Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes [1 ed.] 9783428415809, 9783428015801


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Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes [1 ed.]
 9783428415809, 9783428015801

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Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes Erster Teilband

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 31 / 1

Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes

Herausgegeben in Verbindung mit Franz Becker und Klaus König von Carl H e r m a n n U l e

DUNCKER

& HUMBLOT

/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1967 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

Vorwort Die Anregung zu dem vorliegenden Sammelband „Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes" habe ich dadurch erhalten, daß das „Istituto per la Scienza dell' Amministrazione Pubblica" i n Mailand i m Sommer 1964 das Werk „ L a Procedura Amministrativa" herausgebracht hat, das i n italienischer Übersetzung die Texte der Verwaltungsverfahrensgesetze und Gesetzentwurf e von Italien, Österreich, Belgien, der Tschechoslowakei, Großbritannien, Israel, Jugoslawien, Norwegen, Holland, Polen, der Bundesrepublik Deutschland, Spanien, der Vereinigten Staaten von Amerika, Schweden, der Schweiz, Ungarn und der UdSSR enthält, denen eine umfassende Einführung i n die Probleme einer solchen rechtsvergleichenden Zusammenstellung von Giorgio Pastori vorangestellt ist. Diese Texte werden durch verhältnismäßig kurze Vorbemerkungen eingeleitet; nur dem Zweiten Teil des Bandes, der das Verwaltungsverfahren in Italien behandelt, hat der Generaldirektor des Instituts, Prof. F elidano Benvenuti , eine längere Einleitung vorausgeschickt. Das Erscheinen dieses umfangreichen und bedeutenden Werkes, das bislang die einzige rechtsvergleichende Zusammenstellung auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts war, ließ nach reiflicher Überlegung und i n enger Fühlungnahme mit dem ausgezeichneten Kenner des Verwaltungsverfahrensrechts, Herrn Akademischen Rat Dr. Franz Becker i n Saarbrücken, i n mir den Entschluß reifen, ein ähnliches Werk i n deutscher Sprache herauszugeben. Dabei leitete mich nicht nur der Gedanke, daß bei den Vorarbeiten für ein deutsches allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, die jetzt mit dem Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVerfG 1963) einen gewissen Abschluß erreicht haben, i n gleicher Weise wie i n Italien die Kenntnis der entsprechenden Bemühungen in anderen Staaten der europäischen und außereuropäischen Staatenwelt von Nutzen sein könne, sondern auch die Vorstellung, daß der Zugang zu diesen Gesetzen und Gesetzentwürfen des Auslandes auch i n solchen Staaten begrüßt werden wird, i n denen ähnlich wie i n Italien und der Bundesrepublik Deutschland die Kodifizierung des Verwaltungsverfahrensrechts bereits in Angriff genommen worden ist oder noch in Angriff genommen werden soll. Nachdem die Drucklegung des Werkes dadurch gesichert erschien, daß das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung einen erheblichen Zuschuß zu den Druckkosten zugesichert hatte, konnte im Früh-

VI

Vorwort

jähr 1965 m i t der Vorbereitung und Zusammenstellung des Werkes begonnen werden. Seitdem hat Herr Regierungsassessor Dr. Dr. Klaus König, der damals als Wissenschaftlicher Referent in das Forschungsinstitut der Hochschule Speyer eingetreten war, einen wesentlichen A n teil an der herausgeberischen Arbeit gehabt. Dabei wurde folgender Plan verwirklicht: Die Sammlung umfaßt Gesetze und Gesetzentwürfe zum allgemeinen Verwaltungsverfahren. Dabei bedeutet „allgemein", daß es sich um Verfahrensregeln handelt, die von bestimmten Verwaltungszweigen, Sachaufgaben oder materiellen Rechtsgebieten losgelöst sind. Zum Verständnis der ausländischen Gesamtentwicklung sind jedoch auch solche Texte berücksichtigt, die nicht den ganzen administrativen Entscheidungsprozeß, sondern nur Ausschnitte aus dem Verfahrensablauf enthalten. Jeder Einzelbeitrag enthält vor dem Text der Gesetze oder Gesetzentwürfe eine Einführung in das betreffende ausländische Verwaltungsverfahrensrecht. U m diese Einführungen sind erste Sachkenner des jeweiligen Landes gebeten worden, damit sie aus ihrer Kenntnis der geschichtlichen und systematischen Zusammenhänge den Zugang zu den dem geltenden Recht zugrundeliegenden sozialen Tatbeständen vermitteln. So w i r d den methodischen Bedenken, die gegenüber rechtsvergleichenden Zusammenstellungen oft erhoben werden, weitgehend Rechnung getragen. Der Sammlung des ausländischen Verwaltungsverfahrensrechts ist ein Beitrag über das Verwaltungsverfahrensrecht der europäischen Gemeinschaften angefügt, um auf die entsprechende Fragestellung i n der übernationalen Verwaltung hinzuweisen. Durch die Aufnahme des Textes (nicht der Begründung) des Musterentwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVerfG 1963) i m Anhang soll dem Benutzer des Werkes — insbesondere dem ausländischen — ein möglichst geschlossener Überblick gegeben werden. M i t der Herausgabe eines Sammelbandes „Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes" ist die Vorstellung verknüpft, auf einem Gebiet aktueller Gesetzgebungsproblematik — der Kodifizierung des Verwaltungsverfahrensrechts — einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten. Rechtspolitik auf der Grundlage der Rechtsvergleichung ist das Ziel, das mit diesem Band angestrebt wird. Daß mit seinem Inhalt nur das Material für gründliche rechtsvergleichende Untersuchungen geliefert wird, versteht sich freilich von selbst. Die auch sprachlich zuverlässige Zusammenstellung solchen Materials ist aber die Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Erörterung rechtsvergleichender Fragen. Allerdings wurden terminologische Abweichungen unter Mitarbeitern dort nicht ausgeräumt, v/o sich aus dem Verständnis der Sache verschiedene

Vorwort

VII

Ausdrucksweisen anbieten. Um die Erörterung nicht von vornherein einzuengen, ist die Auswahl nicht auf die Länder beschränkt worden, in denen die politischen und sozialen Verhältnisse denen in der Bundesrepublik Deutschland entsprechen, vielmehr sind alle Staaten mit Verwaltungsverfahrensgesetzen, auch die des sog. Ostblocks, berücksichtigt worden. Dazu w i r d i m übrigen auf die Allgemeine Einleitung verwiesen, die in ihren Abschnitten I und I I I 2 von Dr. Dr. Klaus König, i n ihren Abschnitten I I und I I I 1 von Dr. Franz Becker verfaßt ist. Das Werk wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht alle von mir angesprochenen Mitarbeiter sofort ihre Bereitwilligkeit zur Mitarbeit erklärt und ihren Beitrag pünktlich zur Verfügung gestellt hätten. Es ist mir daher ein aufrichtiges Bedürfnis, ihnen auch an dieser Stelle für den entscheidenden Anteil, den sie damit am Zustandekommen des Werkes gehabt haben, herzlich zu danken. Dieser Dank gilt auch den Übersetzern, ohne deren entsagungsvolle Arbeit die Texte nicht den Grad an Zuverlässigkeit und Lesbarkeit erlangt hätten, der ihnen — hoffentlich — eigen ist. Weiter gebührt Dank Herrn Wiss. Assistenten Otto Krupke, Saarbrücken, für die Mitarbeit bei der Anfertigung des synoptischen Sachverzeichnisses und Fräulein Referendarin Barbara Freitag, Landau, sowie den Herren Referendaren Rudolf Ernst, Königslutter, und Dr. Joachim Schwarz, Hildesheim, für die Hilfe bei den Korrekturarbeiten. Dem Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung ist für die finanzielle, Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann für die verlegerische Unterstützung herzlichst zu danken. Mein besonderer Dank gilt schließlich Herrn Dr. Franz Becker und Herrn Dr. Dr. Klaus König, die das Werk von seinen Anfängen an mit Rat und Tat begleitet haben und ohne deren nie erlahmende Mitarbeit es in so kurzer Zeit nicht zustande gekommen wäre. Speyer, den 1. Dezember 1966 Carl Hermann Ule

Inhalt Erster Teilband ALLGEMEINE EINLEITUNG V o n Akadem. Rat Dr. Franz Becker, Saarbrücken, und Regierungsassessor Dr. Dr. Klaus König, Speyer

BELGIEN

3

85

Einführung V o n Conseiller d'Etat Professor Henri

Buch, Brüssel

87

Dokumentation Gesetzentwurf betr. die F o r m der A k t e der Verwaltungsbehörden

ISRAEL

117

119

Einführung V o n Professor Dr. Hans Klinghoff er, Jerusalem

121

Dokumentation Gesetz zur Änderung des Verwaltungsverfahrens (Begründung)

ITALIEN

151

155

Einführung V o n Professor Dr. F elidano

Benvenuti,

Mailand

157

Dokumentation E n t w u r f eines allgemeinen VerwaltungsVerfahrensgesetzes

JUGOSLAWIEN

176

197

Einführung Von Professor Dr. Lado Vavpetic,

Ljubljana

199

Dokumentation Gesetz über das allgemeine Ver waltungs verfahren

214

X

Inhalt NIEDERLANDE

319

Einführung Von Wissenschaftl. Mitarbeiter Johannes Jan Oostenbrink,

Utrecht ..

321

Dokumentation Gesetz über die Anfechtung von Ver waltungs Verfügungen

345

Gesetz über den Staatsrat

353

Beschluß zur Ausführung des Gesetzes über den Staatsrat als auch zur Ausführung des A r t i k e l s 125 des Beamtengesetzes

363

Bericht der Kommission der Niederländischen Vereinigung für V e r waltungsrecht über allgemeine Bestimmungen des Verwaltungsrechts

364

NORWEGEN

371

Einführung Von Hoyesterettsadvokat Audvar

Os, Oslo

373

Dokumentation E n t w u r f zu einem Gesetz über das Verfahren i n Verwaltungssachen (Verwaltungsgesetz)

396

ÖSTERREICH

411

Einführung Von Professor Dr. Hans Spanner,

München

413

Dokumentation Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen

437

Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz

446

Verwaltungsvollstreckungsgesetz

473

POLEN

479

LL.D., Lodz

481

Einführung Von Professor Joseph Litwin Dokumentation Verwaltungsverfahrensordnung

508

Inhalt

XI

Zweiter Teilband SCHWEDEN

557

Einführung Von Hovrättsradet Dozent Dr. Gustaf Petrén, Stockholm

559

Dokumentation E n t w u r f eines Gesetzes über das Verwaltungsverfahren

577

SCHWEIZ

603

Einführung Von Verwaltungsgerichtspräsident Dozent Dr. Ernst Fischli, Liestal ..

605

Dokumentation Bund: E n t w u r f — Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren (Bundesverwaltungsverfahren)

619

K a n t o n Zürich: Gesetz über den Rechtsschutz i n Verwaltungssachen (Verwaltungsrechtspflegegesetz)

638

K a n t o n Bern: Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege

644

K a n t o n Schwyz: Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege i m K a n t o n Schwyz

662

K a n t o n Freiburg: Gesetz über das Verfahren bei Verwaltungsbeschwerden

674

K a n t o n Solothurn: Gemeindegesetz Vollziehungsverordnung zum Gemeindegesetz

679 682

K a n t o n Basel-Landschaft: Gesetz über die Organisation der Staats- und Bezirksverwaltung u n d das Verfahren vor den Verwaltungsbehörden des Kantons u n d der Bezirke (Organisationsgesetz)

684

K a n t o n Sankt Gallen: Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege

689

K a n t o n Graubünden: Verordnung über das Verfahren dem K l e i n e n Rat

i n Verwaltungsstreitsachen

vor 707

Inhalt

XII K a n t o n Tessin:

E n t w u r f — Gesetz über das Verfahren i n Verwaltungssachen

721

K a n t o n Waadt: Verordnung über das Verfahren bei Verwaltungsbeschwerden

734

SPANIEN

741

Einführung Von Professor Fernando

Garrido

Falla,

Madrid

743

Dokumentation Gesetz über das Verwaltungsverfahren

763

TSCHECHOSLOWAKEI

805

Einführung Von Professor Dr. Pavel Levit,

Prag

807

Dokumentation Regierungsverordnung über das Verfahren i n Verwaltungssachen . . .

UNGARN

824

837

Einführung Von Professor Dr. Jânos Martonyi,

Szeged

839

Dokumentation Gesetz über die allgemeinen Vorschriften des Verwaltungsverfahrens

VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA

865

897

Einführung Von Professor Dr. Fritz Morstein Marx, Speyer Dokumentation E i n Gesetz zur Verbesserung der Rechtspflege durch Vorschriften über ein rechtsstaatliches Verwaltungsverfahren

EUROPÄISCHE G E M E I N S C H A F T E N

899

924

943

Einführung Von Regierungsassessor Dr. Dr. Klaus König, Speyer

945

Dokumentation Europäische Gemeinschaft f ü r Kohle und Stahl: Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft Kohle und Stahl

für 967

Inhalt

XIII

Vorläufige Geschäftsordnung für den Besonderen Ministerrat

der

Europäischen Gemeinschaft für Kohle u n d Stahl

969

Hohe Behörde: Geschäftsordnung

971

Hohe Behörde: Entscheidung Nr. 22/60 über die Ausführung A r t i k e l s 15 des Vertrages

des 973

Protokoll über die Sprachenregelung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle u n d Stahl

975

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft : Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ..

976

Vorläufige Geschäftsordnung schaftsgemeinschaft

979

des Rates der Europäischen

Wirt-

Geschäftsordnung der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

984

Der Rat: Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

für 990

Europäische Atomgemeinschaft: Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Vorläufige Geschäftsordnung des Rates der Europäischen gemeinschaft

991 Atom-

Geschäftsordnung der Kommission der Europäischen Atomgemeingemeinschaft

994

999

Der Rat: Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Atomgemeinschaft 1003 Europäische Gemeinschaften: Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates u n d einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1004

ANHANG: BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes

1007

(EVwVerfG 1963) 1009

SYNOPTISCHES S A C H V E R Z E I C H N I S

1045

Allgemeine Einleitung

Allgemeine Einleitung Von Franz Becker und Klaus König I. 1. Prozeßgesetze sind ein traditioneller Gegenstand unserer Gesetzbücher über die hoheitlichen Äußerungen der öffentlichen Gewalt. Doch das mit folgender Einschränkung: Während die Erzeugungswege der Rechtsakte — nehmen w i r diese den Überlegungen von Adolf Merkl 1 entsprechende Formel weit und sehen darunter Zustandekommen, Form und Bekanntmachung, Vollzug, Anfechtung, Überprüfung und Änderung 2 — i m Bereich der Gesetzgebung durch Verfassungen und parlamentarische Geschäftsordnungen, i m Bereiche der Rechtsprechung durch umfangreiche ProzeßOrdnungen i n Verfahrensregeln gesetzt worden sind, sehen w i r i m Bereiche der Verwaltung nicht solche geschlossenen, als wesentliche Elemente des Handlungssystems begriffenen Bestände. Das bedeutet freilich nicht, daß der verfahrensmäßige Aspekt des Verwaltungshandelns vom Gesetzgeber noch nicht bedacht worden ist. Bereits ein Blick i n die i m Bericht der Sachverständigenkommission für die Vereinfachung der Verwaltung beim Bundesministerium des Innern 3 verzeichneten Vorschriften des Bundesrechts belehrt über die Vielzahl der Verfahrensnormen und der i n ihnen inhaltlich aufgenommenen Gesichtspunkte. Genauso zeigen die Landesgesetzblätter, daß allgemein soziale wie spezifisch verwaltungsmäßige Bedarfslagen legislatorische Anweisungen zu unserem Problem hervorgerufen haben, und dies unter verschiedenartigen Techniken. Dazu lassen sich folgende Einteilungen vornehmen: Zahlreiche die Verwaltung betreffende Gesetze regeln die Prozeßfrage speziell i n bezug auf die sachlich gestellte administrative A u f gabe. Hier steht die Behandlungsweise i m Vordergrund, welche das Verfahrenselement unmittelbar i n Zusammenhang mit dem jeweiligen materiellen Verwaltungsrecht stellt, indem es beide i n demselben Gesetz vereinigt. Die formell-rechtliche Ausgestaltung reicht alsdann von 1

Vgl. Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien u n d B e r l i n 1927, S. 213. Vgl. K a r l August Bettermann, Das Verwaltungsverfahren, Bericht i n den Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Wien am 9. u n d 10. Oktober 1958, i n : V V D S t R L Heft 17, B e r l i n 1959, S. 121. 3 Bonn 1960, Anhang I I , S. 177. 2

r

4

Allgemeine Einleitung von Franz Becker und Klaus K ö n i g

der Aufnahme eines Verfahrensdetails bis zur Abhebung ganzer Gesetzesabschnitte prozessualen Inhalts. Aus der Definition des Verwaltungsverfahrensrechts erklärt sich letztlich, ob eine bestimmte Gesetzesnorm jenen Kategorien zuzuordnen ist oder nicht. So w i r d bei entsprechendem begrifflichen Verständnis 4 die übliche Aufhebungs- und Änderungsregel i m Polizei- und Ordnungsrecht entsprechend § 42 des (Preußischen) Polizeiverwaltungsgesetzes 5 zum Verfahrensrecht. M i t diesem Beispiel mag hinlänglich dargetan sein, wie weit man für die Detailregelung die prozessuale Kennzeichnung i n Anspruch nehmen kann. Zu den materiell-rechtlich verknüpften Verfahrensvorschriften fällt auf, daß die Gesetzgebung je nach Verwaltungszweigen verschieden weitreichend formelle Rechtsprobleme aufgegriffen hat. Aus den Entwicklungslinien lassen sich zwei Tendenzen hervorheben: Die Verfahrensweise der Verwaltung ist erstens dann häufig gesetzlich fixiert worden, wenn die öffentliche Hand besonders intensiv i n den individuellen Bereich eindringt, ohne daß dabei zwischen Eingriffsverwaltung und Leistungsverwaltung zu unterscheiden ist. Zweitens sind es sich i n einer Vielzahl gleichförmig wiederholende Entscheidungsvorgänge, die oft legislatorisch erfaßt worden sind. Demgemäß hat der Prozeßgedanke vor allem i n den Zweigen der Finanzverwaltung und der Sozialverwaltung Eingang gefunden. I m Sozialrecht finden w i r dann auch den weiteren Fall, daß die Verfahrensregelung aus dem Zusammenhang mit dem materiellen Verwaltungsrecht herausgelöst und i n einem Prozeßgesetz verselbständigt ist. Das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung 6 enthält solches noch auf eine bestimmte administrative Aufgabenerfüllung bezogenes, aber unter dem formell-rechtlichen Aspekt eigenständig zusammengefaßtes Recht. Die Abschnittsüberschriften dieses Gesetzes weisen das umfängliche Verzeichnis prozessualer Fragen nach: Zuständigkeit — Anträge — Die Beteiligten und ihre Vertreter — Aufklärung des Sachverhalts — Rechts- und Amtshilfe — Bescheid — Zustellung — Kosten und Auslagen — Akteneinsicht — Fristen — Berichtigung von Bescheiden — Amtsverschwiegenheit und Ausschließung von der M i t w i r k u n g i n Versorgungssachen. Einer anderen, den vorstehenden Behandlungsweisen gegenüberzustellenden Technik bedient sich der Gesetzgeber, wenn er Verfah4 Vgl. zum Verhältnis der Bestandskraftregeln von Verwaltungshandlungen zum Verwaltungsverfahrensrecht die Diskussionen i n den Verhandlungen der deutschen Staatsrechtslehrer zu Wien am 9. u n d 10. Oktober 1958, a.a.O., u n d i n den Verhandlungen des dreiundvierzigsten Deutschen Juristentages, München 1960, zum Thema: Empfiehlt es sich, den Allgemeinen T e i l des V e r waltungsrechts zu kodifizieren?, Bd. I I , Sitzungsberichte, Tübingen 1960. 5 V o m 1. J u n i 1931 (Preußische GS 1931 S. 77, ber. S. 136). 6 Vom 2. M a i 1955 (BGBl. 1955 I S. 202), geändert durch A r t . I I des Ersten Neuordnungsgesetzes v o m 27. J u n i 1960 (BGBL 1960 I S. 453, 474).

Allgemeine Einleitung von Franz Becker u n d Klaus K ö n i g

rensvorschriften nicht für spezielle administrative Sachgegenstände, sondern grundsätzlich für alle oder jedenfalls für einen breiten Umfang von Verwaltungsaufgaben erläßt. Hier kann man i n dem Sinne von allgemeinem Verfahrensrecht sprechen, als die Ausrichtung auf eine besondere Verwaltungsleistung, der Kontext zum speziellen materiellen Recht aufgegeben ist. Prozeßregeln solcher Abstraktion finden sich zunächst i n Gesetzen, die gewisse Verfahrensschritte aus dem gesamten Handlungsablauf herausgreifen und normativ festhalten. Nach dem Bestand des i n der Bundesrepublik geltenden Rechts geht es vor allem u m Verwaltungsvollstreckungsgesetze und Verwaltungszustellungsgesetze 7 . Weiter gibt es solches allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht i m Zusammenhang mit anderen, i m weiteren Sinne organisationsrechtlichen Materien. U m einen Ausnahmefall vorwegzunehmen: Das i n §§ 68 ff. der Verwaltungsgerichtsordnung 8 als verwaltungsgerichtliches Vorverfahren eingerichtete Widerspruchsverfahren ist — seine dogmatische Einordnung nach geltendem Verfassungsrecht sei dahingestellt 9 — rechtstheoretisch jedenfalls auch Verwaltungsverfahren. I m Grunde geht es aber hierbei um Verwaltungsorganisationsgesetze, die konnexe Prozeßprobleme mitlösen. Ob und i n welchem Umfang derartige Verwaltungsordnungen Verfahrensrecht enthalten, bemißt sich dann nach der schwierigen Abgrenzung zum Organisationsrecht i m engeren Sinne. Deswegen sei aus dem vielfältigen — auch rechtshistorischen 10 — A n schauungsmaterial das Erste Gesetz zur Neuordnung und Vereinfachung der Verwaltung (Erstes Vereinfachungsgesetz) des Landes NordrheinWestfalen 11 als Beispiel bezeichnet. Dessen Abschnitt II, Teil Β regelt das Beschlußverfahren: Antrag, Beteiligte, Rechtliches Gehör und Untersuchungsgrundsatz, Mündliche Verhandlung usw. Wenden w i r uns von dieser Regelungsform dem verbleibenden Gesetzestyp zu, so kommen w i r zum allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz doppelter Kennzeichnung: allgemein, weil es von der speziellen sachlichen Verwaltungsaufgabe losgelöst ist, und weiter: allgemein, weil es nicht nur einen besonderen Verfahrensabschnitt, sondern den ganzen oder jedenfalls einen umfänglichen Bewegungsablauf des Verwaltungs7 Vgl. die Zusammenstellung der i n B u n d u n d Ländern geltenden Gesetze bei Ernst Rasch, i n : M. v. Brauchitsch, Verwaltungsgesetze des Bundes u n d der Länder, neu herausgegeben von Carl Hermann Vie, Band I, Erster Halbband, Verwaltungsorganisation u n d Verwaltungs ver fahren, bearbeitet von E. Rasch u n d W. Patzig, K ö l n - B e r l i n - B o n n - M ü n c h e n 1962. 8 V o m 21. Januar 1960 (BGBl. 1960 I S. 17). 9 Vgl. dazu insbesondere Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren i n Theorie u n d Gesetzgebung, Stuttgart — Brüssel 1960, S. 122, u n d K a r l August Bettermann, a.a.O., S. 154 m i t Nachweisen. 10 Vgl. dazu Franz Becker, a.a.O., S. 127; Georges Langrod, L a doctrine allemande et la procédure administrative non contentieuse, Brüssel 1961, S 21 V o m 23. J u l i 1957 (GVB1. 1957 S. 189).

6

Allgemeine Einleitung von Franz Becker und Klaus K ö n i g

handelns erfaßt. Jenen Typ finden w i r i n der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland i n dem Gesetz über das Verfahren der Berliner Verwaltung (Verwaltungsverfahrensgesetz — VwVerfG) 1 2 . Es handelt sich u m eine Regelung, die i m Hinblick auf das prozessuale Detail Zurückhaltung übt, dabei aber für die Verfahrensfrage der Verwaltung i m Rechtsstaat wesentliche und weitreichende Anweisungen gibt, z.B.: Verwaltungsakt — Amtshilfe — Nichtförmlichkeit — Ausschließungsgründe — Beteiligte — Bevollmächtigte und Beistände — Untersuchungsgrundsatz — Anhörung — Akteneinsicht usw. bis h i n zu einem förmlichen Verfahren und mündlicher Verhandlung. Demgegenüber greift das „Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG)" bezeichnete Bremische Gesetz vom 11. A p r i l 193413 das Verfahrensmoment für die Verwaltung nicht umfänglich auf, beschränkt sich nur auf wenige Ge* sichtspunkte: neben dem Widerspruchsverfahren vor allem das Verwaltungszwangsverfahren. Daher läßt es sich schwerlich unter jene doppelte Kennzeichnung als allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz i m engeren Sinne fassen. Wenn sich nach den vorstehenden Einteilungen nun manche und auch bedeutsame Gesetzesvorschriften zum Verwaltungsverfahren feststellen lassen, so bleibt es doch insgesamt dabei, daß sich nach dem gesetzten formellen Recht der prozessuale Aspekt des Handelns bei der Exekutiven nicht mit jener allgemeinen Systemimmanenz wie bei der Legislativen und Judikativen eröffnet. Gerade wenn man eine Zusammenstellung von Verfahrensnormen überprüft, wie sie dem Bericht der Sachverständigenkommission für die Vereinfachung der Verwaltung beim Bundesministerium des Innern 1 4 anliegt, vermittelt sich nicht das regelmäßige B i l d dekonzentrierter Ausgestaltung unter Bedachtnahme der Besonderheiten des i n Frage stehenden materiell-rechtlichen Gegenstandes. Befaßt man sich ζ. B. m i t den Vorschriften zur Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand, so w i r d deutlich, daß die Kennzeichnung „zerstreut" nur einen Gesichtspunkt der gesetzgeberischen Situation trifft. Dies lenkt den Blick auf die weiter zur Rechtspflege berufene Gewalt: die Gerichtsbarkeit. Die Tradition der Rechtsprechung, gewisse Elemente der Verwaltung über ihre speziell-gesetzlichen Regeln hinaus zu entwickeln, t r i f f t auch den Bereich, welchen w i r rechtstheoretisch als Verwaltungsverfahren begreifen. So liest man ζ. B. i n einem Urteil des Preußischen Oberver12

V o m 2. Oktober 1958 (GVB1. 1958 S. 951, mehrfach geändert). Brem. GBl. 1934 S. 132, Neufassung aufgrund A r t . 14 Abs. 3 d. G. v. 15. März 1960 (Brem. GBl. 1960 S. 25) durch Bek. v. 1. A p r i l 1960 (Brem. GBl. 1960 S. 37). 14 a.a.O., S. 177. 13

Allgemeine Einleitung von Franz Becker u n d Klaus K ö n i g

waltungsgerichts aus dem Jahre 1878 15 : Fehle es nun zwar an einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung, wie diese i n § 57 Abs. 5 der Kreisordnung für die Amtsvorsteher vorhanden sei, daß persönliches Interesse zur Sache auch die Gemeindevorsteher an der Ausübung ihrer amtlichen Tätigkeit behindere, so sei doch für alle Gebiete des Verwaltungsrechts i m allgemeinen der Grundsatz als maßgebend anzuerkennen, daß Beamte, deren persönliches Interesse, wie hier, von einer Amtshandlung wesentlich betroffen werde, sich der Beteiligung an solcher zu enthalten hätten 1 6 . Den Stand ihrer heutigen Verallgemeinerung i n der Rechtsprechung haben die prozeßrechtlichen Elemente der Verwaltung aber erst dadurch erhalten, daß die Verwaltung durch das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 und A r t . 28 Abs. 1 GG) auf einen übergeordneten Grundsatz, das Rechtsstaatsprinzip, verpflichtet und überdies die Verfassung als erste rechtliche Bedingung öffentlichen Verwaltens i n das Bewußtsein gerufen worden ist 1 7 . Nehmen w i r einen Kernpunkt einer rechtlich geregelten Prozeßordnung auf: die Anhörung der Beteiligten. Das Bundesverwaltungsgericht hat i n einer Reihe meist unveröffentlichter Entscheidungen 18 das „rechtliche Gehör" auch auf das Verwaltungsverfahren angewandt und seine Geltung mit „allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen" begründet 19 . Oder ein anderes wichtiges, i n der Rechtsprechung umstrittenes Verfahrensproblem: den Begründungszwang. Es ist judiziert worden: Der Staatsbürger, i n dessen Rechte eingegriffen werde, habe nach rechtsstaatlichen Grundsätzen den Anspruch darauf, die Gründe dafür zu erfahren 20 . Dagegen: Ein Verwaltungsakt könne, soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt sei, ohne jegliche Begründung erlassen werden 2 1 . Aber: Es müsse bei 15 E n d u r t e i l des I. Senats v o m 12. Oktober 1878, Entscheidungen des K ö n i g lichen Oberverwaltungsgerichts, I V . Bd. S. 326 (328). 16 Fragen der Befangenheit werden dann mehrfach i n der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts behandelt, weiter auch ζ. B. i n der des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, vgl. Entscheidung v o m 3. A p r i l 1907, i n : Reger, Entscheidungen der Gerichte u n d Verwaltungsbehörden, Bd. 27, S. 355. 17 Vgl. hierzu Carl Hermann Ule, Verwaltungsreform als Verfassungsvollzug, i n : Recht i m Wandel, Festschrift Hundertfünfzig Jahre Carl Heymanns Verlag K G , K ö l n — B e r l i n — Bonn — München 1965. 18 Vgl. die Nachweise bei Carl Hermann Ule — Franz Becker, Verwaltungsverfahren i m Rechtsstaat, K ö l n u n d B e r l i n 1964, S. 38 Anm. 124. 19 Dabei aber offen gelassen, welcher rechtsstaatliche Grundsatz die Übertragung dieses f ü r das gerichtliche Verfahren i n A r t . 103 Abs. 1 GG niedergelegten Prinzips auf das Verwaltungsverfahren fordert. Vgl. Carl Hermann Ule, Z u r Bedeutung des Rechtsstaatsbegriffs i n der Rechtsprechung des B u n desverwaltungsgerichts, i n : Deutsches Verwaltungsblatt 1963 S. 475. 20 Bundesverfassungsgericht, U r t e i l v o m 16. Januar 1957, i n : Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 6, S. 32 (44). Dieser Satz w i r d aber durch das Gericht eingeschränkt. Vgl. dazu Carl Hermann Ule, i n : Deutsches V e r w a l tungsblatt 1963 S. 477. 21 Bundesverwaltungsgericht, U r t e i l v o m 13. Januar 1955, i n : Die öffentliche V e r w a l t u n g 1956 S. 88 (89).

8

Allgemeine Einleitung von Franz Becker und Klaus K ö n i g

Ermessensentscheidungen der Behörde grundsätzlich aus der Entscheidung selbst ersichtlich sein, auf welchen Erwägungen sie beruhe 22 . Weiter: Eine Begründung sei geboten, wenn der Verwaltungsakt ohne Begründung unverständlich wäre 2 3 . I n dieser Weise ließe sich noch manches — nach theoretischer Begriffsbildung — verwaltungsverfahrensrechtliche Moment i m Lichte der Rechtsprechung beobachten, und die definitorischen Grenzen werden erreicht, wenn man einerseits auf das i n der Judikatur weitgehend gefestigte Handlungsinstrumentarium der Verwaltung — Verwaltungsakt, Rechtsverordnung, Allgemeine Verwaltungsvorschrift usw. —, andererseits auf die nach wie vor nicht zweifelsfreie Behandlung der Bestandskraft von Verwaltungsakten — Aufhebung und Änderung — sieht 24 . Für den hier interessierenden Systemzusammenhang genügt es aber, festzuhalten, daß i n den gerichtlichen Erkenntnissen verfahrensrechtliche Regeln für die Verwaltung entwickelt worden sind, welche insofern als allgemeine zu qualifizieren sind, als sie vom speziellen materiellen Verwaltungsrecht, von speziellen administrativen Sachaufgaben losgelöst sind. Daran knüpft sich nach der obigen doppelten Kennzeichnung die Frage, ob die Rechtsprechung neben einer Abstraktion auch eine Integration des Verfahrensrechts bewirkt hat, d. h. ob sie die erkannten Verfahrenselemente der Verwaltung zu einem Gesamtablauf des Prozedierens zusammengefaßt hat. Es scheint problematisch, ob die Gerichtsbarkeit überhaupt solche Leistungen erbringen kann oder ob es sich bei derartigen Zusammenschlüssen nicht u m eine eigentümliche Funktion der Gesetzgebung handelt. Immerhin läßt sich dazu auf zwei judikatorische Techniken verweisen. Erstens kann der Prozeßgedanke durch die Rechtsprechung als Ganzes i n einer Generalklausel eingerichtet werden, als deren Teile dann die einzelnen Verfahrensregeln zu verstehen sind. Hier ist an die — formelle — „due process of l a w " Klausel i m Recht der Vereinigten Staaten von Amerika zu erinnern 2 5 . 22 Bundesverwaltungsgericht, U r t e i l vom 15. A p r i l 1959, i n : Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, Bd. 8, S. 234 (238) ; vgl. i m übrigen zur nicht einheitlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Carl Hermann Ule, i n : Deutsches Verwaltungsblatt 1963 S. 477. 23 Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Entscheidung v o m 10. A p r i l 1956, i n : Zeitschrift für Beamtenrecht 1956 S. 220. 24 Z u r begrifflichen Einordnung vgl. K a r l August Bettermann, a.a.O., S. 129 u n d S. 140; ferner i n der Aussprache zu dessen Bericht Otto Bachof, Hans Peter Ipsen, Christian-Friedrich Menger, Carl Hermann Ule, a.a.O., S. 216. 25 Vgl. dazu allgemein Rolf Deppeier, „Due Process of L a w " — E i n K a p i t e l amerikanischer Verfassungsgeschichte, Bern 1957; bezüglich des Verwaltungsrechts: Reginald Parker, Das öffentliche Recht der Vereinigten Staaten von Amerika, Wien 1963, S. 65; bezüglich des VerwaltungsVerfahrens: E l m a r Breuckmann, Grundzüge des Federal Administrative Procedure Act, Diss. Mainz 1962.

Allgemeine Einleitung von Franz Becker u n d Klaus K ö n i g

Zweitens kann die Judikatur die rechtlich relevanten Momente des administrativen Bewegungsablaufs so dicht nebeneinander setzen, daß sich das Verwaltungsverfahren als ein geschlossenes und eigenständiges Rechtsproblem der Verwaltung darstellt. Hierzu ist auf die Situation des österreichischen Rechts vor dem Jahr 1925 aufmerksam zu machen 26 . Jedoch darf man andererseits nicht unbeachtet lassen, daß es gerade i n den Vereinigten Staaten von Amerika und i n Österreich mit dem Federal Administrative Procedure Act vom 11. Juni 1946 bzw. mit den Verwaltungsverfahrensgesetzen vom 21. J u l i 1925 zu gesetzgeberischen Integrationen unseres Gegenstandes gekommen ist. Für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist zu beobachten, daß von den Gerichten eine das Verwaltungsverfahren umfassende Generalklausel nicht entwickelt worden ist. Insbesondere ist der folgende, von Ulrich Scheuner auf der Wiener Staatsrechtslehrertagung 27 vorgetragene Gedanke nicht aufgenommen worden: Eine Sicherung des Verwaltungsverfahrens bestehe i m Grundgesetz, nämlich i n der Vorschrift des A r t . 19 Abs. 4 GG. Jener enthalte den Grundsatz des due process of law. Dieser Grundsatz erkläre jeden Eingriff der Verwaltung, der keine genügende Gewähr eines rechtlichen Verfahrens (Vorgehens) enthalte, für unzulässig 28 . Die i n der Rechtsprechung behandelten Elemente des Verwaltungsverfahrens fügen sich auch nicht derart zu einem Ganzen zusammen, daß man den Modus procedendi als einen allgemeinen Aspekt des administrativen Handlungssystems begreifen kann. Es entsteht vielmehr der Eindruck, daß die gerichtlichen Entscheidungen Einzelfragen punktuell aufnehmen, indem sie sie — ohne nähere Ortsbestimmung i m Verfahrensrecht — i n den weiten Raum des Individualschutzes i n der rechtsstaatlichen Verwaltung einstellen. 2. Nach dieser Übersicht über den Stand gesetzgeberischer und gerichtlicher Rechtspflege zum Verwaltungsverfahren gilt das Augenmerk den planerischen Kräften unserer Sozialordnung. Georges Langrod, der m i t seiner Schrift „ L a doctrine allemande et la procédure administrative non contentieuse" 29 die gründlichste historische Studie zum deut28 Vgl. E r w i n Melichar, Das Verwaltungsverfahren, Mitbericht, Aussprache u n d Schlußwort i n den Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Wien am 9. u n d 10. Oktober 1958, a.a.O., S. 192, 230, 241; dazu Friedrich Tezner, Das österreichische Administrativverfahren — Systematisch dargestellt auf G r u n d der verwaltungsgerichtlichen Praxis, 2. Auflage, Wien 1925. 27 a.a.O., S. 238. 28 Dieser These hat K a r l August Bettermann bereits i n seinem Schlußwort, a.a.O., S. 245, widersprochen. Carl Hermann Ule, Verwaltungsreform als V e r fassungsvollzug, a.a.O., S. 63, hält sie als m i t dem Wortlaut u n d der Entstehungsgeschichte des A r t . 19 Abs. 4 unvereinbar. 29 Brüssel 1961; vgl. zu den Entwicklungslinien i m deutschen Verwaltungsverfahrensrecht auch Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 117.

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sehen Verwaltungsverfahrensrecht vorgelegt hat, untersucht vier entwicklungsgeschichtliche Phasen: Er verweist auf die Vorstellungen, welche unter dem Einfluß des Vorbildes österreichischer Verwaltungsverfahrensgesetze nach dem Jahre 1938 für die deutsche Verwaltung vorgetragen worden sind 3 0 . Dann beschreibt er die ersten Meinungsäußerungen zum rechtlich geregelten Verwaltungsverfahren i n dem nach 1945 errichteten Rechtsstaat, insbesondere i m Hinblick auf das vielfache Spannungsverhältnis zu dem etablierten verwaltungsgerichtlichen Prozeßsystem 31 . Umfänglich setzt sich Langrod m i t den Berichten und Aussprachen zum Verwaltungsverfahren i n den Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Wien i m Jahr 1958 auseinander 32 . Schließlich verzeichnet er i n der „vierten Welle" den Bericht der Sachverständigenkommission für die Vereinfachung der Verwaltung beim Bundesministerium des Innern 3 3 und die Verhandlungen der öffentlich-rechtlichen Abteilung des dreiundvierzigsten Deutschen Juristentages i n München I960 34 . W i r müssen — lassen w i r weitere geschichtliche Rückgriffe beiseite — dieses Verzeichnis der wichtigen Entwicklungsabschnitte fortschreiben und danach nennen: die Arbeiten des Ausschusses von Angehörigen des Bundesministeriums des Innern und der Innenministerien der Länder (1960—1963) und hieraus die Vorlage des Musterentwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVerfG 1963)35. Dieses Werk konnte i n vielen Beziehungen aus Vorformungen erwachsen, wie sie m i t geltenden Gesetzen, Rechtsprechung und theoretischen Meinungsbildungen vorstehend angedeutet worden sind. Dazu sind als gesetzgeberische Vorarbeiten älteren Datums insbesondere hinzuzufügen: die Verwaltungsrechtsordnung für Württemberg — Entwurf eines Gesetzes m i t Begründung — herausgegeben von der Kommission für die Landesordnung des Allgemeinen öffentlichen Rechts 36 und der Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes für Württemberg, herausgegeben von derselben Kommission als Anhang zur Verwaltungsrechtsordnung 37 , und neueren Datums: der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Verwaltungsverfahrens i m Lande Niedersachsen 38 , der Referentenentw u r f eines Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land NordrheinWestfalen 39 , der Referentenentwurf eines hamburgischen Verwaltungs30

a.a.O., S. 34. a.a.O., S. 35. a.a.O., S. 43. 33 a.a.O., S. 69. 34 a.a.O. S. 79. 35 K ö l n u n d B e r l i n 1964. 36 1931, m i t Ergänzungsband 1936. 37 1931. 38 Landtagsdrucksache Nr. 1572 v o m 28. September 1954. 39 Stand 1960. 31 32

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gesetzes40, die Skizze zu einem Referentenentwurf für ein Gesetz zur Regelung des Verwaltungsverfahrens für das Land Schleswig-Holstein 41 . Jetzt kann das Stadium der Diskussion des Musterentwurfs verzeichnet werden, und die aktuelle Eigenschaft des vorgelegten Sammelbandes „Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes" soll es sein, Argumente für die Auseinandersetzung m i t dem Musterentwurf zu liefern. W i r begeben uns damit freilich i n zwei Gedankenzusammenhänge, deren Problematik nicht zu übersehen ist: erstens Gesetzgebung als — genauer: Erstellung von Gesetzesentwürfen mittels — Kunst 4 2 , Technik 4 3 oder/und Wissenschaft 44 ; zweitens Tauglichkeit oder Untauglichkeit der Rechtsvergleichung 45 . Soweit diese beiden Punkte hier als Grundsatzfragen bedeutsam werden, muß es dem gesammelten Material überlassen bleiben, aus sich heraus i n der einen oder der anderen Richtung zur Meinungsbildung beizutragen. Was aber speziell die Arbeitsweise des Ausschusses von Angehörigen des Bundesministeriums des Innern und der Innenministerien der Länder und die diesbezügliche K r i t i k anlangt, so seien einige Anmerkungen aufgeschrieben. A n ein Gesetz über das allgemeine Verwaltungsverfahren w i r d man von mehreren, sich m i t der Organisationstheorie befassenden Wissenschaften aus Ansprüche stellen, von der Ökonomie, der Soziologie, der Verwaltungswissenschaft — Verwaltungslehre, Verwaltungspolitik — als eigenständiger tatsachenbezogener Wissenschaft von der Verwaltung 4 6 . Nicht zuletzt w i r d man die Frage stellen: Was kostet solche gesetzliche Regelung der Verwaltung? Und wer so überlegt, w i r d die — schwierige — Kalkulation der Durchführungskosten verlangen und sich nicht durch einen nicht näher substantiierten Hinweis zufrieden geben, welcher den Mehraufwendungen wegen der Anhörung der Verwalteten, der Begründung der Entscheidung usw. Ersparnisse wegen eines verwaltungsvereinfachenden Effekts und des Abbaus sonst gerichtlich auszutragender Konflikte entgegenhält. Und doch lassen sich für die Vor40

Stand 1960. Stand 1957. 42 Vgl. etwa René Marcio , V o m Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957, S. 231. 43 Vgl. etwa Hanswerner Müller, Handbuch der Gesetzgebungstechnik, K ö l n - B e r l i n - B o n n - M ü n c h e n 1963. 44 Vgl. etwa Niklas Luhmann, öffentlich-rechtliche Entschädigung — rechtspolitisch betrachtet, B e r l i n 1965, S. 10. 45 Z u r Vergleichung i m öffentlichen Recht vgl. die Referate von H e l m u t Strebel, Rudolf Bernhardt, K a r l Zemanek u n d die Einleitung von Joseph H. Kaiser, i n : Zeitschrift f ü r ausländisches öffentliches Recht u n d Völkerrecht, Bd. 24 Nr. 3 1964. 48 Vgl. Erich Becker, Stand u n d Aufgaben der Verwaltungswissenschaft, i n : Festschrift f ü r Friedrich Giese, F r a n k f u r t / M a i n 1953, S. 9; Fritz Morstein Marx, Stand der Verwaltungswissenschaft, i n : Verwaltung, i n Verbindung m i t Erich Becker u n d Carl Hermann Ule herausgegeben von Fritz Morstein Marx, Berlin 1965, S. 34. 41

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rangstellung des rechtlichen Aspekts, wie sie nach der Allgemeinen und der Einzelbegründung des Entwurfs 4 7 i m Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung — nicht nur die Äußerungsform „Gesetz" — ersichtlich wird, gewichtige Gründe vortragen. Der Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes stellt nicht auf die inneren Arbeitsweisen der Verwaltung ab. Er t r i f f t Vorgänge des „internen Verwaltungsverfahrens" als mit dem „externen" 4 8 wesensmäßig verknüpft, nicht aber für sich gezielt. Damit scheidet ein breiter Interessenbereich der Organisationsforschung aus. I n den Mittelpunkt der Erörterung rückt das Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung. Hier w i r d nun eine weitere Selbstbeschränkung gesetzesentwerfender Tätigkeit bedeutsam. Man kann einerseits bestrebt sein, die Erzeugungswege administrativer Rechtsakte, wie sie das soziale Spannungsfeld Bürger/Staat durchlaufen, perfektionistisch auszubauen. Man kann sich andererseits damit bescheiden, nur die Stationen kollisionsträchtiger Begegnung zu gestalten, und zwar um dort dem Bürger den notwendigen Rechtsschutz, andererorts der Verwaltung die erforderliche Flexibilität zu geben. Daß der Ausschuß letzteren Intentionen gefolgt ist, werden nicht nur jene begrüßen, die i n jedem Verwaltungsverfahrensgesetz eine unangemessene Knebelung der Verwaltung sehen. W i r interessieren uns aber hier für die A r t und Weise der Erstellung des Entwurfs und sehen, daß es methodisch nicht nur darum geht, verfassungsrechtliche Vorordnungen zu erkennen und innerhalb des grundgesetzlichen Spielraums die zweckmäßigsten Lösungen zu finden und zu formulieren. Vielmehr impliziert die Beschränkung auf ein solches legislatorisches Mindestprogramm, daß die für den Gesetzgeber zu entwerfenden Entscheidungen i n unmittelbare Nähe der vom Verfassungsgeber getroffenen Vorentscheidungen gerückt werden, ja vielfach als deren Emanation zu begreifen sind. Unter diesen Umständen w i r d schließlich die Frage nach den Kosten eines Verwaltungsverfahrensgesetzes der nach den Kosten des Rechtsstaats überhaupt benachbart und damit für den auf die Verfassung verpflichteten Gesetzesentwerfer weitgehend irrelevant. Neben der Bestimmung durch das Grundgesetz sind es noch zwei weitere Faktoren juristischer Qualität, welche den Entwurf eines allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes beeinflussen. Der Typ des allgemeinen Gesetzes verlangt besonders dringlich, den Einklang mit den Ordnungsprinzipien des Verwaltungsrechts insgesamt herzustellen. Durch die Abstraktionshöhe der i n einem Prozeßgesetz zu regelnden Gegenstände darf man sich nicht verleiten lassen, isolierte Rechtseinheiten anzunehmen. Unabhängig davon, wieweit die rechtspolitische Ausstattung eines 47

a.a.O., S. 51. Nehmen w i r die Übertragung der Unterscheidung „ I n n e n u n d Außen der V e r w a l t u n g " auf das Verwaltungsverfahren hier unreflektiert hin. Vgl. dazu K a r l August Bettermann, a.a.O., Leitsatz 12, S. 177; Ernst Rasch, a.a.O., S. 17. 48

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derartigen Gesetzesentwurfs den rechtstheoretischen Unterscheidungen folgt, ist die Einpassung i n den Gesamtaufbau des öffentlichen Rechts erforderlich. Ferner verfügen w i r über einen Vorrat von Rechtsgedanken zum Verwaltungsverfahren, die i m Verlauf der oben skizzierten geschichtlichen Entwicklung eingebracht worden sind und deren angemessene Nutzung von den Planern eines diesbezüglichen Gesetzesentwurfs verlangt wird. Nach allem scheinen diejenigen teilnehmenden Beobachter — Praktiker oder Theoretiker —, welche aus rechtlicher Richtungssuche rezeptiven Kontakt zur Verwaltung halten, die geeigneten Planer eines allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes zu sein, woraus alsdann die Zusammensetzung des Ausschusses und seiner wissenschaftlichen Berater zu qualifizieren wäre 4 9 . Die K r i t i k , die dennoch an der Arbeitsweise des Ausschusses laut geworden ist, geht dahin, daß den ausländischen einschlägigen Rechtsordnungen bei der Ausarbeitung und i n der Begründung des Entwurfs kaum Beachtung geschenkt worden sei 50 . Und i n der Tat, was methodologisch auch immer über das Verhältnis der Rechtsvergleichung zur Rechtsdogmatik zu sagen sein mag, bei der Rechtspolitik sollte man die eigenen Einsichten an fremden Erfahrungen überdenken, insbesondere dann, wenn es sich wie hier um einen grundlegenden Gesetzesstoff handelt, für den die parallele Fragestellung i n den fremden Rechtsordnungen erkennbar, die Ausgestaltung i m ausländischen Verwaltungsrecht mit angemessenen Aufwendungen einsehbar ist. Die Allgemeine Begründung zum Musterentwurf 5 1 nennt unter den Vorarbeiten nur das österreichische Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 52 und sagt dann: Bei dem österreichischen A V G sei zu berücksichtigen, daß es auf die Bedürfnisse des österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsprozeßrechts zugeschnitten sei, das sich wesentlich von dem i n der Bundesrepublik Deutschland geltenden Recht unterscheide. So richtig diese Überlegung i m Grunde ist und so realistisch man auch die Grenzen gesetzesentwerfender Gestaltungsfreiheit — insbesondere bei der Berührung von Systemzusammenhängen — einschätzen soll, mindestens i n Einzelfragen bieten sich Orientierungshilfen. Gerade i m Hinblick auf das österreichische Verwaltungsrecht zeigen dies die von Hans 49 Z u m Selbstverständnis des Ausschusses aus dem Munde seines Vorsitzenden vgl. Fritz Rietdorf, Z u m Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes — Einführung u n d leitende Gesichtspunkte —, in: Deutsches V e r w a l tungsblatt 1964 S. 293, 294. 50 So Hans Spanner, E i n E n t w u r f eines \ferwaltungsverfahrensgesetzes, i n : Deutsches Verwaltungsblatt 1964 S. 845, 846, i m Anschluß an Carl Hermann Ule — Franz Becker, Verwaltungsverfahren i m Rechtsstaat, a.a.O., S. 6; vgl. hingegen Hans Schmitt-Lermann, Der Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes, i n : Juristenzeitung 1964 S. 402, 404. 51 a.a.O., S. 56. 52 A V G v o m 21. J u l i 1925 i n der Fassung der Kundmachung der Bundesregierung v o m 23. M a i 1950 (BGBl. Nr. 172).

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Spanner 53 — für das rechtliche Gehör, für die Akteneinsicht — gegebenen Anregungen. Die i n diesem Sammelband zusammengetragenen Dokumentationen sollen aber nicht nur den aktuellen Anlässen der Gesetzgebungspolitik dienen, sondern auch Material zur wissenschaftlichen Erforschung der Verfahrensproblematik i n der Verwaltung zugänglich machen 54 . Deswegen sind nicht nur Gesetzestexte herangezogen worden, die aus einer der der Bundesrepublik Deutschland korrespondierenden Verfassungslage erwachsen sind. Es sind sogar Fälle einbezogen, i n denen vieles auf eine Unterschiedlichkeit i n der Struktur des Rechtsdenkens überhaupt hinweist. Das zwingt den Rechtsvergleichung betreibenden Forscher, über die komparablen Gesetzeswendungen hinweg bis zu den rechtlich äquivalenten Lösungen organisatorisch-sozialer Probleme vorzustoßen. Er darf sich nicht durch einen Gleichlaut über den normativen Stellenwert täuschen lassen; er muß die Bewältigung gleichgelagerter Probleme mit anderen gesetzestechnischen M i t t e l n sehen. Anleitung gibt die zur Rechtsvergleichung entwickelte Methodenlehre mit ihrer Unterscheidung zwischen Institutionsvergleich und Problemvergleich 55 . Dem oft gehörten Urteil, wenig sei für die Erkenntnis von begrenzterem Wert als rechtsvergleichende Zusammenstellungen, soll aber durch den Sammelband selbst die Voraussetzungen entzogen werden. Die jeweiligen Einführungen durch einen Sachkenner aus dem betreffenden fremden Staat sollen nicht nur das Verständnis der ausländischen positiv-rechtlichen Ausgestaltung erleichtern, sondern m i t ihren historischen, systematischen, teleologischen Anmerkungen den ersten Kontakt mit den zugrunde liegenden sozialen Tatbeständen vermitteln. Der Fragenkatalog einer Theorie des rechtlich geregelten Verwaltungsverfahrens kann aus der Betrachtungsweise der Rechtsvergleichung unter mehrschichtiger Problemstellung durchblättert werden. Da ist das genetische Problem: Ist der Standort des Verfahrens i n dem System unseres Verwaltungsrechts auf eine historische Sonderentwicklung zurückzuführen? Georges Langrod 56 hat zu unserem Gegenstand 53

I n : Deutsches Verwaltungsblatt 1964 S. 847. Georges Langrod sagt i n seiner Schrift „ L a doctrine allemande et la procédure administrative non contentieuse", a.a.O., S. 31, u. a.: L a doctrine allemande en général, et sur le plan q u i nous intéresse en particulier, m a n i feste de tout temps relativement peu d'intérêt pour le droit comparé. I l en résulte que les tendances étrangères, les courants législatifs et jurisprudentiels, les réalisations effectives — même dans les pays de langue allemande — jouent u n rôle moins accentué qu'on ne pourrait le croire à première vue. 55 Wozu auf die zivilistische Rechtsvergleichung zurückgegriffen werden muß. 58 Procédure administrative et droit administratif, i n : Revue Internationale des Sciences Administratives 1956 Nr. 3 S. 34, u n d L a doctrine allemande et la procédure administrative non contentieuse, a.a.O., S. 7; vgl. ferner Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 118. 54

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aufmerksam gemacht, wie bedeutungsvoll das vom französischen Denken beeinflußte Konzept Otto Mayers bei der Einrichtung der deutschen Verwaltungsrechtslehre gewesen ist. Nach Otto Mayer kennzeichnet sich aber der gewöhnliche Gang der Verwaltung durch die unvermittelte Konfrontation des einzelnen m i t dem behördlichen A k t 5 7 . Dann das politisch-soziale Problem: Hier könnte man etwa überlegen, ob von der „Verspätung" normativer Erfassung einer gesellschaftlichen Bedürfnislage zu reden sei — wenn auch nicht i n der Dimension des von René König 58 unter Hinweis auf Eugen Ehrlich apostrophierten „lag" vom Rechtssystem hinter tragendem sozialen System, sondern i m Hinblick auf einen umrissenen administrativen Sachverhalt. Weiter das Strukturproblem juristischen Denkens: Ist darunter die von Ernst Forsthoff 59 angedeutete Unterscheidung zwischen anglo-amerikanischem und kontinental-europäischem Verständnis von materiellem und Prozeßrecht zu begreifen? Und das normlogische Problem: Hier ist auf die von Hans Kelsen und Adolf Merkl vorgetragene Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung einzugehen. Ist Prozeß — mit der i n Anspruch genommenen Stringenz — der Weg, auf dem aus einer Rechtserscheinung höherer Stufe eine Rechtserscheinung niederer Stufe erzeugt wird, wie Adolf Merkl zum Verwaltungsverfahren bemerkt 6 0 ? Schließlich das rechtsontologische Problem: Müssen w i r über die rechtssoziologische Funktionsanalyse administrativer Tatbestände hinausgehen, um die dreifache Beziehung Verwaltung — Verfahren — Recht zu ermessen? Herbert Krüger 61 sagt, wenn es bisher noch kein gesetzlich allgemein geregeltes Verwaltungsverfahren gebe, so liege das „ i n der Natur der Sache". Über diese Natur der Sache müsse man sich erst klar werden, ehe man daran gehe, das angeblich ,fortschrittliche' Verfahren der Justiz zu rezipieren, ohne dabei auf die Eigenart des Stoffes Rücksicht zu nehmen. Bevor nunmehr auf den Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVerfG 1963) und die jenen treffende K r i t i k sachlich i n einigen Schwerpunkten eingegangen wird, hat die allgemeine Einleitung noch zwei Aufgaben zu erfüllen. Die eine betrifft die Situation des Verwaltungsverfahrensrechts i m Ausland selbst. Es ist die Rechtslage i n den nicht i n dieser Sammlung aufgenommenen Ländern zu erörtern, und es ist — dies als einweisende Hilfe — auf einige Merkmale aufmerksam zu machen, die über die nationalen Grenzen hinweg oder 57

Vgl. etwa Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Band, Leipzig 1895, S. 172. Recht, i n : Soziologie, herausgegeben von René König, F r a n k f u r t / M a i n 1958, S. 235. 59 Aussprache i n den Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Wien am 9. u n d 10. Oktober 1958, a.a.O., S. 222. 60 a.a.O., S. 214. 61 Aussprache i n den Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Wien am 9. u n d 10. Oktober 1958, a.a.O., S. 221. 58

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auch als Eigenarten zu beobachten sind. Die andere Aufgabe besteht darin, den Gedanken einer Kodifikation des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts aus der Sicht ausländischer Entwicklung zu beleuchten. Damit sind w i r wieder bei unseren eigenen Problemen. II. 1. Die Auswahl der Texte i n einer Sammlung von Verwaltungsverfahrensgesetzen des Auslandes hängt von dem mit einer solchen Gesetzessammlung verfolgten Zweck ab. Von einem perfektionistischen Standpunkt wäre es erforderlich, in ihr alle Regelungen des Verwaltungsverfahrens, also auch die einzelgesetzlichen Vorschriften, zu erfassen. Denn nur so ergäbe sich ein exakter Vergleich des Standes des Verwaltungsverfahrensrechts i n den einzelnen Staaten 62 . Eine derartige umfassende Sammlung würde jedoch, abgesehen davon, daß sie die Übersicht eher erschwerte, dem Sinn und Zweck der vorliegenden Veröffentlichung nicht entsprechen. Diese soll gewiß auch das wissenschaftliche Interesse befriedigen. Ihre erste Absicht ist aber, anhand der ausländischen Gesetzgebungen deutlich zu machen, daß eine Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens trotz mancher gegenteiliger Meinung i n Deutschland 63 wünschenswert ist, und dem deutschen Gesetzgeber i n Bund und Ländern Anregungen für die zu erwartende allgemeine Regelung des Verwaltungsverfahrens zu geben. Aus diesem Grunde wurden i n der Gesetzessammlung nur allgemeine Verfahrensgesetze und Entwürfe zu solchen Gesetzen aufgenommen. Wenngleich vieles dafür spricht, daß i n den Staaten mit einem kodifizierten Verwaltungsverfahrensrecht diesem größere Beachtung als i n anderen Staaten geschenkt wird, so kann hieraus aber nicht ohne weiteres gefolgert werden, daß i n den Ländern, die i n dieser Sammlung nicht berücksichtigt wurden, das Verwaltungsverfahren entweder überhaupt keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Denn verfahrensrechtliche Fragen, wie die Anhörung der Beteiligten, das Recht der Beteiligten auf Akteneinsicht, die Erhebung von Beweisen, Form und Inhalt des Verwaltungsakts, das verwaltungsbehördliche Rechtsmittelverfahren usw., stellen sich i n jeder Verwaltungsrechtsordnung und müssen von ihr irgendwie beantwortet werden. Alle Rechtsordnun62 Eine rechtsvergleichende Darstellung des Verwaltungsverfahrensrechts geben das Buch von Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren i n Theorie und Gesetzgebung, Stuttgart-Brüssel 1960, ferner Georges Langrod, i n : Revue Internationale des Sciences Administratives 1956 Heft 3 S. 6 ff. Beide Arbeiten sind allerdings durch die neueste Entwicklung i n einigen Punkten überholt. 63 Vgl. dazu Carl Hermann Ule —Franz Becker, a.a.O., S. 1 ff; Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 17, 1959, S. 213 ff.

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gen haben demnach einen Grundbestand von Regeln des Verwaltungsverfahrens, mögen sie vom Gesetzgeber erlassen oder von der Rechtsprechung entwickelt worden sein. Es ist auch möglich, daß das Verwaltungsverfahrensrecht i n einem Land, das keine allgemeine gesetzliche Regelung dieser Materie kennt, durch Wissenschaft und Rechtsprechung weiter entwickelt worden ist als i n einem Land m i t einem entsprechenden Gesetz oder Gesetzentwurf. So läßt sich, u m nur ein Beispiel zu nennen, m i t Sicherheit sagen, daß das Verwaltungsverfahrensrecht i n Frankreich mindestens den gleichen Entwicklungsstand aufweist wie i n Belgien. Wenn Belgien trotzdem i n die Sammlung aufgenommen wurde, so geschah dies i m Hinblick darauf, daß es i m Gegensatz zu Frankreich einen — wenn auch sehr unvollkommen ausgestalteten — allgemeinen Gesetzentwurf betreffend Form und Inhalt der Verwaltungsakte besitzt, und zudem i n Belgien gewisse Tendenzen spürbar sind, das Verwaltungsverfahren einer gesetzlichen Regelung zu unterziehen 64 . Damit ist aber kein Werturteil über den Stand der rechtlichen Ordnung des Verwaltungsverfahrens i n beiden Ländern gesprochen. Die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung von Ländern i n der vorliegenden Sammlung sagt schließlich auch nichts darüber aus, i n welchem Umfang rechtsstaatliche Prinzipien der Verwaltungstätigkeit i n den einzelnen Ländern verwirklicht sind. Es ist nicht zu bezweifeln, daß ein rechtlich geregeltes Verwaltungsverfahren mit weitgehenden Verfahrensrechten für den einzelnen die Rechtsstaatlichkeit des Verwaltungshandelns fördert. Ebenso gewiß hängt aber die Zuerkennung des Attributes „rechtsstaatlich" nicht allein davon ab, ob ein Land ein allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz besitzt oder nicht. Dies läßt sich leicht erkennen, wenn man etwa das Verwaltungsrechtsschutzsystem Frankreichs m i t den Systemen der kommunistischen Staaten Osteuropas vergleicht, i n denen allgemeine gesetzliche Regelungen des Verwaltungsverfahrens existieren. Vielfach ist es sogar so, daß in den Ländern mit einer gut ausgebauten Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie i n Deutschland oder Frankreich, das Verlangen nach einer detaillierten und einheitlichen rechtlichen Ordnung des Verwaltungsverfahrens lange Zeit nicht sehr groß war und i n Frankreich auch heute noch relat i v gering ist 6 5 . Man glaubte i n diesen Ländern, den Rechtsschutz der Bürger gegenüber der Verwaltung dadurch ausreichend gesichert zu haben, daß man ihnen die Möglichkeit gab, die Verwaltungsakte nachträglich von unabhängigen Rechtsprechungsorganen überprüfen zu lassen. Inzwischen hat sich aber auch hier weitgehend die Erkenntnis 64

Vgl. H e n r i Buch, Einführung zu „Belgien", S. 115. Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago , Traité de contentieux a d m i n i stratif, B d I I , Paris 1962, S. 594 A n m . 1. 65

2 Speyer 31

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durchgesetzt, daß Vorbeugen besser ist als Heilen, und daß daher dem verwaltungsgerichtlichen Prozeß ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchzuführendes Verwaltungsverfahren zur Seite gestellt werden muß, dessen Hauptaufgabe es ist, Verstöße der Verwaltung gegen Recht und Zweckmäßigkeit nach Möglichkeit auszuschalten. Eine rechtliche Regelung des Verwaltungsverfahrens hat somit vom Standpunkt der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips eine komplementäre Bedeutung: Sie begründet nicht erst den Rechtsstaat i m Bereich des Verwaltungsrechts, sondern ergänzt und vervollständigt ihn. Gebietet einerseits der Zweck dieser Gesetzessammlung, i n ihr nur Staaten m i t allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzen oder Entwürfen solcher Gesetze zu berücksichtigen, so müßte man es andererseits aber als einen Mangel empfinden, wenn i n der Einleitung nicht wenigstens das Verwaltungsverfahrensrecht von zwei Staaten m i t einer hohen Rechtskultur dargestellt würde, die i n unterschiedlicher Weise das Verwaltungsrecht i n vielen Ländern nachhaltig beeinflußt hat. W i r meinen Frankreich und Großbritannien. I n Frankreich liegen die Wurzeln des modernen Verwaltungsrechts; das französische Verwaltungsrecht hat den Verwaltungsrechtsordnungen zahlreicher Staaten, darunter i n hohem Maße auch Deutschland, als Vorbild gedient 66 . Das britische Staats- und Verwaltungsdenken hat i n den meisten Staaten des Commonwealth eine Heimstatt gefunden. Es hat auch das amerikanische Verwaltungsrecht mitgestaltet, wenn auch die Vereinigten Staaten gerade auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts England heute einiges voraus haben. Eine Sammlung des ausländischen Verwaltungsverfahrensrechts wäre daher unvollständig, wenn nicht zumindest i n großen Umrissen der Entwicklungsstand auf diesem Gebiet i n diesen zwei Ländern dargestellt würde 6 7 . 66 Vgl. Georges Langrod, i n : Revue Internationale des Sciences A d m i n i stratives 1956 Nr. 3 S. 34, u n d : L a doctrine allemande et la procédure administrative non contentieuse, S. 7. Z u r Beeinflussung des spanischen V e r waltungsrechts durch das französische vgl. Fernando Garrido Falla , E i n führung zu „Spanien", S. 743. 67 Es wäre sicherlich auch von Interesse, das Verwaltungsverfahrensrecht i n der Sowjetunion darzustellen. F ü r eine exakte Beurteilung der sowjetischen Verhältnisse fehlen jedoch zuverlässige Unterlagen. Soviel läßt sich jedoch sagen, daß es i n der Sowjetunion eine Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht gibt, u n d daß das Verwaltungsverfahren nicht kodifiziert ist. Die Ukraine besitzt als einzige Sowjetrepublik ein Verwaltungsgesetzbuch, das auch einige v e r fahrensrechtliche Regelungen enthält. Es stammt aus dem Jahre 1927 (deutsche Übersetzung m i t Vorbemerkung von D. Durdenevskij, i n : Zeitschrift f ü r Ostrecht 1928 S. 1385—1452 u n d S. 1556—1576) u n d ist heute teilweise überholt. I n der sowjetischen Verwaltungsrechtsliteratur mehren sich seit einigen Jahren die Stimmen, die f ü r die Einführung eines Verwaltungsverfahrensgesetzes eintreten. Sie fordern, hierbei die Erfahrung der K o d i f i k a t i o n des Verwaltungsverfahrensrechts i n den Ländern der Volksdemokratie zu berücksichtigen u n d auszunutzen; vgl. Franz Becker, Verwaltungsverfahrensrecht i n Osteuropa, i n : Osteuroparecht 1960 S. 194 f. m i t Nachweisen; Georges

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a) I n Frankreich hat das Verwaltungsverfahren i n Gesetzgebung, Rechtsprechung und Lehre 6 8 lange Zeit wenig Beachtung gefunden. Es stand und steht auch heute noch i m Schatten der Verwaltungsgerichtsbarkeit, i n der der Conseil d'Etat die beherrschende Stellung einnimmt 6 9 . Dieser ist nach der allgemeinen Meinung i n Frankreich i n besonderer Weise dazu berufen, durch seine Rechtsprechung die Individualrechte gegenüber der Verwaltung wirksam zu schützen 70 . Bei dieser Einstellung war es nicht erstaunlich, daß i m französischen Verwaltungsrecht zwar dem fertigen Verwaltungsakt, der dem Verwaltungsrichter zur Überprüfung seiner Rechtmäßigkeit vorgelegt wird, nicht aber den dem Erlaß der Verwaltungsentscheidung voraufgehenden Verfahrenshandlungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde 7 1 . Die französische Verwaltungsgesetzgebung hat bisher wenig dazu beigetragen, diesen Zustand zu ändern: Die Regelung des Verwaltungsverfahrens i n Gesetzen ist Ausnahme geblieben 72 . Eine etwas größere Bedeutung haben die verwaltungsbehördlichen Verordnungen m i t einem verfahrensrechtlichen Inhalt erlangt. Dies entspricht der traditionellen Auffassung i n Frankreich, daß die rechtliche Regelung des Verwaltungsverfahrens i n den Bereich des Verordnungsrechts der Verwaltungsbehörden fällt 7 3 . Verordnungen dieser A r t finden sich zwar ziemlich häufig. Ihre Regelungen sind jedoch unzureichend, weil sie sich meistens nur m i t der Verwaltungsorganisation und der Zuständigkeit der VerLangrod, Quelques problèmes de la procédure administrative non contentieuse en droit administratif comparé, i n : Revue Internationale des Sciences A d m i n i stratives 1959 S. 16 Anm. 135. Z u r Verwaltungskontrolle i n der Sowjetunion vgl. Elena W. Schorina — Nadeschda G. Salischtschewa, Die Verwaltungskontrolle u n d der Schutz der Rechte der Bürger i n der UdSSR, i n : Staatsbürger u n d Staatsgewalt, Verwaltungsrecht u n d Verwaltungsgerichtsbarkeit i n Geschichte u n d Gegenwart, Karlsruhe 1963, S. 441—459. 68 I n der französischen Verwaltungsrechtsliteratur hat allerdings Maurice Hauriou schon sehr f r ü h auf die Bedeutung des Verwaltungsverfahrens hingewiesen; vgl. insbes. seinen Précis de droit administratif, 4. Aufl., Paris 1901, S. 225 u n d 250. Nach Hauriou ist die V e r w a l t u n g v o m rechtlichen Standpunkt als „l'exercice des droits des personnes administratives organisés en procédures réglementées" zu definieren. Diese Verfahren dürften nicht m i t den vor den Verwaltungsgerichten zur Anwendung kommenden Vorschriften v e r wechselt werden; sie w ü r d e n aber oft von diesen beeinflußt. Jede V e r w a l tungshandlung eröffne ein Verfahren, das entweder durch das Gesetz oder durch Verordnungen oder sogar durch Runderlasse geregelt werde. 69 Vgl. Georges Langrod, i n : Revue Internationale des Sciences A d m i n i stratives 1956 Nr. 3 S. 28 f. 70 Vgl. Georges Langrod, a.a.O.; Raymond Guillien, Essai sur une réforme générale d u contentieux administratif, i n : Recueil Dalloz 1955 Chronique S. 98 ff. 71 Vgl. Georges Langrod, Procédure administrative et droit administratif, i n : Revue d u Droit Public et de la Science Politique 1948 S. 549 ff.; Jean Marie Auby, L a procédure administrative non contentieuse Recueil Sirey et Dalloz 1956 Doctrine S. 27. 72 Vgl. Jean Marie Auby, a.a.O. 73 Vgl. dens., a.a.O. m i t Nachweisen. 2*

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waltungsbehörden, nicht aber m i t dem Verfahren i m engeren Sinne befassen 74 . Darüber hinaus haben die Verwaltungsbehörden auch die Möglichkeit, durch individuellen A k t für eine bestimmte Verwaltungsangelegenheit Verfahrensregeln aufzustellen. Diese sind aber wegen ihres nicht allgemein bindenden Charakters von geringer Bedeutung 75 . Es stellt sich die Frage, ob und wieweit die gesetzgeberische Lücke i m französischen Verwaltungsverfahrensrecht durch die Rechtsprechung ausgefüllt worden ist. Sie ist für Frankreich besonders berechtigt, weil hier die Verwaltungsgerichte, an ihrer Spitze der Conseil d'Etat, i n entscheidendem Maße das französische Verwaltungsrecht geformt haben 76 . Z u der Rechtsprechung des Conseil d'Etat zum Verwaltungsverfahren ist grundsätzlich zu bemerken, daß dieser weder die gesetzlichen Vorschriften über das verwaltungsgerichtliche Verfahren (procédure administrative contentieuse) noch die von der Rechtsprechung zu diesem Verfahren entwickelten allgemeinen Rechtsprinzipien unmittelbar auf das Verwaltungsverfahren (procédure administrative non contentieuse) anwendet. Da jedoch bestimmte Erwägungen, ζ. B. die Anhörung der Beteiligten oder der Grundsatz der unparteiischen Entscheidung des Verwaltungsbeamten, für Verwaltungsstreitverfahren und Verwaltungsverfahren gleichermaßen gelten, läßt sich die Rechtsprechung i n bestimmten Fragen und i n gewissem Umfang von den Grundsätzen des verwaltungsgerichtlichen Prozesses inspirieren, die sie, ohne sich allerdings zu binden, auf das Verwaltungsverfahren überträgt 7 7 . Die Ergebnisse der Rechtsprechung sind entweder einfache Rechtsprechungsregeln, die dazu bestimmt sind, die Gesetzestexte zu interpretieren oder beim Schweigen des Gesetzes Lücken zu füllen, oder aber allgemeine Rechtsgrundsätze, anhand derer der Verwaltungsrichter sogar die Gültigkeit der Verfahrensregeln i n den Verordnungen der Verwaltungsbehörden nachprüfen kann 7 8 . Die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze kann sich i m Verwaltungsverfahren aus verschiedenen Überlegungen ergeben. Sie können zunächst i m Interesse der Verwaltungsbehörden (ζ. B. Erleichterung und Vereinfachung des Verwaltungs74

Vgl. dens., a.a.O. Vgl. Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 113 m i t Nachweisen. 76 Die große Bedeutung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung f ü r das französische Verwaltungsrecht ist von A. Mestre, Répétitions écrites de droit administratif, 1935/36, trefflich formuliert worden: „ L e droit a d m i n i stratif est u n droit prétorien, c'est u n droit fait par les juges, u n droit de jurisprudence plus qu'un droit légal"; zitiert bei Georges Langrod, i n : Revue Internationale des Sciences Administratives 1956 Nr. 3 S. 29 Anm. 47. 77 Vgl. A n d r é de Laubadère, Traité élémentaire de droit administratif, B d I, 3. Auflage, Paris 1963, S. 243 ; Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 594. 78 Vgl. André de Laubadère, a.a.O., S. 241 f.; Jean Marie Auby — Roland Drago , a.a.O., S. 594. 75

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handelns) oder i m allgemeinen Interesse (ζ. B. die Konsultationsverfahren) liegen. I n erster Linie sollen sie aber Rechtsschutzgarantien für den einzelnen sein (ζ. B. Recht auf Anhörung, Öffentlichkeit des Verfahrens, sorgfältige Feststellung des Sachverhalts usw.) 70 . Hauptsächlich aus dieser Erwägung hat man versucht, die „allgemeinen Rechtsgrundsätze" des Verwaltungsverfahrens zu systematisieren, indem man sie nach einigen „beherrschendenMerkmalen" gruppiert hat: Öffentlichkeit, kontradiktorischer Charakter, Unparteiischkeit und Effektivität 8 0 . Bevor w i r auf einige Einzelheiten des französischen Verwaltungsverfahrensrechts eingehen, ist der Hinweis erforderlich, daß i n der Rechtsprechung und Lehre zwischen Form (forme) und Verfahren i m engeren Sinne (procédure) unterschieden w i r d 8 1 . Die Form betrifft den fertigen Verwaltungsakt, das Verfahren die Formalitäten, die dem Erlaß des Verwaltungsakts voraufgehen 82 . Die praktische Bedeutung dieser Unterscheidung besteht darin, daß i n der Rechtsprechung Formfehler häufig ohne Einfluß auf die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungsakts sind, während die Verfahrensfehler i m Interesse der Beteiligten i n vielen Fällen zu seiner Aufhebung führen. Zu der Form des Verwaltungsakts hat die Rechtsprechung verhältnismäßig wenig Grundsätze aufgestellt. Von Bedeutung ist hier zunächst, daß die Verwaltungsakte grundsätzlich mündlich erlassen werden können. Die schriftliche Form ist nur dann erforderlich, wenn sie durch Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift ausdrücklich vorgeschrieben ist 8 3 . Zur Form des Verwaltungsakts gehört i m französischen Verwaltungsrecht auch die Frage, ob ein Verwaltungsakt zu begründen ist. Eine Begründungspflicht besteht nach traditioneller französischer Rechtsauffassung nur dann, wenn sie ausdrücklich angeordnet ist. Dies ist ziemlich häufig der Fall 8 4 . A n dieser Praxis ist neuerdings K r i t i k geübt und ein allgemeiner Begründungszwang gefordert worden 8 5 . Der Conseil 79

Vgl. André de Laubadère , a.a.O., S. 242. So Jean Marie Auby, i n : Recueil Sirey et Dalloz 1956 Doctrine S. 27 ff. Vgl. André de Laubadère, a.a.O.; Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 582 f. Auch Maurice Hauriou, Précis de d r o i t administratif, 4. A u f lage, Paris 1901, S. 250, hatte schon zwischen „les formalités antérieures à l'acte, les formes de l'acte et les formalités postérieures à l'acte" unterschieden. Allerdings w i r d die Trennungslinie zwischen „ F o r m " u n d „Verfahren" nicht immer scharf gezogen. 82 Vgl. Michel D. Stassinopoulos, Traité des actes administratifs, Paris 1954, S. 122. 83 Vgl. André de Laubadère , a.a.O., S. 243; Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 587 m i t Nachweisen. 84 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 589. 85 Vgl. ζ. B. Léon Gingembre, Le syndicalisme patronal et l'Administration, i n : Revue Administrative 1949 S. 592. Charlier, L a technique de notre droit public est-elle appropriée à sa fonction, i n : Conseil d'Etat, Etudes et Docu81

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d'Etat hat aber grundsätzlich an ihr festgehalten, sie allerdings dadurch abgemildert, daß er eine Begründungspflicht auch bei fehlender gesetzlicher Bestimmung als notwendig erachtet, wenn diese sich aus der „Natur der Sache" ergibt 8 6 . Das ist ζ. B. der Fall, wenn die Begründung erforderlich ist, damit der Richter überprüfen kann, ob die Voraussetzungen der Zuständigkeitsausübung beachtet worden sind 8 7 , oder wenn ein Verwaltungsausschuß eine Entscheidung treffen muß, wobei er sich auf rechtliche und tatsächliche Erwägungen stützt 8 8 . Dagegen muß die Verwaltung dem Richter auf Verlangen stets die Motive ihrer Entscheidung mitteilen. Die motivation als Formerfordernis des Verwaltungsakts ist also von der révélation du motif gegenüber dem Richter, einer Vorschrift des Verwaltungsstreitverfahrens, zu unterscheiden 89 . Rechtsprechung und Lehre unterteilen die Formerfordernisse i n „wesentliche Formvorschriften" (formalités substantielles) und „nachgiebige Formvorschriften" (formalités secondaires ou accessoires). Diese Unterscheidung betrifft die Sanktion bei Formfehlern: die Verletzung eines wesentlichen Formerfordernisses bewirkt die Nichtigkeit des Verwaltungsakts, während der Verstoß gegen eine nachgiebige Formvorschrift die Gültigkeit des Verwaltungsakts unberührt läßt. Die Frage, wann ein wesentliches Formerfordernis vorliegt, ist nicht immer leicht zu beantworten. Als wichtigstes K r i t e r i u m w i r d angesehen, ob die Nichtbeachtung der Formvorschrift einen Einfluß auf die Verwaltungsentscheidung gehabt haben kann 9 0 . Einen breiteren Raum nehmen die Rechtsgrundsätze ein, die der Conseil d'Etat auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrens i m engeren Sinne entwickelt hat. Große Beachtung findet i n Rechtsprechung und Literatur zunächst das Konsultationsverfahren 91 . I m französischen Verwaltungsrecht sind die Fälle häufig, i n denen dem Erlaß eines Verwaltungsakts ments, 1951 S. 39. Diese K r i t i k w i r d von Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 590, m i t folgender Erwägung zurückgewiesen: „Es scheint, daß die ausgedehnte Kontrolle der materiellen Elemente des Verwaltungsakts u n d insbesondere die K o n t r o l l e der M o t i v e eine Formalität überflüssig machen, die das Verwaltungshandeln erschwert u n d n u r dann gefordert w i r d , w e n n sie w i r k l i c h notwendig ist" ; ähnlich auch der Commissaire d u Gouvernement Letourneur i n seinem Schlußantrag i n der Rechtssache Barel et autres, Conseil d'Etat v o m 28. M a i 1954, i n : Revue d u D r o i t Public et de la Science Politique 1954 S. 519 ff. 86 Formulierung von Jean Marie Auby — Roland Drago , a.a.O., S. 589. 87 Vgl. Conseil d'Etat i n der grundsätzlichen Entscheidung v o m 27. Januar 1950, Billard, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 58. 88 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 589 m i t Nachweisen. 89 Vgl. André de Laubadère, a.a.O., S. 244. 90 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 583 ff. 91 Vgl. Jean Marie Auby, Le régime j u r i d i q u e des avis dans la procédure administrative, i n : Actualité Juridique 1956 I S. 53 f f.; Heilbronner — Drago, L'administration consultative, i n : Revue Internationale des Sciences A d m i n i stratives 1959 S. 57 ff.

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die Konsultation eines anderen Verwaltungsorgans voraufgeht, das ein Gutachten über die beabsichtigte Verwaltungsmaßnahme abgibt. Unterschieden w i r d hierbei zwischen der fakultativen und der obligatorischen Konsultation. Nur bei letzterer ist die Verwaltungsbehörde verpflichtet, ein Gutachten einzuholen, braucht diesem aber i n ihrer Entscheidung nicht zu folgen. Anders verhält es sich bei dem „avis conforme"; hier muß die entscheidende Behörde dem Gutachten folgen. Z u den verschiedenen Konsultationsverfahren hat sich i n Einzelfragen eine reichhaltige Rechtsprechung entwickelt 9 2 . Der Kernpunkt des Verwaltungsverfahrens ist auch i m französischen Recht die Frage, welche Verfahrensrechte den Beteiligten einzuräumen sind. Sie w i r d unter den Themen „Procédures contradictoires" und „Droits de la défense" behandelt, worunter sachlich der Problembereich des „Rechts auf Gehör" i m deutschen Verwaltungsrecht zu verstehen ist. Der kontradiktorische Charakter des Verfahrens, d. h. das Recht des an einem Verwaltungsverfahren Beteiligten, zur Verteidigung seiner Interessen Einwendungen gegen eine Entscheidung zu erheben, die die Verwaltung erlassen w i l l , ist i m französischen Recht kein allgemeiner Grundsatz, der sich auf alle Verwaltungsverfahren erstreckt. Einerseits sehen aber bereits Gesetze ein kontradiktorisches Verfahren vor, und andererseits setzt sich dieses i n bestimmten Verwaltungsbereichen auch ohne ausdrückliche gesetzliche Gestattung i n der Form des „principe des droits de la défense" immer mehr durch 93 . Dieses Prinzip ist vom Verwaltungsstreitverfahren inspiriert, das stets kontradiktorisch ausgestaltet ist 9 4 . I m Verwaltungsverfahren wurde es zuerst i m Disziplinarrecht entwickelt, das dem Verwaltungsstreitverfahren stark angeglichen ist 9 5 . Hier erscheint es vor allem i n der bekannten Vorschrift über die Akteneinsicht der Beamten i n dem Gesetz vom 22. A p r i l 190596. Es hat 92 Vgl. hierzu Jean Marie Auby — Roland Drago , a.a.O., S. 595 ff. m i t zahlreichen Nachweisen. 93 Aus der L i t e r a t u r vgl. z. B. Raymond Odent, Les droits de la défense, i n : Conseil d'Etat, Etudes et Documents, 1953, S. 60 ff. Marcel Waline, L e principe „ a u d i alteram partem", i n : L i v r e j u b i l a i r e d u Conseil d'Etat luxembourgeois, 1956, S. 495 ff.; Georges Morange, L e principe des droits de la défense devant l'administration active, i n : Recueil Dalloz 1956 Chronique S. 121 ff.; Jean Marie Auby, i n : Recueil Sirey et Dalloz 1956 Doctrine S. 27 ff.; Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 608 ff.; Jacques Puisoye, L a jurisprudence sur le respect des droits de la défense, i n : Actualité Juridique 1962 S. 79 ff.; Raymond Odent, De la décision Trompier — Gravier à la décision Garysas, i n : Conseil d'Etat, Etudes et Documents, 1963, S. 43 ff.; Georges Vedei, D r o i t administratif, 3. Auflage, Paris 1964, S. 199 f. u n d 446 f. 94 Vgl. Jacques Puisoye, L e respect des droits de la défense devant les juridictions administratives, i n : Sirey 1962 Chronique S. 1 ff. 95 Vgl. André de Laubadère, a.a.O., S. 248. 96 A r t i k e l 65 dieses Gesetzes gewährt das Recht auf Akteneinsicht dem Beamten, der von einer disziplinarischen Maßnahme bedroht ist; vgl. Pierre Coûtant, Une institution particulière d u droit disciplinaire de la Fonction Publique: L a communication du dossier, i n : Revue Administrative 1955 S. 398 ff.

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sich i n den folgenden Jahrzehnten auf weitere Gebiete ausgedehnt, so daß man es bereits als einen Grundsatz von allgemeiner Bedeutung bezeichnet hat 9 7 . Diese Kennzeichnung erscheint jedoch etwas zu optimistisch, wenn man den Anwendungsbereich der droits de la défense untersucht. Unproblematisch sind zunächst die Fälle, i n denen gesetzliche Vorschriften die Anhörung des Beteiligten vorschreiben. Das ist öfters der Fall 9 8 . Soweit es sich um einen ungeschriebenen Grundsatz handelt, ist seine Tragweite i m Bereich des öffentlichen Dienstrechts gleichfalls noch einigermaßen klar. So ist ζ. B. das Recht auf Akteneinsicht i m Disziplinarrecht von der Rechtsprechung auf sämtliche Maßnahmen gegen einen öffentlichen Bediensteten ausgedehnt worden, auch wenn diese nicht disziplinarrechtlich stricto sensu sind 9 9 . Außerhalb dieses Bereichs ist die Geltung des Prinzips der droits de la défense zwar nicht theoretisch, aber praktisch weniger leicht zu bestimmen. Allgemein formuliert, findet es nur auf Verwaltungsmaßnahmen Anwendung, die den Charakter einer „Sanktion" (sanction) haben, und zudem nur auf solche Sanktionen, die einen schwerwiegenden Eingriff i n die Rechtssphäre des einzelnen darstellen 1 0 0 . Kein Recht auf Anhörung hat nach der Rechtsprechung des Conseil d'Etat der Bürger dagegen bei gegen ihn gerichteten polizeilichen Maßnahmen (mesures de police) 101 . 97

Vgl. André de Laubadère , a.a.O., S. 248. Eine Zusammenstellung dieser Vorschriften findet sich bei Marcel Waline, a.a.O., S. 495. 99 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 609 f. m i t Nachweisen. 100 Vgl. Raymond Odent, i n : Conseil d'Etat, Etudes et Documents, 1953, S. 55 ff.; Jacques Puisoye, i n : Actualité Juridique 1962 S. 79 ff. m i t eingehender Zitierung der Rechtsprechung des Conseil d'Etat; Long-Weil-Braibant, Les grands arrêts de la jurisprudence administrative, 4. Auflage, Paris 1965, S. 771 f. Der Ausdruck „sanction" wurde vom Conseil d'Etat zum ersten Male i n der Entscheidung v o m 5. M a i 1944, dame veuve Trompier-Gravier, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 133; Dalloz 1945 S. 110 m i t Schlußantrag von Chenot u n d Anm. von de Soto, gebraucht u n d seitdem i n ständiger Rechtsprechung beibehalten. I n früheren Urteilen w a r dagegen von der „nature" u n d der „grav i t é " der Verwaltungsmaßnahme die Rede gewesen; vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 610. Als Beispiele von Fällen, i n denen der Conseil d'Etat Verwaltungsmaßnahmen den Charakter einer Sanktion zuerkannt hat, seien genannt: der Ausschluß eines Schülers von einer Schule oder eines Kandidaten von einem Prüfungswettbewerb; der Widerruf einer Genehmigung, ein Lichtspieltheater zu führen oder einen Zeitungskiosk zu betreiben (Sache dame veuve TrompierGravier), das Verbot, den Beruf eines Handelsvertreters auszuüben usw. 101 Vgl. Jacques Puisoye, i n : Actualité Juridique 1962 S. 81 m i t zahlreichen Nachweisen; Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 611 ff. Als polizeiliche Maßnahmen w u r d e n z. B. bezeichnet: die Schließung von Getränkehandlungen, Aufenthaltsverbot bei Proklamierung des Notstandes, der Widerr u f von Genehmigungen i m Rahmen der Wirtschaftsgesetzgebung, Ablehnung oder Widerruf der Genehmigung, einen Handelsbetrieb zu eröffnen oder zu übertragen usw. 98

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Lehre und Rechtsprechung haben sich, wenn auch nicht immer mit dem gewünschten Erfolg, bemüht, eine allgemeine begriffliche Unterscheidung zwischen den Sanktionen und den polizeilichen Maßnahmen zu finden. So heißt es ζ. B. bei Auby und Drago 102: „Es ist unmöglich, jeder individuellen Verwaltungsmaßnahme den Charakter einer Sanktion zuzuerkennen. Eine Sanktion liegt nur dann vor, wenn die Person, gegen die sie sich richtet, ein disziplinarisches Verschulden trifft, oder genauer gesagt, wenn diese besondere Verpflichtungen, die ihr i n einem bestimmten Rechtsbereich auferlegt sind, nicht erfüllt". Und der Commissaire du Gouvernement, Braibant, hat das Wesen der Sanktion und der polizeilichen Maßnahme folgendermaßen beschrieben 103 : „Die Sanktionen sind i m wesentlichen repressiver Natur. Sie entspringen der A b sicht, Verstöße entweder gegen eine genaue Regelung oder gegen Prinzipien der beruflichen Moral zu ahnden. Sie stützen sich auf Beschwerdegründe, auf vorwerfbares Verhalten und haben grundsätzlich persönlichen Charakter". Dagegen ist „die Polizeigewalt ihrem Wesen nach präventiv und daher keine Sanktionsgewalt. Die polizeilichen Maßnahmen sind, weil sie i m Interesse der öffentlichen Sicherheit, Hygiene oder Ruhe ergriffen werden, keine Strafmaßnahmen, sondern Maßnahmen, die sich auf das allgemeine Interesse gründen und erst einer nachträglichen Kontrolle unterliegen. I m Disziplinarrecht ist allein die Person desjenigen betroffen, gegen den sich die Sanktion richtet; auf polizeilichem Gebiet w i r d die Einzelperson nur mittelbar betroffen, denn über sie bemüht sich die Verwaltung, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Die Anhörung des Beteiligten könnte der Notwendigkeit einer raschen Entscheidung schaden". Braibant räumt allerdings ein, daß die Unterscheidung zwischen „Sanktionen" und „polizeilichen Maßnahmen" oft schwierig sein kann. Es sei daher erforderlich, i n jedem Falle nach den Motiven zu suchen, aus denen die Entscheidung zustande gekommen sei 1 0 4 . Aus dem principe des droits de la défense ergeben sich für die Verwaltung i m wesentlichen drei Verpflichtungen 1 0 5 : 102

a.a.O., S. 613. Schlußantrag i n der Rechtssache Ministre de l'Education c. Rohmer, Conseil d'Etat v o m 8. Januar 1960, i n : Revue du Droit Public et de la Science Politique 1960 S. 333. 104 Die Schwierigkeiten, eine befriedigende Unterscheidung zwischen „Sanktionen" u n d „polizeilichen Maßnahmen" zu finden, werden auch i n der L i t e r a t u r hervorgehoben; vgl. Jacques Puisoye, i n : Actualité Juridique 1962 S. 81; Galabert-Gentot, Besprechung der Entscheidung des Conseil d'Etat, dame Ruard, i n : Actualité Juridique 1962 S. 419 f.; A n d r é de Laubadère, a.a.O., S. 247 ff. 105 Vgl. Fournier — Braibant, Encyclopédie Dalloz, Droit Administratif, V. Recours pour excès de pouvoir, Nr. 476 ff. 103

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1. Sie muß dem Beteiligten mitteilen, daß sie eine Sanktion gegen ihn verhängen w i l l 1 0 6 ; 2. sie muß den Beteiligten von allen Vorwürfen, die gegen ihn erhoben werden, i n Kenntnis setzen 107 ; 3. sie muß dem Beteiligten Gelegenheit geben, seine Verteidigung zu führen. Hierzu ist auch erforderlich, daß sie i h m eine angemessene Frist zur Äußerung einräumt, damit er Einsicht i n die Akten nehmen und seine Stellungnahme der Verwaltungsbehörde vor Erlaß der Entscheidung mitteilen kann 1 0 8 . So begrüßenswert es auch ist, daß der Conseil d'Etat den Anwendungsbereich des Rechts auf Gehör i m Laufe der Zeit ständig erweitert hat, so ist der Rechtszustand auf diesem Gebiet i n Frankreich immer noch unbefriedigend. Insbesondere ist nicht einzusehen, weshalb der Beteiligte nur dann gehört werden soll, wenn Verwaltungsmaßnahmen mit einem gewissen Strafcharakter gegen ihn ergriffen werden. Abgesehen davon, daß die Abgrenzung dieser Sanktionen gegenüber anderen Verwaltungsmaßnahmen oft schwierig ist, greifen ζ. B. die polizeilichen Maßnahmen i n vielen Fällen kaum weniger einschneidend als die Sanktionen i n die private Rechtssphäre ein. Dem Beteiligten w i r d es dabei ein schwacher Trost sein, daß polizeiliche Maßnahmen i m öffentlichen Interesse 109 und nicht wegen eines i h m zur Last gelegten schuldhaften Verhaltens — wie bei den Sanktionen — ergriffen werden. Seine Interessenlage erfordert vielmehr, daß er i n allen Fällen, i n denen eine i h m ungünstige Verwaltungsentscheidung gefällt werden soll, vor ihrem Erlaß gehört wird. Nur dann sind seine Verfahrensrechte i n rechtsstaatlich vorbildlicher Weise gewahrt. Diese Erwägungen haben einige französische Autoren zu einer scharfen K r i t i k an der Rechtsprechung des Conseil d'Etat zu den droits de la défense veranlaßt 1 1 0 . 108

Vgl. Conseil d'Etat v o m 14. Februar 1951, Geffroy et dame Helaine, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 91. 107 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago , a.a.O., S. 616 m i t Nachweisen. 108 Vgl. Conseil d'Etat v o m 20. Januar 1956, Nègre, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 24. 109 Diese Begründung erscheint schon deshalb anfechtbar, w e i l alle V e r waltungstätigkeit das öffentliche Interesse zu verwirklichen sucht. 110 Vgl. Georges Morange, i n : Recueil Dalloz 1956 Chronique S. 121 ff.; Jean Marie Auby y i n : Recueil Sirey et Dalloz 1956 Doctrine S. 31; Georges Langrod, i n : Revue Internationale -des Sciences Administratives 1956 S. 31 ff. I n den letzten Jahren machen sich Anzeichen dafür bemerkbar, daß der Conseil d'Etat bei der Zuerkennung des Rechts auf Gehör nicht mehr so starr an dem Begriff der „sanction" festhält. So hat beispielsweise der Commissaire d u Gouvernement Michel Bernard i n seinem Schlußantrag i n der Rechtssache Sieur d'Oriano (Urteil des Conseil d'Etat v o m 23. Oktober 1964), i n : Revue d u Droit Public et de la Science Politique 1965 S. 291, darauf hingewiesen, daß der Conseil d'Etat nunmehr häufiger statt von der „gravité de sanction" von der „gravité de mesure" spreche. Diese Änderung i n dem Wortlaut der Urteile beruhe nicht auf einem Versehen und sei daher von Bedeutung. E i n gewisses

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Mehr befriedigen kann die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung i n zwei anderen Punkten. So hat sich der Conseil d'Etat mehrfach dafür ausgesprochen, daß die Verwaltungsbehörde das ihrer Entscheidung voraufgehende Ermittlungsverfahren unparteiisch durchführt 1 1 1 . Die Rechtsprechung hatte sich zwar zunächst dagegen gesträubt, den Grundsatz einer gerechten, von persönlichen Interessen freien Behandlung, der ein gesicherter Bestandteil des gerichtlichen Verfahrens ist 1 1 2 , auf das Verwaltungsverfahren anzuwenden. Schwere Mißbräuche i m Disziplinarwesen haben aber den Conseil d'Etat zu einer Änderung seiner Auffassung bewogen 113 . I n seiner neueren Rechtsprechung hat er den Grundsatz aufgestellt, daß bei Verwaltungsakten, die i n die Rechte des einzelnen eingreifen, die Beamten die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteiischkeit bieten müssen, die für eine sachgerechte Erfüllung der ihnen gestellten Aufgaben notwendig sind 1 1 4 . Ein Verwaltungsverfahren ist daher mit einem schweren Fehler behaftet, wenn an einer Entscheidung Personen mitwirken, die an einem bestimmten Ausgang des Verfahrens persönlich interessiert sind 1 1 5 oder bereits während des Verfahrens i n einer Weise Stellung bezogen haben, daß man an ihrem unparteiischen Verhalten begründeten Zweifel hegen muß 1 1 6 . Weiter macht die Rechtsprechung den Verwaltungsbehörden zur Pflicht, den ihren Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalt m i t Sorgfalt zu ermitteln und beim Erlaß eines jeden Verwaltungsakts ein besonderes Ermittlungsverfahren durchzuführen (Grundsatz des examen particulier des circonstances) 117 . Verwaltungsakte, die ohne ein ErmittAbgehen von dem Begriff der „sanction" zeigt sich auch i n dem U r t e i l des Conseil d'Etat v o m 4. M a i 1962, dame Ruard, i n : Actualité Juridique 1962 S. 454. Hier hat dieser ein Recht auf Gehör bereits bei Ablehnung eines Antrags anerkannt, während er sonst grundsätzlich ein Verbot oder die Entziehung eines Rechts verlangt hatte; vgl. Galabert — Gentot, i n : Actualité Juridique 1962 S. 419 ff. Vgl. aber die Urteile v o m 24. A p r i l 1964, Société Anonyme Coopérative d'Habitation à Bon Marché de Vichy, u n d v o m 3. J u l i 1964, Daveriot, i n : Revue d u D r o i t Public et de la Science Politique 1965 S. 110, i n denen der Conseil d'Etat die „droits de la défense" wiederum ausdrücklich auf „Sanktionen" beschränkt. 111 Vgl. Raymond Odent, i n : Conseil d'Etat, Etudes et Documents, 1953, S. 62. 112 Vgl. Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 115. 113 Vgl. Jean Marie Auby, i n : Recueil Sirey et Dalloz 1956 Doctrine S. 27 ff. 114 Vgl. Conseil d'Etat v o m 4. März 1949, Trèbes, Recueil du Conseil d'Etat, S. 105. 115 Vgl. Conseil d'Etat v o m 2. A p r i l 1954, Ricros, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 215. 116 Vgl. Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 116 m i t Nachweisen. 117 Vgl. Jacques Megret, De l'obligation pour l'administration de procéder à u n examen particulier des circonstances de l'affaire avant de prendre une décision même discrétionnaire, i n : Conseil d'Etat, Etudes et Documents, 1953, S. 677. S. auch Conseil d'Etat v o m 4. Januar 1964, Ferrary, i n : Revue d u Droit Public et de la Science Politique 1964 S. 844.

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lungsverfahren erlassen werden, unterliegen der Aufhebung, wenn die mangelhafte Feststellung des Sachverhalts auf das Ergebnis des Verfahrens einen Einfluß gehabt haben kann 1 1 8 . Die verwaltungsbehördlichen Rechtsmittel (recours administratifs) spielen i m französischen Verwaltungsrecht neben den verwaltungsgerichtlichen Klagen eine geringe Rolle 1 1 9 . Sie sind Ausdruck des dem einzelnen i n Frankreich traditionsgemäß zugestandenen Anspruchs, sich m i t Bitten und Beschwerden an die öffentliche Verwaltung zu wenden, und daher auch ohne gesetzliche Vorschrift zulässig 120 . Die Verwaltungskontrolle w i r d normalerweise von der Behörde ausgeübt, die der erlassenden Behörde hierarchisch übergeordnet ist. Das bei ihr eingelegte Rechtsmittel w i r d als „recours administratif hiérarchique" bezeichnet 121 . Der von einem Verwaltungsakt Betroffene kann sich aber auch an die erlassende Behörde wenden und beantragen, daß diese ihre Entscheidung überprüft. Dieses Rechtsmittel trägt den Namen „recours administratif gracieux" 1 2 2 . A n die Zulässigkeit der recours administratifs werden nur geringe Anforderungen gestellt. M i t ihnen können rechtliche und tatsächliche Bedenken gegen die angegriffene Verwaltungsentscheidung geltend gemacht, aber auch deren Billigkeit oder Zweckmäßigkeit angezweifelt werden. Sie sind selbst gegen Hoheitsakte zulässig, die nicht der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen, wie die actes de gouvernement 1 2 3 . Auch sind sie an keine Fristen und bestimmten Formen gebunden 1 2 4 . Die Vorschriften des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens finden auf das verwaltungsbehördliche Rechtsmittelverfahren grundsätzlich keine Anwendung 1 2 5 . Insbesondere ist die Verwaltung nicht verpflichtet, ein kontradiktorisches Verfahren durchzuführen 1 2 6 oder eine Entscheidung zu treffen 1 2 7 . Die Auffassung, daß eine Entscheidungspflicht nicht be118

Vgl. Conseil d'Etat v o m 27. März 1931, Commune de Barembach, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 387. 119 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 27. 120 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O. ; Conseil d'Etat v o m 20. A p r i l 1956, Ecole professionnelle de dessin, Recueil du Conseil d'Etat, S. 163. 121 Vgl. Conseil d'Etat v o m 30. J u n i 1950, Quéralt, Sirey, 1951, 3, 85 m i t Anm. von Jean Marie Auby; v o m 4. Dezember 1959, Geoffrey, i n : Revue d u Droit Public et de la Science Politique 1960 S. 132 m i t Anm. von Marcel Waline. 122 Vgl. Conseil d'Etat v o m 26. M a i 1950, Dirat, Sirey, 1951, 3, 69 m i t A n m . von Suel. 123 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 28. 124 Vgl. dies., a.a.O., 125 Vgl. dies., a.a.O., S. 29. 126 Vgl. Conseil d'Etat v o m 10. Dezember 1943, Dlle Sée, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 285; v o m 9. März 1945, Société pour la fabrication d'aliments composés pour le bétail, Recueil du Conseil d'Etat, S. 294. 127 Vgl. Conseil d'Etat v o m 31. J u l i 1903, Picard, Sirey 1906, I I I , 14.

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stehe, ist jedoch i n den letzten Jahren abgeschwächt worden. So hat der Conseil d'Etat ζ. Β. entschieden, daß der Minister einen recours hiérarchique, der sich auf die Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsakts stützt, entscheiden und diesen aufheben muß 1 2 8 . Eine Begründungspflicht hat die Rechtsprechung bei Rechtsmittelentscheidungen gleichfalls verneint 1 2 9 . I n einer Reihe von Fällen w i r d das verwaltungsbehördliche Rechtsmittelverfahren aber auch durch gesetzliche Vorschriften geregelt. Manche dieser Vorschriften stellen Zulässigkeitserfordernisse auf, indem sie vom Rechtsmittelführer den Nachweis eines Interesses oder die Einhaltung einer Frist für die Einlegung des Rechtsmittels verlangen 1 3 0 . Andere räumen dem einzelnen bestimmte Rechte ein, etwa der Art, daß die Verwaltungsbehörden Verfahrensgrundsätze des verwaltungsgerichtlichen Prozesses anwenden müssen 131 oder verpflichtet sind, über ein Rechtsmittel zu entscheiden und ihre Entscheidungen zu begründen 1 3 2 . Die verwaltungsbehördlichen und die verwaltungsgerichtlichen Rechtsmittel sind grundsätzlich voneinander unabhängig. Der Betroffene eines Verwaltungsakts kann daher frei zwischen ihnen wählen und auch gleichzeitig oder nacheinander von ihnen Gebrauch machen. I n bestimmten Fällen schreiben jedoch die Gesetze vor, daß vor der verwaltungsgerichtlichen Klage der recours administratif eingelegt wird, so ζ. B. auf dem Gebiet der Reorganisation der Landwirtschaft oder bei Eintragungen i n die Berufsregister der freien Berufe 1 3 3 . Da ein Teil der Verwaltungsverfahrensgesetze auch die Aufhebbarkeit von Verwaltungsakten von Amts wegen regelt, erscheint es angezeigt, auch zu dieser Frage einige Ausführungen zu machen. Sie w i r d i n Frankreich unter dem Thema „retrait des actes administratifs" behandelt 1 3 4 . Da das französische Verwaltungsrecht keine allgemeine gesetzliche Regelung dieses Rechtsgebiets kennt und auch den Einzelgesetzen wenig zu entnehmen ist, fiel der Wissenschaft und insbesondere der 128 Vgl. Conseil d'Etat v o m 4. Dezember 1959, Geoffroy, i n : Revue d u Droit Public et de la Science Politique 1960 S. 132 m i t A n m . von Marcel Waline. 129 Vgl. Conseil d'Etat v o m 23. M a i 1947, Cousty, Recueil d u Conseil d'Etat, S. 215. 150 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago , a.a.O., S. 30. 131 Vgl. ζ. B. das Dekret v o m 2. M a i 1953 über das Verfahren vor der Commission de recours de l'Office français de protection des réfugiés ou apatrides. 132 ζ. Β. bei Beschwerden, m i t denen die Nichtigerklärung eines Gemeinderatsbeschlusses herbeigeführt werden soll. 133 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago , a.a.O., S. 32 m i t Nachweisen. 134 Einige Autoren schlagen vor, den Ausdruck „ r e t r a i t " n u r für die A u f hebung ex tunc zu verwenden u n d die Aufhebung ex nunc als „abrogation" zu bezeichnen; vgl. André de Laubadère , a.a.O., S. 272; Georges Vedel, a.a.O., S. 163; Jean Rivero, D r o i t administratif, 3. Auflage, Paris 1965, S. 93 f.

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Rechtsprechung die Aufgabe zu, die tragenden Grundsätze des verwaltungsbehördlichen Aufhebungsrechts zu entwickeln 1 3 5 . Das französische Verwaltungsrecht behält i m Gegensatz etwa zu dem österreichischen den Begriff der materiellen Rechtskraft (force de la chose jugée) ausschließlich den gerichtlichen Urteilen vor 1 3 6 . Diese terminologische Begrenzung bedeutet indessen nicht, daß Verwaltungsakte leicht aufhebbar sind. Das französische Recht bekennt sich i m Gegenteil zum Grundsatz der Nichtaufhebbarkeit von Verwaltungsentscheidungen (Intangibilité des effets individuels des actes administratifs) 1 3 7 . Er hat zum Inhalt, daß der Urheber des Verwaltungsakts diesen nicht nach freiem Ermessen abändern oder widerrufen kann, sondern nur „selon les procédures et formes prévues par la l o i " 1 3 8 . Freilich gilt der Grundsatz der intangibilité nur bei rechtmäßigen Verwaltungsakten, die ein Recht für den einzelnen begründet haben 1 3 9 . Rechtswidrige Entscheidungen können dagegen nicht nur, sondern müssen von der Verwaltungsbehörde m i t Wirkung ex tunc zurückgenommen werden 1 4 0 . Die Verpflichtung zur Rücknahme des fehlerhaften Verwaltungsakts w i r d damit begründet, daß sie eine „sanction de l'illégalité de l'acte" sei, m i t der die Verwaltung, wenn auch m i t einfacheren Mitteln, die gleiche Aufgabe wie der Verwaltungsrichter erfülle, nämlich den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu v e r w i r k l i chen 141 . Diese Annäherung des verwaltungsbehördlichen Rechtsmittelverfahrens an das verwaltungsgerichtliche Verfahren hat jedoch eine weitere, für den Betroffenen günstige Wirkung. Denn aus dem Gedanken, daß m i t der Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts durch die Verwaltungsbehörde grundsätzlich das gleiche Ziel wie m i t der gerichtlichen Aufhebung eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts verfolgt werde, folgerte der Conseil d'Etat i n der bekannten Entscheidung Dame Cachet vom 3. November 1922 142 , daß 135 v g l z u d e r Rücknehmbarkeit von Verwaltungsakten nach französischem Recht Franz Becker — Niklas Luhmann, Verwaltungsfehler u n d Vertrauensschutz, Möglichkeiten gesetzlicher Regelung der Rücknehmbarkeit von V e r waltungsakten, B e r l i n 1963, S. 75 ff. 136 Vgl. Georges Langrod, Remarques sur l'autorité des décisions administratives, i n : Revue d u Droit Public et de la Science Politique 1948 S. 19 ff.; Georges Vedel, a.a.O., S. 167 f. 137 Vgl. André de Laubadère, a.a.O., S. 272. 138 Vgl. densa.a.O., S. 274. 139 y g l > Franz Becker — Niklas Luhmann, a.a.O., S. 75 f. 140 Vgl. A n d r é de Laubadère, a.a.O., S. 276; Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., Bd. I I I , S. 18 f.; Georges Vedel, a.a.O., S. 163. 141 Vgl. André de Laubadère, a.a.O., S. 275 f.; Jean Marie Auby — Roland Drago, a.a.O., S. 33; Generalanwalt Rivet i n seinem Schlußantrag zum U r t e i l des Conseil d'Etat i n der Rechtssache Dame Cachet, i n : Revue d u D r o i t Public et de la Science Politique 1922 S. 552 ff. (554). 142 Recueil Sirey, 1925, I I , 9 m i t zust. A n m . von Maurice Hauriou.

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auch für die verwaltungsbehördliche Rücknahme die Frist von zwei Monaten zur Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage maßgebend sei. Nach Ablauf von zwei Monaten seit ihrem Erlaß können demnach fehlerhafte begünstigende Verwaltungsakte nicht mehr zurückgenommen oder abgeändert werden, sofern das Gesetz nichts anderes vorschreibt. Ausgenommen von diesem Grundsatz sind vor allem Verwaltungsakte, die durch betrügerisches Verhalten der Begünstigten erschlichen worden sind 1 4 3 . Auch hat die Rechtsprechung i n weitem Umfange die Rückforderung zuviel gezahlter Geldbeträge, insbesondere der i n ihrer Höhe unberechtigten Gehaltszahlungen an Beamte, unbefristet zugelassen 144 . Von diesen Fällen abgesehen, hat der Conseil d'Etat i n ständiger Rechtsprechung an der zweimonatigen Rücknahmefrist festgehalten 145 . Die Wissenschaft ist ihr, soweit ersichtlich, ohne nennenswerte K r i t i k gefolgt 1 4 6 . Als Ergebnis dieser kurzen Darstellung des französischen Verwaltungsverfahrensrechts läßt sich feststellen, daß dieses i n seiner Entwicklung gegenüber einer Reihe europäischer Staaten zurückgeblieben ist. Die Fortschritte, die i n den letzten Jahren erzielt worden sind, lassen sich aber nicht übersehen. Sie sind i n hohem Maße auch das Verdienst der französischen Verwaltungsrechtslehre, die dem Verwaltungsverfahren heute mehr Aufmerksamkeit widmet und eine angemessene Berücksichtigung dieses Rechtsgebiets durch die Gesetzgebung und die Rechtsprechung fordert 1 4 7 . Diese Entwicklung berechtigt zu der Hoffnung, daß die Lehre das Verwaltungsverfahren m i t seiner Vielzahl von interessanten Lösungsmöglichkeiten nicht mehr aus den Augen verliert und daß durch zahlreiche Einzeluntersuchungen eine Gesamtschau entsteht, auf die das französische Verwaltungsrecht nicht mehr verzichten kann. 143 Vgl. Jean Marie Auby — Roland Drago , a.a.O., Bd. I I I , S. 32 A n m . 19 m i t Nachweisen; Paul Louis-Lucas, Le retrait des actes administratifs individuels, i n : Recueil Dalloz 1952 Chronique S. 107 ff. (109) m i t Nachweisen; Conseil d'Etat v o m 28. Oktober 1964, Demoiselle Goyer, i n : Revue d u Droit Public et de la Science Politique 1965 S. 111. 144 Vgl. Paul Louis-Lucas, a.a.O., m i t Nachweisen. 145 Vgl. Franz Becker — Niklas Luhmann, a.a.O., S. 77 f. m i t Nachweisen. 146 Nach Ansicht von Maurice Hauriou, A n m . zum U r t e i l des Conseil d'Etat i n der Rechtssache Dame Cachet, a.a.O., hat der Conseil d'Etat die Forderung nach Rechtssicherheit, deren der Bürger noch stärker als der V e r w i r k l i c h u n g des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit bedürfe, auf einem wichtigen Gebiet der Verwaltungstätigkeit erfüllt. Die Rechtssicherheit verlange, daß auch der durch einen fehlerhaften Verwaltungsakt Begünstigte nicht auf unbegrenzte Zeit dem Risiko der Rücknahme ausgesetzt sei. Daher müsse die Rücknehmbarkeit auf eine bestimmte Frist beschränkt werden, nach deren A b l a u f die W i r k u n g des Verwaltungsakts nicht mehr i n Frage gestellt werden dürfe. So breite sich eine Atmosphäre der Stabilität über die durch die Verwaltungsbehörden zugunsten der einzelnen geschaffenen Rechtslagen aus. Vgl. auch Jean Rivero, a.a.O., S. 95: „Die Rechtsprechung schätzt die Rechtssicherheit höher ein als die Gesetzmäßigkeit." 147 Vgl. Jean Marie Auby, i n : Recueil Sirey et Dalloz 1956 Doctrine S. 32.

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Vielleicht ist dann der Tag nicht mehr fern, an dem auch Frankreich ein allgemeines Gesetz über das Verwaltungsverfahren besitzen wird. b) Großbritannien galt lange Zeit als ein Land ohne Verwaltungsrecht. I n dieser Auffassung, die die meisten britischen Juristen noch am Ende des Ersten Weltkrieges vertraten 1 4 8 , machte sich namentlich der Einfluß Diceys bemerkbar, der 1885 i n seinem bekannten Werk „ L a w of the Constitution" nicht ohne Stolz feststellte, daß i n England und i n anderen Ländern, wie den Vereinigten Staaten, deren Zivilisation aus englischen Quellen fließe, ein verwaltungsrechtliches System und die Prinzipien, auf denen es beruhe, unbekannt seien 149 . Das Verwaltungsrecht, wie es der kontinentaleuropäische und insbesondere der französische Jurist versteht, war für Dicey gleichbedeutend mit dem schlimmsten Despotismus, den Verwaltungsbehörden ausüben 150 . Obwohl Dicey 30 Jahre später i n einem Artikel, der bezeichnenderweise den Titel „The Development of Administrative Law i n England" trug 1 5 1 , die Existenz verwaltungsrechtlicher Normen i m englischen Recht anerkannte, verharrten viele englische Autoren bei der Meinung, daß für ein Verwaltungsrecht i n England kein Bedürfnis bestehe 152 . Sie glaubten, es genüge, wenn für die Verwaltungstätigkeit auch weiterhin das Zivilrecht gelte, und wenn diese wie bisher der Kontrolle durch das Parlament und die ordentlichen Gerichte unterliege 1 5 3 . Diese Anschauung hat die Entwicklung des britischen Verwaltungsrechts bis auf den heutigen Tag stark behindert 1 5 4 . Die Vertreter der konservativen Richtung, die ihre Auffassung vornehmlich mit dem alten angelsächsischen Grundsatz der Rule of Law begründeten 155 , übersahen aber, daß der Staat des 20. Jahrhunderts nicht mehr mit dem i m 19. Jahrhundert identisch ist, als der Staat bemüht war, so wenig als möglich i n die Tätigkeit seiner Bürger einzugreifen 1 5 6 . Die gewaltigen technischen Umwälzungen unseres Jahrhunderts und zwei weltumspannende Kriege ließen eine Vielzahl neuer 148 Vgl. W i l l i a m A. Robson, Le droit administratif en Angleterre de 1919 à 1950, i n : Le Conseil d'Etat, L i v r e Jubilaire, Paris 1949, S. 649. 149 S. 180. 150 Vgl. W i l l i a m A. Robson, a.a.O., S. 650. 151 I n : The L a w Quarterly Review 1915 S. 148. 152 Vgl. Franz Becker , The Donoughmore Report and the Franks Report, i n : International Review of Administrative Sciences 1958 S. 453. 153 Vgl. Reinhold Aris , Verwaltungskontrolle i n England, i n : Staatsbürger u n d Staatsgewalt, Verwaltungsrecht u n d Verwaltungsgerichtsbarkeit i n Geschichte u n d Gegenwart, Bd. I, Karlsruhe 1963, S. 169 ff. 154 Vgl. H. W. R. Wade, Administrative L a w , Oxford 1961, S. 11. 155 Dieser Grundsatz bedeutet i m wesentlichen, daß jedermann, also auch die Verwaltungsbehörden, den Gesetzen u n d der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte unterworfen ist; vgl. Α. V. Dicey, Introduction to the L a w of the Constitution, 1885, S. 185. 156 Vgl. Reinhold Aris, a.a.O., S. 369 f.

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wirtschaftlicher und sozialer Probleme entstehen, die eine vermehrte staatliche Intervention auf allen Gebieten notwendig machten. Dabei zeigte es sich namentlich, daß die Vorschriften des Zivilrechts für die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden nicht paßten, und daß die zeitraubenden und kostspieligen Verfahren vor den ordentlichen Gerichten 1 5 7 die Verwaltungstätigkeit, die eine gewisse Elastizität erfordert, sehr erschwerte 158 . Der englische Gesetzgeber ging daher immer stärker dazu über, die sich aus dieser „socialisation of l a w " 1 5 9 ergebenden Rechtsstreitigkeiten zwischen den Verwaltungsbehörden und den Bürgern entweder bereits bestehenden 160 oder neuen geschaffenen Behörden zur Entscheidung zu übertragen. Diese erhielten, um eine Verwechslung m i t den ordentlichen Gerichten auszuschließen, die neutrale Bezeichnung „Tribunals". Die Zahl der Tribunals hat sich von Jahr zu Jahr erweitert. Es ist zwar nicht bekannt, wieviele dieser Behörden existieren; sie lassen sich aber mit Sicherheit auf über 2 000 beziffern 1 6 1 . Ihre Tätigkeit entfalten sie vor allem auf den Gebieten der sozialen Fürsorge, des Bau- und Wohnungswesens, des öffentlichen Transportwesens, der Landwirtschaft und der Erziehung 1 6 2 . Sie fällen jährlich Tausende von Entscheidungen, die oft stark i n private Rechte eingreifen 163 . Wenn die Tribunals auch ein nicht mehr wegzudenkender wichtiger Bestandteil der Verwaltungskontrolle i n England geworden sind, so war ihre rechtsprechende Tätigkeit (judicial oder adjudicative functions) doch von Anfang an erheblichen Einwänden ausgesetzt. Man erkannte zwar einerseits die großen Vorteile an, die sich aus ihr ergaben 164 , ver157 Vgl. T. E. Chester , Die gegenwärtige Lage der Verwaltung, die E n t w i c k lung der Beamtenausbildung u n d der Stand der verwaltungswissenschaftlichen Forschung i n England, i n : Verw. Arch. 1957 S. 298: „Die englische Justiz, so sagt B. Shaw, ist jedermann so frei zugänglich wie das Ritz-Hotel i n L o n don." Vgl. auch Frederick H. Law son, Le droit administratif anglais, i n : Revue Internationale de Droit Comparé 1951 S. 423. 158 Vgl. Bernhard Schwartz, L a w and the Executive i n Britain, New Y o r k 1949, S. 69. 159 Vgl. Roscoe Pound, The end of l a w as developed i n legal rules and doctrines, i n : H a r v a r d L a w Review 1914 S. 195 ff., 225 ff. 160 So vor allem den Ministerien, wie dem Gesundheits-, Handels-, Erziehungs- u n d Innenministerium. 161 Vgl. Reinhold Aris, a.a.O., S. 383, der allerdings darauf hinweist, daß viele dieser Tribunals lediglich regionale Unterausschüsse sind. 162 Einen Uberblick über die Zusammensetzung u n d die Arbeitsweise der verschiedenen Tribunals gibt D. C. M. Yardley, A source book of English administrative law, London 1963, Kap. 6. Vgl. auch Reinhold Aris, a.a.O., S. 386 ff. 163 Vgl. Reinhold Aris, a.a.O., S. 383. 164 Vgl. W i l l i a m A. Robson, Justice and administrative law, 1. Auflage, L o n don 1928, S. 275: „the cheapness and speed w i t h which they generally w o r k ; technical knowledge and experience which they make available for the discharge of j u d i c i a l function i n special fields; the assistance which they give to the efficient conduct of public administration and the a b i l i t y they possess to lay down new standards and to promote a policy of social improvement".

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säumte es andererseits aber auch nicht, ihre Mängel hervorzuheben, die namentlich auf verfahrensrechtlichem Gebiet lagen 1 6 5 . Ferner wurde ihnen vorgeworfen, daß sie von den ihnen gesetzlich eingeräumten Machtbefugnissen oft allzu ausgiebig und selbst i n gesetzwidriger Weise Gebrauch machten 166 . Diese Bedenken gegen die rechtsprechende Tätigkeit der Tribunals, die der Chief Justice Lord Hew art i n dem 1929 erschienenen Werk „The New Despotism" i n besonders drastischer Form Ausdruck gab, führten noch i m gleichen Jahr zur Einsetzung eines Regierungsausschusses, des Committee on Ministers' Powers, auch bekannt unter dem Namen Donoughmore Committee, das sich eingehend mit der judikativen Tätigkeit der englischen Ministerien beschäftigte. I n seinem Schlußbericht, der nach dreijährigen Beratungen veröffentlicht wurde (1932), gelangte der Ausschuß zu der i m angloamerikanischen Recht berühmt gewordenen Unterscheidung zwischen den judicial und den quasijudicial decisions 167 . Beiden Arten von Entscheidungen ist nach Ansicht des Ausschusses gemeinsam, daß ein Rechtsstreit zwischen zwei oder mehreren Parteien besteht, daß die Parteien ihre Sache vortragen, und daß der Sachverhalt mit Hilfe der von den Parteien angebotenen Beweismittel festgestellt wird. Dagegen unterscheiden sich die judicial und die quasi-judicial decisions dadurch voneinander, daß nur bei den judicial decisions das geltende Recht (law of the land) auf den festgestellten Sachverhalt angewandt wird, während bei den quasi-judicial decisions an Stelle der Anwendung der Rechtsnorm die verwaltende Tätigkeit tritt, deren A r t der Minister frei bestimmen kann. Da nach traditioneller englischer Rechtsauffassung die ordentlichen Gerichte das Recht anwenden, erschien es dem Donoughmore Committee als natürlich, daß die Rechtsprechungsfunktionen normalerweise von diesen ausgeübt werden, und daß die Übertragung von Rechtsprechungsaufgaben durch das Parlament auf einen Minister oder ein Ministerial tribunal Ausnahme bleiben und i n jedem Falle besonders begründet werden sollte. A u f der anderen Seite fallen nach Ansicht des Ausschusses die quasi-judicial decisions i n den Zuständigkeitsbereich der Minister, weil sie politische Erwägungen enthalten und letzten Endes darüber befinden, was i m öffentlichen Interesse geschehen muß 1 6 8 . Die Behörden, die quasi-judicial decisions erlassen, bezeichnete der Ausschuß als Administrative tribunals. 165 Vgl. W i l l i a m A. Robson, a.a.O., S. 288: „ . . . t h e lack of publicity, which attends the w o r k of most tribunals, the air of mystery and secrecy i n which their deliberations are shrouded, the failure i n most cases to give reasons for their decisions; and the poor quality and insufficient amount of the evidence on which decisions are often based". 166 Vgl. Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 141. 167 Committee on Ministers' Powers, Report (Donoughmore Report), London 1932, Cmd. 4060, S. 73. 168 Donoughmore Report, S. 93.

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Nicht alle Entscheidungen, die politische Erwägungen enthalten, können nach Meinung des Donoughmore Committee als quasi-judicial decisions betrachtet werden. Viele von ihnen haben vielmehr einen „rein administrativen" (purely administrative) Charakter 1 6 9 . Das bedeutet, daß solchen Entscheidungen kein Rechtsstreit zwischen zwei oder mehreren Parteien voraufgeht, genauer formuliert, daß für sie kein formelles Verfahren erforderlich ist. Die Verwaltungsbehörden sind damit vor allem der Notwendigkeit enthoben, die Verfahrensbeteiligten anzuhören oder die von diesen vorgebrachten Argumente zu berücksichtigen 1 7 0 . Das Verfahrenskriterium unterscheidet demnach die rein administrativen und die quasi-kontentiosen Verwaltungssachen voneinander. Denn obwohl das Donoughmore Committee anerkannte, daß ein Minister bei Ausübung von Quasi-Rechtsprechungsfunktionen von den gewöhnlichen Formen des Rechtsverfahrens (legal procedure) abweichen kann, war es doch der Meinung, daß der Grundsatz des " A u d i alteram partem" bei den quasi-judicial decisions befolgt werden müsse 171 . Das heißt, daß jeder Partei Gelegenheit zu geben ist, sich über den Stand der Angelegenheit zu informieren und sich zu ihr zu äußern. Das Prinzip des Rechts auf Gehör soll ferner die Verpflichtung für die Minister und die Ministerial tribunals enthalten, ihre judicial und quasi-judicial decisions ordnungsgemäß zu begründen. U m sicherzustellen, daß diese sich bei ihrer Rechtsprechungstätigkeit i m Rahmen ihrer Machtbefugnisse halten, schlug der Ausschuß vor, daß jede Partei, die sich i n einer Rechtsfrage von den Entscheidungen dieser Behörden betroffen fühlt, das Recht haben solle, Berufung zum High Court of Justice einzulegen, dessen Verfahren moderner, einfacher und weniger kostspielig gestaltet werden müsse 172 . Die Unterscheidung des Donoughmore Committee zwischen judicial, quasi-judicial und purely administrative decisions fand i n der Wissenschaft zwar starke Beachtung. Sie wurde jedoch meistens als zu theoretisch und daher als von geringem praktischen Wert kritisiert 1 7 3 . Dies zeigte sich daran, daß die englischen Gerichte i n gleichgelagerten Fällen häufig unterschiedliche Entscheidungen fällten 1 7 4 . Eine für den Bürger nachteilige Konsequenz ergab sich aus der Unterscheidung der einzel169

Donoughmore Report, S. 81. Vgl. Bernhard Schwartz , a.a.O., S. 83 f. Donoughmore Report, S. 85. 172 Donoughmore Report, S. 117. 173 Vgl. Bernhard Schwartz , a.a.O., S. 84. Scharf kritisiert wurde die U n t e r scheidung zwischen j u d i c i a l u n d quasi-judicial decisions von W i l l i a m A. Robson, Justice and administrative law, 3. Auflage, London 1951, S. 494, der ironisch von einem K u l t des quasi i m englischen Verwaltungsrecht spricht: „ . . . quasi-judicial court presided over by a quasi-judge administering quasil a w i n quasi-disputes". 174 Vgl. Bernhard Schwartz, a.a.O., S. 85 ff. 170

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nen Entscheidungsarten dadurch, daß die englischen Gerichte i n den folgenden Jahren immer mehr dazu übergingen, die Trennungslinie zwischen quasi-judicial und purely administrative decisions zugunsten der letzteren zu ziehen, so daß i n vielen Fällen die von Verwaltungsmaßnahmen betroffenen Personen ihrer prozessualen Rechte beraubt wurden 1 7 5 . So waren nach 1932 die Gefahren verwaltungsbehördlicher W i l l k ü r i n mancher Hinsicht größer als vorher, und sie wurden durch die ständige Ausweitung der Verwaltungstätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg noch erhöht. So entstand der Wunsch, erneut die Verwaltungsverfahren zu untersuchen, um die Beziehungen zwischen den Bürgern und den öffentlichen Behörden einander anzupassen und ein neues Gleichgewicht zwischen privatem und öffentlichem Interesse zu schaffen. M i t dieser bedeutungsvollen Aufgabe betraute die britische Regierung das Committee on Administrative Tribunals and Enquiries, das nach dem Namen seines Vorsitzenden auch als Franks Committee bekannt wurde. Der Ausschuß wurde am 1. November 1955 eingesetzt. Er gab nach Einholung zahlreicher schriftlicher Stellungnahmen (memoranda of evidence) und nach Anhörung vieler mündlich vorgetragener Berichte (oral evidence) i m Jahre 1957 einen Schlußbericht heraus 176 , den der Lordkanzler zusammen m i t 95 Empfehlungen als "Report of the Committee on Administrative Tribunals and Enquiries" dem britischen Parlament vorlegte. Der Bericht befaßt sich i n seinem ersten T e i l 1 7 7 ausführlich m i t der Verfassung und dem Verfahren der Administrative tribunals. Diese sind nach Meinung des Ausschusses ein notwendiger Bestandteil des englischen Verwaltungsrechts geworden und ihre Rechtsprechung i n allen Konfliktsfällen zwischen Verwaltung und Bürgern, i n denen eine gewisse Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verfahrens erforderlich ist, den umständlicher und teurer arbeitenden ordentlichen Gerichten vorzuziehen. Von besonderer Bedeutung dürfte sein, daß das Franks Committee die Administrative tribunals als unabhängige Rechtsprechungsorgane bezeichnete 178 . Es lehnte damit die i m englischen Schrifttum verbreitete Meinung ab, daß die Tribunals nur besondere Verwaltungsbehörden i n den einzelnen Ministerien seien. Aus der Qualifizierung der Tribunals als Organe der Rechtsprechung ergaben sich die beiden Empfehlungen des Ausschusses, daß 1. die Vorsitzenden der Tribunals i n England vom Lordkanzler ernannt werden sollen und 2. zwei ständige Councils on Tribunals, der eine für England und Wales, der andere 175 Vgl. S. A. de Smith, The right to a hearing i n English administrative law, i n : The H a r v a r d L a w Review 1955 S. 581 ff. (584); ders., Judicial review of administrative action, London-New Y o r k 1959, S. 101 ff. 176 London 1957, Cmd. 218. 177 Franks Report, S. 8 ff. 178 Franks Report, S. 9.

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für Schottland, errichtet werden sollten, die die Tätigkeit der Tribunals beaufsichtigen sollten 1 7 9 . Das Franks Committee machte sodann Vorschläge für die Ausgestaltung des Verfahrens vor den Tribunals. Obwohl es der Ansicht war, daß für die einzelnen Tribunals besondere, auf ihre Tätigkeit zugeschnittene Verfahrensregeln ausgearbeitet werden müßten, sollten für alle Verfahren die Grundsätze der Öffentlichkeit (openness), Gerechtigkeit (fairness) und Unparteiischkeit (impartiality) gelten 1 8 0 . Konkret bedeuten diese, daß: 1. der Bürger rechtzeitig von der Eröffnung des Verfahrens informiert w i r d ; 2. die mündlichen Verhandlungen grundsätzlich öffentlich sind 1 8 1 ; 3. das Recht auf gesetzliche Vertretung nur ganz ausnahmsweise eingeschränkt werden darf und 4. die Entscheidungen so vollständig als möglich begründet werden 1 8 2 . Während die Vorschläge des Franks Committee für das Verfahren vor den Administrative tribunals i m wesentlichen befriedigen konnten, war es diesem nicht gelungen, dem Rechtsstaatsgedanken auch i n den Verfahren, die nach der Ausdrucksweise des Donoughmore Committee "purely administrative" sind, zum Durchbruch zu verhelfen. Diesen Mangel, der teilweise kritisiert worden ist 1 8 3 , hat aber der Ausschuß nicht zu vertreten. Er ist vielmehr eine Folge der durch die Themenstellung notwendig gewordenen Beschränkung der Untersuchungen des Ausschusses auf diejenigen Verwaltungsverfahren, i n denen ein Ermittlungsverfahren (enquiry) oder eine mündliche Verhandlung (hearing) stattfindet. Da Ermittlungsverfahren und mündliche Verhandlungen nur einigen, freilich bedeutsamen Arten von Verwaltungsakten, insbesondere Enteignungen (compulsory purchases of land), dem Erlaß von Baubeschränkungen für bestimmte Gebiete (development areas) und der Erteilung von Baugenehmigungen i n diesen Gebieten voraufgehen 184 , blieben die meisten Verwaltungsmaßnahmen, mögen sie auch noch so sehr i n die Freiheits- und Vermögenssphäre des einzelnen eingreifen, von einer Betrachtung durch das Franks Committee ausgenommen 1 8 5 . Diese Tatsache ist um so bemerkenswerter, als gerade die miß179

Franks Report, S. 10, 30 f. 180 Franks Report, S. 10. Vgl. auch Reinhold Aris , a.a.O., S. 397. Ausgenommen sind die Fälle, die die öffentliche Sicherheit berühren oder i n denen vertraulich zu behandelnde persönliche oder finanzielle V e r hältnisse dargelegt werden müssen. 182 Franks Report, S. 17 ff. !83 v g l . z . β . C. C. Aikman, Some developments i n administrative law, The Report of the Franks Committee, i n : New Zealand Journal of Public A d m i n i s tration 1958 S. 44; Geoffrey Marshall, The Franks Report on Administrative Tribunals, i n : Public A d m i n i s t r a t i o n 1957 S. 355 f. 184 Vgl. Schindler, Verwaltungsrechtsreform i n England, i n : Neue Juristische Wochenschrift 1958 S. 739. iss y g l Franks Report, S. 3. 181

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bräuchliche Ausnutzung der verwaltungsbehördlichen Ermessensgewalt i m „reinen" Verwaltungsverfahren die Einsetzung des Franks Committee mit veranlaßt hatte 1 8 6 . I n seinen Empfehlungen zu den Verfahren, i n denen enquiries und hearings stattfinden, sprach sich der Ausschuß für einen möglichst lückenlosen individuellen Rechtsschutz aus 1 8 7 . So schlug er ζ. B. vor, daß i n allen den Gegenstand seiner Untersuchung bildenden Verwaltungsverfahren den durch einen Verwaltungsakt betroffenen Personen Gelegenheit gegeben werden sollte, i n einer öffentlichen Verhandlung Einwendungen gegen die beabsichtigte Verwaltungsentscheidung geltend zu machen 188 . Der Franks Report ist i m englischen Schrifttum wegen der Klarheit seiner Formulierungen und Konzeptionen, i n denen sich ein überzeugendes Bekenntnis zum Rechtsstaat m i t einem nüchternen Realitätsdenken zu einer harmonischen Einheit verbindet, als ein Verfassungsdokument von höchster Bedeutung gepriesen worden 1 8 9 . Er kann „als ein entscheidender Wendepunkt i n der Geschichte des englischen Verwaltungsrechts angesehen werden. Seine kaum zu überschätzende Bedeutung liegt nicht nur darin, daß er entscheidende Reformvorschläge gemacht hat; was vielleicht wichtiger ist, ist die Tatsache, daß in i h m zum erstenmal der Versuch gemacht worden ist, das Tribunalsystem als ein einheitliches System der Ausgleichung von Staatsgewalt und Privatinteresse zu konstruieren und die i n Dutzenden von Fall zu Fall geschaffenen Tribunale auf einige wesentliche und miteinander i n Einklang stehende Grundsätze zurückzuführen" 1 9 0 . Da der Bericht des Franks Committee auch i m englischen Parlament eine gute Aufnahme fand 1 9 1 , konnte der Lordkanzler bereits i m November 1957 die ersten gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Maßnahmen zur Vollziehung der i n dem Bericht enthaltenen Empfehlungen ankündigen. Die wichtigeren Empfehlungen, die einen gesetzgeberischen A k t notwendig machten, fanden i n dem Tribunals and Inquiries Act vom 186 v g l . c . C. Aikman, i n : New Zealand Journal of Public A d m i n i s t r a t i o n 1958 a.a.O.; Geoffrey Marshall, i n : Public Administration 1957 S. 355 f.; Franks Report, S. 3 : „Daraus folgt, daß der berühmte F a l l von Crichel Down, der w e i t h i n als ein wesentlicher G r u n d für die Einsetzung unseres Ausschusses angesehen w i r d , aus dem Themenbereich fällt, m i t dem zu befassen w i r beauftragt sind." I n dem F a l l von Crichel Down, einem Dorf i n der Grafschaft Dorset, w u r d e ein enteignetes Grundstück für einen ursprünglich nicht v o r gesehenen Zweck verwandt. Die Sache erregte 1954 i n England u n d auch i m Ausland viel Aufsehen u n d führte zum Rücktritt des Landwirtschaftsministers. 187 Franks Report, S. 65 ff. 188 Franks Report, S. 67 f. 189 Vgl. Franz Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 155 m i t Nachweisen. 190 Reinhold Aris , a.a.O., S. 396. 191 Von den 95 Empfehlungen verfielen n u r vier der Ablehnung.

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Jahre 1958 ihren positivrechtlichen Niederschlag 192 . Das Tribunalgesetz schreibt die Errichtung des vom Franks Committee vorgeschlagenen Council on Tribunals vor, es stellt sicher, daß bei der Ernennung und Entlassung der Vorsitzenden der Tribunals eine einheitliche Politik befolgt wird, und bestimmt, daß gegen die Entscheidungen der meisten Tribunals eine auf Rechtsfragen gestützte Berufung beim High Court eingelegt werden kann. Ferner müssen die Entscheidungen der Tribunals grundsätzlich begründet werden 1 9 3 . Regelungen über das Verfahren i m engeren Sinne sind i n dem Gesetz selbst zwar kaum vorhanden. Doch haben die Verwaltungsbehörden i n ihren Ausführungsverordnungen für eine Reihe von Tribunals die Empfehlungen des Ausschusses berücksichtigt, wodurch eine erhebliche Vereinheitlichung und Verbesserung des Verfahrens erreicht worden ist. Die Verhandlungen der Tribunals sind nunmehr i n der Mehrzahl öffentlich, und auch die Vertretung der Parteien durch Anwälte ist grundsätzlich zulässig 194 . Abschließend läßt sich sagen, daß durch diese gesetzgeberischen und verwaltungsmäßigen Reformen der Rechtsschutz i m englischen Verwaltungsrecht erheblich verbessert worden ist, und daß der Satz, das englische Verwaltungsrecht hinke i n seiner Entwicklung weit hinter dem amerikanischen zurück 1 9 5 , i n dieser Schärfe nicht mehr richtig ist. Von einem umfassenden Rechtsschutzsystem i n der britischen Verwaltung w i r d man jedoch erst dann reden können, wenn auch i m „rein administrativen" Verfahren dem Bürger genügend Rechte eingeräumt und die den Abschluß solcher Verfahren bildenden Verwaltungsakte unbeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung zugänglich gemacht werden. Dabei w i r d auch der wiederholte Vorschlag W. A. Robsons, namentlich für die i m „gewöhnlichen" Verwaltungsverfahren erlassenen behördlichen Akte ein allgemeines Verwaltungsgericht (general administrative tribunal) als Kontrollinstanz zu schaffen, eine wichtige Rolle spielen 196 . Für ein allgemeines Verwaltungsgericht hat sich auch der 192 Vgl. zu Einzelheiten dieses Gesetzes Reinhold Aris, a.a.O., S. 400 ff. ; D a v i d Foulkes, Introduction to administrative law, London 1964, S. 42 ff.; D. C. M. Yardley, Introduction to B r i t i s h constitutional law, 2. Auflage, London 1964, S. 122 ff. Yardley weist auf die sprachliche M e r k w ü r d i g k e i t hin, daß sich der Franks Ausschuß m i t „Enquiries" befaßte, während ein T e i l des Gesetzes sich „Inquiries" betitelt. 193 Abschnitt 12. 194 Vgl. Reinhold Aris , a.a.O., S. 402. 195 y g i etwa H. Street, Besprechung des Buches von Bernhard Schwartz, L a w and the Executive i n Britain, i n : Yale L a w Journal 1950 S. 590: „ A m e rican administrative l a w is so much more developed than the B r i t i s h that there is l i t t l e for the American lawyer to learn from B r i t i s h experience except to be on guard against a weakening of j u d i c i a l control. Cannot Marshall Plan A i d include »Administrative Law'?" 196 W i l l i a m A. Robson hatte, w i e seinerzeit bereits dem Donoughmore Committee, auch dem Franks Committee die Errichtung eines allgemeinen V e r -

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1961 veröffentlichte Bericht des Whyatt-Ausschusses ausgesprochen 197 . Ob es zu der Errichtung eines solchen Gerichts durch den Gesetzgeber kommen wird, ist noch offen. Sicherlich würde aber die Verwirklichung dieser Vorschläge das englische Verwaltungsrecht i n bedeutsamer Weise umgestalten 198 . Hiervon würde nicht zuletzt auch das Verwaltungsverfahrensrecht profitieren. 2. Die vorliegende Gesetzessammlung umspannt einen weiten Bogen. Sie enthält Verwaltungsverfahrensgesetze der westlichen Länder und der kommunistischen Staaten Osteuropas, Texte, die kontinental-europäisches Rechtsdenken verkörpern, und das Bundesverwaltungsverfahrensgesetz der USA als Frucht angloamerikanischer Rechtstradition. Umfangmäßig weichen die Gesetze und Gesetzentwürfe teilweise erheblich voneinander ab. Sie erstrecken sich von dem jugoslawischen Verwaltungsverfahrensgesetz, das mit seinen 298 A r t i k e l n die bei weitem umfangreichste Kodifikation dieser Materie ist, bis zu dem Gesetzentwurf über die Form der Verwaltungsakte i n Belgien, der sich m i t seinen drei A r t i k e l n recht bescheiden ausnimmt. Aber auch inhaltlich weisen die einzelnen Gesetze Unterschiede auf. Die einen beschränken sich mehr auf das Verfahren i m eigentlichen Sinne, andere beziehen dem Verwaltungsverfahren mehr oder minder verwandte Gegenstände i n ihre Regelungen m i t ein, und wieder andere begnügen sich damit, Ausschnitte des Verwaltungsverfahrens rechtlich zu fixieren. Die so angedeuteten Unterschiede zwischen den einzelnen Gesetzen bzw. Gesetzentwürfen legen den Gedanken nahe, für sie bestimmte Gruppen zu bilden. Eine nähere Befassung mit den Texten läßt jedoch von einem solchen Versuch abraten. Sie führt zur Erkenntnis, daß es nicht möglich ist, zu befriedigenden Einteilungen zu kommen. So ist zunächst m i t einer Unterscheidung zwischen Ländern mit hochentwickeltem, teilweise entwickeltem und wenig entwickeltem Verwaltungsverfahrensrecht hier nicht viel gewonnen 199 . Sie scheitert bereits daran, daß waltungsgerichts vorgeschlagen. Dieses lehnte jedoch den Vorschlag ab. K r i tisch zu der Auffassung des Ausschusses: Franz Becker, i n : International Review of Administrative Sciences 1958 S. 458; Reinhold Aris , a.a.O., S. 399 f. Ausführlich zu dieser Frage nunmehr Julius Stone, Social dimensions of l a w and justice, London 1966, S. 710—715 m i t zahlreichen Nachweisen. 197 The Citizen and the Administration, A Report by Justice, London 1961. Der Ausschuß unter dem Vorsitz von Sir John Whyatt beschäftigte sich i n erster L i n i e m i t der Frage, ob i n England eine dem skandinavischen Ombudsman ähnliche Einrichtung geschaffen werden soll, u m dem einzelnen erhöhten Rechtsschutz gegen eine schlechte Verwaltungstätigkeit zu bieten. Die britische Regierung lehnte diesen Vorschlag des Ausschusses jedoch m i t der Begründung ab, daß ein solcher Parlamentsbeauftragter dem Prinzip der Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament widerspräche; vgl. D. C. M. Yardley, Introduction to B r i t i s h constitutional law, S. 124 f.; Julius Stone, a.a.O., S. 74—78 m i t Nachweisen. 198 Vgl. Reinhold Aris, a.a.O., S. 402. 199 F r a n z Becker, Das allgemeine Verwaltungsverfahren, S. 63 ff., Si e aus anderer Sicht v o r n i m m t .

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die Staaten mit einem geringer entwickelten Verwaltungsverfahren, wie etwa Frankreich, keine Verwaltungsverfahrensgesetze besitzen und daher i n der Sammlung nicht berücksichtigt werden. Auch eine Gruppeneinteilung nach dem Umfang der Verfahrensgesetze scheidet aus. Denn es ist durchaus möglich und auch der Fall, daß ein kleineres Gesetz i m wesentlichen die gleichen Fragen wie das größere regelt, nur nicht so ausführlich wie dieses 200 . Hier sind die Unterschiede nur quantitativer, nicht aber qualitativer A r t , die allein eine Gruppenbildung rechtfertigte. Weiter könnte man daran denken, die Verfahrensgesetze der demokratischen und der kommunistischen Staaten einander gegenüberzustellen. Eine solche Konfrontation ist gewiß möglich und sinnvoll, wenn man das Verwaltungsrecht dieser Staatengruppen i m allgemeinen miteinander vergleicht. I m Verwaltungsverfahrensrecht würde sie aber nicht weit führen, weil die Verfahrensgesetze i n Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn den entsprechenden Gesetzeswerken der westlichen Staaten wenigstens äußerlich 2 0 1 weitgehend gleichen. Diese Ähnlichkeit ist eine Folge der früheren staatlichen Verbindung dieser Länder oder von Teilen von ihnen mit Österreich. Da sie auch nach ihrer Selbständig werdung nach 1918 stark vom österreichischen Hecht beeinflußt blieben und sich i n ihnen zum größten Teil auch die österreichische Verwaltungsorganisation erhielt 2 0 2 , war es nicht erstaunlich, daß das österreichische Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz von 1925 mit Ausnahme von Ungarn schon sehr bald i n ihnen Nachahmung fand 2 0 3 . Viele Vorschriften dieser alten Gesetze kehrten i n der neuen Verfahrensgesetzgebung der kommunistischen Staaten wieder, wenn sie nunmehr auch mit einem neuen politischen Geist er200 So enthält zwar die tschechoslowakische Verfahrensordnung von 1960 v i e l weniger Vorschriften als die meisten anderen Verfahrensgesetze (36 A r tikel), sie regelt aber, w e n n auch kürzer, fast alle Fragen, m i t denen sich diese befassen. 201 w i e w e i t die Verwaltungsverfahrensgesetze i n den kommunistischen Staaten praktische Anwendung finden, ist eine andere Frage, die sich mangels ausreichender Information nicht zuverlässig beantworten läßt. I m m e r h i n hat der amerikanische Professor Walter Gellhorn 1964 während einer Studienreise i n Polen feststellen können, daß die polnische Regierung große A n strengungen unternimmt, u m i n Vorlesungen u n d Diskussionen die V e r w a l tungsbehörden u n d die Bevölkerung m i t den Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes von 1961 vertraut zu machen. Die V e r w a l t u n g bemühe sich heute i n zunehmenden Maße, den Erfordernissen dieses Gesetzes Rechnung zu tragen. Allerdings könne es nach einer i n Polen weitverbreiteten Meinung erst dann volle Wirksamkeit erlangen, wenn eine allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Uberprüfung aller Verwaltungsakte eingerichtet werde. Vgl. Walter Gellhorn, Protecting citizens against administrators i n Poland, i n : Columbia L a w Review 1965 S. 1133 ff. 202 Vgl. Rudolf H. Herrnritt, Das Verwaltungsverfahren, Wien 1932, Vorwort. 2