur Bearbeitung für die geplante Germania Judaica. Die Tagebücher zeigen, wie Cohn beinahe täglich Beiträge zu den jüdischen Gemeinden in Schlesien, Böhmen, Mähren, Sachsen, Thüringen, Luxemburg und Belgien verfaßte. Aus diesem großen Anteil leitete Cohn den Wunsch ab, im zweiten Band der Germania Judaica als Mitherausgeber genannt zu werden4. Wenn Baeck bei seinen Brüdern in Breslau weilte, gab es Gelegenheit, sich zu verabreden und miteinander auszutauschen. Cohn spielte hier für Baeck den Fremdenführer, zusammen suchten sie das katholische Domarchiv auf und bewunderten dort neuentdeckte hebräische Schriften. Eine Unterredung der beiden im September 1940 entwickelte sich zu einer umfassenden Lagebeurteilung des Judentums und der allgemeinen politischen Perspektiven, so daß Cohn sie ausfuhrlich protokollierte. Sie ist eine der bemerkenswertesten Passagen des Tagebuchs5.
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Tgb. vom 25. Juli 1941. Hubert JEDIN: Lebensbericht: mit einem Dokumentenanhang, hg. von Konrad REPGEN. Mainz 1984. Cohn findet in dieser gerafften Darstellung keine Erwähnung. Esriel HILDESHEIMER: Jüdische Selbstverwaltung unter dem NS-Regime. Der Existenzkampf der Reichsvertretung und Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Tübingen 1994. Tgb. vom 3. März 1940. Tgb. vom 14. September 1940.
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Was Cohn nicht mehr schildern konnte, waren seine Erlebnisse seit dem oben erwähnten Verschickungsbescheid vom 15. November 1941. Lange hatte Cohn die Möglichkeit verdrängt, daß es auch ihn treffen könne. Doch seit der Deportation der badischen Juden Ende Oktober 1940 mußte man mit allem rechnen. Damals, gleich am 1. November 1940, hatte die Familie „einige Handkoffer gepackt, um für den schlimmsten Fall der Austreibung mit dem Notwendigsten gerüstet zu sein"1. Es blieben vom 15. November 1941 an - so war es mitgeteilt worden - noch zwei Wochen bis zur angekündigten Wohnungsräumung, eine Zeit, die es zu nutzen galt, unter anderem zur Bergung der eigenen Manuskripte. Wenn die Gemeinde Willy Cohn eine Ersatzunterkunft und eine Bescheinigung seiner Unentbehrlichkeit verschaffen könnte, bestand eine Chance, noch einmal davonzukommen. Anderenfalls mußte man damit rechnen, nach Tormersdorf oder Gnissau verschickt zu werden, wie schon zahlreiche Breslauer Juden zuvor. Mit diesen Hoffnungen und Sorgen unternahm Cohn seine letzten Bittgänge zur Gemeindeleitung. Ihr Ergebnis muß offen bleiben. Eine Deportationsankündigung, die als Massenpostsache an mehrere hundert jüdischer Haushalte ging, konnte in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt bleiben. Vielleicht war es Cohn noch möglich, Konsistorialrat Engelbert vom Diözesanarchiv zu benachrichtigen, der ihn so schätzte. Jedenfalls war Kardinal Bertram informiert und schrieb noch am 17. November 1941 an den Münchner Kardinal Faulhaber, ob und wie die Kirche auf die beabsichtigten Verschickungen reagieren könne2. Man erwog ein Memorandum der Bischofskonferenz an die Reichsregierung, zu dem es nie kam. Spätestens im Februar 1942 erfuhr Kardinal Bertram auch vom Ende der Breslauer Deportierten. Aus anderen Quellen läßt sich das weitere Geschehen rekonstruieren3. Was nun begann, war bisher ohne Beispiel in Breslau. Es bedeutete den skrupellosen Übergang zur „Endlösung"4. In einer polizeilichen Blitzaktion vom 21. November wurden bereits eine Woche nach dem Bescheid über tausend Breslauer Juden in aller Frühe aus den Betten geholt und zu einem vorbereiteten Sammelplatz in der Nähe des Odertorbahnhofes gebracht. Dort lag ein von 1 2
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Tgb. vom 2. November 1940. Karol JONCA: Judenverfolgung und Kirche in Schlesien (1933-1945), S. 224. DERS.: Schlesiens Kirchen zur „Lösung der Judenfrage"; in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 2, Verfolgung — Exil - Belasteter Neubeginn, hg. von Ursula BÜTTNER. Festschrift für Werner Jochmann zum 65. Geburtstag (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 22). Hamburg 1986, S. 123-147, hier S. 140. Franciczek POLOMSKI: Deportacje Z y d ö w z Dolnego Sl^ska w latach 1941-1944. Proba rekonstrukcji; in: Acta Universitatis Wratislaviensis Nr. 1182, Historia LXXXIV, Wroclaw 1991, S. 104-105. Das Standardwerk zu diesem Thema ist nach wie vor Raul HlLBERG: Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Erste Aufl. Berlin 1961 u.ö.
Einleitung
XXIX
der Stadt bewirtschaftetes Gesellschaftslokal mit einem ungenutzten Konzertsaal. Das etwas heruntergekommene Etablissement trug den historischen Namen „Schießwerder" und lag an der Schießwerderstraße 25. Ein jüdischer Augenzeuge hat später die Vorkommnisse zu Protokoll gegeben1: „Es ist mir genau in Erinnerung, als die ersten Deportationstransporte von Breslau erfolgten. Der erste wurde aus 1000 Frauen, Männern und Kindern im November 1941 zusammengestellt. Diese Menschen wurden von der Polizei (in Uniform) gegen 6 Uhr morgens aus den Wohnungen geholt und durften nur die notwendigsten Habseligkeiten mitnehmen. Sie wurden in Lastkraftwagen nach dem sogenannten Sammellager Schießwerder gebracht. Da sich diese Aktion wie ein Lauffeuer unter uns, d.h. den Juden, schnell verbreitet hatte, ging ein großer Teil unserer Leute nach dem Schießwerder. Wir fanden sofort heraus, daß die uniformierte Polizei nur den Auftrag hatte, die verhafteten Menschen nach dem Schießwerder zu bringen. Von diesem Punkt an führten Hampel und Fey das Kommando. Hampel, ein kleiner rundlicher Mann, trug mit Vorliebe einen Lodenhut und Joppe mit schwarzen Stiefeln, zum Gegensatz zu Fey, der ungefähr 1,80 ist und immer einen Anzug trug. Wir gingen deshalb nach dem Schießwerder, da fast jeder von uns Verwandte oder Freunde hatte, aber leider hatte man uns beim Eingang den Eintritt verweigert, obwohl wir unseren Lieben nur auf Wiedersehen sagen wollten. Im übrigen wurden die Wohnungen von den Deportierten sofort von der Gestapo versiegelt. Die Wohnungen waren nach ein paar Tagen vollkommen leer und wurden wieder bezogen. Die Gestapo benutzte die Synagoge auf der Wallstraße als Lagerhaus, welches mit Möbeln und Haushaltsgegenständen gefüllt war. Mir sind diese Einzelheiten so gut in Erinnerung, weil ich sehr nahe an der Jüdischen Gemeinde gewohnt habe und ich mit anderen jüdischen Nachbarn die Gegenstände von den Deportierten nach der Wallstraße im Handwagen bringen mußte." Vier Tage mußten die Menschen im Schießwerder-Etablissement ausharren, dann wurden sie am 25. November zum nahen Odertorbahnhof getrieben, wo ein Zug auf sie wartete, dessen Ziel niemand kannte: Kaunas (Kowno) in Litauen. In Kaunas wartete auf sie das Ghetto im sogenannten Fort IX. Inzwischen weiß man aus Berichten von Überlebenden2 des Ghettos und durch Der Bericht des Breslauer Juden Ismar Pick ist abgedruckt bei Karol JONCA: Die Deportation und Vernichtung der schlesischen Juden; in: Helga GRABITZ u.a (Hg.): Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag. Berlin 1994, S. 159. William M. MLSHELL [Mishelski]: Kaddish for Kovno. Life and death in a lithuanian ghetto 1941-1945. Chicago 1988. Vincas BARTUSEVICIUS, Joachim TAUBER, Wolfram WETTE (Hg.): Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941. Mit einem Geleitwort von Ralph GLORDANO. Köln 2003.
XXX
Einleitung
historische Ermittlungen1 von den fürchterlichen Geschehnissen, denen nur an diesem Ort insgesamt 67.000 Menschen zum Opfer fielen2. Parallel zur Ankunft des Breslauer Zuges traf in Kaunas ein weiterer Zug mit Juden aus Wien ein; auch in ihm befanden sich genau abgezählt eintausend Menschen. Sie alle wurden kurz nach ihrer Ankunft an eine vorbereitete Grube geführt, wo sie am 29. November 1941 im Maschinengewehrfeuer sterben mußten. Der verantwortliche SS-Standartenführer Dr. Karl Jäger überwachte den Vorgang. Sein schriftlicher Bericht registrierte die genauen Zahlen dieser Mordaktion, 1.155 Frauen, 693 Männer und 152 Kinder, alles „Umsiedler"3. Zu den jüngsten Opfern dürfte die kleine Tamara Cohn gehört haben, die nur drei Jahre alt werden durfte. *
Dieses Buch möchte ihrer aller Erinnerung bewahren. Mehr Worte als ein Kaddisch wären an dieser Stelle nicht angebracht. Aber eine, die letzte Hoffnung Willy Cohns hat sich einlösen lassen, einer späteren Generation vom eigenen Leben und Leiden zwischen 1933 und 1941 berichten zu können.
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Yitzak ARAD: The Murder of the Jews in German-Occupied Lithuania (1941-1944); in: Zeitschrift fur Ostmitteleuropa-Forschung, Jg. 54 (2005), S. 56-79. Vgl. die Einleitung zu Willy COHN: Verwehte Spuren, S. 11 f. Der sogenannte „Jäger-Bericht" des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD, Einsatzkommando 3, datiert vom 1. Dezember 1941. Er trägt die Überschrift: „Gesamtaufstellung der im Bereich des EK. 3 bis zum 1. Dez. 1941 durchgeführten Exekutionen" und kommt auf eine Summe von insgesamt 137.346 Exekutierten des gesamten Einsatzbereichs. Er ist im Faksimile abgebildet bei Vincas BARTUSEVICLUS u.a., Holocaust in Litauen, S. 303311.
II. Tagebücher Band 1
1933 11. Januar 1933 Breslau, Mittwoch. Ich bin vorgestern pünktlich um halb sechs in Breslau angekommen1; Trudi hat mich mit Ruth an der Bahn erwartet; wegen des Schneetreibens sind wir mit einem Auto nach Hause gefahren! Ruth war ganz aufgeregt; sie hat mir Marzipan zur Begrüßung auf die Bahn mitgebracht. Susannchen hat sich in der Zeit wieder mächtig herausgemacht und kann nun schon Tick-Tack sagen! Auch die Jungens waren wohlauf! Wölfl arbeitet mächtig zum Abitur. Nach meiner Ansicht viel zu viel. [...] Ich soll nun plötzlich für das Handwörterbuch für die Volkshochschule einen Artikel über Bebels Stellung zum Volksbildungswesen schreiben2. Ob ich das gerade in diese Tage noch hineinbekommen werde, erscheint mir sehr fraglich! Jahrelang hatte ich mich für diese Mitarbeit interessiert, und nun kommt sie ganz plötzlich und im ungeeigneten Augenblick! [...] 14. Januar 1933 Breslau, Sonnabend. Im Arbeitnehmerkursus vor allem über Agrarfragen diskutiert. Die Leute haben häufig den richtigen Instinkt und wissen, daß sie von einer bürgerlichen Regierung nichts zu erwarten haben. [...] Am Nachmittag in einem Buch über Bebel von Hochdorf gelesen3! Trudi war mit Ruth im Kino. [...] Sehr schöne Besprechungen kamen über den „Hermann von Salza"4 abends aus Elbing! 15. Januar 1933 Breslau, Sonntag. Gestern war Martins Todestag, zwölf Jahre sind seit jenen schlimmen Tagen in Eberswalde vergangen5; das Traurige, daß ein solch lebensfroher Mensch so zeitig fort mußte. Und was aus seiner Familie geworden ist! Das hat er sich alles ganz anders gewünscht. Wenn gestern nicht Sonnabend und eine so große Kälte gewesen wäre, wäre ich auf den Friedhof gegangen. Nachmittags mit Trudi viel gearbeitet, wir bereiten eine mitteldeutsche Vortragsreise vor! [...] 1
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Willy Cohn kehrte gerade von einer vierzehntägigen Vortragsreise zurück. Vgl. Willy COHN: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang, Köln 1995, S. 657-663. Vgl. Tgb. vom 17. Februar 1933. Max HOCHDORF: August Bebel. Geschichte einer politischen Vernunft. Berlin 1932. Willy COHN: Hermann von Salza (Abhandlungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Geisteswissenschaftliche Reihe 4). Breslau 1930. Welche Besprechung hier gemeint ist, ist nicht eindeutig auszumachen. Martin Cohn (1873-1922), der älteste Bruder, hatte Willy Cohn besonders nahegestanden. Vgl. Willy COHN: Verwehte Spuren, S. 318f.
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Joseph Resch getroffen, mit ihm über meinen Cyklus im Humboldtverein1 gesprochen; es sieht nicht so aus, als ob er diesmal zustande kommen möchte. Es liegt nicht in meiner Art, selbst Propaganda zu machen. Andererseits wäre es schade, wenn mir diese Einnahme entgehen würde. Aber man kann nicht alles haben. [...] 16. Januar 1933 Breslau, Montag. Ich konnte gestern in der Bahn [nach Liegnitz] nicht mehr viel schreiben, man ist dann froh, wenn man sich in der Ecke einkuscheln kann. Es holte mich Zahnarzt Dr. Baeck, der Bruder des Großpräsidenten, von der Bahn ab2. Zu ihm in die Wohnung, seine Frau, eine Schwester der Frau Krain, mit der wir in Saint-Malo 1926 zusammen waren3. Ein Junge im Alter von Ernst, der lieber in der Küche aß, weil er dort mehr vertilgen konnte. Zum Vortrag, dort ein ganzer Haufen Menschen, auch einige Leute aus der Silesia-Loge, dem sonst feindlichen Lager. [...] Ich hatte auch den Eindruck, daß ich den Menschen etwas gegeben habe. [...] Um halb zwölf in den Zug, dort zufällig mit Rechtsanwalt Foerder im gleichen Abteil. Mit ihm über den Fall Cohn4 und seine neueste Wendung gesprochen. Cohn darf wieder lesen5, aber er hat eine Art Sündenbekenntnis ablegen müssen! Nicht sehr würdig. Heute vormittag war es wärmer! Zwei Stunden unterrichtet, sodann zur Bibliothek, dort ließ ich mir eine Bescheinigung für das Zeitschriftenzimmer ausstellen, um in das Zeitschriftenzimmer zu gelangen. Die Ausbeute dort war nicht sehr groß. In der Universität überall große Anschläge, daß das Herumstehen in den Korridoren verboten sei. Unter den wenigen Leuten sah ich Radecker in S.A.-Uniform. Es scheint aber heute durch den Kompromiß zu keinen Störungen mehr gekommen zu sein. Das alles nur, weil Cohn sich für Trotzki verschleiert geäußert hat6. Man hat in Deutschland auch nicht für einen Verfolgten einzutreten! [...]
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Die Humboldtvereine waren eine 1860 ins Leben gerufene bürgerliche Bewegung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Kenntnisse. Sicherlich Martin Baeck, der als einziges der zehn Geschwister Leo Baecks 1879 in Liegnitz geboren wurde. 1940 lebte er bei seinem Bruder Richard in Breslau (vgl. Tgb. vom 14. September 1940). Dr. Martin Baeck war verheiratet mit Ella Riesenfeld. Ein Bild der Familie Martin Baeck mit dem Sohn Heinz Samuel Baeck sowie eine Stammtafel der Familie Baeck bei Georg HEUBERGER und Fritz BACKHAUS: Leo Baeck 1873-1956. Aus dem Stamme von Rabbinern. Frankfurt am Main 2001, S. 246 und 225.
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Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 426f.
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Gegen die Ernennung des Juristen Ernst Josef Cohn (1904-1976) zum Ordinarius an der Breslauer Universität war im Wintersemester 1932/33 eine breite antisemitische Kampagne entfacht worden. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 653. Vgl. „Kollege Cohn liest wieder"; in: Jüdische Zeitung (für Ostdeutschland) 40 (1933), Nr. 4 (27. Januar 1933), S. 1-2. Ernst Josef Cohn war in einem Zeitungsinterview darauf angesprochen worden, ob Deutschland dem aus Rußland ausgewiesenen Leo Trotzki (1879-1940) Asyl gewähren solle.
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17. Januar 1933 Breslau, Dienstag. Die Teilnahme an der Sitzung war im Grunde unnötig, da ich nicht nach Berlin zur Großlogentagung fahren werde. Die Lessing-Loge will in diesen Zeitläuften nur die Kosten für einen Repräsentanten aufbringen, was ich durchaus verstehen kann, dazu kommt noch mein augenblicklich gespanntes Verhältnis zur Loge! Fabisch, der gegenwärtige Vorsitzende des Logenverbandes, hat die Sitzung sehr geschickt geleitet. [...] 20. Januar 1933 Breslau. Freitag. [...] Es liegt draußen hoher Schnee und sieht sehr winterlich aus, nicht kalt! Ernst Kaim getroffen, dann ein Buch von Kisch über das Fischereirecht im Deutschordensgebiet1 durchgearbeitet. Allmählich kommt man wieder etwas zur Wissenschaft Ich warte immer noch auf eine endgültige Antwort aus Sizilien wegen des Normannenbuches2. Vorher will ich da nicht recht herangehen. Heute großer Korruptionsskandal wegen der Osthilfe3! Da aber wird nichts geschehen, weil es sich um die Agrarier handelt! Widerlich! [...] 22. Januar 1933 Breslau, Sonntag. Gestern abend mit Trudi und Wölfl zu einem Abschiedsabend der Chalusjm in der Lessing-Loge. Ernst wirkte auch mit! Es hat wieder sehr fortgerissen, wenn man die jungen Leute so erfüllt von der Idee sieht; wir Juden sollten auch endlich lernen, etwas für uns selbst zu tun. Alles andere wird uns nicht gedankt. Jacobsohn hat sehr zündend gesprochen. Am Schluß wurde eine Horrah getanzt, auch Ernst tanzte mit. Mit Trudi nach Hause gelaufen, auf dem Rückweg hatte man den Wind im Rücken! — Auch heute noch starkes Schneetreiben, wir wollen gerade mit Emst und Ruth Schlitten fahren! Wölfl ist in einer Sitzung vom
Guido KlSCH: Das Fischereirecht im Deutschordensgebiet (Deutschrechtliche Forschungen 5). Stuttgart 1932. Vgl. inzwischen ders.: Das Fischereirecht im Deutschordensgebiet Beiträge zu seiner Geschichte. Sigmaringen 2 1978. Dank seines 1 9 3 2 in Catania erschienenen Buches „L'etä degli Hohenstaufen in Siciclia" war Willy Cohn zum Mitglied der historischen Gesellschaft in Catania ernannt worden. Diese Ehrung führte zu der Überlegung, auch sein Buch v o n 1 9 2 0 „Das Zeitalter der Normannen in Sizilien", dem er seinen Spitznamen „Normannencohn" verdankte, völlig neu zu bearbeiten und ins Italienische übersetzen zu lassen. Wie schon beim Hohenstaufenbuch sollte auch dieses Mal Professor Guido Libertini in Catania für die Ubersetzung und Drucklegung sorgen. Das Tagebuch zeigt, daß die 1 9 3 2 begonnene Neubearbeitung bis Mitte 1 9 3 3 fast fertig war. Das Manuskript ging Mitte 1 9 3 5 an Libertini. Weder die deutsche Neubearbeitung, noch die italienische Ubersetzung sollten je erscheinen. Vgl. dazu Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 287. A m 10. Januar 1933 hatte der Haushaltsausschuß des Reichstages die Veruntreuung v o n Osthilfegeldern durch ostelbische Grundbesitzer (zum Beispiel zur Deckung v o n Spielschulden oder zum Kauf von Rassepferden) aufgedeckt.
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Arbeiterradfahrverein, Susanne schläft in ihrer Box, hier zwischen Eßstube und meinem Arbeitszimmer! [...] 23. Januar 1933 Breslau, Montag. Am Abend noch mit Wölfl zur Bahn gegangen, um die Post fortzubringen. Es war sehr kalt, aber der Spaziergang hat mir doch sehr gut getan, es ist mir immer auch lieb, wenn ich Gelegenheit habe, mich mit Wölfl über seine Interessen zu unterhalten. Wir sprachen hauptsächlich von dem bevorstehenden Heidelberger Semester. Auf dem Hinweg trafen wir Rose Marcus und ihren Mann. [...] Zu Marcus1 wegen der Ubersetzung des Normannenbuches; ich hatte heute die Freude, im Archivio storico per la Sicilia Orientale eine sehr hübsche Besprechung, die erste der sizilischen Ausgabe, zu lesen2. Nur, ob wir von den Siziliern etwas Geld herausholen werden, ist fraglich! Schade, daß man sich damit überhaupt so sehr befassen muß. Zum Humboldtverein; leider wird wohl mein Akademievortrag nicht zustande kommen. Aus den jüdischen Kreisen hat sich fast niemand gemeldet. [...] Sehr empört über das Verhalten der Polizei gestern in Berlin anläßlich der nationalsozialistischen Provokation am Karl-Liebknecht-Haus3. Die Kommunisten scheinen eine bewundernswerte Disziplin bewiesen zu haben. Die Politik in Deutschland wird einem von Tag zu Tag widerlicher. 25. Januar 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Eine barbarische Kälte, die heute womöglich noch strenger geworden ist. Man verheizt eine gewaltige Menge, schlimm für die, die kein Geld haben, Kohle zu kaufen. In der Konferenz brachte ich auch den Fall Klose zur Sprache, der sich gestern in der Olb ergeben hatte. Während ich etwas sagte, es handelte sich um die Behandlung der Novemberrevolution und die Frage der Blockade, rief er einfach dazwischen: „lächerlich" Und als ich ihm sagte, er wüßte ja noch gar nicht, was ich sagen wollte, erklärte er, er wüßte das schon; ich sagte ihm sehr gründlich die Meinung, fühlte mich aber doch veranlaßt, die Sache am Nachmittag in der Konferenz vorzutragen, wenn ich auch eine Bestrafung nicht wollte. Gabriel hat sich übrigens in diesem Fall recht ordentlich benommen und will nach den schriftlichen Arbeiten noch einmal in die Klasse kommen! Man darf sich solche Dinge 1 2
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Gemeint ist das Breslauer Verlagshaus Marcus. G. PALADINO: L'età degli Hohenstaufen in Sicilia. Traduzione di Guido Libertini (Biblioteca della Società di Storia Patria per la Sicilia Orientale. II, 1). Catania 1932; in: Archivio Storico per la Sicilia Orientale, zweite Serie, Jg. 8, der ganzen Folge 28. Jg., Catania 1932, Heft 1, S. 402-403. Am 22. Januar trat Hitler in Berlin bei einer Gedenkfeier für Horst Wessel auf. Ein Großaufgebot von SA, SS und HJ marschierte dabei am nahegelegenen Karl-Liebknecht-Haus vorbei, wo eine Konfrontation mit den Kommunisten nur durch massiven Polizeieinsatz verhindert werden konnte.
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nicht gefallen lassen, wenn man auch manchmal geneigt wäre, sie zu übersehen, weil es einem widerlich genug ist, sich mit solchem Dreck herumzubeißen. Aber wenn man seine Stellung vor der Klasse nicht einbüßen will, so muß man auch einmal energisch zupacken! In der Konferenz gelang es mir, noch eine Resolution zur Annahme zu bringen, in der alle Versuche von oben, uns in eine Zwangs fortbildung hereinzuzwängen, zurückgewiesen wurden. In der Konferenz verstehe ich schon, Gehör zu verschaffen. [...] Am Nachmittag kam Feilchenfeld wegen seiner Arbeit: Die Judenpolitik Friedrichs des Großen in Schlesien. — Mit Trudi rückständige Post gearbeitet Es ist uns doch gelungen, den Vortragscyklus im Humboldtverein zustande zu bringen. Immerhin wieder eine Verbesserung der Lage! 26. Januar 1933 Breslau, Donnerstag. In der Erdkundestunde mußte ich umziehen, weil ich das furchtbare Getrampel der Gymnastik übenden Schüler auf meinem Kopf nicht ertragen konnte. Hauptsache ist ja heute körperliche Ertüchtigung! Z[um] K[otzen], Nach Tisch mit Trudi ein paar Kleinigkeiten gearbeitet; seit langer Zeit wieder einmal etwas am Normannenbuch geschrieben. Es macht Freude, man sieht doch manches anders als vor 13 Jahren! Heute draußen eine unheimliche Kälte; 29 Grad minus sind am Boden gemessen worden. Bei uns waren minus zwanzig; ich habe mir lange Strümpfe angezogen; man muß alle Kinder sehr gut einpacken! Für die Erwerbslosen [ist] diese Zeit eine besondere Belastung; auch wir merken schon sehr den starken Kohleverbrauch! [...] 29. Januar 1933 Breslau, Sonntag. Ich bin zwei Tage nicht zum Einschreiben gekommen; am Freitag hatte ich von acht bis 1340 Uhr Schule; da ich um vier Uhr Konferenz hatte, ging ich zum Mittagbrot nicht nach Hause, sondern aß im Gewerkschaftshaus. [...] Bei Tisch traf ich den Kollegen Groß von der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer. Bei dieser Gelegenheit sprach ich alle Parteisachen durch. Groß erzählte, wie unsicher die Haltung von Tschersig geworden sei, so daß Groß ihm schon gesagt hat, er würde sich nicht mehr im P.S.K.1 sehen lassen. Das Tollste: der Oberstudienrat Freede, der als Oberstudienrat und Parteigenosse eine Stellung im P.S.K, bekommen hatte, ist hier in Breslau der Partei und der A.S.L.2 gar nicht beigetreten! So sind häufig die Leute gewesen, für die sich die
Nämlich im Provinzial-Schulkollegium. Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Lehrer.
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Partei eingesetzt hat1. Mir sagte man nach, so erzählte Groß, ich sei Kommunist! Ich begründete ihm meine Stellung zum Marxismus! Abiturientenkonferenz zur Feststellung der Vorcensuren, die sich bis dreiviertel zehn hinzog, nach Hause; war dann so erledigt, daß ich sofort ins Bett mußte, konnte nicht einmal Kiddusch machen. Wölfl tat dies für mich. [...] Ich lese jetzt von Beyerlein: Jena oder Sedan2. Geradezu prophetisch, wie man da die Entwicklung vor Jahrzehnten schon überschaut hat [...] Trudi schreibt jetzt an den Vormittagen die Dantearbeit ab. [...] Lehrerkonferenz der städtischen Volkshochschule. Mann hielt ein einleitendes Referat über die gegenwärtige Lage. [...] Dann mit Trudi Ruth zu Rabbiner Hoffmann3 begleitet; Ruth probt dort zu einer Chamischa ossär beschwat Feier, zurückgelaufen; wir wollten dann Proskauers einen Besuch machen, wir trafen sie vor der Tür, gingen mit ihnen ins Freie! Dabei sprach ich mit Erna die Lage des Hauses durch. Es war ein herrlicher Wintertag. Die Sonne lag glitzernd auf dem Schnee. Ernst war Skifahren gegangen. Wölfl ist jetzt ein paar Tage vor dem schriftlichen Abitur reichlich nervös, er klagt auch über die Augen; ich wünschte in seinem Interesse, daß schon alles vorbei wäre. Susannchen macht jetzt von Tag zu Tag im Sprechen Fortschritte; sie ist sehr sonnig. In den letzten Tagen häufiger mit Trudi Aussprachen gehabt; sie macht mir Vorwürfe, daß sie zu wenig vom Leben hat! [...] 30. Januar 1933 Breslau, Montag. [...] Heute ist ein freier Tag und ich habe ein paar Stunden an meinem Schreibtisch gesessen und an dem Normannenbuch geschrieben. Es macht weiter Freude und Befriedigung; es wird doch jetzt manches ganz anders, nachdem ich Sizilien gesehen habe4. [...] Am Nachmittag gelegen, ohne eigentlich schlafen zu können. Als ich aufwachte, die Nachricht, daß Hider Reichskanzler ist. Damit war ja in den letzten Tagen zu rechnen, nachdem man Schleicher gestürzt hat Ich fürchte, daß dies den Bürgerkrieg bedeutet! Demnächst wird die Rechte siegen, aber am Ende steht der Kommunismus! Und kommt nun eine Revolution von links, dann wird sie nicht so milde ausfallen. Hält sich aber Hitler an die Verfassung, dann ist er bei seinen Leuten auch erledigt. Jedenfalls trübe Zeiten, besonders für uns Juden! Aber man sitzt in der Mäusefalle. Vielleicht nur der einzige magere Trost, daß oftmals die Dinge anders laufen, als man sie annimmt. Vorhin klingelte Kollege Kliefoth an, einmal wegen eines Schülers von sich, den er in der Studienstiftung unterbringen will, und dann, um sich mit mir über die Lage zu unterhalten!
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Gemeint ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Franz Adam BEYERLEIN: Jena oder Sedan? Berlin 1903. Moses Hoffmann (1873-1958) war Rabbiner in Breslau. Auf der Studienreise des Jahres 1927. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 446ff.
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31. Januar 1933 Breslau, Dienstag. Gestern abend der erste Kursusabend am Humboldtverein ist glatt verlaufen. Es waren über dreißig Personen anwesend. [...] Man steht heute naturgemäß sehr unter dem Eindruck der veränderten Situation in Deutschland. Die Nazis benehmen sich wie die Sieger! Die Straßen sind voll von schwarzen und braunen Uniformen. Heute abend große Kundgebung am Platz der Republik. Auch sie werden mit der Wirtschaftskrisis nicht fertig werden, und dann kommt der große Umschlag nach links! Der Übergang ist böse! Um ihre S.A.- und S.S.-Leute in irgendwelche Staatsstellungen hereinzubekommen, werden sie auch vor inflationistischen Dingen nicht zurückscheuen. Der Boykott gegen alles Geistige und Jüdische wird immer stärker werden. Aber es heißt eben: die Zähne zusammenbeißen und durch diese Dinge hindurchkommen. [...] 1. Februar 1933 Breslau, Mittwoch. Gestern abend städtische Volkshochschule, ziemlich gut besucht, aber eine ziemliche Depression unter den Hörern infolge der Hitlerregierung. Es hat gestern auch wieder Tote in den Straßen von Breslau gegeben. Gegen die K.P.D. geht die Polizei natürlich jetzt auch ganz anders vor als gegen die Nazis! Gestern abend großer Fackelzug! Ich habe G'ttlob von den braunen Halunken nichts gesehen. Auf der Straße fuhr ich mit Leichtentritt zusammen, der durch die ganze Lage auch sehr verstimmt war! Ich bin der Meinung, daß man da jetzt eben die Zähne zusammenbeißen muß und durch diese Zeit hindurchkommen! Jetzt haben wir auch einen nationalsozialistischen kommissarischen Leiter des Kultusministeriums. Wenn ich irgend eine Möglichkeit sehen würde, würde ich sofort aus dem Schuldienst ausscheiden. [...] 2. Februar 1933 Breslau, Donnerstag! Gestern abend einen geradezu fürchterlichen Zustand. [...] Konnte erst nach den verschiedensten Mitteln schlafen! Es kam mir so alles hoch, was mich in der letzten Zeit bedrückt hat. Ich darf gar nicht daran denken. [...] Dazu noch die widerliche politische Lage und die Liebedienerei vor Hider! [...] 4. Februar 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Etwas getan, was ich mir schon lange vorgenommen habe: mein Testament und so weiter neu gemacht, einen Abschiedsbrief an Trudi geschrieben. All das muß auch gemacht sein, man muß sein Haus stets in Ordnung haben. Ich bin froh, daß ich es hinter mir habe, es hat mich doch sehr aufgeregt. [...] Ich bin heute in einer ziemlich melancholischen Stimmung und oft mit mir sehr zerfallen. Es ist dann immer die Arbeit, die mich weiter aufmöbelt [...]
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5. Februar 1933 Breslau, Sonntag. [...] Langes Telefongespräch mit Rudolf wegen des Trautnerhauses, ich habe ihm die ganze Lage auseinandergesetzt; [...]. Zum Schauturnen in den Vorwärts gegangen. Es hat wirklich alles glänzend geklappt; man sieht, was sich Jaekel für eine kolossale Mühe gegeben hat; nur sind eben die Jungens wochenlang vor so einem Schauturnen für andere Dinge unbrauchbar. - Nachher kam noch ein Fräulein Kupka an mich heran, die Nichte von Gabriel, die an jüdischer Familienforschung arbeitet; sie wird nächstens einmal zu uns kommen. Dann sprach ich noch Direktor Moering von der Volksbibliothek1. Er erzählte mir, daß Dr. Kloß so meinen Hermann von Salza gelobt hat; er nahm Veranlassung, mir zu sagen, daß es ihm leid täte, daß er ihn noch nicht gelesen hat Ich sprach so mit ihm über meine ganze geistige Lage. Nun unter diesen politischen Verhältnissen wird sich ja kaum etwas an den Dingen ändern; heute weniger als je. [...] 6. Februar 1933 Breslau, Montag. [...] Eine furchtbare Nachricht, mein früherer Schüler Steinfeld (Molly) ist gestern nach dem Reichsbannerumzug von S.A.- Leuten ermordet worden2. Solche Zeiten haben wir. [...] Dr. Schäffer war auch ganz erschüttert durch den Tod des jungen Steinfeld, den er auch zur Welt gebracht hat. Ja, wir leben in herrlichen Zeiten in diesem Hitlerdeutschland, und das ist erst der Anfang. Schäffer meint, daß ich am Abend meine Vorlesung im Humboldtverein werde abhalten können! [...] 8. Februar 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Ich lese jetzt Arnold Zweig „De Vriendt kehrt heim"3. Später ein gutes Stück am Normannenbuch geschrieben. [...] Trudi ist gestern recht vergnügt und befriedigt, wenn auch etwas müde aus Berlin heimgekehrt. Es ist alles gut verlaufen; es waren 35 Menschen bei der Hochzeit4. [...] Man geht jetzt ungern auf die Straße, immer sieht man die verhaßten braunen Bürgerkriegssoldaten. Heute hat die Reichsregierung einen ganz verlogenen Aufruf plakatiert. An allem sind die Marxisten schuld; nicht etwa die Weltwirtschaftskrise. Geradezu widerlich. Es ist überhaupt eine scheußliche Zeit. Aber man darf sich nicht zu sehr davon deprimieren lassen; man nimmt sich das täglich vor, aber wenn man labile Nerven [hat], so gehen sie eben durch. Und dann gehen einem eben auch 1 2
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Der evangelische Pfarrer Ernst Moering war seit 1927 als Nachfolger von Dr. Berthold Kronthal Direktor der Breslauer städtischen Volksbibliotheken. Über die Ermordung des Studenten Walter Steinfeld berichtete die Jüdische Zeitung. „Nazimord in Breslau"; in: Jüdische Zeitung (für Ostdeutschland) 40 (1933), Nr. 6 (10. Februar 1933), S. 3. Ein Roman von 1932 zum Problem der Juden in Palästina. Es war die Heirat von Ernst Rothmann mit Meta NN.
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noch private Dinge durch den Kopf. Über die aber kann und will ich nichts aufschreiben! Man müßte da noch ein besonderes Buch fuhren; aber [man] muß das auch ausklingen lassen. 9. Februar 1933 Breslau, Donnerstag. Heute sehr anstrengende Schule, in der Lückstunde bei Tockus 1 in der Volkswacht. Man hat in diesen Zeitläuften besonders das Gefühl, daß man sich einmal dort sehen lassen muß. Heute erscheint die Zeitung auch nach dreitägigem Verbot wieder. An den Anschlagssäulen ist heute ein sehr geschicktes Plakat, das die Na2is auffordert, nun ihre Versprechungen einzulösen! [...] 11. Februar 1933 Breslau, Sonnabend. Vorgestern abend die Arbeitsgemeinschaft im Gesamtverband über das Programm der N.S.D.A.P. stimmte mich insofern traurig, als in der Diskussion immer wieder das Trennende hervortrat, während doch jetzt die linksgerichtete Arbeiterschaft das alles einmal lassen sollte und gegen die ungeheure Gefahr der Nazis zusammenstehen; aber man merkt vielleicht doch noch nicht so recht, was die Stunde geschlagen hat! Man wühlt in der Vergangenheit herum, während man es mit einem Gegner zu tun hat, der zu allem entschlossen ist. [...] Nach dem Abendbrot zu Perles, ich war dort schon viele Monate nicht. Wir hörten die Rede von Hider aus dem Sportpalast. „Dröhnendes Phrasengeklingel" würde mein verstorbener Lehrer Winkler gesagt haben. Nichts Positives; nur die gemeinsten Beschimpfungen gegen die früheren Regierungen; an allem und jedem sind die Marxisten schuld, auch an der Inflation. Aber Hider versteht mit allem Tamtam eine blöde Menge anzulocken, das ist alles auf die deutsche Mentalität abgestimmt, selbst die Propaganda mit den Toten. Gestern vormittag ist Steinfeld hier eingeäschert worden. Von den Toten, die von diesen Verbrechern ermordet worden sind, sprechen sie natürlich nicht. [...] 12. Februar 1933 Breslau, Sonntag. Gestern nach der Schule bei Mutter, die sich gesundheitlich recht wohl, aber durch ihre wirtschaftlichen Verhältnisse recht deprimiert [fühlt]. Sie wollte jetzt ihre Brillantbrosche verkaufen. Ich werde ihr sie abnehmen, einmal, damit sie nicht in fremde Hände kommt, und damit ich ihr etwas mehr geben kann. So ein altes Erbstück soll man auch nicht aus der Familie herauslassen. Ich kann mich immer noch nicht mit dem Gedanken abfinden, daß Mutter in eine solche Lage gekommen ist [...]
Max Tockus (geb. 1875), der Verleget der sozialdemokratischen „Volkswacht", floh 1933 in die Tschechoslowakei. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 339.
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Dr. Rabin getroffen; er fährt in einigen Tagen für zwei Monate nach Ere% Israeß. Er hat die Gelder durch christliche Institute bekommen, um dort wissenschaftlich arbeiten zu können. Er bat mich bei dieser Gelegenheit um einen Vortrag im Verein für jüdische Geschichte und Literatur im Mai. [...] Jetzt starb in diesen Tagen der frühere Kultusminister Becker. Nach Hause, unterwegs schon braune Horden getroffen, die sich zu einer nationalistischen Demonstration auf dem Reichspräsidentenplatz trafen. Überall stößt man auf diese Gesellschaft. Widerlich! Wie ich sie hasse! [...] Ruth war am Nachmittag bei einer Chamischa-assar-beschivat-Y&vex, sonst waren alle Kinder zu Hause! 13. Februar 1933 Breslau, Montag. Zwei Stunden Schule, dann mit dem Direktor die Reifeprüfüngsaufsätze durchgesprochen; er war mit den Korrekturen sehr zufrieden, es gab nur einige kleine Ausstellungen. Wir sprachen einiges über das Abiturium. In meiner Klasse wird das Examen sehr schlecht ausfallen. [...] 14. Februar 1933 Breslau, Dienstag. Der gestrige abschließende Vortrag im Humboldtverein, den ich bis zur Gegenwart führte, soll sehr gut gewesen sein, wie mir alle Leute versicherten. Es hat mir auch sehr große Freude gemacht. [...] Die widerlichen politischen Verhältnisse! Hider zerschlägt nun auch außenpolitisch alles, setzt aufs Geradewohl alle politisch linksstehenden Beamten ab, ohne Rücksicht auf die Kosten. Das Volk wird das alles zu bezahlen haben! Aber vielleicht ist das ein ganz guter Anschauungsunterricht, aus dem das Volk bald aufwachen wird. [...] Die Wahl macht sich da auch unangenehm bemerkbar! Man muß also versuchen, sich immermehr einzuschränken, andererseits möchte ich sehr gern Mutter mehr helfen, leider kann ich es im Augenblick nicht. [...] 15. Februar 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Heute sehr herzliche Zeilen von Professor Stern aus Trautenau erhalten, wirklich mitfühlend mit der Lage eines deutschen Juden! [...] Susannchen macht nun täglich im Sprechen Fortschritte; jetzt sagt sie schon „Dante" für „Danke". Man möchte stundenlang mit ihr spielen. Aber wenn ich so in das Kinderzimmer gehe, ist das schon für mich eine Erfrischung. Und man muß in diesen Tagen nach der Philosophie „Als ob" handeln, als ob eben diese ganzen politisch widrigen Verhältnisse einfach nicht vorhanden wären. 16. Februar 1933 Breslau, Donnerstag. [...] Heute lange Schule gehabt. [...] Auf der Nachhausefahrt traf ich in der Straßenbahn den Berufsschuldirektor Genosse Nitschke, der mir erzählte, daß Tschersich aus der Partei [der SPD] ausgetreten ist. Ich hatte es von ihm auch nicht anders erwartet; er hat die Partei nur als Sprungbrett benutzt.
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Aber es jetzt zu tun, wo jeder gesinnungstreue Mensch erst recht zur Sache der Freiheit stehen muß, ist eine besondere Gemeinheit! Pfui Teufel, zumal wo er der Partei den Posten verdankt. Was hätte ihm schon passieren können, ein kinderloses Ehepaar? Widerlich! Aber es wird noch viele geben, die diesen Weg gehen! [...] Am Abend wollen wir noch zu einem Vortrag des neuen Professor Beyerhaus gehen. 17. Februar 1933 Breslau. Der Vortrag [von Beyerhaus] über Staat und Wirtschaft um 1848 war eigentlich sehr kläglich, abgelesen, ohne Schwung. Kornemann leitete ihn mit einer großen Lobhudelei auf den neu ernannten Professor ein. Heute vormittag bis dreiviertel zwei in der Schule, es war allgemein eine große Empörung über die Gesinnungslumperei von Tschersig. In einer Lückstunde zur Volkswacht! Tockus war nicht da; ich holte mir die neue Lieferung des Handwörterbuchfes] des Volksbildungswesens, in dem mein Beitrag über Bebel erschienen war1. [...] Dann kam Kollege Klifoth, um sich mit mir über die ganze Lage zu unterhalten. Er ist besorgt über seine Zukunft; es scheint sich innerhalb des nationalsozialistischen Lehrerbundes eine Denunziationscentrale gebildet zu haben, um mißliebige Kollegen anzuzeigen, wenn sie irgend etwas über das neue Regime sagen! Ich versuchte ihn da zu beruhigen und sagte ihm, man müsse den Verlauf der Dinge in Ruhe abwarten! Aber sie werden natürlich in jeder Weise aufräumen. [...] 19. Februar 1933 Breslau, Sonntag. [...] Zu Mutter, ich wollte ihr guten Tag sagen, da ich am Vormittag nicht da war und heute Vaters 90. Geburtstag ist. Ich will dann auch am Vormittag, wenn ich mich einigermaßen fühle, mit den Geschwistern auf den Friedhof gehen. Vor 30 Jahren waren die Eltern in Berlin und haben diesen Tag in Glück und Frieden gefeiert. Was ist seitdem nicht alles zerschlagen worden. [...] Auf dem Friedhof gewesen, mich mit Franz und Rudolf getroffen. Franz sieht sehr frisch aus mit einer braunen Melone! Er bekommt vom Bäderverband 400 Mark Zuschuß zu einer Reise nach Baden-Baden. Er ist doch ein tüchtiger Mensch. [...] Mich nimmt ein solcher Weg auf den Friedhof immer ziemlich mit und löst viele Empfindungen in mir aus. Es sind soviele Menschen, die man da draußen zu besuchen hat. Bald mehr als die man im Leben als nahestehend noch kennt. [...]
Willy C O H N : Bebel, August ( 1 8 4 0 - 1 9 1 3 ) ; in: Handwörterbuch des deutschen Volksbildungswesens, hg. von Heinrich BECKER, Breslau 1 9 3 2 , S. 2 6 3 - 2 6 5 . Das Erscheinungsjahr wurde also, vielleicht aus politischen Gründen, rückdatiert.
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20. Februar 1933 Breslau, Montag. [...] Heute ist Trudis Geburtstag. Sie wird 32 Jahre alt! Wir haben uns gestern abend über mancherlei ausgesprochen, was mich bedrückt, und so ist mir leichter geworden. Ich habe Trudi gesagt, wie schwer mir es eben oft wird, alles zu ertragen, und wie hülflos ich oft dem Daseinskampf gegenüberstehe. [...] Widerwärtige Naziplakate von größter geschichtlicher Verlogenheit kleben an den Anschlagssäulen. Selbst für die Inflation macht man die S.P.D. verantwortlich! Man stellt alles auf den Kopf. In einer Zeitung stand: „An allem Unglück sind die Juden schuld." Ekelhaft. [...] Mein Schwager Ernst muß sich jetzt nachträglich noch religiös trauen lassen, weil eine Stiftung ihm die Herauszahlung von 500 Mark verweigert! Schlimm, daß er sich jetzt also nur so trauen läßt, um diese 500 Mark zu erhalten! Ich hatte immer den Standpunkt vertreten, daß zu einer jüdischen Siedlung auch eine religiöse Trauung gehört. 22. Februar 1933 Breslau. Gestern ein heißer Tag! Vormittag fünf Stunden Schule! Nachmittag Konferenz! Es ist einstimmig beschlossen worden, keine Hiderbilder aufzuhängen. [...] Zur Volkshochschule, dort gerade sehr wichtige Kapitel des Marxschen Kapitals durchgenommen! Konzentration des Kapitals, Reservearmee. Ich habe versucht, gestern mein bestes zu geben! Das nächste Mal soll eine Liste in Umlauf gesetzt werden, damit wir unter Umständen in der Lage sind, den Kursus allein aufrecht zu erhalten; wenn keine Mittel bewilligt werden! Man muß ja mit diesen Dingen rechnen! Abends in der Straße noch Leichtentritt und Callomon getroffen. In der Schlesischen Zeitung gelesen, daß Karsen von der Karl-Marx-Schule beurlaubt worden ist. Der Zug der Rache geht weiter! Widerlich! Heute früh deswegen mit Jüttner gezankt! Heute geht die Dantearbeit ab! Quod Di bene vertant. Abends Rathenau-Vortrag in der Graetz-Loge. [...] 24. Februar 1933 Breslau, Freitag. Es war gestern im Grunde eigentlich schade um die Zeit, daß ich noch in die Stadt zu dieser Sitzung [der Lessing-Loge] gefahren bin; man hat den alten Beamtenrat einfach zur Wiederwahl vorgeschlagen; damit wird die LessingLoge auch im neuen Termin weiter den Weg der Verkalkung gehen; aber vielleicht blieb keine andere Lösung übrig. Kurz Perle, Wrenar und Polke gesprochen. [...] Am Nachmittag mit Trudi einige Kleinigkeiten erledigt, dann den Artikel über die Abstammung von Karl Marx für die Volkswacht durchdacht! In diesen Wochen kommt mir Marx durch das bevorstehende Jubiläum viel näher, das heißt im Grunde ist es die Veranlassung, sich wieder einmal mit seinen Gedanken
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auseinanderzusetzen, von deren Unsterblichkeit man immer mehr überzeugt ist, wenn er jetzt auch noch sehr beschimpft wird. Gestern soll Herr Hider gesagt haben, Löbe1 und seine Partei müssen ausgerottet werden. Man hat oft den Eindruck, es mit Hysterikern zu tun zu haben, die in Gebrüll ausbrechen, weil sie sich innerlich unsicher fühlen! Man kann ja eigentlich nur in das Tagebuch schreiben, was man über diese Gesellschaft denkt, denn überall ist ja jeder freien Meinungsäußerung ein Maulkorb angehängt. Immerhin hat man sich auf allerhand Terror noch gefaßt zu machen. Der eine der beiden Leute, die wegen der Ermordung des Studenten Steinfeld in Untersuchungshaft saßen, ist freigelassen worden. Was kommt es auf das Leben eines jüdischen Studenten an! Nirgends ist mehr Recht in Deutschland! Nirgends. Die ungeheuerste Geschichtslüge, die über die letzten fünf Jahre verbreitet wird, wird auch ohne weiteres geglaubt! Man ist jetzt viel mit seinen Gedanken in Palästina, gewiß, wäre man dort, hätte man vielleicht Sehnsucht nach Deutschland! Das ist ja unser Judenlos, aber so würde vielleicht für die Kinder eine innere Geschlossenheit des Daseins entstehen! Alles geht nicht wie man will; immer ist man irgendwie vom Geld abhängig! Es gibt ja doch sehr große Verpflichtungen, die auf mir liegen, und denen man sich nicht ohne weiteres entziehen kann. Aber vielleicht kommt von irgendwoher das große Wunder, daß einen freimacht und daß mir die Möglichkeit gäbe, nun die Jahre, in denen man arbeitsfähig ist, fern von des Tages Brotarbeit zuzubringen. Es ist sovieles, was ich nicht schreiben möchte. 25. Februar 1933 Heute Nacht im Preußischen Stil2 gelesen. [...] Überall Depression, trotz Hitler!! Dieses Lumpenpack beschimpft jetzt noch Ebert im Grabe. 26. Februar 1933 Breslau. Sonntag. [...] Gestern soll Göring eine Rede voll von ungeheuersten Beschimpfungen gegen die Juden durchs Radio gehalten haben. Direkte Aufforderung zum Mord! Die Leidenschaften der Massen werden aufs äußerste aufgepeitscht. So wie im Mittelalter! Zum Teil schlimmer! Man möchte so gern an all das nicht denken, aber es geht nicht! Es ist trotz all dem sehr schwer, sich die Liebe zu Deutschland ganz aus dem Herzen zu reißen! Man müßte es eigentlich! So ist ein Wahlkampf noch niemals geführt worden, voll von den gehässigsten Verleumdungen! So etwas nennt sich Kulturvolk! Der SPD-Politiker Paul Löbe (1875-1967) war seit 1899 Chefredakteur der „Breslauer Volkswacht" und saß von 1904-1918 im Breslauer Stadtparlament. Seit 1920 war Löbe Mitglied des Reichstags und von 1920-1932 Reichstagspräsident. Er hat sein politisches Leben selbst geschildert. Paul LÖBE: Der Weg war lang. Lebenserinnerungen. West-Berlin 21954. Arthur MÖLLER VAN DEN BRUCK: Der preußische Stil. München 1916.
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27. Februar 1933 Breslau, Montag. Gestern abend noch mit Trudi einen Marxartikel für die Frankfurter Volksstimme geschrieben1. [...] Es kam heute ein sehr lieber und herzlicher Brief von Libertini2! Nachmittag tief Mutter an. Angeblich ist beim C.V.3 ein Brief [von] Nazis angelangt, man werde alle Juden totschlagen, wenn einem der nazistischen Führer etwas passierte. Man soll sich durch solche Dinge nicht ins Bockshorn jagen lassen, wenn natürlich den deutschen Menschen auch alles zuzutrauen ist. Widerlich. Ich handele nach der Philosophie des „Als ob"; man muß so tun, als ob das alles nicht vorhanden wäre, und seiner Arbeit nachgehen! 28. Februar 1933 Breslau, Dienstag. [...] Heute früh hörte ich als erstes, daß der Reichstag brennt. Die Jungens hatten es am Radio erfahren! Nun behauptet man, dies sei von kommunistischer Seite geschehen, und doch ist es sicher nur bezahlte Lockspitzelarbeit! Widerlichster Terror gegen die gesamte Linke setzt ein. Vielleicht schmiedet dieser Kampf wenigstens die Arbeiterschaft zusammen! Alle Energie der Nazis tobt sich nach dieser Richtung aus, aber der Prozeß Lähnsen ist bis nach der Wahl vertagt, da handelt es sich um einen Skandal von rechts. Man könnte Bände schreiben. Nun handelt es sich darum, die Ruhe zu bewahren, denn das Pendel der Weltgeschichte schlägt auch wieder einmal nach links aus; aber was liegt da alles dazwischen! Heute war mein früherer Schüler Müller in SA-Uniform in der Schule! Ich habe ihn übersehen! [...] 2. März 1933 Breslau, Donnerstag! Vorgestern abend die letzte Volkshochschule, beeinträchtigt durch die politischen Verhältnisse und Fastnacht. [...] Gestern großes Hitlertheater in Breslau4! Schon auf dem Hinweg sah ich den Rummel am Zwingerplatz, auf dem Rückweg waren die Straßen ganz leer! Es scheint soweit alles ruhig abgegangen zu sein, allerdings bekommt man ja keine Volkswacht! [...] Am Abend. Der Vortrag wurde von einem Gerichtsreferendar über das Lager des Freiwilligen Arbeitsdienst[es] Tatischau gehalten, darüber hatte in meinem Volkshochschulkursus Habig schon einmal gesprochen. Der Vortrag war ganz
Volksstimme. Mitteilungsblatt der SPD Hessen, Bezirk Hessen Süd. Wochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft (Frankfurt am Main) mußte bereits am 1. März 1933 eingestellt werden. Der genannte Artikel Cohns konnte daher nicht mehr erscheinen. Guido Libertini (geb. 1888) war Historiker an der Universität in Catania, Sizilien. Er hatte Cohns Hohenstaufenbuch in das Italienische übersetzt. Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Hitler trat am 1. März bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Jahrhunderthalle auf.
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vernünftig, aber das Werkhalbjahr wird letzten Endes doch nur zu Gesinnungsdrill fuhren! [...] In diesen Tagen kann man immerhin ermessen, wie unseren Vorfahren zumute gewesen sein mag, als sie zu Pogromzeiten auf den Einbruch warteten. Gestern abend dachte man, daß die fanatisierten Massen sich so in die jüdischen Wohnungen stürzen würden. Die Gemeinde hat übrigens das Jüdische Jugendheim bis zum 13. geschlossen. Charakteristisch für die ganze Situation. Heute erzählte mir ein Schüler, daß aus Chemnitz die Juden zahlreich nach Nordböhmen gingen. Durch die neuen Notverordnungen1 ist uns ja der Mund versiegelt. Alles ist Landesverrat, auf alles steht die Todesstrafe. Und doch ist meine innerste Uberzeugung, daß man das Rad der Weltgeschichte auch durch den stärksten Terror nicht wird aufhalten können. Und diese Zeit wird sich bitter rächen. 3. März 1933 Breslau, Freitag. Heute vormittag bis zwei Uhr Schule. Es ereignete sich heute allerhand! In der Pause, wo ich Aufsicht hatte, kam Vogelstein2 auf mich zu, und zeigte mir einen Brief, den er soeben von der Gemeinde bekommen hatte. Ein Schüler der Unter- oder Oberprima sei in seinem Leben aufs schwerste bedroht, weil durch ihn ein nationalsozialistischer Schüler von der Schule verwiesen worden sei. Es war mir sofort klar, daß es sich um den Fall Müller handelt und gegen Wölfl gerichtet war. Vogelstein, der sich in dieser Angelegenheit großartig benommen hat, ging sodann zur Gemeinde, kam noch einmal wieder. Der Direktor holte mich aus dem Bürgerkundeunterricht in das Amtszimmer, und wir sprachen den ganzen Fall durch. Wölfl soll bis zum Examen nicht abends fortgehen und dann verreisen! Würde das Examen nicht sein, so würde ich ihn sofort fortschicken. Am Nachmittag war dann der Herr Schwarz da, der die Sache durch einen Zufall herausbekommen hat. Der frühere Schüler, mit dem er im Kaffeehaus zusammen war, sagte ihm, als er über den Fall Steinfeld sprach, nach der Wahl kommen noch andere dran! Und als er dann näher fragte, sagte er: ein Glaubensgenosse von Ihnen. Schließlich rückte er auch mit dem Namen heraus: Cohn3. Da Schwarz sich darunter nichts denken konnte und ihn die Sache sehr erregte, versuchte er bei einer anderen Gelegenheit herauszubekommen, auf welche Schule der Müller gegangen ist. Und als er das in Erfahrung gebracht hat, ging er auf die Gemeinde zu Goldfeld, der dann Vogelstein benachrichtigte. Wie einem bei der ganzen Sache zumute ist, wenn ein Kind in einer solchen 1
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Mit der sogenannten „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933 wurden sämtliche Weimarer Grundrechte außer Kraft gesetzt Hermann Vogelstein (1870-1942) war von 1920-1938 Rabbiner in Breslau und eine der fuhrenden Persönlichkeiten des liberalen Judentums. Also eine Morddrohung gegen Willy Cohns ältesten Sohn Wolfgang („Wölfl").
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Gefahr schwebt, ist ja klar, aber man muß versuchen, Ruhe zu bewahren und kühl zu denken. Jetzt am Nachmittag klingelte Kollege Schäffer an, der meinte, man solle der Leitung der Breslauer Nazis dies ruhig mitteilen, die von solchen Terrorakten abrücke; das aber ist auch sehr schwer zu machen, da man ja den Schwarz den Terrorakten der Leute nicht preisgeben kann. Es ist eine Situation, aus der kaum ein Ausweg möglich ist; man sitzt eben auf einem Pulverfaß. Vielleicht geht mit G'ttes Hülfe noch alles glatt seinen Weg, aber soweit hat es nun die deutsche Civilisation gebracht. Es tut mir leid, daß Wölfl nun vor dem Examen noch diese Aufregung hat. Ich bin ja der Meinung, daß solche angesagten Dinge — eine alte Kriegserfahrung — oft nicht so schlimm ausgehen, wie man denkt. Aber schlimm genug ist das alles schon. Kollege Schäffer hat sich sehr anständig in der Sache benommen. Heute ist übrigens auch in der Schule das Ebertbild zerschnitten worden, möglicherweise auch gestern! Selbst an den Toten vergreift man sich! Morgen hat Susannchen ihren ersten Geburtstag. Das gute Kind hat uns ihr erstes Lebensjahr wirklich sehr leicht gemacht, sie ist ein Sonnenstrahl. [...] 4. März 1933 Breslau, Samstag. Man kommt sich in diesen Tagen wie im Krieg vor, wozu noch beiträgt, daß man sich auf Grund der zensurierten Nachrichten in der Presse doch nur ein sehr unvollständiges Bild von der Lage machen kann. Im Rheinland scheint ein ausgesprochener Bürgerkrieg zu toben. Dazu kommt noch die persönliche Sorge um das, was wir gestern gehört haben, eine Angelegenheit, der gegenüber man doch nur Gewehr bei Fuß dastehen kann. Ich versuche mich etwas in die Welt meiner Normannen zu flüchten! [...] Die Nazioten sammelten sich für die große abendliche Aktion auf dem Schloßplatz. Der morgige Tag, der Wahltag, wird meines Erachtens ganz ruhig ablaufen, was nachher kommt, weiß kein Mensch! 5. März 1933 Breslau, Sonntag. [...] Wir sind schon kurz nach neun Uhr zur Wahl gegangen, trotzdem war ein so großer Andrang, daß man Schlange stehen mußte. Ich habe nicht den Eindruck, daß die Nazis noch viel Stimmen gewinnen werden, aber das kann man letzten Endes nicht wissen! Auf den Straßen fällt das Fehlen jeglicher Wahlpropaganda der Linken auf, was eigentlich recht eindrucksvoll wirkt: Ein beredtes Schweigen! [...] 6. März 1933 Breslau, Montag. Gestern abend war P[olke] noch da, und wir sprachen alle Möglichkeiten durch, auch für den Fall, daß man verhaftet werden sollte. Man muß in diesen Zeidäuften mit allen Möglichkeiten rechnen. Heute weiß man nun auch, wie die Wahl ausgefallen, die Rechte hat circa 51 Prozent bekommen und damit
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die Mehrheit1. Nun sollen sie zeigen, war sie können. Gestern abend hat es in Scheitnig noch eine Straßenschlacht gegeben, bei der ein Hülfspolizist getötet wurde. [...] Dann kam Gaze vom Arbeiterradfahrbund, die für den 20. geplante Marxfeier wollen wir verschieben. [...] 7. März 1933 Breslau, Dienstag. [...] Morgen fällt die Schule aus wegen der geschichtlichen Wende, welche der Sieg der nationalen Regierung bedeutet. Vorschußlorbeeren. Im Kriege hat man auch immer Siege gefeiert, bis der Krieg verloren war! Man wird sich an manches gewöhnen müssen. Wölfls Abitur ist dadurch auch um einen Tag verschoben, was mir in seinem Interesse sehr leid tut, denn dieses Warten vor solch einem Ereignis ist doch sehr unangenehm. Heute sind auch hier in Breslau an den verschiedenen öffentlichen Gebäuden Hakenkreuz flaggen gehißt worden! Man muß ein dickes Fell bekommen! [...] Heute habe ich die letzten Stunden in der Oberprima gegeben! Wer weiß, ob man dazu noch einmal Gelegenheit haben wird, aber vielleicht ist es auch zum Guten. [...] 8. März 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Mit Wölfl einen großen Marsch gemacht, am Funkhaus vorbei, von dem eine gelbweiße und eine schwarz-weiß-rote Fahne wehte, durch Krietern, Hartlieb nach Klettendorf. Dort eine Hakenkreuzflagge an der Turnhalle! Gewiß hat sich das rote Klettendorf zähneknirschend fügen müssen. [...] Siebenhufenerstraße, Reichstraße. Es fiel mir auf, wieviel Hakenkreuzfahnen selbst in dieser proletarischen Gegend wehen! Es ist bei den Leuten eben ein Glauben aus ihrer Verzweiflung heraus, daß ihnen das noch helfen kann. [...] Wölfl brachte die Nachricht, daß es heute beim Gewerkschaftshaus zu Kämpfen gekommen ist, angeblich ist von dort auf vorbeimarschierende SA geschossen worden, es hat auch Tote gegeben, und so ist das Gewerkschaftshaus besetzt worden. Man versucht so, die Arbeiterschaft in ihren stärksten, vor allem in ihren wirtschaftlichen Positionen zu treffen. Alles nach italienischem Muster. Man muß das alles zähneknirschend ertragen. Aber noch ist nicht ultima hora. So hat man täglich einen Bericht vom Kriegsschauplatz einzuschreiben. Aber man gewöhnt sich an alles. Bei uns ist es, G'tdob, hier draußen noch ruhig, aber man hat doch den Eindruck, daß man auf einem Pulverfaß sitzt. [...] 9. März 1933 Breslau, Donnerstag. Nun ist Wölfls Abiturium auch vorbei! Er hat mit gut bestanden, im Griechischen sogar „sehr gut" geleistet; es war wirklich sehr schön, was er gekonnt hat. Nun hat man den Jungen auch soweit, die neun Jahre Johannesgymnasium sind im Fluge vergangen; er hat es uns wirklich sehr sehr leicht Das Wahlergebnis bezieht sich auf die Stadt Breslau.
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gemacht! Ich war ein wenig stolz! Die Kollegen Gabriel und Kurfess haben mir in sehr netter Weise gratuliert! Wir waren nach vier Uhr zu Hause! [...] Das Bild der inneren Stadt ist ganz verändert dadurch, daß von allen öffentlichen Gebäuden Hakenkreuzflaggen und schwarzweißrote wehen! Die unmöglichsten Gestalten sieht man als SA-Leute mit Pistolen herumlaufen, Menschen, die unter normalen Umständen nie Soldaten geworden wären. [...] 12. März 1933 Breslau, Sonntag. [...] Vorgestern mittag war das große Staatsbegräbnis für den erschossenen Hilfspolizisten. Die Menschen standen stundenlang aus Neugierde Spalier; nach den Opfern der anderen Seite fragt kein Mensch. Auf dem Rückweg in die Schule fuhr ich von der Kirschallee mit der 2b, vorn war der gesamte Verkehr unterbunden; man kam sich vor wie in den Tagen des Kapp-Putsches, auch damals war es mit solchen Schwierigkeiten verbunden, zum Abiturium in die Schule zu kommen. Die Menschen sind wie in einem Taumel, aus dem es ein fürchterliches Erwachen geben wird. [...] Wertheim von SS-Leuten bewacht, nachdem schon vorher zeitweise geschlossen worden war! Aber wer wird in die Warenhäuser gehen, wenn er damit rechnen muß, herausgeprügelt zu werden. Gestern sind SA-Horden ins Gericht eingedrungen, haben im Anwaltszimmer [zu] Richterfn] und Anwälte[n] ,Juden raus" gebrüllt und den Rechtsanwalt Maximilian Weiß blutig geschlagen. Vorgestern hat man den Intendanten Barnay1 in den Oswitzer Wald geschleppt und niedergeschlagen mit Gummiknüppel und Hundepeitsche: das ist das dritte Reich. [...] Ich war völlig erschöpft und habe mich dann durch etwas Schlaf erholt. Abends las ich dann noch in dem neuen Sizilienbuch! Man träumt so gern in fremden Ländern. Heute geht es wieder einigermaßen. — Kommunalwahltag! Wir wollen dann wählen gehen. [...] 13. März 1933 Breslau. Dienstag. [...] Die Nazis haben in der Stadtverordnetenversammlung die absolute Mehrheit bekommen! Vielleicht ist es gut, daß sie nun auch die volle Verantwortung tragen. Heute mußte an unserer Schule auch die Hakenkreuzflagge wehen. Hoffentlich wird Hider nun mit den Illegalitäten fertig! Breslau ist darin die schlimmste Stadt Aber es sieht doch so aus, als ob die Nazileitung das nicht will. Hoffen wir, daß sie sich durchsetzt. Nun sollen sie zeigen, was sie können! [...] 16. März 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Um dreiviertel zwölf war die Endassungsfeier der Abiturienten. Es war doch für mich ein sehr merkwürdiges Gefühl, als Wölfl in demselPaul Barney (1884-1960) war Intendant des Breslauer Lobe-Theaters.
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ben Raum bei den Klängen des gleichen Liedes ins Leben hinaus entlassen wurde, bei denen ich im Herbst 1906, also vor 26 einhalb Jahren, hinausgesandt wurde. Wölfl sah in seinem neuen Anzug sehr hübsch aus, und man ist doch ein wenig stolz auf ihn. Möchte nur G'tt ihn durch die ganzen Wirrnisse unserer Zeit ungefährdet hindurchlassen. Heute früh sprach Gabriel allein mit mir, er mußte im Anschluß an die Endassung der Abiturienten eine Flaggenfeier veranstalten, ich sagte ihm meine Meinung. Natürlich muß man die getroffene Anordnung erfüllen, aber man muß auch wie ein Mann zu seiner Überzeugung stehen. Er hat sich dann sehr geschickt aus der Affare gezogen und dann kaum mehr gesagt, als unbedingt notwendig war. Es ist ihm nicht leicht gefallen, auf das Hakenkreuz zu sprechen. Wie unsereinem zumute ist, wenn diese Flagge gepriesen wird, und sei es nur unter Druck, diese Flagge, unter der wir Juden aufs schwerste beschimpft wurden und werden und letzten Endes aller Menschenrechte beraubt werden. Alle jüdischen Richter und Staatsanwälte in Breslau sind beurlaubt, auch die Getauften, darüber habe ich allerdings nur über das Letztere eine gewisse Schadenfreude gehabt. Auch den Anwälten ist empfohlen worden, nicht ins Gericht und nicht einmal ins Büro zu gehen, unter solchen Zuständen leben wir. Dabei hat man noch das Gefühl, von der Welt völlig abgeschnitten zu sein, weil in unseren Zeitungen überhaupt nichts steht. Gestern der Besuch bei Tockus hat mich sehr erschüttert, Tockus ist durch die Aufregungen, die er erlitten hat, mit der Gesundheit völlig fertig, außerdem sieht er den Niedergang des Betriebes, den er aufgebaut hat und an dem er mit ganzer Seele hängt1. Wir sind beide fest überzeugt, daß man in absehbarer Zeit die sozialistischen Zeitungen nicht mehr erscheinen lassen wird! [...] 18. März 1933 Breslau, Sonnabend. Mit Trudi habe ich mich wieder ausgesöhnt, aber sie tut mir im Grunde doch sehr leid. Diese persönlichen Dinge werden jetzt natürlich von den allgemein politischen überwuchert, auf die man immer zu sprechen kommt. Vorgestern abend war noch Dr. Reichmann aus K. bei mir2. Wir sprachen über meine Vorträge, über seinen Sohn; über die allgemeine Lage. [...] Es wurden Schilder durch die Straßen getragen: Kauft nicht beim Juden! [...] 19. März 1933 Breslau, Sonntag. [...]. Perle erzählte mir, daß Rechtsanwalt Jonny Schneider mit der Hundepeitsche in seinem Büro vor den Leuten geschlagen worden ist und von seiner Stelle als Syndikus der Oderschiffer beurlaubt! So erniedrigt diese Gesellschaft jede Menschenwürde. Ein Civilist mit 17 braunen Leuten erschien in seinem Büro! Es ist mir sehr nahe gegangen! So etwas nennt sich nun Aufbau der Der Verlag der sozialdemokratischen Zeitung „Volkswacht". Eventuell Hans Reichmann, der Syndikus des C.V. in Berlin.
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Nation! Wieviel mag vorgehen, von dem man bei dem gegenwärtigen Zustand unserer Zeitungen gar nichts erfahrt! [...] 20. März 1933 Breslau, Montag. Gestern kurz nach fünf Uhr in Waldenburg-Altwasser angekommen [...]. Zu Dr. Leo Cohn, sie waren spazierengegangen, kamen aber bald. Ich las inzwischen meinen Roman Scholtis: Ostwind weiter1. In Waldenburg auf den Straßen viel Naziflaggen, man sagte mir: Hausbesitzer, Grubenbeamten. Stimmung der linksgesinnten Bevölkerung sehr gedrückt! Bei Cohns Kaffe getrunken, dann auch Abendbrot gegessen, natürlich über die Lage gesprochen. Er erzählte auch von seiner vorjährigen Reise nach Ere% Israel [...] Um acht Uhr zum Vortrag ins Gemeindehaus, ungeheuer voll, etwa hundert Menschen: Die Zeit ist für eine innere Besinnung. Für Waldenburg war das so ziemlich alles, was kommen konnte. Ich sprach über Umkehr und Einkehr, ein Thema, das nun sehr in unsere Zeit paßt Es war so ziemlich alles da, was da sein konnte! Die Menschen können nun nicht in Lokale gehen. [...] Wir trafen Emil Kaim, der mir erzählte, daß ein junges jüdisches Mädchen, Engländerin, von Leo Lewin fortziehen mußte, weil er einen Brief bekommen hatte. Unter solchen Verhältnissen leben wir! Jetzt erzählte Wölfl, daß die Zahl der jüdischen Anwälte auf 34 erhöht worden sei, in ganz Preußen dürfen jüdische Richter nur als Civilrichter beschäftigt werden. Aber ich glaube, daß vieles von diesen Dingen sich zwangsläufig weiter mildern wird. Im Abendblatt steht von einem vereitelten Attentat auf Hitler. Ahnlich wie man das immer in Italien erlebt hat! Alle diese Dinge geben doch letzten Endes nur Veranlassung zu neuem Terror. Man muß sich doch innerlich sehr unsicher fühlen, wenn man das alles nötig hat. Morgen ist der große Staatsfeiertag mit Fackelzügen u.s.w. „Circenses" macht man genug, wann wird „Panem" folgen? 21. März 1933 Breslau, Dienstag. [...] Auf dem Omnibus über eine antisemitische Bemerkung geärgert, die allerdings nicht mir galt, aber man wird sich ja an allerlei zu gewöhnen haben! Gabriel sprach zu Beginn der Feier ganz geschickt eine Reportage über Potsdam2, dann kam die Übertragung! Die Reden von Hindenburg und Hider recht gemäßigt, der letztere nur an einer Stelle gegen die Gegner ausfällig! Für uns das alles sehr bitter, wir sind ja nun Bürger minderen Rechtes. Wenn diese Regierung nun das verfassungsändernde Ermächtigungsgesetz bekommt, so kann sie vier Jahre lang machen, was sie will, und wir sind ihr mit Haut und Haaren ausge1
August
SCHOLTIS:
Ostwind. Roman der oberschlesischen Katastrophe. Berlin
München 1986). 2
Der 21. März 1933 war der bekannte „Tag von Potsdam".
1932.
(Neuauflage
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liefert! Mit Ernstl nach Hause gefahren, man vermeidet dadurch die innere Stadt! Heute ist ja der Nationalismus bis zur Siedehitze gesteigert! Die Nazipresse verbreitet wieder Gerüchte über einen vereitelten kommunistischen Anschlag in Niederschlesien. Davon leben sie, daß sie stets aufs Neue derartige Dinge ausstreuen! Dann kam Feilchenfeld, der mir seine Arbeit über die Judenpolitik Friedrichs des Großen vorlas. Das dauerte mehrere Stunden, aber ich habe auch eine ganze Menge daraus gelernt1. [...] 23. März 1933 Breslau, Donnerstag. [...] Ein unangenehmer Brief vom Finanzamt, da merkt man jetzt auch sehr, daß ein anderer Wind weht und daß sie einem Juden gegenüber zu keinem Entgegenkommen bereit sind. Dazu die nervöse Belastung, die jeder Tag mit sich bringt, wenn ich auch zu den Leuten gehöre, die die Lage mit möglichster Ruhe ansehen. Es handelt sich jetzt um alle Fälle darum, besonnen zu sein. [...] 24. März 1933 Breslau, Freitag. [...] Ella getroffen2, sie sprach mit mir wegen Wölfl; trotz aller Gründe möchte ich ihn jetzt nicht wegschicken. Ich hoffe, daß G'tt ihn auch hier behüten wird. Gestern war Ella deswegen bei Vogelstein, der heute mit mir in der Schule gesprochen hat, zufällig war auch Trudi dabei! Es haben sich doch wieder in der letzten Zeit allerhand Dinge zugetragen. Leute, die man in die braunen Häuser geschleppt und fürchterlich geschlagen hat. Für sehr viel schlimmer als diese Ausschreitungen halte ich ja die Existenzvernichtungen, Schächtverbote, Kündigungen! Wie viele Menschen stehen von heute auf morgen vor dem Nichts. Bei wie vielen versagen die Nerven, durch die täglichen Qualen. Das alles ist zum Platzen gespannt. Und am schlimmsten trifft es natürlich die, die niemals an die Erschütterung ihrer bürgerlichen Existenz gedacht haben. Heute mit der Abendpost kam die „Selbstwehr"3; man liest die ungeheure Empörung im Ausland! Besonders in Amerika. Aber wird das an den Dingen etwas ändern! Denn wer kann uns helfen, wo doch nun eben einmal die Hälfte des deutschen Volkes antisemitisch denkt! Ich gehöre ja zu den Menschen, die in diesen bangen Tagen versuchen, das seelische Gleichgewicht zu erhalten und es vor allem den Kindern zu zeigen, aber ich leide doch schwer unter der Zeit. Seit 1914 ist man doch kaum zur Ruhe gekommen. Aber es heißt tapfer sein und Civilcourage beweisen. [...]
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Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 657. Ella Brienitzer geborene Proskauer (1891-1943) war in den Jahren 1913 bis 1921 Willy Cohns erste Ehefrau und die Mutter seiner Söhne Wolfgang („Wölfl") und Ernst. Selbstwehr. Jüdisches Volksblatt. Prag 1907-1938. Die Nachricht bezieht sich zweifellos auf den Boykottaufruf der NSDAP gegen alle jüdischen Geschäfte und Freiberufler.
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25. März 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Eben hörte Wölfl am Radio, daß Heines1 Polizeipräsident und Brückner2 Oberpräsident wird. Besonders mit dem ersteren haben wir damit den schärfsten Mann bekommen. Sie machen ganze Arbeit und bringen alle ihre Leute unter! [...] Trotzdem glaube ich, daß es zu Gewalttaten nun nicht mehr kommen wird. Sie werden alles auf friedlichem Wege erreichen! Sehr stark scheint doch der Druck des Auslandes auf die Hitlerregierung zu sein, man merkt es an Interviews. Denn der Eindruck der Gewaltmaßnahmen ist offenbar im Ausland ein sehr schlechter. [...] 26. März 1933 Breslau, Sonntag am Abend. [...] Abgesägt Oberbürgermeister Wagner3, natürlich alle unbesoldeten S.P.D.-Stadträte, aber auch Moering von den Volksbibliotheken, Frau Prochownik vom Fürsorgeamt. Nur keine Angst, es kommt jeder dran! Der Zug der Rache. Im Straßenbild ist alles ruhig, man sieht marschierende S.A.-Abteilungen, die S.S auf den Fußballplätzen bei Oswitz, man will ja jetzt auch legal sein, denn man hat Angst vor dem ausländischen Druck! Aber gleichzeitig liest man in der Zeitung, daß in Berlin alle jüdischen Ärzte in einem Bezirk gekündigt worden sind, so kann man die Juden auch abwürgen, ohne daß man ihnen körperlich etwas tut [...] 27. März 1933 Breslau, Montag. [...] Wölfl war heute bei den Chaluym in Klein Silsterwitz und ist recht verbrannt nach Hause zurückgekommen. Er hat dort im Garten mitgearbeitet. Er erzählte, wie angesehen dort die jüdischen Arbeiter sind. 28. März 1933 Breslau, Dienstag. [...] Die Nachrichten sind heute sehr beunruhigend! Man will jetzt den Stiefel umdrehen und die deutschen Juden für den Auslandsboykott haftbar machen, um ihnen ganz den Lebensfaden abzuschneiden und doch kein Pogrom zu veranstalten. Dann ist alles legal! Die entscheidenden Schritte sind schon vorbereitet, aber noch um einen Tag vertagt! Aber jeden Tag kann sich der Strick zuziehen! Inzwischen geht die Ausschaltung der Juden auf allen Gebieten weiter: Ausschließung aus den Ehrenämtern der Ärzteorganisationen und so weiter. Der Zug der Rache. Jeden Tag gibt es neue Sensation, um die Massen in Bewegung zu halten. Ulkig beinahe, daß man in Braunschweig auch den Stahlhelm verboten 1 2
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Edmund Heines (1897-1934) war von 1933 bis 1934 Polizeipräsident in Breslau. Gauleiter Helmuth Brückner (1896-nach 1945) war von 1933 bis 1934 Oberpräsident von Niederschlesien. Er starb in russischer Haft. Otto Wagner (1877-1962) war von 1918 bis 1933 Oberbürgermeister von Breslau.
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hat. Die S.P.D.-Presse ist weiter auf unbestimmte Zeit verboten; sie wird in absehbarer Zeit unter diesem Regime nicht mehr erscheinen. Es ist eine Lust zu leben! Man muß alle Nervenkraft zusammennehmen, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Die seelische Zerquälung durch die Zeit ist scheußlich. 29. März 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Es sind heute 30 Jahre her nach der bürgerlichen Rechnung, daß der Vater in Wiesbaden gestorben ist und mir steht noch jeder Augenblick jenes Tages vor Augen, den ich damals in Breslau verlebte [...]. Alles ist so, wie wenn es gestern gewesen wäre! Wieviel ist dem Vater erspart geblieben an Freud und Leid, wie sehr hätte er unter dieser Zeit gelitten! [...] In Breslau steht man heute sehr unter der Boykottandrohung der N.S.D.A.P. gegen uns! Um halb zehn Sonnabend soll der Boykott beginnen, und jeder christliche Käufer soll vor dem Betreten eines jüdischen Geschäftes gewarnt werden; dazu kommt die Einfuhrung eines numerus clausus für die akademischen Berufe! Man verkehrt Ursache und Wirkung! Weil die ausländischen Juden über das empört sind, was man uns angetan hat, will man uns deutschen Juden den wirtschaftlichen Lebensfaden resdos abschneiden und uns damit vernichten. Letzten Endes war das das Programm, das man schon lange verfolgt hat und das man nun so beendigen will. Denn der kleine christliche Mittelstand hofft, nach der Schließung der jüdischen Geschäfte mehr zu verdienen. Heute erzählte mir mein Bundesbruder Friedlaender, daß er seine Vertrauensarztstellung bei der Ortskrankenkasse verloren hat und ebenso sagte er mir, daß am 1. 4. alle jüdischen Ärzte aus den Kassen ausschieden. Wieviele Existenzen werden da von heute auf morgen vernichtet! Aber gerade darauf kommt es an! Eine sehr harte Zeit, aber man muß sie ertragen. Für mich wird sich ja auch das Schicksal bald nach Schulschluß entscheiden. Ich zweifele nicht, wie es ausfällt. Heute ist übrigens ein herrlicher warmer Tag, ein Tag wie geschaffen, um glücklich zu sein. Für uns Juden in Deutschland gibt es solches Glück nicht! 30. März 1933 Breslau, Donnerstag. [...] Der Frühling kommt mit Macht. Dazu im schärfsten Gegensatz die politischen Dinge, die sich für uns Juden immer katastrophaler entwickeln. Heute ist Herr Heines als Polizeipräsident eingeführt worden. Ich sah gerade den Aufmarsch von der Straßenbahn aus. Erste Maßnahme. Wir Juden müssen unter Strafandrohung die Pässe abgeben, damit die Gültigkeit für das Ausland herausgestrichen wird1. Also Maßnahmen, wie sie seit über hundert Jahren nicht mehr denkbar waren. Fremdenrecht! Wie unsicher muß man sich fühVgl. Joseph WALK (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien-Inhalt und Bedeutung (Motive-Texte-Materialien 14). Karlsruhe 1981, S. 8, Nr. 28.
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len, daß man zu solchen Terrorakten greift' Wahrscheinlich werden die Absatzschwierigkeiten im Ausland immer größer, und wir sind die Opfer. Aber auch diese Zeit wird vorübergehen. So muß ich meine für Sonnabend geplante Reise auch lassen, was mir sehr leid tut, man wäre gerne einmal aus alledem herausgekommen! Nun heißt es umsomehr die Ruhe bewahren und die Nerven zusammenhalten! Alle in städtischen Krankenhäusern beschäftigten Juden bis zum letzten Medizinalpraktikanten sind gekündigt beziehungsweise beurlaubt worden! Kapazitäten wie Franck, Hannes, Leichtentritt. Der Zug der Rache. Ich bin neugierig, wie lange die Dinge weiter so gehen werden, aber man wird sich auf eine längere Dauer gefaßt machen müssen. Was unser Schicksal in der nächsten Zeit sein wird, wer weiß es? Man muß so tun, als ob das alles nicht vorhanden wäre und seiner Arbeit weiterleben. 31. März 1933 Breslau, Freitag. Heute früh sehr zeitig munter geworden, von Herrn Göring geträumt; wenn man auch gar nicht an diese Dinge denken möchte, sie gehen einem doch schwer aus dem Kopf. Zwei Stunden in der Schule unterrichtet! In den Morgenzeitungen die Nachricht, daß die N.S.D.A.P. den Antrag gestellt hat, alle jüdischen und „bastardisierten" Lehrer abzubauen, nur ein Prozent Juden auf den Hochschulen zuzulassen. Nach der Schule ging ich den entwürdigendsten Gang meines bisherigen Lebens auf die Polizei, den Paß abstempeln, der für uns Juden nur noch für das Inland gültig gemacht worden ist. Der Beamte war in der Abfertigung sehr nett und freundlich, aber man mußte sich reihenweise anstellen, was sehr anstrengend war, selbst so alte Leute wie der Geheimrat Rosenstein! Auch meine Mutter hat mit 73 Jahren eine Stunde gestanden! Degradiert unter jede Menschenwürde! Aber auch das muß man ertragen! Unsere Vorfahren haben ganz anderes durchgemacht! So würden wir auch nicht schwach werden. Aber leicht ist es nicht! Die ganze Welt ist in Aufruhr über das, was uns geschieht, nicht weil wir Greuelmeldungen hinausgesandt haben, sondern weil man sieht, was sie mit uns machen! Alles ist ja nur ein Vorwand, um uns zu vernichten. Unzählige Existenzen sind zugrundegerichtet worden. Es geht wie ein Aufschrei durch die ganze Kulturwelt! Was in einem vorgeht, der man soviele Jahre für Deutschland geopfert hat, ist gar nicht zu sagen. Nun hat man nur noch den Wunsch, für seine Kinder in Palästina eine bessere Zukunft zu erhoffen. 1. April 1933 Breslau, Sonnabend! Heute früh bin ich schon zeitig aufgestanden und an meiner Arbeit geschrieben; es ist das die beste Ablenkung, denn wenn man jetzt die Zeitung in die Hand nimmt, gerät man in flammende Empörung, wie man uns behandelt. Es ist der letzte Verlust an Menschenwürde.
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Zwei Stunden in der Schule; ich bin mit der 26 gefahren, um nicht die innere Stadt zu berühren. Heute um zehn Uhr ist der Boykott losgegangen1. Manche sehen es als einen großen Erfolg an, daß die Aktion zunächst von Montag bis Mittwoch unterbrochen wird. In manchen Klassen fehlten viele jüdische Schüler. Man hat übrigens den Eindruck, daß die anständigen christlichen Kreise immer mehr von diesen Dingen abrücken. Schließlich ist noch nicht aller Tage Abend! Man muß sich zusammennehmen und seine Ruhe bewahren. Vor den Geschäften standen sie heute mit Plakaten, auf denen gelbe Flecke waren. Auch „Jude" und ähnliches haben sie angemalt! Finsteres Mittelalter! Immerhin ist es zu Ausschreitungen nicht gekommen. Trautner hat um halb zwei geschlossen. Gegen Abend hat auch jetzt mein Hausmeister antelefoniert, daß im Hause nichts passiert ist. [...] Ich bin heute in einem ziemlich depressiven Zustand. Wenn ich auch immer die Flucht in die Bücher antrete, ganz gelingt es nicht. An irgendeine Zerstreuung außerhalb des Hauses ist ja nicht mehr zu denken. Über die Zukunft will und kann ich im Augenblick nicht nachdenken. Man muß da alles abwarten! Wenn nur unser jüdisches Volk in Deutschland daraus lernen möchte, nun alle Assimilationsversuche zu lassen, und [in] seinem eigenen Judentume zu leben! 2. April 1933 Breslau, Sonntag. [...] Heute früh etwas länger im Bett geblieben und mit Trudi noch einmal die ganze Lage durchgesprochen. Ich habe ihr klarzumachen versucht, daß das plötzliche Herausgerissenwerden eines Mannes aus seinem Berufe, wie es mir jetzt zweifellos bevorsteht, sicher keine Kleinigkeit ist. [...] Und wir sind übereingekommen über das, was bevorsteht, möglichst gar nicht zu sprechen, man muß alles abwarten und danach disponieren! Trudi war auch recht vernünftig; sie weiß nun, wie es in mir aussieht. Wir werden uns schon durchbeißen und vor allem versuchen, ohne fremde Hilfe durchzukommen. Heute früh kam übrigens ein sehr netter Brief von Trudis Bruder Ernst, der uns sein Groß Gaglow als Asyl anbot2. Er hat das in sehr herzlicher Weise getan. [...] Die Jungens sind in ihrem Bunde, der jetzt Habonim heißt, ich will jetzt noch etwas an meiner Arbeit schreiben. Susannchen ist nebenan und spielt sehr hübsch mit sich selbst! 3. April 1933 Breslau, Montag. Gestern abend verhältnismäßig spät eingeschlafen. Wölfl war fort bei einer Sitzung des Waad der Habonim und da war ich ziemlich unruhig. G'tt sei Dank, ist er gesund nach Hause gekommen. Heute früh [...] kam ein Herr Der von Joseph Goebbels organisierte Boykott jüdischer Geschäfte geschah im ganzen Reich. Ernst Rothmann lebte in der jüdischen Mustersiedlung Groß Gaglow bei Cottbus, die 1931 angelegt und von Leo Baeck eröffnet worden war.
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Neumann aus Saarau im Auftrage des Kollegen Ledermann aus Waldenburg. Dieser Herr Neumann ist ein Glaubensgenosse, der erst mit 26 Jahren zum Judentum übergetreten ist Er erzählte mir, daß Ledermann am Sonnabend mit vier S.A.-Leuten aus der Schule geholt und ins braune Haus geschleppt wurde. Dann hat man ihn wieder freigelassen. Irgendein Befehl lag nicht vor! Der Direktor hat ihn bis zum Schulschluß beurlaubt. Ich habe Ledermann sagen lassen, er solle zunächst nichts weiteres unternehmen, sondern abwarten. Dann erzählte mir Neumann weiter, daß man in Waldenburg die Häupter der jüdischen Gemeinde aufs braune Haus gebracht habe, ihnen dann mit einem Schlachtmesser vor den Augen herumgefahren sei und ihnen gesagt habe, so müßte es ihnen auch gehen, wie man „unsere" unschuldigen Tiere gequält habe. Dann habe man sie photographiert und wieder nach Hause geschickt! Nachher mit Ruth zur Mutter, die heute unberufen 73 Jahre alt wird. Es geht ihr gesundheitlich noch ganz gut, wenn sie auch sehr unter den Zeitverhältnissen leidet. Onkel Perls war auch da, ihn hat man seines Ehrenamts in der Ärztekammer entkleidet. — Dr. Traugott, der Nervenarzt, hat sich das Leben genommen. Die Alten kommen natürlich über den Zusammenbruch ihrer ganzen Ideale nicht mehr hinweg. Unsereiner hat dies alles kommen sehen, wenn allerdings auch nicht in dem Umfange. Immerhin ist das Abblasen des Boykotts eine schwere Niederlage, die die Nazis erlitten haben. Vielleicht wird man die jüdische Frage vor den Völkerbund bringen! Jedenfalls schaut die Welt nicht schweigend zu. Und schließlich ist noch nicht aller Tage Abend. Immer mehr wächst ja auch die Empörung in deutschnationalen Kreisen über diesen Terror! Man will sich nicht vorschreiben lassen, zu welchem Arzt man geht, in welches Geschäft man gehen soll! Vieles ist eine Neidaktion des gewerblichen Mittelstandes. Heute kleben wieder scheußliche Plakate an den Anschlagsäulen. [...] 4. April 1933 Breslau, Dienstag. [...] In der zweiten Unterrichtsstunde hielt Venatier einen Vortrag über Luftschutz. Er war sachlich ganz vernünftig, nur der ganze Ton, auf den er abgestimmt war, ging mir sehr wider den Strich; aber daran wird man sich nun gewöhnen müssen. Würde die Welt endlich friedlich, wäre das alles nicht notwendig; dann noch drei Stunden gegeben; in diesen letzten Tagen besonders anstrengend, wo einem so viel durch den Kopf geht. - Morgen habe ich noch eine Stunde zu geben, dann ist vielleicht oder sogar wahrscheinlich meine Tätigkeit am Johannesgymnasium beendet Es wäre einem lieb, wenn man wüßte, woran man wäre. Nach außen trage ich ja, wie Franz an Mutter schrieb, eine stoische Ruhe zur Schau, aber wie es innen aussieht, ahnen nur die wenigsten. [...] Später kam noch Kollege Döring, der Studienreferendar, der mir einen Abschiedsbesuch machte, was ich ihm sehr hoch anrechnete. Er war ja auch bei mir in der Volkshochschule. Ein lieber feiner Mensch, der jetzt nach Hoyerswerda geht! Wenn
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jetzt ein Mann aus dem anderen Lager zu einem kommt, wo man doch als Paria behandelt [wird], erkennt man das doppelt an! 5. April 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Ich empfinde von Tag zu Tag das Beschämende unserer Situation schlimmer. Heute früh gab ich eine Stunde in der Ib, vielleicht die letzte am Johannesgymnasium; dann zur Staatsbibliothek, wo ich zwei Berliner Bücher abzugeben hatte, dann ins Ringhaus [...]; dort traf ich Martin Bohn, den früheren Vertrauensmann von Trautner, er begleitete mich noch bis zur Stadtbibliothek. Er erzählte mir, daß sich auch Justizrat Epstein das Leben genommen hat. Täglich liest man von Selbstmorden jüdischer Akademiker. So werden schuldlose wertvolle Menschen in den Tod gejagt, weil sie diese Schmach nicht glauben ertragen zu können. So darf man ja nicht denken, man muß sich den Seinen erhalten. Aber es gehört schon alle Energie dazu, um sich seelisch über Wasser zu halten. Gabriel hat heute übrigens die Jahresabschlußfeier sehr hübsch gemacht Czeczatka wurde von ihm endassen, das ist ja ein Mann, der sich wirklich um die Anstalt große Verdienste erworben hat Ernst ist mit einer guten Censur nach Obertertia versetzt worden. Im Lehrerzimmer sagte mir der Direktor, daß er hoffe, mich nach den Ferien zur Arbeit wiederzusehen. Ich sagte, daß ich das nicht glaube! Auf der Stadtbibliothek arbeitete ich das erste Mal in den neuen Räumen. Sie sind ganz herrlich ausgestattet, ein besonderes Zeitschriftenzimmer, ein Lesesaal. Ich fand unter anderem eine große polnische Besprechung meines Hermann von Salza1. [...] 7. April 1933 Breslau, Freitag. [...] Unwillkürlich kreisen die Gespräche immer um dieselben Gedanken, wenn man sich auch bemüht, von ihnen loszukommen. Es geht nicht! Wölfl leidet auch sehr unter der schmachvollen Situation, in der wir deutschen Juden uns befinden. Heute abend kam die „Selbstwehr"2. Vieles erkennt man da erst deutlich, was uns sonst verheimlicht wird. [...] Die eigenen Dinge ruhen ja jetzt sehr, deutsche Journalistik ist doch völlig in Fortfall gekommen. [...] Wir müssen, wie die Jüdische Rundschau richtig schreibt, den gelben Fleck mit Stolz tragen3, aber es ist
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Sehr wahrscheinlich bezieht Cohn sich auf die Besprechung seines „Hermann von Salza" durch Stanislaw Z A J A C Z K O W S K I in: Kwartalnik Historyczny 46 (1932), Heft 1-2, S. 189-193. Siehe Tgb. vom 24. März 1933. Zwischen März und Juli 1933 erschienen in der Jüdischen Rundschau 21 Artikel des Chefredakteurs Robert W E L T S C H zur Lage der deutschen Juden, die im gleichen Jahr zu einem Sammelband zusammengefaßt wurden: Ja-sagen zum Judentum: eine Aufsatzreihe der .Jüdischen Rundschau" zur Lage der deutschen Juden. Berlin 1933. (Neuausgabe: Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck. Eine Aufsatzreihe der Jüdischen Rundschau zur Lage der deutschen Juden. Nord-
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alles Nervensache. Und deswegen nehmen sich viele das Leben, weil sie das alles nicht ertragen können. Aber ich werde nicht so handeln. Wenigstens die vier Kinder sollen einmal Israel zum Segen heranwachsen. Das möchte ich heute am Schabbes hagadol mir sagen und in diesem Hoffen will ich niemals erlahmen! 8. April 1933 Breslau, Sonnabend. Heute früh [...] mit Trudi eine große Tour gemacht. [...] Auf den Straßen war wenig Verkehr, nur hier und da kam ein Auto, einmal ein großes Postauto, dann ein Landbestellerauto, einmal ein Warenhausauto von Tietz oder Wertheim, aber alle Namen sorgsam zugedeckt, so tarnt man das, damit auch die Nazibevölkerung kaufen kann, ohne ihr Gewissen zu belasten. Kurz vor Rothsürben der große neue Sender, der als großes Wahrzeichen in die Luft ragt und die Gegend beherrscht. [...] Auf der Schweidnitzer Straße wehte eine riesige Hakenkreuzfahne von den heute eröffneten Nazigaststätten Sutor1. Zu Hause hörten wir, daß heute auf der Schwertstraße zwei Nazis erschossen worden sind. Auch ist heute das neue Beamten[gesetz]2 durchs Radio durchgesagt worden. Man muß weiter abwarten. Am Bahnhof Rothsürben schimpfte ein Erwerbsloser heute fürchterlich auf die Margarineverteuerung, die am 1. Mai in Kraft tritt. [...] 9. April 1933 Breslau, Sonntag. [...] Das neue Beamtengesetz ist nun heraus3, danach werden sie schon irgendeine Möglichkeit finden, einen herauszuwerfen. Es ist alles so widerlich. [...] Am Nachmittag waren wir noch mit [Susanne] und Wölfl unten auf der Kirschallee ohne [Kinder-]Wagen! Einige Bekannte getroffen, so Leichtentritt! Über dieselben Dinge gesprochen; ihn haben sie früh aus der Landesversicherung herausgeworfen, abends wieder geholt, ebenso Callomon bei der Schulverwaltung. Heute war sonst ein schöner Tag, aber man wird hier seines Lebens nicht mehr recht froh. [...] Feilchenfeld war am Vormittag noch da; ich will ihm jetzt seine Arbeit noch einmal durchsehen! 10. April 1933 Breslau, Montag. [...] Kaiisch fahrt morgen nach Paris4! Die jüdischen jungen Leute sind jetzt alle in einer schlimmen Lage. Dann zu Mutter gegangen, die ich G'tdob ganz gut vorfand. Politischen Gesprächen möglichst ausgewichen. Immer lingen 1988) - Der Journalist Robert Weltsch (1891-1982) war von 1919-1938 Chefredakteur der Jüdischen Rundschau und emigrierte später nach Palästina. Es handelt sich um den Bürgerbräu-Keller im alten Generalkommando. Vgl. dazu unten die Eintragung zum 22. August 1935. Die zweite Worthälfte wurde beim Seitenwechsel vergessen. Das auch für Willy Cohn so folgenreiche Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Gerhard Kaiisch war ein Klassenkamerad von Wolfgang Cohn.
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läßt es sich nicht vermeiden! Nun im Begriff, den Seder abzuhalten. Nur Bernhard Rothmann kommt. Ein Abend voll von Erinnerungen! Dieses Jahr besonders! 11. April 1933 Breslau, Dienstag. Der gestrige Abend ist wie üblich verlaufen. Ich konnte nicht viel erklären! In keinem Jahre wie in diesem hat uns ja die Haggadah soviel zu sagen; alles paßt auf unsere Zeit! Ernst hat die üblichen Fragen gestellt, da er ja in Abwesenheit von Ruth der jüngste war. Wölfl hat mich stark beim Vorlesen unterstützt. Er hat das sehr schön in sephardischem Hebräisch getan. Es klingt für mein Gefühl besser als das Aschkenasische. Ich selbst mache beim Lesen viele Fehler, weil ich doch nicht so in der Übung bin. [...] Ich bin dann in die neue Synagoge gelaufen. Ich wollte einmal Musik hören. Auf dem Wege traf ich einen alten Kriegskameraden, den Tierarzt Dr. Loewenthal. Vogelstein hat sehr gut gesprochen aus dem Geist der Zeit heraus; es ist ihm sehr nahe gegangen. Ich sah, wie er sich hinter der Kanzel die Tränen trocknete. Heute sehen übrigens nach der Zeitung die Dinge etwas günstiger aus! Es werden doch in Berlin über 1.000 Anwälte wieder zugelassen werden! Für uns persönlich heißt es abwarten. Ich bin oft in einem sehr labilen Zustand, aber ich bekomme mich doch immer wieder in die Gewalt [...] Ganz offen kann ich nur in diesem Buche sein. 12. April 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Um halb sieben Uhr kam der Bruder des Professor Leichtentritt, um sich mit mir über Palästinaauswanderung zu beraten! Wer jetzt nicht alles auswandern will! Er abgebauter Bankbeamter, ohne hebräische Kenntnisse, die Frau Christin. Ich habe ihm alles so dargestellt, wie ich es zu sehen glaube und ihm auch die Schwierigkeiten vor Augen geführt! Es tut einem bitter leid um alle die Menschen, die sich an das Land ihrer Väter als letztes anklammern, weil ihnen sonst alles fortrutscht. Es ist für sie sehr schlimm! Dann der zweite Sedernhand. Wir waren allein, Wölfl hat mich wieder sehr unterstützt. [...] Ich will am Vormittag noch in die Synagoge gehen, man hat so vieles mit sich ins Reine zu bringen. 13. April 1933 Breslau, Donnerstag. Auch die vergangene Nacht war teilweise sehr schlimm! Dazu wurden wir noch um drei Uhr durch das Telefon aus dem Schlaf geschreckt. Jetzt werden wir es wieder abstellen! [...] Dann mit Trudi zur Beerdigung von Justizrat Rogosinski, dem Schwiegervater von Friedrich Schoeps. Ein ausgelebtes
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Dasein, aber es nimmt mich jede Beerdigung sehr mit! Borin1 sang das Elmalerachamim sehr ergreifend! Dann an unseren Gräbern sagte ich Trudi, daß ich, wenn ich einmal vorzeitig fort müßte, in unserem Erbbegräbnis beigesetzt werden will! Nachher mußte ich sehr weinen! Die Nerven gingen mir durch! Man nimmt sich immer sehr zusammen, aber einmal kommt es doch heraus. Die ganze Schmach, die man unsereinem antut und doch auch die Unmöglichkeit, sich innerlich ganz von Deutschland lösen zu können! Heute las man in der Zeitung von der „Entfernung" jüdischer und „marxistischer" Lehrer. Wir werden entfernt wie ein eingewachsenes Haar! Wenn man sich nur eine stärkere Dickfelligkeit angewöhnen könnte. Trudi versucht mich ja immer wieder aufzurichten, aber es ist sehr schwer, und ich weiß noch nicht, wie ich das alles werde durchmachen können. Anderen Leuten kann man besser zureden, als sich selbst, und anderen habe ich in letzter Zeit oft Trost zugesprochen. Nach außen markiere ich auch den starken Mann, und man sollte niemandem den Triumph antun, selbst schwach zu werden. Mein Haupttrost ist Susannchen. In ihrem süßen Kindergesicht ist noch nichts von dem Leid der Zeit. 14. April 1933 Breslau, Freitag. [...] Heute wieder sehr viele ungünstige Zeitungsnachrichten. Viele jüdische und linksstehende Hochschulprofessoren beurlaubt! Unter anderem Marek und Cohn. Der Numerus clausus an den Universitäten nun sicher, so daß mit einem Studium von Wölfl hier nicht mehr zu rechnen ist. Vielleicht werden wir ihn doch nach Paris schicken. Alles schwere Entschlüsse, die in nächster Zeit zu fassen sind. Daß ich auch herausgeworfen werde, ist mir vollkommen klar, nur weiß man noch nicht, unter welchen Bedingungen; und vorher kann man keine Entschlüsse fassen. Wie man sich gegen uns Juden benimmt, so ist noch niemals gegen uns gehandelt worden. Gewiß, man tötet uns nicht, aber man quält uns seelisch, gräbt uns jede Existenzmöglichkeit systematisch ab. [...] Mit Wölfl am Vormittag spazieren gelaufen. Alles durchgesprochen; er wird nun doch wohl weggehen. Ein sehr schwerer Entschluß, aber es bleibt kaum etwas anderes übrig. [...] Wölfl benimmt sich in der ganzen Sache großartig., auch an Trudi habe ich eine große Stütze. Nur mit mir selbst bin ich nicht sehr zufrieden. [...] 15. April 1933 Breslau, Sonnabend. Wölfl war heute früh auf der Polizei, um sich das Ausreisevisum zu holen. Leider war das Büro geschlossen, so daß wir erst Dienstag erfahJoseph Borin (geb. 1903) sang als lyrischer Tenor an den Bühnen von Erfurt, Wien und Breslau. Seit 1924 war er Oberkantor der Neuen Synagoge in Breslau, ab 1933 und wieder nach 1945 Kantor in Straßbuig.
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ren werden, ob es geht oder nicht. Für den Jungen ist diese Ungewißheit auch sehr unangenehm, aber da hilft es nicht. Heute sieht auch die ganze außenpolitische Situation sehr schlimm aus. Es geht eine gewaltige Empörung durch die ganze Welt wegen unserer Entrechtung, die besonders im englischen Unterhaus ihren Ausdruck fand. Aber wie es auch ausgeht, wir Juden kommen da immer zwischen zwei Ströme und an uns wird alles ausgelassen werden. Ich glaube, daß uns schwarze Tage bevorstehen! [...] 16. April 1933 Breslau, Ostersonntag. Gestern abend noch mit Wölfl, der doch sehr aufgeregt ist, was man ja auch verstehen kann, die verschiedensten Möglichkeiten durchgesprochen. Natürlich kann man nichts aussorgen! [...] Zwischendurch kam Werner Kaim, der zweite Sohn meines verstorbenen Freundes Otto. Die Familie lebt jetzt in Berlin! [...] Eben klingelte mich Gabriel an, um sich über meine Militärverhältnisse zu unterrichten. Er sagte, er sei zwar noch nicht angefragt worden, nehme aber an, daß dies demnächst geschehe. Ich gab die notwendige Auskunft, sagte ihm aber, daß ich glaube, er würde meinetwegen gar nicht angefragt werden, da ich annehme, man würde auf mich den anderen Paragraphen des Beamtengesetzes anwenden: Politische UnZuverlässigkeit1. Er sagte, er furchte das auch, hoffe aber, es würde besser gehen, als wir denken. Ich sagte ihm, daß ich mir über die Situation völlig klar sei. [...] Zur Vesper war Franz Riesenfeld da, der auch nach Paris zum Studium geht; er hat den Ausreisesichtvermerk bekommen; ich denke, daß wir ihn für Wölfl auch erhalten. [...] Alles ist voll in Empörung wegen der Existenzvernichtungen. Auf dem Wege Friedrich Schoeps und Frau getroffen. Er ist bei der Reichskraftspritvertretung abgebaut worden. Sehr schlimm für ihn; es war seine Hauptvertretung. So kommt jeder dran! Wie sieht es in uns allen schließlich aus! Aber man muß alles in sich verschließen! Mit Wölfl jetzt noch einige Reisevorbereitungen getroffen; je näher der Termin kommt, umso schwerer wird es uns! Aber es hilft nichts, es ist zu seinem Besten! 17. April 1933 Breslau, Ostermontag. Gestern abend im Bett noch mancherlei Gedanken gemacht, ziemlich unglücklich gewesen; ich fühle doch, daß mir das Herausreißen aus dem Gewohnten sehr schwer werden würde, auch das Hineinleben in ganz neue Verhältnisse. Ich habe manchmal das Gefühl, daß ich für alle diese Dinge nicht mehr die Spannkraft habe, aber man muß sie doch schließlich um der Kinder willen aufbringen. [...] Ich mache mir die Trennung von Wölfl doch sehr Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 sah in Paragraph 4 vor, daß Beamte wegen ihrer bisherigen politischen Betätigung entlassen werden konnten. Reichsgesetzblatt, Teil 1, 1933, Nr. 34 vom 7. April 1933, S. 175.
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schwer! Man ist manchmal schon so müde! [...] Dann kam ein Fräulein Dr. Statiner von Perle geschickt, um sich Rat zu holen. Es sind immer dieselben Dinge, die man durchspricht. Sie ist im Wenzel-Hancke-Krankenhaus gekündigt worden, chemische Assistentin von Frank. Zwei Brüder Juristen, auch von heute auf morgen vor dem Nichts! Uberall Hoffnungslosigkeit! Man möchte immer trösten und aufrichten und bedarf selbst des Trostes! [...] 18. April 1933 Breslau, Dienstag. Wölfl ist nun fort! [...] Es war ein sehr schwerer Abschied, aber man möchte nicht aufschreiben und ausdrücken, wie einem Vater in diesem Augenblick zumute ist. Ernst und Trudi waren auch mit und dann die ganze Familie Brienitzer. Wölfl hat sich sehr gut gehalten, und es uns nicht so schwer gemacht, aber wer weiß, wie ihm auch zumute gewesen sein mag, denn er macht sich um uns viele Sorgen. Aber man muß jetzt hart sein und sehen, wie man sich durchbeißen kann. Er war heute früh schon um sieben Uhr auf der Polizei, aber der Polizeirat Augustini, der die Judenpässe wieder für das Ausland gültig macht, kam erst um zehn Uhr. Um dreiviertel elf hatten wir dann glücklich telefonisch Bescheid, daß er den Ausreisesichtvermerk bekommen hat. In solchen Zeiten leben wir, daß selbst eine so einfache Sache zu einer großen Aufregung wird, weil wir doch eigentlich keine Menschenrechte mehr haben und nur noch Bürger 2. Klasse sind. Trudi fuhr dann um dreiviertel elf in die Stadt, um auf der Sparkasse noch alles zu erledigen, ein Glück, daß Wölfl so gespart hat, daß er die erlaubten 200 Mark nach Bezahlung der Fahrkarte gerade übrig hatte. Ich hätte ihm jetzt nicht helfen können. Trudi hat ihm alles glänzend gepackt und sich sehr bewährt. [...] Heute vormittag habe ich mir noch die Zeit des Abwartens damit vertrieben, daß ich das große Kapitel über die Assisen von Ariano zum Abschluß gebracht habe. [...] Auf der Wölflstraße begegnete uns Professor Landsberger, dem man auch die Schlesischen Monatshefte, die er sehr in die Höhe gebracht hat, genommen hat. Wer weiß, welcher inferiore Geist sie bekommen wird1. Wir sind übrig. So mußten unsere Vorfahren ihr Päckel nehmen, nur daß man heute vielleicht einen Rohrplattenkoffer hat. Aber es ist das gleiche Judenschicksal. 19. April 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Der Tag beginnt jetzt immer damit, daß man sich über die Zeitungen ärgert; aber man muß sie lesen, um sich auf dem Laufenden zu halten. Heute kam von Libertini eine mich sehr erfreuende Karte, er fragt wegen des Normannenbuches an. Ach, wenn man doch irgendwo ein Leben ruhiger, geistiger Arbeit fuhren könnte. Wölfl wird jetzt schon in Berlin auf dem Wege zu den Konsulaten sein! 1
Der Kunsthistoriker Franz Landsberger (1883-1964) war seit 1927 Herausgeber der angesehenen Schlesischen Monatshefte. Er emigrierte 1939 nach England.
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Vormittag mit Kollegen Mittelhaus wegen Büchern telefoniert, inzwischen von ihm ein Paket durch Ernst holen lassen, alles Sachen, die ich für meine Arbeit über Sizilien brauchen kann. Trudi mit dem Kinde getroffen, dann den Kollegen Adam und Frau; auch über die Dinge gesprochen, die einen bedrücken; vielleicht etwas mehr geredet, als ich es sonst tue; manchmal aber läuft einem doch mitunter der Mund über. Heute soll auch der Numerus clausus für höhere Schulen etc. durchs Radio durchgesagt [worden] sein. In der Judenfrage geht man bis zum letzten! Nun wird sich ja für uns alles in den nächsten Tagen entscheiden, aber im Grunde rechnet man ja mit dem Richtigen. [...] 20. April 1933 Breslau, Donnerstag. Heute früh kam eine Karte von Wölfl, die meldete, daß er in Berlin alles gut erledigt hat, jetzt am Abend, wo ich dies aufschreibe, ist er hoffentlich bald in Köln! Meine Gedanken sind viel bei ihm. [...] Heute hat Hitler Geburtstag! Flaggen, Straßenbahnen mit Fähnchen, immer eine die Hakenkreuz- und eine die schwarz-weiß-rote Fahne. Aus den offenen Fenstern eines Hauses tönte das Horst-Wessel-Lied. Man wurde an Wilhelms II. Geburtstag erinnert! Es gibt Speisungen für die Bedürftigen!! [...] 21. April 1933 Breslau, Freitag abend. [...] Die Welt steht heute unter dem Eindruck des Dollarsturzes, und dies Ereignis läßt sogar die Bedeutung von Hitlers Geburtstag in den Hintergrund treten! Uberall kriselt es, auch in den Ländern, die nicht jüdisch oder marxistisch „verseucht" waren! [...] 22. April 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Von Wölfl kam mit der zweiten Post eine Karte aus Herbesthal1, G'tt sei Dank, daß er draußen ist. Er wird aufatmen. Wenn man am Morgen die Zeitung liest, kränkt man sich immer wieder aufs Neue. Immer liest man von jüdischen Selbstmorden! Heute sagte irgendeiner von ihren Führern, daß das Judentum für Jahrhunderte seine Rolle in Deutschland ausgespielt hat. Man soll uns die Möglichkeit geben, unser Hab und Gut mitzunehmen und uns anderswo eine Existenz zu suchen! Wir werden nicht winseln, wie einer neulich so geschmackvoll gesagt hat. Etwas Vitalität steckt doch noch in uns! [...] 23. April 1933 Breslau, Sonntag. [...] Nachher kam der Kassierer der Partei [der SPD], aber ich hörte von ihm auch nichts Neues. Die Redakteure der Volkswacht sollen alle entlassen sein. Dann traf ich mich mit Trudi und Susanne, wir gingen in den Landauschen Garten, der in diesem Jahre wieder sehr schön werden wird. [...] Die Unterhaltungen gingen um die Dinge, die jetzt politisch in der Luft liegen und die Herbesthal war die erste Bahnstation in Belgien.
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zu wenig fuhren. Der Sohn von Frau Glaser, der Arzt in Chemnitz [ist], sitzt nun schon sieben Wochen in Schutzhaft und es besteht für ihn vorläufig wohl noch gar keine Möglichkeit herauszukommen. [...] Von Wölfl kam eine Karte an Brienitzer, er ist, G'ttlob, gut in P[aris] angekommen und wohnt vorläufig in dem gleichen Hotel, in dem Kaiisch und Riesenfeld abgestiegen sind. [...] 24. April 1933 Breslau, Montag. [...] Friedrich Schoeps und Frau getroffen. Ihm noch einen Rat gegeben, wie er sich vielleicht seine Vertretung der Reichskraftspritgesellschaft erhalten kann! [...] Zur Bahn gefahren, um Ruth abzuholen, die überpünktlich um 14 Uhr 14 eintraf, sehr vergnügt, sehr erwachsen geworden1. Sie hat mir schon viel in der Straßenbahn erzählt! Trotzdem ist sie froh, daß sie wieder da ist, es war doch sehr lange. Für Wölfl mußte von Berlin nach Dresden telefoniert werden, man wollte ihm dort nicht so ohne weiteres das Visum geben, weil Breslau nach Dresden zuständig ist. Wölfl ist in Berlin von den Schwiegereltern sehr gut aufgenommen worden, sie sind immer sehr nobel! Sie hat ihm sogar drei Mark für das Telefongespräch nach Dresden ersetzt und ihm noch die Turnschuhe bezahlt. Sehr hübsche Bilder sind von Emsts Häuschen aus Groß Gaglow gekommen! Wenn man so in die Stadt fährt und längere Zeit nicht drin war, so stößt einem jetzt immer so mancherlei auf, aber man muß sich an alles gewöhnen! Allmählich wird man auch diese Dinge übersehen! 25. April 1933 Breslau, Dienstag. Heute Nacht wurden wir wieder durch das Telefon geweckt, aber wir gingen nicht an den Apparat. In der nächsten Nacht werden wir es wieder herausziehen, das sind so die Vergnügungen unserer Gegner. [...] Unsere Kinder Ernst und Ruth haben heute eine besondere Kränkung erfahren. Sie sollten Turnen von ihrem Verein Habonim haben in der Turnhalle an der SadowaSchule, wo sie immer turnen. Aber man [hat] ihnen als Fremdrassigen einfach den Eintritt verweigert. Also nicht einmal mehr etwas körperliche Ausbildung gönnt man unserer Jugend. Welche Gefühle muß das in unseren Kindern zurücklassen. Immer noch führt man den Feldzug gegen die Juden weiter. Heute vormittag auf dem Spaziergang] noch Frau Rechtsanwalt Weißstein getroffen, sie ist Arierin, aber ihre Kinder sind „bastardisiert"! Onkel Perls ist von Reichelt endassen worden. Das ist für den alten Mann sehr traurig, denn er wird kaum etwas anderes finden. Hoffentlich tut er sich nichts an. Auch diese Firma ist mit jüdischem Gelde groß geworden! So gibt es täglich neues Leid für unsere Gemeinschaft! Aber man darf und darf sich nicht klein kriegen lassen.
Ruth kam von einem Aufenthalt bei der Berliner Verwandtschaft.
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26. April 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Heute ist das Schulgesetz herausgekommen, das sich ja für die jüdischen Schüler wesentlich besser stellt, als die Pessimisten geglaubt haben. Daß überhaupt so etwas möglich ist, ist schlimm genug, aber fürs erste werden wenigstens keine jüdischen Schüler von den Schulen entfernt werden. Und manche schroffe Bestimmung, die in dem Gesetz enthalten ist, wird vielleicht niemals durchgeführt werden! Aber zunächst müssen eben solche Gesetze erlassen werden, um die Anhänger zu befriedigen. [...] 27. April 1933 Breslau, Donnerstag. Heute früh konnte man im Wordaut das Schulgesetz in den Zeitungen lesen! Nun wird also die Tüchtigkeit nach Prozenten genormt! Wenn auch die Einzelbestimmungen noch nicht so ungünstig sind, wie sie hätten sein können, so bleibt doch der Geist des Gesetzes charakteristisch! Von Wölfl kam heute eine ausführliche Karte! Er scheint sich gut einzuleben und hofft auch eine Hauslehrers teile au pair zu bekommen. Wir waren sehr glücklich über die Nachricht. Gestern hatte die Deutsche Allgemeine Zeitung eine Notiz über meine Dantearbeit gebracht, die Schneider hineingesetzt hat1, Frau Landau gab mir das Blatt; heute bekam ich von Graefe-Berlin daraufhin Nachricht, auch Lewkowitz rief mich an. Solche Zeitungsnotizen wirken immer weithin. [...] Tschersig ist übrigens auch beurlaubt worden, so hat ihm sein Gesinnungswechsel nichts genutzt. 28. April 1933 Breslau, Freitag. [...] Heute soll durchs Radio angesagt worden sein, daß Charlottenburg abgeriegelt worden ist und dort alles durchsucht wurde. Der Rest ist Schweigen. [...] Vorhin klingelte ein Freund von Ernstl an, daß Chalusgm, die bei Fraustadt geschlagen worden sind, wieder nach Breslau zurückgekehrt sind. Die Situation hat sich überall weiter zugespitzt - und auf der anderen Seite die großen Freudenfeste. 29. April 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Um neun Uhr kam ein früherer Schüler Wagner2, der auch nach Paris geht und der sich Wölfls Adresse geholt hat. Wir haben ihm viele Grüße aufgetragen, er soll sich vor allem keine Sorgen um uns machen! Zwischendurch kam die Post, die mir das Kündigungsschreiben der Städtischen Vgl. Friedrich SCHNEIDER; in: Deutsche Allgemeine Zeitung 72 (1933), Nr. 193 vom 26. April 1933, Morgenausgabe. Dieser Artikel nimmt Bezug auf den Aufsatz von Willy COHN: Die Hohenstaufen im Urteil Dantes in seinem Bericht Neue deutsche Dante-Forschung. Zwei neue Handschriften; in: Das Deutsche Dante Jahrbuch 15 (1933), S. 146-184. Hans Wagner lebt nach Auskunft von Louis Cohn heute in Südfrankreich.
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Volkshochschule brachte, von der Schule habe ich momentan noch nichts gehört. Gabriel ist abgesetzt. An seine Stelle ist ein Studienrat Grosse vom Zwinger gekommen. Lüllwitz ist provisorischer Leiter vom Elisabethgymnasium geworden1! Der mit seinen geistigen Fähigkeiten ist gerade der richtige Mann! Aber das ist ja nun alles gleich! [...] Auf der Stadtbibliothek sprach ich Fräulein Dr. Auguste Briegen! Sie hatte dort ein halbes Jahr gearbeitet, wurde nun auch endassen und will ins Ausland gehen. Auf dem Ring wird fieberhaft gearbeitet! Alles zur Ausschmückung für den 1. Mai. Alle Flaggengeschäfte und ähnliche haben Hochbetrieb. Aber ob es bei allen die echte Freude an diesem Tage ist oder ob sich nicht mancher sagt, er muß flaggen, damit ihm nicht die Wohnung demoliert wird? Das weiß man nicht! Die Masse ist stumm! [...] Ich war froh, wie ich wieder zu Hause war! Man geht nicht mehr gerne in die Stadt. Inzwischen war Erna mit Hans Proskauer da! Er soll nun auch nach Paris gehen! Aber ich bin neugierig, wie er sich durchsetzen wird und woher Proskauers die Mittel dafür nehmen wollen! [...] Den Kollegen Lerche mit Frau getroffen. Er erzählte noch einiges von Schulsachen. Danach sind ja fast alle städtischen Direktoren durch kommissarische Leiter ersetzt worden! Zunächst also wird alles drunter und drüber gehen, meine Sorge soll das nicht sein! Die Menschheit ist wie von einem Taumel gepackt! Alles kauft Grün und Flaggen. Im 8-Uhr-Abendblatt steht, daß elf weitere Universitätsprofessoren beurlaubt sind, darunter Koebner, Waldecker. Koebner ist ein gänzlich unpolitischer Mensch, der weder jüdisch noch politisch hervorgetreten ist, aber heute vielleicht einer der besten Kenner ostdeutscher Geschichte2! Aber die „Grenzlanduniversität" muß umgebaut werden! 30. April 1933 Breslau, Sonntag. [...] Da ich heute mit der Post keinerlei Nachricht von der Schule bekommen hatte, telefonierte ich Kollege Schäffer an, um von ihm zu hören, was sich in unserer Angelegenheit ereignet hat. Er erzählte mir zunächst, unter welchen Umständen die Absetzung von Gabriel vor sich gegangen sei. Als er nach den Gründen für seine Beurlaubung fragte, bestellte man ihn zunächst für einige Stunden später, um ihm darauf zu sagen, daß man beschlossen habe, ihm die Angabe der Gründe zu verweigern. Dies einem alten Beamten. Bei uns jüdi1
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Studienrat Johannes Lüllwitz vom Johannesgymnasium war von 1933-1936 neben Oberstudienrat Lillge stellvertretender Schulleiter des Elisabethgymnasiums. Vgl. Dietrich GOIHL: Die Geschichte des Elisabet-Gymnasiums, Teil II, 1862-1945; in: Elisabetgymnasium. Breslau 1293-1993... unterwegs durch die Jahrhunderte. Gedenkschrift zum Gründungs-Jubiläum, hg. von der Vereinigung ehemaliger Elisabetaner mit Unterstützung des Hauses Schlesien, o.O. 1993, S. 127. Richard Koebner (1885-1958) hatte von 1924 bis zu seiner Endassung 1933 die Professur für mittlere und neuere Geschichte an der Breslauer Universität inne. 1934 wanderte er nach Palästina aus. Ein Lehrstuhl der Universität Jerusalem trägt heute seinen Namen.
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sehen Kollegen hatte Schäffer gehört, einige würden bleiben, einige würden im Laufe der Woche verschwinden. Für mich ist es außer allem Zweifel, daß ich unter diesen sein werde. Es ist im Grunde scheußlich, daß man morgen zu der Feier gehen muß, um vielleicht zu erfahren, daß man herausgeworfen ist, aber schließlich muß man auch dies ertragen. Von Wölfl kamen heute an Brienitzers gute Nachrichten, Ella hat mich sogleich antelefoniert! Auch Bilder hat er eingeschickt Ernst brachte es uns dann am Mittag. Auf ihnen lacht er sehr vergnügt [...] Am Eingang zum Südpark traf ich Kollegen String, der auch in großer Sorge um seine Zukunft ist, weil ziemlich viel gegen ihn intrigiert wurde! Wenn er entlassen wird, bekäme er vielleicht hundert Mark monatlich! So ist überall große Erbitterung, aber morgen wird alles festlich geflaggt. [...] Noch einen ganz schönen Spaziergang gemacht, es war im Südpark hübsch. Allmählich gewöhnt man sich auch daran, die vielen Fahnen zu sehen, ohne sie zu bemerken. [...] 1. Mai 1933 Breslau, Montag. Nachts um drei Uhr schweißgebadet aufgewacht; ich hatte geträumt, man habe mich als Schutzhäftling mit dem Ausmalen von Glasdächern beschäftigt. Dann stundenlang munter gelegen, [...]. Mit Ernst zur Schulfeier mit der 26 gefahren. Überall Fahnen, Hakenkreuzbinden, aber das Wetter ist wenigstens nicht besonders schön. Der Gang in die Schule war für mich besonders aufregend, wußte ich doch nicht, ob ich nicht sofort würde nach Hause geschickt werden. Es war jedoch keine Verfügung da! Mit einem Ordinariat bin ich nicht angesetzt, vertretungsweise mit dem in U lila. Ich nehme an, daß die Beurlaubung im Laufe der Woche erfolgen wird. Das hat höchstens den Vorteil, daß dieser Monat für mich noch als Dienstmonat rechnet, aber man kann ja nicht alles unter diesem pekuniären Gesichtspunkt ansehen. Ich wünsche aber, die ganze Geschichte wäre vorbei. Der kommissarische Direktor Grosse sprach im Lehrerzimmer ein paar sehr vernünftige Worte; er sagte, er habe sich zu dieser Aufgabe nicht gedrängt, zumal Gabriel sein Direktor gewesen ist. Aber er sei Beamter und kommandiert worden. Er sehe auch das Ganze als ein Provisorium an. [...] Die Feier aus dem Berliner Lustgarten: das jetzt übliche. Die Rede von Goebbels voll von Vorschußlorbeeren! So etwas kommt nur jedes halbe Jahrtausend einmal vor! Man nimmt sich das geschichtliche Urteil von vorneherein vorweg! Viel von der Überwindung des Klassenhasses, wie nachher ein Kollege im Lehrerzimmer sagte, dafür hat man den Rassenhaß gesetzt! Mitten in der Feier erschien Herr Junge in S.A.-Uniform mit heruntergelassenem Sturmband, offenbar, um die Feier zu überwachen. So weit sind wir heute. Aber es ging alles ganz glatt ab. Ich habe mir heute in das Knopfloch des Rockes und des Mantels das Bändchen vom Eisernen Kreuz gesteckt, nach allem innerlichen Kampf, aber vielleicht ist es gut, dies als Jude jetzt zu zeigen. Wir haben
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auch eine schwarz-weiß-rote Fahne herausgehängt, damit sie uns nicht die Wohnung demolieren! [...] 2. Mai 1933 Breslau, Dienstag. Am Vormittag. Als ich heute früh zur Schule [ging], traf ich Direktor Kurfess, mit dem ich natürlich auch über die schulpolitische Lage sprach. Er hat persönlich auch seine Neuanstellung noch nicht, sagte, daß er jetzt auch den blauen Brief vorfinden könnte. Bei den Personalien wird er auch nicht zu Rate gezogen, das machen alles die Kommissare. In der Schule Personalien in der U lila aufgenommen, das Notwendige gesagt. An der Wandtafel das Bild von Hider angemalt, rechts und links ein Hakenkreuz. Da kann man jetzt nichts sagen und übersieht es am besten. So war ich schnell fertig! Unter den Kollegen ist String besonders aufgeregt, sonst geht alles seinen Gang! Man bemüht sich, nicht zuviel zu sagen, was mir immer schwer fällt! Mein loser Mund, wie Jaroschek sagt, geht mir immer durch! Na, ich bemühe mich aber, nicht mehr zu sagen, als man verantworten kann. [...] Nach Hause gelaufen, aber das kann man in diesen Zeidäuften eigentlich kaum machen, denn man wird immer von irgendwelchen Glaubensgenossen angeredet, die immer dasselbe fragen und die man immer wieder zur Ruhe auffordern muß. Denn das klügste ist doch jetzt abzuwarten! Was kann sich nicht alles noch ändern. Der Direktor der Augusta-Schule hat gesagt: bis zum Herbst wird sich für die jüdischen Schülerinnen alles entscheiden! Also heißt es abwarten. [...] 3. Mai 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Am Abend noch in einer Sitzung jüdischer Lehrer im Gemeindehaus gewesen, wo ich sehr energisch zur Ruhe und Besonnenheit gemahnt habe. Ob es etwas nützen wird, weiß ich nicht. [...] Gestern abend hatte ich auf der Straßenbahn eine interessante Begegnung; es sprach mich ein junger Mann an, der sich als Opernsänger Hirt vorstellte, den ich vor vielen Jahren am Elisabethgymnasium unterrichtet habe; er begleitete mich dann noch nach Hause! Er sagte, ich sei der einzige Lehrer, an dem [er] noch hänge. Das freut einen wirklich, wenn es von einem Menschen gesagt wird, der nun gar nicht mehr von einem abhängig sei. Dann unterhielt er sich mit mir über die Lage; er sagte, daß er auch Nazi sei, aber daß er auch mit dem, was sich jetzt abspielte, nicht einverstanden wäre! Ich habe ihn reden lassen. Man muß natürlich in diesen Zeidäuften vorsichtig sein, sonst kann man sich selbst ans Messer liefern! Aber mancher Midäufer mag jetzt schon einsehen, wozu das alles fuhrt. Gestern sind alle Gewerkschaftshäuser und alle Wirtschaftseinrichtungen der Arbeiterschaft besetzt worden, um gleichgeschaltet zu werden1. So heißt das neue Wort unserer Zeit. - Zu der Sitzung gestern abend ist noch zu bemerken, daß die 1
Die Besetzung der Gewerkschaftshäuser und die Aufhebung der Gewerkschaften geschah am 2. Mai 1933 im ganzen Reich.
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liberalen Juden diese ganze Situation seelisch gänzlich unvorbereitet trifft Sie sind ganz fassungslos, eine Kollegin sagte, daß sie über Nacht aus einer deutschen Lehrerin eine jüdische geworden sei! So wenig haben diese Menschen ihre Lage im Golut erkannt! Ich furchte nur, daß im Augenblick, wenn es wieder besser wird, jede Belehrung vergessen ist [...] Am späten Nachmittag noch bei Mutter gewesen, auf dem Wege dorthin Sprinz getroffen, der mich begleitete. Er ist heute in der Universität verpflichtet worden, es ist alles ganz ruhig abgegangen. [...] Wundervoll ist es jetzt in der Natur, die Magnolien blühen und alle Obstbäume stehen in herrlichster Frühlingspracht - Nur der Mensch quält den anderen! Ernst erzählte heute sein Chawer Bromberger schreibt aus Palästina. Bei jedem Ankömmling fragt man: „Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?" Ein bitterer Witz1! Er arbeitet an einer Straße! Im Lande der Väter ist das eben eine andere Sache! 4. Mai 1933 Breslau, Donnerstag. Heute vormittag habe ich drei Stunden unterrichtet; es geht alles seinen Gang, aber ein richtig freies Gefühl hat man doch nicht mehr. Man muß sich jedes Wort überlegen; wie ein jüdischer Schüler richtig zu mir sagte, man fühlt sich nur als Gast. Aber man muß sich leider in diesen Zeitläuften jedes Feingefühl abgewöhnen! Leicht wird es einem nicht [gemacht]; man muß nur daran [denken], wie man seine Familie ernährt und wie man über den Augenblick hinwegkommt. Immer noch kommt in den Pausen der frühere Schüler Junge in die Schule, wahrscheinlich um zu spionieren. [...] Dann in die Privatklinik Wünsche, um Herrn Perle zu besuchen! Auf dem Wege dorthin las ich an der Anschlagsäule das Plakat über die Verbrennung jüdischer und marxistischer Bücher, die am 10. Mai vor sich gehen soll! Das ist also das nächste Volksfest. Von der Verbrennung der Autoren ist noch nichts gesagt. Mittelalter! So hat man einst den Talmud verbrannt Der hat es doch überlebt. [...] Von Wölfl kam heute eine ausführliche Karte! Zum Verdienen hat er in Paris offenbar noch nichts gefunden. Die Zahl der Emigranten ist zu groß. Man muß da das Beste hoffen. Es wird für ihn nicht so leicht, sich durchzusetzen! Aber das hilft nun nichts! Natürlich ist mir sehr bange nach ihm, aber ich bin doch sehr froh, daß er draußen ist. Was soll ein jüdischer junger Mensch in Deutschland noch werden? [...] 5. Mai 1933 Breslau, Freitag. Heute vier Stunden gegeben, die ohne besondere Ereignisse verlaufen sind. Aber es macht doch nicht die richtige Freude, wenn man sich jedes Wort überlegen muß. Während ich im Hof Aufsicht hatte, erschien Herr Diese Frage begegnete noch 1938 dem jungen Laqueur. Vgl. Walter widerWillen. Erinnerungen 1921-1951. Berlin 1995, S. 128.
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Junge in voller S.A.-Uniform. Er hielt es aber nicht für nötig zu grüßen. Das muß man alles jetzt schlucken. Man muß sich ein dickes Fell angewöhnen. Vor der letzten Stunde gab es noch eine Stundenplanänderung. Ich soll offenbar nicht mehr in [der] Prima unterrichten, also wurde für morgen der Plan geändert [ich wurde] nach Sexta gesteckt! Auch die darin liegende Kränkung muß ertragen werden. Aber vielleicht ist es in meinem Interesse, denn in den Oberklassen ist die Möglichkeit eines Zusammenstoßes eher gegeben und vielleicht ist es besser, wenn man unsern kleinen Sextanern seelisch etwas gibt. Aber am liebsten möchte man den ganzen Dreck hinschmeißen, wenn man nicht ein wenig Pflichtgefühl hätte und wenn man nicht an seine Familie dächte und daran, daß man den Leuten nichts schenken soll! Aber es kotzt einen an! In die Schule ging ich mit dem kleinen Quintaner Frey, dessen Vater und Großvater eingesperrt ist1. Der kleine Mann sagte mir, er träume schon davon! Es tut einem leid um die kleinen Kinder, deren Seele so viel leidet. Und das in einer Zeit, die viel von der Psyche des Kindes weiß! Aber die Seelen von jüdischen oder „bastardisierten" Kindern sind ja nichts wert. Außenpolitisch hat der Reichskanzler ja den Polen soviele Zugeständnisse gemacht, daß, wenn diese ein anderer gemacht hätte, man ihm sicher allerhand Schwierigkeiten gemacht haben würde. Auch Hider muß die Verträge halten! Draußen blüht alles, aber es ist schwer, auch unsere Seele zum Blühen zu bringen! Wenn ich in meiner Wohnung bin, merke ich das alles nicht so, aber geht man über die Straße, so kocht es in einem! Am Hauptbahnhof steht heute ein Plakatträger: „Deutsche, meidet jüdischen Schund. Wir haben ja nur Schund geliefert! [...] 6. Mai 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Ich wollte bei Gabriel noch einen Besuch machen! Ich hielt das doch für anständig, ich gab meine Visitenkarte ab, er war aber nicht da. Er fährt in diesen Tagen nach Berlin, hoffentlich erreicht [er] für sich etwas. Ich persönlich glaube nicht recht daran! [...] Dann kam ein junger Mann namens Lauffer, Medizinstudent von fünf Semestern, Sohn eines langjährigen Angestellten von Trautner, der nun nach Italien, Mailand oder Bologna, gehen will, um dort zu studieren. Ich gab ihm auch einige Empfehlungen mit, bat ihn auch, mit Loevinson in unserem Interesse zu reden. [...] Jetzt hat Ernst Heimabend in der Eßstube. Es ist ganz interessant, die Gesprächsbrocken zu hören! Man muß jetzt die Jugend wenigstens dadurch unterstützen, daß man ihnen ein Zimmer zur Verfügung stellt! Diese jungen Menschen sind doch schwer belastet durch die Zeit. [...] 7. Mai 1933 Breslau, Sonntag. Heute wird Wölfl 18 Jahre alt. Vor 18 Jahren war ich in FrankDer Hinweis bezieht sich auf Stadtrat Hugo Frey.
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reich, heute ist er dort! Eben ist an Ella eine Karte gekommen, in der er sehr zufrieden schreibt. Er ist jetzt meistens am Mittag und Abend eingeladen! So streckt sich das Geld etwas, das er mitgenommen hat. [...] Am Abend! [...] Es blüht alles märchenhaft, aber das steht in einem großen Kontrast zu dem, wie es in uns innerlich aussieht. [...] Etwas an der Sizilienarbeit geschafft. Die Wissenschaft bringt mich über vieles hinweg. [...] 8. Mai 1933 Breslau, Montag. Man geht jetzt mit einem sehr großen Widerwillen in die Schule, weiß man doch, daß man jeden Tag von einer neuen Unannehmlichkeit erwartet wird. Die ganze Luft ist wenig erfreulich. Heute nahm mich der kommissarische Direktor beiseite und fragte mich, ob es mir peinlich wäre, die Wahl der Vertrauensschüler vornehmen zu lassen, weil nur arische Schüler gewählt werden dürfen. Ich erklärte ihm, daß wir in diesen Zeidäuften so viel Peinliches ertragen müßten, so daß es schon gar nicht darauf ankäme. Der Kommissar Grosse betont übrigens immer, daß er für alle diese Maßnahmen nicht verantwortlich zu machen sei. Ich fragte ihn, ob es auf eine höhere Anordnung zurückzufuhren sei, daß ich in Prima nicht mehr unterrichten dürfe. Er bejahte dies, erklärte aber, daß er darüber nicht reden dürfe. Sodann fragte ich ihn, ob er wisse, ob der frühere Schüler Junge mit der Überwachung der Anstalt beauftragt sei. Dies verneinte er; er hätte auch keine Kenntnis davon, daß er als Nicht-Schüler der Feier in der Aula beigewohnt habe. Ich sagte ihm, daß ich, solange ich im Amt wäre, auch auf meine Stellung zu achten hätte, und wenn ich im Hof Aufsicht hätte, ich es als peinlich empfände, wenn ich nicht gegrüßt würde. Darauf reagierte er nicht weiter. Da nächstens die beiden Sexten zusammengelegt werden, werde ich, so nehme ich an, automatisch überflüssig werden. Es ist mir nur widerwärtig, daß man jetzt noch Kräfte verspritzen muß. Schließlich ein Mensch von meinem Können wird nur dauernd Sextaner zu unterrichten haben. Aber man sollte sich über nichts ärgern, man kann es ja auch nur dadurch vor sich rechtfertigen, daß man versucht das zu erhalten, was man bekommen kann; aber man möchte vor sich ausspucken, daß man das tun muß. Nach Tisch sehr gequält; es ist kein Wunder, wenn man dann nicht schlafen kann. Das sind alles seelische Foltern - Z[um] K[otzen]! 9. Mai 1933 Breslau, Dienstag. [...] Kaum war ich zu Hause, rief Frau Landau in völlig verzweifeltem Zustand an, sie hatte eben im acht Uhr Abendblatt gelesen, daß Rechtsanwalt Eckstein gestorben ist Wir trafen uns dann an der Kirschallee, und sie kam noch etwas zu uns herauf. Es ist ganz erschütternd! Der Polizeibericht nennt als Todesursache Lungen- und Nierenentzündung und beginnende
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Geisteskrankheit. Der arme Mensch saß seit dem 28. Februar in Schutzhaft und starb dafür, daß er einen anderen Idealismus gehabt hat, als den, der gesiegt hat1. Heute hörte ich, daß sich ein anderer Schutzhäftling die Adern aufgeschnitten hat. Wer weiß, woran der sterben wird! Man kann nicht einmal hier das aufschreiben, was man empfindet und denkt! Armer Eckstein! [...] In der Schule hat sich nichts Besonderes ereignet, und bei den kleinen in der Sexta vergißt man ein wenig seine Sorgen. — Nachher zur Bibliothek! Auf dem Wege dahin einen alten Kriegskameraden Hoffmann von der 4/F getroffen2. Jetzt Nazi, ich sagte ihm einiges, aber ich glaube ja nicht, daß die Menschen noch irgendeine Belehrung annehmen. Am Nachmittag kam ein früherer Schüler Teichner, der nach Italien geht, um sich Adressen zu holen. Man weiß ja nicht, was man den jungen Leuten raten soll. Viel Geld hat er nicht! Andererseits aber kann man auch niemandem zureden zu bleiben! Traurig ist es um diese jüdische Jugend bestellt! 10. Mai 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Heute war die Wahl der Vertrauensschüler! Es durften nur deutscharische Schüler gewählt werden. Sehr schmerzlich für die Jungen, dies erleben zu müssen, besonders schlimm für die christlichen Jungen jüdischer Abstammung, sie sind ganz wurzellos. Das Gleiche sagte mir auch Kollege Freund. Es war eine schlimme Stunde in meinem Lehrerdasein, daß man solche Dinge tun muß, die gegen jede verständige Behandlung junger Menschen sprechen. In der letzten Pause kam das Feuerwehrauto mit einem S.A.-Auto, um die Bücher abzuholen, die heute verbrannt werden sollen3! Gestern klebten an den Verbrennungsplakaten Zettel: „Vergeßt die Bibel nicht, auch sie ist jüdisches Kulturgut.4" Eine feine Ironie liegt darin, sie ist auch verstanden worden. Heute Nacht wird die Berliner Verbrennung durchs Radio übertragen. [...] Frau Eckstein hat in den Breslauer Neuesten Nachrichten annonciert: „Mein Sohn hat ausgelitten." Das besagt genug! Der arme Mensch! Nun ist auch das Vermögen der S.P.D. und des Reichsbanners beschlagnahmt worden. Nach dem Bericht der D.A.Z.5 hat man Herrn Rosenberg in London einiges gesagt! Es besteht eine große Divergenz zwischen der außenpolitischen und innenpolitischen
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Rechtsanwalt Dr. Ernst Eckstein (1897-1933) war Gründer der Sozialistischen Arbeiterpartei Breslau. Er starb im Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 606. Walter TAUSK, Breslauer Tagebuch, S. 78, gibt an, Eckstein sei in der „Irrenanstalt" verstorben. Cohn war im Ersten Weltkrieg der vierten Feldhaubitzen-Munitionskolonne zugeteilt. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 211 f. In seinen Lebenserinnerungen erwähnt Cohn, daß am 10. Mai 1933 auch seine Lassalle-Biographie verbrannt wurde. Verständlich, daß Cohn dieses Ereignis mied. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 89. Diese Zettel sah auch Walter TAUSK, Breslauer Tagebuch, S. 71. Deutsche Allgemeine Zeitung. Tägliche Rundschau. Reichsausgabe, Berlin 1922-1945.
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Wirkung. Dafür ist heute fünfzig schlesischen Anwälten die Vertretungsbefugnis entzogen worden! Fünfzig vernichtete Existenzen! [...] 11. Mai 1933 Breslau. Donnerstag. [...] Große Aufregung herrscht bei all denen, die den Hörbericht aus dem Konzentrationslager gehört haben1. Leute wie Korn-Steine2 sitzen da, Erich Landsberg. Heute in der Schule ist alles ruhig seinen Gang gegangen. Der kommissarische Direktor unterhielt sich längere Zeit mit mir und entwickelte dabei auch recht vernünftige Ansichten! Trotzdem nehme ich mich mit jedem Wort in Acht, man kann ja gar nicht vorsichtig genug sein. Im Unterricht geht mir natürlich manchmal das Temperament durch. Heute habe ich bei Ernst zwei Stunden unterrichtet! Ein komisches Gefühl. Er hat sich aber sehr hübsch beteiligt! Studienrat Fließ, ein Glaubensgenosse, der in Oels beurlaubt worden ist und dessen Beurlaubung wieder zurückgenommen wurde, tauchte bei uns als Vertreter von Richter auf! [...] 12. Mai 1933 Breslau, Sonnabend. Heute früh der Schulunterricht normal verlaufen; es wurde erzählt, es soll zunächst [von] weiteren Beurlaubungen abgesehen werden, weil kein Geld mehr vorhanden ist Man muß also abwarten. Die heutigen Zeitungen bringen große Verschärfungen der außenpolitischen Lage, in Genf hat man die Wehrverbände auf die deutsche Heeresstärke angerechnet, selbst England will zu den Sanktionen des Versailler Vertrages greifen! Wer weiß, was die Entwicklung der nächsten Wochen bringen wird. Es sieht so aus, als ob die Ereignisse sich überstürzen! Vielleicht wird man doch die gesamte deutsche Politik umstellen müssen. Jedenfalls muß man in diesen Tagen doppelt seine Ruhe bewahren, um immer wieder aufs Neue gewappnet zu sein. Ich lasse mich auch nicht in überstürzte Beschlüsse hineindrängen! Trudi sieht die Dinge anders an! Sie meint, wir Juden können leicht zwischen zwei Lager kommen! Die Möglichkeit sehe ich auch, aber man muß seine Position verteidigen und heute aufs Geratewohl wegzugehen, kann ich im Augenblick nicht verantworten! [...] Franz hat in Kudowa die Krankenkasse verloren! Schlimm für ihn, aber es war ja damit zu rechnen! Er wird sich schwer mit den verringerten Einnahmen einrichten können!
Offenbar ein Rundfunkbericht über das Breslauer Konzentrationslager Dürrgoy, das hier erstmals erwähnt wird. Eine äußere Beschreibung des Lagers bei Walter T A U S K , Breslauer Tagebuch, S. 108. Der Arzt Dr. Korn-Steine wurde erst im Herbst wieder entlassen und beging danach Selbstmord. Vgl. Tgb. vom 7. September 1933.
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13. Mai 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Auf dem Wege zur Schule traf ich Gabriel, der mich ansprach und mir sagte, daß es ihm nun schon besser ginge und er darüber hinweg sei. Er sagte, daß er es ja auch als grotesk empfinde, daß er als einziger aus dem Kollegium beurlaubt sei. Ich sagte ihm, daß ich natürlich auch damit gerechnet hatte, als erster dran zu kommen! Ferner, daß ich der Meinung sei, daß seine Beurlaubung auf Denunziationen von Schülern erfolgt wäre! Er sagte, ich meine den ,Junge", was ich nur bejahen konnte. Er tut mir ja trotz alledem sehr leid! Einen Mann wie ihn trifft es am Ehrenpunkt. [...] 14. Mai 1933 Breslau, Sonntag. Vormittags ein paar Stunden gearbeitet [...]; sodann mit Trudi und Ruth einen Spaziergang gemacht; [...] überall draußen braune Abteilungen, die militärische Übungen ausführen. [...] Herr Landau brachte mir auch ungünstige Nachrichten von Franz! Er spricht soviel von Freitod! Es ist eine große Gefahr, daß er sich etwas antut. Man hat ihm die Kasse genommen, und bei seiner Veranlagung kann er schwer einen schweren Schlag überwinden! Gebe G'tt, daß sich alles wieder ein wenig bei ihm einrenkt. Ich bin sonst ganz optimistisch gestimmt, und ich habe das Gefühl, daß man sonst manche Maßnahmen, die man gegen uns gemacht hat, wird rückgängig machen. [...] Ernst ist das erste Mal wieder auf einer Fahrt! Sie sind nach der Oder zu gegangen, um den Nazis nicht zu begegnen! Von Wölfl war Nachricht an Ella [da]! Er war mit Verlinden zusammen und wird sich noch einmal mit ihm treffen. Für uns unter Umständen von großer Wichtigkeit. Der Junge ist schon ganz tüchtig; er wird sich gewiß durchsetzen! [...] 16. Mai 1933 Breslau, Dienstag. [...] Politisch sehe ich die Dinge jetzt etwas günstiger an, unter dem Druck der Außenpolitik muß die Regierung so manches zurücknehmen. Frank II.1 sprach in Wien schon von den „Erbeingesessenen Juden" und nicht mehr von den „Fremdrassigen". Jetzt ist die Welt auf die morgige Hitlerrede gespannt und wartet ab. Man merkt wohl jetzt in Berlin auch allmählich, daß man mit dem Kopf nicht durch die Wand kann. So beurteile ich die Lage viel entspannter. [...] Der Philologenverein hat dekretiert: man müsse sofort Hitlers Mein Kampf studieren. G'ttseidank gehören wir ja als Fremdrassige nicht mehr zu dieser Organisation.
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Der NS-Politiker Hans Frank (1900-1946) war seit 1928 Führer des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, von 1930-1945 Mitglied des Reichstags und von 1939-1945 „Generalgouverneur" der besetzten polnischen Gebiete.
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Meine Sextaner hatten heute zur Begrüßung angeschrieben: „Willkommen, guter Onkel Willy" - Über so etwas freut man sich, und so etwas tröstet über manches hinweg, was jetzt bedrückt. [...] 17. Mai 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Zwischendurch auf der Staatsbibliothek gewesen. Dort bei Bibliotheksrat Schneider eine wertvolle Auskunft eingeholt. Beim Weggehen Direktor Mann von der Volkshochschule mit seiner Frau getroffen! Er machte einen recht verstimmten Eindruck, er ist beurlaubt, wohl auch kein gesunder Mann mehr! In einer Pausenkonferenz mußten wir zwei Obersekundaner wegen „nationaler Betätigung" nach Prima versetzen! So kommt es jetzt kaum noch auf geistige Leistung an. Man muß das alles seinen Weg gehen lassen. Vielleicht kommt es noch einmal anders! Sonst ist die Schule allmählich in ein ruhigeres Fahrwasser gekommen, man macht seinen täglichen Dienst, der bei den Kleinen ja ziemlich anstrengend, aber auch befriedigend ist. Dafür braucht man sich in keiner Weise vorzubereiten, und der Nachmittag gehört der eigenen Arbeit Heute um drei Uhr hat Hider die große außenpolitische Rede gehalten. Ich sehe die ganze Situation als wesentlich entspannt an. [...] 18. Mai 1933 Breslau, Donnerstag. [...] Von Wölfl bekamen wir heute eine ganz ausführliche Karte. G'ttlob geht es ihm gut. Es ist ja sehr wenig, was der Junge braucht! Er macht sich alles so billig wie möglich. Trotzdem werden wir ihm natürlich in einiger Zeit Geld schicken müssen! Hoffentlich werde ich es dann zur Verfugung haben! [...] Die gestrige Hiderrede war außenpolitisch recht verständig, trotzdem wird es für ihn nicht so leicht sein, das Vertrauen des Auslandes zu erwerben. Aus dem Handelsteil der Zeitung sieht man, daß der Exportüberschuß des Reiches immer mehr zurück geht und die Deckung der Mark auf ein Minimum abgesunken ist. Das Ausland annulliert Aufträge an Deutschland. Das besagt genug! Heute vormittag vier Stunden hintereinander unterrichtet, bei den Kleinen muß man viel Kräfte verpuffen und bei den Großen wird man bespitzelt. Das merkt man deutlich, wie auf jedes Wort aufgepaßt wird. Doch soll man sich ja am besten über nichts mehr ärgern! Aber man hat natürlich beim Unterricht gar kein freies Gefühl mehr, und das ist auch gewiß nicht schön! — Schwamm drüber! Gestern abend war noch der Architekt Hadda da mit dem Baumeister Herold, um sich mit mir über Palästinafragen zu unterhalten und um mich um Rat zu fragen. Sie haben die Absicht, so eine Handwerkergenossenschaft in Ere% Israel zu eröffnen. Nach der Schule heute im Zeitschriftenzimmer. [...] Es ist ein merkwürdiges Bild in der Universität, die vielen braunen Uniformen. Es ist traurig, wenn man
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sieht, wie isoliert die jüdischen Studenten sind. Doch glaube ich, daß diese Dinge, wenn die erste Welle vorbei ist, sich ausgleichen werden! [...] 19. Mai 1933 Breslau, Freitag. Gestern abend mit Feilchenfeld bis nach neun Uhr gearbeitet, nun kommt er noch einmal morgen abend wieder, und dann geht er Montag ins Examen. [...] Von neun bis ein Uhr unterrichtet, ohne besondere Zwischenfälle. Ich mußte mich auch als Oberzähler für die Volkszählung melden. Dann mußten wir eine interessante Verfugung unterschreiben, wonach keine Denunziationen mehr an die Regierung gehen sollen. Daraus kann man entnehmen, was alles vorgekommen ist. Ich besprach heute auch mit Grosse Persönliches. Wie seelisch schwer das alles für uns zu ertragen ist. Er hat volles menschliches Verständnis dafür. [...] 20. Mai 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Heute früh hörte ich, daß Moering1 verhaftet worden ist. Mache2 ist in ein Konzentrationslager3 gebracht worden, schließlich auch kein Jüngling mehr! Schlimm! Sehr schlimm. Und so ein[e] Schutzhaft [ist] in ihrem Ende nicht abzusehen. Nach Tisch auch zur Ruhe gekommen, infolgedessen konnte ich dann an meiner Arbeit noch ein schönes Stück schreiben! Den Kollegen Adam und Frau getroffen! Natürlich auch über die Dinge gesprochen, die in der Luft liegen! [...] 22. Mai 1933 Breslau, Montag. [...] Man mußte heute auf einem Bogen ausfüllen, ob man arischer oder nicht arischer Abstammung ist. Für den letzteren Fall mußte man angeben, ob man Frontkämpfer war oder nicht. Ich fugte auf einem Bogen ein Verzeichnis sämtlicher Gefechte bei, an denen ich teilgenommen hatte und ließ dann von Grosse die Richtigkeit beglaubigen. Auch hatte man anzugeben, welcher Partei man angehörte. Er fragte mich, ob ich der Partei [der SPD] noch jetzt angehörte. Ich sagte ihm, daß dies der Fall sei und daß ich nicht den Weg gehen wollte, den Tschersig gegangen sei. Ferner fügte ich hinzu, daß die Partei ja in Auflösung begriffen sei und ich ja nun nicht wüßte, an wen ich ein Austrittsgesuch zu richten hätte. Er sagte mir: „Wissen Sie, Herr Kollege, Sie imponieren 1
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Pastor Emst Moering war Sozialdemokrat und Leiter der Volksbibliothek. Moering wurde gezwungen, im Schmuck einer Narrenkappe herumzulaufen. Dazu Walter TAUSK, Breslauer Tagebuch 1933-1940, S. 78. Karl Mache (1880-1944), der ehemalige sozialdemokratische, jüdische Bürgermeister von Breslau, teilte die Haft mit dem Reichstagspräsidenten Paul Lobe. Er starb später im Konzentrationslager Groß-Rosen. Paul LÖBE: Der Weg war lang. Lebenserinnerungen. West-Berlin 2 1954, S. 223-227; Isabel! SPRENGER: Groß-Rosen. Ein Konzentrationslager in Schlesien. Köln 1996, S. 186. Das Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy. Vgl. Paul LÖBE, Der Weg war lang, S. 222ff.
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mir. Ich kenne Menschen, die sich zweimal den Rücken gebrochen haben: Einmal 1918 und einmal jetzt." Darauf ich: „Ich bin in meinem Leben immer den geraden Weg gegangen und für ein Ideal eingetreten. Wer recht hat, darüber wird die Geschichte entscheiden." Das war auch seine Meinung. Man hat bei ihm immer den Eindruck, daß er ein durchaus anständiger Mensch ist, der vielleicht in seinem Inneren einsieht, daß nicht alles so schön ist, wie man sich das vorgestellt hat. Aber so ein Vormittag kostet doch viel seelische Kraft, wenn man ihn mit Haltung überwinden will. Und darauf muß man in diesen Zeidäuften den größten Wert legen. Gerade heute bekam ich mit der ersten Post ein sehr ehrendes Angebot für eine wissenschaftliche Arbeit aus Catania. Beides paßt so wenig zueinander. Und doch bin ich weiter fest davon überzeugt, daß man einmal an uns deutschen Juden das schwere Unrecht gutmachen wird, das man uns zufügt. Aber unser Leben geht darüber hin. Man muß sich immer wieder zurufen, daß man stark sein muß. So vieles ist Neidaktion, wenn zum Beispiel auf die Krankenkassenmitglieder ein Druck ausgeübt wird, daß sie nur [zu] arischen Ärzten gehen. Dem Rechtsanwalt Loewy in Glatz ist die Zulassung entzogen worden, weil einmal sein Vertreter für einen Prozeß, den er für die Rote Hülfe geführt hat, kein Honorar genommen hat, das diese nicht zahlen konnte. Aber der Außenhandel geht immer weiter zurück. Herr Sgaller erzählte mir, daß ein deutscher Reisender draußen in Holland gar nicht erst die Koffer auspacken durfte. Man kaufe nichts aus Deutschland. Unsere Seele ist so gespalten! Auf der einen Seite hängt man doch an diesem Land, und man muß soviel erdulden. [...] 23. Mai 1933 Breslau, Dienstag. [...] Zur Staatsbibliothek, es begleitete mich der Kollege Studienassessor von Zedlitz, und es war mir doch sehr interessant, die Meinung eines jüngeren Kollegen zu hören, der sich nun mit ganzer Seele der neuen Bewegung verschrieben hat! Man müßte so etwas öfter hören, daß man sich nicht daran gewöhnt, alles nur von der Judenfrage aus anzusehen. Ich habe mich übrigens in der letzten Zeit sehr bemüht, mich in das Denken der anderen hineinzudenken, um die große Not des deutschen Volkes zu begreifen. [...] Um halb fünf Uhr die erste Konferenz ohne Gabriel! Grosse hat alles sehr taktvoll erledigt, es fallt ihm sehr schwer, wenn er diese Verfügungen gegen die nicht arischen Schüler verlesen muß. Aber es ist doch schon manches gebessert worden, und ich bin überzeugt, daß auf dem Verwaltungswege noch weiter manches gemildert werden wird. Freischule etc. soll an jüdische Schüler nur noch in seltenen Fällen gegeben werden, deshalb hat er die aus der Winterhilfe gesammelten Mittel vorläufig zurückgehalten, um noch bei manchem jüdischen Schüler einspringen zu können. Es ging so alles in der Konferenz nett und harmonisch ab, und es war schnell zu Ende. Nachher begleitete mich noch ein Kollege Irrgang ein Stück, ein Erdkundler, der auch bei mir hospitieren wird. Später redete mich Hansenmüller an,
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der beurlaubt ist. Man sprach auch über die Lage, wie immer in diesen Zeitläuften. Er fühlt sich der S.P.D. nicht mehr zugehörig. Er rechnet auch nicht damit, noch einmal in den Dienst zu kommen. [...] 24. Mai 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Ein tüchtiges Stück am Normannenbuch geschrieben. [...] Um fünf Uhr hatte sich Kollege Ledermann aus Bad Salzbrunn angemeldet, er sieht blühend und frisch aus und ist auch durch die Beurlaubung gar nicht niedergedrückt. Er hat die freien Monate benutzt, um tüchtig Hebräisch zu lernen. Irgendwie wird er ja auch wieder ins Amt kommen. [...] Auf der Straße traf ich Frau Meier Schreiber, die mir erzählte, daß ihre Tochter, die bisher Apothekerpraktikantin war, nun im Zwischendeck auf gut Glück nach Palästina fahren will. Die Frau sah sehr schlecht aus! Für die jungen jüdischen Menschen in Deutschland ist es ja sehr schlecht, da ist in absehbarer Zeit gar keine Aussicht. - Emst ist um halb neun zu einer Nachtfahrt nach Silsterwitz aufgebrochen zu den Chaluajm. Hoffentlich geht es glatt! [...] 26. Mai 1933 Breslau, Freitag. Mit Feilchenfeld hat das Durcharbeiten der Lehrprobe ziemlich lange gedauert, dafür ist sie aber auch heute vormittag, wie er mir am Mittag telefonisch meldete, gut gegangen. Dann war ich noch im Garten und habe mit dem dicken Weißstein Tennis gespielt. Es ist lange her, daß ich wieder einmal einen Schläger in der Hand gehabt hatte, aber es ging ganz gut, besser, als ich gedacht hatte. Dann kriegte mich Frau Landau noch einmal politisch zu fassen. Die Frau tut mir unendlich leid, weil der Bruder nun schon monatelang in Schutzhaft sitzt, aber man kann ihr so gar nicht helfen. Abends noch gearbeitet! [...] In der Pause war ein vor Ostern abgegangener Schüler da: Filiinger. S.A.Mann. Ehrenamtlicher Leiter der Pressestelle des Magistrats. Geradezu grotesk! Aber man wundert sich über nichts mehr. Bei uns hat er es nicht bis zur Reifeprüfung bringen können. In Geschichte war er übrigens in dieser Klasse mein Bester! Wir haben uns freundschaftlichst begrüßt! Man muß ja jetzt sogar stolz sein, wenn ein S.A.-Mann nett zu einem Fremdrassigen ist! [...] Wir haben die Schwiegereltern gebeten, uns mit ein paar hundert Mark einmal leihweise unter die Arme zu greifen. Ich tue es ja nicht gern! Aber im Augenblick ist es notwendig! Ich hoffe, daß ich allmählich wieder zu etwas Verdienst durch Reden und Schreiben kommen werde. 27. Mai 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Die Schlageterfeier, in der Jaeckel die Festrede hielt, es war dieser stramme militärische Ton, den man nun schon seit 15 Jahren nicht gehört [hat], und der einem geradezu wohltut!!! Wie G'tt will, ich halte still! Aber es ist schon eine Nervenanspannung, ruhig zu sein und sich das Horst-Wessel-Lied anzuhören! Grosse hätte das Ganze vielleicht taktvoller angelegt, als Herr Jaeckel,
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der sich in Strammheit überschlug! Gewiß war die Erschießung Schlageters durch die Franzosen vor zehn Jahren1 eine große Gemeinheit, aber inzwischen hat Briand sein Leben für die Sache des Friedens eingesetzt, und ist es richtig, heute in den Schulkindern Haß- und Rachegefühl zu erwecken? Von meiner Weltanschauung her kann ich die Welt nicht verstehen! Für uns Juden ist es kein Genuß, sich das Horst-Wessel-Lied anzuhören! Man kann schließlich doch unsere jüdischen Jungen nicht zu Nationalsozialisten erziehen, nachdem man sie für rassenfremd erklärt hat! Direktor Kurfess und Vicepräsident Franz Irmer sind aus dem Oberpräsidium abgesägt2. Leiter der Schulabteilung ist Bickler von der Gerhart-Hauptmann-Oberrealschule geworden! Man erzählt, er sei noch vor zwei Jahren Sozialdemokrat gewesen! Mir ist das allerdings nicht bekannt! — Unten stand im Komtor Herr Junge grinsend, natürlich ohne zu grüßen! Ein lieblicher Vormittag! [...] 28. Mai 1933 Breslau, Sonntag. [...] Ich hatte Perle versprochen, um halb neun Uhr zum Beten zu kommen. Er hatte Jahrzeit. Ich nahm Ernst mit; er muß sich schon frühzeitig an solche Pflichten gewöhnen. Es waren eine Menge Leute da, aber man brauchte sich nicht viel zu unterhalten. Dann mit Ernst noch spazieren gegangen, die ganze Rennbahnstraße endang. Sie sieht in herrlichster Pracht der Blüte der Kastanienbäume ganz weiß, das Stück Chaussee davor ganz rot [aus]. Leider hört man überall in der Landschaft den Gesang marschierender S.A.-Leute, was sehr die Ruhe nimmt. [...] 1. Juni 1933 Breslau, Donnerstag. [...] Durch Hammer hörte ich, daß Gabriel eine Vernehmung gehabt hat, vielleicht kommt er wieder, ich nehme allerdings nicht an, daß er noch einmal zu uns kommen wird. Als ich aus der Schule kam, kam Herr Junge wie immer frech grinsend die Paradiesstraße endang, es gehört wirklich alle Kraft dazu, um ihm nicht eins in die Fresse zu schlagen, aber dann wäre man schnell im Konzentrationslager! [...] Eben Julia Cohn antelefoniert, sie ist auf der Durchreise nach dem polnischen Gut, wo sie eine Hauslehrerstelle angenommen hat! So habe ich einmal von ihnen allen etwas gehört. Martha ist noch in der [psychiatrischen] Anstalt. Bob Loevy3 Während des sogenannten Ruhrkampfes verübte der Rechtsextremist Albert Leo Schlageter (1894-1923) eine Reihe von Sabotageakten, wofür ihn 1923 ein französisches Kriegsgericht zum Tode verurteilte und hinrichten ließ. Die Nationalsozialisten feierten Schlageter als Märtyrer ihrer Bewegung. Das dem Oberpräsidenten von Niederschlesien unterstellte Provinzial-Schulkollegium stand unter der Leitung des Vizepräsidenten Franz Irmer und des ihm nachgeordneten Direktors Hans Kurfess. Gemeint ist wohl der Ingenieur Robert Levy. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 629 und Tgb. vom 30. September 1934.
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ist in den ersten Revolutionstagen geschlagen worden: Zähne und so. [...] 2. Juni 1933 Breslau, Freitag. [...] Zu Marcus gefahren, dort insofern eine gute Nachricht erhalten: allerdings erst inoffiziell, es soll sich endgültig erst Ende Juni entscheiden: das italienische Unterrichtsministerium wird mich entweder zu einer Reise nach Italien einladen oder mir ein Honorar für die Übersetzung des Normannenbuches zukommen lassen. Marcus wollte es mir zuerst nicht sagen; man soll keine kalten Simches haben, wie er sich ausdrückte. Aber es wäre doch zu schön, um wahr zu sein. Politisch hat er ganz ähnliche Ansichten wie ich. Es wird alles wieder in Ordnung kommen. Gestern abend hatte ich noch von Wölfl eine Karte, in der er uns schrieb, daß er recht gut bezahlte Privatstunden gefanden hat. Es wäre ja sehr schön, wenn er nun selbst für sich sorgen könnte. Man kann sich schon auf den Jungen verlassen. [...] Bei Marcus hörte ich eine traurige Nachricht von seiner Frau. Ihr altes Leiden, T.B.C. scheint wieder zum Durchbruch zu kommen. Es tut mir sehr leid; das ist wohl auch der Hauptgrund, daß sie wieder Protestantin geworden ist, um sich die Heimatrechte in der Schweiz zu erhalten, falls sie dauernd ins Hochgebirge muß. [...] Der Schwiegervater wird mir das erbetene Darlehen gewähren, ich bin sehr froh darüber, hoffentlich kann ich es bald zurückzahlen! Mir ist heute ziemlich einsam, aus einem Roman irgendwo das eigene Schicksal herausgelesen! - Wie immer! 3. Juni 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Leichtentritt ist bei der Landesversicherung abgebaut worden und trägt daran schwer. Im Südpark gesessen, Ruth für fünf Pfennig Eis gekauft, sie ist dann sehr glücklich. Ernst ist heute vormittag um halb elf Uhr nach Silsterwitz abgefahren und wird bis Mittwoch bleiben. Heute früh war schon ein Mädel da, nach ihm pfeifen; ich glaube die Miodownik! Ja, er fängt zeitig an! [...] Den Kollegen Alfred Cohn getroffen, der mir aus einem Brief von Kaiisch an ihn auch Günstiges über Wölfl vorlas. Er soll sich so gut zu Kaiisch benehmen. Ich habe auch zu Wölfls Charakter in jeder Beziehung größtes Zutrauen! 25.000 deutsche Juden sollen in Frankreich sein! Ich schätze die jüdische Emigration auf sicher nicht sehr unter 100.000. Was für fähige Menschen hat Deutschland verjagt! [...] In der Zeitung las ich, daß Moering aus dem Konzentrationslager freigelassen worden ist. Das freut mich wirklich sehr! [...] 4. Juni 1933 Breslau, Pfingstsonntag. Gut geschlafen, nachdem ich noch den Abschnitt über Wilhelm I. beendigt hatte. Es ist mir, so hoffe ich, geglückt! [...] Dann eine Stunde gearbeitet, später im Landauschen Garten, wo ich die alten Glasers aufrichten mußte. Frau Landau ist jetzt in Chemnitz! Ob sie etwas für den Bruder erreichen kann, ist ja sehr fraglich! Arme Leute. Dann den ganzen Garten gegossen, einen
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Kopfsalat und ein paar Zwiebelröhrchen geschenkt bekommen. Nachher noch mit Leichtentritt, der sehr verstimmt ist, und mit Weißstein mich unterhalten, wir gingen eine halbe Stunde auf und ab. Gegessen, das süße Susannchen abgeknuddelt, Ruth kam auch gleich, sonst läßt sie ja niemals mit sich schön tun! [...] 5. Juni 1933 Breslau, Pfingstmontag. [...] Früh kam mein früherer Schüler Ermold, der jet2t Werkhalbjahr in Liegnitz macht; er wollte einige Bücher, weil er dort die anderen unterrichten soll. So kommt die Wissenschaft eines Fremdrassigen noch anderen zugute. Er erzählte mir von seiner Tätigkeit, sie werden dort auch militärisch ausgebildet. Ermold ist S.A.-Mann und auch Pg.! Wenn ich den Jungen persönlich auch gern habe und ihn immer für einen sehr anständigen Menschen gehalten habe, so muß man sich natürlich doch mit jedem Wort in Acht nehmen; ich ließ mir auch von ihm seine Adresse geben, um jemanden zu haben, auf den ich mich berufen kann, wenn einmal an der Art meines Unterrichtes herumgemäkelt werden sollte. [...] Bis zur Klinik kam noch Fräulein Dr. Oelsner mit, die mir erzählte, daß ihr Neffe, Dr. Jokl, bisher Sportarzt am Stadion, die dortige Sportlehrerin geheiratet hat und nach Südafrika ausgewandert ist1. [...] Zu Professor Landsberger zum Tee. Ich mache ja solche Besuche sehr ungern, es kommt nicht viel heraus, man redet immer über die gleichen Dinge, aber ich konnte auch schlecht absagen. Die Frau ist ja reichlich nervös! Er ist in der Tat in seinem Einkommen sehr geschädigt worden, dadurch daß man ihm die Monatshefte fortgenommen hat2. Und ob er den Lehrauftrag behält, bleibt ja immerhin noch fraglich. Zum ersten Juli gibt er die Wohnung ganz auf und will erst ein halbes Jahr abwarten. Aber er hat ja auch noch pekuniäre Reserven! [...] 6. Juni 1933 Breslau, Dienstag. [...] Von Wölfl kam eine Flugpostkarte; er war über Pfingsten nach Autouillet eingeladen! Da hat er es sicher sehr gut gehabt. [...] Dann rief mich Lotte Becker an, sie wollte die Adresse von Wölfl wissen; ihr Bruder geht nach Paris ans Rabbinerseminar! [...] Ruth ist inzwischen, G'tdob, gut von der Fahrt zurückgekommen, sie war sehr begeistert, sogar auf der Weistritz sind sie gerudert. 7. Juni 1933 Mittwoch, Breslau. Gestern abend las ich zum Einschlafen noch Jettchen Gebert3, ein Buch, das man immer wieder lesen kann von ganz seltener Schönheit, 1 2 3
Ernst Jokl war zuletzt Direktor des Instituts für Sportmedizin an der Universität Breslau und gehörte zu den Pionieren seines Faches. Vgl. Tgb. vom 18. April 1933. Georg HERMANN: Jettchen Gebert. Berlin 1906.
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und es paßt so in die heutige Zeit, denn wieder lebt man im Zeitalter Metternichs. Es ist auch von unendlicher sprachlicher Schönheit. [...] Ich möchte den Absatz über die Regentschaft der Königin Margarete gern beendigen! - Heute las man in der Zeitung von der zweiten Verhandlung im Fall Bernheim in Genf1. Besonders schön sagte der Vertreter der C.S.R.: Es ist niemals zu spät, der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Immerhin wird man doch erkennen, daß man sich uns gegenüber doch nicht alles erlauben darf. [...] Frau Landau ist aus Chemnitz zurück, sie hat ihren Bruder dort ganz gut gefunden, aber wann er herauskommt, weiß sie nicht. Jedenfalls steht sie ganz unter dem Eindruck des Gefängnisses. Sie sah auch sehr schlecht aus! [...] 10. Juni 1933 Breslau, Sonnabend abend. Ich bin gestern abend bei schöner Luft noch ordentlich spazieren gegangen, bis zum Rosengarten allein, dort traf ich Bildhauer2, und wir liefen noch fast bis zur Rennbahn in der Dunkelheit. Dabei konnte man sich ganz schön über die verschiedensten Dinge unterhalten. Dabei war mir doch ganz wertvoll, von ihm einiges über das Beamtengesetz zu hören. Er sagte mir, daß wenn man pensioniert würde, bei mir kämen ja nur noch die politischen Gründe in Frage, man nicht drei Monate lang das volle Gehalt bekäme, sondern nur die geringe Pension; sie würde bei mir im Höchstfall 210 Mark ausmachen. Erst Ende September, das wußte ich, läuft dieses Gesetz ab. Man muß also ruhig weiter abwarten! Alle Vermutungen bleiben dabei durchaus an der Oberfläche. [...] Mit der Abendpost kam eine Karte von Artur Wiener aus Ere% Auch er wird auswandern, aber er kommt noch einmal vorher zurück. Er war zuletzt hier Konkursverwalter, aber er bekommt nun natürlich keine neuen Sachen mehr. Nach Tisch das Kapitel über die Regentschaft der Königin Margarete zu Ende geschrieben. [...] 18. Juni 1933 Breslau, Sonntag. Seitdem ich das letzte Mal eingeschrieben habe, hat sich allerhand ereignet! [...] Als ich Freitag noch in großem Schweiß im Bett lag, kam der Hauswart Stephan aus der Schule, um mir das Schreiben zu bringen, daß ich mit sofortiger Wirkung beurlaubt sei. Ich hatte gerade in letzter Zeit stark damit gerechnet, weil sie nun besonders politisch nachschnüffeln und allen Mangel an außenpolitischen Erfolgen durch innenpolitischen Druck wettzumachen versuchen. Vielleicht bewahrt mich die Beurlaubung auch vor manchem Konflikt. Es war nur sehr unangenehm, daß dies Schreiben gerade in dem Augenblick kam, als ich mich so elend fühlte und es mich deshalb ziemlich mitnahm. Die Hauptsache Gemeint ist die „Bernheim-Petition" beim Völkerbund zugunsten der oberschlesischen Juden. Vgl. Georg WEISSMANN: Die Durchsetzung des jüdischen Minderheitsrechtes in Oberschlesien 1933-1937; in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 6 (1963), S. 154-198. Erich Bildhauer war Redakteur der Breslauer Jüdischen Zeitung.
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ist, daß ich jetzt wieder auf die Beine komme, dann wird man weiter sehen. Alle Betrachtungen über die Zukunft sind im Augenblick müßig, weil ich ja erst warten muß, mit welchem Betrage man mich pensionieren wird. Trudi hat sich gerade in diesen Stunden großartig benommen und wird mir sicherlich weiterhelfen, auch wenn wir unser ganzes Leben umstellen müßten. Man kann sich da sehr auf sie verlassen! Ich habe natürlich verschiedene Pläne, aber zunächst heißt es hier abwarten, um sich nichts zu vergeben. Zunächst wird die Muße meiner Arbeit zugute kommen! Das Normannenbuch wird schneller fertigwerden! Wenigstens gehöre ich nicht zu den Leuten, die mit ihrer Muße nichts anzufangen wissen! Ich werde meine Zeit stets ausgefüllt haben. [...] Sicherlich wäre für mich die ganze Situation immer unhaltbarer geworden, und vielleicht ist es ganz gut, daß es so gekommen ist, so daß man nicht zu einem dauernden sacrificium intellectus gezwungen ist. 19. Juni 1933 Breslau, Montag. [...] Heute ist nun der erste Tag, wo ich zwangsweise nicht in die Schule gehe. Es ist doch immerhin ein merkwürdiges Gefühl, aber auch dies wird überwunden werden! — Gestern klingelte noch der Kollege Alfred Cohn an; ihm graut auch schon davor, daß er das Fest der Jugend mitmachen muß. Wir sind ja in Deutschland beim Buchstaben „F": Feste feiern. Ich werde nun Zeit haben, mancherlei zu Papier zu bringen, wozu ich bisher nicht kam. Heute vormittag ganz schön gearbeitet, eine Besprechung für die Mitteilungen aus der historischen Literatur geschrieben und eine größere Niederschrift für die Arbeit: Sizilien im Urteil seiner Besucher. Dann kam Gabriel, mir einen Besuch zu machen. Ich fand es sehr aufmerksam, daß er schon in den ersten Tagen kam, er war wohl ziemlich eine Stunde da, und wir haben uns über die ganze Lage ausgesprochen. Er meinte, ich solle noch ein Gesuch machen, wegen Übernahme in den Bibliotheksdienst bei der Stadt und Oberpräsident, aber ich glaube kaum, daß ich mich dazu werde entschließen können. [...] Gabriel hat auch eine große Wut auf die Leute, die uns ums Amt gebracht haben! Er erzählte unter anderem, daß man den Schüler Jopke beauftragt hat, Material gegen ihn zu sammeln. Als ich mittags bei Tisch saß, klingelte Lewkowitz an, um sich zu erkundigen, ob es wahr wäre. [...] Kollege Freund und Frau haben uns Erdbeeren und Kuchen geschickt, von Erna kamen jetzt am Nachmittag auch Erdbeeren! Man freut sich doch über diese Aufmerksamkeiten, wenn ich auch nicht gern mitleidige Gesichter sehe. Ich habe ja mit dieser Beurlaubung immer gerechnet, nur jetzt in Verbindung mit der Krankheit, von der ich mich schwer erhole, war es nicht angenehm! 20. Juni 1933 Breslau, Dienstag. [...] Viele Stunden geschlafen, Träume, die irgendwie mit der Schule zusammenhängen; aber auch das wird sich geben. Vormittag dann fleißig gearbeitet, auch einige Briefe Trudi diktiert, nur das Notwendigste. Es strengt sie
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ja auch sehr an. [...] Aus Berlin kam ein sehr schönes Paket mit wertvollen Lebensmitteln, die uns im Augenblick manches erleichtern und mit einem sehr verständnisvollen Brief der Schwiegermutter, über den ich mich sehr gefreut habe. Uber die Schulsache bin ich nun schon ziemlich hinweg und ganz froh, daß ich meine Freiheit habe. Es wird sich schon wieder eine geldbringende Möglichkeit finden. [...] 21. Juni 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Im Consum eingekauft. Dabei habe ich mich mit Herrn Sallinger unterhalten, dessen Sohn ich auch lange unterrichtet habe. Ich hatte den Eindruck, daß er mein Ausscheiden aus dem Dienst ehrlich bedauert hat. Dann mit Trudi noch etwas am Wasserturm gesessen. Es kommt einem doch komisch vor, daß man zu einer Zeit, in der man sonst gewohnt ist, in den Dienst zu gehen, nun frei hat; aber es mangelt mir ja nicht an Arbeit, zumal ich jetzt manchen literarischen Plan ausfuhren kann, zu dem ich sonst nicht gekommen wäre, aber man muß sich erst auf die veränderte Lebensweise einstellen. [...] Ich will jetzt literarisch stärker tätig sein und dadurch wieder etwas zu verdienen suchen. [...] 22. Juni 1933 Breslau, Donnerstag. Heute vormittag [...] traf ich Steinfeld, den Vater des ermordeten ehemaligen Schülers! Später den alten Direktor Wiedemann1 vom Elisabethgymnasium. Unwillkürlich spricht man immer über dieselben Dinge, es kommt nicht viel dabei herum. [...] Universitätsbibliothek, dort den wissenschaftlichen Hilfsarbeiter Dr. Richter kennengelernt, wegen einer Arbeit über die arabischen Historiker mit ihm gesprochen. [...] Politisch bin ich im ganzen recht zuversichtlich! Jetzt werden ja sogar schon die Deutschnationalen verfolgt. — Von Wölfl kam mit der Abendpost eine Karte! Er ist natürlich ganz empört über das, was man mir angetan hat! [...] 23. Juni 1933 Breslau. Freitag. [...] Ernst ist heute bei der Vorübung zur Sonnenwendfeier! Vorhin marschierten Mädchen mit einem S.A.-Kampflied vorbei. Heute steht in der Zeitung, daß nun auch den S.P.D.-Abgeordneten jede Betätigung verboten ist2, auch allen Beamten die Zugehörigkeit zur Partei! Also „Gleichschaltung" mit der K.P.D. Österreich scheint sich zusehends gegen den Nationalsozialismus zu konsolidieren!!
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Franz Wiedemann war von 1908 bis 1922 Direktor des Breslauer Elisabethgymnasiums gewesen. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 291f. Am 22. Juni 1933 war die SPD verboten worden, ihre Parteiführer wurden verhaftet.
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24. Juni 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Ein Bewerbungsschreiben diktiert, um einen zionistischen Posten in Berlin; es kommt einem sehr komisch vor, wenn man in meinen Jahren das machen muß, aber schließlich darf man keine Möglichkeit auslassen. [...] Heute steht in der Zeitung, daß über Berlin fremde Flugzeuge erschienen sind, die in großen Mengen Zettel abgeworden haben, die die Regierung beschimpfen. Sie sind unerkannt entkommen. Zeitungen wie die Deutsche Zeitung und der Reichsbote sind verboten worden. Das Beamtengesetz ist geändert, es kann nun jeder Beamte in den Ruhestand versetzt werden1. [...] Ich war heute früh mit Ruth in der Synagoge. Sie hatte mich sehr darum gebeten, jetzt wo ich Zeit habe, einmal mit ihr zu gehen. [...] Wir kamen gerade zu HalM Heute war Rausch Haudesch, jetzt, wo man so selten Musik hört, tut es einem besonders gut. Auch sonst kommt man ein wenig zu sich, wenn es auch vielleicht nicht genug ist, wenn man soviel nachdenkt. Ich stand mit Ruth auf den alten Plätzen, die wir früher gehabt haben, und ich zeigte Ruth die Stellen, so wie sie mein Vater mir vor über 30 Jahren gezeigt hat. So kommen und gehen die Generationen. Ich möchte es Susannchen auch noch an der gleichen Stelle zeigen. Ruth ist ein wirklich innerlich frommes Kind. [...] Ernst machte heute die Turnspiele im Stadion mit und mußte bei der vierten Strophe des Horst-Wessel-Liedes auch die Hand hochheben! Paul Löbe ist verhaftet worden, Lüdemann ist im hiesigen Konzentrationslager2 und soll gestern durch die Straßen der Stadt geführt worden sein. Ich habe es nicht gesehen. Wer weiß, was die nächsten Tage noch an Verhaftungen von S.P.D.-Leuten bringen werden! Man gewöhnt sich daran, nicht weit zu denken. Heute sagte mir mein alter Briefträger ganz aufgeregt, daß sie nun bei ihm auch nach der Urgroßmutter fragen. Die kleinen Leute haben das Gefühl, daß Stellen freigemacht werden sollen. Ich habe mich nicht dazu geäußert. Ernst soll morgen eine Wanderung haben, vielleicht verregnet sie, die Sonnenwendfeier heute abend ist auch verregnet! Wotan hat dieses Feuer vielleicht nicht gewollt! 25. Juni 1933 Breslau, Sonntag. Viel von der Schule geträumt; es ist merkwürdig, seit der Beurlaubung geht sie mir oft im Traum durch die Gedanken, sonst habe ich mich niemals soviel mit ihr beschäftigt. [...] Emst war bei einer Singerast in seinem
Nach dem geänderten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 23. Juni 1933 konnten Beamte in den Ruhestand versetzt werden, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig waren. Vgl. Reichsgesetzblatt 1,1933, Nr. 68. Paul Löbe schildert die „Begrüßung" seines Parteifreundes Lüdemann im Konzentrationslager Dürrgoy in seinen Erinnerungen. Vgl. Paul LÖBE, Der Weg war lang, S. 222f.
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Bunde; heute nachmittag ist dort eine Gedenkfeier für den ermordeten Arlosoroff! [...] 27. Juni 1933 Breslau, Dienstag. [...] Wir wollten abends zu Arthur Wiener, der jetzt auf der Viktoriastraße wohnt. Er ist vor kurzem aus Ere% zurückgekehrt und erzählte am Abend sehr sachlich von seinen Eindrücken. Bildhauer war auch da. Zusammengefaßt: Für einen kaufmännischen Kopf sind da viele Möglichkeiten, ein aufsteigendes Land; alle Leute sind zufrieden, daß sie da sind. Wieners sind fest entschlossen, auszuwandern und mit dem wenigen Kapital, das geblieben ist, neu anzufangen. Aber bei Wieners weiß man, daß er sich auch unter den schwersten Umständen durchsetzen wird. Dann kam das Gespräch auch auf das persönliche Gebiet; Trudi drängt ja immer sehr mit dem Auswandern; ich sehe für uns und für das, was ich kann, keine große Möglichkeiten. Ich bin deswegen dieser Gespräche schon ein wenig müde, zumal ich der Meinung bin, man sollte zunächst abwarten. Alle diese Gespräche fressen furchtbar an meinen Nerven, und ich bedaure es ja immer außerordentlich, daß Trudi und ich in diesem Punkte so gänzlich verschiedener Meinung sind; dies ist sehr traurig. Ich möchte nicht noch einmal ganz von vorne anfangen. Hier kann ich etwas und bin etwas, ob ich es da unten noch einmal zu etwas bringen sollte, bleibt doch dahingestellt! Manche klugen Menschen beurteilen ja alle Aussichten hier sehr trübe, aber ich fühle mich doch auch wieder stark hier verwurzelt. Sehr schwere innere Kämpfe, es bedarf aller Nervenkraft, um durchzukommen. Gerade dieses stille Ringen mit Trudi, die es gewiß sehr gut meint und von ihrem Standpunkt vielleicht recht hat, nimmt mich mehr mit als die ganze Beurlaubung. [...] Heute früh bekam ich einen sehr ausführlichen Brief von einem ehemaligen Schüler aus Holland, Weiß, einstmals Mediziner, nun auf Hachscharak Sehr tapfer, diese jungen Menschen! Auch aus Jassy1 hatte ich in einer wissenschaftlichen Angelegenheit heute Post. So bekomme ich oft aus aller Welt Briefe und habe immer einen ausgefüllten Tag. [...] 28. Juni 1933 Breslau, Mittwoch. [...] Es war heute ein großer Artikel für die Bayerische Gemeindezeitung zu schreiben. [...] Es war dann sehr schwer, in die Stimmung hineinzukommen, die man zu einem solchen Artikel Trost in der Geschichte braucht2; aber ich hoffe, daß er mir dann doch gelungen ist Er umfaßt diesmal fast neun Schreibmaschinenseiten. 1 2
Jassy (Iaji) in Rumänien. Willy COHN: Trost aus der Geschichte; in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 9 / 1 0 (1933), Nr. 16, S. 241-244; wiederabgedruckt in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs 10 (1933), Nr. 11 vom 1. September 1933, S. 90-92.
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Mit der Straßenbahn zu Theodor Marcus, den ich um eine längere Unterredung gebeten habe. Er hat durchaus die gleiche Meinung wie ich, daß ich nämlich keinesfalls auswandern, sondern die Entwicklung der Dinge ruhig abwarten soll. In dem, was sich mir im Ausland bietet, komme ich noch immer zu recht. Und zunächst kann ich ja in Ruhe abwarten und meine Zeit produktiv ausnutzen. Er hält es wie ich für genauso verfehlt, wenn man jetzt Pläne über Monate macht, die doch durch die Ereignisse jeden Tag überholt werden können. Er ist auch der Meinung, daß man seine Beziehungen zur deutschen Kultur hier nicht ohne weiteres lösen kann und schließlich nur auf dem Gebiet etwas leisten kann, auf dem man schon seit Jahrzehnten gearbeitet hat. [...] Ernst hatte heute Versaillesfeier mit Horst-Wessel-Lied! Jede Woche ist eine Feier! Diese Woche ist auch noch Gebietsaufmarsch der Hiderjugend. [...] Um fünf Uhr kam mein alter Volksschüler Kaluba, der Briefträger aus Tschansch, der in großer Treue an mir hängt, wir haben auf dem Balkon gesessen, und nachher sind wir noch eine Stunde im Südpark spazieren gegangen. - Es war schönes angenehmes Wetter. Wir haben uns über die ganzen Zeitverhältnisse unterhalten [...]. 29. Juni 1933 Breslau, Donnerstag. Gestern abend mit Feilchenfeld war es sehr gemütlich. Das sind sehr liebe und feine Menschen, die in jeder Weise Takt haben. Wir sprachen über Probleme von Ere% und über Fragen des Hebräischunterrichts, aber es war nicht das übliche Einheitsgespräch unserer Tage, vor dem man jetzt immer große Angst hat und weswegen man den Leuten aus dem Wege geht! [...] Das Geschäft des Schwiegervaters scheint sehr unter den Verhältnissen zu leiden. Bisher waren die Dinge in Berlin immer der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht! Da hilft eben nun nichts! Dagegen kam von Wölfl seine wöchentliche, immer sehr pünktliche Karte mit guten Nachrichten. Der Junge ist wirklich sehr brav, wenn mir auch sehr bange nach ihm ist. Das Kapitel über Monreale und Wilhelm II.1 habe ich inzwischen beendigt! Das Normannenbuch neigt sich so seinem Ende zu; und ich denke, daß es ganz hübsch werden wird! Am Abend. Vorhin waren Kollege Freund und Frau eine Stunde da, sie redet ja sehr viel, aber er war nett und taktvoll. Er ist sicher eine im Grunde sehr gütige Natur, die auch unter den Verhältnissen leidet! Es muß ja jetzt in der Schule wirklich nicht erfreulich sein! Er meinte, daß Pürschel wohl froh ist, daß ich fort bin, ohne daß er sich dazu geäußert hat. 5. Juli 1933 Breslau, Mittwoch. Ich habe viele Tage nicht eingeschrieben [...]. Am Sonnabend brachte Ernst noch aus der Schule den Fragebogen mit, und wenn ich auch dar 1
Gemeint ist Wilhelm II. von Sizilien (1154-1189).
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auf gefaßt sein mußte und nun alles eine Formsache ist, so hat auch dies mich wieder sehr mitgenommen! [...] Gestern vormittag kamen Apotheker Schindler und Frau auf der Durchreise nach Polen hierher. Es sind gute Freunde von Trudi, ich habe sie in Elbing niemals kennengelernt, sie waren dann immer verreist, wenn ich dort war. Beide und ihr Kind haben mir sehr gut gefallen. Ich habe so auch allerhand über Elbing gehört, wo es wenig erfreulich gewesen sein muß! Nun, es ist überall das Gleiche. Neufeld ist in eine bescheidene Wohnung gezogen1; in der Altertumsgesellschaft soll er über die Juden in Elbing ziemlich schlecht gesprochen haben. Er hält sich ja für viel mehr, als er ist. Als Trudi mit Schindlers fortgegangen war, kam Bernhard Rothmann, mit dem ich mich eine Zeidang unterhalten habe, es ist ein sehr braver Mensch, der mir sogar seine pekuniäre Hilfe angeboten hat, was ich natürlich abgelehnt habe. Er denkt immer noch daran, wie wir seinen Vater bei uns aufgenommen haben. [•••] Immer mehr verstärkt sich in mir das Gefühl, in welchem Umfang wir Juden in Deutschland unnötig geworden sind, und wie schwer es doch ist, sich zu lösen. Es ist eine ewige Gespaltenheit, und doch wieder eine materielle Frage, denn sonst würde man das Seelische verwinden. So aber sitzt man fest! [...] 7. Juli 1933 Breslau, Freitag. Gestern vormittag eine größere Bücherbesprechung für die Mitteilungen aus der Historischen Literatur abgeschlossen; es ging noch nicht so recht mit dem Schreiben; heute ist es schon besser! In der Mittagstunde etwas spazieren gewesen, frühere Schüler getroffen. Das neue Nachtgebet gehört „Lieber G'tt, mach' mich stumm, daß ich nicht nach Dürrgoy kumm."2 Etwas im Südpark gewesen! Es duftete alles wunderbar! Ich kam mir vor wie ein alter Pensionär! Am Nachmittag für mich gearbeitet! Die alten Akten angesehen, die mir Bendix hergeschickt hatte3, manches familiengeschichtlich Interessante gefunden! [...] Es waren wichtige Sachen zu erledigen gewesen; ich hatte von der Jüdischen Volkshochschule für den Winter eine Aufforderung zu einem Vortragscyklus und zu einer Arbeitsgemeinschaft bekommen. Auch an Wölfl haben wir ausführlich geschrieben! [...] Heute im Magdeburger Wochenblatt eine sehr schöne Rede des Erzbischofs von Canterbury in der Judenfrage gelesen. Man nimmt in der Welt an unserem Schicksal Anteil und bedauert in England im Namen der Menschlichkeit, was uns
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Zu Rabbiner Dr. Siegbert Neufeld in Elbing vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 412-414. Nämlich in das Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy. Vgl. Tgb. vom 20. Mai 1933. Den Vers kennt auch Walter TAUSK, Breslauer Tagebuch, S. 87. Justizrat Berthold Bendix kümmerte sich im Auftrag der Familie Cohn um die rechtlichen Angelegenheiten des Familiengeschäftes Trautner am Ring.
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geschieht! Aber doch geht man in Deutschland den Weg der Verdrängung aus den Berufen immer weiter. 8. Juli 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Ich hörte, daß in Dortmund wieder S.A.-Leute vor den jüdischen Geschäften stehen; in einer Stadt sollen die jüdischen Anwälte auch wieder nicht aufs Gericht können. Dabei proklamiert [man] von oben immer wieder: Keine Eingriffe untergeordneter Stellen. — Wer weiß, was die Zukunft noch alles bringen wird. 9. Juli 1933 Breslau, Sonntag. [...] Heute vormittag habe ich meist an meiner Arbeit geschrieben, die auch ein großes Stück vorwärts gekommen ist und nun mit großen Schritten ihrem Ende zusteuert. [...] Morgen früh um sechs Uhr geht es nach Hohndorf ab1. Hoffentlich bringt uns diese Reise allen die gewünschte Erholung, die wir ja abgesehen von den Kindern alle sehr nötig haben. Vielleicht wird man ein wenig Distanz zu den Dingen gewinnen, wenn man in der ewig sich gleichbleibenden Natur ist. Die tägliche Zeitungslektüre ist eine Qual; jeden Tag sieht man, wie die Juden immer mehr aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet werden und sich ihnen keine Öffnung bietet, durch ein Loch hindurchzuschlüpfen. Und dieses Abschneiden des Lebensfadens geschieht in unserem aufgeklärten Jahrhundert! Ja, wir haben es herrlich weit gebracht. 10. Juli 1933 Hohndorf, Montag. Nun sind wir wieder in unserm geliebten Hohndorf, und es ist so, als ob man ein ganzes Jahr nicht fortgewesen wäre. Wenn man nicht hier und da an einem Gehöft einen Ausbau erkennen würde, müßte man annehmen, die Zeit wäre stehen geblieben. Schließlich nimmt ja auch die Natur von dem politischen Krimskrams der Menschen wenig Notiz. [...] Es ist schon etwas Frieden von diesem lieben Örtchen in meine Seele gekommen! Am Tage zu verschiedenen Zeiten etwas geschlafen; aber auch schon an meiner Arbeit geschrieben. Am Nachmittag hat mich Kollege Exner besucht und mir so einiges aus der Revolutionsgeschichte des Örtchens und der Gegend erzählt! Im allgemeinen hat sich ja hier nicht soviel abgespielt! Die Lehrer rennen natürlich jetzt sehr, um den Anschluß an die neue Partei zu finden. Aber Exner hält sich da fern! [...] Die Leute erzählen sich schon, wir wollen uns hier ankaufen! Mit Trudi auf dem Wege alle Zukunftsmöglichkeiten durchgesprochen. Wahrscheinlich werden wir dann doch in Breslau bleiben, weil ich da mehr Ver-
Hohndorf in der Grafschaft Glatz war ein bevorzugter Urlaubsort Willy Cohns. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 562f.
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dienstmöglichkeiten habe. Hier würde es mich ja sonst sehr locken, aber dann würde man die Beziehungen zur Welt verlieren. 11. Juli 1933 Hohndorf, Dienstag. Sehr gut geschlafen! Gestern abend habe ich Herrn Schwarzer noch auf seinen Wunsch das neue Bauernrecht erklärt. Sein Hof ist ja zu klein, als daß er ihn danach eintragen lassen könnte1. Heute früh vom Wasserpumpen aufgewacht. Auch Butter haben sie schon zeitig gemacht; denn heute ist herrliches Wetter, da müssen sie ins Heu fahren. Wir haben gutes Wetter mitgebracht! Jetzt sitze ich schon wieder in meiner Laube und gucke über das friedliche Land! Man gewinnt hier zu den Dingen eine ganz andere Distanz, und alles, was in der Stadt bedeutend war, ist hier in der Natur wesenlos. Vormittag ganz tüchtig an der Arbeit geschrieben; die Zeit König Tankreds beendigt. Zwischendurch kam der Lehrer Exner, der noch sehr nett erzählte, wie die Revolution sich hier abgespielt hat! [...] 12. Juli 1933 Hohndorf, Mittwoch. [...] Gegen Abend den Weg mit Trudi nach den Dohlenbäumen zu gemacht. Man hat von dort einen so schönen Blick über das Tal! Über die Verbundenheit mit dem deutschen Boden gesprochen. Man hat doch hier ein großes Heimatsgefühl. [...] 13. Juli 1933 Hohndorf, Donnerstag. Soeben den Textteil des Normannenbuches beendet! Ein schönes Gefühl [...] ! [...] Dann mit Trudi nach Habelschwerdt gelaufen. [...] Man kann nicht sagen, daß sich in der Stadt irgend etwas gegen früher in Bezug auf uns geändert hat. Trudi wollte für Ruth ein paar Schuhe kaufen; sie war in zwei jüdischen Geschäften, wo sie aber nicht das Richtige fand, auch nicht in anderen Geschäften; ich unterhielt mich mit der alten Frau Glaser, der Inhaberin des einen Geschäftes und fragte sie, wie es mit dem Risches stände. Sie sagte, bei den fünf Ladengeschäften sei es nicht schlimm. [...] Zukunftspläne durchgesprochen; wir erwägen immer noch, ob wir hier nicht bleiben sollten und ganz Schluß mit dem bisherigen Leben machen. Aber man kann es im Augenblick nicht entscheiden. Ich las heute die Richtlinien für den neuen Geschichtsunterricht, für mich wäre das doch ganz unmöglich. Vielleicht bin ich so aus manchem Gewissenskonflikt heraus. [...]
Cohn wohnte beim Bauern Bernhard Schwarzer, der im Einwohnerbuch der Grafschaft Glatz als „Restbauer" bezeichnet wird.
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15. Juli 1933 Hohndorf, Sonnabend. [...] Von Wölfl kam wieder eine Karte. Er hat meinetwegen mit Ernst Simon1 in Haifa korrespondiert, aber keinen günstigen Bescheid erhalten! Ich habe mir das auch nicht anders gedacht! Post kommt täglich reichlich, und da ich alles zweimal schreibe, macht es auch viel Arbeit! Aber ich mache es gern. Heute kam eine Bestellung für einen Artikel für den Schild2; leider habe ich das betreffende Buch nicht hier; ich versuche es mir durch Paul Mandel schicken zu lassen. [...] 17. Juli 1933 Hohndorf, Montag. [...] Nachdem ich heute ein wissenschaftliches Buch zu Ende durchgearbeitet hatte und dann einen faulen Kriminalroman gelesen habe, las ich jetzt mit großer Begeisterung Kasteins jüdische Geschichte3. Wenn mir das Buch auch nichts wesentlich Neues bringt, so ist es doch eine glänzende Zusammenfassung der Gedanken, die einen heute mehr als je bewegen. Kastein begreift die Zusammenhänge aufs tiefste, aber es wird einem doch auch, wenn man ehrlich ist, unsere Andersartigkeit klar, die man oft zu bemänteln versuchte. Aber auf der anderen Seite kommen wir auch um die tiefe Verwurzelung in der Kultur, in der wir leben, nicht herum; eine ewige Gespaltenheit. [...] 19. Juli 1933 Hohndorf, Mittwoch. Heute vormittag habe ich für den Schild einen Artikel über „Meno Burg" geschrieben4[...]. Die Zeitung kommt einem hier sehr unwesentlich vor! Man liest sie meist nur ganz kurz! Es ist immer dasselbe, was man nun schon weiß. Hier gibt es auch wesentlichere Ereignisse, wie Schweineschlachten, Pilze sammeln und was sonst das Dorfleben mit sich bringt Den Bauern geht es jetzt nicht gut, das Fleisch ist so billig, daß sie lieber zu Hause schlachten und einzeln verkaufen; wir haben hier auch beim Nachbarn Beck einige Pfunde bestellt! Gegen Abend sieht man hier öfters die feldgrauen Uniformen des freiwilligen Arbeitsdienstes, der in Verlorenwasser5 seinen Standort hat, meist ganz junge Leute.
Professor Dr. Ernst Simon (geb. 1899 in Berlin), von 1923-1928 Redakteur der Zeitschrift „Der Jude", wanderte 1928 nach Palästina aus, kehrte jedoch 1933 nach Deutschland zurück und war beim Aufbau der „Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung" tätig. Nach seiner Rückkehr nach Palästina lehrte er Pädagogik an der Universität Jerusalem. Ein entsprechender Artikel konnte im Schild. Zeitschrift des Reichbundes Jüdischer Frontsoldaten, Berlin 1922-1938, nicht ermittelt werden. Josef KASTEIN: Eine Geschichte der Juden. Berlin 1931. Im Druck nicht ermittelt. Meno Burg (1762-1867) war preußischer Offizier jüdischen Glaubens gewesen. Verlorenwasser, Nachbarort von Hohndorf, Kreis Habelschwerdt.
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Die Bauern sind froh, wenn sie da einmal [für] zwanzig Pfennig Fleisch verkaufen können. 20. Juli 1933 Hohndorf, Donnerstag. [...] Nach den Zeitungsnotizen ist es ganz gut möglich, daß man gar keine Pension bekommen wird. Man muß leider alles abwarten! Auch daran gewöhnt man sich. [...] 22. Juli 1933 Hohndorf, Sonnabend [...] Ich trage mich auch mit dem Gedanken, manches von dem, was mich innerlich bewegt, hier zu Papier zu bringen, vieles steht ja schon im Tagebuch, anderes sollte zusammenfassend gesagt werden, so will ich einmal von dem Judenschicksal in Deutschland schreiben ohne Rücksicht darauf, ob man die Dinge heute schon veröffentlichen kann oder nicht! Am Abend einige Abschnitte aus dem Werke von Breysig gelesen1, es gibt ganz neue Einblicke in die Synthese von Erd- und Menschheitsgeschichte. [...] Außenpolitisch scheint sich, soweit man das aus den Zeitungen ersehen kann, ein ziemliches Unwetter um Deutschland zusammenzuziehen. Man hat immer Besorgnisse, wie sich das innenpolitisch auswirken wird. Hier im Dörfchen ist ja von Politik nichts zu merken, da sind die Leute von ihren täglichen Sorgen erfüllt, und es ist für sie wichtiger, daß nun der Rest der Heuernte hereinkommt! Ich möchte noch sehr lange hierbleiben, um der Großstadt auszuweichen. Man kann ja doch an den Dingen nichts ändern! 23. Juli 1933 Hohndorf, Sonntag. Gestern abend habe ich noch etwas für mich über das deutsche Judenschicksal aufgeschrieben. [...] Heute steht eine neue Regierungsverfugung in der Zeitung, wonach nun die Todesstrafe ganz rasch verhängt werden kann, auch wegen Greuelpropaganda. Was kann nicht alles darunter verstanden werden! Cheruth ist verschieden! Aber man kann auch an eine Wiedergeburt glauben! [...] 24. Juli 1933 Hohndorf, Montag. [...] Die Breslauer Neuesten Nachrichten gelesen. In Köln sind sechs Todesurteile gefallt worden, was werden die nächsten Wochen in dieser Beziehung noch bringen! Schweigen, schweigen. Im Fernen Osten soll Krieg zwischen Rußland und Japan um die Mandschurei ausgebrochen sein. Das wäre dann vielleicht der Anfang vom großen Weltbrand Juli 1933. Man stumpft schließlich gegen alle die Dinge ab und spinnt sich immer mehr in sich ein! Ich habe heute gerade viel literarische Pläne gewälzt, aber was wird sich davon verwirklichen lassen! 1
Kurt BREYSIG: Natur- und Menschheitsgeschichte. 1933
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25. Juli 1933 Hohndorf, Dienstag. Heute viel gelesen! [...] Mit Ernst sehr vernünftig über Zukunftsfragen gesprochen. Der Junge ist sehr verständig und kann sich gut in meine Lage hineindenken. Abends auch mit Trudi verschiedene Möglichkeiten erwogen. Durchgerechnet, ob wir hier mit dem Satz, den ich als Pension erhalten würde, auskommen könnten! Wir sahen uns heute teilweise das Jungsche Haus an, das uns hier am besten gefällt. Es spricht sehr vieles für einen Fortzug aus der Großstadt! Es bleibt doch die Frage, ob ich mir in der Stadt etwas Nennenswertes dazu verdienen könnte. Trudi möchte sehr gern hierher ziehen! Auch ich würde gern den mannigfachen Komplikationen der Großstadt aus dem Wege gehen, wenn natürlich auch so eine Umsiedlung in geistiger Beziehung nicht so ganz leicht ist, vor allem die Frage der Bibliotheksbenutzung! Schade, daß man jetzt nicht schon zu einem endgültigen Entschluß kommen kann, so heißt es weiter abwarten! [...] 27. Juli 1933 Hohndorf, Donnerstag. [...] Mit Trudi [...] Zukunftspläne besprochen; wir neigen doch immer mehr dazu, hierzubleiben und der Großstadt Valet zu sagen. Trudi benimmt sich in diesen Besprechungen ganz großartig. Abends dann noch mit unserm Wirt Herrn Schwarzer gesprochen, daß er mit dem Besitzer des Hauses, auf das wir ein Auge geworfen haben, Rücksprache nimmt Es kommt hier eigentlich nur ein Haus für uns in Betracht [...] Wenn man nur immer alle Gedanken ausschalten könnte. [...] 28. Juli 1933 Hohndorf, Freitag. [...] Jetzt am Vormittag [...] das Gesuch an den Oberpräsidenten, daß ich noch einige Zeit hierbleiben kann. Ich schreibe in diesen Zeitläuften nicht gern an eine Behörde. Auch an die Großloge wegen Vorträgen habe ich geschrieben. [...] 29. Juli 1933 Hohndorf, Sonnabend. [...] Beim Barbier Klapper [in Habelschwerdt] las ich in den Breslauer Neuesten Nachrichten, daß Verwaltungsdirektor Dr. Rechnitz ins Konzentrationslager [Dürrgoy] gekommen ist, wegen eines Artikels im Breslauer Gemeindeblatt zusammen mit dem Verfasser. Der Artikel soll nach der Zeitungsnotiz der Greuelpropaganda Vorschub leisten1. [...]
Dr. Ernst Rechnitz (1882-1952), von 1922-1939 Verwaltungsdirektor und Syndikus der Synagogen-Gemeinde Breslau. Ein Artikel im Jüdischen Gemeindeblatt führte zu seiner Verhaftung: Albert ROSENTHAL: Ich suche meine Brüder; in: Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt 10 (1933), Nr. 7 (Juli 1933), S. 1-2. Im November 1938 wurde er erneut im Zuge der Festnahmen nach der Reichspogromnacht in das KZ Sachsenhausen verschleppt. 1939 wanderte er nach Chile aus.
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Der Briefträger brachte mir einen großen Fragebogen vom Oberpräsidium mit zwölf Fragen. Man merkt besonders der einen Frage an, daß das Material aus Schülerkreisen gegen mich zusammengetragen worden ist. [...] Mit Franz hatte ich vor allem in seinem Interesse eine sehr ernsthafte Unterhaltung1. Er trägt sich ja schon sehr lange mit Selbstmordgedanken, vor allem, weil er seine wirtschaftliche Existenz als unterhöhlt ansieht. Ich versuchte ihm zu zeigen, daß seine Situation nicht so verzweifelt ist, und ich hoffe, daß ich ihn etwas aufgerichtet habe. Aber er leidet natürlich auch sehr unter seiner schweren Erkrankung. [...] 30. Juli 1933 Hohndorf, Sonntag. [...] Die Lehrersfrau mit ihren Verwandten getroffen. Der Lehrer selbst war bei einer Sitzung des Militärvereins, der heute gleichgeschaltet wurde. [...] Abends ist heute S.A.-Appell im Schößlers Gasthaus, aber der Betrieb wird wohl kein sehr großer sein. Alle deutschen Volksgenossen sind eingeladen. Dazu gehören wir ja nicht. [...] 1. August 1933 Hohndorf, Dienstag. Heute vormittag das Buch über Voltaires Stellung zum Judentum beendet2, sodann noch etwas im Chalandon gelesen3, sowie einen interessanten Roman von Kasimir Edschmid4 zum größten Teil. [...] Der Briefträger brachte heute Geld, also wieder den Gehalt für einen Monat gerettet, obwohl es für einen sauberen Menschen auch keine Sache ist, Geld ohne Gegenleistung zu bekommen. [...] Die Breslauer Neuesten Nachrichten sind auf drei Tage verboten worden, weil sie die Rede des Oberpräsidenten Brückner in Altheide anläßlich des Oberschlesiertages „wahrheitswidrig" abgedruckt haben. Es handelte sich wohl um Äußerungen wegen Tschechisch- und Polnisch-Oberschlesien. [...] 2. August 1933 Hohndorf, Mittwoch. Nachts sehr schwer geträumt. Trudi mußte mich zweimal wecken. Es kommen dann die ganzen Alpdrücke hoch! Am Tage nehme ich mich immer ordentlich in Zucht. [...] Im Schild ist der kleine Artikel, den ich vor einer Woche eingeschickt habe, schon erschienen. Viel korrespondiert! Trudi hat an die Schwiegereltern einmal 1 2
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Willy Cohns Bruder Franz war im nahen Bad Kudowa Badearzt. Hanna EMMRICH: Das Judentum bei Voltaire (Sprache und Kultur der germanisch-romanischen Völker, C 5). Breslau 1930. Die ersten Kapitel erschienen 1930 als Dissertation unter dem Titel: Zur Behandlung des Judentums bei Voltaire. Breslau 1930. Vermutlich F. CHALANDON: Histoire de la domination normande en Italie et en Sicile, 2 Bde., Paris 1907. Kasimir Edschmid (1890-1966), Deutscher Schriftsteller, Autor zahlreicher expressionistischer Romane, lebte seit 1933 in Italien und war im Dritten Reich als „Zersetzungsliterat" mit einem Rede- und Schreibverbot belegt.
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einen ausführlichen Brief über unsere ganze Lage geschrieben, soweit man das jetzt übersehen kann. [...] Unterwegs den Jung gesprochen, auch noch einmal in seinem Häuschen gewesen; ich habe ihnen gesagt, daß sie es sich bis Sonntag in einer Woche überlegen sollen, ob sie der Sache nähertreten wollen. Dann abends in unserer Stube gemütlich Abendbrot gegessen: neue Kartoffeln mit Heringsbutter. [...] Wenn man abends in der Stube sitzt - Trudi arbeitet an ein paar wollenen Strümpfen für sich selbst — ist es ganz friedlich, wenn es nur immer in unserem Innern so friedlich aussehen würde. Aber wenn man die Zeitungen liest, dann ist es mit dem Frieden aus! Nicht daran denken. — Das Jüdische Gemeindeblatt ist auf unbeschränkte Zeit verboten1. [...] 4. August 1933 Hohndorf, Freitag. [...] Im allgemeinen trifft man auf den Waldwegen hier wenig Touristen. Einmal ein ziemlich brutal aussehender S.A.-Mann mit seiner Familie. In der Brandbaude haben wir Mittag gegessen. [...] Ich lese jetzt den Heiligenhof von Hermann Stehr2, der wohl hier in der Nähe spielt. 5. August 1933 Hohndorf, Sonnabend. [...] Am Morgen sah ich in die Habelschwerdter Zeitung hinein [...]. Selbst in einem so kleinen Blättchen, das früher im Sinne der Centrumspresse schrieb, findet sich heute gehässiger Antisemitismus, den man der Masse als Köder hinwirft. Wenn man aber in der Zeitung so zwischen den Zeilen liest, so erkennt man selbst aus den censurierten Nachrichten, wie katastrophal die außenpolitische Lage ist. Auch die Handelsnachrichten sind oft recht lehrreich. Sie zeigen, wie der Außenhandel immer mehr einschrumpft. Sonst ist die tägliche Lektüre der Zeitungen eine Qual. Es ist immer dasselbe, alles ist auf einen Ton gestimmt. Interessant ist es, wie nun alle arischen Betriebe gezwungen werden, sich in die Arbeitsfront einzureihen. Das heißt nun zunächst Beiträge zu zahlen. Gestern war ein S.A.-Mann da, um beim Schwarzer zu sammeln. Da die schlesische S.A. bis zum Herbst neu ausgerüstet werden soll, müssen die Beträge durch Umlage in den Dörfern aufgebracht werden. Da die Bauern meist sehr knapp mit dem Gelde sind, wird ihnen das auch wenig passen. Trotz allem glaube ich, daß man doch damit rechnen muß, daß sich der Nationalsozialismus lange halten wird. Die geistige Ausschaltung der Juden wird sicherlich resdos durchgeführt, und man wird immer mehr auf einer Insel leben. Das ist sicherlich auf die Dauer sehr schwer zu ertragen. Wenn ich über die nötigen Geldmittel verfügte, würde ich mich doch zu einer Auswanderung nach Palästina entschließen, wenn ich auch auf der anderen Seite immer stärker die Verbundenheit mit dem deutschen Boden spüre. Eine unlösbare Spaltung. [...] 1 2
Es konnte 1934 allerdings wieder erscheinen. Hermann STEHR: Der Heiligenhof. Berlin 1926.
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6. August 1933 Hohndorf, Sonntag. Gestern hatte ich von Wölfl einen Brief, der mir sehr viel zu denken gab; er regte mich sehr auf; es war nicht Wölfls, sondern meinetwegen. Was er mir mitteilte, war sicherlich im Wesentlichen richtig, aber ich kann leider seinem Ratschlag nicht folgen, sondern muß abwarten, was weiter geschieht Man hat das Gefühl, daß man mitunter völlig in der Mausefalle sitzt und aus ihr nicht herauskann. Es ist letzten Endes alles eine Geldfrage! Gestern las ich in der Zeitung, daß Paul Lobe ins Konzentrationslager Dürrgoy gekommen ist, ebenso Frau Lüdemann1! Nach und nach kommt jeder dran. [...] 7. August 1933 Hohndorf, Montag. Gestern abend noch in der Kühle mit Trudi ein Stück spazierengegangen, man sah deutlich am völlig ausgestirnten Himmel die großen Sternbilder! Es wird dann, wenn das Dorf so ruhig daliegt, auch in einem selbst alles friedlich, und man bekommt eine gewisse Distanz zu den Dingen. Alles sieht vom Lande aus stetiger aus wie von der Stadt. Heute vormittag habe ich einen größeren Artikel für das Berliner Gemeindeblatt über die Geschichte der Juden in der Mark Brandenburg geschrieben. [...] Morgen fangt die Schule an, es ist doch für mich ein merkwürdiges Gefühl, nicht in den Dienst zu gehen, obwohl ich weiß, daß die Schularbeit für mich innerlich untragbar geworden wäre. Von der Schule habe ich noch keinen Bescheid über das weitere Hierbleiben, so tue ich es auf eigene Faust. [...] 8. August 1933 Hohndorf, Dienstag. [...] Ernst ist gestern vergnügt fortgefahren; er ist, G'tdob, ein sehr frischer Mensch, noch unbeschwert von der Zeit. Jetzt wird er schon in der Schule sein! [...] Mit Trudi Zukunftspläne besprochen. Von der Ansiedlung in Hohndorf doch wieder abgekommen, die allgemeinen Verhältnisse sind zu unsicher. Aber zu dem Resultat gekommen, daß es vielleicht gut ist, wenn wir noch eine Zeidang hierbleiben. [...] 10. August 1933 Hohndorf, Donnerstag. Gestern vormittag eine kleine Bücherbesprechung geschrieben und dann mich mit den Juden in der Zeit des Großen Kurfürsten befaßt; [...]. In der Zeitung die üblichen Nachrichten. Selbst Fritz Ebert2, der Sohn des Reichspräsidenten, ist in das Konzentrationslager gekommen. Felix Fechen-
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Die Ehefrau Herrmann Lüdemanns wurde, weil sie einen Beschwerdebrief über die Zustände in Dürrgoy geschrieben hatte, in Schutzhaft genommen und in das Breslauer Gestapo-Gefängnis eingeliefert. Vgl. Paul LÖBE, Der Weg war lang, S. 229. Fritz Ebert (1894-1979), Reichstagsabgeordneter und von 1948-1967 Oberbürgermeister Ostberlins.
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bach ist auf der Flucht erschossen worden1. Es werden viele Menschen jet2t auf der Flucht erschossen. Man darf darüber gar nicht nachdenken. Immer mehr mache ich mich innerlich doch mit dem Gedanken vertraut, wenn meine Angelegenheit sich entschieden haben wird, auszuwandern. Ich glaube, daß man doch auf die Dauer die Dinge wird schwer ertragen können. Der Terror wächst doch immermehr, dabei wachsen auch die außenpolitischen Schwierigkeiten. Beides steht natürlich in seiner starken Wechselwirkung. — Mausefalle! So ist die tägliche, schließlich notwendige Lektüre der Zeitung eine ziemliche Qual! [...] 11. August 1933 Hohndorf, Freitag. Gestern in dem Buche von Selma Stern: Die Juden und der preußische Staat2 einiges gearbeitet. Die Vorbereitungen für einen zweiten Artikel im Berliner Gemeindeblatt. Auch etwas hebräische Schreibschrift geübt. Viel Post Von Wölfl aus seinem Lager in Belgien. Er fühlt sich dort sehr wohl! Auch von Ernstl. Trudis Bruder Ernst schreibt, daß sie voraussichtlich die Siedlung in Groß Gaglow werden räumen müssen. Es verträgt sich nicht mit dem nationalsozialistischen Gedanken, wenn Juden auf deutschem Boden siedeln. Was soll der Jude in Deutschland dann tun, wenn ihm auch die Möglichkeit zur Berufsumschichtung genommen wird. [...] Heute ist Verfassungstag, aber er darf nicht gefeiert werden. Vor Jahren habe ich an ihm gesprochen. Wieweit liegt das nun schon zurück. Mit der Post kam über die Beratungsstelle der Synagogengemeinde eine Anfrage wegen eines Internats für deutsch-jüdische Schüler, für das ein Akademiker gesucht wird. Es wäre vielleicht noch keine schlechte Sache, jedenfalls habe ich sofort hingeschrieben. Ich habe mich auch bei Davidsohn bedankt, der mir die Anfrage übermittelt hat Sonst in der Zeitung das Übliche. Immer werden noch Menschen in Schutzhaft genommen. [...] 13. August 1933 Hohndorf, Sonntag. Gestern war wieder einmal dies ater. [...] Einmal schrieb Libertini eine Ansichtskarte, auf der [er] am Rande vermerkte, ich soll so schnell wie möglich nach Sizilien kommen; aber wie das anstellen? Denn ob das zu einer Existenz führt, wer kann das sagen? Und es ist jetzt auch sehr schwer, Verhandlungen zu führen. Dann stand in der Zeitung eine Notiz, daß man unnachsichtig gegen die vorgehen wolle, bei denen man noch marxistische Bücher fände! Kommunistische Klebekolonnen etc. sind nach der gleichen Zeitungsnotiz am Werke. Wenn man die Kleber nicht bekommt, so will man einfach andere einsperren. Langfristige Schutzhaft ist das mindeste, was droht. Der nationalen Re1 2
Der Schriftstellet Felix Fechenbach (1894-1933) wurde während seines Transportes nach Dachau erschossen. Selma STERN: Der preußische Staat und die Juden. Berlin 1925.
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gierung scheinen doch ziemliche Schwierigkeiten [zu] entstehen, und aus Druck entsteht Gegendruck. So wird man in der nächsten Zeit damit zu rechnen haben, daß immer mehr Menschen eingesperrt werden. Nach langer Beratung mit Trudi entschlossen wir uns, daß Trudi nach Breslau fahren sollte, um meine Bibliothek daraufhin durchzusehen, ob sich in ihr irgendetwas fände, was unter den heutigen Geschichtspunkten als anstößig anzusprechen wäre, dann aber auch, um wegen der italienischen Geschichte mit Marcus zu verhandeln. Wir hielten es für richtiger, daß sie fährt, als daß ich fahre. [...] Das Gefühl, in einer Falle zu sitzen, die jeden Augenblick zuklappen kann, verstärkt sich in mir zusehends! Aber ich muß und will durchkommen! Es ist vor allem die sehr große Liebe zu den Kindern, die mich aufrecht erhält. KleinSusannchen braucht noch ihren Vater! Von Wölfl kam gestern eine Karte aus seinem Lager! Er quält sich sehr mit dem Gedanken, ob er nicht doch auf Hachscharah gehen soll. Es ist ein großes Anstandsgefühl von dem Jungen; aber ich halte es doch nicht für richtig, weil ich weiß, wie sehr er an geistigen Dingen hängt. [...] Viel heute im Christian Wahnschaffe von Jakob Wassermann1 gelesen. Da drin eine schöne Stelle: Ein jüdisches junges Mädchen sagt: Meine Vorfahren trugen den gelben Fleck auf dem Kleid, ich trage ihn in der Seele. Gegen sechs Uhr fortgegangen. Eine Stunde im Dorf spazieren gegangen; dann im Gasthaus von Paprotny auf Trudis Anruf gewartet. Er kam auch pünktlich gleich nach sieben Uhr. Den Verleger Marcus hat sie nicht in Breslau erreichen können. Mein Urlaub für hier ist genehmigt! [...] 14. August 1933 Hohndorf, Montag. [...] Ich habe eben einen Brief an Libertini entworfen. Ich habe den Eindruck, daß man mich gern in Sizilien haben möchte. Aber ich könnte doch nur gehen, wenn man mir irgend eine Position anbieten würde. Aber vielleicht kommt das noch! [...] Heute fleißig hebräisch geübt, es geht jetzt ganz fließend mit der Schreibschrift. In ein leerstehendes Häuschen hier in der Nähe sind Leute aus Breslau eingezogen. Es kam ein Möbelauto. Ich freue mich schon sehr auf Trudi. 15. August 1933 Hohndorf, Dienstag. [...] Trudi war ganz erfüllt von den vielen Eindrücken in Breslau und hatte mir viel zu berichten. Die Menschen scheinen da wieder sehr den Kopf verloren zu haben. Es gehen wieder viele nach Palästina, bei manchem habe ich den Eindruck, daß es sehr überstürzt geschieht. Aber man kann natürlich begreifen, daß mancher die Nerven verliert, obwohl man sich gerade jetzt in Zucht und Ordnung halten sollte.
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Jakob WASSERMANN: Christian Wahnschaffe, Roman in zwei Bänden. Berlin 1919.
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Trudi ist viel umhergelaufen. Ich persönlich habe ja den Eindruck, daß bei diesen Beratungen nicht viel herauskommt, jeder muß wissen, welchen Weg er gehen muß. Ich bin jedenfalls entschlossen, 2unächst abzuwarten. Keinesfalls will ich ein Emigrantendasein fuhren; ich will auch von niemandem abhängig sein. Heute früh habe ich an Libertini ausführlich geschrieben. Vielleicht wird daraus etwas. [...] 16. August 1933 Hohndorf, Mittwoch. [...] Am Vormittag habe ich sodann zunächst für mich einen Artikel über die Berufung der Wiener Juden nach Berlin durch den großen Kurfürsten geschrieben; die Arbeit hat mir viel Freude gemacht. [...] Mit Susanne, die unterwegs einschlief, bis in den unteren Wald, es war gerade sehr gemütlich und stimmungsvoll. Da kam mir der Lehrer Exner auf dem Motorrade entgegen und erzählte mir, daß gegen ihn und mich eine Anzeige eingelaufen sei. Ich hätte geäußert, „das Ausland würde sich das nicht lange ansehen". Ich erinnere nun wirklich nicht, eine derartige Aussage getan zu haben. Ich bin überhaupt nur zweimal mit dem Lehrer hier über die Landstraße gegangen; wir leben ja gänzlich zurückgezogen. Aber gegen solche Dinge ist man machdos. Am Montag war der Landjäger da und hat den Lehrer und die Gastwirte vernommen! Wenn auch tatsächlich absolut nichts gegen mich vorliegt, so muß man doch unter den heutigen Verhältnissen damit rechnen, daß einfach Schutzhaft von unbeschränkter Dauer über einen verhängt wird. Die Sache hat mich natürlich sehr alteriert, zumal man doch absolut nichts machen kann und einfach abwarten muß, was mit einem geschieht! [...] 17. August 1933 Hohndorf, Donnerstag. [...] Heute sehe ich die ganze Sache schon ruhiger an; man kann ja auch nichts weiter machen, als auch in diesem Punkte abwarten. Gegen Gemeinheit kann man sich ja nicht schützen. [...] Im Geschäft bei Noher heute über den Riscbes in Habelschwerdt unterhalten. Bisher haben sie noch nicht viel zu leiden gehabt Aber gestern soll ein Beschluß der dortigen Ortsgruppe der N.S.D.A.P. gefaßt worden sein, wonach den Mitgliedern bei Androhung des Verlustes ihrer Mitgliedskarte verboten wird, bei Juden zu kaufen. Ich versuchte sie nach Kräften zu beruhigen. So ein stiller Boykott kann in einer Kleinstadt den paar jüdischen Kaufleuten sehr gefährlich werden. [...] 20. August 1933 Hohndorf, Sonntag. Abgesehen davon, daß ich heute vormittag etwas Hebräisch geschrieben und Trudi etwas im Haushalt geholfen habe, bin ich zu nichts gekommen [...]. Immerhin, trotz der schönen Natur und der Einsamkeit hier, sehne ich mich doch wieder nach einer geregelten geistigen Tätigkeit und nach der Benutzung der Bibliotheken. Ich bin überzeugt, daß man, wenn man wieder in
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Breslau sein wird, an die Einsamkeit und den Frieden Hohndorfs immer zurückdenken muß. Sicherlich wird einen das ganze Leben in der Stadt ankotzen, aber andererseits bin ich eben zu einem arbeitslosen Leben und dem Dasein eines Pensionärs noch zu jung. So ist nichts vollkommen! Vielleicht ist es trotz alledem eine Dummheit, wenn wir Ende des Monats nach Breslau zurückkehren; aber was ist in diesen Zeiten schon das Richtige? [...] Ich saß dann noch mit Herrn Schwarzer vor der Tür. Er glaubt, daß in der Anzeige gegen mich nun nichts mehr geschehen wird. Hoffentlich hat er recht. Er meint auch, daß es der Klaarjunge gewesen ist; er ist übrigens nicht der Sohn vom Klaar, sondern von der Frau schon in die Ehe mitgebracht worden. So ein junger S.A.-Mann glaubt natürlich, sich durch eine Anzeige bei seinen Vorgesetzten besonders beliebt zu machen. Wenn ich daran denke, so kommt mir die Galle hoch, aber das darf sie eigentlich nicht, und man muß noch froh sein, wenn alles so ausgeht. [...] 21. August 1933 Hohndorf, Montag. [...] Der Lehrer kam mit dem Motorrad vorbei, wir sprachen noch einmal über die Denunziationsangelegenheit. Er meint, daß nun mehr wohl nichts erfolgen wird. Daß es der Klaarjunge gewesen ist, hält er auch für günstig, da er doch einen schlechten Leumund hat. [...] Ich habe heute ein deutsch-italienisches Lexikon teilweise durchgearbeitet; man lernt dabei eine ganze Menge. [...] Ernst hat geschrieben. Er fühlt sich in der Schule sehr unglücklich, hat auch von Jaekel eine Ohrfeige bekommen! [...] 23. August 1933 Hohndorf, Mittwoch. [...] Mit der Post nichts Besonderes. In der Zeitung: Juden ist das Betreten des Strandbades Wannsee verboten. Verbot der C.V.-Zeitung. Sehr scharfe Urteile des Landgerichts meist gegen Juden! Also wenig Erfreuliches! Manchmal ist man gegen alle diese Dinge etwas widerstandsfähiger, heute kann ich das nicht sagen. [...] 25. August 1933 Hohndorf, Freitag. Gestern kamen mit der Post die Sonderdrucke meiner Dantearbeit. Es war eine große Freude, denn bis zum letzten Augenblick habe ich immer noch geglaubt, daß die Arbeit unter irgend einem Vorwand nicht erscheinen würde, umso größer war nun der Genuß, sie so schön gedruckt vor sich liegen zu sehen. [...] Gestern war die Dantearbeit in ein paar Bogen der großen Goetheausgabe eingepackt. Die Sendung kam aus dem Böhlau-Verlag in Weimar. Es waren Tagebuchblätter aus dem Jahre 1794. Mit welcher Liebe hat Goethe alles, was er täglich erfuhr, aufgeschrieben und was für Interessen und welche Spannkraft hatte dieser einmalige Geist. Es würde mich reizen, mich ein Jahr lang einmal nur mit Goethe zu beschäftigen, aber ich glaube, daß eine solange nur receptive Tätigkeit
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mir nicht behagen würde. - Schade, daß ich keine ganz große Goetheausgabe habe. [...] In Habelschwerdt wurden heute Birken ausgefahren, sie wurden an die Einwohner für fünf Pf. das Stück verkauft; die Stadt soll anläßlich der Einquartierung und der Enthüllung des Kriegerdenkmals am Sonntag ausgeschmückt werden. Es ist ein großes Ereignis für das kleine Städtchen. Wenn man sich nur immer bei der Enthüllung dieser Kriegerdenkmäler bewußt blieb, daß niemals ein derartiger Krieg wiederkommen darf. Aber die jungen Leute ahnen wohl kaum, was der Krieg war. [...] Es war auch wieder von der Schule eine Anfrage gekommen, ob ich Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft wäre! [...] So ganz kann man sich ja doch nicht auf die vita contemplativa einstellen. In Habelschwerdt, da weht so ein kleinbürgerlicher Zug. Zwei Häuser von meinem Barbier entfernt ist das Geburtshaus von Hermann Stehr, gegenüber vom Barbier wohnt der Sattler Robert Stehr, des Dichters Bruder, aber der Barbier Klapper, sonst ein ganz heller Mann, hat noch nichts von seinem berühmtesten Landsmann gelesen! [...] 26. August 1933 Hohndorf, Sonnabend. [...] Und weil eine solche Freude nie ganz ungetrübt ist, hatte ich nachher eine wenig erfreuliche Unterhaltung mit dem Gastwirt Paprotny, der von unten herauf kam. Er erzählte mir, daß meinetwegen der Oberlandjägermeister schon zweimal im Auto oben gewesen ist, daß also diese Geschichte noch immer weitergeht. Man behauptete sogar, ich wäre im Gasthaus „Weißes Roß" in Habelschwerdt gewesen, wo ich doch niemals ein Lokal betrete. Weiß der Teufel, wer mir an den Kragen will. Wenn ich mir auch absolut keiner Schuld bewußt bin, so bin ich mir doch klar, was es bedeutet, wenn gegen mich erst irgend eine Sache anhängig ist. Wer weiß, was einem noch alles bevorsteht, aber man muß versuchen, alles zu ertragen! Ich bin natürlich mit den Nerven wieder etwas aus der Fassung geraten. [...] 27. August 1933 Hohndorf, Sonntag. Die Nacht war nach der gestrigen Erregung natürlich nichts Besonderes [...]. Man ist es wehrlos, und manchmal weiß ich dann nicht, ob ich so durchhalten kann, wie ich mir das vorgenommen habe. Trudi richtet mich dann immer sehr auf und macht mir wieder Mut. [...] Nach der Vesper ging ich noch mit Trudi spazieren, wir nahmen Susanne im kleinen Leiterwagen mit Sie schlief bald ein, so konnten wir uns ganz gut unterhalten. - Vom Dorfende im Oberdorf war ein wundervoller Blick über das ganze Gebirge, es lag alles so klar da. Der Turm auf dem Glatzer Schneeberg zum Greifen nah! Man liebt diese Wälder so sehr und darf sich doch in ihnen nicht zu Hause fühlen. Auf der Landstraße begegneten wir den von der Denkmalseinweihung Zurückkehrenden. Sie begrüßten uns teilweise mit Heil-Hitler-Rufen! [...]
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28. August 1933 Hohndorf, Montag. [...] Gegen Abend mit Trudi und Susannchen zum Lehrer gegangen. [...] Trudi sprach inzwischen mit dem Lehrer über die Sache, er meinte, es würde nun nichts mehr erfolgen! Hoffentlich hat er recht, ich habe so immer das Gefühl, daß unsereiner an so etwas kleben bleibt. [...] 29. August 1933 Hohndorf, Dienstag. Ich wollte noch aufschreiben, was mir gestern Schwarzers erzählt haben, wodurch wahrscheinlich die ganze Angeberei gegen mich ins Rollen gekommen ist. Offenbar hatte sich das Dorf wegen meines eventuellen Ankaufs hier in zwei Teile gespalten. Der Besitzer Jung, mit dem ich verhandelt hatte, war wohl, wie ich hörte, schon geneigt; aber die Kreise der N.S.D.A.P. scheinen das nicht gewollt zu haben. Wie der Lehrer sagte, mag man schon vier Meilen im Umkreis davon gesprochen haben, daß ein Jude sich ansiedeln wollte. Jetzt spricht das ganze Dorf von der Sache, und viele Leute, besonders natürlich unsere Wirtsleute, kränken sich, daß ich so geärgert worden bin! [...] Vom Lehrer bekamen wir gestern eine Reihe von Zeitungen, da unsere ausgeblieben ist. Man verfolgt jetzt mit viel Interesse besonders die Vorgänge auf dem Zionistenkongreß, der diesmal ein Weltereignis ist. Glücklicherweise hat man von jeder Boykottresolution Abstand genommen, deren Folgen wir nur zu tragen hätten. Es muß wieder zu einem Friedensschluß zwischen dem jüdischen und deutschen Volke kommen. Man muß da völlig ohne Gefühlspolitik neu anfangen. 30. August 1933 Hohndorf, Mittwoch. [...] Am Nachmittag waren hübsche Zigeunerweiber da, ich habe ihnen zehn Pf. geschenkt; mich auch mit ihnen eine Zeidang unterhalten. Man hat mit ihnen so ein Gefühl der Verbundenheit. Sie sind auch ein verfemtes Volk. Sie freuten sich über meine paar slavischen Worte. Sie erzählten, sie sprächen untereinander wendisch. Eine wollte mir prophezeien, aber ich wollte es nicht. Nicht in die Zukunft schauen. 31. August 1933 Breslau, Donnerstag. [...] Der Abschied von Schwarzers war wie immer sehr herzlich. Auf der Bahn alles erledigt, viel S.A.-Leute, die zum Parteitage nach Nürnberg fuhren. [...] Mit der Straßenbahn nach Hause. Die Endassung vom Ministerium vorgefunden1. Wenn man auch damit gerechnet hat, so ist es doch schwarz auf weiß ein Schock. Na, heute kann ich nichts weiter dazu sagen! Die Entlassung erfolgte aufgrund des Paragraphen 4 des neuen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Bei Paragraph 4 diente politische Unzuverlässigkeit als Grund. Der Paragraph 6 galt allgemein für Beamte jüdischer Herkunft. Für Willy Cohn hatte die Endassung nach Paragraph 4 weitreichende Folgen, denn auch jüdische
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Ernst erzählte mir, daß Kollege Richter gestorben ist. Auch das hat mir sehr weh getan, wenn man auch bei seinem Darmkrebs damit rechnen mußte. Morgen ist die Beerdigung. [...] 2. September 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Auf dem Hinweg traf ich Stadtrat Wolff, der beurlaubt ist; wenn er auf Grund des Paragraphen 4 beurlaubt würde, so würde er gar keinen Pfennig bekommen. Er hat auch vier Kinder. Man sagte ihm, daß er sich unter Umständen ein paar Jahre durchhungern müßte! Regierungsrat Muhr soll auf Grund des Paragraph 61 im Interesse des Dienstes beurlaubt worden sein. Irgendwie geht es schon immer! Im Rundfunk soll von Nürnberg aus gesagt worden sein, daß die Juden in Kunst und Wissenschaft nichts leisteten. Heute hörte ich auch, daß der Landrat von Glatz Peucker2, der mit Franz und Lotte befreundet ist, abgesägt wurde! [...] 3. September 1933 Breslau, Sonntag. Am Nachmittag kam gestern noch mein früherer Schüler Uli Cohn, der jetzt bei Reichelt ist. Er wollte sich nur erkundigen, wie es mir geht. Ich habe mich über die Anhänglichkeit sehr gefreut. Er erzählte mir auch, was er durch Sprinz über Wölfl gehört hat. Danach sind die jungen jüdischen Leute in einem Heim untergebracht, das in einer Kaserne gelegen ist, das die französische Regierung dem jüdischen Hilfscomitee zur Verfugung gestellt hat. Im allgemeinen soll das Schicksal der Emigranten sehr schwer sein und viele in großer Not leben. [...] Heute vormittag [...] hatte sich Professor Klawitter angemeldet, dem ich ein Stück des Piccolominischen Berichtes über die Vorgänge in Pilsen übersetzte; der Bericht ist italienisch abgefaßt. Ich habe ihm alle strittigen Stellen übersetzen können. Trudi hat zum Teil auch geholfen, da ihre Grammatikkenntnisse größer als meine [sind]; ich beherrsche besser die Vokabeln. Dann sprachen wir noch über allgemeine Dinge; auch er ist schon mehrfach in seiner Angelegenheit vernommen worden. Vorläufig ist er noch im Friedrichs-Gymnasium im Dienst. Dort ist auch der Assessor Venatier! [...] Bei Perles und vielen anderen Bekannten waren vor einiger Zeit Haussuchungen nach Waffen. [...] 5. September 1933 Breslau, Dienstag. [...] Eine sehr nette und herzliche Karte bekam ich von Schneider-Jena. Er legt mir weitere Danteuntersuchungen ans Herz. Ich habe ihm Einrichtungen fürchteten, sie könnten sich vor dem Staat kompromittieren, wenn sie Entlassene nach Paragraph 4 beschäftigten. Paragraph 6 des sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sah vor, daß Beamte vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden konnten, auch wenn sie „noch nicht dienstunfähig" waren. Franz Peucker, von 1920 bis 1933 Landrat von Glatz.
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ausfuhrlich geantwortet! Sehr glücklich bin ich, daß die wissenschaftlichen Untersuchungen so weitergehen, es ist das wirklich ein großer Trost. Natürlich wird das beeinträchtigt durch die materiellen Sorgen, aber darüber muß man versuchen hinwegzukommen. [...] 6. September 1933 Breslau, Mittwoch. Gestern [...] zum Verleger Marcus gefahren, der sich wirklich in rührender Weise für mich interessiert und bemüht ist, meine Spannkraft zu erhalten. Er hat auch schon allerlei für mich getan. Seine Meinung ist, daß die Sizilier wohl kaum für mich eine besoldete Stellung schaffen, daß aber wohl zu erreichen wäre, wenn sie mich zu wissenschaftlicher Arbeit anforderten, daß meine Bezüge nach Italien überwiesen werden könnten. Er meinte, daß es natürlich gut wäre, wenn ich zur Besprechung aller dieser Angelegenheiten einmal hinfahren könnte, wir waren uns aber leider darüber klar, daß dies unter den obwaltenden Verhältnissen nur geschehen soll, wenn ich eine offizielle Aufforderung erhielte. Also heißt es zunächst weiter abwarten. Marcus hat alle Einzelheiten sehr fein durchgedacht, man kann sich wirklich auf ihn verlassen. Ich habe ungefähr eine Stunde dort zugebracht. [...] Von Marcus zum Schneider Szupak1; ich will mir jetzt den Stoff machen lassen, den ich zum vorigen Geburtstag von den Schwiegereltern geschenkt bekam. Ich habe ja keinen ordentlichen Straßenanzug mehr. [...] Die Straße ist voll von braunen und schwarzen Uniformen. Wenn man solange im Dorf gewesen ist, kommt einem das ganze Treiben in der Stadt sehr absonderlich vor, man ist dann froh, wenn man wieder draußen ist. [...] Wir haben für ein paar Tage einen Jungen aus Ernstls Gruppe, Gabriel Widawski, bei uns aufgenommen, bevor er Deutschland verläßt. Ein netter Kerl. Er schläft auf meinem Sofa! Überall Judenleid. [...] Nach elf Uhr zur Post, dann zu Batzdorff, auf dem Wege Leute getroffen: Grünbaum, den alten Onkel Lewy; Julius Lewy hat heute seine Apotheke verkauft, um nach Palästina zu gehen. [...] 7. September 1933 Breslau, Donnerstag. Heute früh bin ich zeitig aufgestanden, um Ruth in die Schule zu begleiten. Ich hatte ihr das schon seit sehr langem versprochen; früh ist es schon ziemlich frisch. Es ist für mich doch ein sehr eigenartiges Gefühl, wenn die Kinder in die Schule gehen; obwohl ich ja von Tag zu Tag mehr einsehe, daß der Unterricht für mich innerlich untragbar geworden wäre. Es gehen jetzt viele Schüler, die früher das Johannesgymnasium besuchten, in die Jüdische Schule. [...] Zur Gemeinde, um meine Synagogenkarte umzutauschen; ich muß diesmal in die Hermann-Loge gehen, da im Vorwärts kein G'ttesdienst stattfindet. Das Warten dort wenig erfreulich. [...] Zur Stadtbibliothek, [...]. Dort kurz eine frühere Kollegin, Fräulein Dr. Goldmann gesprochen, die auf Grund des Arierparagraphen Richtige Schreibweise Szczupak. Vgl. entsprechende Annoncen in der Jüdischen Zeitung.
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abgebaut worden ist1. Sehr unglücklich, obwohl sie volle Pension bekommt; sie will wieder unterrichten. [...] Ich hörte, daß der frühere Reichsbannerführer Alexander im Konzentrationslager Osnabrück auf der Flucht erschossen sein soll2. Der Arzt Dr. Korn-Steine soll sich nach seiner Freilassung vergiftet haben. 8. September 1933 Breslau, Freitag. [...] Zwischendurch kam der Schneidermeister Szupak, um mir zu dem Anzug Maß zu nehmen; auch den von Franz geschenkten Mantel lasse ich mir umarbeiten. Beides wird mich über 70 Mark kosten, sehr viel Geld, aber ich bin doch ziemlich abgerissen, und es ist vielleicht besser, man läßt es sich jetzt machen, als später, wo es gar nicht geht. Durch die Steuerrückzahlung kann ich es jetzt einrichten. [...] Den früheren Büchereidirektor Moering getroffen, der ja jetzt völlig brach liegt. Mit ihm auf einem Spaziergang das Übliche durchgesprochen, im Grunde hört man immer das Gleiche. Er will, wenn seine Sache endgültig erledigt ist, aufs Land ziehen! Er erzählte, daß er von Heines sehr anständig behandelt worden ist; er hält ihn für die Leute für einen hervorragenden Führer. [...]. 9. September 1933 Breslau, Sonnabend. Wir holten Perles von Großweiler ab3 und gingen dann mit ihnen langsam zu ihrer Wohnung. Wir blieben dort bis elf Uhr. Hörten auch Radio! Der Zusammenklang der verschiedenen Sender gibt ein groteskes Bild! Man hört doch die Welt [...] Gestern abend mit der letzten Post von Libertini eine Nachricht bekommen. Leider geht er auf den Kernpunkt nicht ein. Man kann die Gründe schwer durchschauen. [...] Zur Stadtbibliothek gefahren; ich hatte eine Vormerkungskarte erhalten, daß von Hampe: Das Hochmittelalter4 für mich angekommen ist, ein Buch, das ich schon sehr lange gesucht hatte. Ich freue mich schon sehr auf die Lektüre. Hampe ist doch der beste Kenner der Epoche, es wird ein großer Genuß sein. Von dort zur neuen Synagoge; man hat das Bedürfnis doch manchmal jetzt stärker wie sonst, in sich zu gehen. Glücklicherweise war keine Predigt. - Ein früherer Schüler von mir, Werner Chotzen, hatte BarmitQvah und noch ein anderer Junge, den ich nicht kannte. [...]
Der Paragraph 3 des sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sah die Entlassung von Beamten wegen „nichtarischer Abstammung" vor. Dem Tagebuch liegt die aus der Zeitung entnommene Todesanzeige der tieftrauernden Hinterbliebenen für Hans Alexander bei. Sie ist auf den Todestag, den 6. September 1933, datiert und teilt mit, die Beerdigung habe bereits auf dem jüdischen Friedhof in Cosel stattgefunden. Eine bekannte Konditorei. Karl HAMPE: Das Hochmittelalter. Geschichte des Abendlandes von 900 bis 1250. Berlin 1932.
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10. September 1933 Breslau, Sonntag. [...] Draußen traf ich meinen früheren Schüler Schampanier, genannt „Schaumwein", mit dem ich eine Zeitlang zusammen war. Wir gingen bis zur Zobtenerbahn, dann am Bahnhof entlang und zurück. Überall stößt man auf Abteilungen marschierender Hiderjungen, und man hört den Drill, der einem ja noch aus früherer Zeit wohl bekannt ist. Auch war heute ein großer Aufmarsch des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps, so daß die Hauptstraßen von großem Autolärm erfüllt waren. [...] Trudi war auf die Bahn gefahren, die Schwiegereltern abholen. [...] Sie brachten eine große Gans und verschiedene Lebensmittel mit. Den Schwiegervater finde ich ziemlich gealtert; er hört auch sehr schwer! [...] Sie werden übermorgen von hier nach Johannisbad fahren! [...] Ich habe dem Schwiegervater einmal eingehend unsere Lage dargelegt und ihm nahegelegt, in seinen Gelddispositionen auch damit zu rechnen, daß wir in absehbarer Zeit in Bedrängnis geraten könnten. Ich sagte ja, daß ich wünschen möge, daß das nicht geschieht, aber man weiß doch eben nicht, was die Zukunft bringt. Er hat das auch alles eingesehen. Bei Ernst in Groß Gaglow ist das eine ziemlich Geld verschlingende Angelegenheit, zumal seine Frau immer krank ist und wahrscheinlich operiert werden muß. Trudi ist heute sehr überanstrengt, und ich finde sie, wenn sie es auch leugnet, ziemlich erregt. Ernst war mit seiner Gruppe am Zinnobersee; sie haben einen schönen Tag verlebt! Ruth hatte ihren Freund Eli hier. 11. September 1933 Breslau, Montag. [...] Im Reisebüro an der Gartenstraße, [...] mich einmal nach den Schiffsverbindungen nach Catania erkundigt; man würde von Hamburg mit dem Frachtdampfer etwa vier Wochen fahren, aber es müßte eine sehr schöne Fahrt sein. Es ist auch verhältnismäßig nicht teuer. [...]. Zur Bibliothek gefahren, [...] den Landgerichtsrat Habel, den Sohn von meinem früheren Lehrer gesprochen; [...]. Von dort zu Marcus. Er hat einen außerordentlich geschickten Brief an Libertini aufgesetzt, der auch so abgehen kann. [...] 13. September 1933 Breslau, Mittwoch, f...] Zur Gemeinde, wo es mir gelang, Mutters Synagogenkarte für zehn Mark zu verkaufen. Von dort zur jüdischen Zeitung; die Adressen der in Deutschland erscheinenden Jüdischen Zeitungen herausgeschrieben; dabei einen unberechtigten Zweitdruck festgestellt; ich will versuchen, das Honorar hereinzuholen; man darf sich jetzt nichts entgehen lassen. Mit Bildhauer gesprochen; von dort zur Loge, um das Adressenmaterial der Loge für Vortragszwecke zu holen; mit Fräulein Freund und dem Finanzsekretär gesprochen; die üblichen sehr pessimistischen Ansichten gehört! Dr. Ludwig Cohn, der blinde, ist nach C.S.R. ausgewandert, wo er eine Stelle gefunden hat. Die Tochter unseres alten Kastellans Finster hat sich in einem Anfall geistiger Umnachtung das Leben genommen.
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Weiter zum Schneidermeister Szupak, dritte Anprobe, auf dem Wege Günther Brienitzer1 getroffen. Dann zu Mutter, die sich unendlich mit den zehn Mark freute. Auf der Gemeinde auch noch Rabbiner Hoffmann gesprochen. Um halb zwei ziemlich matt zu Hause. Diese Gänge in die Stadt nehmen mich immer ziemlich mit, vor allem die Gespräche mit den vielen Menschen; man muß doch immer ziemlich Maske machen; wenigstens hat es doch keinen Sinn, in das Jammern einzustimmen. [...] 14. September 1933 Breslau, Freitag. [...] Mit Lewkowitz telefoniert. Die Jüdische Volkshochschule wird in dem Winter zustande kommen. Sehr erfreulich. Ich bin überzeugt, daß meine Kurse besucht sein werden. Auf dem Weg in die Stadt natürlich wieder viel Menschen gesprochen, wenn ich es auch möglichst kurz mache, unter anderem Dr. Schäffer, der es sehr gut meint. 15. September 1933 Breslau, Freitag. [...] Marcus sagte, daß er eine Vorladung zum italienischen Konsulat bekommen hat. Das ist schon ein Erfolg, und man muß sehen, was weiter wird! Ich habe augenblicklich auch den Eindruck, daß mein Nebenerwerb hier ganz gut gehen wird. Wir haben ja erst ein paar Tage an Vorträgen und so weiter gearbeitet. Heute abend gehe ich zu Frau Conberti, um meine italienischen Kenntnisse aufzufrischen. 16. September 1933 Breslau, Sonnabend. [...] Mit Perle im Präsidentenzimmer der Loge gesessen und ihn über den Stand meiner Angelegenheit informiert; er findet das alles so ganz richtig eingeleitet ist und daß ich nur auf eine offizielle Aufforderung hin nach Italien gehen soll. Heute findet nun die Unterredung zwischen Marcus und dem Konsul statt, auf deren Ausgang ich sehr gespannt bin! Dann in die Neue Synagoge; ich habe jetzt oft das Bedürfnis, beten zu gehen, man kommt im Gotteshaus am besten zur inneren Sammlung und gerade der Freitagabendgottesdienst ist mir besonders lieb. [...] Bei Frau Conberti außer Trudi noch meinen früheren Schüler Pulvermacher und zwei junge Mädchen angetroffen. Frau Conberti, der man ihre alte Schönheit immer noch sehr ansieht, spricht ein märchenhaftes Italienisch; ich kann sehr gut folgen [...]. 17. September 1933 Breslau, Sonntag. Gestern vormittag war Ernst Centawer bei uns, der heute nach Paris abfährt. Ich habe ihm viele Grüße für Wölfl mitgeschickt und ihm vor allem gesagt, daß er ihm über unsere Zukunftspläne berichten soll. Wölfl wird sich ja
Der Ehemann von Willy Cohns erster Frau Ella Proskauer.
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sicher unendlich freuen, auf diese Weise einmal unmittelbar etwas von uns zu hören. [...] Wir geben uns alle Mühe, Vorträge in der Provinz zu erreichen [...]. In der Zeitung das Übliche; man ist schnell fertig damit; am interessantesten und oft am schmerzlichsten der Anzeigenteil, in dem jüdische Familien den Ausverkauf ihrer Sachen vornehmen. Wieviel altes Kulturgut wird da verschleudert. [...] 18. September 1933 Breslau, Montag. [...] Ernst Hainauer gesprochen, mit ihm Verschiedenes über jüdische Kulturbundangelegenheiten durchberaten. Es sieht so aus, als ob auch hier die Organisation nicht recht klappen möchte. Ernst Hainauer hat die Absicht, sein Sortiment zu verkaufen und seinen Musikverlag ins Ausland zu verlegen; damit würde diese alte Firma unserer Familie auch in arische Hände übergehen. Er will zu seiner Schwester. Unsere Jugend will ja überhaupt gänzlich heraus. Dann Betty Reich, die Lehrerin, getroffen; sie kam zu mir, um sich einige Bücher für einen Vortrag über die Judenemancipation zu holen. Jetzt stürzt sich alles auf diese Themen, was vorher vom Judentum sehr wenig wissen wollte. [...] An der Haltestelle Fräulein Hirschstein getroffen, die mir Interessantes vom Humboldtverein erzählte; danach haben sie nur diejenigen Dozenten aufgefordert, die nicht vom Staat irgendwie herausgetan worden sind. Also komme ich in diesem Winter, wie ich mir auch gedacht habe, keinesfalls in Frage. Es ist jetzt ein arischer Geschäftsführer und der Rektor der Universität Helfritz im Ausschuß. Fräulein Hirschstein ist mit mir der Meinung, daß die jüdischen Mitglieder dem Verein verloren gehen werden, damit ist dann auch das Ende dieses Vereins gekommen. [...] Auf der Gartenstraße sah ich, wie ein S.A.-Mann offenbar zwei Schutzhäftlinge mit einem Eimer eskortierte; wahrscheinlich haben sie eine Inschrift wieder abwaschen müssen! [...] 19. September 1933 Breslau, Dienstag. [...] Zur jüdischen Schule, wo ich mit dem Leiter Feuchtwanger sprach; er hat mir sehr gut gefallen; was meine eventuelle Beschäftigung an der dortigen Schule anbelangt, so bleibt einmal der Stundenverteilungsplan für den Winter bestehen und dann müßte er sich erst bei der Behörde erkundigen, ob meine Beschäftigung wegen des Paragraphen vier in Frage käme. Ich wollte mir aber wenigstens diese Tür offen lassen. Mit Frau Feilchenfeld zusammen fortgegangen. Das ist eine ganz prächtige Frau. Sie hatte aus Ere% ungünstige Nachrichten. Es sei dort ein Kampf aller gegen alle entbrannt. Schlimm! Aber ich habe manches von den Dingen kommen sehen, da doch jetzt ein ganz ungeeigneter Strom von Einwanderern hinkommt. [...] 20. September 1933 Breslau, Mittwoch. Die erste Vortragsreise dieser Saison ist, G'ttlob, planmäßig
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verlaufen. [...] In Liegnitz von Frau Fraenkel abgeholt, mit ihr in ihre Wohnung. Über die Lage gesprochen; zwangsläufig ergeben sich die gleichen Gespräche, es war aber mit dem Ehepaar Fraenkel, das ich schon seit langen Jahren kenne, sehr gemütlich. Von dort Dr. Baeck vom Mittelstandsverein antelefoniert1. Er lag im Bett, fühlte sich nicht wohl. [...] Der Vortrag war sehr gut besucht; die erste Veranstaltung in der Saison, und überhaupt sieht es ja so aus, als ob die Menschen dieses Jahr das Bedürfnis hätten, besonders zueinander zu halten. [...] Präsident [der Silesia-Loge] ist jetzt Dr. Licht, Facharzt für innere Krankheiten, 32 Jahre, dem jetzt die Kassen entzogen sind. Er brachte mich im Auto nach der Bahn. Nach der Kaffeetafel mit meinen näheren Bekannten unterhalten: Frank und Frau, mit denen ich seiner Zeit in Trautenau war. Dr. Scheyer, seine Frau konnte wegen Erkrankung eines Kindes nicht kommen! Den jungen Rabbiner Schwarz kennengelernt, den Nachfolger von Dr. Pentz; er machte einen netten, wenn auch unbedeutenden Eindruck. [...] In der Bahn zeigte mir eine ältere Dame, die ein Vierteljahr in Nürnberg war, die Bilder vom Parteitag und von „unserem Heines"! Das lange ersehnte Honorar kam von der Dantegesellschaft, fünfzig Mark, natürlich nicht viel für die große Arbeit, aber man ist natürlich glücklich mit allem, was kommt. Ich konnte an Wölfl 25 Mark schicken; was wir aus den Vorträgen einnehmen, spare ich auf Trudis Sondersparbuch für die schlechteren Monate. [...] Auf der Bibliothek Koebner gesprochen. Er nimmt an, daß er gar nichts erhalten wird. [...] Ernst muß heute noch eine Stunde Klassenarrest absitzen, ausgerechnet vor Rausch haschanah. So geht 5693 zu Ende, ein für die deutschen Juden schweres Jahr, vielleicht das schwerste Jahr seit Jahrhunderten, aber auch ein Jahr innerer Zusammenverfassung und Zusammenschweißung. 22. September 1933 Breslau, Freitag abend. Die Feiertage sind nun zu Ende, ich war im Mozartsaal beten, am ersten Abend und gestern morgen hat Haipersohn wenig zu Herzen gehend gesprochen, dafür heute Davidsohn sehr gut. Aber das ist ja nicht die Hauptsache, das Wesentlichste ist, daß man in sich geht und das habe ich getan. Am ersten Abend war außer unserem ständigen Gast Gabriel Widawski niemand zu Tisch, am zweiten Abend Bernhard, am ersten Nachmittag kam die Schwester von Gabriel Widawski zur Vesper, ich konnte nicht lange bleiben; ich war um sechs Uhr zu Marcus bestellt, der mir vom Besuche beim italienischen Konsul berichtet hat. Er hat einen Weg gezeigt, auf dem ein zeitweiliger Aufenthalt in Italien vielleicht möglich wäre; ich will morgen einmal zu dem Konsul gehen und noch einiges mit ihm besprechen! Was aus der Sache wird, ist ja noch sehr fraglich; denn wenn es die Italiener etwas kosten soll, dann wollen sie natür1
Vgl. Tgb. vom 16. Januar 1933.
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lieh nicht. Der Konsul riet, man solle die deutsche Regierung durch einen Anwalt fragen lassen, ob sie mir den Gehalt ins Ausland überweisen würde; das heißt einen Teil der Pension. Die ganze Unterhaltung hat mich sehr aufgeregt, denn ich sehe doch immer wieder, wie sehr ich mit Deutschland verwurzelt bin und daß ich für dauernd am liebsten hier bleiben möchte, und ich glaube ja auch, daß es in der Praxis darauf hinauslaufen wird, daß man sich darauf einrichtet, hier von seiner Pension zu leben. — Nous verrons! Aber ich leide doch sehr unter diesen Gesprächen und Plänen! Manchmal fühlt man sich doch nicht jung genug, um immer wieder neu anzufangen. [...] 23. September 1933 Breslau, Sonnabend. Heute war ein reichlich ausgefüllter Tag. [...] Fräulein Hirsch vom Geschäft Salome gesprochen, eine frühere Volkshochschülerin, sie hat sich mit einem Arier verlobt, dann Henny Ucko, die mich ein Stück begleitet hat; sie geht jetzt stempeln; sie hat mir mancherlei Interessantes erzählt, unter anderem von Dittmann, der jetzt die Abwicklung bei der Volkswacht leitet, er ist wohl jetzt auf die andere Seite gegangen; f...]. Zum italienischen Konsulat gegangen. Mit dem Konsul längere Zeit gesprochen, ihm die italienische Ausgabe meines Hohenstaufenbuches geschenkt; er wird meinem Verleger noch einmal schriftlich bestätigen, welches Interesse die italienische Regierung an der Fortführung meiner Arbeiten nimmt. [...] Dann nach Hause, unterwegs noch meinen ehemaligen Kollegen Kober gesprochen, alle solchen Gespräche strengen mich immer sehr an! [...] Nach Tisch [...] hatte sich Fräulein Elisabeth Kupka angemeldet, die viel mit jüdischer Familienforschung zu tun hat Ich soll ihr bei der Entzifferung eines Stammbaumes behilflich sein. Natürlich auch über die Angelegenheit Gabriel gesprochen. Etwas aufregend; er tut mit sehr leid, weil er sich noch gar nicht in seine Lage hineinfinden kann. [...] 24. September 1933 Breslau, Sonntag. [...] Das Hauptinteresse dieser Tage konzentriert sich auf den Reichstagsbrandprozeß; man ist sehr gespannt, was dabei herauskommen wird! Für uns Breslauer Juden ist die Angelegenheit im Leinenhaus Bielschowsky wieder sehr unangenehm; weil dadurch die Stimmung der Bevölkerung natürlich gegen uns eingenommen wird. Hoffentlich ergibt die Untersuchung klar und deutlich, wer eigentlich die Wände beschmiert hat. [...] Noch etwas im Südpark abseits gesessen; auf dem Rückweg traf ich die Familie Centawer. Indirekt hatte ich dadurch eine Nachricht von Wölfl, Ernst Centawer hat geschrieben, daß Wölfl viel zu tun hat und viel Stunden gibt. Unser Ernst ist meist den ganzen Tag unterwegs, ich lasse ihn ruhig, mag er seine Jugend genießen!
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26. September 1933 Breslau, Dienstag. Gestern [...] zur Post - dort waren die internationalen Antwortscheine ausverkauft, ich brauche einen für einen Brief nach Palästina. Dieser Ausverkauf [ist] auch ein Interessantes Symptom unserer Zeit; [...] große Teile der Chronik des Romuald von Salerno gelesen. Dann hatte sich Professor Guido Kisch aus Halle bei mir angemeldet; ein Besuch, auf den ich mich sehr gefreut hatte. Obwohl er schon sehr lange in Deutschland ist, so ist er doch in seiner ganzen Art, sich zu geben, der typische Prager Jude, sehr liebenswürdig. Er ist nun auch schon seit einem halben Jahr beurlaubt, aber seitdem, wie er mir sagte, im Gegensatz zu mir nicht in der Lage, etwas Ordentliches zu arbeiten, so haben ihn die Dinge mitgenommen. Er hatte überhaupt nicht mit seiner Beurlaubung gerechnet. Er hat nun auch Menschenkenntnis gewonnen! Herr Aubin' sagte ihm, die Juden seien nun schon zu tief in die deutsche Rechtsgeschichte eingedrungen. Kisch antwortete ihm, warum es Jahrhunderte dauern mußte, bis [erst zu] der Stunde [in der der Jude] Kisch eine Ausgabe der Kulmer Handfeste machte2. Auch er [Kisch] sieht jetzt ein, nachdem er etwas Ahnliches am eigenen Leibe erfahren hatte, daß die Besprechung meines „Hermann von Salza" durch Maschke keinen objektiven Gesichtspunkten entsprach3. Man hat es eben nicht gern, wenn Juden sich mit ostpreußischer Geschichte befassen. Kisch sagte mir manches Angenehme über meine Arbeiten; man freut sich, wenn man dies aus berufenem Munde hört. Wir sprachen dann noch über die Möglichkeit einer Neuorganisation deutsch-jüdischer Geschichtsforschung; aber er sieht da auch große Schwierigkeiten, weil die Mittel fehlen, obwohl die Aufgabe gewiß dringlich wäre. Er blieb bis kurz vor ein Uhr, und es war sehr interessant, einmal einen Austausch über soviele Fragen zu pflegen. Er sieht für uns Juden im Gegensatz zu mir die Lage pessimistisch an. [...] 27. September 1933 Breslau, Mittwoch. [...] In der ganzen Auffassung der Lage tritt auch zwischen mir und Trudi eine immer stärker zu Tage tretende Divergenz auf. Ich liebe Deutschland so, daß diese Liebe auch durch alle Unannehmlichkeiten, die wir erleben, nicht erschüttert werden kann. Es ist das Land, dessen Sprache wir reden und dessen gute Tage wir auch miterlebt haben! Man muß loyal genug sein, um sich auch einer Regierung zu fügen, die aus einem ganz anderen Lager kommt. Ich weiß mich da von jedem Haßgefühl frei. Trudi aber will innerlich sicher aus Deutschland heraus, man fühlt sich da einem Druck ausgesetet, der vielleicht im 1
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Ein ebenso komplexes wie in seiner Anpassungsbereitschaft problematisches Bild des fuhrenden Breslauer Historikers Hermann Aubin (1885-1969) bietet die neue kritische Biographie von Eduard MÜHLE: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (Schriften des Bundesarchivs 65), Düsseldorf 2005. Guido KlSCH: Die Kulmer Handfeste. Stuttgart 1931. Cohn bezieht sich hier auf eine Rezension seines „Hermann von Salza" von Ernst MASCHKE, in: Altpreußische Forschungen 8 (1931), Heft 1, Königsberg 1931, S. 141.
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Reden nicht so sehr zum Ausdruck kommt. Ich betreibe nun ja auch den Plan mit Catania weiter, aber am liebsten bliebe ich hier, wo die Wurzeln meiner Kraft sind. [...] Abends, als ich schon im Bette lag, klingelte Frau Dr. Aronade an, meine alten Kattowitzer Bekannten. Sie sind auf der Durchreise in Breslau und wollen heute abend nach Palästina weitergehen. Ich habe mich heute um neun Uhr mit ihnen im Nordhotel verabredet. Jetzt am Vormittag hat sich Studienassessor Otto Döring bei mir angemeldet; er ist immer sehr anhänglich; überhaupt haben mir Menschen der anderen Rasse viel mehr Gutes erwiesen, als oft die eigenen und einen taktvollen Weg gefunden! Der Besuch von Döring war mir ein sehr lieber, es ist ganz interessant, in die Psyche dieser jungen Menschen hineinzuschauen. Er ist nun auch S.A.-Mann, doch von einem schönen und großen Idealismus und auch von einem Verständnis in der Judenfrage erfüllt! Es wäre gut, wenn unsere Leute auch manchmal Gelegenheit zu einer solchen Aussprache hätten. Man lernt da vieles begreifen. Trotzdem glaube ich natürlich, daß bei manchem noch ein Erwachen kommen wird. [...] Am Abend. Ich muß heute noch einmal einschreiben, weil sich viel wichtiges zugetragen hat. - Auf dem Hinweg zu Marcus traf ich Regierungsrat Mandowsky, der ganz plötzlich auf Grund des Paragraph 6 kurz vor Ablauf des Gesetzes (im Interesse des Dienstes) in den Ruhestand versetzt worden ist; es hat ihn ganz überraschend getroffen. - Dann sprach ich Fräulein Dr. Oelsner, die gänzlich ohne Versorgung endassen worden ist, sehr verzweifelt, bisher hat sie noch gar nichts gefunden; dann zu Marcus, der den Brief vom Konsul noch nicht bekommen hat. Wir haben beschlossen, zunächst keinen Anwalt zuzuziehen. Marcus hat in nächster Zeit im Reichspropagandaministerium zu tun. Er ist dort zusammen mit dem großen Münchner Verleger Oldenbourg vorgeladen; man [will] sie fragen, wie man dem Boykott des deutschen wissenschaftlichen Buches im Ausland begegnen könnte. Bei dieser Gelegenheit will er meine Sache zur Sprache bringen und versuchen, einen einjährigen Studienaufenthalt für mich in Catania zu erreichen. Ich sagte ihm, daß mir in absehbarer Zeit selbst ein grundsätzlich ablehnender Bescheid lieber wäre, als Ungewißheit. Dann ins Nordhotel, wo Trudi schon war. Mit Dr. Aronades noch eine schöne Stunde verlebt. Sie auch dann zur Bahn gebracht; es ist keine Kleinigkeit, wenn man so nach Palästina geht; ich rief ihnen noch am Schluß: Chasak zu. Er hat für die deutschen Juden eine sehr pessimistische Auffassung. Er glaubt, daß in einigen Jahren kein deutscher Jude mehr im Wirtschaftsleben tätig sein wird; es wird nur noch Rentner und alte Leute geben. - Manche Einzelheiten hat er mir erzählt. Man hat in Berlin bei den Besitzern öffentlicher Fernsprechstellen gefragt, ob sie Arier sind. Den Nichtariern will man sie entziehen! Ich persönlich glaube allerdings, daß es wieder zu einem friedlichen Zusammenleben kommen wird, wenn die Kampfmaßnahmen abgeklungen sind.
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Aronades gehen nach Haifa und wollen dort eine Kinderpraxis aufmachen, haben aber soviel, daß sie zwei Jahre leben können; da ist nicht viel zu riskieren. Ihre Tochter Steffi ist nun auch schon 17 Jahre, der Junge drüben schon auf eigenen Füßen. Er [das heißt Herr Aronade] ist immerhin schon 53 Jahre! Ihre alte Mutter Friedlaender bleibt hier zurück. [...] Am Nachmittag war noch Frau Dr. Jutkowski und mein früherer Schüler Wolfgang Pax da1. In Militsch sieht es auch traurig aus; nur noch zehn Familien da, die Steuern zahlen. Die Getreidekaufleute sind völlig fertig. Rudi Jutkowski hat in auch noch keine Stellung gefunden2. Junge Juden, die in der Umgegend auf dem Lande arbeiteten, mußten auf Veranlassung der S.A. innerhalb einer Stunde ihre Arbeit aufgeben. Uberall Zusammenbrüche von Existenzen und Ausschaltung. Trotzdem bemühe ich mich, meinen Optimismus aufrechtzuerhalten. 28. September 1933 Breslau, Donnerstag. [...] Um sechs Uhr zur italienischen Stunde gegangen, diesmal ein anderer Cirkel. Zehn Leute, darunter auch Hans Proskauer und Lilli von Lange, ein sehr schönes blondes Mädchen, Gerda Fischer, Hilde Sachs und verschiedene andere; es wurde tüchtig Grammatik getrieben, wobei man allerdings merkt, daß man nichts kann, aber doch viel lernt. Allerdings wird es mir schwer, diese Dinge zu behalten. Aber wenn man wirklich nach Italien gehen sollte, muß man natürlich mehr können, als das durchschnittliche Reisenden-Italienisch. [...] In der Zeitung verfolgt man nun mit brennendem Interesse den Reichstagsbrandprozeß. Aus den Verhandlungen sieht man nicht klar, welche Helfershelfer van der Lübbe gehabt hat. Allein kann er es doch nicht gemacht haben. 29. September 1933 Breslau, Freitag. [...] Trudi ging heute mit Ruth in die Markthalle, um alles Notwendige für drei Tage einzukaufen, damit morgen am Jom Kippur nichts gekauft zu werden braucht. [...] Dann zu Mutter. Ich wollte sie noch einmal vor Jom Kippur besuchen. [...] sie macht mir über Dinge Vorwürfe, für die ich wirklich nichts kann: so hätte ich kein Interesse für Hans Proskauer, oder sie sagte, wenn ich ins Ausland ginge, dann würde ich alle Verpflichtungen los; wo ich mich noch niemals darüber beklagt habe [...]. Ich wollte eigentlich noch auf den Friedhof gehen, wie ich das immer vor Jom Kippur tue, aber es war zu spät geworden. [...] Man kann einmal einen ganzen Tag in sich gehen, hoffentlich kommt da etwas Segen über mich und Frieden in meine Seele! 1
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Über den vielseitig verdienten und gelehrten Wolfgang Pax ( 1 9 1 2 - 1 9 9 3 ) , der nach dem Zweiten Weltkrieg zum Katholizismus konvertierte, in den Franziskanerorden eintrat und seit 1 9 7 3 in Jerusalem lehrte siehe den Artikel von Ottokar M U N D in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 7 ( 1 9 9 4 ) , Sp. 1 0 9 - 1 1 5 . Vgl. auch Willy C O H N , Verwehte Spuren, S. 8f. Ein Nachruf auf Rudolf Jutkowski (1909-1989) findet sich in den Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer in Israel Nr. 54 (1990), S. 18.
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Kollege Schäffer ist auch entlassen worden. Paragraph 6 „Im Interesse des Dienstes". 1. Oktober 1933 Breslau, Sonntag. Nun liegt der Jom Kippur auch wieder einmal hinter mir, dieser Tag der inneren Sammlung. Vorgestern abend mit Ernst und Ruth gegessen. Ernst hat auch ganz gefastet, dann mit beiden Kindern in die Stadt gefahren, es war unendlich voll in der Straßenbahn; die Verwaltung hat natürlich keine Wagen mehr fahren lassen. Lewkowitz hat in allen drei Predigten wundervoll gesprochen, so daß es den Menschen wirklich zu Herzen ging und ihnen in diesen schweren Zeiten wieder Mut machte. Für mich haben diese alten Melodien etwas sehr zu Herzen gehendes, und es schwingt da vieles in meiner Seele mit, was aus verschollenen Tiefen wieder aufwacht. Leider ist ja die Haltung aller beim G'ttesdienst Anwesenden nicht immer erfreulich; es gibt Leute, die sich die ganze Zeit umdrehen oder andere, die überhaupt kein Gebetbuch mitbringen und denen man anmerkt, daß sie überhaupt keine innere Konzentration haben. Aber all das hat mir die innere Freude und Erhebung nicht nehmen können. Man hat ja auch so vieles durchzudenken, gerade diesmal, wo alles noch so ungewiß vor uns liegt. [...] Gestern während des Minchahgebctes war ich eine halbe Stunde in der Luft. Ich traf Werner Kaim, der jetzt mit seinem Bruder Peter in eine englische Pension geschickt wird. Ich glaube aber, daß aus diesem Jungen auch drüben nichts werden wird. Steffi Kaim hat leider zuviel Geld. Dann mit Fräulein Dr. Stanner ein Stückchen gegangen. Im Neihhgebet drängen sich noch einmal alle Wünsche zusammen, und man möchte die Vereinigung mit seinem G'tte ganz vollziehen. Um 6 Uhr 15 war es zu Ende; das Fasten hat mir diesmal gar keine Mühe gemacht. [...] Arthur Wiener geht heute nach Palästina. Trudi hat ihn gestern abend noch am Telefon gesprochen. So werden es weniger aus dem kleinen Kreise uns nahe stehender Menschen. Etwas für mich gearbeitet, Trudi schrieb inzwischen die Übersetzung einer polnischen Besprechung meines Hermanns von Salza ab, sodann mit ihr und Susanne spazieren gegangen. Den Zug vom heutigen Erntedankfest getroffen. Wenn die Fahnen vorbeigetragen werden, muß man ja jetzt immer die Hand hochheben! Dann auf dem Friedhof Lohestraße, wo ich schon lange nicht gewesen war. Es sind viele, die man besucht und an die man einige lebendige Erinnerung hat Trudi wartete mit Susanne im Vorhof. [...] 2. Oktober 1933 Breslau, Montag. [...] Im städtischen Bürohaus an der Theaterstraße [...] benutzte ich die Gelegenheit, mich nach meinem Ruhegehalt zu erkundigen. Ich bekomme mit den Kinderzulagen 366,15, davon gehen dann noch verschiedene Abzüge ab; zum Leben, so wie wir es gewohnt sind, ist es nicht viel. - Immerhin weiß ich nun, woran ich bin; dann zu Wertheim, von wo ich Trudi das Ergebnis telefonierte, ein Tagebuch dort gekauft; zu Hainauer; dorthin hatte ich ein Buch zu-
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rückzutragen; Ernst Hainauer zeigte mir sehr interessante Familienpapiere meines Großvaters und Urgroßvaters Hainauer. Ich will da auch einmal später an die Abfassung einer Familiengeschichte gehen! [...] In der Bibliothek war nichts für mich da. Mit Bibliotheksrat Schneider einige Augenblicke gesprochen. Er ist sehr entgegenkommend und freundlich. Die Adresse der Evelyne Jamison ermittelt, mit der ich wegen Normannenliteratur in Briefwechsel treten will. [...] Dann zu Mutter! Der Besuch hat mich sehr angestrengt und wie immer sehr aufgeregt. - Einmal redet Mutter, was nach dem Anhören der vielen Radiovorträge natürlich auch nicht anders möglich ist, immerfort von Politik. Man ist gar nicht im Stande, ihr das alles zu widerlegen; dann bin ich auch so empört, wenn sie die Bonmots von Rudolf wiedergibt: ,Jom Kippur war unser bester Geschäftstag oder wir stellen jetzt einen S.A.-Mann ein". Ich glaube kaum, daß die Regierung das von einem jüdischen Geschäft verlangt. [...] Erna hat mich dann noch nach Hause begleitet. Ich habe ihr sehr abgeredet, Hans ins Ausland zu senden. Mutter hat mir übrigens einige wissenschaftliche Besprechungen sehr hübsch abgeschrieben. Auf der Straßenbahn Ludwig Ittmann getroffen, der es seit langen Jahren sehr gut mit mir meint. [...] 3. Oktober 1933 Breslau, Dienstag. Kaluba ist auch auf Grund des Paragraphen 4 entlassen, aber er ist mit seinem Schicksal zufrieden; er bekommt Pension und seine Kriegsrente. Bei ihm ist auch der Hauptgrund zur Endassung, daß er Funktionär der S.P.D. gewesen ist. [...] Um dreiviertel vier kam Teitelbaum, mit dem ich die Hälfte des hebräischen Stammbaumes, den mir Fräulein Kupka gegeben hat, entziffert habe; er kommt deswegen noch einmal wieder. Ei will trotz seines verkümmerten Armes nach Palästina als Chalu^ gehen. [...] Morgen sind wir zehn Jahre verheiratet Wir wollen zur Feier des Tages einen Ausflug nach Zobten machen. Die zehn Jahre sind mir wie ein Tag aber wir sind doch glücklich miteinander geworden, wenn man auch manchmal Differenzen gehabt hat, aber das kommt schließlich in jeder guten Ehe vor. Und durch die schweren Zeiten haben wir uns auch immer mehr aufeinander eingebissen und sind ineinander gewachsen. 5. Oktober 1933 Breslau, Donnerstag. Das war wirklich gestern ein sehr harmonischer und schöner Tag. Ich ging zuerst um halb acht Uhr zur Post, wo ich eine Menge Sachen bekam, unter anderem auch Glückwünsche von den Schwiegereltern zum Hochzeitstage, worüber wir uns sehr gefreut haben. Es denkt ja sonst niemand an diesen Tag. Es kamen auch drei Tafeln Schokolade mit, von denen wir uns eine auf die Reise mitnahmen. Es versprach ein sehr sonniger und schöner Tag zu werden. Um viertel zehn liefen wir vom Bahnhof Zobten los; wir kauften in der Stadt Zobten einige Lebensmittel ein, wir nahmen für die Chalu^im in Silsterwitz zwei
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Pfund Knoblauchwurst mit1. Dann liefen wir zwei Stunden die Chaussee entlang über Striegelmühle, Bankwitz und kamen um halb zwölf in Klein Silsterwitz an. Der Kibbut^ ist im Haus Proskauer untergebracht: ein Mädchen und einige Jungen, einige andere sind bei Bauern auf Außenarbeit, sogar bei Naziführern, wo sie sich sehr wohl fühlen. Die Gegend reißt sich um die jüdische Arbeit, es ist nichts von Gegnerschaft zu merken. [...] Mehrere Zeitungen gelesen! Die Genfer Judendebatte steht im Mittelpunkt. Der englische Vertreter, ein Tory hat gesagt: Die Juden sind die besten Staatsbürger, wenn man sie anständig behandelt; es war, so weit man das aus den Zeitungen sehen kann, eine geschlossene Front gegen den deutschen Standpunkt. Der Reichstagsproceß ist ziemlich auf einem toten Punkt angelangt; es ist gar keine Klarheit, wer die Helfer des van der Lübbe gewesen sind, denn allein kann er es nicht gewesen sein. Es wird wohl ein Geheimnis bleiben. Torgier und die Bulgaren2 werden zweifellos freigesprochen werden. Heute ist Sukkoth, aber ich bin nicht dazugekommen, in die Synagoge zu gehen. Man muß ja jede Gelegenheit wahrnehmen, wo eine Arbeitsmöglichkeit winkt. 6. Oktober 1933 Breslau, Freitag. [...] Die Zeit sehr interessant. Der Reichstagsbrandprozeß, die Genfer Minderheitendebatte. Es wird eine sehr energische Entschließung zur Annahme gelangen, wonach niemand seiner Rasse wegen benachteiligt werden soll! Aber wird das auch durchgeführt werden? Ich erwarte jetzt meinen früheren Schüler Feibusch, der im Begriff steht, nach Ere^ zu gehen. [...] Er geht sehr mutig und tapfer nach Ere^ um dort als Chalu£ zu arbeiten. Er nimmt allerdings Geld als Reserve mit. Inzwischen war Trudi bei Sophie Kaim, die die Beratungsstelle für die ]ngrmfr«;
(unfrei) goraabschnitt von den Kundschaftern gelesen, auch hier ein Stück Wiederholung unserer Geschichte. Selbst an Ere% Israel hatten die Juden etwas auszusetzen, genauso wie heute. Wir haben es gewiß unseren jüdischen Führern nicht leicht gemacht, aber wir sind oft genug auch hart dafür bestraft worden. An meiner Arbeit gefeilt; die Resultate, die dabei herauskommen, bedrücken mich oft sehr, ich wünschte, das wäre ganz anders, als daß die Juden immer Pfandleiher und dergleichen gewesen wären, aber wenn man jetzt sieht, wie sie bei ihren Wanderungen immer die gleichen Fehler gemacht haben und machen, dann ist es schlimm. In einer Notiz in der Rundschau las ich von der ungeheueren Anzahl der Ostjuden, die sich in Paris angesammelt haben, ohne sich über das Land zu verteilen. Gegen nachmittag mit Trudi spazierengegangen und am Hardenberghügel gesessen. In der Schlesischen Sonntagspost erscheint seit drei Wochen eine Artikelserie „Judengeißel über Schlesien"1, in der gestrigen Nummer fand ich auch ein Citat aus einer Arbeit von mir, natürlich ohne Namensnennung. Ich würde gern mit dem Verfasser über seine Forschungsmethoden sprechen, aber er hat seinen Namen nicht genannt! [...] 7. Juni 1937 Breslau, Montag. Gestern abend mit Trudi bis zum Rosengarten gegangen; es war angenehm kühl. Im Bett mit Trudi über meine innere Einsamkeit unterhalten und sie gebeten, ein wenig mehr an meinem geistigen Leben teilzunehmen. Sie kann es jetzt schwer, bei der großen Belastung, die auf ihr liegt. 8. Juni 1937 Breslau, Dienstag. [...] Zu Mittag war mein früherer Schüler Fritz Levy da, jetzt in Oppeln lebend; er hat in den letzten Jahren viel erlebt, und nun liquidieren sie das väterliche Geschäft, und er wird sehen müssen, daß er vor dem 15. 7. Oberschlesien verläßt; das ist der Tag, wo die Schutzbestimmungen für die oberschlesischen Juden aufhören2. Fritz Levy ist völlig direktionslos, ein so hochbegabter Mensch, der heute erklärt, kein Buch mehr lesen zu können; er war einer meiner begabtesten Schüler; heute ist er 36 Jahre alt und weiß nicht, was er werden soll; er will nach irgendeinem südamerikanischen Staate auswandern. Für Palästina hat er nichts übrig. Der Besuch hat mich und Trudi ziemlich aufgeregt. Nach Tisch kaum geschlafen. Zwei Stunden im Seminar unterrichtet, eine große Freude. Ich sehe auch, wie die jungen Leute Fortschritte machen. Einer meiner Hörer, Herr Hecht, der gleichzeitig an der Prager Deutschen Universi1 2
Schlesische Sonntagspost. Die NS-Wochenzeitung für Ostdeutschland. Breslau 1933-1942. Bis zum 15. Juli 1937 galt für die oberschlesischen Juden der Minderheitenschutz des Genfer Abkommens von 1922.
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tat immatrikuliert ist, um dort den Doktor zu machen, begleitete mich nach Hause; er fragte mich wegen seiner Doktorarbeit um Rat und erzählte mir gleichzeitig von den Zuständen am Seminar, den Kämpfen zwischen Hörerschaft, Dozentenkollegium und Kuratorium. Besonders das letztere scheint die jungen Leute unwürdig zu behandeln, so daß vielleicht noch ein Teil weggehen wird. Ich sagte Herrn Hecht, daß ich ja nur einen Lehrauftrag hätte, keinem der Gremien angehörte und infolgedessen nichts tun könnte. Offenbar stellt sich das Dozentenkollegium bedingungslos vor das Kuratorium (Brotkorb). Die jungen Leute tun mir leid. [...] 9. Juni 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Nach Tisch [...] diktiert; die Arbeit nach Jerusalem ist nun abgegangen1, ebenso ein Stimmungsartikel über Giwath Brenner für die Bayerische Gemeindezeitung2. [...] 10. Juni 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Sehr unangenehme Aussprache mit Trudi; sie will durchaus nicht einsehen, warum mir an einer geistigen Gemeinsamkeit mit ihr gelegen ist. Es ging um die Frage des Einlegens! Ich glaube, daß diese Aussprache die letzte dieser Art sein muß, man kommt nicht weiter, und man macht sich restlos kaputt dabei! [...] Ärger mit dem Kindermädchen Else Eisenberg, die ihre Arbeit niederlegte und wegging, sie war sehr unverschämt geworden, nun wird im Haushalt alles noch komplizierter sein! [...] 11. Juni 1937 Breslau, Freitag. Gestern früh entschloß ich mich wieder einmal nach sehr langer, fast vierteljährlicher Pause zu Dr. Schäffer zu gehen. [...] Er fand den Zustand gegenüber dem vor zwei Jahren viel besser. Ich muß damit zufrieden sein, wenn auch subjektiv es noch genug zu klagen gibt. [...] Auf dem Nachhauseweg einen früheren Schüler Ißner (Itzig) getroffen, den ich vor Jahren bei Reichelt untergebracht hatte und der nun abgebaut ist; er will nach Amerika gehen! Ich fragte ihn, warum nicht nach Palästina! Man bekam die üblichen Antworten! [...] 12. Juni 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Den größten Teil der Post erledige ich mit der Hand; zwei Briefe hat mir Trudi mit der Maschine geschrieben. Sie hat ja jetzt sehr
Offenbar der für die Zeitschrift „Zion" bestimmte Beitrag. Er wurde, wie Cohn am 26. August 1937 in seinem Tagebuch notiert, nicht zur Veröffentlichung angenommen. Willy COHN: Vom Leben der Arbeit in Erez-Israel. Ein Stimmungsbild aus Giwath Brenner; in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 13 (1937), Nr.13, S. 249-250.
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viel zu tun, da sie sich fast alles allein machen muß! Wir sprechen uns ziemlich wenig. [...] Am Abend in der Synagoge. [...] Was so alles geschieht; da ist der Sohn von Rabbiner Lewin ausgewandert und hat den alten Vater veranlaßt, ihm den größten Teil seiner Bücher mitzugeben, wahrscheinlich, um sie draußen zu verkloppen! Dem alten Mann ist der Abschied von dem, was er in einem langen Leben aufgebaut hat, sehr schwer geworden. Angst, daß die Bücher einmal beschlagnahmt werden könnten, völlig unverständlich. [...] Nach dem Abendbrot mit Trudi auf dem Balkon! Über mancherlei gesprochen, aber doch nicht zu einer völligen Übereinstimmung unserer Standpunkte gekommen. So etwas ist auch schwer möglich. [...] 15. Juni 1937 Breslau Dienstag. [...] Sitzung des Gemeindeblattausschusses in der Gemeinde. - Nachdem die Breslauer Zeitung und die Jüdische Zeitung endgültig eingegangen sind1, will man versuchen, ob die wöchentliche Herausgabe des Gemeindeblattes genehmigt wird2. Wegen der Familienanzeigen ist das eine dringende Notwendigkeit. [...] Heute nachmittag muß ich nach Militsch fahren. Ich will über Palästina erzählen! Vortrag vom Provinzialverband aus! [...] 16. Juni 1937 Breslau, Mittwoch. [...] In Militsch holte mich einer der Söhne von Ehmann von der Bahn. [...] Mit Herrn Ehmann auf den guten Ort, den Friedhof, an die Ruhestätte von Dr. Jutkowski, und ich ließ noch einmal diese mir so teure Gestalt an meinen Augen vorüberziehen. Er war ein stiller, ruhiger, bescheidener Mensch. Wir sprachen auf dem Rückweg viel von seiner Familie. Der Weg ging hinaus durch das duftende Land. Bei Ehmanns Abendbrot, dann von dreiviertel acht bis neun in der Synagoge gesprochen. Ich glaube, schlicht und einfach und zu Herzen gehend, man merkt es ja an den Augen der Menschen. [...] 18. Juni 1937 Breslau, Freitag. Gestern habe ich früh von acht bis zehn zwei Stunden Fräulein Freund diktiert, einen Aufsatz über Jerusalem, von dem ich das Gefühl hatte, daß er mir recht gut gelungen ist und einen kleineren über Kraskau, außerdem eine Bücherbesprechung. [...] Am Nachmittag drei Stunden im Seminar gewesen; erst eine Stunde Übungen über die Urkunde Heinrichs IV., dann
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Die Jüdische Zeitung mußte Ende April 1937, die Breslauer Zeitung Ende Mai 1937 ihr Erscheinen einstellen. Das Breslauer Jüdische Gemeindeblatt erschien von 1924 bis November 1938. Vgl. Bernhard B R I I X I N G : Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Stuttgart 1972, S. 43.
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bei Uhu hebräisch, zum Teil den punktierten Haaretz1 gelesen, später eine Stunde Deutsch: „Die Hamburgische Dramaturgie" vorbereitet. Ein Hörer kam an mich heran, ob ich noch privatim mit einigen von ihnen einen Literaturkursus machen würde. [...] 19. Juni 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Schwere seelische Depression, die man nur langsam überwindet. [...] Vormittags bin ich nicht fort gewesen, habe still und ruhig für mich gearbeitet und Probleme der jüdischen Geschichte durchdacht. Viel gelegen! [...] Auf Trudi gewartet, die erst ziemlich spät nachkam; ich bin oft sehr traurig, daß sie so wenig Zeit für mich hat; aber das mag schwer zu ändern sein. Von der geistigen Kameradschaft ist da nicht viel übrig. [...] Ich kaufe mir jetzt jeden Sonnabend die Schlesische Sonntagspost wegen einer Artikelserie über die Geschichte der „Juden in Schlesien", in der auch meine Arbeiten benutzt sind. Es ist das alles natürlich sehr antisemitisch, aber man wünschte vor allem, daß man die Dinge widerlegen könnte. Aber daran glaube ich nicht mehr recht; man muß sich ja beim Durchforschen der jüdischen Geschichte oft davon überzeugen, wie skrupellos man oft im Verdienen war und wie man sich kaum an die Vorschriften der Religion hielt. Von der jüdischen Forschung ist oft übersehen worden, daß es weniger auf die Satzungen von Thora und Talmud ankam, sondern auf das, was die Praxis aus den Dingen gemacht hat. Man hat den Juden in guten Zeiten schwer Maßhalten im Verdienen predigen können. Den alten Professor Weis getroffen und ihm aus Palästina erzählt; so ein evangelischer Religionslehrer hat nur eine Vorstellung vom biblischen Palästina, gar nicht von dem gegenwärtigen. Er konnte sich auch nicht vorstellen, daß die Sprache der Bibel zu einem neuen Leben erwacht ist. [...] 21. Juni 1937 Breslau, Montag. Gestern [...] mit Trudi im Regen spazierengegangen; es war sehr schön, und wir sind uns auch wieder ein Stück näher gekommen. [...] Ich habe mit Trudi allein gevespert, und dann haben wir uns über Verschiedenes ausgesprochen. Trudi hat auch meine beiden palästinensischen Skizzen gelesen, die ich vor kurzem geschrieben habe. Sie haben ihr gut gefallen! Trudi liest jetzt auch zu meiner Freude Bielschowskys unsterbliche Goethebiographie2. Ich mache ihr auch immer wieder klar, daß man trotz aller körperlichen Arbeit den Geist keinesfalls einrosten lassen darf. [...] Gestern nachmittag viel in alten Mappen geblättert! Was hat man nicht schon alles geschrieben! Haarez: Seit 1919 in Tel Aviv erscheinende Zeitung demokratisch-zionistischer Ausrichtung. Albert BlELSCHOWSKY: Goethe, sein Leben und seine Werke, 2 Bde., erstmals erschienen München 1896.
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22. Juni 1937 Breslau, Dienstag. [...] Abends [...] um elf Uhr viel Musik und Lärm auf der Straße Hitlerjugend kam vom Johannisfeuer zurück. Gestern brachten die Zeitungen den Sturz der Regierung Blum; wenn auf der einen Seite es vielleicht gut ist, daß kein Jude mehr an der Spitze des französischen Staates steht, so weiß man doch nicht, inwieweit dieser Rücktritt ein Stück auf dem Wege zum Faschismus darstellt. Auch an Persönliches denkt man natürlich, wie an Wölfls Zukunft. [...] 23. Juni 1937 Breslau, Mittwoch. Gestern früh erst für mich gearbeitet; ich tue im Augenblick etwas für das Buch: „Sizilien im Urteil seiner Besucher" und habe gerade Platen vor1. [...] 24. Juni 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Zeitung gelesen; es sah gestern bedrohlich in der Welt aus, England und Frankreich haben sich geweigert, mit Deutschland eine Flottendemonstration vor Valencia zu machen, und Deutschland hat seine eigene Handlungsfreiheit wieder. Was inzwischen geschehen sein mag, weiß ich nicht. Ich nehme an, daß Deutschland den General Franco nun offen unterstützen wird. [...] Thiem geht auf Urlaub, zum Teil mit „Kraft durch Freude" an den Rhein. Seminar, eine Stunde Kolleg über Friedrich Barbarossa; eine Reihe fehlten, weil eine Führung durchs Krankenhaus war, nachher noch eine Geschichtsstunde und Zeitgeschichte an Ruth Falk. [...] 25. Juni 1937 Breslau, Freitag. [...] Fräulein Freund diktiert, teils Korrespondenz, teils einige Feuilletons über die Reise, nachschaffend erlebe ich das alles noch einmal. [...] Ich lese jetzt sehr gern Kriegsbücher, vielleicht, daß nach über 20 Jahren das alles ein anderes Gesicht bekommt und daß man die Männer beneidet um ihre Fähigkeit, sich für etwas einzusetzen, oder daß sie es schon geschafft haben; aber das letztere sollte man nicht tun. [...] Ins Seminar gefahren; eine Stunde lateinische Übungen abgehalten; es ist mir immer die liebste Stunde der Woche. [...] Später mit Trudi auf dem Balkon gesessen; Differenz; ihr Bruder Ernst Rothmann wird vielleicht nun doch noch nach Brasilien gehen und sie will ihn mit der Frau einladen! Ich habe für die beiden nichts übrig; sie haben mich genug geärgert! [...]
August Graf von Platen (1796-1835) berichtete in seinen Tagebüchern von seinen Reisen durch Sizilien, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte.
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26. Juni 1937 Breslau, Sonnabend. [...] In die Synagoge gegangen; ich war schon 14 Tage nicht da, und das fehlt mir immer sehr. [...] Zu meinem Bedauern hörte ich von Mutter, daß der alte, von mir sehr geschätzte Sanitätsrat Ittmann an einem Blasenkrebs elend der Auflösung entgegensieht. Sehr traurig; wir haben 1910 in Rom schöne Wochen miteinander verlebt1. [...] Heute ist der Sabbath Balah, wieviel gibt einem der Absatz über Hileam zum Nachdenken! [...] Am Nachmittag war mein früherer Schüler, Herr Stein, da, den ich vor einigen Monaten in dem Bersdakschen Hotel Palga in Tel Aviv als Hotelportier gesprochen habe. Ich bat ihn, in der Frage unserer Alijah Herrn Landbank in Tel Aviv etwas auszurichten, warum wir keinen Bescheid bekommen. [...] Mit Trudi etwas spazierengegangen; ich werbe sehr um ihre Seele, ohne daß sie mich immer versteht. Es mag nicht immer leicht mit mir sein. [...] 27. Juni 1937 Breslau, Sonntag. Am schlimmsten sind jetzt bei mir die Gemütsdepressionen; man wird schwer mit ihnen fertig. 28. Juni 1937 Breslau, Montag. [...] Im Laufe des Vormittags fuhr ich mit Trudi und Susanne nach der Spielwiese in Leerbeutel. Beim Umsteigen am Ring konnte man so die Schönheiten unseres alten Rathauses bewundern. Auch hat der Ring dadurch sehr gewonnen, daß nun so viele störende Lichtreklamen und dergleichen entfernt worden sind. [...] Ich ging zeitweise allein im alten Teil des Parkes spazieren und stand sinnend an dem schönen Eichendorffdenkmal, das den Dichter so recht als Sänger der Natur zeigt! [...] Ruth war den ganzen Vormittag im Bad des jüdischen Schwimmvereins! [...] 29. Juni 1937 Breslau, Dienstag, f...] Am Nachmittag früh im Seminar gewesen, zwei, so glaube ich, anständige Vorlesungen dort gehalten, mit Lewkowitz und Heinemann über meine Ankündigungen gesprochen. Sitzung des Redaktionsausschusses des Gemeindeblattes, die rasch zu Ende war. [...] Außenpolitisch scheint es im Augenblick ruhiger geworden zu sein, immerhin kann das Pulverfaß jeden Tag auffliegen, wenn in Spanien einem deutschen Schiff etwas geschieht. [...] 2. Juli 1937 Breslau, Freitag. [...] Auf der Stadtbibliothek gearbeitet; ich habe mich gefreut, daß mein Hermann von Salza in einem neuen Aufsatz von Krollmann in den
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Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 149.
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Altpreußischen Forschungen öfters erwähnt worden ist1. - Am Nachmittag drei Stunden im Seminar gewesen, eine Stunde lateinische Übungen, dann war ich oben in der Bibliothek um zu arbeiten. [...] Noch mit Professor Kantorowicz2 von der Mittelstelle für Erwachsenenbildung aus Frankfurt a.M. telefoniert, vielleicht daß ich ihn noch heute sehe. Ruth ist frühzeitig auf eine 14tägige Fahrt nach Mittelsteine gegangen. [...] Man muß die Kinder in ihrem eigenen Interesse solche Fahrten mitmachen lassen! [...] 3. Juli 1937 Breslau, Sonnabend. Gestern [...] kam ein sehr hübscher Brief von Ernst; er war in Tel Aviv und interessiert sich sehr für die Erledigung unserer Angelegenheit. Wer weiß, ob es noch jemals dazu kommen wird und ob ich es gesundheitlich werde durchstehen können. [...] Am Nachmittag hatte ich noch eine Vorlesung im Jüdisch-Theologischen Seminar zu geben, ich habe begonnen, den Laokoon zu erklären. [...] Synagoge, abends noch mit Trudi etwas am Sauerbrunnen, vorher Feilchenfeld getroffen und ihn noch nach Hause begleitet; er hat vor kurzem sein drittes Kind bekommen! Am Vormittag will ich nach Glogau fahren, wo ich am Abend über meine Palästinareise zu sprechen habe; man hat mich sehr nett eingeladen! [...] 3. Juli 1937 Glogau Am Kriegerdenkmal 8 bei Herrn Paul Cohn. [...] Las interessante zionistische Literatur, darunter die Zeitschrift Palästina3. Man ist jetzt natürlich sehr gespannt, was der Bericht der königlichen Kommission bringen wird. Bei Tisch hier in der Familie Cohn war es sehr angenehm, liebe Menschen, herzlich, wie ich es am liebsten habe. Um halb vier fuhren wir [in] seinem Auto heraus nach dem Dorf Gurkau, daß jetzt Bismarckhöhe heißt4; unzählige schlesische Orte sind umgenannt worden. Schöne Fahrt durch das reifende Land, das ich sehr liebe. An einer Weggabelung kommt man an der Torstensohneiche vorbei, dort soll Torstensohn5 im 30jährigen Kriege einmal eine Besprechung abgehalten haben. Oben auf der Bismarckhöhe steht ein großer Turm, von dem man weit ins Land sehen kann, daneben ein kleines jüdisches Restaurant, in dem wir Einkehr hiel1
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Christian KROLLMANN: Der Deutsche Orden und die Stedinger; in: Altpreußische Forschungen 14 (1937), Heft 1, S. 1-13; darin mehrfach Cohns „Hermann von Salza" erwähnt. Willy Cohn kannte den Frankfurter Historiker Ernst Kantorowicz (1895-1963) persönlich, denn sie hatten gleiche historische Interessen. Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 463, 548. Kantorowicz emigrierte 1938 über England in die USA. Palästina. Zeitschrift für den Aufbau Palästinas; erschien von 1902 bis 1938 in Wien. Offiziell erfolgte die Umbenennung erst am 25. Oktober 1937. Lennart Torstenson (1603-1651), Schwedischer Feldherr, führte zwischen 1641 und 1646 den Oberbefehl über das schwedische Heer in Deutschland.
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ten. Herrlich duftende Linden. [...] Das Restaurant ist ziemlich verwahrlost. Einige Jungens sind auf Hachscharah, ein 33jähriger Herr Lippmann aus Breslau, ein früherer Schüler aus der Zeit der Volkshochschule her, bereitet sich auf Argentinien vor. [...] Zum Vortrag, der wieder in den Bachschen Festsälen stattfand, einer großen Privatwohnung. - Ich sprach über die Reise eine Stunde und eine halbe; Herr Cohn leitete. Der Polizeibeamte blieb nur eine halbe Stunde. [...] 5. Juli 1937 Breslau, Montag. Die gestrige Rückfahrt war sehr angenehm! [...] Die letzte Viertelstunde habe ich mich mit einem Bauern aus der Gegend von Wohlau unterhalten, der nach Breslau fuhr; er sprach von den Ernteaussichten; die starke Hitze im Frühjahr hat viel verbrannt, der Kalkstickstoff sei nur gut, wenn es regnet; so würden besonders die Futtermittel knapp und das Vieh nicht fett werden. [...] Mit Frau Witt, der Lehrerin an der jüdischen Volksschule, auf der Wallstraße unterhalten; ihr von Palästina erzählt. Sie wunderte sich auch, daß ich hier über meine Reise noch nicht gesprochen habe; aber man will das offenbar nicht, wahrscheinlich verhindern es Frau Preuß und Herr Lux. Heute vormittag einiges an meiner Arbeit gemacht; ich behandele jetzt ein Teilgebiet, nämlich die Judenurkunden der schlesischen Piasten. [...] Zu Köbner gefahren, wo ich einen Herder erstand; es ist einer der Klassiker, der mir noch fehlt; ich gab einen doppelten Grünen Heinrich von Gottfried Keller in Zahlung. Es ist immer so, die Bücher, die man verkaufen will, werden nicht gesucht, die sind immer gesucht, die man braucht! [...] 6. Juli 1937 Breslau, Dienstag. Gestern am Nachmittag hatte sich Trudi den Arzt kommen lassen. [...] Sie fühlt sich heute schon erheblich wohler. [...] Sehr beeilt, nach Hause zu kommen, weil ich wegen Trudi unruhig war. Abends dann noch etwas allein spazieren gegangen. An solchen Abenden brauchte man jemanden, der einem die Sorgen von der Stirn striche. 7. Juli 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Der Teilungsplan für Palästina ist nun heraus1; ich halte ihn in der vorliegenden Form, soweit man ein erstes Urteil haben kann, nicht für ungünstig! Nach dem Ausbruch des atabischen Aufstandes in Palästina 1936 wurde von der britischen Regierung eine Untersuchungskommission eingesetzt, die nach ihrem Vorsitzenden, Sir Robert Peel, auch Peel-Kommission genannt wurde. Die Kommission sollte die Hintergründe der arabischen und jüdischen Beschwerden gegen die Mandatsregierung untersuchen und Empfehlungen aussprechen. Am 7. Juli 1937 legte die Kommission einen Bericht vor, der die Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorschlug.
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Trudi schleppt sich ziemlich, heute fährt Susannchen nach Obernigk; ich hoffe, daß Trudi es dann leichter haben wird! Ich kann ihr ja leider keine Badereise bieten! Susannchen ist heute mittag nach Obernigk ins Kinderheim im „Sonnenschein" abgedampft. Mandowskys haben sie begleitet und unmittelbar von der Wohnung abgeholt; sie sind die einzigen, die uns etwas beistehen, wenn einmal alles schwerer ist, natürlich auch Frau Alexander, sonst haben wir niemanden. In der Wohnung kommt es mir jetzt sehr einsam vor. [...] 10. Juli 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Zwei Stunden an Ruth Hirschel gegeben; es erscheint einem unfaßbar, daß ein jüdisches Mädchen in diesen Tagen in der hebräischen Stunde nicht nach der Teilung von Ere% Israel fragt, aber ihre Abneigung gegen Palästina ist eine unüberwindbare. Ich wünschte, ich könnte diese Stunde aufgeben! [...] Am Abend noch in der Synagoge gewesen und mit Rabbiner Lewin nach Hause gegangen. Er meinte, wenn ich mich nicht wohl fühlte, sollte ich nicht kommen. Heute früh im Bett den Thoraabschnitt gelesen, der von den Grenzen von Ere% Israel handelt, ein wunderbares Zusammentreffen. Noch bin ich mir nicht klar darüber, ob der von der königlichen Kommission vorgeschlagene Teilungsplan annehmbar ist; immerhin bringt er die Wiederaufrichtung des Judenstaates nach 1900 Jahren. [...] 11. Juli 1937 Breslau, Sonntag. Es war gestern mit Trudi eine unerquickliche Auseinandersetzung, an der ich vielleicht Schuld hatte; es fällt mir sehr schwer, unter Menschen zu gehen, und ich wollte deshalb gestern auch nicht zu Mandowskys mitkommen. [...] Mit Trudi einen größeren Spaziergang unternommen. [...] Unmittelbar hinter dem Bahnhof ist in der Richtung auf Kundschütz eine ganze Kasernenstadt entstanden für die neue Fliegerwaffe, man sieht Schuppen und große Gebäude. Wenn die Menschheit ein Bruchteil von dem, was sie für ihre Vernichtung ausgibt, für den Aufbau ausgeben würde. Aber solange es Menschen geben wird, wird wohl das Wort gelten: si vis pacem, para bellum. Auch an der Rennbahnstraße ist viel vollgebaut worden; man sah auch die Abzweigung der Zubringerstraße zur Reichsautobahn von der Schweidnitzer Chaussee; das ganze Landschaftsbild im Süden ist verändert und man muß schon weit laufen, wenn man ein reifendes Getreidefeld sehen will. Die Ernte ist in vollem Gange; diesmal verhältnismäßig zeitig! Ich liebe ja sehr die Arbeit des Landmannes. Trudi brachte sich einen hübschen Feldstrauß nach Hause! [...] 12. Juli 1937 Breslau, Montag. Am Nachmittag ordnete ich gestern teilweise meine alten Manuscripte; man muß immer wieder durchsehen, was man geschrieben hat, und überflüssige Manuscripte wegtun, um den Apparat nicht allzugroß an-
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schwellen zu lassen. Immer wenn ich an meine alten Mappen gehe, kommt mir erst zu Bewußtsein, was ich schon alles geschrieben habe. Wie gern hätte man aus dem einen oder anderen einmal einen Band zusammengestellt; aber das wird wohl alles ein Wunsch träum bleiben. [...] 13. Juli 1937 Breslau, Dienstag. Gestern las ich in verschiedenen Absätzen das Buch von Sorna Morgenstern1: Der Sohn des verlorenen Sohnes, ein kluges Buch aus dem Leben der Ostjuden, das uns in seiner religiösen Grundhaltung ein verschlossenes Paradies ist. [...] Sitzung des Redaktionsausschusses der Gemeinde, kurz und harmlos. Nach Hause gefahren, mit Trudi noch eine Zeidang unterhalten; ich finde, daß sich Trudi in diesen Tagen schon, G'tdob, einigermaßen erholt hat. [...] 14. Juli 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Um halb neun kam Kollege Sklarz vom jüdischen Gymnasium, um mich über die Auffassungen der Judengeschichte im Mittelalter zu fragen, im Anschluß an einen Aufsatz, der in der Zeitschrift für neusprachlichen Unterricht erschienen ist. Ich sagte ihm, was ich mir erarbeitet habe. Das Heft kommt mir übrigens jetzt bei meinen Forschungen sehr zu paß. Es war eine interessante Stunde; ich fragte ihn auch wegen Ruths Stand in der Schule, wobei er mich aber beruhigte. [...] Mandowsky war da wegen einer Sache, die noch mit unserer Palästinareise zusammenhängt. [...] Ins Seminar gelaufen; die kleine Lotte Helfgott hat mich begleitet; die letzte Vorlesung für dieses Semester gehalten; Quellenstellen aus Friedrich II. vorgelegt; einer meiner Studenten, Herr Absberg aus Wuppertal, begleitete mich nach Hause, ein 18jähriger Junge, der immens in einem Semester gelernt hat; er erzählte mir, daß er kaum mit den Kenntnissen eines Barmisjvah hierhergekommen ist und nun schon Talmud lernt. [...] 16. Juli 1937 Breslau, Freitag. [...] Erfreuliches und Unerfreuliches. Wölfl hat eine schöne Hauslehrerstelle in der Nähe von Bordeaux am Meer gefunden; dies macht mich sehr glücklich. An Proskauers einen unangenehmen Brief geschrieben. Noch etwas in der Luft gewesen. Trudi getroffen; abends Vortrag im Jüdischen Handwerkerverein in den Räumen von Glogowski. Ich sprach von der Palästinareise unter besonderer Berücksichtigung dessen, was die Handwerker interessieren kann. Es war gut besucht, und der Abend ist mir wohl gut gelungen, mit Feilchenfeld und Sklarz nach Hause gegangen. Auch die Vertreter der
Sorna MORGENSTERN: Der Sohn des verlorenen Sohnes. Berlin 1935. Morgenstern starb 1957 in New York.
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jüdischen Organisationen waren geladen; natürlich hatte die Z.O.G. niemanden geschickt. [...] 16. Juli 1937 Breslau, Freitag. [...] Um 16 Uhr ist Ruth sehr vergnügt und braungebrannt von ihrer Fahrt nach Mittelsteine zurückgekehrt; es ist, G'tdob, alles glatt gegangen, und sie hat die richtige Erholung von ihrer Reise gehabt; sie hat auch schon einiges erzählt, wie sie alle gefuttert haben. In der Grafschaft muß es auch sonst ganz harmonisch gewesen sein, auch das Verhältnis zu den Bewohnern dieser katholischen Gegend war ein gutes. Die bündische Erziehung ist das einzig Wahre, und die Kinder können einem leid tun, denen dieses auf ihrem Lebenswege fehlt! Wir haben gleich mit ihr eine sogenannte „gemütliche Vesper" gemacht, und sie hat tüchtig [r]eingehauen. Nun haben wir wieder ein Kind zu Hause. Ruth ist ja auch für Trudi eine große Erleichterung. Am Nachmittag kam auch der Hausmeister Thiem von seinem Urlaub, den er mit „Kraft und Freude" [sie!] am Rhein verlebt hat, gesund zurück. Man tut doch heute viel dafür, daß auch die arbeitenden Menschen eine Erholung haben und etwas von Deutschland sehen. Er erzählte auch, daß viele Ausländer gegenwärtig am Rhein sind und sich dort behagen! Es bedeutet doch etwas für einen arbeitenden Menschen, einmal etwas von der Welt zu sehen! [...] 18. Juli 1937 Breslau, Sonntag. [...] Eigentlich schon der zehnte, aber da der Tag der Tempelzerstörung diesmal auf den Sabbath fiel, mußte er einen Tag „rutschen". Schön und ergreifend sind die Echas\ Mit Rabbiner Lewin nach Hause gegangen. Über den Fall des Kommerzienrats Schwerin gesprochen, der jetzt getürmt ist1. So kommt jeder dran und ihm zahlt das Schicksal heim, was er an anderen gesündigt hat und besonders an dem Judentum. Sein zweiter Sohn nahm, als ich am Elisabethgymnasium amtierte, am evangelischen Religionsunterricht teil, und wie schwierig hat er sich in der Honorarangelegenheit gezeigt, als ich seinen halbblinden ältesten Sohn unterrichtete, der übrigens ein feiner Mensch gewesen ist. Das Unglück an solchen Fällen ist nur, daß sie dem ganzen Judentum zur Last gelegt werden und andere Unschuldige darunter zu leiden haben! Lewin erzählte mir auch von einem Juden, der wegen Abzahlungswucher zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt worden ist. Wann werden unsere Leute einmal lernen, sich gänzlich von solchen Geschäften fernzuhalten? Ich sagte Lewin, daß meine Forschungen ja letzten Endes dazu dienen, das Judentum von diesem Irrweg des Geldes zu befreien. Ich glaube, es ist nicht zu schaffen! [...]
Schwerin ergriff die Flucht, nachdem sein bedeutendes Vermögen schrittweise „arisiert" wurde. 1938 wurde ihm und seiner Familie die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen.
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20. Juli 1937 Breslau, Dienstag. Gestern nachmittag bekam ich etwas Temperatur, und ich mußte mich frühzeitig ins Bett legen. [...] Allmählich wird man ein Baal mum, ein Herr des Gebrechens! Dazu eigne ich mich wenig; ich mag nicht immer an den Körper denken! [...] 21. Juli 1937 Breslau, Mittwoch. Im Zuge nach Kudowa! [...] Am Abend mit Trudi spazierengegangen. Es war kühl und angenehm. Zu Hause dann leider noch eine Diskussion gehabt, deren Nachwirkungen mich bis um zwölf Uhr nicht schlafen ließen. [...] Doch muß ich ja froh und dankbar sein, daß ich eine sonst so gute Lebenskameradin wie Trudi habe. [...] 21. Juli 1937 Kudowa, Mittwoch. Haus Edelweiß. [...] Bei Lotte mußte ich ziemlich lange warten, wohl zwei Stunden, sie hat sehr zu tun; mit meiner Untersuchung war sie wohl ziemlich zufrieden; sie hat die übliche Kur verordnet. [...] Wieso kommt es, daß ich mit meinem Denken so einsam stehe? Ich sehe viel mehr als so mancher andere aus all den Krisen dieser Zeit etwas Neues erstehen, etwas Gesunderes, gewiß, das mag uns Juden manchmal wehe tun, aber man muß sich seine Objektivität erhalten; vielleicht sollte man sein volles Herz öfters wahren. Privatim bedrückt es mich oft, daß meine Beziehungen zu meiner Frau doch oftmals nicht solche sind, wie ich es wünsche; daß das geistige Ineinanderklingen nicht so ist, wie es sein müßte; aber vielleicht kann man dies in diesen Zeitverhältnissen, wo so viel auf ihr liegt, nicht verlangen; sie muß sich ja auch nach ihrer eigenen Art entwickelt. So werde ich in vielem immer einsamer. [...] 22. Juli 1937 Kudowa, Donnerstag. Gestern abend noch etwas mit Frau Wolff, der Frau des Kantors aus Oels zusammengewesen, eine nette Frau, etwa so alt wie ich; auch ein jüdisches Schicksal; mit 180 Mark den Monat für drei Personen auskommen, ist gewiß keine Kleinigkeit; aber sie ist eine stolze Frau, die eben ohne Hülfe durchzukommen versucht; ich kann das verstehen. [...] Ich kaufte mir heute wieder die Schlesische Sonntagspost wegen des Artikels „Judengeißel über Schlesien". Man wünschte, daß manches nicht wahr wäre, was da drinsteht. Wir selbst müßten stärker die Schädlinge ausmerzen! [...] Heute im Bett habe ich mein vorjähriges Tagebuch nachgelesen; es ist jetzt gerade ein Jahr her, daß der spanische Bürgerkrieg angefangen hat, und noch immer ist kein Ende abzusehen; dafür scheint es im fernen Osten zu brennen. Gemessen am vorigen Jahr ist meine Seelenstimmung besser, man hat sich mit
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manchen Dingen, die nicht zu ändern sind, abgefunden; das ist ein circulus vitiosus. Noch einen kleinen Spaziergang gemacht, der mich aber ziemlich angestrengt hat, um den Hammerteich herum nach Tscherbeney, das jetzt Grenzeck heißt1; an der Bohemia wird jetzt eine große Brücke gebaut, offenbar wegen des stärkeren Autoverkehrs. In dem neuen Teil am Kurpark etwas gesessen! 23. Juli 1937 Freitag. Gestern [...] eine Zeitlang mit Herrn Mendelssohn aus Groß Strehlitz, einem gebürtigen Warschauer Juden, in seinem Zimmer über Ere% Israel unterhalten; er kann sehr gut Hebräisch und liest Scholem Alechem, später mit Ellen Goldberg in der Laube gesessen und über dies und jenes geredet. Sie ist 22 Jahre, ein Tag jünger als Wölfl, mit all den Komplexen dieses Alters und den Hemmungen; ihre Liebe ist nach Brasilien ausgewandert, auch ein jüdisches Schicksal. In der Nacht haben sie am Orte alles mit einem Stempel: „Juden raus" vollgepflastert; nun, mich berührt das wenig; am Brunnen einen früheren Schüler von mir, Kosterlitz, getroffen, der mich auch photographiert hat. [...] Gelesen! Melamed: Psychologie des jüdischen Geistes2. [...] Man macht sich jetzt Sorge um das Schicksal der Palästinadeutschen; nun, es wird ihnen nichts geschehen unter jüdischer Herrschaft. Falsch ist die Behauptung in der Schlesischen Tageszeitung gewiß, daß die Palästinaorange nur von den Palästinadeutschen angebaut ist. Interessiert hat mich besonders die Palästinadebatte im englischen Unterhaus. Der Teilungsplan soll vor den Völkerbund kommen; damit ist er erledigt! 24. Juli 1937 Kudowa, Sonnabend. [...] Wenn man bei Lotte im Wartezimmer sitzt, so kann man Beobachtungen anstellen, die leider nicht immer zu Gunsten unserer Rassegenossen ausfallen. Die arischen Patienten warten ruhig, bis die Reihe an sie kommt, und sind höflich und bescheiden. Einige von unseren Menschen aber benehmen sich gräßlich, beklagen sich ununterbrochen, daß sie nicht drankommen, erzählen sich laut von unseren Krankheiten, kommen sich sehr wichtig vor, gewiß nicht alle; aber wenn in dem verhältnismäßig engen Sprechzimmer nur ein bis zwei solche Leute sind, so ist das schon schlimm. [...] Heute ist Schabbat Nacbamu; gestern abend war ich beim G'ttesdienst bei Salomon, ein Kantor aus Berlin betete schön vor. [...] Im allgemeinen bemühe ich mich, möglichst viel allein zu sein. [...] 1 2
Tscherbeney wurde 1937 in Grenzeck umbenannt. Samuel Max MELAMED: Psychologie des jüdischen Geistes. Zur Völker- und Kulturpsychologie. Berlin 1912.
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26. Juli 1937 Kudowa, Montag. [...] Heute Frau Schulz im „Elisenhof" guten Tag gesagt; dort hatte ich früher öfters gewohnt; ihre älteste Tochter ist jetzt in einem Kloster in Holland vorläufig als Novize; ich fragte die Mutter, ob sie zur Einkleidung fahren würde; sie sagte, sie wolle die Tochter nicht in der Kleidung sehen. Lieber verzichtet sie auf das Wiedersehen mit der Tochter. [...] Als ich dort bei der Lektüre saß, kam der Kollege Czollak mit seiner Frau, die ihre Sommerfrische in der Nähe von Lewin in einem Dörfchen verbringen und extra hierhergelaufen sind, um mich zu besuchen; ich habe mich sehr mit ihnen gefreut und bin auch mit ihnen um den Hammerteich gelaufen. [...] Ich begleitete sie dann noch bis zur Bahn, den schönen Weg über die Lindenbank; man hatte einen prächtigen Blick durch das Glatzer Land, alles in ziemlich düsterer Beleuchtung. [...] Vor dem Abendbrot erzählte mir ein Fräulein Richter, die auch hier im Hause wohnt, ihr Schicksal. 40 Jahre hat sie in Finsterwalde gewohnt und dort ein Geschäft betrieben. Nach dem Umbruch wurde sie boykottiert, mußte das Geschäft verkaufen und zog nach Cottbus! Sie klagte über den früheren Rabbiner Posner, der, wie sie sagt, nur an sich gedacht hat, nur nach Finsterwalde gefahren ist, wenn er besonders Geld bekommen hat. [...] Ich zeichne mir diese Dinge auf, sie sind immer charakteristisch. 27. Juli 1937 Kudowa, Dienstag. [...] Wenn ich liege, lese ich meist hebräisch, und ich freue mich an den bescheidenen Fortschritten, die ich an mir selbst feststellen kann. Gestern abend kam ich mit dem Kutscher, der mich herunterfuhr, ins Gespräch; er kannte Franz noch, dessen guter Namen sein Andenken hier überall ehrt. Besagter Kutscher sagte mir, daß die Bevölkerung von Kudowa diese „Juden raus"-Aktion nicht will. Es seien junge Leute aus dem Orte, die das angemalt haben. Er meinte, man würde die Sache nicht verfolgen! [...] 28. Juli 1937 Kudowa, Mittwoch mittag. [...] Den Dr. Winkler aus Gleiwitz gesprochen, der mir nicht sehr gut gefällt; nun fangen auch die oberschlesischen Juden zu merken an, was gespielt wird. In der Rundschau las ich einen packenden Bericht1 über die Gründung des neuen religiösen Dorfes Kirgatz Zwi (Kalischer). Wie wohldurchdacht ist das jetzt alles! [...] Wenn man so die Zeitung liest, wirkt das alles so gegensätzlich: dort ist alles voll von dem Breslauer Sängerfest, zu dem ein großer Zustrom eingesetzt hat, während bei Madrid eine Riesenschlacht im Nachum GlDAL: Religiöse Jugend siedelt. Die Entstehung einet Siedlung in zwölf Stunden; in: Jüdische Rundschau, 42 (1937), Nr. 58 (23. Juli 1937). Der Artikel berichtet über die Gründung der Siedlung Tirath Zwi (benannt nach Rabbi Zwi Kalischer, dem Gründer der religiös-zionistischen Hapoel-Hamisrachi-Bewegung).
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Gange ist mit Einsatz aller modernen Kampfmittel. Es bringen sich da Menschen um, die gar nichts mit dem spanischen Boden zu tun haben. [...] 29. Juli 1937 Kudowa, Donnerstag. [...] Die Nachmittagspost brachte, G'tdob, sehr erfreuliche Nachrichten; in einem lieben Briefe von Trudi einen sehr verständigen Brief von Ernst voll von zionistischem Bewußtsein und eine gute [Karte] von Wölfl, ferner eine Karte von Ernst Simon. Er will noch einmal an Herrn Landbank wegen unserer Alijah schreiben. Man muß es abwarten, was wird. [...] 30. Juli 1937 Kudowa, Freitag. [...] Im fernen Osten ist ein großer Krieg entbrannt, in Breslau ist das große Sängerfest! Welche Gegensätze, und wie wenig weiß der eine Mensch vom Leid des anderen! 31. Juli 1937 Kudowa, Sonnabend. [...] Auf der Terrasse des Lesesaales gesessen. In China scheint durch einen Wechsel der Gruppe der in Peking (Peiping) Herrschenden eine gewisse Beruhigung eingetreten zu sein. In der Berliner Illustrierten las ich, daß die Valenciaregierung1 Madrid in einen Kriegsschauplatz verwandele, das scheint mir ein Umkehren von Ursache und Wirkung zu sein. [...] Abends noch beim Beten in der „Austria" gewesen, es war ein würdiger G'ttesdienst. Ein jüdischer Reisender, Leiser, aus Berlin, soll den Leuten hier wieder großen Dreck verkauft haben. Manche lernen es nie, und die anderen müssen es büßen. Manche glauben, daß die Bewohner der Grafschaft Glatz eben gut genug sind, alles zu kaufen. Traurig. [...] Vor Tisch noch Dr. Fischer und Frau getroffen, ihre Schwester ist die Frau meines früheren Schülers Feilschuß, der jetzt Milchbauer in Bne Berak bei Tel Aviv [ist]. Diese Fischers wollen nun auch jetzt hinübergehen, er wechselt nun zum zweiten Male den Beruf; erst Jurist, dann in der Schuhfabrik des Schwiegervaters. Als Student war er K.C.er. [...] Heute ist Ellen Goldberg aus unserem Hause nach Berlin abgefahren. Sie ist so ein Berliner Geschöpf gewesen, dem der Trieb zur Höherentwicklung abging. Man hat immer das Gefühl, daß diese Stadt den Juden am schlechtesten bekommt! Es ist so schwer mit unserem Volke, so schwer. Viele wollen gar nicht ihre Erneuerung!
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Valencia war von November 1936 bis Oktober 1937 Sitz der republikanischen Regierung Spaniens, da Madrid zu dieser Zeit von den Franco-Truppen bedrängt wurde.
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1. August 1937 Kudowa, Sonntag. [...] Als ich gerade beim Abendbrot saß, kam überraschenderweise Trudi, ich habe mich sehr mit ihrem Besuche gefreut. [...] 2. August 1937 Kudowa, Montag. [...] Im Kurpark, und Trudi hat die wirklich einzig schönen Anlagen bewundert; wir haben uns gut und ruhig unterhalten, wenn das Herz einigermaßen ruhig schlägt, ist alles viel leichter. [...] Trudi ist von Lotte untersucht worden. Die Gallensache, an der sie in Breslau erkrankt war, ist noch nicht abgeklungen; ich fand sie auch nicht gut aussehend; sie hat ein so kleines Gesichtel bekommen. Auf ihrer Gesundheit steht jetzt viel; gebe G'tt, daß sie bald immer auf dem Posten ist. [...] Wir gingen noch etwas weiter über die Glatzer Rose hinaus ein Stückchen den Weg nach Groß Georgsdorf und sprachen über unsere Zukunft. Wir redeten über alle die Schwierigkeiten, die eine Alijah mit sich brächte, wenn man eben für das Land weder eine gute Gesundheit, noch eine Menge Geld, noch einen passenden Beruf mitbringt! Auch wenn Landbank eine positive Antwort schicken sollte, bleiben genug Bedenken. [...] Ich habe Trudi zum Omnibus begleitet. Wenn man einem so nahesteht, dann tut es einem um jedes verletzende Wort leid, das man jemals gesprochen hat, und doch passiert es einem immer wieder. [...] Trudi ist wirklich eine aufopfernde Frau, vielleicht bin [ich] ihrer gar nicht wert. 3. August 1937 Kudowa, Montag. [...] Ich habe Trudi einen sehr herzlichen Brief geschrieben; ich kam mir den ganzen Tag schuldbewußt vor, daß ich nicht nett genug war. Am Brunnen, vorher auf der Post, auf dem Wege Rabbiner Lewin aus Breslau getroffen, mich über ihn geärgert. [...] Ich leide jetzt oft darunter, daß ich in meinen Ansichten so oft von denen jüdischer Menschen differiere. Ich muß bejahen, was in diesen Jahren alles Positive geschehen ist; ich sehe, daß die Menschen durch einen eisernen Willen zusammengehalten werden und daß das frühere System es eben nicht so geschafft hat. Ich wünschte manchmal, daß auch die verschiedenen Richtungen im Judentum durch den gleichen eisernen Willen zusammengehalten würden. Man will es nicht verstehen, daß ich aus tiefster Liebe zum jüdischen Volk die Dinge so sehen muß. Es ist nicht immer angenehm, gegen den Strom zu schwimmen! 4. August 1937 Kudowa , Mittwoch. Der heutige Morgen brachte für mich erfreulich viel Post; einen lieben Brief von Trudi und einen Brief von Wölfl und eine Karte von Ernst. Ernst scheint leider sehr abgehetzt zu sein. Das Leben drüben strengt sehr an. [...] Trudi scheint sich, nach ihrem Briefe zu urteilen, wohler zu fühlen. [...] Persönlich habe ich das Gefühl, daß mein müdes Herz immer wieder etwas
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mit auf dem Weg bekommt, daß aber vielleicht der Tag nicht mehr alkufern sein wird, wo alle diese Mittel versagen und man den Gang in die andere Welt antreten muß! Ich bin immer bereit, wenn auch noch manche Aufgabe auf mich wartet und die Kinder meiner noch bedürfen. [...] 5. August 1937 Kudowa, Donnerstag. [...] Etwas [...] den Erntearbeiten zugesehen, es ist immer schön, wenn Bauern ihr Getreide einfahren; ich sehe noch die Wagen in Giwath Brenner voll von Heu. Hier oben ist die Ernte noch nicht gänzlich abgeschlossen, im Tiefland mag sie längst zu Ende sein. Wieviel Arbeit steckt in einem solchen Feld. [...] Den Schuster Eckardt getroffen, den Schwiegersohn von Nürnberger, er arbeitet jetzt in einem Straßenbau für 50 Pfennig die Stunde; sehr weiter Anmarsch, viel Verpflegung muß er mitnehmen, da kommt ihm nicht viel raus! In Zürich tagt jetzt der 20. Zionistenkongreß; wie gern wäre ich dabei gewesen. [...] Die Schlesische Tageszeitung bringt einen sehr unfreundlichen Artikel; im allgemeinen wird sonst der Zionismus wohlwollender behandelt. Sachlicher berichtet die Frankfurter Zeitung. Ich las heute auch den Stürmer mit der Fortsetzung der Artikelserie über die Juden in O/S. Leider wird da eine ganze Menge wahr sein. Das betrübt mich immer am meisten. [...] 6. August 1937 Kudowa, Freitag abend. [...] In der Frankfurter Zeitung heute ein genauerer Bericht vom Zionistenkongreß. Weizmann ist für Ablehnen und Verhandeln. Ussischkin1 für unbedingtes Ablehnen! Mit Rabbiner Lewin und seiner Frau noch etwas zusammen gewesen und den Wiesenweg gegangen. Die beiden fühlen sich hier sehr vereinsamt. Abendbrot gegessen, zum G'ttesdienst bei Salomon. [...] 7. August 1937 Kudowa, Sonnabend. [...] Im Bett gelegen und den T/wraabschnitt „Reeh" gelesen. Nachgedacht, eine Beschäftigung, die ich „leider" immer noch nicht lassen kann. [...] Am Eingang zum Kurplatz den früheren Bürgermeister Dr. Schindler mit seinem Sohne Karl, dem Studienassessor, getroffen. Mit diesem in den Wald und ihm etwas von der Palästinareise erzählt. Er ist ein netter Mensch mit mannigfachen Interessen und einem klaren Blick. [...] Es ist bemerkenswert, daß jetzt auch die allgemeinen Zeitungen viel über den Zionistenkongress bringen, der ja diesmal wegen der Frage „Judenstaat 1
Abraham Menahem Mendel Ussischkin (1863-1941), aus Weißrußland stammender zionistischer Führer; ließ sich 1919 in Palästina nieder und sorgte als Leiter des jüdischen Nationalfonds (ab 1923) für den Ankauf großer Ländereien zur Entwicklung der jüdischen Landwirtschaft.
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oder nicht" seine besondere Bedeutung [hat]. Der Völkische Beobachter brachte einen großen über den Zionismus orientierenden Aufsatz, sehr sachlich. Was zur Frage der Judenemancipation gesagt ist, deckt sich durchaus mit meinen Auffassungen. Auch die Leipziger Neuesten Nachrichten bringen einen Leitartikel. [...] Oft fühle ich mich einsam, sehr einsam, wie gern möchte [ich] die Gemeinsamkeit mit Trudi noch enger gestalten, aber in vielem werde ich wohl resignieren müssen. - Das mag auch in den Umständen begründet sein, unter denen wir leben. [...] 8. August 1937 Kudowa, Sonntag. [...] Viele jüdische Zeitungen gelesen. Alles ist voll vom [Zionisten] Kongreß! 9. August 1937 Kudowa, Montag. [...] Im Walde gesessen und die letzte Jüdischen Rundschau gelesen; es ist ganz interessant, die Berichte über den 20. Zionistenkongreß hier mit den in den allgemeinen Zeitungen zu vergleichen. Ich finde die Methode der kleinen Verhandlungen gräßlich. Ussischkin scheint eine schöne gerade Linie zu verfolgen! Ganz unsinnig finde ich auch die Methode der Nachtsitzungen, des späten Anfangens und so weiter. Wir Juden werden noch viel Erziehungsarbeit an uns selbst zu leisten haben. [...] 10. August 1937 Kudowa, Dienstag. [...] Ungeheuerlich ist, wie die ganze Welt aufrüstet, die Rüstungsmagnaten müssen riesig verdienen; und eines Tages werden es die Volksmassen wieder mit ihrem Blute bezahlen müssen. [...] Mein Herz ist etwas ruhiger. Trudi hat mir auch einen sehr guten Brief geschrieben, sie bemüht sich immer, mir zuzureden! An einem kleinen Bauernhäuschen, an dem ich vorbeiging, kam mir der Gedanke, wenn man doch auch einmal in Frieden so vor seiner Hütte sitzen könnte. Aber das Leben ist nun ein Kampf, und dieser Kampf muß bis zuletzt durchgekämpft werden. [...] 11. August 1937 Kudowa, Mittwoch. Gestern [...] etwas auf dem Kurplatz in der offenen Halle gesessen; zwei fremde Herren kamen an mich heran und baten mich, ich möchte heute früh zum Beten kommen; der eine hatte Jahrzeit, es war der Vater des Dr. Elias aus Hindenburg. [...] Heute früh zum Beten in der „Austria" gewesen; ich hatte neulich einmal größere Teile des Morgengebetes übersetzt, so konnte ich ganz gut folgen; man muß nur etwas arbeiten. Am Schluß des G'ttesdienstes wurde das Schofar geblasen; wir sind ja jetzt im Ellul. [...] Heute war einstmals Verfassungstag!
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Wie lange ist das schon her, daß man da vom Pult in der Aula des Johannesgymnasiums gesprochen hat! Die Verfassung ist hin, die Republik ist hin, das Johannesgymnasium ist hin. [...] Sollen die Völker ihre Politik ohne uns machen! - Heute weiß ich, daß es besser ist, sich nur um Jüdisches zu kümmern. 12. August 1937 Kudowa, Donnerstag. [...] Die Berichte vom Zionistenkongreß sind eintönig; es wird, wie das oft bei Juden der Fall ist, uferlos geredet, obwohl man gleich am ersten Tage darüber hätte abstimmen können, ob man Weizmann die erbetenen Vollmachten geben will oder nicht, das heißt auf Grund des Peel-Planes mit der Regierung zu verhandeln. Das viele Gerede ist gräßlich und geht zu Lasten des jüdischen Volkes. [...] 13. August 1937 Kudowa, Freitag. Auch gestern nach Tisch nicht viel zur Ruhe gekommen; um viertel vier am Brunnen; um dreiviertel vier hatte ich mich mit Hannah-Eva Ziegler, der Tochter von Lottes Mann, verabredet; es war ganz schön, wieder einmal ein paar Stunden mit einem jungen Menschen zusammenzusein. Ich hatte sie hier vor zwei Jahren kennengelernt, inzwischen ist sie 18 Jahre geworden und ein schönes starkes Mädchen; sie hat jetzt das Abiturium in Wien gemacht und will Chemie studieren. Zuerst sprachen wir über Zionistisches; ihre Mutter hat in zweiter Ehe einen Psychologen geheiratet; durch dieses Wiener Milieu ist sie dem Zionismus persönlich entfremdet; ich machte ihr klar, daß Zionismus eben eine endgültige Lösung der Judenfrage bedeutet. Schade um so einen jungen Menschen, wenn er den individualistischen Weg gehen will. Aber vielleicht findet sie noch einmal zu ihrem Volke. [...] Der Kongreß hat das Teilungsprojekt abgelehnt, aber Weizmann zu weiteren Verhandlungen mit den Engländern beauftragt; ich habe gestern keine Zeitungen gelesen; weiß noch nichts Näheres. Herr Landau erzählte es mir! [...] 15. August 1937 Kudowa, Sonntag. [...] Am [Samstag] Nachmittag einen langen und ziemlich verstimmten Brief an Trudi geschrieben; ich hatte auch ein langes Schreiben von ihr erhalten; leider war Susannchen wieder krank und sie selbst hatte immer noch Temperatur. Auch sonst waren die Nachrichten nicht überaus erfreulich, obwohl Trudi sehr herzlich schrieb. [...] Abends habe ich dann noch eine Postkarte ins Auto gesteckt, damit sie durch meinen Brief nicht zu sehr verstimmt ist. [...] Nächtlicher Wald, wie sehr bekommt man durch ihn seine Ruhe wieder. Hohe schwarze Tannen und dunkle Wiesen! Immer noch bin ich ein romantischer Mensch! [...] Als ich mich gerade zu Tisch setzen wollte, kam die Familie Kohn aus Schweidnitz: Vater, Tochter, Sohn, Schwiegertochter, Hund, Auto, mich besuchen. Gute Menschen. Die Tochter eine ältere Jungfrau wider Willen. [...]
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17. August 1937 Kudowa, Dienstag. [...] Die Welt steht wieder einmal sehr in Flammen. In Ostasien ist ein großer Krieg zwischen Japan und China im Gange, von dem ich nicht glaube, daß er sich noch auf Schanghai, um das zunächst gekämpft wird, lokalisieren läßt. Es handelt sich zweifellos um dieselben Gegensätze wie in Spanien; vielleicht ist der Angriff Japans eine Entlastung für Franco. Schanghai, eine Luxusstadt des Fernen Ostens, ist sicherlich gar nicht für Luftschutz eingerichtet und es hat schon von der internationalen Siedlung über 1.000 Tote gegeben. Unwillkürlich bringt man jetzt alles mit jüdischen Belangen zusammen. Mancher Jude, der dorthin ging, hatte vielleicht gehofft, abseits von Europa sich ein neues friedliches Leben aufzubauen, und nun ist ihm vielleicht zum zweiten Male die Existenz vernichtet worden! Man kann niemals seinem Schicksale entgehen! Frankreich verlangt jetzt, auch in der Palästinafrage gehört zu werden; es sieht so aus, als ob das Teilungsprojekt in dieser Form, wie es das Peelprojekt vorgeschlagen hat, endgültig erledigt ist. [...] 18. August 1937 Kudowa, Mittwoch. Gestern abend bei Lotte war es ganz nett. [...] Ich saß mit Lotte im Korbzimmer, wo Franzens Bild hängt, dem ich äußerlich wohl immer ähnlicher werde; innerlich gewiß auch. Lotte erzählte zuerst von ihrer Schiffsreise, die sie mit ihrem Mann Joseph Ziegler gemacht hat. Sie waren 14 Tage mit einem deutschen Schiff über Lissabon, Madeira, Marokko, London gefahren. Dann berichtete ich von unseren palästinensischen Plänen. Für die Frage, ob ich das werde gesundheitlich schaffen können, will sie aber auch keine Verantwortung übernehmen. [...] Ich bin auch etwas unruhig, weil ich heute von Trudi keine Nachricht hatte. Gebe G'tt, daß es ihr soweit gut geht. An Joseph Reich und Frau habe ich heute einen langen Brief zur Absendung gebracht, die an allem, was uns angeht, einen lebhaften Anteil nehmen. Eben las ich die neueste Nummer der Jüdischen Rundschau. Der Kongreß ist geschlossen, und die Exekutive ist wiedergewählt. England hat erklärt, daß es nicht gewillt ist, das Mandat in seiner bisherigen Form weiterzuführen; also wird weiter verhandelt werden müssen! In welcher Weise kann man noch nicht übersehen! Inzwischen ist im Fernen Osten ein gewaltiger Krieg entbrannt; ich möchte fast bezweifeln, ob es noch möglich sein wird, ihn zu lokalisieren; man muß wohl damit rechnen, daß Rußland auf der Seite von China eingreift; es dreht sich wohl um dieselben Dinge wie in Spanien. Warum können die Menschen nicht Frieden halten? [...] 19. August 1937 Kudowa, Donnerstag. [...] Die Juden laufen schon wieder in großer Kriegsbemalung in den Fürstenkeller. Schamlos. Vorgestern ist eine jüdische Dame aus unserem Hause, als sie über die Grenze gehen wollte, bis auf die intimsten
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Teile untersucht worden. Ich habe mich diesen Dingen nicht erst ausgesetzt. Was müssen die Leute auch immerfort über die Grenze laufen. [...] Ich habe mich bei Lotte noch für alles sehr bedankt; noch einmal Kurplatz, Fahrkarte, einige Mitbringsel. [...] Es ist ein herrlicher Tag geworden. Ich möchte eigentlich trotz aller Dankbarkeit hierher nicht mehr wiederkommen. [...] 20. August 1937 Breslau, Freitag. Ich bin gestern gut in Breslau angekommen und mit dem Auto nach Hause. Trudi fand ich, G'tdob, ohne Halsentzündung vor, aber mit der Neigung zu abendlichen Temperaturen. Ruth lag auch noch auf dem Sofa. Susannchen ist vergnügt. Heute sieht es etwas besser aus! [...] Allerhand Aussprachen mit Trudi, die zu nichts fuhren, die aber im gegenseitigen [Interesse] vielleicht besser vermieden werden sollten. [...] 22. August 1937 Breslau, Sonntag. Gestern vormittag habe ich für mich gearbeitet; früh im Bett habe ich zunächst den TAoraabschnitt gelesen, wie ich das in jeder Woche tue. Das gibt mir sehr viel und zeigt mir den Weg, den wir Juden hätten gehen sollen und meist nicht gegangen sind. Später ging ich dann weg, erst zu Fräulein Freund, sie zu fragen, ob sie wieder geneigt wäre, für mich zu schreiben. Sie ist aber leider so beschäftigt, daß sie es nicht kann, und so muß ich mich wieder nach jemand anderem umsehen. [...] Für den Nachmittag hatte sich Dr. Salinger aus Landeck mit seiner Frau angemeldet. [...] Mich wegen ihres Sohnes Peter um Rat zu fragen, der ihnen Schwierigkeiten macht. Ich riet ihnen, ihn aus der Pension Gramse, wo ein großer Massenbetrieb ist, fortzunehmen, eventuell zu Rudolf zu geben, der einen Pensionär sucht. [...] 23. August 1937 Breslau, Montag. [...] Trudi hat mir eine Stunde geschrieben, wofür ich ihr sehr dankbar war; es war unendlich viel Post zu erledigen. Sie hat sich freiwillig gemeldet, sonst würde ich sie jetzt nicht hereinziehen. Abends hatten wir noch eine Aussprache, die aber zu nichts gefuhrt hat. Heute ist die Beerdigung von Ludwig Ittmann; ich kann mir leider nicht zutrauen, hinzugehen; ich habe ihn sehr gern gehabt; wir haben uns seiner Zeit 1910 in Rom sehr gut verstanden. Nun kann ich ihm nicht einmal das letzte Geleit geben! 24. August 1937 Breslau, Dienstag. [...] Am Nachmittag im Lesesaal der Gemeinde; ich hatte schon lange die jüdischen Zeitungen nicht durchgesehen. Sie sind durch den Papiermangel in einem großen Schrumpfungsprozeß begriffen, und für Feuilletonistisches ist da recht wenig Raum mehr. Alles ist voll von Nachrichten.
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Auf dem Hinweg hat mich Rabbiner Lewin ein Stück begleitet; auf dem Rückweg sprach ich Fräulein Guttmann vom Provinzialverband. Sie erzählte mir auch von dem Schrumpfungsprozeß der Synagogengemeinde. Orte, die im vergangenen Jahre noch dreimal Minjan gehabt haben, müssen sich jetzt Minjanleute aus Breslau kommen lassen, um beten zu können. - Das Sterben der jüdischen Provinz geht in einem sehr schnellen Tempo vor sich. Gegen 18 Uhr war ich zurück. Susannchen hat jetzt für den Nachmittag ein sehr hübsches löjähriges jüdisches Mädchen, Ruth Schönfeld, die perfekt italienisch spricht; für Trudi ist das eine große Endastung. Abends war es dann ganz gemütlich, ich habe mich mit meinen Briefmarken beschäftigt; Trudi hat eine Handarbeit gemacht, und wir haben uns dabei unterhalten. 24. August 1937 Breslau, Dienstag. [...] Mehrere Stunden auf der Stadtbibliothek gearbeitet; meist Bibliographisches aus den verschiedenen Gebieten durchgesehen. - Dort sah ich Waldemar von Grumbkow in einem furchtbar reduzierten Zustand, ein großes gräßliches Gewächs kommt ihm aus dem Kopf heraus. Auch meinen „verehrten" Kollegen Pürschel erblickte ich, der jetzt die Altersgrenze erreicht hat, aber noch sehr jung aussieht. [...] Abends soll ich noch einen Vortrag in der Wizo über „Erez Israel 1937" halten. 25. August 1937 Breslau, Mittwoch. Der Vortrag gestern in der Eintracht, wo er stattfand, war außerordentlich gut besucht. Wohl über 200 Menschen, es war außerordentlich voll! Ich glaube auch, daß mir der Abend gut gelungen ist. [...] Nachher war ich furchtbar erledigt. [...] 26. August 1937 Breslau, Donnerstag. Gestern vormittag [...] den alten Professor Weis getroffen, der mein Lehrer und Kollege war; er ist durchaus noch frisch, obwohl er sich schon im 8. Jahrzehnt befindet; er begleitete mich bis zur Bank und zurück. Am Nachmittag geschlafen; um vier Uhr kam eine neue Schreibmaschinenhilfe, ein Fräulein Elli Cohn, eine ältere Dame, schon in den 50ern; wie es sich später herausstellte, war sie einst Tanzstundendame von Franz. Längst vergangene Zeiten stiegen wieder auf! [...] Am Nachmittag. Heute früh hatte ich mehrere Unterredungen, die ich schriftlich festhalten möchte. [...] Wichtig ist, daß ich auf einen Brief meines früheren Schülers Stefan Münz hin in der Verlagsbuchhandlung M. und H. Marcus war. Dort haben sich inzwischen große Veränderungen zugetragen. Theodor Marcus hat den rechtswissenschaftlichen Verlag an Herrn Gerhard Martin aus Trebnitz verkauft, damit sind von meinen Büchern: „Das Zeitalter der Hohenstaufen in Sizilien" und der „Hermann von Salza" in den Verlagsbesitz dieses Herrn übergegan-
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gen. Unklar ist, wer nun mit Catania wegen der italienischen Ausgabe des Hohenstaufenbuches in Zukunft wird zu verhandeln haben. Die Reihe der Historischen Untersuchungen ist noch nicht verkauft, so ist das Schicksal meiner „Geschichte der normannisch-sizilischen Flotte unter der Regierung Rogers I. und Rogers II." noch ungewiß. In den Verlag von Stefan Münz, der einen neuen jüdischen Verlag begründet, ist der Kommissionsverlag meiner „Geschichte der Flotte Friedrichs II." übergegangen. Theodor Marcus hat natürlich nicht freiwillig verkauft. Er hat immer zu den Leuten gehört, die glaubten, daß gerade sie gehalten würden. Aber die Leute, die ihn stützten, so berichtete Münz, sind nun auch gestürzt worden. Marcus ist jetzt in Prag als Verlagsleiter eines anderen Verlages1. Mit Münz sprach ich noch die Frage des Übersetzungsrechtes auch des Normannenbuches durch. Das hängt jetzt auch in der Luft und dieser Fragenkomplex muß noch geklärt werden. Münz ist an einer „Geschichte der Juden in Breslau" interessiert und fragte, ob ich diese schreiben würde; ich habe mich aber weder nach der einen noch nach der anderen Seite festgelegt, sondern riet ihm, zunächst einmal mit der Gemeinde zu verhandeln. Dann versuchte ich, ihn für ein Bändchen meiner historischen Aufsätze und für ein Bändchen meiner Skizzen zu interessieren. Ich soll ihm die Manuscripte zusammenstellen und zeigen. Sobald das möglich ist, werde ich es tun; es ist ja sehr traurig, daß Trudi mir so wenig dabei helfen kann. Ich war von dem ganzen Gang der Unterredung und so weiter recht befriedigt. Mit der Straßenbahn zu Professor Heinemann. Erstens wollte ich ihm die Arbeit zu lesen geben, die von der Zeitschrift Zion und der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland abgelehnt worden ist. Und dann trug ich ihm die entwürdigende Art vor, durch die ich gezwungen bin, immer meine Rechnung bei dem Kuratorium monatlich einzureichen und daß ich für die Ferien nichts bekomme. Heinemann wird zunächst mit Lewkowitz sprechen; eventuell soll ich noch ein Schreiben an das Kuratorium richten. Heinemann hat sich in dieser ganzen Angelegenheit sehr nett und taktvoll benommen. [...] 27. August 1937 Breslau, Freitag. [...] Habe ich einiges excerpieren können; eine produktive Beschäftigung war leider nicht möglich. - Später kam mein Schüler Chajowitz2, ein rumänischer Jude; ein sehr feiner ruhiger Mensch, der leider sehr schlecht aussieht; es fehlt ihm an dem Notwendigsten! Wir haben zusammen gefrühstückt. Wenn ich so einen Studenten spreche, dann muß ich immer an Wölfl 1
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Theodor Marcus hat über sich und diese Zeit selbst berichtet. Er war ausgebürgert worden und nach Prag geflohen, wo er bis 1939 den Academia-Verlag leitete. Den Breslauer Verlag hatte er „als Tarnung" seinem Verwandten Stefan Münz anvertraut. Theodor MARCUS: Als jüdischer Verleger vor und nach 1933 in Deutschland; in: Bulletin des Leo Baeck Instituts, 7, 1964, S. 138-153. Efraim Schajowitz (geb. 1 9 1 0 in Klausenburg, damals noch Ungarn), von 1936 bis 1938 Seminarschüler und Rabbiner in Breslau, emigrierte später nach Israel.
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denken und wie er sich draußen hat durchsetzen müssen. Mit Chajowitz zusammen in die Stadt gefahren; ich hatte in der Beratungsstelle der Synagogengemeinde zu tun, wo wegen Wölfl eine Anfrage eingelaufen war! Ich gab Dr. Weißenberg die notwendigen Auskünfte. [...] 29. August 1937 Breslau, Sonntag. Gestern vormittag erst den TAonzabschnitt gelesen, etwas für mich gearbeitet. [...] Vor Tisch mit Ruth noch Latein gearbeitet; am Nachmittag von dreiviertel vier bis dreiviertel fünf bei Daniel Hebräisch, teils Modernes gelesen, teils Selichoth übersetzt, die ziemlich schwer sind. Etwas für mich gearbeitet; nach dem Abendbrot mit Trudi spazieren; ich komme ja nun nicht sehr weit und muß mich häufig wegen der Schwäche setzen! Heute früh im Bett die Selichoth für den ersten Tag gesagt. Mein alter Lehrer Professor Habel ist gestorben; er war ein sehr anständiger und gerechter Mann. 30. August 1937 Breslau, Montag. [...] Am Nachmittag habe ich mit Trudi Aufsätze zusammengestellt, die ich in den letzten vier Jahren verfaßt habe; ich will diese Auswahl Stefan Münz für seinen neuen Verlag vorlegen; vielleicht daß daraus ein Band wird; es würde für mich eine sehr große Freude sein. Bei anderen Verlegern habe ich bisher kein Glück gehabt. Wenn man heute in einem jüdischen Verlag ein Buch unterbringen will, muß man wohl auch über sehr gute Beziehungen verfügen, und in all diesen Dingen bin ich sehr ungeschickt. Wie ich so mit Trudi meine Sachen durchsah, die wie gesagt ja erst in den letzten Jahren entstanden sind, da ist mir erst zum Bewußtsein gekommen, was ich in einer Zeit verfaßt habe, von der ich immer das Gefühl hatte, daß ich eigentlich gar nichts gemacht habe. Mein gesamtes Lebenswerk hätte ich gern einmal in einem schönen Bändchen nebeneinander gesehen; doch das werde ich niemals erleben! [...] 31. August 1937 Breslau, Mittwoch. Gestern [...] las ich die Lebenserinnerungen von Simon Dubnow, die ich zur Besprechung fürs Gemeindeblatt erhalten hatte1; ein voll ausgefülltes Gelehrtenleben, das in Rußland auch am jüdischen Leben tätigen Anteil genommen hat. Wenn ich nicht so viel Verschiedenes im Laufe der Jahre hätte machen müssen, vielleicht daß ich dann auch an meinen Hauptwerken hätte mehr schaffen können; nun, es muß jeder nach seinem eigenen Gesetz leben; und in vielem ist nun Spiel und Tanz vorbei, und man muß sich mit den Resten begnügen. Am Nachmittag war ich mit Trudi am Sauerbrun Simon DUBNOW (Semen Markovic ÜUBNOV): Mein Leben, hg. von Elias HORWICZ. Berlin 1937. - Eine Besprechung für das Jüdische Gemeindeblatt konnte nicht nachgewiesen werden.
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nen, und ich las dort in dem ersten Bande der neuen verkürzten Ausgabe von Dubnows Weltgeschichte1. Über politische Fragen kann ich nun auch nicht mehr mit Trudi sprechen; wir denken da so verschieden, daß es da auch immer zu Differenzen kommt. So ist man immer mehr innerlich allein. [...] 3. September 1937 Breslau, Freitag. Gestern [...] Trudi einige Briefe in der Seminarangelegenheit diktiert. Ich habe mich an das Kuratorium wegen einer andersartigen Honorierung gewandt! Mit Heinemann hatte ich das Vorgehen so verabredet! [...] Heute früh schon zum Beten gewesen! Gegenüber ist ein alter Herr, Grünberg, gestorben. Die Angehörigen sitzen Schmäh. Ich habe seit langer Zeit wieder einmal Tefillin gelegt! Vielleicht sollte man das nun regelmäßig tun! 4. September 1937 Breslau, Sonnabend. Gestern vormittag zwei Stunden an Ruth Hirschel gegeben; in einer Stunde habe ich mit ihr den Matin gelesen, in der anderen habe ich den Jom K#>/wr-G'ttesdienst besprochen und ihr Kol Nidre übersetzt; nun kommt sie anderthalb Wochen nicht zum Unterricht, da sie über die Feiertage zu ihren Großeltern nach Troppau fährt. Gelegen, Barbier, dann Ruth von der Schule abgeholt! Es sind noch herrliche Spätsommertage! Nach Tisch zum Glück geschlafen, denn um vier Uhr hatte ich Fräulein Cohn bestellt, der ich dann fast zwei Stunden diktiert habe, teils Korrespondenz, teils eine Skizze über „Jüdische Jugend". [...] 5. September 1937 Breslau, Sonntag. [...] Ruth war gestern bei einer hübschen Abschiedsfeier für ihre Führerin Rosenbaum, die heute nach Klein Ellguth auf Hachscharah geht2; sie kam erst um neun Uhr nach Hause. In Ere% Israel sind jetzt neun Araber erschossen worden; man läßt sich offenbar nichts mehr gefallen, da werden alle Beschwichtigungsversuche nichts 1
Simon DUBNOW: Weltgeschichte des jüdischen Volkes. V o n seinen Uranfangen bis zur Gegenwart. Ubersetzung aus dem Russischen von Aaron STEINBERG, 1 0 Bde., Berlin 19251929. 1 9 3 7 erschien eine kurzgefaßte Ausgabe in drei Bänden, v o n Willy COHN besprochen im Jüdischen Gemeindeblatt 15 (1938), Nr. 13 (10. Juli 1938), S. 3-4. Simon D u b n o w (geb. 1 8 6 0 in Weißrußland) wirkte als Publizist und Politiker in Petersburg und Berlin. 1933 wanderte er nach Riga aus, w o er 1941 v o n der Gestapo ermordet wurde. 1 9 9 5 wurde in Leipzig das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur e.V. gegründet, das sich die Erforschung der jüdischen Lebenswelten in Mittel- und Osteuropa zum Ziel gesetzt hat.
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Dank der Sonderstellung Oberschlesiens, w o bis zum Ablauf der Schutzbestimmungen des Völkerbundes im Juli 1937 die antijüdische Gesetzgebung des Reiches nicht zur Anwendung gelangte, hatte der oberschlesische Synagogenverband den Gutshof Klein Ellguth bei Neustadt pachten können, um hier eine landwirtschaftliche Fachschule einzurichten. Sie diente der Vorbereitung von Jugendlichen für die Auswanderung nach Palästina.
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helfen! Die Jugend macht nicht noch einmal nur „Wachtdienst". Ich las gestern ein entzückendes kleines Gedichtbuch, das im Schockenverlag erschienen ist, „kleine Nachtwache", das schildert, wie man 1936 auf der Wacht gestanden hat1. Heute geht das Jahr 5697 zu Ende und das Jahr 5698 beginnt, dessen hebräische Bezeichnung nach der Abkürzung n"S1D „Mord" bedeutet2, eine schlimme Vorbedeutung. Man dreht dann die beiden letzten Buchstaben um, so wie ich das oben gemacht habe, um die Vorbedeutung abzuwenden. Es sieht ja wirklich böse in der Welt aus, und der Krieg flammt an den verschiedensten Stellen auf. Wenn ich persönlich wie stets in diesen Stunden das zu Ende gehende Jahr 5697 überschaue, so habe ich alle Veranlassung, abgesehen von der Verschlechterung meines Gesundheitszustandes, ihm dankbar zu sein. Hat es mir doch vor allem das Wiedersehen mit den Söhnen gebracht. Unter der Trennung von ihnen leide ich oft sehr! Nun bleibt mir die Erinnerung an diese schönen Stunden. - Aber auch die beiden Mädel haben sich, G'tdob, sehr erfreulich entwickelt; Trudi hat sich wie immer bewährt und schließlich habe ich auch meine Familie anständig ernähren können; wir sind aus eigener Kraft durchgekommen! Auch meine alte Mutter hat G'tt durch dieses Jahr geführt! So soll man auch an der Schwelle des Neuen vertrauensvoll an die Zukunft denken! [...] Auf den Friedhof. Wieviele Menschen hat man jetzt zu besuchen und wievieler Menschen Bilder steigen vor uns auf, wenn wir jetzt an die Gräber gehen! Man hat bald unter der Erde mehr Bekannte als über der Erde; wenigstens in Deutschland! Die alte Frau Proskauer3 und Hedwig Bermann getroffen! Die erstere ist durch ihr vieles Reden schwer erträglich! Das Schicksal hat sie ja auch ziemlich mitgenommen! Diese Stunde draußen am Rüsttag des Neujahrsfestes ist mir immer ein großes Bedürfnis, und ich bin G'tt dankbar, daß er mir die Kraft zu diesem Wege gegeben hat! [...] 5698 7. September 1937 Breslau, Dienstag. Am 1. Neujahrsabend war Rudolf bei uns, es ging ohne Klippen ab und war ganz gemütlich. Seinen Urlaub hat er in Schwarzort im Memelgebiet verbracht und [ist] dort viel mit Ostjuden verkehrt! Wie hat er, der ehemalige Naumannianer, sich verändert! Welche Schwierigkeiten hat er
Ludwig STRAUSS: Kleine Nachtwachen. Sprüche in Versen. Berlin 1937. Die hebräischen Buchstaben Tirzach sind doppeldeutig, sie entsprechen sowohl dem Zahlenwert 5698, als auch dem Dekaloggebot „Du sollst nicht morden". Willy Cohns Schwiegermutter aus erster Ehe, Selma Proskauer, scheint bis dahin nicht in Breslau, sondern in Berlin gewohnt zu haben. Seit sie sich in Breslau einlebte, begegnet sie in diesen Tagebüchern als „Großmutter Proskauer".
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früher jedem aufrechten Judentum gemacht! Nun möchte er sich sogar Palästina ansehen. [...] Gestern früh und abends war ich in der Abraham-Mugdan-Synagoge, wie auch vorgestern abend. Rabbiner Lewin hat gestern sehr schlicht und einfach gesprochen, auch der Opfer in Ere^ Israel gedacht; sonst hat er das alte Thema von den Schofartönen zugrundegelegt. [...] Heute vormittag in der Synagoge: der herrliche "Hwraabschnitt von der Opferung Israels, und das immer gewaltige Unsanne taukef. Ganz bis zum Schluß des Mussajgebetes bin ich nicht geblieben! Ich halte jetzt das lange Stehen und die Luft schlecht aus! [...] 8. September 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Straßenbahn nach dem Postscheckamt; am Fränckelplatz, der jetzt Fontaneplatz heißt, umgestiegen; gesehen, wie man die Mauern des alten jüdischen Friedhofs heraussprengt. Ein kleines Stück ist jetzt eingezogen worden, das der Neugestaltung des Platzes zum Opfer fallen mußte. Es tat mir geradezu weh; 200 Jahre fast haben diese alten Mauern gestanden und unsern Vorfahren den „ewigen Frieden" behütet. An der Feldstraße auf dem alten Friedhof ist ein Lager der alten Sachen, die man bei der Entrümpelung zusammengefahren hat. Ein trosdoser Anblick mitten in der Stadt. [...] 9. September 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Nachts gestöhnt und schwer geträumt, diesmal von Lonny Wolff. Oft träume ich jetzt von Verstorbenen! Heute von acht bis zehn Uhr habe ich Fräulein Cohn eine Arbeit über das Versagen jüdischer Lehrerhausarbeit diktiert, die ich an den Morgen eingesandt habe; ich bin mir aber noch sehr im Zweifel, ob die Zeitschrift die Arbeit bringen wird; der Geist dieses Artikels ist nicht der Geist des PhiloVerlages. In die Stadt gefahren, bei Uwe Mayer die Bücher umgetauscht, die ich von Daniel und Czollak zu Koschhaschanah bekommen habe. Ich nahm mir unter anderem das Philolexikon, das mir schon immer sehr gefehlt hat! Unter den jüdischen Historikern bin ich dort übrigens aufgeführt1. Das Lexikon scheint mir recht brauchbar zu sein, besser als ich bei dem Namen „Philo" gefürchtet hatte. [...] Ich arbeite jetzt die von Friedrich Baethgen bearbeitete neue Auflage der Hampeschen Kaisergeschichte durch. Zwei meiner Bücher sind dort auch erwähnt2! 10. September 1937 Breslau, Freitag. [...] Ich habe mich mit Trudi über Probleme des palästinen1
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Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens, hg. von Emanuel BIN GORDION u.a., Frankfurt a. M. 31936. Kail HAMPE: Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer, hg. von Friedrich BAETHGEN, L e i p z i g 7 1 9 3 7 .
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sischen Aufbaus [unterhalten], ob Gemeinschaftswirtschaft oder Individualwirtschaft; es ist ja eine sehr schwer zu lösende Frage; Trudi vertritt den Standpunkt, daß jeder Mensch nach etwas Eigenem strebt. [...] 11. September 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Für mich gearbeitet; die neue Auflage der Hampeschen Kaisergeschichte habe ich zu Ende durchgelesen; man freut sich immer wieder an diesem Buche; auch einiges habe ich excerpiert. [...] Ich konnte dann etwas an meiner Arbeit machen; es gibt da immer etwas herumzukorrigieren und einzufügen; ein neues Kapitel habe ich leider in der letzten Zeit nicht schreiben können. Abends mit Rabbiner Lewin nach der Synagoge noch eine Diskussion gehabt; aber ich werde es nicht mehr tun; er versteht es doch nicht. [...] Ich las eben den herrlichen TAoraabschnitt, in dem Moses an Josua die Führung abgibt und ihm immer wieder sagt: Chasak n>eema%. Unser Volk hat sich seine leidvolle Geschichte nicht zum geringsten Teile selbst zuzuschreiben, da es von dem Wege abgewichen ist, den es hätte gehen müssen. Aber allzuviel haben ja die Juden aus ihrer Geschichte nicht gelernt und machen immer wieder dieselben Fehler; das tut bitter weh! 12. September 1937 Breslau, Sonntag. [...] Auf dem Reichsparteitag in Nürnberg ist wieder eine gewaltige Rede gegen das Judentum gehalten worden! Ich bin oft sehr unglücklich, daß in Rußland die Juden politisch [sich] so hervortun; sie sollten es endlich einmal lernen, die Politik den Völkern zu überlassen! 13. September 1937 Breslau, Montag. Gestern war ich mit Ruth im Kunstgewerbemuseum, in dem ich wohl schon über vier Jahre nicht gewesen bin; es ist außerordentlich übersichtlich neu aufgestellt und so eingerichtet, daß auch der Laie etwas davon hat! Ein wenig zu sehr betont ist die Vorgeschichte, die jetzt sehr in den Mittelpunkt gestellt wird, besonders in Schlesien, um den deutschen Charakter der Landschaft zu unterstreichen. Ich habe mich gefreut, wie Ruth an all dem Interesse hat; sie kommt jetzt in ein Alter, in dem der Geist erwacht; vielleicht ist es für sie, die frühzeitig nach Ere% Israel gehen wird, wichtig, alle diese Eindrücke noch mitzunehmen! [...] Die heutige Morgenpost brachte mir einen Brief, der mich wenig erfreute. Frau Borger schrieb aus Giwath Brenner, daß die Maskiruth unsere Aufnahme abgelehnt hat. Gewiß, ich hatte nach den langen Monaten des Wartens nicht mehr damit gerechnet, aber jetzt wo man es schwarz auf weiß hat, ist es doch auch schlimm. Ein Traum geht aus meinem Leben; dort hätte ich vielleicht noch einmal ein Stück Heimat finden können. Jedenfalls habe ich mich natürlich sehr aufgeregt. Gründe habe ich ja nicht zum Erfahren bekommen. Vielleicht hat es auch daran gelegen, daß Trudi damals dort so gar nicht in den
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Geist der Gemeinschaft hineingekommen ist. Die Menschen sind ja für so etwas sehr empfindlich. Nun, ich werde versuchen müssen, auch über diesen Schlag hinwegzukommen; ein schwerer Schlag bleibt es, und allzuviele kann ich nicht mehr aushalten; ich habe oft grausige Beschwerden. Man muß sehr tapfer sein, um mit ihnen fertigzuwerden. Wie schwer ist es, stets neue Projekte zu machen! Ich glaube, ich lasse es bald. Meine Seele hatte sich sehr an diesen Plan gehängt, und gerade Giwath Brenner erschien mir wie ein Hafen. Nun ist das vorbei, ganz vorbei. [...] 14. September 1937 Breslau, Dienstag. Gestern noch Sitzung des Redaktionsausschusses in der Gemeinde. Es war nichts Besonderes los; hin und zurückgelaufen. Auf dem Nachhauseweg die nette Lotte Helfgott getroffen; mit ihr ein Stückchen gegangen. Am Abend gebadet; das übliche Bad vor dem Jom Kippur. Einen schlimmen seelischen Zustand gehabt, mußte „Eupako" nehmen, ein Mittel, zu dem ich sehr ungern greife. Am meisten tut es mir an solchen Tagen um Trudi leid; ich müßte mich wohl noch mehr beherrschen; aber es ist jetzt so, als ob die Nerven vollständig versagen möchten; ich habe manchmal das Gefühl, als ob ich mit meinen nervlichen Reserven ganz am Ende wäre. Ich habe darum gebetet — vielleicht ist es eine große Sünde — nicht mehr aufwachen zu müssen. Trudi hat ihr Gebet dagegen gerichtet. Gestern abend in alten Familienpapieren geordnet; Gestalten längst Dahingegangener stiegen wieder auf. Heute ist der Rüsttag zum Jom Kippur, man läßt noch einmal alle seine Sünden des vergangenen Jahres vorbeiziehen. Wenn mir dieser Tag etwas mehr Lebensmut bringen möchte, wie dankbar wäre ich! [...] Es ist jetzt schon Herbststimmung draußen! Etwas an meiner Arbeit geschrieben; aber ich war vom gestrigen Tag sehr kaputt, konnte auch nicht zur Mutter gehen, wie ich das am Vortage des Jom Kippur sonst immer gemacht habe; immerhin muß ich schon froh sein gegenüber dem gestrigen Tage! An meiner Arbeit einige Seiten geschrieben; ich habe jetzt ein altes, sehr feines Buch aus der Kriegszeit, die Gartensonate von Möller1, wieder einmal gelesen. Eine große Innigkeit des Gefühls; solche Bücher hat man früher gern totgeschwiegen; ich habe es übrigens seinerzeit besprochen. [...] Eine große Freude: Über Brienitzers kam ein sehr ausführlicher Brief von Ernst vom 7. September, in dem er sehr verständige Gedanken über den Teilungsplan auseinandersetzt. Das sind die schönen Augenblicke, wenn solche Briefe kommen; mir ist sehr bange nach den Jungen; und nachdem nun der Plan mit Giwath Brenner gescheitert ist, wer weiß, wann ich dann Ernst wiedersehen werde! Nun, wie G'tt will.
Max MÖLLER: Die Gartensonate. Ein Roman. Leipzig 1917.
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15. September 1937 Breslau, Mittwoch. Nun ist der Jom Kippur zu Ende; und ich komme mir sehr schlecht vor, daß ich nicht gefastet habe; aber ich wollte es mit diesem Herzen nicht riskieren. Gestern abend hatte Trudi wie immer alles sehr schön vorbereitet; wir waren dann auch alle zusammen in der Synagoge am Rhedigerplatz; die Kinder sind zeitiger nach Hause gegangen; Trudi hat zu meiner Freude bis zum Schluß ausgehalten. [...] Der Tag gibt mir unendlich viel, und ich habe auch etwas wieder zu mir gefunden. Mit allen Problemen wird man ja natürlich nicht fertig. Viel an meine Söhne draußen gedacht; möchte es ihnen nur immer gut gehen; wird man noch einmal den Jom Kippur zusammen verleben? Rabbiner Lewin hat schön schlicht gesprochen! Ich habe seine einfache Art sehr gern. Gestern abend hat Czollak gut vorgebetet, ein ergreifendes Kol Nidre, auch Minchah heute. Der Rabbiner [hat] Neilah [gebetet]. Zum ersten Male hat Ruth gefastet! Ich freue mich, daß sie die Energie aufgebracht hat! 16. September 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Der Alt-Präsident der Tschechoslowakei ist gestorben. Mit Masaryk geht eine Epoche hinweg1! Den Juden seines Landes war er stets freundlich gesinnt! Diese Richtung der Demokratie scheint mir in der Welt ausgespielt zu haben. Ganz kann man natürlich auch schwer vergessen, daß mit der Entstehung der Tschechoslowakei ein Stück Hochverrat am alten österreichischen Staate verbunden war! Aber das mag wohl immer beim Entstehen von etwas Neuem so sein! [...] Die Nachricht vom Tode von Rabbiner Sänger stimmt nicht; aber er leidet an einem nicht operablen Gehirntumor. Das ist noch schlimmer! [...] Stadtbibliothek, dort Rabbiner Brilling vom Gemeindearchiv kurz gesprochen; zur Mutter gefahren, die ich mit Kaete im Garten sitzend fand. Ich fand sie den Umständen nach, G'ttlob, ganz gut. Der Besuch ging auch ohne Klippen ab; Kaete noch ein Stück begleitet. [...] 17. September 1937 Breslau, Freitag. Gestern [...] zu einer Sitzung des Bibliotheksausschusses hinund zurückgelaufen; ich bin jetzt immer sehr stolz, wenn mir solche Leistungen gelingen. Die Sitzung in der Gemeinde wurde von Frau Dr. Pinczower geleitet; es ging im wesentlichen um die Festsetzung von Bibliotheksgebühren. Auf meinen Vorschlag wurde beschlossen, die Gebühren ganz fallen zu lassen, wenn ich dabei bin, geht es immer ziemlich rasch und oft auch nach meinen Vorschlägen, ohne daß alles zerlabert wird. Mit Rabbiner Vogelstein, Hoffmann kurz gesprochen; der letztere fährt jetzt nach Ere% Israel Mit Halpert ein Tomás G. Masaryk, der erste Präsident der Tschechoslowakei (1918-1935), war auch durch seine Schriften gegen jüdische Ritualmordlegenden bekannt geworden.
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Stückchen gegangen; wir waren uns in unseren Ansichten über Herrn Lux ganz einig. [...] 18. September 1937 Breslau, Sonnabend. Gestern [...] Nachmittag mit der Durcharbeit des Peel-Berichts begonnen, ein Werk, das man ganz in sich aufnehmen muß. Es ist von großer Achtung für die Leistung des jüdischen Volkes erfüllt, bringt auch einen guten Uberblick über unsere Geschichte. Czollak kam dann, ich beriet ihn wegen seiner Doktorarbeit; er will eventuell in Dorpat promovieren! Synagoge. Mit Rabbiner Lewin nach Hause gegangen. [...] Am Vormittag teils an meiner Arbeit geschrieben, teils im Peelbericht gelesen; ich arbeite ihn sorgsam durch! Mit Susannchen gemütliche Vesper gemacht! Meine große Freude! Am Sauerbrunnen gesessen; dann noch Mandowskys getroffen. [...] Der Gegensatz England-Italien spitzt sich ja wegen der Konferenz von Noyon immer mehr zu. Mandowsky meint, daß es trotzdem nicht zum Kriege kommen würde; ich bin etwas skeptischer! Auch im Fernen Osten sieht es böse aus; Japan will offenbar die ganze Mongolei. Heute hat Hans-Martin Landau Barmi%wah\ Trudi war am Vormittag da, Ruth am Nachmittag; ich vermeide möglichst solche Menschenansammlungen. Frau Landau gehört übrigens zu den wenigen Menschen, die sich immer gut zu mir benommen haben. Ich ziehe mich immer mehr auf mich selbst zurück. [...] Die Abendpost brachte mir einen netten Brief von Professor Verlinden aus Brüssel. Die ausländischen wissenschaftlichen Beziehungen sind ja neben den jüdischen diejenigen, die gehalten haben. Deutsche Gelehrte dürfen ja kaum mit einem Juden korrespondieren! 20. September 1937 Breslau, Montag. [...] In der Mittagsstunde etwas mit Trudi spazierengegangen; am Sauerbrunnen gesessen. [...] Noch etwas allein gegangen, teilweise mit einem Schüler und zwei Schülerinnen vom Jüdischen Gymnasium, den[en] ich aus Palästina erzählt habe. Später die Lektüre des Peel-Berichtes erledigt; man muß das ja jetzt im Kopf haben, wenn man über das Schicksal von Ere% Israel unterrichtet sein will. Ich habe die Sachlichkeit der Materialsammlung der englischen Kommissionsbeamten anerkannt, wenn man auch den Schlußfolgerungen nicht zustimmen kann. Synagoge; erster Abend Sukkotk, es war sehr voll; Ruth und Susannchen waren auch mit; Susannchen war auch in der Sukkab, in die ich nicht hineinkonnte, weil es zu voll war. Abends mit den Kindern gegessen; dann mit Trudi auf dem Balkon gesessen; ich hoffte auf einen gemütlichen Abend, aber es kam anders. Trudi machte mir Vorhaltungen, daß wir zu wenig mit Menschen zusammenkommen. Ich kann das ja verstehen, aber ich bin einfach dazu nicht mehr imstande! [...] Heute ist Kriegszustand im Hause: Sman Simcbatenu. Ich
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glaube, daß meine Nerven völlig kaputt sind und daß ich sicher einer Katastrophe entgegentreibe. 21. September 1937 Breslau, Dienstag. Das war gestern ein besonders schlimmer Tag, an dem man sich — ich weiß, es ist eine Sünde — das Leben verwünscht. [...] Das Leben macht im Augenblick keinen Spaß. Ich konnte in diesen Tagen auch nicht in die Synagoge gehen. Mit Trudi gestern noch eine Aussprache gehabt, die der Klärung gedient hat, wenn auch nicht dem Näherkommen! Ihre Eltern stehen zwischen ihr und mir. Sie stellt sich bedingungslos vor sie. [...] Ich glaube, daß ich mich noch mehr auf mich selbst werde zurückziehen müssen. 22. September 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Früh habe ich wenigstens zu Hause den ganzen i#/£/£o/A-Gottesdienst gelesen und mich am Hallel erbaut. In der Mittagstunde am Sauerbrunnen gewesen; am Nachmittag noch mit Trudi am Hardenberghügel gesessen; man muß eben vermeiden, den kritischen Punkt mit ihren Eltern zu berühren, dann geht es einigermaßen. [...] Die Morgenpost brachte mir heute einen, G'tdob, in jeder Beziehung erfreulichen Brief von Ernst, der sehr herzlich geschrieben war. - So ein Brief verschönt den ganzen Tag. [...] Durch eine Postkarte hatte sich Lotte Tichauer angemeldet; sie fährt auf Alijahu.t\i\ib nach Hause und am 6. 10. mit der „Galiläa" nach Eres* [...] 23. September 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Ich war nicht recht auf der Höhe. [...] Ich las dann aber noch die mit der Abendpost gekommene Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Münchner Synagoge1. Die Arbeit ist sehr gut und taktvoll geschrieben. Nachts habe ich geträumt, daß ich das Gedächtnis verloren hätte; es war wenig erfreulich! 24. September 1937 Breslau, Freitag. [...] Stadtbibliothek; dort einen evangelischen Geistlichen gesprochen, der früher am Johannesgymnasium gewirkt hat. Ich glaube, er heißt Propst Oertel. Er ist immer von wärmstem Interesse; ihm von Palästina erzählt; er sagte mir, daß er, wenn er das „heilige Land" denke, immer damit die Vorstellung von Kampf und Streit verbindet. Nach den deutschen Zeitungen kann sich auch in der Tat niemand ein Bild von der jüdischen Aufbauarbeit machen. [...] Leo BAERWALD, Ludwig FEUCHTW ANGER (Hg.): Synagogen-Festgabe. 50 Jahre Hauptsynagoge München 1887-1937. München 1937.
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Teils Post, teils einen palästinensischen Artikel1, dann noch mit Ruth Französisch gearbeitet. [...] In diesen Tagen kommt Mussolini nach Deutschland, ein Besuch, der zweifellos von der größten politischen Tragweite ist und von dem ich mir noch durchaus nicht klar bin, ob er das Schwert oder die Palme bedeutet! [...] 25. September 1937 Breslau, Sonnabend. Gestern [...] in der Synagoge gewesen; mit Rabbiner Lewin nach Hause gegangen; über wissenschaftliche Fragen gesprochen; im besonderen über die in der Bearbeitung begriffenen Geschichte des Provinzialverbandes. Abends noch mit Trudi unterhalten; eine erträgliche Nacht gehabt. Schlimm ist der Skandal in der Berliner Iwriabank2. Jüdische Aufsichtsräte haben bei ihrer eigenen Bank Kredite aufgenommen; diese Leute müßten alle ins Zuchthaus. Aber wieviel unschuldige Menschen werden geschädigt, die im Vertrauen auf das Judentum ihre Gelder dorthin gegeben haben! Sehr traurig! [...] In der Sonne am Gabitzerteich gesessen; eine Zeidang mit dem Architekten Albert Hadda unterhalten, ein feiner Mensch; er erzählte mir, welche Schwierigkeiten ihm bei Gemeinde und Hechalu^ entstehen; er leitet jetzt gewerbliche Auswandererkurse. - Traurig, daß unsere Menschen oft so sehr versagen! [...] Gearbeitet und nun im Begriff, nach Neiße zu einem Vortrag über Zukunftsfragen Palästinas zu fahren! (Z.O.G.) [...] 26. September 1937 Neiße, Neustädterstraße 7 bei Frau Dr. Cohn. [...] Dr. Singer erwartete mich mit seinem Auto, in die Räume der Synagogengemeinde auf der Goldammerstraße, wo auch früher die Loge getagt hat; die Räume sind sehr schön erneuert und mit neuen, das heißt anderen Möbeln ausgestattet. Die Leute waren schon da und ich konnte sofort anfangen. - Ich sprach über eine Stunde, wie ich glaube ganz ordentlich, obwohl ich gesundheitlich einen ziemlich schlechten Tag wie ja meist hinter mir hatte. Dr. Singer meinte auch nachher, ich hätte am Schluß ziemlich blaß ausgesehen. Vielleicht sollte ich diese ganze Reisetätigkeit einstellen. [...] Es sind hier in Neiße verhältnismäßig viel junge jüdische Männer, die in einer hiesigen Maschinenfabrik zu Schlossern und dergleichen ausgebildet werden. Dadurch hat die Gemeinde einen nicht so vergreisten Anstrich, wie das sonst meist der Fall ist. [...] Jetzt gefrühstückt und mit Frau Dr. Kohn unterhalten, eine Dame in den 70ern, die sich mit Zimmermieten erhält; einst ging es ihr auch sehr gut; sie waren große Mühlenbesitzer in Ottmachau; zufällig ist ihr Sohn der Kolonialwarenhändler, bei dem Trudi die Lebensmittel 1
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Vgl. Willy COHN: Vom Leben der Arbeit in Erez-Israel. Ein Stimmungsbild aus Giwath Brenner; in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 13 (1937), Nr. 13, S. 249-250. Vgl. Die Lage bei der IWRIA-Bank in Berlin; in: C.V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum 16 (1937), Nr. 30 (29. Juli 1937), S. 17.
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bezahlt, sie ist auch eine Jugendfreundin von Frau Proskauer; nun hat sie mir beim Frühstück alle ihre Schicksale erzählt, und ich mußte mich in ihr Gästebuch eintragen. Man kann es verstehen, daß so eine Frau eine Aussprache sucht. [...] 26. September 1937 Breslau, Sonntag. [...] Hirsch kam mich abholen, im Park [von Neisse] spazieren gegangen, die Schönheit des alten Rathauses bewundert mit seinen Kaiserbildern. [...] Dr. Singer hat sich nicht weiter um mich gekümmert, sondern ist mit seiner Familie fortgefahren; Hirsch, ein früherer Schüler von mir, ist ein feiner Junge. Viel über palästinensische Probleme mit ihm gesprochen. Nach rascher Fahrt gut in Breslau angekommen. [...] Gegen Abend noch zu Schemini A^ereth in der Synagoge gewesen! 27. September 1937 Breslau, Montag. [...] Die Post brachte die Nachricht, daß die Witwe von Martin, Erna Cohn, gestern gestorben ist. Mit ihrem Tode war schon lange zu rechnen, Brustkrebs. Ich habe sie wohl 20 Jahre schon nicht gesehen und doch stiegen Erinnerungen an eine Zeit auf, die nun schon über 30 Jahre zurückliegt. Ein unglückliches Leben hat da sein Ende gefunden. In die Synagoge konnte ich jetzt am Vormittag wegen meiner Schwäche nicht gehen; am Abend wollen wir alle zu Simchath Thorah gehen! Ernst hat den Jom Kippur in Tel Aviv verbracht! [...] Am Vormittag hatte ich viel Eiliges zu korrespondieren, was nicht so dringend ist, lasse ich mir für die Tage, wo die Stenotypistin kommt. Auch den j#/&/&o/Ag'ttesdienst gelesen und das Gebet um Regen. Dies Gebet erwähnt sogar der Peel-Bericht als Zeichen der Verbundenheit des jüdischen Volkes mit seinem Lande! [...] Koheleth gelesen, das weiseste Buch, das wir besitzen und das einem ein Stückchen Seelenfrieden geben kann. Von Frau Reich bekam ich einen wundervollen Brief aus Chicago; sie betont immer wieder, was ich ihr geistig gewesen bin. Die größte Genugtuung für einen geistigen Arbeiter. Ich freue mich, daß ich in aller Welt ein paar Menschen habe, denen ich geistig etwas gewesen bin. 28. September 1937 Breslau, Dienstag. Gestern war ich noch mit den Kindern zu Simchath Thorah in der Abraham-Mugdan-Synagoge. Es war wie immer sehr gemütlich, wie in einer großen Familie. Wenn man so eine Anzahl Kinder hinter der Thorah hergehen sieht, so weiß man, daß unser Volk immer eine Zukunft haben wird, solange noch seine Kinder im Geiste der Thorah erzogen werden. [...] Ich hatte auch die Ehre, die Thorah einmal tragen zu dürfen; der alte Grünmandel rief mich als fleißigen Synagogenbesucher auf, wogegen wieder einige protestierten.
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Ich kann ja leider durch meinen Zustand nicht so oft gehen, wie ich möchte; besonders an den Vormittagen bringe ich es schlecht fertig! Abends mit Trudi noch unterhalten, nachdem wir mit den Kindern zusammen Abendbrot gegessen haben. Fräulein Schönfeld wird nicht mehr zu Susannchen kommen; sie wandert in diesen Tagen nach Italien aus. E s ist schade für das Kind. Die beiden hatten sich sehr gut verstanden. Nachts wieder durch schlimme Träume gequält. [...] Den Simchath T/wraA-G'ttesdienst an meinem Schreibtisch gebetet! [...] 30. September 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Keine gute Nacht gehabt: ich träumte, daß ich langsam den Herztod, den Erstickungstod stürbe und daß nur Tante Amalie gut zu mir sei! Wie lange habe ich an diese Tante, die wohl fast anderthalb Jahrzehnte in der anderen Welt ist, nicht mehr gedacht! E s ist mir manchmal so, als ob sie mich rufen möchten. [...] Von neun bis elf habe ich Ruth Hirschel Stunde gegeben. Teils französisch, teils Faust; das letztere macht mir viel Freude, eine stets erneute Freude nicht wegen der Schülerin. Aber mit jedem .Jahresring", den man ansetzt, sieht man ja tiefer in die Probleme der Dichtung hinein und findet neue Gedanken. Später Trudi einen Brief an die Beuthener Wizo diktiert, die mich wegen Vorträgen angefragt hatte. Spazierengegangen, mit Sklarz getroffen, mit dem ich ein Buch getauscht habe; ich habe für ein hebräisches Buch die „Reisen Benjamins von Tudela" bekommen 1 . [...] Mussolini hat Deutschland wieder verlassen, und die Welt scheint mir nicht friedlicher geworden zu sein. [...] 1. Oktober 1937 Breslau, Freitag. [...] An meiner Pfandleiharbeit ist jetzt besonders viel Kleinarbeit zu leisten. Ich glaube übrigens, daß ich an dieser Arbeit wenig Freude erleben werde. Ich habe schon mit manchem Juden über diese Dinge gesprochen, und die meisten reagieren darauf apologetisch, eine Einstellung, die ich hasse! Und würde ich die Arbeit anderswo veröffentlichen, so würde man mir gar Judengegnerschaft zum Vorwurf machen; aber geschrieben mußte sie doch werden. [...] Heute vor 25 Jahren bin ich beim Militär eingetreten; jetzt gibt es schon viele Jubiläen für mich, die man still für sich feiert! Ich bin gern Soldat gewesen und hätte gewünscht, noch einmal Ere% Israel mit meinen Erfahrungen nützen zu können. Heute früh habe ich Trudi einige Anekdoten aus meiner Militärzeit erzählt!
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Marcus Nathan ADLER: T h e Itinerary o f Benjamin o f Tudela. L o n d o n 1906. (Aktuelle deutsche Fassung: Benjamin von TUDELA: Buch der Reisen. Sefär ha-Massa'ot (Judentum und Umwelt 22), hg. von Johann MAIER, Frankfurt a. M. 1988). Benjamin ben J o n a von Tudela war einer der bekanntesten jüdischen Reisenden des Mittelalters.
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2. Oktober 1937 Breslau, Sonnabend. Gestern [...] bei Daniel hebräisch. Wir lasen ein größeres Stück aus dem Koheleth und sprachen dann noch etwas; ich möchte natürlich noch raschere Fortschritte machen, aber das geht nicht. Ich will jetzt versuchen, für jede Stunde etwas zu arbeiten. [...] Trudi will, um sich zu revanchieren, nicht mehr zur Mutter gehen. Wieder einmal mit meiner Frau eine sehr unangenehme Aussprache gehabt. [...] Zwischen mir und ihr stehen ihre Eltern, für die sie bedingungslos Partei ergreift. Solche Aussprachen sollen nicht mehr vorkommen; man entfernt sich nur voneinander. Am besten ist es, man zieht sich immermehr auf sich selbst zurück! Es ist traurig. [...] Es kommt mir nun, wo ich fühle, daß mein Leben sich abwärts neigt, auf die Ausnützung jeder Stunde an. Trudi ist bei solchen Aussprachen völlig hemmungslos! [...] Ich muß gewiß ein großer Sünder sein, daß mich in verhältnismäßig jungen Jahren solches Leiden gepackt hat! [...] Gebe G'tt mir ein wenig Erleichterung und Harmonie zu Hause. Vor 14 Jahren fühlte sich Trudi nur mir verbunden, heute ist ihre Familie stark in den Vordergrund gerückt. Ich kann es nicht ändern! Zu etwas anderem: Nachdem in Ere% Israel ein hoher englischer Kolonialbeamter ermordet worden ist, haben die Engländer endlich energisch zugepackt und einen Teil der arabischen Haupthetzer eingesperrt. Der Mufti hat sich der Verhaftung durch die Flucht in die Omarmoschee entzogen! Die Schlesische Tageszeitung nimmt natürlich für die Araber Stellung. Eine Zeitlang war der Nationalsozialismus prozionistisch; aber das scheint nun vorbei zu sein. Und doch ist auch für den Nationalsozialismus der Zionismus die beste Lösung der Judenfrage. Ich glaube, es spitzt sich alles in der Welt sehr zu, und der Spanienkonflikt scheint den Weltkrieg zu bringen. Alles andere wäre besser als dies; dann geht die Welt in einem furchtbaren Chaos zugrunde! 3. Oktober 1937 Breslau, Sonntag. [...] Vielleicht ist es eine große Sünde; aber oft bitte ich G'tt, daß er mich erlöst; ich glaube, daß es immer schlimmer werden wird und die Qualen untragbar. 4. Oktober 1937 Breslau, Montag. [...] Heute ist unser Hochzeitstag; vor 14 Jahren habe wir geheiratet. Gutes und Schlimmes haben uns diese Jahre gebracht; aber ich will von Herzen dankbar sein, daß ich Trudi gefunden habe, die mir ja sehr beigestanden hat; denn leicht ist es ja mit mir sicher nicht immer gewesen; nun bin ich leider ein Mann geworden, dessen Kraft gebrochen ist und der sich sehr schleppen muß! Vielleicht müßte ich manchmal anders behandelt werden, weil vieles lange in mir nachwirkt. Aber Trudi ist auch ein impulsiver Mensch und sagt leicht in der Erregung Verletzendes. Vor allem ist es mir in diesen 14
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Jahren nicht gelungen, sie aus ihrer Familie zu lösen, mit der mich so nichts verbindet! 5. Oktober 1937 Breslau, Dienstag. [...] Anfall von Herzschwäche bekommen; das nimmt mich immer seelisch sehr mit. Mit Trudi im Kino auf der Gabitzstraße gewesen; ich war schon viele Jahre nicht im Kino. Einen hübschen Film gesehen: Jaqueline macht von sich reden. Schöne Aufnahmen aus Paris! Natürlich schwimmt in so einem Film alles in Geld. Die Wochenschau voll von der üblichen Propaganda. Gestern brachte die Schlesische Tageszeitung unter der Überschrift „Hebräische Frechheit" eine Notiz, in der sie sich darüber aufregte, daß die Synagogengemeinde Mannheim gegen die Umwandlung eines alten Friedhofs in einen Autoplatz Einspruch erhoben hat. Pietät scheint mir keine Frechheit zu sein! [...] In einem Kriegsbuch Ganghofers gelesen, das in Serbien spielt und furchtbare Greuel schildert1! Und nun scheinen die Japaner im Fernen Osten auch auf eine ziemlich bestialische Weise Krieg zu führen, was die Welt ohne weiteres schluckt! Ich sah gestern im Film Bilder von der Einnahme von Nanking. Wenn die großen Mächte eben nicht einschreiten, so haben sie offenbar vor dem Weltbrand Angst. [...] 7. Oktober 1937 Breslau, Donnerstag. Gestern [...] für mich gearbeitet; meine Karthotek über Bücher aus der jüdischen Geschichte vervollständigt. [...] Nachts lange munter gelegen; einen alten Roman von Schulenburg: „Jesuiten des Königs"2 gelesen, den ich aus der Erinnerung verloren hatte. Er behandelt die letzten Zeiten des Wilhelminischen Deutschlands. Heute früh schon eine unangenehme Unterhaltung mit Trudi. Sie wollte mein Einverständnis, daß sie jetzt nach Berlin fährt; sie war ärgerlich, daß ich ihr die Entscheidung überlasse. [...] Trudi wird also in den nächsten Tagen mit Susanne nach Berlin fahren, obwohl sie meine Meinung kennt, daß ich es nicht wünsche. Ich fuhr dann mit der Straßenbahn nach dem Postscheckamt zusammen mit Professor Weis vom früheren Johannesgymnasium, der es ja sehr gut mit mir meint, wir tauschten Erinnerungen aus! Haus, Stadtbibliothek, einen früheren Schüler, den ehemaligen Rechtsanwalt Schück getroffen, der jetzt Buchhalter in einem jüdischen Pferdegeschäft ist. Der junge Mann vergißt auch rechtzeitig auszuwandern; auch den früheren Amtsgerichtsrat Selten, der mit seinen Nerven offenbar vollkommen fertig ist; er konnte nicht einmal die Bibliothekszettel ausfüllen. Auf dem Karlsplatz Ella Brienitzer getroffen; sie hat jetzt
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Ludwig Albert GANGHOFER: Die Front im Osten, 2 Teile, Berlin 1915. Werner von der SCHULENBURG: Jesuiten des Königs. Roman. Stuttgart 1927.
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eine Stellung bei der Winterhilfe für ein halbes Jahr fest. Ich erzählte ihr einiges von den Jungen! [...] 8. Oktober 1937 Breslau, Freitag. Das Diktieren gestern hat mir Freude gemacht und mich abgelenkt, wie ja überhaupt die Arbeit dasjenige ist, was mich aufrecht erhält! Es gelang mir sogar eine kleine Skizze „Drom Jehuda". Auch in die Briefe an die Kinder draußen versuche ich, meine ganze Liebe hineinzulegen. [...] Ich bin nun wie zerbrochen, werde aber trotzdem versuchen, Ruth Hirschel die Stunden zu geben. [...] 10. Oktober 1937 Breslau, Sonntag. Das war gestern einer der furchtbarsten Tage in meinem Leben. [...] Doch ich lebe weiter, und ich habe sogar am Nachmittag wieder etwas arbeiten können. Es ist alles immer eine Duplizität der Ereignisse; es kam gestern früh ein Brief des Propagandaministeriums mit all den Unterlagen, die notwendig sind, um die Zulassung als Mitarbeiter für die jüdischen Zeitungen zu erhalten. Da in den Fragebögen auch Fragen nach der politischen Vergangenheit sind, so ist es fraglich, ob ich diese Zulassung erhalten werde. Mein Herz hängt sehr an dieser journalistischen Tätigkeit und deshalb will ich auch alles tun, um sie mir zu erhalten; es sind weniger materielle Gründe als geistige. [...] Die Töchter sind mir an solchen Tagen eine große Aufrichtung, Ruth ist sehr gut zu mir. Zwischen Trudi und mir stehen ihre Eltern! Darüber komme ich nicht immer hinweg! Die Morgenpost brachte, G'tdob, einen Brief von Ernst mit der Beglaubigung seiner Unterschrift vor dem Konsul von Jaffa; er hat leider 85 Piaster dafür zahlen müssen! Hoffentlich hilft es ihm etwas für die Zukunft! [...] 11. Oktober 1937 Breslau, Montag. Gestern in der Mittagstunde konnte ich etwas mit Trudi Spazierengehen. Ich war ja schon recht lange nicht in die Luft gekommen; es war recht schön. [...] Fräulein Cohn diktiert, alle die Schriftstücke, die an das Propagandaministerium eingereicht werden müssen. Da Trudi am Abend nicht weggehen wollte, ich andererseits noch Post wegzubringen hatte, es aber auch nicht riskierte, allein zu gehen, so bat ich Rudolf, mich abzuholen, wir gingen zum Postamt 18 und zurück; man hat sich bei dieser Gelegenheit auch wieder einmal gesprochen, was ganz gut ist. [...] Am Vormittag [...] in Ruths Schule. Mit Fräulein Lange, Ruths Deutschlehrerin, Rücksprache genommen; menschlich hört man über das Kind immer das beste, die Leistungen lassen ja zu wünschen übrig. In der Schule ist alles im Umbau begriffen; das Dachgeschoß wird zu einer Aula ausgebaut, und da muß im zweiten Stockwerk alles abgestützt werden. Daniel gesprochen; ich soll noch in diesem Monat im jüdischen Lehrerverein einen Vortrag halten; voraus-
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sichtlich werde ich über Probleme der jüdischen Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters sprechen! Auch die Gesellschaft Eintracht hat sich wegen eines Vortrages telefonisch gemeldet. An Arbeit wird es nicht fehlen; wie es mit den Körperkräften aussehen wird, weiß ich nicht. Eine kurze Unterredung mit dem Architekten Hadda! Es war mir interessant, was er mir über das Studium von Hans Proskauer sagte: er sei ganz dagegen, halte ihn auch nicht für begabt; er bestätigte mir auch die antizionistische Einstellung meiner Schwester. Ich sagte ihm ja auch, daß wir gar nicht miteinander stünden. Mit Frau Jakob weggegangen, die jetzt auch ein paar Stunden dort unterrichtet. Auch mein früherer Kollege Schäffer ist dort gelandet. Alfred Cohn soll an die Waldschule Kaliski nach Berlin gegangen sein! Herr Direktor Abt erstrebt hier das Jugenddezernat der Gemeinde; ein sehr ehrgeiziger und intriganter Herr, der wenig Freunde unter den Kollegen hat. [...] 12. Oktober 1937 Breslau, Dienstag. Diktiert, unter anderem einen Vortrag über jüdische Bücher, den ich voraussichtlich am 18. des Monats in der Gesellschaft Eintracht halten werde. Ganz sicher ist es nicht, da ich noch nicht weiß, ob ich für den preußischen Landesverband werde reisen müssen. Im Augenblick kann ich mir das gesundheitlich gar nicht vorstellen. [...] Ich lebe immer vom Kaffee zum Sympathol, und doch muß ich froh sein, daß es noch hilft. [...] Was im Augenblick auch sehr auffällt, sind die wachsenden Rohstoffschwierigkeiten Deutschlands. In den Zeitungen steht davon natürlich nichts; aber beispielsweise können die Eisenbetonzäune auf der Kaiser-WilhelmStraße nicht zu Ende gebaut werden, weil kein Eisen da ist! Die Zuteilung von Vieh an die Fleischer ist sehr gering, Speck ist knapp. Der Unterschied nur gegenüber Kriegs- und Inflationszeit: Über all das darf nicht gesprochen und geschrieben werden. Es existiert durchaus nicht. Ich gehöre nun durchaus nicht zu den Leuten, die aus all dem einen Zusammenbruch des Regimes prophezeien! Die deutsche Organisationsfähigkeit kann auch damit fertig werden! Jedenfalls ist der Himmel voll von drohendsten Wolken! 13. Oktober 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Brief von Ernst; er geht nun an seinen endgültigen Ansiedlungspunkt; wo [es] sicherlich im Augenblick gefährlicher ist. G'tt wird ihn behüten! Ich bin stolz auf ihn, daß er diesen Weg als Aufbauer von Ere% Israel beschreitet. Ich wünschte, ich könnte bei ihm sein! Gestern abend bin ich mit Trudi noch etwas spazierengegangen. [...] 14. Oktober 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Ein Gespräch mit Voranmeldung aus Berlin vom preußischen Landesverband; ich sollte nun auch noch in Kiel reden; aber ich
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mußte alles absagen, da ich ja hier schon viele Verpflichtungen übernommen habe, die ich nicht mehr rückgängig machen kann. Die Sekretärin war sehr verschnupft, aber ich kann es nicht ändern. Abgesehen von den hiesigen Verpflichtungen hätte ich mir auch im Augenblick eine derartige Reise schlecht zugetraut; und wie es häufig eine Duplizität der Ereignisse gibt; die heutige Post brachte eine Einladung zu zwei Vorträgen in Gleiwitz und Beuthen am 27. 10., den ich auch nicht Folge leisten kann, weil ich am gleichen Tage hier einen Vortrag übernommen habe. Manchmal kommt monatelang nichts und dann alles auf einmal. [...] 15. Oktober 1937 Breslau, Freitag. [...] Bank, wo mir der Vorsteher und der Kassierer ein paar nette Worte sagten, daß ich nun schon 25 Jahre Kunde bei der E-Kasse bin; ich habe mich für Schweizer Devisen für die Weihnachtsferien vormerken lassen; gebe G'tt, daß ich die Reise machen und Susannchen zu Wölfl mitnehmen kann1! Wenn ich mich jetzt nicht hätte vormerken lassen, würde ich auf keinen Fall etwas bekommen können. [...] Nach Tisch geschlafen, um vier Uhr kam einer meiner Studenten, um sich ein Buch zu holen (Holländer), dann Paul Proskauer, dem ich bei Aufsätzen half. Synagoge, mit Trudi etwas spazieren gegangen, Rabbiner Lewin begleitet. [...] 16. Oktober 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Susannchen hat mir beim Ordnen der Bibliothek geholfen; ich habe einen Teil der belletristischen Bibliothek neu aufgestellt! Die Raumnot in meiner Bibliothek ist sehr groß; aber ich kann natürlich jetzt für eine Erweiterung nichts ausgeben! [...] Die Abendpost brachte mir eine Anfrage des Jüdischen Kulturbunds in Erfurt wegen eines Vortrages. In dieser Woche habe ich viel Anfragen gehabt! Aber werde ich das noch schaffen können! Es freut mich trotzdem natürlich sehr! 17. Oktober 1937 Breslau, Sonntag. Heute gibt es mancherlei nachzutragen! - Zuerst ein merkwürdiger Traum: Ich träumte, ich sei zum Wunderrabbi Friedmann nach Sadagora gefahren2 und gab dort einen Zettel mit meinem Namen ab; dann wurde ich aufgerufen: Erst sagte mir der Wunderrabbi, ich sollte mir gut die Hände abschütteln, damit er mir die Hand geben könnte, dann sah er mir ins Auge und sagte: „Sie gefallen mir nicht", „herzkrank". Ich antwortete ja, die Zons, Erster Hinweis auf ein geplantes Treffen mit dem Sohn Wolfgang in der Schweiz. Die Reise fand erst in den Ostertagen 1938 statt. In Sadagora bei Czernowitz lebte bis zu seinem Tode 1906 der weit verehrte Rabbi Israel Friedmann.
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einen Sohn in Paris, den anderen in Palästina. Das interessierte ihn sehr und in diesem Augenblick wachte ich auf. Lange habe ich über diesen Traum nachdenken müssen. [...] Auf der Kürassierstraße sind mancherlei Veränderungen vor sich gegangen. Das große Gebäude, das von Freimaurer-Logen erbaut worden ist, ist verkauft worden und steht im Augenblick unbenutzt da1. [...] Die Schlesische Zeitung las ich heute bei Dr. Schäffer. Sie bringt aus Palästina höchst alarmierende Nachrichten. Die Araber haben die Gebäude auf dem Flugplatz in Ludd in Brand gesteckt, der Mufti ist aus der Omarmoschee entflohen, auf dem Seewege hat er sich nach der libanesischen Republik begeben; dort will man ihn auch nicht haben, und so ist er nach Syrien gegangen! Angeblich sollen auch aus Saudi-Arabien Hilfskräfte für die Araber in Palästina auf dem Marsch sein! Hinter alledem steckt zweifellos Italien, das England Schwierigkeiten bereiten will. Man ist in Sorge um alle die lieben Menschen, die man in Ere£ hat! Aber um ein Vaterland muß man eben kämpfen! Auch sonst sieht es in der Welt sehr drohend aus; am Dienstag soll in London eine entscheidende Konferenz sein in der spanischen Frage; wenn es da nicht über die Frage der Freiwilligen zu einer Einigung kommt, und das halte ich für ausgeschlossen, dann will Frankreich sich seine Handlungsfreiheit vorbehalten: das heißt Öffnung der Pyrenäengrenze, und Herr Ribbentrop hat erklärt, daß Deutschland und Italien das auch tun müßten. Das kann den Krieg bedeuten! Die Situation ist fast hoffnungslos verfahren. Die inneren Schwierigkeiten wachsen nach der Rohstoffseite ja sicherlich! Heute ist auf den Straßen großer Sammeltag für die Winterhilfe. [...] 19. Oktober 1937 Breslau, Dienstag! Ich habe gestern alles geschafft, wenn auch mit sehr viel Anstrengung und sehr viel Medikamenten. [...] Nach Tisch ins Seminar gefahren; zwei, wie ich hoffe, anständige Vorlesungen gehalten, noch etwas mit einem Studenten unterhalten, ein paar Augenblicke auf der Promenade spazieren gegangen; Sitzung des Redaktionsausschusses; Abendbrot bei Wolff, wo es jetzt viel netter ist; Vortrag in der Eintracht; Ere% Israel Frühjahr 1937; es war außerordentlich voll! Um halb sieben zu Hause; Trudi kam um halb zwölf; sie hatte am gleichen Abend auch in der Wizo gesprochen! Heute früh wurde ich durch ein Ferngespräch schon um halb sieben aus dem Schlaf geholt, ich sollte am nächsten Sonntag in Beuthen sprechen; in diesen 14 Tagen habe ich außerordentlich viel zu tun! Hoffentlich schaffe ich es! 20. Oktober 1937 Breslau, Mittwoch. [...] In unserer Gegend fällt immer wieder auf, wieviel geIn der Kürasierstraße 15 lag das Oddfellow-Haus.
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baut wird! So ist eine ganze neue Straße, die Anzengruberstraße vor kurzem entstanden. [...] Von vier bis sechs diktiert, dann eine Stunde an Fräulein Schwarz, sie will den Unterricht jetzt aufgeben, was ich auch billige; ihr eigener Unterricht in der Paula Ollendorff-Schule strengt sie sehr an. Abends mit Trudi noch etwas spazieren gegangen! Zu meiner Freude kam gestern von Ernst eine Karte; er ist in Maos, Post Ain Charod, wo es ihm sehr gut gefällt. Ein tapferer Junge; er wird es zweifellos dort viel schwerer haben. 21. Oktober 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Mit Trudi zusammen in die Stadt gefahren. An den historischen Übungen haben nur zwei Leute teilgenommen! Es tut mir leid, denn dann bleibt immerhin fraglich, ob ich sie werde aufrechterhalten können. Ich lese eine Urkunde Friedrichs II. [...] Kurze Zeit im Lesezimmer der Gemeinde; dann bei Wolff Abendbrot gegessen; Ortsgruppe: Vortrag über PeelPlan. [...] Der Vortrag war leidlich besucht. Natürlich kommen nicht so viele Menschen, wenn es etwas zum Lernen gibt, wie zu einer Sensation! Ich habe in etwa eineinviertel Stunde einen Uberblick über das umfangreiche Buch zu geben versucht; Dr. Berg leitete. Im allgemeinen war es wohl gelungen; mit Bildhauer nach Hause gegangen. 22. Oktober 1937 Breslau, Freitag. [...] Seminar. Beide Vorlesungen waren gut besucht; dann mit einer meiner Schülerinnen: Ruth Lisband aus Sprottau unterhalten, die zu Hause viel mit ihren Eltern auszustehen hat; es ist immer das alte Lied des Nichtverstehens der jungen Generationen. Ein liebes Mädel, noch sehr gehemmt. Auf die Abendvorlesung im jüdischen Lehrhaus vorbereitet. Lesesaal der Gemeinde, dann die jüdische Vorlesung über Palästinakunde; das Klassenzimmer war sehr voll: 32 Menschen. In gleicher Zeit Direktor Abt, wo wohl über 60 waren! Zu einem Schuldirektor kommen wohl viele aus Zweckmäßigkeitsgründen! [...] 23. Oktober 1937 Breslau, Sonnabend! [...] Gestern ging es mir, G'tdob, ganz gut; aber man darf den Tag nicht vor dem Abend loben; Als mich Trudi von der Synagoge abholte und ich mit ihr und dem Rabbiner Lewin ein wenig spazieren ging, bekam ich wieder einen schlimmen Anfall von Herzschwäche, mußte mich setzen. [...] Als ich nach Hause kam, las ich in der Jüdischen Rundschau, daß Thea Strumpf aus Brieg gestorben ist! Es war so eine liebe, junge Frau; ich hatte ihr so zugeredet, ein Kind zu bekommen, und nun ist sie an einer Schwangerschaftspsychose zugrundgegangen. Man fühlt sich da seelisch mitschuldig!
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Dr. Aron Eliasberg1 und Frau sind auch in Israel dahingegangen. Sehr feine Menschen, er war der Verlagsleiter des Weltverlages und ich habe mit ihm vor Jahren in geistiger Fühlung gestanden. Ich glaube, daß man ihm seine geistige Mitarbeit an der Schaffung des Zionismus wenig gedankt hat, immerhin hatte er eine Stelle in Jerusalem! 23. Oktober 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Es tut mir auch sehr leid, daß Trudi durch mein Befinden so in Mitleidenschaft gezogen wird. [...] Ich fühle mich oft so grenzenlos einsam; vielleicht mache ich Trudi unberechtigte Vorwürfe. Es liegt ja auch viel in den Verhältnissen. Ich möchte auch noch etwas zu den jüdischen Fragen unserer Zeit anmerken. Es ist schwer, sich mit den Menschen zu verstehen, die nicht sehen wollen, daß das Schicksal des jüdischen Volkes nur mit Ere% Israel verbunden ist; es ist schwer, mit allen denen zu einer Gemeinschaft zu kommen, die alles und jedes von dem Gesichtspunkt ansehen, was ihnen selbst nützt, so werden immer wieder die gleichen Fehler gemacht! Diejenigen, die wie unser Ernst die echte Hingabe haben, sie opfern ihre jugendliche Arbeitskraft und ihre Begeisterung für das Volk. [...] Mein ganzes Leben war ein solcher Kampf um das jüdische Volk, und ich bin oft traurig, daß ich nicht alle mehr überzeugen kann. Daß unser Volk lebt und immer leben wird, ist mir gewiß. [...] 24. Oktober 1937 Breslau, Sonntag. [...] In Beuthen [...] Vortrag in der Wizo. Es war der Raum im Hamburger Hof sehr voll. Frau Julie Guttmann leitete; in der Diskussion sprachen verschiedene Leute; unter anderem der Rabbiner Golinski, der Rechtsanwalt Weißmann und andere. [...] Ich wohnte bei Salo Guttmann, Gartenstraße 24; ich war dort sehr gut aufgehoben; vielleicht habe ich in demselben Bett geschlafen, in dem Trudi vor 15 Jahren geschlafen hat, als sie für den Keren Hajessod in Beuthen war. [...] Heute früh schon zeitig munter; mit Guttmanns gefrühstückt, die mich auch wegen ihrer beiden Söhne um Rat gefragt haben: 13 und 15. Der Mann ist noch nicht sehr für eine chalusgsche Erziehung eingestellt. Eine Stunde mit Frau Böhm spazieren gegangen, die ich viele Jahre nicht gesprochen hatte! Der jüngere Sohn ist mit der )uge,ndalijah in Kinnereth, der ältere wird auf Hachscharah gehen! Ihr Bruder, der Zahnarzt Dr. Kamm, ist auch schon in Palästina! Der Zahnarzt Dr. Guttmann ist nach England gegangen! Es hat sich viel in Beuthen seit diesem Sommer geändert, und es sind viele abgewandert. Ich machte dann einen Besuch bei Rabbiner Golinski, die ja immer sehr nett zu
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Aron Eliasberg (1879-1937), Verleger, Gründer des „Heinebunds". Vgl. Willy COHN, Verwehte Spuren, S. 304f.
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mir waren! Ich lernte auch die ältere Tochter kennen, die ein besonders schönes Mädchen ist: klassische Gesichtszüge, von Beruf Kindergärtnerin! [...] Ein Bahnsteig in Beuthen ist dem Zugverkehr nach Polen vorbehalten und durch hohe eiserne Gitter abgeschlossen. Frau Guttmann erzählte mir, daß bei der Kontrolle die deutschen gar nicht mehr mit den polnischen Beamten sprechen! Die Welt zerfällt immer mehr in feindliche Gruppen! [...] 25. Oktober 1937 Breslau, Montag. [...] Trudi war bei der Beerdigung von Thea Strumpf in Cosel. Ich war dankbar, daß sie da war! 26. Oktober 1937 Breslau, Dienstag. Ich möchte noch etwas zur jüdischen Lage in unserer Zeit vermerken. Der wirtschaftliche Vernichtungskampf gegen die Juden in Deutschland wird mit aller Schärfe geführt! Offiziell werden ja die Juden in ihrem geschäftlichen Gebaren nicht gehindert, aber der Druck auf die Arier, nicht in jüdische Geschäfte zu gehen, wird immer stärker. Den Mitgliedern der N.S.D.A.P., den Beamten, ist das verboten, da jetzt große Neuaufnahmen in die Partei stattfinden, so wird die Zahl derer, die nicht in jüdische Geschäfte ex officio gehen dürfen, immer größer; man erfaßt auf diese Weise auch Kriegsopferorganisationen und so weiter. Der Zwang also, die Geschäfte zu verkaufen, wächst von Tag zu Tage. Um die Großen braucht einem dabei nicht bange zu sein; bei ihnen reicht der Erlös zu einem gesicherten Leben! Schwer ist es für die Kleinen und Mittleren, die von dem Erlös nicht leben können, die eine neue Existenz nicht finden und die ihr Geld nicht ins Ausland bringen können! Da ja alle Dinge legal geschehen, so tritt dieses Monetärische in der Vernichtung wenig in Erscheinung. Bei den Warengeschäften sieht man von Tag zu Tag mehr Firmen, die die Worte „arisch" im Fenster haben; wenn man sich fragt, warum dieser Vernichtungskampf jetzt gerade mit solcher Schärfe geführt wird, so scheint mir die Antwort in der außenpolitischen Situation Deutschlands zu liegen; sie weist keinerlei Fortschritte auf; die Stärke Englands wächst, der Drang Deutschlands nach Kolonien wird nicht befriedigt, an den Hauptfronten macht Franco auch keine Fortschritte. Wenn Deutschland in Palästina jetzt so offen für die Araber Stellung nimmt, so gehört das eben auch in den Rahmen der antienglischen Politik, die Deutschland und Italien treiben! Die Lage ist in dieser Beziehung hoffnungslos; alles treibt da zu einem großen Krieg, der das Ende Europas bedeuten kann. Selbstverständlich kann das auch alles ganz anders kommen! Es ist mißlich, in solchen Zeiten Prognosen zu stellen, wenn man auch die Richtung zu erkennen vermag. 27. Oktober 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Während ich gestern die Post diktierte, ordnete ich die Briefe, die mir Erna einst ins Feld geschickt hatte, eine längst vergangene Zeit
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stand wieder auf. Wenn man älter wird, beschäftigt man sich überhaupt viel mit der Vergangenheit. Ich möchte meine schriftlichen Sachen einmal in größter Ordnung hinterlassen. - Man hätte noch viel zu leisten! 28. Oktober 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Anderthalb Stunden im Seminar lateinische Übungen abgehalten; Kurt Schwerin von der Anger-Schule nimmt jetzt auch daran teil, obwohl er bei Professor Santifaller gehört hat. [...] Noch einmal in die Stadt gefahren; ich hatte im jüdischen Lehrerverein bei Glogowski über das Thema „Probleme jüdischer mittelalterlicher Wirtschaftsgeschichte im Unterricht" zu sprechen. Der sehr sympathische Lehrer Rosenstein von der Volksschule am Rhedigerplatz leitete. Mit meinen Ausführungen fand ich zwar bei den ziemlich zahlreich erschienenen Lehrern große Aufmerksamkeit, aber die Diskussion blieb, wie das ja leider meist ist, auf einem erheblichen Tiefstand. - Ich hatte mir da von einem Gremium von Lehrern mehr versprochen! Aber man redete an den Dingen vorbei; am senilsten der alte Lehrer Moops, aber auch andere wie der Lehrer Wagschaal hielten es für richtig, mir apologetisch zu kommen. Man begreift durchaus nicht, daß ich mit diesen Forschungen letzten Endes dem Judentum dienen will. Mir will dies fast tragisch erscheinen! Wie sehr könnte unser Volk aus seinen Fehlern lernen, in die es sonst immer wieder zurückfällt; das beweisen ja auch die Schicksale der Juden in den überseeischen Ländern! Im Schlußwort wurde ich etwas deutlich, zumal Feilchenfeld die Grundlage der Diskussion völlig verschoben hatte! Sehr töricht benahm sich auch der neue Leiter der Anger-Schule, der frühere Hindenburger Studienrat Pollack, der übrigens auch mit dem Paragraphen 4 endassen worden ist, dem es aber gelungen ist, diesen Paragraphen in den Paragraphen 6 verwandeln zu lassen. Ein Mann, der sich an die Stelle des herausgeekelten Schäffer gesetzt hat, dürfte überhaupt nicht als Kollege behandelt werden! [...] 29. Oktober 1937 Breslau, Freitag. [...] Später mit Trudi spazieren gegangen; es war so warm, daß man ohne Mantel gehen und im Freien sitzen konnte. Trudi hat dann noch Susannchen aus dem Kindergarten abgeholt und an den Gabitzer Sauerbrunnen gebracht. Wir kauften die Berliner Illustrierte, die zum dritten Mal Aufnahmen aus Palästina brachte, bildtechnisch sehr schön, aber die Unterschriften sehr gehässige! Am Nachmittag zwei Stunden im Seminar. [...] Dann kam Lewkowitz ins Dozentenzimmer und sagte mir, daß er meinen Standpunkt am Mittwoch abend noch einmal vor dem Kuratorium vertreten hat. Die Herren sagten, daß sie die Honorierung jetzt nicht anders vornehmen könnten, weil ihnen durch die Reichsvertretung jede feste Anstellung verboten worden ist; also werde ich mich damit begnügen müssen; jedenfalls habe ich mich gefreut, daß Lewkowitz
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sich in so netter Weise der Sache angenommen hatte. [...] Lesesaal der Gemeinde. Die Bücherausleihungen steigen, nachdem auf meinen Vorschlag [hin] die Gebühren für belehrende Bücher erlassen worden sind und auch ein Artikel im Gemeindeblatt erschienen ist. Vorlesung im jüdischen Lehrhaus: Negev, Schefela1. Sehr voll. Fräulein Silberstein, die besonders an mir hängt, begleitete mich nach Hause. Ich sollte eventuell noch in der Jung-Wizo eine Arbeitsgemeinschaft übernehmen; ich habe das auch durch Fräulein Silberstein ablehnen lassen. [...] Zwei Stunden waren an Ruth Hirschel zu geben [...] ich gab ihr in der Pause die Berliner Illustrierte zu lesen und machte sie auf die Palästinabilder aufmerksam; nach der Pause sagte sie mir, die Modebilder hätten sie mehr interessiert! Man müßte solchen Unterricht hinwerfen. Diese liberalen Juden sind gar nicht wert, daß man sich mit ihnen geistig beschäftigt. Ich habe ihr gründlich die Meinung gesagt; am liebsten hätte ich ihr den ganzen Unterricht hingeworfen! [...] 30. Oktober 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Mit meiner großen Arbeit2 bin ich in einer gewissen inneren Krise; ich sehe, wie gering das Verständnis ist, auf das ich selbst bei intellektuellen Juden hierbei stoße; wie ich es neulich wieder bei der Diskussion im Lehrerverein feststellen konnte. Man will ja durchaus nicht etwas Ungünstiges hören, und weil unser Volk nicht aus seinen eigenen Fehlern lernen will, wird man es so schwer vor der Wiederholung seines Schicksales bewahren können. Trotzdem werde ich mich bemühen, die Arbeit weiterzuführen und zu einem gewissen Abschluß zu bringen, wenn sie auch zu meinen Lebzeiten vielleicht niemals gedruckt werden kann. - Ich möchte nicht so viele angefangene Sachen haben. [...] 31. Oktober 1937 Breslau, Sonntag. Gestern [...] um zwölf Uhr kam Daniel, wir gingen etwas miteinander spazieren; er wollte mich um Rat fragen wegen seiner pädagogischen Prüfung; diese können jetzt Juden vor einer staatlichen Prüfungskommission ablegen. [...] Die Prüfung ist für ihn wichtig, wenn er weiter an dem Gymnasium unterrichten will. Nachdem wir dieses durchgesprochen hatten, bat ich ihn, wenn ich einmal nicht mehr sein sollte, sich meines schriftlichen Nachlasses anzunehmen; denn vieles, was ich jetzt schreibe, wird zu meinen
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Über palästinensische Landschaften, nämlich die Wüste Negev und das Hügelland von Schefela. Das geplante Werk über das Pfandrecht.
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Lebzeiten kaum das Licht der Druckerschwärze sehen! Er versprach mir das auch1. [...] Am Abend hatte ich noch einen Vortrag über meine Palästinareise zu halten, um viertel acht bin ich langsam in die Stadt gelaufen; ich sprach in der Sozialen Gruppe, die ihre Räume im Hause des Gloriakinos auf der Schweidnitzer Straße hat. Es war sehr voll, und ich habe dort auch von ganzem Herzen gesprochen; es ist schön, den Menschen etwas bieten zu können, die sonst wenig haben! Es war außerordentlich voll und auch starker Beifall. Unter den Zuhörern war Mieze Simon geb. Kuttner aus Groß Strehlitz, die nun eine kleine durchschnittliche Frau geworden ist! Teepause! Dann sang eine niedliche Sängerin Fräulein Wiener sehr hübsche Sachen; sie war auch ein erfreulicher Anblick. Ein Herr Simenauer spielte Bandonion! Wie unser Publikum ist: Die Sängerin trug ein Couplet vor, das mit den Worten schloß „Yes Sir" oder „no Sir". An einer Stelle sang sie, wie schön sie ist, und dann ertönte es von unten: „Oh Sir", „Oßer"*! [...] Ruth macht heute das große jüdische Schwimmfest mit und hat vorhin antelefoniert, daß sie ihre Sache ganz gut gemacht hat und erst um zehn Uhr nach Hause kommt. Bei Wolff ist noch eine Nachfeier! Sie geht nun auch schon aus. [...] Rudolf getroffen, dann noch etwas spazieren gegangen. Trudi blieb zu Hause! Ich bin oft dankbar für mein Innenleben; es hilft mir über vieles hinweg! [...] 2. November 1937 Breslau, Dienstag. [...] Die Dinge spitzen sich immer mehr zu; eines Tages wird ein furchtbarer Weltkrieg doch losbrechen. [...] Ich lese aus meiner Bibliothek von Egon Erwin Kisch: Schreib das auf Kisch.3 Ein erschütterndes Kriegsbuch. So war der Krieg wirklich, und so wird er immer sein! [...] 3. November 1937 Breslau, Mittwoch. Gestern vormittag zwei Stunden an Ruth Hirschel. Gräßlich, wenn ein junges Mädchen sagt: „Ich habe keine Ideale, und ich will auch keine Ideale haben". Ich wäre glücklich, wenn sie die Stunden aufgeben würde. Später rief mich der Lehrer Rosenstein an: ich soll am 21. 11. in Beuthen vor den oberschlesischen Lehrern sprechen! Nun fahre ich dreimal in kurzer Zeit ins Industriegebiet. [...]
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Cohn hatte zu Rabbinet Rudolf Daniel, bei dem er seit zweieinhalb Jahren Hebräisch gelernt hatte, ein besonderes Vertrauen gefaßt. Aber auch Daniel wanderte im Februar 1939 nach Palästina aus (vgl. Tgb. vom 17. Februar 1939). Rudolf Daniel (1909-1995) übte auch in Israel weiter den pädagogischen Beruf aus. Jiddisch Osser: Ausruf im Sinne von „das ist doch nicht zu glauben" (Hinweis Louis Cohn). Egon Erwin KlSCH: Schreib das auf Kisch. Das Kriegstagebuch von Egon Erwin Kisch. Berlin 1930.
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Die gestrige Jüdische Rundschau brachte die Nachricht, daß der High Commissioner Wauchope1 zurückgetreten ist. Man nimmt an, daß nun ein sehr scharfer Mann ernannt werden wird. Es sieht so aus, als ob die Engländer mit ihrer Lammsgeduld den Arabern gegenüber nun zu Ende wären und durchgriffen. Das hätte schon 1936 geschehen können, dann wäre viel jüdisches Blut nicht geflossen. Es scheint überhaupt so, als ob England nun aus seinem Schlafe erwache; man scheint sich auch an Amerika um Hülfe gewandt zu haben; trotzdem erscheint es mir noch fraglich, ob die faschistische Gruppe mit ihrer Diszipliniertheit nicht die stärkere ist. [...] 4. November 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Bei Daniel Hebräisch; ich merke doch, welche Fortschritte ich mache, gestern ging es mit dem Extemporieren ganz gut, auch mit dem Sprechen; ich konnte den Brief von Ernst hebräisch erzählen. Mit Daniel ein Stück zusammen nach Hause gelaufen! Uber Seminarangelegenheiten gesprochen. [...] Nach Ruths Geburtstag will Trudi mit Susanne nach Berlin fahren; gewiß, ich kann das verstehen, aber ich bin innerlich oft sehr entsetzt, daß Trudi trotzt wiederholter Bitte niemals den Schwiegereltern gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, wie ich über ihr Verhalten uns gegenüber denke. [...] 5. November 1937 Breslau, Freitag. Gestern früh ziemlich schlecht gefühlt, in die Stadt gefahren, Kränzelmarktapotheke, Optiker Garai wegen der Helioskope für Giwath Brenner, Haus, Papiergeschäft Lissner, Stadtbibliothek, dort Waldemar von Grumbkow gesprochen! Von unserer Reise erzählt; nach Hause gelaufen. Nach Tisch etwas geschlafen. Seminar, zwei Stunden gelesen, dann kam mich Trudi mit Susannchen besuchen. Trudi kam von ihrem Frauenarzt; es ist nicht ausgeschlossen, daß etwas Kleines unterwegs ist2. - Ich liebe viele Kinder. Im Seminar noch gearbeitet, Trudi noch einmal telefonisch angefragt, ob sie sich beruhigt hat. Jüdisches Lehrhaus, vorher noch etwas im Lesesaal der Gemeinde. Im Lehrhaus sehr voll und heiß: das Scharon3 durchgenommen; Fräulein Silberstein begleitete mich noch nach Hause; heißen Tee, keinen Schlaf, Phanodorm, nun ziemlich erschlagen! Im Lesesaal der Gemeinde das Danziger Gemeindeblatt gelesen, in Danzig müssen die Juden durch Ladeneinschlagen und Plünderungen ziemlich viel zu leiden gehabt haben. Fräulein Silberstein erzählte mir Sir Arthur Grenfell Wauchope (1874-1947), von 1931-1938 Oberkommissar von Palästina. Dieses Mal war die Vermutung zutreffend. Am 19. Juli 1938 wurde die Tochter Tamara geboren. Scharon: Der Name einer Küstenlandschaft in Palästina, die sich vom Südrand des Karmel bis Jaffa erstreckt.
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von einer Betriebsversammlung ihrer Lebensmittel-Engrosfirma Perlhefter, in der sich dieser vor meist arischen Angestellten als den besseren Juden bezeichnete. So etwas läuft noch frei herum. Er hat seine Kinder katholisch taufen lassen, nun sind sie wieder jüdisch. Die arischen Leute haben sich nur lustig gemacht! 6. November 1937 Breslau, Freitag. [...] Zum Abendbrot hatte ich meinen Schüler Schajowitz eingeladen, einen der begabtesten aus dem Seminar. Er stammt aus Siebenbürgen, es geht ihm materiell sehr schlecht, obwohl von seinen ungeheuren talmudischen Kenntnissen ein großer Teil der Studenten am Seminar lebt! Wir lernten nach dem Abendbrot ein Stück Gemara, das für meine Arbeit wesentlich ist; er erklärte mir diesen schwierigen Begriff: Jiusch sehr gut. 6. November 1937 Breslau, Sonnabend. Heute vormittag den TÄoraabschnitt von Jakob und Esau gelesen; meine Briefe geordnet! Vergangene Jahrzehnte stiegen wieder auf. Vielleicht ist es für mich nicht gut, daß ich mich mit all den Sachen beschäftige, aber ich möchte gern Ordnung in meinen Dingen haben. [...] Jetzt war mein Schüler Schajowitz da, er war in Besorgnis, daß ihm die Orthodoxen Vorwürfe machen, daß er bei uns gegessen hat, es gibt viele gräßliche lippenfromme Menschen; gerade diesem armen Kerl wollte ich etwas Gutes antun! Um halb sieben will ich nach Gleiwitz fahren! [...] 7. November 1937 Gleiwitz, Sonntag. Ich bin heute früh nach dem Frühstück, das ich mit der Familie Werner eingenommen habe, und bei dem wir vor allem über Zionistisches sprachen, mit Frau Werner und dem Jungen, einem Steppken von fast fünf Jahren, spazieren gegangen; der Junge hat mir hereingeredet, wie es Menschen gerne tun, die in diesem Alter sind und sich nicht genügend beachtet fühlen! Über Zukunftsfragen der Familie Werner gesprochen, die jetzt nach dem für Oberschlesien so bedeutsamen 15. 7. auch ihrer Existenz verloren haben; die Praxis ist sehr zurückgegangen; sie möchten sehr gerne nach Palästina, finden keinen Entschluß. Der Vater der Frau Werner hatte mehrere Monate Gefängnis hinter sich; er lebte in Arnswalde, Existenz vernichtet, jetzt sind sie nach Königsberg gezogen! Viele meiner früheren Bekannten sind fort. Eine Familie Neißer, Margot Lange, die mich in Gleiwitz seiner Zeit gemalt, das heißt gezeichnet hat, hat in Jerusalem ein Blumengeschäft; schade, daß ich das nicht gewußt habe. Nach dem Spaziergang am Ufer des Klodnitzkanals hin und an der Klodnitz zurück, an dem kleinen Tiergarten vorbei, nahm ich noch teilweise an einer Vorstandssitzung der Z.O.G. [teil]; es ist ja für die Kleinarbeit jetzt zum
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Teil eine schwere Zeit. Da es nicht so leicht ist, Zionist zu sein, springen viele wieder ab. [...] Um 13.50 mit dem D-Zug abgefahren, mit zwei Juden aus Polen! Der eine Palästinenser in Kirjath Bialik, der andere ein junger Mann von 21 Jahren, der nach Belgien auswanderte, gute Menschen, Iwrith gesprochen, so gut ich es kann! Ein Stück des KlalJisraelempfunden! [...] 9. November 1937 Breslau, Dienstag. [...] Zwei Stunden Seminar! Dadurch, daß ich die Nachmittagsstunden habe, können an den Vorlesungen nicht so viele Leute teilnehmen, wie ich möchte und vielleicht auch sie wollen. Manche haben über 50 Vorlesungsstunden, und dann noch die Vorbereitungen! Mit Kurt Schwerin gesprochen; er las mir den Bericht vor, den er über meinen Lehrervereinsvortrag für die C.V. Zeitung gemacht hat1. [...] Trudi hat seit einigen Tagen auch wieder kleine Temperaturen. Am Sonntag will sie nach Berlin fahren; ich bin sehr unglücklich darüber. [...] Die N.S.-Presse schlägt jetzt einen sehr scharfen antizionistischen Ton [an], nachdem sie früher dem Zionismus verhältnismäßig freundlich gegenübergestanden hat. Wahrscheinlich muß auch hier gezeigt werden, daß die Juden nichts leisten; außerdem ist dies sicher antienglisch gemeint. [...] Heute vor 19 Jahren war die Revolution in Berlin. Ein ganzes schönes Stück Weltgeschichte hat man miterlebt. Heute gilt dieser Tag als Trauertag [der] N.S.D.A.P., weil 1923 der Putsch in München war. Draußen wehen die Hakenkreuzfahnen! Friede ist in der Welt nicht mehr und wird auch so bald nicht wieder werden! 10. November 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Trudi war bei Dr. Schäffer, da sie seit einigen Tagen Temperatur hat. [...] Sie soll sich in den nächsten Tagen sehr schonen und viel liegen. Am besten wäre es natürlich, man würde bald operieren; vorläufig hat der Doktor nichts davon gesagt. Ich bin natürlich nicht dafür, daß sie am Sonntag nach Berlin fahrt; aber das wird wohl kaum zu erreichen sein. Ich hasse diese Berliner Reisen. [...] Augenblicklich ist die Judenhetze wieder einmal im Vordergrund. In München ist jetzt eine Ausstellung „der Ewige Jude", bei der Streicher gesprochen [hat]2. Ich wünschte mir unser jüdisches Volk viel härter, nicht so sehr sich selbst bemideidend.
Kurt SCHWERIN: Die Behandlung von Fragen aus der jüdischen Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters im Unterricht; in: C.V. Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum 16 (1937), Nr. 48 (2. Dezember 1937), S. 4. Die Ausstellung „Der ewige Jude" wurde am 8. November 1937 im Deutschen Museum in München mit Reden von Gauleiter Julius Streicher und Propagandaminister Joseph Goebbels eröffnet.
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11. November 1937 Breslau, Donnerstag. [...] Trudi geht es, G'ttlob, besser; sie will ja unter allen Umständen am Sonntag nach Berlin fahren! Heute ist Ruths 13. Geburtstag; wenn sie ein Junge wäre, so wäre es eine große Feier gewesen. Ruth hat sich in jeder Weise charaktermäßig ganz prachtvoll entwickelt; sie ist uns eine große Stütze und ein sehr zuverlässiger Mensch mit großem Verantwortungsgefühl, der sich in jeder Lage sehr bewährt hat! Ich habe ihr das auch gestern abend gesagt! Wenn man ihr in die Augen sieht, weiß man, mit wem man es zu tun hat. [...] 12. November 1937 Breslau, Freitag. Gestern [...] mittags etwas festlicheres Essen zu Ehren von Ruth. Kinder legen ja darauf großen Wert, und so ein Geburtstag soll ihr ja für immer eine Erinnerung sein an all die Liebe, mit der man sie im Elternhaus umhegt hat. Nur in den Kindern finde ich heute die Kraft, mein Schicksal zu ertragen! [...] In Danzig muß es ja ziemlich „hochher" gegangen sein; man entnimmt dies aus den Verurteilungen durch den Schnellrichter; ob er die wirklich Schuldigen packt, weiß man nicht. Jüdisches Lehrhaus: Haifa und das Emek; wie ich hoffe, eine gelungene Stunde. [...] 13. November 1937 Breslau, Sonnabend. Gestern [...] in die Synagoge, was mir immer sehr fehlt, wenn es nicht der Fall ist. Mit Rabbiner Lewin nach Hause! Abendbrot gegessen! Abends eine große Aussprache mit Trudi. [...] Der Arzt hat Trudi erlaubt, daß sie morgen nach Berlin fährt; Susannchen fährt auch mit. Sie werden mir beide fehlen. [...] In Brasilien ist nun auch ein autoritäres Regime. Man hat den Eindruck, daß der Faschismus die Erde erobern wird. Vom jüdischen Standpunkt aus interessiert mich die Frage, inwieweit das Verhalten der eingewanderten Juden zur Beschleunigung dieses Prozesses beigetragen hat. Es sieht so aus, als ob es für den schrankenlosen Wirtschaftsindividualismus der Juden wenig Platz wäre. Meiner Ansicht nach sagt man ihnen das auch niemals von jüdischer Seite! So wird das Verhängnis weiter um die Erde gehen. Bei Kirjath Anawim sind wieder brave Chalusgm bei der Arbeit gefallen! Noch niemals haben die Engländer einen dieser Mörder ermittelt. 14. November 1937 Breslau, Sonntag. [...] An meiner wirtschaftsgeschichtlichen Arbeit einiges geordnet. Den Druck dieser Arbeit werde ich niemals erleben! Keine jüdische Stelle wird Resultate drucken, die unerwünschte Dinge bringen; doch will ich sehen, daß ich die Dinge zu einem gewissen Abschluß bringe! In meinem Kopf wäre auch eine Arbeit über jüdische Wirtschaftsgesinnung fertig, die auch nicht zu veröffentlichen ist.
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Nach monatelangem Ausbleiben bekam ich gestern eine Antwort vom Schockenverlag, den ich wegen Veröffentlichung von Skizzen von mir angefragt hatte; aber mit der Antwort konnte ich auch nicht viel anfangen, und ich will nun einmal abwarten, wie die Unterhaltung mit Stefan Münz und seinem Verlag wird. [...] 17. November 1937 Breslau, Mittwoch. [...] Tagung des Provinzialverbandes im Sitzungssaal der Gemeindevertretung; nachher gemeinsames Mittagessen bei Glogowski. Rabbiner Ochs hielt einen guten Vortrag über Presbyter im alten Judentum. Auch zwei Referate von Dr. Weißenberg über die Beratungsstelle und ein Referat von Friedländer 1 über die Arbeiterfürsorge standen auf beträchtlicher Höhe. Sonst kein Wort über Ere% Israel und die Opfer, die jetzt dort fallen. Die Tischreden auf dem Niveau der Vorkriegszeit. Diese Leute haben nichts gelernt und nichts vergessen. Im ganzen ist mir dieser Styl gräßlich! Bei Tisch mich hauptsächlich mit Dr. Freyhan unterhalten. Von Berlin aus war der Kammergerichtsrat Wolff vom Preußischen Landesverband entsandt und Frau Professor Berliner von der Reichsvertretung. Man kann immer nicht begreifen, warum das doppelt der Fall sein muß. Herr Wolff hatte nicht einmal ein Käppchen für das Tischgebet. Jubiläumsreden wurden gehalten, als ob nichts gewesen wäre. Verschiedene Leute aus der Provinz gesprochen, so Erich Kohn aus Schweidnitz, Künstlinger aus Waldenburg, Böhm aus Brieg. Mit Fräulein Guttmann aus dem Verband etwas zusammengeraten; sie wollte mir eins auswischen und behauptete, ich hätte in der Wizo schlecht gesprochen. [...] 18. November 1937 Breslau, Donnerstag. Wenn ich noch über den gestrigen Tag nachdenke, so muß ich mit einem gewissen inneren Entsetzen feststellen, daß ein erheblicher Teil der deutschen Juden noch immer nichts gelernt hat und seinen Stiefel nach derselben Art lebt wie vorher. Man hat es auch in diesem Provinzialverband besonders verstanden, alle zionistischen Elemente fernzuhalten. Besonders gräßlich ist dieser Rechtsanwalt Scheyer aus Liegnitz, und ein ebenso erfreulicher Zeitgenosse ist der Rechtsanwalt Friedmann aus Glogau. Diese bewußt witzelnde Art! [...] Ich habe mich so aus den meisten Menschen herausentwickelt, daß ich nur noch wenig Kontakt finde! Höchstens mit den Konservativen und den Zionisten. [...] 19. November 1937 Breslau. Freitag. [...] Meine Hörer im Jüdischen Lehrhaus möchten gerne eine Fortsetzung des Kursus; aber die Leitung wird es nicht bewilligen, um keine Raphael Friedländer (geb. 1881), Beamter im jüdischen Wohlfahrtsamt und der jüdischen Arbeiterfürsorge in Breslau, wanderte 1939 nach Palästina aus.
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Ausnahme zu machen, obwohl genügend Leute vorhanden sind! [...] Mit der Schweizer Reise wird [es] wohl nichts werden, da ich keine Devisen erhalten werde; jetzt kommen erst die Leute dran, die im August beantragt haben. Und zur Devisenstelle wegen einer Dringlichkeitsbescheinigung möchte ich nicht gehen! 20. November 1937 Breslau, Sonnabend. [...] Gestern am Nachmittag zur Synagoge gegangen, etwas mit Rabbiner Lewin unterhalten. Das Freitagabendessen hat Ruth sehr nett zurechtgemacht, und es war recht gemütlich. Wenn ich jetzt mit dem Mädel allein bin, kann ich auch mehr auf sie eingehen. Sie ist ja in jeder Beziehung ein prachtvoller Kerl, nur daß ihre Schulleistungen nicht auf der Höhe sind. Im Leben wird sie sich schon bewähren. [...] Heute vormittag habe ich die Urkunde Belas IV. excerpiert und sie mit der Herzog Friedrichs II. verglichen; wie schön ist es, wenn man wieder etwas arbeiten kann. [...] Auf dem Hindenburgplatz die alten Bermanns getroffen. Bei Mutter einen Besuch gemacht; dort war ihr altes Fräulein Grete da, die jetzt Frau Walter heißt und in Schweidnitz verheiratet ist. Ich habe mich sehr gefreut, sie wiederzusehen. [...] 21. November 1937 Breslau, Sonntag. Gestern [...] wieder einmal ein Stück an meiner Arbeit geschrieben, und zwar etwas über die Juden in der Schweiz im Mittelalter. Ein heißes Fußbad, etwas Abasin und dann eine erträgliche Nacht. Heute früh etwas länger gelegen; Ruth ist inzwischen Schwimmen gegangen. [...] Heute mittag fahre ich nach Beuthen, um am Nachmittag dort im jüdischen Lehrerverein über die jüdische Schule und ihren Einfluß auf die jüdische Charakterbildung zu sprechen. Es ist draußen wieder wärmer geworden, so daß ich mir nicht den Pelz umzuziehen brauche! [...] 21. November 1937 Im Zuge nach Beuthen. [,..]1 22. November 1937 Breslau, Montag. Kurz vor 12 Uhr bin ich in Breslau angekommen. [...] Im Zuge konnte ich ja auch nur kurz und oberflächlich meine Eindrücke skizzieren; es war wirklich ein Erfolg, daß alle oberschlesischen Lehrer dem Verein beitraten! Ich habe mich bemüht, in meinen Ausführungen all das aufzuzeigen, was jüdische Schule jüdischen Menschen geben muß. Es war ja, da es sich nicht um einen großen Kreis handelte, eine urteilsfähige Schar, und es freute Die folgenden drei Seiten des vorliegenden Tagebuches, auf denen Cohn seinen Aufenthalt in Beuthen schildert, sind unleserlich.
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mich, daß sie so mitgingen; es war des Schweißes der Edlen wert. Nette Worte sagte mir der Justizrat Kochmann, der Chef des Oberschlesischen Provinzialverbandes. Die allgemeine jüdische Situation verschärft sich in Oberschlesien zunehmend; die Liquidation geht rasch weiter. In Breslau sind jüdische Lokale wegen angeblicher „Unsauberkeit" geschlossen und einzelne [Juden] bestraft worden. In Groß Strehlitz hat sich ein alter Jude, wegen angeblicher sittlicher Verfehlungen verhaftet, im Gefängnis das Leben genommen, Inhaber eines großen Geschäfts! Ich glaube, daß die jüdischen Instanzen die Liquidation noch werden beschleunigen müssen. 23. November 1937 Breslau, Dienstag. Gestern [...] am Nachmittag zwei Stunden Kolleg; der Besuch der Vorlesungen leidet stark unter der Überlastung der Hörer auf anderen Gebieten und dadurch, daß meine Vorlesungen am Nachmittag sind. Eine meiner Schülerinnen, Fräulein Keschner aus Wuppertal, begleitete mich ein Stück nach Hause. Am Abend alte Briefe meines seligen Vaters geordnet, die besonders schön waren; sicher war er ein besserer Schwiegersohn als ich! [...] Von Trudi kam ein Brief mit, G'ttlob, sonst guten Nachrichten. Nur möchte sie, womit ich ja innerlich schon gerechnet hatte, länger in Berlin bleiben. Sie schreibt, daß sie sich dort gut ausruht! [...] 25. November 1937 Breslau, Donnerstag. Gestern [...] ins Seminar gefahren! Zwei Stunden lateinische Übungen abgehalten; im Finstern, denn es ist gestern und heute hier große Verdunklungsübung; über Holzbrücke des Stadtgrabens getastet; die Welt im Dunkeln ist ganz anders. Das war ein für Liebespärchen geeigneter Abend! Im Restaurant 2. Klasse des Freiburger Bahnhofs Abendbrot gegessen bei schummriger Beleuchtung, gegen viertel acht Uhr weggefahren; von Ingramsdorf an konnte man im Abteil Licht machen; in Königszelt umgestiegen; mit einer Viertelstunde Verspätung in Schweidnitz angekommen, vom Vorsteher Herrn Kohn, abgeholt, gleich in die Synagoge; wie traurig wirkt eine so klein gewordene Gemeinde in der großen Synagoge; sie füllt nur noch wenige Bänke, auch wenn sie vollzählig versammelt ist. Ein ganz liebenswürdiger Beamter der Gestapo. Eine Stunde über Palästina gesprochen, auf Wunsch der Schweidnitzer Gemeinde ein wenig nüchtern, aber doch das Positive stark betonend. Nachher noch im Gemeindezimmer zusammengesessen; ich konnte noch der Schwester, allerdings etwas verspätet, die Grüße der Mirjam Preuß aus Giwath Brenner ausrichten! Der Beamte der Gemeinde, Herr Karlsberg, der in Reichenbach wohnt, einer unerfreulichen Gemeinde; sein Sohn geht nach U.S.A! Alles spricht vom Aufbruch, die junge Generation ist meist schon weg. [...]
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26. November 1937 Breslau, Freitag. [...] Es ist etwas Merkwürdiges, wenn man so durch das verdunkelte Breslau geht; man gewöhnt sich übrigens recht rasch daran, sich im Dunkeln zurechtzufinden; die Gräbschnerstraße endang gegangen, dann die Hohenzollern- und Schwerinstraße1. Manches wirkt im Dunkel ganz anders, und die Instinkte aus dem Kriege, wo man ja viel im Dunkel gegangen ist, wachen wieder auf. 27. November 1937 Breslau, Sonnabend. [...] An meiner Arbeit stehe ich jetzt bei den Juden in der Schweiz im Mittelalter. Erst am Nachmittag weggegangen, Barbier, Synagoge; mit Rabbiner Lewin nach Hause. Den TAoraabschnitt von Joseph und seinen Brüdern gelesen. Ruth hat ein sehr gemütliches Freitagabendessen gemacht; das kleine Mädchen, das jetzt schon ein großes Mädchen ist, kann recht gut kochen! Sie ist überhaupt ein sehr verständiger Mensch. Nach dem Abendbrot Briefe meiner Mutter aus der Kriegszeit geordnet; wieviel Liebe und Sorge steckt darin. 28. November 1937 Breslau, Sonntag. Gestern [...] einen größeren Aufsatz „Aus vier Generationen jüdischer Briefe" auf den Weg gebracht; außerdem Briefe an Trudi und Ernst sowie die Beteiligung an einem Preisausschreiben der C.V. Zeitung. Trotz der großen Anstrengungen gut geschlafen. Ruth hat gestern in musterhafter Weise alles für den Haushalt Notwendige besorgt, ist auch bei der Großmutter gewesen. Sie macht das alles, ohne viel Aufhebens davon! 29. November 1937 Breslau, Montag. Gestern früh noch den Abschnitt über die Schweizer Judengeschichte fertig geschrieben, auf die Post gewartet; von Trudi kam unter den anderen Poststücken eine Karte. Ich bin immer sehr traurig, wenn sie so wenig Persönliches schreibt. Mein Schaffen hängt ja auch von der Resonanz ab, die ich bei ihr finde. Ich hatte wegen mancherlei Gedanken einen seelisch sehr schlechten Tag; ich wollte nicht so viel arbeiten, aber vielleicht wäre es besser gewesen. Am Vormittag bin ich auch eine Stunde spazieren gegangen; aber es war rauh und häßlich und man konnte gegen den Wind nicht an. Auf der Kürassierstraße gewesen und mir den Fortschritt der Straßenbahnbauten angesehen; die Stadt breitet sich rasch aus. Früher hat man dem ein ganz anderes Interesse entgegengebracht, nun ist man in der eigenen Heimatstadt ein Fremder geworden. Am Nachmittag war ich um vier Uhr in der Synagoge. Es war der erste Abend Chanukkah, leider war es in der Synagoge ziemlich kalt und ungemütSchlecht lesbare Passage, aber das wäre der Weg zur Opitzstraße.
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lieh. Zu Hause mit Frau Alexander und Ruth die Lichter angezündet, es hat mir sehr gefehlt, daß Trudi und Susanne nicht da waren. Ich hänge sehr an Chanukkah. [...] 30. November 1937 Breslau, Dienstag. Gestern brachte die Morgenpost eine wärmere Karte von Trudi, über die ich mich sehr gefreut habe; auch zwei schöne Karten kamen von Ernst; er beschreibt so hübsch seine Gegend. [...] Von viertel elf bis dreiviertel eins habe ich mit dem Studenten Absberg Einhards Biographie Karls des Großen gelesen; die beiden anderen konnten nicht kommen! Einer (Schwerin) war krank, der andere (Bileski) mußte Vertretungen machen. [...] Mit Ruth die ChanukkahMchtex entzündet! Vorher noch eine Stunde mit ihr französisch gepaukt; sie schreibt heute [eine] Arbeit, und ich wünsche ihr von ganzem Herzen, daß es ihr gelingt. [...] Das Palästinaamt klingelte mich noch wegen eines Vortrages in Glogau (Chanukkah) am nächsten Sonnabend [an]; ich habe zugesagt. Ruth war am Abend Trendels bei Schüftans und mich hatten sie auch eingeladen; ich ging noch kurze Zeit herunter, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. [...] Wir unterhielten uns eine Zeidang. In Breslau ist übrigens wieder eine jüdische Fleischerei Moskowitz geschlossen worden. In Oberschlesien sollen über 70 jüdische Schnapsstätten geschlossen worden sein. 1. Dezember 1937 Breslau, Mittwoch. Gestern [...] die Chanukka\ich.te.t angezündet und noch etwas Muße gehalten. [...] Frau Alexander, unsere Untermieterin, bekam gestern einen Schreck. Ihre Tochter Hannelore ist in Tel Aviv am Blinddarm operiert worden; aber es ist G'ttlob, gut vorbeigegangen. Natürlich ist es für Eltern schwer, in einem solchen Augenblick nicht bei seinem Kinde sein zu können! Aber das muß, wie so vieles andere, getragen werden. Wenn man ein Kind weit draußen in einem Kollektivdorf hat, so kommt immer noch die Sorge um das rechtzeitige Erkennen einer Krankheit hinzu. Aber man muß das alles weit von sich schieben! [...] 2. Dezember 1937 Breslau, Freitag. [...] Zu einer Chanukkaitzvtt im Seminar gelaufen; zuerst fand ein feierlicher G'ttesdienst in der Seminar-Synagoge statt; Nathan, den ich schon von langen Jahren vom Elisabethgymnasium her kenne, hat feierlich die Lichter entzündet, ein anderer Student hat vorgebetet. Nachher war eine sehr nette Feier in den Bibliotheksräumen des Seminars. Es wurden humoristische
Trendel: Viereckiger Kreisel oder Drehwürfel, auf dessen Seiten hebräische Buchstaben stehen. Mit dem Trendel wird an Chanukka-Abenden gespielt.
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Sachen vorgetragen; am schlechtesten kam das Kuratorium fort, das sich anscheinend zu den Studenten wenig schön zu benehmen scheint. Ich konnte nur bis dreiviertel sechs bleiben, da ich noch eine Besprechung wegen des Lehrerkursus im Anger hatte. Wegen der Chanukkai€\ y > i t r
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