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German Pages XXVII, 491 [515] Year 2020
Grundwissen Politik
Jörg Bogumil · Werner Jann
Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland Eine Einführung 3. Auflage
Grundwissen Politik Reihe herausgegeben von Lars Holtkamp, Hagen, Deutschland Viktoria Kaina, Hagen, Deutschland Susanne Lütz, Hagen, Deutschland Michael Stoiber, Hagen, Deutschland Annette Elisabeth Töller, Hagen, Deutschland
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12703
Jörg Bogumil · Werner Jann
Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland Eine Einführung 3., vollständig überarbeitete Auflage
Jörg Bogumil Fakultät für Sozialwissenschaften Ruhr Universität Bochum Bochum, Deutschland
Werner Jann Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Potsdam Potsdam, Deutschland
Grundwissen Politik ISBN 978-3-658-28407-7 ISBN 978-3-658-28408-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2005, 2009, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für Henri, Simon und Ole
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Vorwort der Autoren zur dritten Auflage
11 Jahre sind eine lange Zeit für die Aktualisierung eines Lehrbuches. Geplant war diese viel früher, aber es kam immer wieder etwas dazwischen, beide Autoren waren und sind in viele Projekte eingebunden, so dass die Neuauflage ständig verschoben wurde. Nicht zuletzt der freundliche Druck des Verlages und von Kolleginnen und Kollegen, aber auch die Überzeugung, dass es wirklich unumgänglich ist, die grundlegenden Daten zu erneuern und neuere Entwicklungen einzubauen, haben jetzt endlich zu dieser dritten umfassend aktualisierten und erweiterten Einführung in Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland geführt. Dafür haben wir alle Teile intensiv überarbeitet, überall die neuere empirische aber auch theoretische Literatur eingearbeitet, die Kapitel zum Teil neu geordnet und gestrafft, umfassende Aktualisierungen vorgenommen (sehr viele Abbildungen mussten aktualisiert werden) und einige Teile vollständig neu verfasst (etwa Agencies und Agenturen, Rechenschaftspflicht und Legitimation oder die Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung). Profitiert haben wir dabei auch diesmal wieder von vielfältigen Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen und von unseren Studierenden in Bochum und Potsdam. Unser ganz besonderer Dank hinsichtlich dieser dritten Auflage gilt Nathalie Behnke, Marian Döhler, Falk Ebinger, Jochen Franzke, Stephan Grohs, Jonas Hafner, André Kastilian, Tanja Klenk, Sabine Kuhlmann, Markus Seyfried, Christoph Reichard, Sylvia Veit und Göttrik Wewer. Um die nicht immer ganz einfache Überprüfung und Ergänzung der Literaturliste sowie sonstige Zuarbeiten haben sich in Bochum Stefanie Egert, Dennis Kröger und Thomas Reinhards mit großer Umsicht und Energie gekümmert. Alle dennoch sicherlich immer noch vorhandenen Fehler und Unzulänglichkeiten gehen selbstverständlich allein auf unsere Verantwortung. Wir hoffen auch für diese dritte Auflage auf viele kritische und konstruktive Kommentare, und nehmen uns fest vor, nicht wieder 11 Jahre für die nächste Auflage zu brauchen. Die Überarbeitung wurde in der Zeit des Homeoffice während VII
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Vorwort zur dritten Auflage
der Corona-Krise Ende März/Anfang April 2020 abgeschlossen. Diese Krise wird künftig einiges verändern, gerade auch im Hinblick auf Staat und Verwaltung (z. B. bei der Schuldenentwicklung, aber vermutlich auch generell in der Auffassung von staatlichen Aufgaben, Strukturen und Prozessen) und noch niemand kann absehen, in welchem Ausmaß dies geschehen wird. Auch dies wird ein Anlass sein, schneller zu einer vierten Auflage zu kommen. Jörg Bogumil und Werner Jann Bochum und Potsdam, im April 2020
Vorwort der Autoren zur zweiten Auflage
Die vorliegende Einführung in Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland kann, aufgrund der überaus erfreulichen positiven Aufnahme und Nachfrage, nach knapp drei Jahren in einer zweiten Auflage erscheinen. Dies hat es uns erlaubt, sowohl einige offenkundige Fehler und Mängel der ersten Auflage zu korrigieren, aber auch einige grundlegendere Änderungen vorzunehmen. Profitiert haben wir dabei zum einen von vielfältigen Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen, und zum anderen ganz besonders von unseren Studierenden in Bochum und Potsdam. Das Buch beruht in großen Teilen auf verschiedenen Einführungsveranstaltungen, die wir beide zusammen mit Kolleginnen und Kollegen seit einigen Jahren durchführen, und gerade durch diese Lehrveranstaltungen haben wir gemerkt, wo die Darstellung klarer, umfangreicher, gelegentlich aber auch kürzer und prägnanter sein sollte. Wir haben daher einige Teile vollständig neu gefasst (etwa die deutlichere Orientierung am Prozess des Policy Cycle im zweiten Kapitel), die Kapitel zum Teil neu geordnet, Lernziele eingearbeitet, umfassende Aktualisierungen vorgenommen und im gesamten Text die neuere Literatur eingearbeitet. Profitiert haben wir dabei auch von der von uns – gemeinsam mit Frank Nullmeier – verantworteten Herausgabe des Sonderhefts „Politik und Verwaltung“ (37/2006) der Politischen Vierteljahresschrift (PVS), in dem eine umfassende Bestandsaufnahme des aktuellen Forschungsstandes versucht wurde. Besonders viel gelernt haben wir durch die umfangreichen und detaillierten Kommentare unserer Kolleginnen und Kollegen in Bochum und Potsdam. Unser ganz besonderer Dank gilt daher in Bochum Falk Ebinger und Stephan Grohs und in Potsdam Tobias Bach, Julia Fleischer, Jochen Franzke, Hisashi Harada, Bastian Jantz, Thurid Hustedt, Kai Wegrich und Sylvia Veit. Um die nicht immer ganz einfache Überprüfung und Ergänzung der Literaturliste sowie sonstiger Zuarbeiten haben sich in Bochum Juliane Berning, Henning Mohr, Susanne Timmermann, Jonas Weidtmann, Jonas Zimmermann und in Potsdam Sebastian Abel mit großer Umsicht und Energie gekümmert. Alle dennoch sicherlich immer noch vorhanIX
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Vorwort zur zweiten Auflage
denen Fehler und Unzulänglichkeiten gehen selbstverständlich allein auf unsere Verantwortung. Wir hoffen daher auch für diese zweite Auflage auf viele kritische und konstruktive Kommentare, um auch diesen „zweiten Versuch“ möglichst schnell verbessern und ergänzen zu können. Jörg Bogumil und Werner Jann Bochum und Potsdam, im August 2008
Vorwort der Autoren
Die vorliegende Einführung in Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland beruht in großen Teilen auf Einführungsvorlesungen, die beide Autoren seit einigen Jahren in Potsdam, Berlin und Konstanz durchführen. Da wir beide sehr ähnliche Vorlesungen gehalten haben und halten, haben wir zum Schreiben dieses Buches die Kapitel nicht einfach zwischen uns aufgeteilt, sondern jeweils einzelne bereits vorliegende Materialien, gelegentlich auch bereits existierende Skripte und Übersichtsartikel, zusammengefügt, ergänzt und dann gemeinsam überarbeitet. Bei den Arbeiten zu diesem Buch haben uns in Potsdam Christian Bürger, Benjamin Sokolowski und Jan Tiessen, in Berlin Stefan Lhachimi und in Hagen Thomas Eimer tatkräftig unterstützt. Für kritische Kommentare zu einzelnen Entwürfen danken wir den oben Genannten sowie Marian Döhler, Julia Fleischer, Jochen Franzke, Stephan Grohs, Axel Heinz, Lars Holtkamp, Thurid Hustedt, Sabine Kuhlmann, Susanne Lütz und Kai Wegrich und unseren Studierenden in Potsdam, Berlin und Konstanz. Aufgrund der Fülle des zu bearbeitenden und zu berücksichtigenden Stoffes, und da dies das erste politikwissenschaftlich inspirierte verwaltungswissenschaftliche Lehrbuch in deutscher Sprache ist, sind wir uns der noch bestehenden Lücken wohl bewusst, und einiges haben wir vermutlich übersehen. Wir hoffen daher auf viele kritische und konstruktive Kommentare, um diesen „ersten Versuch“ möglichst schnell verbessern und ergänzen zu können. Jörg Bogumil und Werner Jann Konstanz und Potsdam, im November 2004
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Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Die Rolle der Verwaltung im politischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.1 Politik als Policy-Making . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.2 Der Policy Cycle und die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.2 Kurze Geschichte der Verwaltungswissenschaft in Deutschland . . . . 15 2.2.1 Historische Grundlagen: Staats- und Policeywissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.2.2 Siegeszug des Staats- und Verwaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.2.3 Lehren aus dem Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2.3.1 Staatsrechtslehre, Allgemeine Staatslehre und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2.3.2 Politikwissenschaft, Innenpolitik und Regierungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.2.3.3 Verwaltungslehre und Verwaltungswissenschaft . . . . . 26 2.2.4 Neuorientierung zu Beginn der siebziger Jahre: Verwaltungswissenschaft als Teil der Politikwissenschaft . . . . 27 2.2.4.1 Ausländische Inspirationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.2.4.2 Verwaltung im Politisch-Administrativen System . . . 31 2.3 Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis: Themen und Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3.1 Bürokratie und Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.3.2 Policy-Forschung und aktiver Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.3.3 New Public Management und schlanker Staat . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3.4 Governance und aktivierender Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.5 What’s Next: Digitalisierung und „Open Government“? . . . . . 45 2.4 Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungswissenschaften? . . . . . . . 52 XIII
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Inhalt
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland . . 59 3.1 Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1.1 Entstehung des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.1.2 Aufgaben des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.1.3 Politische Leitbilder der Staatstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.2 Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat . . . . . . . 72 3.2.1 Gewaltenteilung und föderaler Staatsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.2.2 Gesetzes- und Verwaltungszuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.2.3 Gemeinschaftsaufgaben und Politikverflechtung . . . . . . . . . . . 82 3.2.4 Föderalismusreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.2.5 Verwaltungsorganisation, Verwaltungsebenen und Verwaltungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.3 Bundesregierung und -verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.3.1 Regierung und oberste Bundesbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.3.2 Obere Bundesbehörden und nicht-ministerielle Bundesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.3.3 Verselbständigung, Agencies und Agenturen . . . . . . . . . . . . . . 107 3.4 Landesregierungen und -verwaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.4.1 Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.4.2 Verwaltungsaufbau der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.5 Kommunalverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.5.1 Kommunen im Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.5.2 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3.5.3 Kommunalverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.5.4 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.6 Personal im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.6.1 Strukturprinzipien der Personalwirtschaft im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.6.2 Entwicklungstrends: Personalabbau, Feminisierung, Überalterung, Veredelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.6.3 Führungskräfte und Personalrekrutierung . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3.7 Finanzen und Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.7.1 Finanzverfassung und Verteilung des Steueraufkommens . . . 143 3.7.2 Steuervolumen und Schuldenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3.7.3 Öffentliche Rechnungs- und Haushaltswirtschaft . . . . . . . . . . 153 3.8 Kontrolle des Verwaltungshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.8.1 Rechtliche Kontrolle: Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3.8.2 Finanzielle Kontrolle: Rechnungshöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Inhalt
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3.8.3 Politische Kontrolle: Parlament und Öffentlichkeit . . . . . . . . . 162 3.8.4 Administrative Kontrolle: Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.8.5 Rechenschaftspflicht und Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen . . . . . . . 4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Merkmale bürokratischer Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Aufbauorganisation: Spezialisierung und Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Ablauforganisation: Aktenmäßigkeit und Geschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Bürokratische Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.2 Positive und negative Koordination . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Bürokratiekritik und Bürokratieabbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Aufgaben: zu viel Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Regulierung: Normenflut, Verrechtlichung und Informationskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.3 Verfahren: Vor- und Nachteile bürokratischer Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.4 Renaissance der Bürokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation . . . 4.2.1 Organisation der Ministerien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1 Aufbau- und Ablauforganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2 Bonn-Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Organisation der Kommunalverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Begriffe der Aufbauorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verfahren: Entscheidungen in der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Politikformulierung und Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Planung in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . 4.3.1.2 Rationale Entscheidungstheorien und begrenzte Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.3 Inkrementalismus und Durchwursteln . . . . . . . . . . . . 4.3.1.4 Garbage Can . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Politikdurchführung und Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Implementation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Verhandelnde Verwaltung und kooperativer Staat . 4.3.2.3 Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171 172 172 175 178 179 181 183 188 190 192 194 197 199 199 199 204 206 210 211 212 213 214 216 221 225 225 230 231 XV
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Inhalt
4.4 Politik und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Dichotomie oder politisch-administratives System . . . . . . . . 4.4.2 Bürokraten und Politiker: Funktionale und parteipolitische Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.1 Ministerialverwaltung des Bundes . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.2 Ministerialverwaltung der Bundesländer . . . . . . . . . 4.4.3 Politik und Verwaltung auf kommunaler Ebene . . . . . . . . . . 4.4.3.1 Institutionelle Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3.2 Empirische Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Normative Bilder der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.1 Normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.2 Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.3 Bürokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.4 Verwaltung und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.5 Beispiele in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Politikberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Ist denn alles Politikberatung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Akteure der Politikberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Entwicklungsphasen der öffentlichen Verwaltung in Deutschland . . . . 5.1 Restauration in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Personelle und institutionelle Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Berufsbeamtentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Organisation und Umfang der Bundesverwaltung . . . . . . . . 5.1.4 Ämterpatronage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Aufbau und Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Verwaltungsreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Aktive Politik und kommunale Gebietsreform . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung . . . . . . 5.2.3 Bürgernähe und Bürgerämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 New Public Management und Neues Steuerungsmodell . . . . 5.2.4.1 Ziele und Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.2 Erfolge und Problemlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4.3 Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Bürgergesellschaft, Bürgerkommune und aktivierender Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
236 236 240 242 246 247 247 250 253 256 260 261 262 263 267 267 270 273 279 282 282 283 285 287 288 290 291 296 300 306 306 314 326 334
Inhalt
5.2.6 Bürokratieabbau und bessere Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . 5.2.7 Neue Verwaltungsstrukturreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.1 Reformmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7.2 Wirkungen der Reformmaßnamen . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.8 Digitalisierung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.9 Erfolgsfaktoren von Verwaltungsreformen . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Transformation der Verwaltung im Prozess der deutschen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Institutionenübertragung und -abwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Wiederbelebung der kommunalen Selbstverwaltung . . . . 5.3.3 Der Aufbau der neuen Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Umbau des Verwaltungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.1 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.2 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.3 Probleme der Verwaltungstransformation . . . . . . . . 5.4 Europäisierung der öffentlichen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Neue Herausforderungen an den modernen Staat . . . . . . . . . 5.4.2 Das neue Mehrebenensystem der Europäischen Union . . . . . 5.4.2.1 Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.2 Institutioneller Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Europäisierung öffentlichen Verwaltungshandelns . . . . . . . . 6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Selbstverständnis der Verwaltungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Internationale Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Debatte in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Differenzierung und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Verwaltungswissenschaft und Politikwissenschaft . . . . . . . . . 6.2.2 Verwaltungswissenschaft und Policy-Forschung . . . . . . . . . . . 6.2.3 Verwaltungswissenschaft und Managementlehre . . . . . . . . . 6.2.4 Verwaltungswissenschaft und Governance-Forschung . . . . 6.3 Praxisfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Verwaltungspolitik als Politikfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Verwaltungswissenschaft und Politikberatung . . . . . . . . . . . . 6.4 Wie weiter? Organisationen, Institutionen, Politikinhalte und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII
340 346 346 350 357 367 371 371 373 378 383 383 386 388 390 390 392 392 398 404 409 409 410 412 413 415 419 420 423 424 424 428 431
XVII
XVIII
Inhalt
Grundlegende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen und Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachschlagewerke und Handbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwaltungswissenschaftliche Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
435 435 439 442
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23
Eastons „Simplified Model of a Political System“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Dimensionen des Politikbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Der idealtypische Policy-Cycle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis: Die langen Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Dimensionen verwaltungswissenschaftlicher Fragestellungen . . . . . 55 Entwicklung der Staatsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die drei Typen von Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen . . . 64 Anteile der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (in %) . . . . . . 65 Aufgabentypen staatlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Staatsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern . . . . . . . . . . . . . . 74 Durchführung von Bundesgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Politik- und Verwaltungsverflechtung in Deutschland . . . . . . . . . . . 84 Grundmodelle der Verwaltungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Verwaltungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Verwaltungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Aufbau der Bundesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die nichtministerielle Bundesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Personal des Bundes nach Aufgabenbereichen 2017 . . . . . . . . . . . . . 105 Personal der Sozialversicherung 2017 (mittelbare Verwaltung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Personal der Länder 2017 (nach Aufgabenbereichen) . . . . . . . . . . . . 112 Verwaltungsebenen in der Landesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Aufbau der Landesverwaltung in NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 XIX
XX
Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44 Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49 Abb. 50 Abb. 51 Abb. 52 Abb. 53
Abbildungsverzeichnis
Verwaltungsstrukturen in den Flächenländern . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunale Gebietszuschnitte in Westdeutschland . . . . . . . . . . . . Kommunale Gebietszuschnitte in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . Personal der Gemeinden 2017 (nach Aufgabenbereichen) . . . . . . . . Vergleich Beamte/Angestellte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besoldung im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personal des öffentlichen Dienstes 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschäftigte im öffentlichen Dienst von 1950–2017 . . . . . . . . . . . . . VZE im öffentlichen Dienst 2000–2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frauenanteile im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschäftigte nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statusgruppen in den Gebietskörperschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufteilung der Gemeinschaftssteuern zwischen den Ebenen . . . . . Entwicklung des Länderfinanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bundesstaatlicher Finanzausgleich 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steueraufkommen in Deutschland nach Steuerarten (2018) . . . . . . Verschuldung von Bund, Ländern, Kommunen 1970–2018 . . . . . . Schuldenentwicklung im Ebenenvergleich 1991–2017 . . . . . . . . . . . Verwaltungsgerichtsverfahren im Bereich Asyl . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen von Spezialisierung und Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . Negative Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktion und Dysfunktion bürokratischer Organisation . . . . . . . . Aufbau eines Ministeriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwaltungsgliederungsplan der KGST . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbauorganisation in Ministerien und Kommunen . . . . . . . . . . . . Modelle synoptischer und inkrementaler Politik . . . . . . . . . . . . . . Handeln in mehrdeutigen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretation des Verhältnisses von Politik und Verwaltung . . . . Wirkungen lokaler Modernisierungstrends auf die Einflusschancen der Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 54 Normative Bilder der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 55 Verhältnis zwischen Politikern und Bürokraten . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 56 Unterschiedliche Expertengremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116 118 119 123 130 132 134 135 136 137 138 140 145 147 149 151 152 152 159 176 185 185 195 202 207 211 220 221 240 251 255 259 272
Abbildungsverzeichnis
Abb. 57 Entwicklungsphasen und Reformthemen in der deutschen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 58 Bürokratisch-zentralistische vs. ergebnisorientiertedezentrale Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 59 Gestaltungselemente des New Public Management . . . . . . . . . . . . . Abb. 60 Verbreitung von Reformideen in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 61 Durchschnittliche Auslagerungsintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 62 Kommunale Beteiligung nach Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 63 Spezialisten-Generalisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 64 Zuständigkeiten im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 65 Dimensionen der Verwaltungspolitik als Politikbereich . . . . . . . .
XXI
281 308 311 323 330 331 344 363 427
XXI
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
AA Auswärtiges Amt AG Aktiengesellschaft AL Abteilungsleiter BA Bachelor of Arts BAFIN Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BAföG Bundesausbildungsförderungsgesetz BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAT Bundesangestelltentarifvertrag BfR Bundesinstitut für Risikobewertung BIP Bruttoinlandsprodukt BIS Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BKI Bürokratiekosten-Index BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BMEL Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft BMF Bundesministerium der Finanzen BMFSFJ Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend BMFT Bundesministerium für Forschung und Technologie BMG Bundesministerium für Gesundheit BMI Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat BMJV Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz BMU Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit BMUB Die Beauftragten der Bundesregierung für den Berlin Umzug BMVBS Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung BMVg Bundesministerium der Verteidigung BMZ Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung BRD Bundesrepublik Deutschland XXIII
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
BRRG Beamtenrechtsrahmengesetz BT-Drs. Bundestagsdrucksache BUND Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVG Bundesverfassungsgericht BW Baden-Württemberg BWL Betriebswirtschaftslehre BY Bayern CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CI Corporate Identity CSU Christlich-Soziale Union in Bayern DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst DDR Deutsch Demokratische Republik DESI Digital Economy and Society Index DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DIFU Deutsches Institut für Urbanistik DIN Deutsches Institut für Normung DM Deutsche Mark DMYV Deutscher Motoryachtverband DÖV Die öffentliche Verwaltung e. V. eingetragener Verein EDV Elektronische Datenverarbeitung EEA Einheitlich Europäische Akte EG Europäische Gemeinschaft EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGovG E-Government-Gesetz EGPA European Group of Public Administration EG-V Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EK Enquete-Kommission ELSTER Elektronische Steuererklärung EP Europäisches Parlament EPPA European Perspectives for Public Administration ESZB Europäischen Systems der Zentralbanken EU Europäische Union EUG Europäischer Gerichtshof EuGD Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union EuGI Europäisches Gericht erster Instanz EUR Euro Euratom Europäische Atomgemeinschaft
Abkürzungsverzeichnis
XXV
EuRH Europäischer Rechnungshof EW Einwohner EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EZB Europäische Zentralbank FDP Freie Demokratische Partei FITKO Föderale IT-Kooperation GEU Gerichtshof der Europäischen Union GFA Gesetzesfolgenabschätzung GFK Genfer Flüchtlingskommission GG Grundgesetz GGO Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GO Gemeindeordnung GO BaWü Gemeindeordnung Baden-Württemberg GO NW Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen GPS Global Positioning System IMO Internationale Migrationsorganisation ITPLR IT-Planungsrat ITZ Informationstechnikzentrum Bund IuK Informations- und Kommunikationstechnik IWF Internationaler Währungsfonds JITE Journal of Institutional and Theoretical Economics JUG Joined-up Government KFZ Kraftfahrzeug KGST Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement KLR Kosten-Leistungs-Rechnung MA Master of Arts MAPA Master of Public Administration MbC Management by Competition MbO Management by Objectives MÖW Master öffentliche Wirtschaft Mrd. Milliarden NGO Nichtregierungsorganisation NKF Neues kommunales Finanzmanagement NPG New Public Governance NPM New Public Management NRW Nordrhein-Westfalen NS Nationalsozialismus XXV
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSM Neues Steuerungsmodell NWS Neo-Weberianischer Staat ö.r. öffentlich-rechtlich ÖBWL Öffentliche Betriebswirtschaftslehre OE Organisationsentwicklung OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OGP Open Government Partnership ÖPNV Öffentlicher Personennahverkehr ÖPP Öffentlich-private Partnerschaft ÖTV Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr OVG Oberverwaltungsgericht OZG Onlinezugangsgesetz PAS Politisch-administratives System PDS Partei des Demokratischen Sozialismus PE Personalentwicklung PISA Programm zur internationalen Schülerbewertung PPP Public-Private-Partnerships PVS Politische Vierteljahresschrift QUAGO Quasiregierungsorganisation QUANGO Quasinichtregierungsorganisation RIA Regulatory Impact Analysis RKI Robert-Koch-Institut RP Rheinland-Pfalz RV Regierung und Verwaltung SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SGB II Sozialgesetzbuch II SKM Standardkosten-Modell SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SRU Sachverständigenrat für Umweltfragen TH Thüringen TQM Total Quality Management Tsd. Tausend TÜV Technischer Überwachungsverein TV-L Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder TVöD Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst UAL Unterabteilungsleiter UK Vereinigtes Königreich UNHCR UN-Flüchtlingshilfswerk
Abkürzungsverzeichnis
XXVII
USA Vereinigte Staaten von Amerika VDI Verein Deutscher Ingenieure VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VWL Volkswirtschaftslehre VZÄ Vollzeitäquivalente VZE Vollzeiteinheiten WHO Weltgesundheitsorganisation WOG Whole-of-Government ZBB Zero-Based-Budgeting ZDF Zweites Deutsches Fernsehen
XXVII
1
Einleitung 1 Einleitung 1 Einleitung
Lernziele am Ende dieser kurzen Einleitung sollen Sie • wissen, worum es in diesem Buch geht; • einen allerersten Überblick über die Vielfalt der relevanten Disziplinen und Studiengänge haben; • den besonderen politikwissenschaftlich inspirierten, aber interdisziplinären Zugang des Buches verstehen; • die Struktur des Buches sowie mögliche unterschiedliche Arten, es zu lesen, durchschauen. Dieses Buch soll in die Fragestellungen, Konzepte und empirischen Befunde der modernen Verwaltungswissenschaft einführen. Dabei soll sowohl eine Übersicht über die grundlegenden Merkmale der öffentlichen Verwaltung in Deutschland als auch über die wichtigsten theoretischen Konzepte und Erklärungsansätze der sozialwissenschaftlichen Verwaltungswissenschaft vermittelt werden. Der Gegenstand „Verwaltung“ (und gemeint ist hier immer die öffentliche Verwaltung) ist unstrittig ein vielfältiges Phänomen (vgl. Scharpf 1973b). Man kann sich u. a. • • • • •
mit den Aufgaben und Leistungen öffentlicher Verwaltungen, mit ihren Verfahrensregeln und tatsächlichen Verfahrensweisen, mit ihren formellen und informellen Strukturen, mit ihren Innen- und Außenbeziehungen sowie mit ihrem Personal und seiner Rekrutierung, seinen Karrieremustern, seinen Fähigkeiten, seinen Einstellungen, seinen Motivationen und seinen Frustrationen befassen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Bogumil und W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Grundwissen Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4_1
1
2
1 Einleitung
Zudem ist die Verwaltung äußerst vielgliedrig. Es macht offensichtlich einen Unterschied, ob man es mit EU-, Bundes-, Landes-, Kommunalverwaltungen oder Anstalten, Körperschaften und Stiftungen öffentlichen Rechts zu tun hat, also etwa mit obersten Bundesbehörden, Gemeinden oder Kreisen, der Bundesagentur für Arbeit, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder den Sozialversicherungen. Dazu bedient sich die öffentliche Verwaltung auch noch zunehmend privater Rechtsformen und Organisationen. Zur öffentlichen Verwaltung, zumindest im weiteren Sinne, gehören also Gefängnisse und Universitäten, Ministerien und Museen, Regulierungsbehörden und Stadtwerke. Zu erinnern ist hier an die Aussage von Ernst Forsthoff, dass sich Verwaltung nicht klar definieren, sondern nur beschreiben lässt (Forsthoff 1973, S. 1). Angesichts dieser Vielfalt verwundert es nicht, dass sich viele Disziplinen mit der Verwaltung beschäftigen (siehe unten 2.6). International gelten, laut einer Umfrage unter europäischen Verwaltungswissenschaftlern1, Politikwissenschaft, Management, Soziologie, Rechtswissenschaft und Ökonomie als unverzichtbar (in dieser Reihenfolge, vgl. Bertels/Bouckaert/Jann 2020, S. 56). Zusätzlich werden Psychologie, Geschichtswissenschaft, aber auch Rechtsphilosophie und Staatslehre genannt. Dabei gibt es international erhebliche Unterschiede. Für viele internationale Forscher macht es keinen Sinn, zwischen Public Administration und Public Management zu unterscheiden (Pollitt 2016), während in Deutschland Management als Teil der Betriebswirtschafslehre und damit als Teil der Ökonomie gesehen wird, und nicht wie in anderen Ländern als interdisziplinäres Fach, das an besonderen Professionell Schools gelehrt wird. Entscheidend sind also nationale Traditionen, in Deutschland und in anderen europäischen Ländern ganz besonders die starke rechtliche Orientierung, nach der Verwaltungsrecht die zentrale Grundlage für Verwaltungshandeln ist, und dementsprechend traditionell auch die wichtigste Disziplin in der Ausbildung zukünftiger Führungskräfte der Verwaltung. Dieses Lehrbuch orientiert sich an der internationalen Diskussion, und nimmt daher seinen Ausgangspunkt in der Politikwissenschaft, aber gleichzeitig gibt es für uns keinen Zweifel, dass Verwaltungswissenschaft nur interdisziplinär Sinn macht, oder zumindest im „multi-disziplinären Mehrkampf“. In der Rechtswissenschaft geht es vor allem um die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder z. B. das Dienstrecht, in der Volkswirtschaftslehre um die Ursachen und Auswirkungen von öffentlichen Einnahmen und Ausgaben und die Finanzen, in der Betriebswirtschaftslehre um Öffentliche Unternehmen und die Effizienz des Verwaltungshandelns, in der Soziologie um die Wechselbeziehungen zwischen 1 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich das männliche Genus verwendet. Die weibliche Form ist dabei immer miteingeschlossen.
1 Einleitung
3
Verwaltung und Gesellschaft und die Betrachtung von Verwaltung als Organisationen, in der Psychologie um die Interaktionen der Verwaltung mit ihrer Umwelt und den Menschen, und in der Politikwissenschaft schließlich um die Verwaltung zur Durchsetzung politischer Ziele und die politische Steuerung der Verwaltung. Da Verwaltungswissenschaft von vielen Disziplinen betrieben wird, wird oftmals von Verwaltungswissenschaften im Plural gesprochen, z. B. im Titel der „Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften“ in Speyer (siehe ausführlich unten 2.6). Eigenständige universitäre verwaltungswissenschaftliche Ausbildungsgänge haben im Ausland eine lange Tradition, insbesondere in den USA, Skandinavien, Belgien und den Niederlanden. Es gibt sie in Deutschland in Konstanz (seit 1968, vgl. hierzu Esser et.al. 1977, Schneider u. a. 2018) und seit 1996 in Potsdam. Auch seit der Umstellung auf BA- und MA-Studiengänge sind nur einige wenige Studiengänge, die explizite verwaltungswissenschaftliche Bezüge aufweisen, hinzugekommen, zu nennen ist z. B. die Fern-Universität Hagen. Einige Fachhochschulen bieten BAs und neuerdings auch MAs im Bereich Public Management an, und eine neuere Entwicklung sind spezifisch policy- oder governance-orientierte Studiengänge, die vor allem von privaten Hochschulen angeboten werden, etwa der Hertie School of Governance in Berlin oder der Zeppelin Universität in Friedrichshafen (vgl. auch Bertram/Walter/Zürn 2006). Bei den anderen „Governance Schools“ in Erfurt oder Duisburg ist der Verwaltungsbezug allerdings geringer ausgeprägt. Traditionell war es möglich, einen Verwaltungsschwerpunkt im Studium zu bilden, sei es bei den Juristen (Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre), in der Betriebswirtschaftslehre (Öffentliche BWL oder auch ÖBWL, neuerdings Public Management), der Soziologie (Verwaltungssoziologie), aber die Bedeutung dieser Spezialisierungen scheint in den letzten Jahren abzunehmen. Daneben ist als besondere Ausbildungseinrichtung noch die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer mit ihrem verwaltungswissenschaftlichen Angebot im Rahmen des juristischen Referendariats und dem 1969 konstituierten einjährigen postgradualen verwaltungswissenschaftlichen Aufbaustudium zu nennen, die davon profitiert, dass Absolventen der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nach ihrem Studium häufig noch eine Zusatzausbildung für sinnvoll erachten, um die Anforderungen in Verwaltung und Wirtschaft zu bewältigen.2 Große Teile der Verwaltungsausbildung für den
2 In Speyer gibt es mittlerweile mit den Studiengängen „Master of Public Administration“ (MAPA) und „Master Öffentliche Wirtschaft“ (MÖW) zwei MA-Programme, die nicht auf die klassische Referendarsklientel oder Aufbaustudierende abzielen, sondern interdisziplinäre zweijährige MA-Angebote darstellen, die nach dem BA absolviert werden können und primär sozialwissenschaftlich (MAPA) und ökonomisch (MÖW) orientiert sind. 3
4
1 Einleitung
öffentlichen Dienst erfolgen zudem jenseits der Universitäten in Fachhochschulen,3 Führungsakademien oder durch Weiterbildungen in eigenen Einrichtungen. Insgesamt dominiert in Deutschland im Unterschied zu den USA4 also der fachwissenschaftliche Zugang zum Erkenntnisgegenstand „öffentliche Verwaltung“. Versuche zur Konstituierung der Verwaltungswissenschaft als einer eigenen Disziplin konnten sich nicht durchsetzen (vgl. König 1990, S. 305ff., ders. 2006, Jann 1998a, Benz 2003b, Bogumil 2005a; siehe ausführlicher Kap. 2.6). Stattdessen haben sich die Fachwissenschaften mehr oder weniger deutlich interdisziplinär geöffnet. Das Verwaltungsrecht in Richtung einer deskriptiven Verwaltungslehre, die weniger dogmatisch argumentiert und in der anerkannt wird, dass die Analyse der öffentlichen Verwaltung eine fachübergreifende Sicht erfordert (vgl. z. B. Thieme 1984, Bull/Mehde 2015, umfassend Schuppert 2000). In der Betriebswirtschaftslehre treten neben die Untersuchung öffentlicher Unternehmungen Fragen nach der Führung und Leitung, nach Organisation und Haushaltssteuerung, nach Entscheidung und Kontrolle, es vollzieht sich, unter der Überschrift Public Management, eine Öffnung für institutionen-ökonomische und soziologische Einsichten (vgl. Reichard 1977, Schedler/Proeller 2006, Jann/Röber/Wollmann (Hrsg.) 2006). In der Soziologie hatte man immerhin den Stand der Lehrbuchproduktion erreicht (vgl. Pankoke/ Nokielski 1977, Mayntz 1978, zitiert als 1997, Derlien 1984), wobei insbesondere die „Soziologie der öffentlichen Verwaltung“ von Renate Mayntz aus dem Jahr 1978 zahlreiche interdisziplinäre Bezüge vor allem aus dem Bereich der Politikwissenschaft aufweist.5 Seitdem sind allerdings leider keine neuen Lehrbücher erschienen. Aus der Politikwissenschaft gab es bis 2005 noch kein verwaltungswissenschaftliches Lehrbuch auf Deutsch, ganz im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern oder auch Skandinavien, obwohl gerade die Verwaltungsforschung zu den produktivsten Teilgebieten der Politikwissenschaft gehört (Bogumil/Jann/Null3 Seit 1976 ist die Fachhochschulausbildung für den gehobenen Dienst im öffentlichen Dienst verbindlich vorgeschrieben und findet i. d. R. in internen, neuerdings auch in externen Fachhochschulen statt. Der gehobene Dienst ist nicht nur zahlenmäßig dem höheren Dienst überlegen, sondern besetzt vor allem in den Kommunalverwaltungen wichtige Führungspositionen im mittleren Management. (zur Entwicklung im Rahmen der Umstellung auf BA/MA siehe Röber 2006; Reichard/Röber 2019). 4 In den USA werden dagegen Studienangebote eher von der Erledigung öffentlicher Aufgaben und nicht von den Wissenschaftsfächern her definiert (z. B. Verwaltungsorganisation, Public Policies, Budget, Personalverwaltung), obwohl auch dort die disziplinäre Anbindung dieser Studienangebote immer ein Problem darstellt (König 2006). 5 Im strengen Sinne handelt es sich bei diesem Buch eher um eine sozialwissenschaftliche Betrachtung, wie die Autorin selbst bemerkt (1978, S. 2), was schon an der Gliederung deutlich wird, denkt man daran, dass es eigene Kapitel zum Thema Verwaltung und Politik sowie zu den Problemlagen der Ministerialverwaltung gibt.
1 Einleitung
5
meier (Hrsg.) 2006, Jann 2009). Angesichts einer vor allem empirisch orientierten Forschung, die die Komplexität des Gegenstandes gut kennt, erscheint es durchaus verständlich, dass man davor zurückschreckt, ein umfassendes Lehrbuch mit dem Anspruch der Repräsentativität zu verfassen. Bei der hier vorgelegten Arbeit handelt es sich dennoch um den ersten Versuch eines verwaltungswissenschaftlichen Lehrbuches durch zwei Politikwissenschaftler, der sich allerdings an die Verwaltungswissenschaften insgesamt richtet. Dahinter stehen zwei einfache Überzeugungen: Zum einen, dass man das politische System Deutschlands überhaupt nicht verstehen kann, ohne eine grundlegende Kenntnis der Strukturen, Prozesse und Akteure der öffentlichen Verwaltung, und zum anderen, dass man auch die öffentliche Verwaltung nicht verstehen und analysieren kann, ohne gründliche Kenntnisse ihrer politischen Bezüge und Grundlagen. Die Gemeinsamkeit sozialwissenschaftlicher Verwaltungsforschung im Vergleich vor allem zur juristischen Verwaltungslehre liegt trotz unterschiedlicher Blickwinkel der einzelnen Disziplinen auf ihren Untersuchungsgegenstand in einer zugleich theoretisch orientierten, aber stark empirisch ausgerichteten Vorgehensweise (vgl. Mayntz 1997, S. 2, ausführlicher Kap. 2.4). Daher geht es auch in diesem Buch darum, empirische Bestandsaufnahmen der deutschen Verwaltung mit den wichtigsten Konzepten und Theorien der internationalen Verwaltungswissenschaft zu verbinden. Aus politikwissenschaftlicher Sicht kann Verwaltungswissenschaft in Anlehnung an eine frühe Definition von Fritz W. Scharpf als eine Teildisziplin der Politikwissenschaft betrachtet werden (Scharpf 1973), die allerdings notwendigerweise interdisziplinär ausgerichtet ist. Das spezifische Erkenntnisinteresse geht von einem Politikverständnis aus, das Politik- und Verwaltungshandeln als Policy-Making, d. h. als Politikformulierung und -umsetzung und damit als Problemlösungs- (und manchmal auch Problemverursachungs)prozess auffasst, ein Prozess, der von der Ausgestaltung politischer Institutionen, den Prozessen des Machterwerbs und -erhalts und nicht zuletzt durch die Strukturen, Prozesse und Wahrnehmungen der Verwaltung selbst geprägt ist. Ausgehend von diesen Grundüberlegungen ergibt sich folgender Aufbau des Buches: • In Kapitel 2 wird zunächst Rolle der öffentlichen Verwaltung im politischen Prozess erläutert. Daran anschließend geht es um die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit öffentlicher Verwaltung in Deutschland. Dargestellt werden sowohl die historischen Wurzeln wie die aktuellen Entwicklungen, mit besonderer Betonung der engen Beziehungen zwischen Verwaltungspraxis und Verwaltungswissenschaft. 5
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1 Einleitung
• Im Kapitel 3 werden, ausgehend von einer kurzen Übersicht über öffentliche Aufgaben, der institutionelle Aufbau und die wichtigsten empirischen Merkmale der öffentlichen Verwaltung in Deutschland erläutert, also das, was man auch als Makroorganisation fassen kann. Es geht um die verschiedenen Ebenen und die Aufgabenteilung und -verflechtung im Bundesstaat, und um die zentralen Bereiche des Personals, der Finanzen und der Kontrolle der Verwaltung. • Im Kapitel 4 geht es dann um die Mikroorganisation, also die internen Strukturen und Prozesse in der Verwaltung, d. h. in einzelnen Verwaltungsorganisationen. Diskutiert werden sowohl zentrale Konzepte der Bürokratie, der Entscheidungstheorie und des Verhältnisses von Politik und Verwaltung, sowie deren konkrete Ausgestaltung in Deutschland. • Im Kapitel 5 werden die Entwicklungsphasen der öffentlichen Verwaltung in Deutschland nachgezeichnet. Hier geht es darum, einen genaueren Eindruck der wichtigsten Entwicklungen und Veränderungen zu vermitteln. Ausgehend von der Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg geht es daher um die verschiedenen Phasen der Verwaltungsreformen, aber auch um die Transformation der Verwaltung in der ehemaligen DDR und die aktuelle Europäisierung öffentlicher Aufgabenerledigung. • Im Kapitel 6 werden abschließend noch einmal die Perspektiven der aktuellen Verwaltungsforschung beleuchtet. • Im Anhang gibt es schließlich eine kurze Übersicht über besonders relevante Literatur, Nachschlagewerke und Zeitschriften. Das Buch setzt keine besonderen Vorkenntnisse voraus, allerdings sind Grundkenntnisse im politischen System Deutschlands dringend angeraten. Es richtet sich daher vorrangig an BA-Studierende, die sich – in unterschiedlichen Studiengängen, also neben Verwaltungswissenschaft etwa Politik, Jura, BWL oder Soziologie – intensiver mit dem Bereich der öffentlichen Verwaltung beschäftigen wollen. Es richtet sich aber auch an MA-Programme, in denen ein grundlegendes Verständnis dieses Bereichs vorausgesetzt wird. Insbesondere für fortgeschrittene Studierende wird daher jeweils grundlegende Literatur angegeben, auf deren Grundlage dann weiter recherchiert und studiert werden kann. Studierende, die sich bisher überhaupt nicht mit Politikwissenschaft und dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt haben, sollten zunächst das Unterkapitel 2.1, das Kapitel 3 sowie die Teile 4.1. und 4.2 lesen. Wer einen historischen Einstieg bevorzugt, kann mit dem Kapitel 5 beginnen, wen besonders die wissenschaftlichen Grundlagen und Beziehungen der Verwaltungswissenschaft zu den übrigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen interessiert, mit den Teilen 2.2ff.
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Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland 2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
Lernziele am Ende dieses Kapitels sollten Sie • einen Eindruck gewonnen haben, welche Rolle die öffentliche Verwaltung im politischen Prozess einnimmt und warum sie daher ein wichtiger Gegenstand der Forschung ist; • einen Überblick über die historische Entwicklung der Verwaltungswissenschaft bzw. der Verwaltungswissenschaften in Deutschland haben; • Zusammenhänge zwischen Verwaltungspraxis und Verwaltungswissenschaft erkennen; • die Verwaltungswissenschaft im Kanon sozialwissenschaftlicher Konzepte und Disziplinen einordnen können.
2.1
Die Rolle der Verwaltung im politischen Prozess
2.1
Die Rolle der Verwaltung im politischen Prozess
2.1.1 Politik als Policy-Making
Grundlegend für das politik- und sozialwissenschaftliche Verständnis der öffentlichen Verwaltung ist eine bestimmte Interpretation von Politik, nämlich Politik als „Policy-Making“, als Versuch der Be- und Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme. In einer klassischen Definition von Fritz W. Scharpf „als den Prozess also, in dem lösungsbedürftige Probleme artikuliert, politische Ziele formuliert, alternative Handlungsmöglichkeiten entwickelt und schließlich als verbindliche Festlegung gewählt werden“ (Scharpf 1973b, S. 15). Politik wird logisch als eine Abfolge von Schritten konzipiert, die mit der Artikulation und Definition von Problemen anfängt und irgendwann mit der verbindlichen Festlegung von politischen Programmen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Bogumil und W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Grundwissen Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4_2
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
und Maßnahmen und deren Umsetzung beendet wird (vgl. zu diesem Abschnitt ausführlich und mit weiteren Hinweisen Jann/Wegrich 2014). In diesem Prozess spielt die öffentliche Verwaltung ohne Zweifel eine wichtige Rolle, die Frage ist nur welche? Mit genau dieser Frage beschäftigt sich die Verwaltungswissenschaft. Ausgangspunkt dieser Fragestellung ist ein einfaches und schon beinahe banales Systemmodell des politischen Prozesses, wie es ursprünglich von David Easton vorgeschlagen wurde (Easton 1965). Danach reagiert das politisch-administrative System (PAS) auf „Inputs“, z. B. Anforderungen und Unterstützung durch Wähler, Parteien und Interessengruppen, und wandelt diese in „Outputs“, z. B. Entscheidungen, Gesetze und andere staatliche Aktivitäten um. Diese systemtheoretische Betrachtung ist in der Politikwissenschaft seit den sechziger Jahren vor allem deshalb populär, weil alle anderen Versuche analytisch überzeugend zu bestimmen, was eigentlich „Politik“, „Verwaltung“ oder „Staat“ ausmacht und unterscheidet, unbefriedigend blieben. In einer systemtheoretischen Betrachtung wird das PAS als ein Teilsystem der Gesellschaft betrachtet, das für dieses wichtige Funktionen zur Erhaltung oder auch Weiterentwicklung des Gesamtsystems übernimmt. Einfach ausgedrückt: Das PAS übernimmt diejenigen notwendigen Funktionen (etwa Konfliktschlichtung, Sicherheit, Umverteilung), ohne die jede Gesellschaft zusammenbrechen würde. Dabei wurde ganz bewusst, wie das Kürzel PAS andeutet, nicht zwischen den Teilsystemen Politik und Verwaltung unterschieden, weil angenommen wurde, dass beide viel zu eng verflochten seien, um sie – zumindest auf einfache Weise – sinnvoll zu trennen. Zunächst bedeutete dies vor allem, dass die Politikwissenschaft die Verwaltung (wieder)entdeckt hatte.
Abb. 1 Eastons „Simplified Model of a Political System“ Quelle: nach Easton 1965
2.1 Die Rolle der Verwaltung im politischen Prozess
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Nun ist allerdings auch einleuchtend, dass Politik als Prozess der Problemverarbeitung für das gesamtgesellschaftliche System nicht die einzig mögliche oder sinnvolle Auffassung von Politik ist. Man kann den Prozess aus dem Blickwinkel der Problemverarbeitung analysieren, etwa wie diese Problemverarbeitung organisiert ist und gelingt, wer in welcher Rolle dabei beteiligt ist und was ggfs. zu verbessern wäre, aber dies bedeutet nicht, dass Politik nach Anlass und Ergebnis und auch im Verständnis der beteiligten Akteure nur oder auch nur vorrangig ein Problemverarbeitungsprozess ist (so schon Mayntz 1982, S. 74ff). In der Politik geht es, wie jeder Blick in die Zeitung, das Fernsehen oder ins Internet zeigt, auch um Machtgewinn oder -erhalt, um Selbstdarstellung oder gelegentlich auch nur um Unterhaltung. Dies wird deutlich, wenn man sich die unterschiedlichen Bedeutungen des Terminus „Politik“ in der deutschen Sprache vor Augen führt. Zum besseren Verständnis dieser unterschiedlichen Dimensionen des Politikbegriffs ist es hilfreich, an der Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes „Politik“ in der englischen Sprache anzuknüpfen, in der Politik wahlweise mit Politics, Polity oder Policy übersetzt werden kann (Böhret/Jann/Kronenwett 1988: S. 3ff): • Politics bezeichnet den durch Interessengegensätze gekennzeichneten Prozess der Austragung von Konflikten und der Verteilung von Macht und Einfluss. Diese Dimension ist die sichtbarste und wird, zumal im Deutschen, oft mit dem vieldeutigen Politikbegriff gleichgesetzt. Die klassischen Fragen der Politikwissenschaft (Wer kann seine Interessen artikulieren und durchsetzen? Welchen Einfluss haben politische Institutionen und Organisationen? Welche Mechanismen der Konfliktregelung gibt es?) wie auch zentrale Begriffe (Macht, Konflikt, Konsens, Herrschaft) sind hier zentral. • Polity meint demgegenüber die formale Dimension der Politik, d. h. die Ordnung des politischen Systems, des Normengefüges und der Institutionen, in denen politische Prozesse ablaufen6. Es geht hier um Verfahren und Regeln, und zwar sowohl formelle wie informelle Institutionen und Normen (z. B. Verfassungen, Gesetze, Vorschriften, aber auch politische Kultur und politische Traditionen), die sowohl Voraussetzung (Weichenstellung) wie Ergebnis (geronnene Politik im Sinne von Politics) sein können. • Policy meint schließlich die inhaltliche Dimension von Politik, d. h. die Art und Weise der politischen Problemverarbeitung, der staatlichen Aktivitäten, kurz die Politikinhalte. Im Deutschen wird diese Bedeutung vor allem in zusammengesetzten Ausdrücken deutlich, wenn man etwa von Sozialpolitik, 6 So lautet der Titel eines der bekanntesten englischen Lehrbücher über das deutsche politische System „The German Polity“ (Conradt 2005). 9
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
Arbeitsmarkt- oder Klimapolitik spricht. Im Zentrum steht hier die Frage nach den Gegenständen, Zielen und Instrumenten von Politik, es geht um die verschiedenen Möglichkeiten der Aufgabenerfüllung und der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse durch Staat und Politik. Bezeichnung Politics
Dimension Prozess
Polity
Form
Policy
Inhalt
Zentrale Konzepte Macht Konflikt und Konsens Durchsetzung Normen Institutionen Ordnung Problemlösung Ziele Gestaltung
Erscheinungsformen Interessenkonflikte Machtkämpfe Verfahrensregeln Verfassungen Recht Programme Budgets Aktivitäten
Abb. 2 Dimensionen des Politikbegriffs Quelle: nach Böhret/Jann/Kronenwett 1988, S. 7
Offensichtlich hängen diese drei Dimensionen der Politik eng miteinander zusammen, Policies sind Ergebnis politischer Konflikte in bestimmten institutionellen Rahmen, und beeinflussen wiederum diese Auseinandersetzungen und Rahmenbedingungen. Dennoch ist es sinnvoll, diese drei Dimensionen zu unterscheiden, weil ansonsten oft unklar ist, was mit „Politik“ eigentlich gemeint ist. Im Englischen kann man von „the politics of labour market policy“ sprechen, und meint damit die Auseinandersetzungen über die Inhalte der Arbeitsmarktpolitik, während diese Unterscheidung im deutschen (wie übrigens auch in den romanischen Sprachen) umgangssprachlich nicht möglich ist. Die „Entdeckung“ von Policies und Policy-Making als Gegenstand der Politikwissenschaft hat aber nicht nur zur Etablierung eines eigenen, sehr produktiven Teilbereichs der Politikwissenschaft geführt, nämlich der Policy-Forschung oder auf Deutsch Politikfeldforschung (als deutsche Lehrbücher siehe Schubert/Bandelow 2014, Schneider/Janning 2006), sondern war auch entscheidende Inspiration für die Entwicklung der modernen Verwaltungswissenschaft (als Übersicht Jann 2009). Hintergrund war – in Deutschland Anfang der siebziger Jahre, in den USA schon einige Zeit früher – ein doppeltes Unbehagen an klassischen Vorstellungen und Vorgehensweisen sowohl der Politikwissenschaft wie der juristischen Staatsund Verwaltungslehre. An der Politikwissenschaft wurde kritisiert, dass sie sich zu sehr auf die Input-Seite des politischen Systems konzentriere, also im Sinne von
2.1 Die Rolle der Verwaltung im politischen Prozess
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Eastons Systemmodell (s. o.) fast ausschließlich auf demands and support, auf Unterstützung des politischen Systems und die an es herangetragenen Anforderungen. Problematisiert und untersucht wurden so Wahlen, Parteien, Interessengruppen, Eliten, Parlamente, Pluralismus bis hin zur politischen Kultur, während der eigentliche Output, also beispielsweise Gesetze, Programme, Budgets, politische und/ oder administrative Maßnahmen nicht in das Interesse der Politikwissenschaft gerieten – genauso wenig wie die Prozesse und Strukturen von Regierung und Verwaltung, der black box, in der demands and support in decisions and actions umgewandelt werden. Eine ähnliche Kritik richtete sich gegen die traditionelle, normative – in weiten Teilen juristisch geprägte – Verwaltungslehre, die der öffentlichen Verwaltung in diesem Prozess lediglich ausführende Funktionen zuwies. Nach diesem weitgehend instrumentellen Verständnis der Verwaltung sind prinzipiell nur die politisch verantwortlichen Organe – Parlamente, Regierungen, Gemeinderäte, Bürgermeister – mit politischen Entscheidungen befasst. Verwaltung hat und soll in dieser Perspektive mit Politik nichts zu tun haben. Gegenüber dieser normativen – und wirklichkeitsfremden – Annahme, die allein die formelle Entscheidungskompetenz betrachtet, erlaubt der Politikbegriff des Policy-Making die Untersuchung und Identifikation der tatsächlichen Entscheidungen in diesem Auswahlprozess. Wiederum in der klassischen Formulierung von Scharpf: „In so angelegten Untersuchungen kann der Entscheidungsbeitrag der Bürokratie heraus gearbeitet werden; es kann gezeigt werden, welche Probleme verdrängt, welche Ziele vernachlässigt und welche Handlungsalternativen in der Phase der Entscheidungsvorbereitung von der Verwaltung bereits ausgeschieden wurden, ehe irgendein verantwortlicher Politiker mit dem Entscheidungsvorschlag befasst war. Untersuchungen dieser Art brauchen auch nicht bei der formellen Entscheidung einer gesetzgebenden Körperschaft oder eines Ministers ihr Ende finden, sondern sie können in die Durchführungsphase hinein ausgedehnt werden und dann zeigen, wie viele Fragen durch die formelle politische Entscheidung noch nicht entschieden wurden und wie nun der engere oder weitere Handlungsrahmen durch die Verwaltung inhaltlich ausgefüllt oder verändert wird“ (Scharpf 1973b, S. 16).
Die besondere Bedeutung der Verwaltung ergibt sich also aus der plausiblen Vermutung, dass in einem modernen, hoch komplexen und differenzierten öffentlichen Sektor die „Politik“ mit ihren Akteuren und Institutionen in Regierungen, Parlamenten und Parteien nur einen kleinen Teil – und bei quantitativer Betrachtung vermutlich den weitaus kleineren Teil – der insgesamt produzierten Entscheidungen bestimmen kann. Programmatisch wurde so „Verwaltungswissenschaft als Teil der Politikwissenschaft“ definiert und etabliert (siehe ausführlich unten 2.2.4). 11
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2.1.2 Der Policy Cycle und die Verwaltung Eine einfache, aber hilfreiche Grundlage ist in diesem Zusammenhang die Unterteilung des politischen Prozesses in unterschiedliche Phasen (als Überblick Jann/ Wegrich 2014; Cairney 2012, 35ff). Inspiriert durch eine frühe Unterscheidung von Lasswell (1956) werden gewöhnlich folgende Phasen unterschieden: • Problemwahrnehmung und Agenda Setting, also die Wahrnehmung, Auswahl und Festlegung derjenigen sozialen Phänomene, die vom politischen System als zu bearbeitende Probleme (issues) betrachtet werden: Was kommt wie auf die politische und administrative Tagesordnung? • Politikformulierung und Entscheidung, d. h. der Prozess, in dem politische Ziele und Programme formuliert und schließlich verbindlich beschlossen werden: Welche politischen Ziele sollen künftig wie erreicht werden? • Politikdurchführung und Implementation, d. h. die Umsetzung politischer Zielsetzungen und Programme mit Hilfe unterschiedlicher Instrumente (etwa Recht, Geld, Information etc.): Wie werden politische Inhalte umgesetzt? • Evaluation und Wirkungsforschung, also die Überprüfung der direkten Wirkungen (impact) und die indirekten Auswirkungen staatlicher Aktivitäten (outcomes), einschließlich nicht-intendierter und negativer Ergebnisse: War die Policy erfolgreich? Was hat sich eigentlich warum geändert? • Schließlich die mögliche (aber seltene) Terminierung, d. h. die Beendigung einer Politik, entweder weil sie erfolgreich war (Problem beseitigt) oder gerade auch nicht (Ziele verfehlt). Dabei können diese verschiedenen Phasen des Policy-Making zum einen als logisch und zeitlich lineare Folge aufgefasst werden (erst werden Probleme definiert und auf die Agenda gesetzt, dann werden Politikinhalte formuliert, umgesetzt, evaluiert, und schließlich, wenn die Policy erfolgreich war – oder auch gerade wenn sie nicht erfolgreich war –, wird sie terminiert). Denkbar ist aber auch die Darstellung als Kreis, als Policy-Cycle, der ohne eindeutigen Anfang oder Ende fortwährend stattfindet (vgl. Jann 1981). Beides sind allerdings, und das ist wichtig zu erkennen, offenkundig idealtypische Darstellungen, die helfen sollen, politische Prozesse besser zu beschreiben, zu analysieren und zu verstehen, und keineswegs realistische Abbildungen der Wirklichkeit, zumal diese Phasen im Kern die klassischen Schritte eines „rationalen“ Entscheidungsprozesses nachvollziehen (siehe Jann/ Wegrich 2014, S. 100ff). Die kreisförmige Betrachtung verdeutlicht diese idealtypische und modellhafte Auffassung, denn Policy-Prozesse weisen eher selten eindeutige Anfänge und Ab-
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schlüsse auf. Zum einen werden Policies nur ausnahmsweise einer systematischen Evaluierung unterzogen, die dann zu einer Reformulierung oder gar Terminierung führen würde, zum anderen werden Policies auch ohne systematische Evaluation „schon immer“ überprüft, kontrolliert und verändert – gelegentlich sogar abgeschafft, allerdings in einem vielfältig verflochtenen, nicht eindeutig abgrenzbaren und durchschaubarem Prozess, der prinzipiell nie abgeschlossen ist.
Abb. 3 Der idealtypische Policy-Cycle Quelle: Jann 1981
Die Betrachtung des politischen Prozesses als eines nie – oder doch nur selten durch Termination – endenden Prozesses lenkt die Aufmerksamkeit allerdings auch auf die Bedeutung der Verwaltung. Denn es ist offenkundig, dass die öffentliche Verwaltung, also öffentliche Organisationen und ihr Personal, in allen diesen Phasen eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle spielen. Verwaltungsorganisationen und ihre Mitglieder sind wichtige Akteure in allen Phasen des Policy Cycle. Gleich13
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
zeitig sind Strukturen und Prozesse der Verwaltung wichtige Einflussfaktoren für die Inhalte und Ergebnisse politischer Prozesse und staatlichen Handelns (siehe ausführlich 4.3): • So werden Probleme nicht allein durch die Politik, sondern sehr oft durch professionelle Mitarbeiter (und Interessen) der Verwaltung definiert und auf die politische Tagesordnung gesetzt (etwa im Bereich der Sozial- oder Bildungspolitik), man spricht hier von politischem vs. bürokratischem, oder inside vs. outside Agenda Setting. • Offenkundig spielt die Verwaltung (z. B. in der Form der Ministerial- oder Kommunalverwaltung) auch eine entscheidende Rolle im Rahmen der Politikformulierung, also bei der Formulierung, Aushandlung und Auswahl politischer Alternativen, bis hin zu „Formulierungshilfen“ gegenüber parlamentarischen Gremien. Gesetzes-, Satzungs-, und Haushaltsentwürfe kommen in aller Regel aus der Verwaltung, auch und gerade auf der kommunalen Ebene. Zudem gibt es das Phänomen der dezentralen Programmentwicklung (Alternativen werden weitgehend vom Apparat, nicht von der politischen Führung ausgewählt und bewertet), oder auch der „eisernen Dreiecke“ (enge Verbindungen und Übereinstimmungen zwischen Interessengruppen, den jeweiligen Fachpolitikern und den zuständigen Behörden, etwa im Bereich der Agrar-, Sport- oder Umweltpolitik). • Auch bei der Umsetzung politischer Programme verfügt die Verwaltung über erhebliche Handlungsspielräume, man spricht hier z. B. von street-level-bureaucrats, die politische Programme ggfs. ganz anders interpretieren und implementieren als ursprünglich intendiert, die aber vielleicht auch erst dadurch den Erfolg dieser Maßnahmen gewährleisten. Ein modernes Schlagwort ist die „kooperative Verwaltung“, die z. B. mit Adressaten Lösungen aushandelt, obwohl sie eigentlich in der Lage wäre, Entscheidungen einfach juristisch durchzusetzen (etwa im Umweltschutz). • Und schließlich werden Erfolg oder Misserfolg eines politischen Programms auch und vor allem durch die beteiligte Verwaltung wahrgenommen, definiert und damit evaluiert, da sie am ehesten über die relevanten Daten verfügt und diese auch analysieren und interpretieren kann. Wissenschaftliche Gutachten und Expertisen werden in aller Regel von der Verwaltung vorbereitet, in Auftrag gegeben und ausgewertet, Politikberatung ist daher oft vorrangig Verwaltungsberatung (vgl. 4.4). Eine weitere Besonderheit unterstreicht die Bedeutung der Verwaltung, dass nämlich Policies in aller Regel nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern fast immer schon auf bestehende Programme und Organisationen treffen, diese ergänzen,
2.2 Kurze Geschichte der Verwaltungswissenschaft in Deutschland
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modifizieren, mit ihnen konkurrieren oder mit negativen und nicht vorhergesehenen Folgewirkungen interagieren. Wenn der öffentliche Sektor, wie in den letzten Jahrzehnten offenkundig, seine Aktivitäten ausweitet, ist zu erwarten, dass Policy-Making schwieriger wird, denn bereits bestehende Politikinhalte, Aktivitäten und Organisationen werden zu einem zentralen Element der Systemumwelt, nicht selten zu einer wichtigen Restriktion. Policies werden zur Ursache neuer Probleme (der Ausbau der Verkehrswege verstärkt etwa die Umweltverschmutzung), auf die wiederum mit neuen Policies reagiert wird. In allen diesen Prozessen spielt die öffentliche Verwaltung eine entscheidende und wichtige Rolle. Moderne politische Systeme können ohne eine intensive Beschäftigung mit den Strukturen und Prozessen der Verwaltung und ihrer Entwicklung nicht analysiert und verstanden werden. Gleichzeitig sind dies alles keineswegs vollständig neuartige Phänomene. Man kann sogar argumentieren, dass zumindest in Europa die Verwaltung als der professionelle Staatsapparat, als der „arbeitende Staat“, eine weitaus längere Geschichte hat, als die Politik, zumindest als das, was heute als demokratische Politik und deren Institutionen wahrgenommen wird. In Europa gab es erst Bürokratie und dann, viel später, Demokratie, in den USA war die Entwicklung eher umgekehrt. Um die Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Entwicklungen geht es im nächsten Abschnitt.
2.2
Kurze Geschichte der Verwaltungswissenschaft in Deutschland
2.2
Kurze Geschichte der Verwaltungswissenschaft in Deutschland
2.2.1 Historische Grundlagen: Staats- und Policeywissenschaft
Historisch ist Verwaltungswissenschaft in Deutschland untrennbar mit der Entwicklung der Staatswissenschaften verbunden. Normalerweise wird angenommen, dass Staatslehre und Staatsrechtslehre in Deutschland eine lange Tradition haben, während die Politik- und erst recht die Verwaltungswissenschaft erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Druck der Alliierten und nach dem Vorbild der angelsächsischen Political Science und Public Administration im Rahmen der „Re-education“ eingeführt wurden. Diese Auffassung verkennt aber die lange Tradition dieser Wissenschaften in Deutschland. Zwar kann hier die Geschichte der Staats- und Politikwissenschaft nicht im Detail nachvollzogen werden, aber im Folgenden soll in groben Strichen kurz skizziert werden, welche Traditionslinien bestehen und welche unterbrochen wurden (zur gesamten Staats- und Politikwis15
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senschaft ausführlich Bleek 2001, s. a. Jann 1989 als Grundlage dieses Abschnitts und Schuppert 2003, insbesondere S. 345ff.). Ausgangspunkt der Geschichte der Verwaltungswissenschaft ist, wie fast immer im christlichen Abendland, der Rückgriff auf den antiken Philosophen Aristoteles. Im Fächerkanon der alten, mittelalterlichen Universität gab es ein Fach Politik, das neben Ethik und Ökonomik ein Teilgebiet der praktischen Philosophie war und auf der Grundlage Aristoteles‘ Nikomachischen Ethik von Aristoteles gelehrt wurde (vgl. zum Folgenden Maier 1966, hier in der Taschenbuchausgabe 1986 zitiert). Es ging um das „gute“ und „gerechte“ Leben. Im Vordergrund stand das normative Ziel und weniger die empirische Realität (Bleek 2001, S. 46f). Dies änderte sich in der Frühen Neuzeit, also etwa ab dem 16. Jahrhundert. Ausgangspunkt waren sozio-ökonomische Veränderungen. Mit der Krise der mittelalterlichen Ständeherrschaft entwickelte sich der moderne Territorialstaat als Ordnungsstifter, „der mit seiner Polizei immer tiefer in die bis dahin autonomen, jetzt aber zur Selbstordnung mehr und mehr unfähigen Sozialbereiche vordringt und so allmählich das gesamte innere Leben der Gesellschaft seinem Gebot unterwirft“ (Maier 1986, S. 259).
Polizei (normalerweise geschrieben als Policey) wurde in diesem Zusammenhang Inbegriff sämtlicher staatlicher Aktivitäten, also praktisch synonym mit Staat und Verwaltung. Es ist offenkundig, dass damit genau das gemeint war, was heute mit dem Begriff Policy umschrieben wird, die inhaltliche Dimension des Staatshandelns: „In der Frühen Neuzeit unterschieden sich die deutsche ‚Policey‘ und das englische ‚policy‘ nur durch einen Vokal und meinten weitgehend das gleiche, nämlich die öffentliche Tätigkeit“ (Bleek 2001, S. 73f, s. a. Heidenheimer 1986). Dies war die große Zeit der deutschen Policeywissenschaft im Sinne einer umfassenden Staats- und Verwaltungswissenschaft des absolutistischen Wohlfahrtsstaates, die mit Namen wie von Osse (1506–1577), von Seckendorf (1626–1692), und später dann von Sonnenfels (1733–1817) und vor allem von Justi (1717–1771) verbunden ist. Policeywissenschaft war in diesem Verständnis sowohl Gesetzgebungs-, Regierungs- und Verwaltungslehre, gleichzeitig auch „Staatswirtschaftslehre“, denn es ging insbesondere nach 1648 um die umfassende wirtschaftliche und soziale Entwicklung der durch den Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Territorialstaaten, allerdings nicht als Verwaltungstechnik, sondern als Lehre von der inneren Staatsgestaltung zum Zweck des „guten Lebens“. Gleichzeitig gab es eine enge Verbindung zum sich entwickelnden Berufsbeamtentum. Die Policeywissenschaft wurde im 18. Jahrhundert als das neue Fach „Kameralistik“ über den Umweg besonderer Akademien an fast allen deutschen
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Universitäten eingeführt (den ersten Lehrstuhl gab es in Halle 1727), nachdem im Rahmen des aufgeklärten Absolutismus deutlich wurde, dass Beamte nicht nur juristische, sondern vor allem auch wirtschaftliche und verwaltungstechnische Kenntnisse benötigen. Die Orientierung an der Praxis staatlichen Handelns sorgte für Ansehen und Nachfrage, führte aber schließlich dazu, dass der Stoff der alten Kameralistik immer weiterwuchs. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich zunehmend eine Spezialisierung und Differenzierung durchsetzte. Im 19. Jahrhundert spaltete sich die alte Policeywissenschaft in drei Bereiche auf. Ein Zweig wurde die Kameralistik i. e. S als umfassende Lehre staatlichen Wirtschaftens, die Vorgängerin der heutigen Finanzwissenschaft (und noch heute werden öffentliche Haushalte, zumindest in Deutschland mit Ausnahme der Kommunen, weitgehend nach dem kameralistischen System aufgestellt). Ein weiterer Zweig wurde die Ökonomik, die technische Fächer wie Land- und Forstwirtschaft, aber auch praktische Fächer wie Gewerbe-, Agrar- und Handelspolitik entwickelte und damit der Ursprung der modernen Volkswirtschaftslehre und der späteren Wirtschaftspolitik ist. Der dritte Bereich war schließlich noch einmal der Versuch der Rettung einer einheitlichen Policey- und Staatswissenschaft, wie er mit den Namen Robert von Mohl (1799–1875) und schließlich Lorenz von Stein (1815–1890) verbunden ist. Insbesondere bei von Mohl wird die entscheidende politische Neuerung des 19. Jahrhunderts deutlich, nämlich die Entwicklung des Liberalismus und damit des Rechtsstaats. Sein großes Werk heißt „Policeywissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ (1831ff.), und hier wird nicht nur das wohlfahrts- und sicherheitspolitische Handeln des modernen Staates noch einmal in seiner ganzen Breite dargestellt, sondern es werden gleichzeitig materielle und formale Rechtsstaatsgedanken ausformuliert. Der Staat soll die Bürger nicht bevormunden, sondern unterstützen und sich dabei auf den Vollzug von Gesetzen beschränken. Damit wird gleichzeitig der Grund zu einem rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht gelegt. Lorenz von Stein hat mit seiner „Verwaltungslehre in 8 Theilen“ (1866–1884) und dem Konzept des „arbeitenden Staates“ noch einmal etwas Ähnliches versucht, aber im Prinzip ging die Entwicklung in eine andere Richtung. Die einheitliche Policey- und Staatswissenschaft, die durch von Mohl noch durch die Gründung der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ (1844)7 versucht wurde zusammenzuhalten, zerfiel in einen ökonomischen und einen rechtlichen Teil, d. h. in Volkswirtschafts- und Staats(rechts)lehre. Regierungs- und Verwaltungslehre verschwanden oder wurden als extrem praxisorientierte „Kunde“ Beifächer der 7 Die Zeitschrift gibt es immer noch, sie heißt inzwischen „Journal of Institutional and Theoretical Economics“ (JITE). 17
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juristischen Fakultät, und auch Politik als Fach fand keinen festen Platz mehr an der Universität.
2.2.2 Siegeszug des Staats- und Verwaltungsrechts Man muss sich verdeutlichen, dass dieses Verschwinden der Policey- und Verwaltungswissenschaft nur gut 160 Jahre zurückliegt. Es hängt zusammen mit der spezifisch deutschen Entwicklung im vorletzten Jahrhundert und der Etablierung des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates, in dem es dem Bürgertum nicht gelang, seine Interessen parlamentarisch durch eine verantwortliche Regierung durchzusetzen, sondern allein im Rahmen des formellen Rechtsstaats. Die Gründe können hier nicht diskutiert werden, aber das Ergebnis ist wichtig: Gefragt waren „staatstragende“, d. h. auch staatsbildende Wissenschaften, insbesondere Staats- und Verwaltungsrecht, die die alte Policeywissenschaft und die steinsche Verwaltungslehre zurückdrängten bzw. gar nicht zur Entfaltung kommen ließen (ausführlich Stolleis 1988ff.). Gleichzeitig, und sicherlich nicht unabhängig davon, wurden im Zuge des sich entwickelnden Liberalismus und Positivismus praktische Fragen nach Zielen, Zwecken und Inhalten politischer Gestaltung im Prinzip als unwissenschaftlich angesehen. Politik wurde als willkürliche Einmischung in gegebene Ordnungen aufgefasst, und schließlich wurden Politik und Ethik als „unwissenschaftlich“ und „bloß praxisbezogen“ aus der wissenschaftlichen Staatslehre verbannt (Kriele 1981, S. 16). Nach und nach verselbständigten sich die „empirischen“ Fragestellungen in einer Reihe selbstständiger Disziplinen (zunächst Ökonomie, dann Soziologie), die aufgrund des Postulats der Methodenreinheit gar kein Interesse daran hatten, sich mit Fragen praktischer Politik, d. h. mit Wertungen zu befassen. Gefragt waren normative Staatslehren, aber nicht empirische Verwaltungs- oder gar Politikwissenschaft. Die Trennung zwischen normativen, d. h. vor allem juristischen, und empirischen, d. h. „seins-wissenschaftlichen“ Fragen, wird in den Staatslehren des deutschen Kaiserreichs deutlich, vor allem bei Laband (1876ff.), dem Begründer des staatsrechtlichen Positivismus (vgl. Friedrich 1986) und bei Jellinek (1900), der Rechtslehre und Soziallehre vom Staat unterschied. Im Sinne des Rechtspositivismus sollte das Recht als lückenloses System von Normen entwickelt werden, unabhängig von der gesellschaftlichen Realität. Das gesamte konkrete staatliche Handeln wurde damit in Rechtsverhältnisse aufgelöst, d. h. statt um Agrar-, Sozial- oder Verkehrspolitik (im Sinne von Policies) ging es zukünftig um Agrar-, Sozial- und Verkehrsrecht. Dies ist der Ausgangspunkt des Siegeszugs des speziellen Verwaltungsrechts in Deutschland, das praktisch als Ersatz für eine empirische Verwaltungswissenschaft
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diente. Dabei ist die Leistung der deutschen Rechtswissenschaft, nämlich Staatstätigkeit unter rechtlichem Aspekt faktisch oder zumindest vermeintlich systematisch erschließbar gemacht und gleichzeitig den Staat als „Rechtsstaat“ unter dem (von ihm geschaffenen) Recht etabliert zu haben, ohne Zweifel bemerkenswert. Der ideologische Hintergrund dieser Auffassungen ist allerdings auch offenkundig. Nur nach der in Deutschland gescheiterten bürgerlichen Revolution und unter den stabilen und von oben regulierten Verhältnissen des wilhelminischen Kaiserreichs konnte die Vorstellung entstehen, dass Staatshandeln in erster Linie Recht und nicht Politik ist (Sontheimer 1976, S. 75). Legitimationsprobleme, z. B. Willensbildung und Demokratie, aber auch Fragen nach Effektivität oder Effizienz staatlichen Handelns wurden von dieser Staats(rechts)lehre ignoriert. Der abstrakte Staat, nicht das politische Handeln der Bürger und erst recht nicht der Verwaltung standen im Zentrum der Aufmerksamkeit, Politik war „Kunst“ (wenn nicht „schmutzig“), und man sollte sich lieber von ihr fernhalten. Erst gegen Ende der Weimarer Republik wurden diese eindeutig an einen unoder vor-demokratischen Obrigkeitsstaat gebundenen Vorstellungen infrage gestellt. Staatsrechtslehrer dieser Zeit schrieben Staats- und Verfassungslehren, die nichts anderes als Politikwissenschaft waren. Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller, um nur die bedeutendsten zu nennen, waren nicht nur Staatsrechtslehrer, sondern politische Staatstheoretiker, ohne sich allerdings unbedingt als solche erkennen zu geben.8 Eine etablierte Politikwissenschaft gab es nicht, und das Prestige der juristischen Staatsrechtslehre war natürlich nicht unwillkommen. Das gleiche gilt für die Verwaltung: Normatives Verwaltungsrecht war die Königsdisziplin, empirische Verwaltungslehre allenfalls „Hilfswissenschaft“. Auf die sehr problematische Rolle, die Staats- und Verwaltungsrechtler bei der Zerschlagung der Weimarer Republik und der Etablierung, Rechtfertigung und Stabilisierung der Nazi-Diktatur gespielt haben, kann hier nicht gesondert eingegangen werden (vgl. z. B. Staff 1978: 147ff. m. w. A.). Erwähnt werden soll nur, dass die These, der Niedergang der Weimarer Republik sei vor allem durch den juristischen Positivismus unterstützt worden, zumindest zweifelhaft ist. Es waren nicht Positivisten wie Anschütz und Kelsen, die die Diktatur mit Hilfe fragwürdiger Theorien vorbereiteten und schließlich unterstützten und rechtfertigten, sondern 8
Dies gilt nicht für Herman Heller, der für die erste Encyclopaedia of the Social Sciences (E.R.A. Seligman et.a1. eds., 1934) den Beitrag über „Political Science“ verfasste, und der in seiner Staatslehre häufig den Ausdruck „Political Science“ verwendet. Er wollte diesen offensichtlich vor Drucklegung durch ein deutsches Pendant ersetzen, ist aber vorher verstorben. Der Herausgeber hatte dafür den etwas unbeholfenen Begriff „Politikologie“ eingesetzt, der aber in der Neuausgabe durch „politische Wissenschaft“ ersetzt wurde (Heller, 1971, Gesammelte Schriften, 93ff.). 19
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gewissenlose und/oder opportunistische Ideologen vom Schlage eines Carl Schmitt, die für jegliches Unrecht, von der totalitären Diktatur bis hin zum brutalen Antisemitismus und unbedingten Führerbefehl, eine „rechtliche“, in Wirklichkeit aber politische Begründung lieferten (zur „Demokratietheorie“ Carl Schmitts siehe Böhret/Jann/Kronenwett. 1988, S. 222ff. m. w. A.). Interessanter- und auch merkwürdigerweise spielte die bis heute wichtigste und grundlegendste sozialwissenschaftliche Verwaltungstheorie, nämlich Max Webers Bürokratietheorie, die 1922 posthum in dem berühmten Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ veröffentlicht wurde, in der deutschen Verwaltungswissenschaft der Zwischenkriegszeit kaum eine Rolle. Sie wurde vorrangig als Herrschaftssoziologie wahrgenommen, und die hatte für Juristen für das Verständnis von Verwaltung keine praktische Relevanz. Tatsächlich haben sich die grundlegenden Einsichten Webers daher auch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Teil über den Umweg der USA, in Deutschland durchgesetzt (siehe zu Weber unten 4.1).
2.2.3 Lehren aus dem Nationalsozialismus Vor diesem sicherlich sehr knapp skizzierten Hintergrund muss die Entwicklung der Politik- und Verwaltungswissenschaft in der Nachkriegszeit gesehen werden. Dabei geht es im Folgenden vor allem um die Entwicklung in Westdeutschland. In der DDR war die Abkehr vom alten System zunächst viel drastischer und gründlicher, die Orientierung an der Sowjetunion führte allerdings auch dazu, dass es keine eigenständige Politik- oder gar Verwaltungswissenschaft gab, und auch bis in die achtziger Jahre kein eigenständiges Verwaltungsrecht. In der DDR wurde eine zentralistische Kaderverwaltung nach sowjetischem Vorbild aufgebaut, die sich möglichst umfassend von der alten Verwaltung und damit auch Staatsrechtslehre unterscheiden sollte (Stolleis 2017, siehe auch unten 5.3). In Westdeutschland gab es auf der einen Seite eine beinahe ungebrochene Traditionslinie auf juristischem Gebiet, die sich durch Namen wie Maunz (Staatsrecht), Forsthoff (Verwaltungsrecht) und Koellreutter (Staatslehre) veranschaulichen lässt, die alle aktive Apologeten und Ideologen des Nationalsozialismus gewesen waren. Aktive wissenschaftliche und politische Unterstützung des Faschismus war, außer in einigen wenigen extremen Fällen, kein Hinderungsgrund für die Fortsetzung einer staats- und/oder verwaltungsrechtlichen Karriere in der Bundesrepublik. Gerade deshalb wurde von den Alliierten, aber besonders auch von den zurückkehrenden Emigranten, die Einführung einer unbelasteten, empirischen Politikwissenschaft und eines unbelasteten Berufsbeamtentums für so wichtig gehalten (s. a. unten 5.1). Diese Orientierung führte allerdings dazu, dass sich Staatslehre, Staats- und
2.2 Kurze Geschichte der Verwaltungswissenschaft in Deutschland
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Verwaltungsrecht auf der einen und Politik- und Verwaltungswissenschaft auf der anderen Seite weitgehend unabhängig voneinander entwickelten (vgl. zum Folgenden Jann 1989 m. w. A.).
2.2.3.1 Staatsrechtslehre, Allgemeine Staatslehre und Verwaltungsrecht Im Staats- und Verwaltungsrecht ging es, wie im gesamten öffentlichen Recht, weiter um Aufbau, Organisation und rechtliche Ausgestaltung von Staat und Verwaltung. Ausgangspunkt war die Interpretation der neuen Verfassung, also des Grundgesetzes. Allerdings können Verfassungsnormen nicht ohne politische Leitideen und ohne Berücksichtigung der sozialen Realität interpretiert werden. Das Grundgesetz ist „alles andere als ein offenes Buch, das jeder des (juristischen) Lesens Kundige“ nur zu studieren brauchte, um klare und eindeutige Aussagen zu enthalten. Hier wurde daher an die Weimarer Verfassung angeknüpft, aber auch immer wieder an ‚Recht und Gesetz‘ der Nazizeit und vor allem an das alte Verwaltungsrecht. Ein richtiger Staatslehrer wie der spätere Bundespräsident Herzog war sich dabei sicher, dass es bei den Sozialwissenschaften nichts zu lernen gibt: „Es gibt kaum eine Frage des Staatslebens und der Staatsgestaltung, die nicht zumindest unter rechtlichen Gesichtspunkten schon einmal erörtert worden wäre und deren Lösung durch die Rechtsdogmatik infolgedessen nicht unmittelbar in die Überlegungen der Staatslehre eingebracht werden könnte. Deshalb ist eine auf der Rechtsdogmatik als Erfahrungsgrundlage aufbauende Staatslehre wohl noch auf Generationen hinaus zu detaillierten und exakteren Aussagen über die Probleme des Staates imstande als die notwendigerweise auf empirischen Erfahrungen beruhende Politikwissenschaft“ (Herzog 1971, S. 32).
Rechtsdogmatik als Erfahrungsgrundlage ist aus dieser Sicht rein empirischen Aussagen überlegen, auch und gerade für Verwaltungshandeln. Nun ist gegen juristische Begründungen des Staates, seiner Organisationen und Aktivitäten nichts einzuwenden, aber diese dürfen nicht als empirische Wahrheiten angesehen werden. Die Bedeutung der juristischen Staatslehre für die Verwaltung lag also insbesondere darin, dass hier eine normative politische Theorie von Staat und Verwaltung entwickelt wird, die qua vielfältiger Verbindungen zwischen Staats(rechts)lehre, Verfassungs- und Verwaltungsrecht und -justiz und der führenden Stellung von Juristen in Politik und öffentlicher Verwaltung dazu führt, dass „eine Art demokratisch nicht kontrollierte Nebengesetzgebung entstanden (ist). Die Wissenschaftler entwerfen Denkmuster, Doktrinen und Ideologeme, die von schlichten Erfindungen über Auslegungen contra legem bis zu echten Interpretationen reichen. Als zur herrschenden Meinung formierten Ansicht im Schrifttum wird sie von der Justiz 21
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland mit höchstem Geltungsanspruch in vielen (…) Fällen in die Rechtspraxis umgesetzt“ (Fangmann 1981, S. 215, zitiert bei Hammans 1987; vgl. auch Wesels Essay [1981] über Entstehung und Bedeutung der „herrschenden Meinung“ in der Jurisprudenz).
Die Einübung solcher theoretischen Denk- und Argumentationsmuster in der öffentlich-rechtlichen Ausbildung und Tätigkeit und die permanente Produktion von Kommentaren und anderen Publikationen verschafften den Staats(rechts)lehrern daher einen weit über ihren Wissenschaftsbereich hinausgehenden Einfluss auf die politische Entwicklung, insbesondere aber auch der Verwaltung (vgl. Voigt/ Luthardt 1986, S. 135). Verwaltungswissenschaft der Nachkriegszeit bestand im Kern aus Staats- und Verwaltungsrecht. Auffallend ist, dass diese Aufgabe, nämlich zukünftigen „Staatsdienern“ eine solide Grundbildung zu vermitteln, in anderen Kulturkreisen von der Politik- und Verwaltungswissenschaft wahrgenommen wird. In den USA ist es z. B. der normale Weg, dass ein zukünftiger Jurist auf dem College seinen BA in Political Science macht, um dann z. B. an eine Law School zu wechseln. Zukünftige Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes studieren allerdings i. d. R. nicht Jura, sondern z. B. Public Administration oder Public Policy an einer Graduate School. Warum dies in der Bundesrepublik nicht durchgesetzt werden konnte, warum es bei uns lange zwei politische Grundbildungen und damit auch Verwaltungs-Wissenschaften gab, eine für Juristen (Staatslehre, öffentliches Recht und Verwaltungslehre) und eine andere vor allem für alle anderen Interessierten (Politik- und Verwaltungswissenschaft), soll im nächsten Abschnitt skizziert werden.
2.2.3.2 Politikwissenschaft, Innenpolitik und Regierungslehre Die nach der faschistischen Diktatur in der Bundesrepublik etablierte Politikwissenschaft knüpfte im Prinzip nicht an die Traditionen der politischen Staatslehre der Weimarer Republik oder an ältere deutsche Traditionen an, sondern orientierte sich in erster Linie am Vorbild der angelsächsischen Political Science. Diese Ausrichtung ist aus mehreren Gründen nur zu verständlich. Zum einen waren führende Vertreter der neuen westdeutschen Politikwissenschaft dort in der Emigration gewesen, hatten diese Wissenschaft kennen gelernt und zum Teil sogar mitgeprägt (obwohl die meisten von ihnen ursprünglich Juristen waren, z. B. Fraenkel, Kirchheimer, Loewenstein, Hermens, Neumann; s. a. insbesondere in Bezug auf öffentliche Verwaltung Seckelmann/Platz 2017). Verständlicherweise hatten sie ein brennendes Interesse, an der Errichtung eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken, nicht zuletzt dadurch, dass das alte Gerede von der dem deutschen Wesen fremden westlichen Staatsform endlich aus der Welt geschafft wurde. Zum anderen war die Staatsrechtslehre durch die Mitwirkung ihrer führenden Vertreter
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an der faschistischen Diktatur zumindest in den Augen dieser Wissenschaftler gründlich diskreditiert. Aber die Vorbehalte gegen die Staatslehre gingen tiefer, denn selbst, wenn sie nicht offen faschistisch gewesen war, so schien sie doch Ausdruck einer kritikwürdigen Fixierung auf den Staat und dessen Überhöhung zu sein. Mit Staat verbanden sich Konzepte wie Obrigkeitsstaat oder Staatsräson, und damit wiederum Voraussetzungen des Faschismus. Die neu etablierte Politikwissenschaft nahm daher nicht das Konzept des Staates als Ausgangspunkt, sondern orientierte sich am angelsächsischen Konzept des Government. Nicht der ahistorische und übergesellschaftliche Staat, sondern gerade die konkrete Ausgestaltung der politischen Organisationen zum Zwecke der Wahrnehmung allgemeiner Aufgaben wurde problematisiert. In diesem Sinne haben auch die politikwissenschaftlichen „Gründerväter“ Staatslehren geschrieben, aber sie nannten sie nicht Staatslehren, sondern eher „Verfassungslehren“ (Loewenstein 1959; Hermens 1964) bzw. „Verfassungsstaat der Neuzeit“ (Friedrich 1953). Friedrich drückt die gewollt andere Orientierung deutlich aus: „Gegenstand und Methode der Wissenschaft von der Politik sind in Kürze schwer zu kennzeichnen. Ihr Gegenstand ist natürlich der „Staat“, aber man darf sich nicht mehr darunter vorstellen, als das, was das englische government meint. Es handelt sich um die Formen der Herrschaft. Jede metaphysische Verabsolutierung des Staatsbegriffs ist der Betrachtungsweise entgegengesetzt, mit der der Gegenstand in diesem Buch untersucht wird; ein metaphysisches Absolutum kann nicht Objekt kritischer Tatsachenforschung sein. Um diese aber geht es“ (Friedrich 1953, S. VII).
Staatslehre war für die Gründer der Politik- und Verwaltungswissenschaft zu belastet, zu statisch, zu ahistorisch und zu undemokratisch. Stattdessen war Verfassungs- und noch mehr Demokratielehre gefragt, obwohl sich niemand traute, eine „Demokratielehre“ zu schreiben (siehe aber Friedrich 1959 und Ellweins „Politische Verhaltenslehre“ aus dem Jahre 1964). Wichtig sind nach diesem Verständnis Institutionen, und praktisch alle „Klassiker“ der deutschen Politikwissenschaft haben sich daher mit der Begründung, Erklärung und Beschreibung von politischen Institutionen auseinandergesetzt, z. T. sogar „Institutionenlehren“ vorgelegt (Gablentz 1965; vgl. zum folgenden die Zusammenfassung von Göhler 1987, S. 31ff.). Zunächst ist anzumerken, dass das Programm der Gründerväter weitgehend erfüllt wurde. Die fünfziger und sechziger Jahre zeichnen sich durch eine Fülle von Studien über die Funktionsbedingungen eines demokratischen Staates, konkret der pluralistischen parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik, aus (siehe die Übersicht von Ellwein 1986a und auch Göhler 1987). Diese wurden auch in repräsentativen Lehrbüchern zusammengefasst, wobei aber i. d. R. das „Regierungssystem“ (Ellwein 1963) bzw. das „politische System“ (Sontheimer 1971) 23
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der Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund standen. Es etablierte sich das Feld, das dann Regierungssystem oder etwas unglücklich Innenpolitik9 genannt wurde, in dem es um die Institutionen und Verfahren der politischen Herrschaft und Willensbildung geht. Die weitere Ausdifferenzierung und Zersplitterung der Politikwissenschaft in den sechziger und siebziger Jahren kann hier nicht weiterverfolgt werden (vgl. Ellwein 1986a Bleek 2001). Festzuhalten ist, dass sowohl die vorherrschende empirische Ausrichtung wie eine gewisse normative Orientierungslosigkeit, die mit der Methode des kritischen Rationalismus zusammenhängt, dazu führten, dass von der Politikwissenschaft keine repräsentativen Staats- oder Regierungslehren verfasst wurden. Und auch die Verwaltung, der „arbeitende Staat“, geriet noch nicht richtig in ihr Aufmerksamkeitsfeld. Zunächst ging es um Demokratie, die Input-Faktoren des politischen Systems im Sinne des Eastonschen Modells, seine politische und demokratische Legitimation standen eindeutig im Vordergrund. Dabei wurde im Rahmen der Demokratie-, Parteien- oder Pluralismustheorie durchaus normativ im Sinne einer liberalen Staatstheorie argumentiert, allerdings war nicht klar, ob diese Bemühungen eher im Bereich „Politische Theorie“ oder „Regierungssystem“ zu verorten waren.10 Natürlich wurde dieses Manko bemerkt, und es ist nicht weiter verwunderlich, dass gerade ein normativ engagierter Politikwissenschaftler wie Wilhelm Hennis das Fehlen einer expliziten Regierungslehre in einem viel beachteten programmatischen Aufsatz 1965 anprangerte. Hennis nimmt seinen Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass sich moderne Staaten durch drei Kriterien auszeichnen. Sie sind, wie von den Gründervätern herausgearbeitet, Verfassungsstaaten, sie sind demokratisch, aber hinzukommt, dass sie soziale und wirtschaftliche Leistungen erbringen, sie sind „arbeitender Staat“, Leistungsstaat oder mit einem modernen Begriff Wohlfahrtsstaaten (Hennis 1965, S. 423f.). Genau hier sieht er das größte Versäumnis der politischen Wissenschaft. Bisher wurde Government nur als institutionalisierte Ordnung, nicht als Inbegriff von Tätigkeiten aufgefasst, „aber nicht das Regierungssystem, sondern das Regieren scheint mir unter den modernen Bedingungen zum zentralen Problem der Politischen Wissenschaft avanciert zu sein und die Analyse seiner Technik ihre vordringliche Aufgabe“ (ebd., S. 424). 9
Der Begriff ist insofern unglücklich, als darunter auch spezielle Politikbereiche verstanden werden können („domestic policies“), also Sozial-, Gesundheits-, Familienpolitik usw. 10 Das Lehrbuch „Innenpolitik und politische Theorie“ (Böhret/Jann/Junkers/Kronenwett, zuerst 1979) versucht genau diesen Punkt aufzugreifen, indem es unterschiedliche theoretische Ansätze zum Regierungssystem präsentiert und gleichzeitig die Bandbreite normativer Positionen illustriert.
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Hennis fragt, wie es kommt, dass Regieren von der Politikwissenschaft bisher weitgehend ignoriert worden war. Für ihn ist „Regieren das Erbringen einer Leistung“, und im Prinzip verlangt er nichts anderes, als dass sich die Politikwissenschaft nicht nur mit den Strukturen und Prozessen der modernen Regierung beschäftigen soll, sondern auch mit den durch sie hervorgebrachten Inhalten. Mit den oben eingeführten Begriffen geht es ihm also um eine Ausweitung von Polity und Politics hin zu Policies. Wenn Hennis als zentrale Fragestellung formuliert „Wie gewinnt ein Staat Handlungsfähigkeit, wie organisiert er seine Arbeit, welches sind die optimalen Instrumente zur Erfüllung seiner Aufgaben?“ (ebd., S. 429), ist damit nichts anderes als das Programm einer modernen Verwaltungswissenschaft formuliert, und es gibt auch schon Anklänge an die moderne Governance-Diskussion (siehe 2.4.4). Es ist eher tragisch-komisch, dass aufgrund nicht zu verleugnender unterschiedlicher normativer und wissenschaftstheoretischer Grundüberzeugungen (und daraus folgender Abneigung der jeweiligen Nomenklatur bzw. des jeweiligen Jargons) diese offenkundigen Verbindungen zur Policy-Forschung, was die zentralen und interessanten Probleme einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung des Regierens angeht, ignoriert wurden. Zumindest vermied man es strikt, sich aufeinander zu beziehen. Hennis geht explizit von Politikfeldern aus und verknüpft sie mit dem ursprünglichen Anspruch einer umfassenden Regierungslehre: „(…) nur dann, wenn wir die öffentlichen Aufgaben, die politischen Sachprobleme unserer Zeit: Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Bevölkerungspolitik, selbstverständlich die Wirtschaft, die alten Kameralien, wie sie unser Fach in der alten Polizeiwissenschaft zusammenfasste, wieder in einen Bezug zu unserem Fach bringen, von uns mit Recht und Aussicht auf Erfolg der Anspruch angemeldet werden kann, an der Ausbildung der zukünftigen Beamten beteiligt zu werden“ (ebd., S. 431).
Für Hennis gehört es zur Ironie der neueren Wissenschaftsgeschichte, dass ausgerechnet der Kernbereich der alten Politikwissenschaft, die Lehre vom guten und richtigen Regieren, der ihr von keiner anderen Wissenschaft streitig gemacht wurde, von der neueren Politikwissenschaft nicht aufgegriffen wurde. Als Ziel der neuen, nicht nur strukturell und prozedural, sondern auch inhaltlich orientierten Politikwissenschaft formuliert er: „(…) was wir brauchen, sind Mediziner, Ingenieure, Pädagogen, Land- und Forstwirte, die politikwissenschaftlich denken können, und tunlichst auch Politikwissenschaftler, die von einer politisch bedeutsamen Materie, Gesundheit, Verkehr, Verteidigung, Bildung – was immer – eine wissenschaftlich begründete Kenntnis besitzen und imstande sind, auf Grund ihrer politikwissenschaftlichen Ausbildung diese Materie 25
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland als öffentliche Aufgabe, d. h. unter dem Aspekt der Regierungstechnik, der politischen Willensbildung zu betrachten“ (ebd., S. 431f.).
Besser kann man das Programm einer policy-orientierten Politik- und Verwaltungswissenschaft und gleichzeitig einer policy-orientierten Aus- und Fortbildung für den öffentlichen Dienst gar nicht ausdrücken (vgl. Jann 1983, 1987).
2.2.3.3 Verwaltungslehre und Verwaltungswissenschaft Erst Mitte der sechziger Jahre, praktisch gleichzeitig mit Hennis programmatischer Schrift, begann sich die westdeutsche Politik- und Sozialwissenschaft für den „arbeitenden Staat“ zu interessieren, und damit insbesondere auch für die öffentliche Verwaltung (vgl. zum folgenden ausführlich m. w. A. Jann 1986; zu den Anfängen besonders Morstein-Marx 1968). Es erschienen mehrere grundlegende Schriften, die jeweils versuchten, sich dem neuen Feld aus einer besonderen Sichtweise zu nähern: • in der von Morstein-Marx herausgegebenen „Verwaltung. Eine einführende Darstellung“ (1965) ging es in Anlehnung an die amerikanische Public Administration (und das entsprechende Lehrbuch, das Morstein-Marx in der Emigration in den USA herausgegeben hatte, und das dort ein großer Erfolg war) um eine empirisch abgesicherte Darstellung der Strukturen und Funktionen moderner Verwaltungen, einschließlich normativer und präskriptiver Handlungsanleitungen; • damit verwandt, aber eng an eine juristische Betrachtungsweise angelehnt, war Thiemes „Verwaltungslehre“ (zuerst 1967), der es ebenfalls um praktische Handlungsanleitungen ging, bei der aber die juristischen und formalen Aspekte, die Sollstruktur der deutschen Verwaltung im Vordergrund standen; • Maier versuchte in seiner Schrift über „Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft)“ (1966) in Übereinstimmung mit Hennis, an die älteren deutsche Traditionen anzuknüpfen; • Luhmann bemühte sich um den Entwurf einer soziologischen „Theorie der Verwaltungswissenschaft“ (1966), als deren Grundlage er die funktionale Systemtheorie einführte; • und schließlich formulierte Ellwein in seiner „Einführung in die Regierungsund Verwaltungslehre“ (1966) eine explizit empirische Betrachtungsweise, der es vor allem um die politischen Funktionen und den Machtzuwachs der Verwaltung ging. Im Prinzip sind damit die wichtigsten Orientierungen der deutschen Verwaltungswissenschaft skizziert, die sich allerdings seitdem ungleichgewichtig entwi-
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ckelt haben. Anknüpfungspunkte an die Traditionen der deutschen Staats- und Policeywissenschaft sind bisher spärlich geblieben. Zwar wird gelegentlich auf die alten Klassiker verwiesen, besonders auf Lorenz von Stein mit dem Schlagwort des „arbeitenden Staates“, aber von einer systematischen Einbeziehung und Aufarbeitung kann keine Rede sein. Theoretische Zugänge, also eine explizite Verwaltungstheorie, spielen zwar bei verschiedenen Autoren eine Rolle, sind aber in umfassender Form, z. B. als Lehrbuch, nicht mehr versucht worden (als Ausnahme König 1970). Auf dem Gebiet der Lehrbücher dominierten noch lange juristisch orientierte Verwaltungslehren (vgl. u. a. Thieme 1967, 4. Aufl. 1984; Püttner 1982; Mattern 1982). Hier geht es vorrangig um eine Beschreibung und Erläuterung der bundesdeutschen Verwaltung, orientiert an normativen und formalen Kriterien des Aufbaus und der Funktionen, oft ausgerichtet auf den Bedarf der internen Fachhochschulen. Dabei „steht weitgehend der Gesichtspunkt der präskriptiven Verwaltungslehre im Vordergrund, d. h. der Versuch, Regeln aufzustellen, die für das Verwaltungshandeln maßgeblich sein sollen“ (Thieme 1984, S. 6). Interessant ist, dass der Bereich der „Lehren“ eindeutig von Juristen belegt ist. Der Versuch, eine sowohl rechts- wie sozialwissenschaftlich inspirierte Kunst- oder Praxislehre der Verwaltung in Anlehnung an die amerikanische Public Administration zu etablieren, wie er von Morstein-Marx unternommen wurde, blieb weitgehend folgenlos (siehe Becker 1989, Schuppert 2000, König 2008, 2015). Ähnliches gilt für eine moderne, integrierte ‚Staatswissenschaft‘, wie verschiedentlich von Schuppert vorgeschlagen (Schuppert 2003, 2018). Dies hat sicherlich damit zu tun, dass die empirische Beschäftigung mit der Verwaltung sich sehr schnell differenzierte und spezialisierte, und seit den siebziger Jahren einen solchen Zuwachs zu verzeichnen hat, dass sie mit Recht zu den produktivsten Bereichen der deutschen Politikwissenschaft gerechnet wird. Damit wird die Zusammenfassung in einer einheitlichen Staatswissenschaft immer schwieriger.
2.2.4 Neuorientierung zu Beginn der siebziger Jahre: Verwaltungswissenschaft als Teil der Politikwissenschaft Wie geschildert, blieb das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Primat der juristischen Betrachtungsweise der öffentlichen Verwaltung sowohl im Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus als auch beim Aufbau der Bundesrepublik weitgehend erhalten. Erst in den sechziger Jahren entwickelte sich ein intensives sozialwissenschaftliches Interesse an der öffentlichen Verwaltung. Die Neuorientierung in der Politikwissenschaft wurde sowohl 27
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durch Veränderungen der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik Ende der sechziger Jahre (Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, Regierungswechsel zur sozial-liberalen Koalition, Aufbau von Planungs- und Entscheidungssystemen, Territorial- und Funktionalreformen, Reform der Ministerialorganisation) als auch durch die Aufarbeitung der US-amerikanischen verwaltungswissenschaftlichen Diskussion angestoßen. Eine wichtige Rolle spielten dabei zurückgekehrte Emigranten (wie Fritz Morstein-Marx) und nicht zuletzt die Erfahrungen, die junge Politologen während ihrer Studienaufenthalte in den USA gemacht hatten (etwa Fritz W. Scharpf oder Frieder Naschold). Tatsächlich ist die moderne Verwaltungswissenschaft in Deutschland – wie offenkundig auch die moderne Politikwissenschaft und Managementlehre – zunächst auch ein Kind der USA.
2.2.4.1 Ausländische Inspirationen Die moderne Verwaltungswissenschaft wurde in den USA erfunden, und die Geschichte der amerikanischen Verwaltungswissenschaft von ihren Anfängen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ist eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte. Sie beginnt mit dem Erscheinen des Aufsatzes „The Study of Administration“ von Woodrow Wilson, dem späteren amerikanischen Präsidenten, im zweiten Jahrgang der gerade gegründeten American Political Science Review (1887). Von Anfang an war die amerikanische Verwaltungswissenschaft damit Teil der Politikwissenschaft. Sie war progressive Reformwissenschaft mit dem Ziel, das politische System – gekennzeichnet durch weitverbreitete Korruption und das berüchtigte „Spoils System“, also die Vergabe administrativer Posten an politische Gefolgsleute und damit das Fehlen eines professionellen Regierungsapparates – gründlich zu erneuern. Von entscheidender Bedeutung war dabei die von Wilson als erstem formulierte Doktrin von der notwendigen Trennung von „Politics“ und „Administration“, von Politik und Verwaltung (die sog. politics-administration-dichotomy). Die Kernthese besagt, dass es eigene, von der Politik unabhängige Rationalitätskriterien für administratives Handeln gibt, dass diese identifiziert, gelehrt und gelernt werden können, und es daher notwendig sei, einen auf professioneller Ausbildung beruhenden, von direkten politischen Einflüssen unabhängigen Regierungsapparat zu schaffen. Im Kern ist dies eine sehr ähnliche These, wie die etwas später in Deutschland von Max Weber entwickelte Bürokratietheorie. Beide beschäftigen sich mit der Trennung von Politik und Verwaltung, aber während es Wilson darum geht, die professionelle Verwaltung vor ‚sachfremden‘ politischen Einflüssen zu schützen, geht es Weber umgekehrt darum, Politik vor einer übermächtigen Bürokratie zu bewahren (Overeem 2012). Weber ging es um eine Herrschaftstheorie und um die besondere Bedeutung der Verwaltung in der modernen legal-rationalen
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Herrschaftsform, die er mit den Begriff Bürokratie kennzeichnete (Weber 2002, zuerst 1922). Tatsächlich wurde Weber nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in den USA „wiederentdeckt“, bevor er über diesen Umweg dann auch wiederum in Deutschland zu einem Klassiker wurde (siehe ausführlich 4.1 und 4.4). Das Programm der amerikanischen Public Administration Bewegung war – zumindest in den USA – von überwältigendem Erfolg gekrönt. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Verwaltungswissenschaft die Königin der Politikwissenschaft. Es gab eine Vielzahl neuer Ausbildungsgänge, Forschungs- und Beratungsinstitute (die berühmte Brookings-Institution stammt aus dieser Zeit) und durch Vertreter des Fachs Public Administration11 dominierte Regierungskommissionen. Nachdem zunächst Regierungs- und Verwaltungsreformen, d. h. eine Verwaltung frei von politischer Korruption und Misswirtschaft, im Vordergrund standen, trat in den 1920er Jahren eine weitere wichtige Inspirationsquelle hinzu, nämlich Scientific Management, die wissenschaftliche Untersuchung der Steuerung und Koordination von Arbeitsabläufen in Großorganisationen, wie sie vor allem mit den Namen Taylor und Fayol verbunden wird. Zentraler Ansatzpunkt waren hier die organisatorischen Voraussetzungen von Effizienz, wie sie in großen Industriebetrieben beobachtet wurden. Zentrale Merkmale sind Arbeitsteilung, Spezialisierung und gleichzeitig Koordination und Hierarchie, mit Konzepten wie Stab- und Linienorganisation, Kontrollspanne, Arbeitsteilung nach Zweck, Prozess, Ort oder Klientel usw. (Gulick/Urwick 1937). Empfehlungen wurden induktiv durch Beobachtungen in Großbetrieben gewonnen und dann auf andere Organisationen, nicht zuletzt die Verwaltung, übertragen. Der Scientific Management Bewegung ging es, ähnlich wie Public Administration, um die Begrenzung, wenn nicht Abschaffung willkürlicher und dysfunktionaler Herrschaft und Steuerung in Großorganisationen. Prestige erhielt die Bewegung durch ihre „wissenschaftliche“ Methode, nämlich durch Beobachtung gewonnene „allgemeine Prinzipien“. Die Bewegung des Scientific Management nahm nicht nur maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Verwaltungswissenschaft, sondern wurde auch eine der entscheidenden Inspirationsquellen der modernen Managementlehre. Als wichtige erste Sammlung der Klassiker des modernen Managements gilt noch heute der Band „Papers on the Science of Administration“ von Gulick und Urwick aus dem Jahr 1937, eine Materialsammlung des Brownlow-Committee, einer hochkarätigen von Präsident Roosevelt eingesetzten Regierungskommission zur Reform 11 In Übereinstimmung mit den internationalen Gepflogenheiten ist mit Public Administration (großgeschrieben) immer die wissenschaftliche Beschäftigung und Disziplin gemeint, wird der Begriff klein geschrieben, geht es um den Gegenstand, also die öffentliche Verwaltung. 29
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der amerikanischen Bundesverwaltung. In diesem für die öffentliche Verwaltung erstellten Band findet sich die erste Liste allgemeiner Management-Funktionen, das berühmt-berüchtigte Akronym POSDCORB. Unterschieden werden folgende Teilaufgaben, die in jeder größeren Organisation zu erledigen sind (vgl. etwa Steinmann/Schreyögg 1993, S. 8): • Planning, das Nachdenken darüber, was erreicht werden soll und wie es am besten erreicht werden kann, • Organizing, die Errichtung einer formalen Autoritätsstruktur, die Arbeitseinheiten bildet, definiert und im Hinblick auf das Gesamtziel koordiniert, • Staffing, die Anwerbung, Schulung und der Einsatz von Personal und die Gewährleistung adäquater Arbeitsbedingungen, • Directing, das fortlaufende Treffen von Einzelentscheidungen und ihre Umsetzung in fallweise oder generelle Anweisungen, • Coordinating, die Verknüpfung der verschiedenen Teile des Arbeitsprozesses, • Reporting, die Information – an Vorgesetzte und Untergebene – über die Entwicklung des Aufgabenvollzugs, • Budgeting, die Zuweisung und Kontrolle von Finanzmitteln. Bis heute lassen sich alle Listen von Managementfunktion, verstanden als Komplexe von Steuerungsaufgaben, die bei der Leistungserstellung und -sicherung in hoch-arbeitsteiligen Systemen erbracht werden müssen, auf diese Liste zurückführen – so auch der klassische Viererkanon von Planung, Organisation, Führung und Kontrolle. Scientific Management ist daher sowohl Ursprung der sich seit den zwanziger Jahren explosiv entwickelnden modernen Managementlehre des privaten Sektors, als auch die zweite wichtige Inspirationsquelle der klassischen angelsächsischen Verwaltungswissenschaft. Mit ihren beiden Quellen in der politischen und der wissenschaftlichen Reformbewegung befand sich Public Administration damit auf der „richtigen Seite“ sowohl der normativen wie der wissenschaftlichen Kontroversen dieser Zeit. Es gab lange Zeit keine ernstzunehmende politische oder wissenschaftliche Position, die die Grundannahmen des Ansatzes, die Notwendigkeit hierarchischer und bürokratischer Steuerung und die Trennung von Politik und Verwaltung, grundsätzlich infrage stellte. Das Ergebnis war ein beneidenswertes Prestige und ein erheblicher politischer Einfluss der klassischen Verwaltungswissenschaft, z. B. bei Fragen der Verwaltungsausbildung und der Regierungsorganisation. Diese Dominanz der klassischen Verwaltungswissenschaft endete in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Grund dafür war Kritik aus zwei sehr unterschiedlichen Lagern – zum einen durch jüngere, empirisch orientierte Wissenschaftler, zum anderen ältere Praktiker –, die auch für die heutige Diskussion relevant ist.
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Zum einen wurde von dem späteren Nobelpreisträger für Ökonomie Herbert Simon, der ursprünglich Verwaltungswissenschaftler war, die präskriptiven Aussagen der Public Administration, die allgemeinen Prinzipien, kritisiert (Simon 1947). Sie gingen von falschen Prämissen aus und würden sich überdies noch widersprechen, seien also nur „Proverbs of Administration“, die berühmten Sprichworte der Verwaltung. Sie seien nicht wie behauptet universell anwendbar, wissenschaftlich formuliert und aus Erfahrung gewonnen, sondern stattdessen kulturbedingt, normativ und kontextabhängig. Eine weitere Kritik kam aus der Ecke erfahrener Praktiker, zum größten Teil Professoren der Public Administration, die während des Krieges und des New Deal Gelegenheit hatten, praktische Erfahrungen in der Verwaltung zu sammeln. Hier war die zentrale These, die grundsätzliche Politics/Administration Dichotomie sei aus Sicht der praktischen Erfahrung unhaltbar. Symptomatisch für diese Richtung eines „neuen Realismus“ waren auch deutsche Emigranten wie Carl-Joachim Friedrich und Fritz Morstein-Marx. Beide argumentierten, öffentliche Verwaltung könne nicht anhand abstrakter Prinzipien verstanden werden, sondern nur im Kontext politischer Institutionen und spezieller Politikfelder. Genau aus dieser Kritik heraus entwickelte sich dann seit den sechziger Jahren in den USA die Public-Policy Bewegung (vgl. Jann 1987), die die Dominanz der klassischen Public Administration Programme beendete, und diese Bewegung wurde wiederum Hauptinspirator der sich neu entwickelnden deutschen Verwaltungswissenschaft.
2.2.4.2 Verwaltung im Politisch-Administrativen System Auch in Deutschland herrschte traditionell ein instrumentelles Verständnis der öffentlichen Verwaltung, d. h. Verwaltung wurde nicht als relevanter, eigenständiger Akteur gesehen und analysiert, sondern als weitgehend willensloses, neutrales Instrument. Begründet war dieses Verständnis zum einen in der traditionellen, normativen juristischen Sichtweise, nach der Verwaltung im Prinzip nichts anderes als die Ausführung von Recht und Gesetz ist und vor allem auch sein soll. Zum anderen wurde aber auch die Bürokratietheorie von Max Weber in diese Richtung interpretiert (siehe ausführlich 4.1). Die Bürokratie ist nach Weber, als Idealtyp, die formal rationalste Form der Herrschaft, ihre klassischen Merkmale der Arbeitsteilung, klaren Zuständigkeiten, Schriftlichkeit, Weisung, Regelgebundenheit und der Unabhängigkeit eines so sozialisierten Beamtenstandes sorgen nach dieser Auffassung dafür, dass Verwaltung nicht als eigenständiger Akteur der Politik ins Blickfeld geriet. Auch hier gab es also zumindest implizit die Vorstellung einer klaren Trennung zwischen Politik und Verwaltung. 31
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In den sechziger Jahren wurde dieses Verständnis auch in Deutschland zunehmend infrage gestellt, und zwar von Seiten der Politikwissenschaft. Der Beitrag von Thomas Ellwein wurde bereits erwähnt, und zur gleichen Zeit entwickelte Rolf Richard Grauhan zwei einfache Modelle der Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung, nämlich der legislatorischen Programmsteuerung und der exekutiven Führerschaft (Grauhan 1969). Nach diesen Modellen sollte und kann Verwaltung entweder durch Gesetze oder durch politisch gewählte Verwaltungschefs demokratisch gesteuert werden. Heute spricht man von der parlamentarischen Steuerungskette, die entweder legislativ (Parlament-Gesetz-Verwaltung) oder exekutiv (Parlament-Regierung-Verwaltung) ausgeprägt sein kann, bei der letztendlich aber immer der Souverän, das Volk, durch das Parlament – über die dort beschlossenen Gesetze und/oder die dort legitimierte Regierung – die Verwaltung steuert und kontrolliert. Grauhan wies als erster explizit darauf hin, dass diese Modelle zwar normativ außerordentlich attraktiv sind, da sie sowohl mit der klassischen Bürokratie- wie Demokratietheorie übereinstimmen, dass sie aber leider empirisch überaus fraglich seien. Die Rolle der Verwaltung in Politikformulierung und -umsetzung sei eben nicht rein instrumentell, und es gäbe daher auch empirisch keine klare Trennung zwischen Politik und Verwaltung. Auf die Tagesordnung geriet so endgültig die Frage nach der Rolle der öffentlichen Verwaltung bei der Definition und Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme. Anfang der 1970er Jahre kam es daher in Deutschland, beeinflusst von den amerikanischen Entwicklungen im Bereich der Policy-Forschung, zu dem anspruchsvollen Versuch, Verwaltungswissenschaft als Teil der Politikwissenschaft neu zu etablieren und konzipieren und auf die beiden großen Fragen der Problemlösungsfähigkeit (d. h. der Informationsverarbeitungs- und Konfliktlösungskapazität) und der politischen Rolle der Verwaltung zu konzentrieren. Beide Aspekte wurden von einer sich neu formierenden empirischen Politikwissenschaft aufgegriffen und miteinander verknüpft, während die klassischen Fragen der Effizienz und der Legalität der Verwaltung jeweils weitgehend den „Spezialwissenschaften“ Jura und Ökonomie überlassen blieben (siehe unten 2.4). Angestoßen wurde dies vor allem durch Fritz Scharpf, der 1971 in einem Referat auf dem Kongress der „Schweizer Vereinigung für Politische Wissenschaft“ programmatisch eine Verwaltungswissenschaft als Teil der Politikwissenschaft forderte (Scharpf 1973b, vgl. auch Narr/Naschold 1971). Diese These war weniger gegen die übrigen Verwaltungswissenschaften gerichtet, etwa um ihnen ein Teil ihres Arbeitsgebietes zu bestreiten, sondern als Provokation gegen die Politikwissenschaft selbst, die einen solchen Anspruch bis dato kaum erhoben, geschweige denn eingelöst hatte. Für Scharpf war die Frage nach den Möglichkeiten problemadäquater politisch-administrativer Strukturen, Prozesse und Entscheidungen
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unter modernen Bedingungen der übergreifende Bezugsrahmen und das zentrale Forschungsthema einer policy-orientierten Politikwissenschaft und damit auch aller Verwaltungswissenschaften (siehe oben 2.1). Ausgehend von dem Befund, dass Politik als Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme und als aktive Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse immer schwieriger wird, kam der Frage nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen politischer Steuerung verstärktes Interesse zu, und in diesem Zusammenhang geriet der administrative Apparat, der Politik unterstützen und Gesetze durchführen soll, zunehmend in das empirische Aufmerksamkeitsfeld. Hier wird die zentrale Fragestellung Policy-Forschung, für die damals auch der deutsche Begriff der Politikfeldanalyse erfunden wurde, noch einmal deutlich, nämlich wie gesellschaftliche Probleme durch Politik und Verwaltung bearbeitet, bewältigt und – so würde man heute ergänzen – gelegentlich auch mit verursacht werden. Nach Scharpf sind politische Problemlösungsprozesse immer Informationsverarbeitungsprozesse und Interaktionsprozesse zwischen unterschiedlichen Akteuren mit unterschiedlichen Informationen, Weltsichten, Interessen und Machtpotenzialen. Hatte die Politikwissenschaft bis dato vor allem letzteres untersucht, also Konflikte und Machtprozesse, sollte nun der Blick auch auf die Selektivitäten von Informationsverarbeitungsprozessen geöffnet werden (vgl. auch Ronge/Schmieg 1973). Da Informationsverarbeitungsprozesse vor allem in der Verwaltung ablaufen, müsse Politikwissenschaft die Tätigkeiten der Verwaltung in ihren Forschungsbereich miteinbeziehen und den Entscheidungsbeitrag der Bürokratie auf den unterschiedlichsten Ebenen und Bereichen untersuchen, und dabei auch ihre Rolle bei der Konfliktlösung und Konsensbildung (Scharpf 1973b, S. 22). Die herausragende Bedeutung der Verwaltung ergibt sich aus der bereits zitierten plausiblen Vermutung, dass in einem modernen, hoch-komplexen und differenzierten öffentlichen Sektor die „Politik“ mit ihren Institutionen in Regierungen, Parlamenten und Parteien nur einen kleinen Teil der insgesamt produzierten Entscheidungen bestimmen kann. Sämtliche Entscheidungen werden in der Verwaltung vorbereitet, ein großer Teil erreicht nie die Aufmerksamkeit der politisch Verantwortlichen, und gleichzeitig ist die Verwaltung auch für die Durchführung politischer Programme zuständig. In der Folgezeit konzentrierte sich die verwaltungswissenschaftliche Diskussion in der Politikwissenschaft daher zunächst auf den administrativen Beitrag zum policy making. Erkenntnisobjekt der Verwaltungswissenschaft wurde das politisch-administrative System (PAS). Damit wird schon begrifflich Abschied von der normativen Trennung von Politik und Verwaltung genommen und stattdessen die Verflechtung von Politik und Verwaltung weitgehend vorausgesetzt (dazu grundsätzlich Grauhan 1969 und Offe 1972; vgl. Jann 1998a, S. 52; Bogumil 2001, S. 117ff.). Hier wird nicht nur mit der amerikanischen Tradition der Public Administration 33
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gebrochen, sondern auch mit den idealistischen Vorstellungen der traditionellen Gewaltenteilungslehre in der Politikwissenschaft. Verwaltung ist nach diesem Verständnis immer im policy making involviert. Allein aus Informationsverarbeitungsgründen ist man im politischen Prozess darauf angewiesen, dass Verwaltungen Informationen sammeln, Probleme identifizieren, Handlungsalternativen entwickeln und Entscheidungen initiieren. Gleichzeitig ist die Verwaltung aber auch immer in Prozesse der Konfliktregelung und Konsensfindung eingebunden. Genau diese Erkenntnisse wurden dann im Laufe der Jahre in einer Vielzahl von Untersuchungen, z. B. in der sog. Planungs- und später Implementationsforschung, empirisch und theoretisch untermauert, z. B. • dass die Verwaltung eine entscheidende Rolle in der Politikformulierung spielt, vor allem in der Vorbereitung von Gesetzen und im Budgetprozess (Stichwörter: Verwaltungsdominanz, reaktive Politik; z. B. Mayntz/Scharpf 1973a), • dass Bürokratien und öffentliche Organisationen nur sehr unvollständig durch Gesetze (legislative Programme) kontrolliert werden können, sondern bei deren Umsetzung über erhebliche politische Handlungsspielräume verfügen (Implementationsforschung und Evaluationsforschung; z. B. Mayntz 1980a, Wollmann 1979), • dass der Verwaltungsapparat seine Entscheidungsprämissen keineswegs allein durch offizielle demokratische Institutionen (also Politiker und Gesetze) bekommt, sondern nicht zuletzt durch intensive Beziehungen mit Interessengruppen, Klienten, Professionen oder natürlich auch durch sein eigenes Personal (Professionalisierung, Korporatismus, administrative Interessenvermittlung; z. B. Lehmbruch 1987, Czada 2000), • dass Politikdurchführung ein eigenständiger politischer Prozess ist, in dem viel mehr verhandelt als direkt angewiesen wird (kooperativer Staat, kooperative Verwaltung; z. B. Benz 1994, Dose 1997), • und dass schließlich die unrealistischen Annahmen einer zentralistischen, mono-rationalistischen, hierarchisch integrierten und gesteuerten öffentlichen Verwaltung aufzugeben sind zu Gunsten einer komplexeren Sichtweise eines durch vielfältige Akteure, Rationalitäten und Netzwerke bestimmten öffentlichen Sektors (siehe insgesamt die Beiträge in Bogumil/Jann/Nullmeier 2006b). Diese Hinwendung der Politikwissenschaft zu Fragen der Entstehung, Durchführung und Wirkung von Politikinhalten, und insbesondere zur Rolle der Verwaltung in diesem Prozess, war durchaus nicht unumstritten (Hartwich 1985), aber im Ergebnis gibt es keinen Zweifel, dass diese Phase der gemeinsamen Entwicklung der Verwaltungs- und Policy-Forschung zu den innovativsten und produktivsten
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35
der Politikwissenschaft der Nachkriegszeit gehört. Allerdings war und ist diese Beziehung nicht immer ganz einfach und hat sich seitdem immer wieder verändert (zusammenfassend Jann 2009, Bauer/Grande 2018).
2.3
Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis: Themen und Schwerpunkte
2.3
Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis
Die Entwicklung der Verwaltungswissenschaft in Deutschland ist eng mit politischen und gesellschaftlichen Veränderungen verbunden. Vermutlich gibt es nur wenige Wissenschaften, bei denen sich die wissenschaftliche Disziplin und ihr Gegenstand ähnlich stark wechselseitig beeinflusst haben, wie dies in Deutschland lange Zeit zwischen verwaltungswissenschaftlicher Forschung, öffentlicher Verwaltung und Verwaltungspolitik der Fall war (zum Wandel verwaltungspolitischer Leitbilder ausführlich Jann 2002, Jann/Wegrich 2010). Sämtliche Sozialwissenschaften beschäftigen sich kritisch mit realen Phänomenen, werden durch diese beeinflusst und beeinflussen durch ihre Konzepte, Erklärungen und Bewertungen wiederum deren Entwicklungen, aber im Bereich der Verwaltungswissenschaft sind diese Beziehungen besonders eng. Gleichzeitig sind es unterschiedliche disziplinäre Zugänge und Interpretationen, die diese Symbiose prägen. Die nächsten Abschnitte sollen dazu eine grobe, sicherlich wiederum sehr vereinfachte Übersicht über die zentralen verwaltungswissenschaftlichen und -politischen Themenzyklen der letzten Jahrzehnte liefern: • In der Nachkriegszeit ging es nach den Erfahrungen der Nazi-Diktatur vorrangig um die Etablierung einer demokratischen, rechtsstaatlichen Verwaltung, • in den sechziger und siebziger Jahren dann vorrangig um Planung und Verwaltungsreform, um die Rolle der Verwaltung im keynesianischen Interventionsstaat, • danach nahmen Skepsis und Desillusionierung zu, wurden Vollzug und Wirkung von Politik problematisiert, Konzepte des Staats- oder zumindest Bürokratieversagens wurden populär, und das Interesse richtete sich auf Fragen der Verwaltungsvereinfachung, der Entstaatlichung und Privatisierung, • Ende der neunziger Jahre gerieten Fragen der Interdependenzen zwischen Zivilgesellschaft, Privatsektor und Verwaltung zunehmend in das Aufmerksamkeitsfeld und schließlich • wird seit Mitte der 2000er Jahre zunehmend über die Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen und Vorstellungen eines Open Government diskutiert. Zudem 35
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intensivieren sich die Diskussionen um Europäisierung und Internationalierung der Verwaltung. Deutlich wird, dass es bei diesen thematischen Schüben der Verwaltungsforschung nicht in erster Linie um wissenschaftliche, sondern um politische Themenkonjunkturen ging. Die wichtigsten Forschungsfragen ergaben sich nicht aus einem theoretischen Forschungsprogramm, sondern kamen aus der politischen und administrativen Praxis, nicht zuletzt angeregt (und oft finanziert) durch wichtige Regierungskommissionen und -gutachten. Im Folgenden soll diese gegenseitige Entwicklung von praktischen Fragen und theoretischen Antworten (Jann 2009) kurz nacherzählt und bis in die Gegenwart fortgeführt werden. Eine detailliertere Übersicht über die konkreten in diesen Phasen angestoßenen Verwaltungsreformen und deren Ergebnisse liefern unten die verschiedenen Abschnitte des 5. Kapitels.
2.3.1 Bürokratie und Rechtsstaat Zunächst ist einleuchtend, warum in der Nachkriegsphase bis etwa Mitte der sechziger Jahre die klassische, hierarchische, instrumentelle Sicht der Verwaltung kaum infrage gestellt wurde. Für die Etablierung eines funktionierenden Parlamentarismus und einer pluralistischen Demokratie galt eine klassische Verwaltung und Bürokratie im Sinne Max Webers nicht als Hindernis, sondern man sah darin eine wesentliche Voraussetzung des demokratischen Rechtsstaats – wobei die Steuerungskonzepte der „legislativen Programmsteuerung“ und der „exekutiven Führerschaft“ (s. o., Grauhan 1969) das Zusammenwirken einer hierarchischen Verwaltung mit Parlamentarismus und Demokratie regeln sollten. Der öffentlichen Verwaltung kommt in diesem Verständnis im Wesentlichen die Rolle eines „Vollzugsagenten“ für die Umsetzung von Entscheidungen zu, die durch demokratisch legitimierte Instanzen, also Parlamente und Regierungen, getroffen werden. Damit verbunden ist ein hierarchischer Steuerungsmodus, d. h. einerseits ist die Verwaltung „der Politik“ hierarchisch unterstellt und an die Vorgaben (z. B. den Gesetzesauftrag) gebunden. Anderseits ist die Verwaltung selbst hierarchisch aufgebaut, um überhaupt eine Steuerung nachgeordneter Verwaltungseinheiten entsprechend demokratisch legitimierter Entscheidungen zu ermöglichen. Hierarchie und Recht waren damit die klassischen, prinzipiell nicht hinterfragten Steuerungsinstrumente dieses Verwaltungsmodells. Die wichtigste verwaltungspolitische Disziplin dieser Zeit war das Verwaltungsrecht, die umfassende Gewährleistung verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes das erste Ziel. Dieses verwaltungspolitische Leitbild wurde durch eine graduell anwachsende Anerkennung der politischen Funktionen der Verwal-
2.3 Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis
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tung, z. B. der politischen Beamten, ergänzt. Zentrales Ziel war eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Verwaltung.
2.3.2 Policy-Forschung und aktiver Staat Erst ab Mitte der sechziger Jahre rückten veränderte Problemsichten – insbesondere Steuerungsprobleme des modernen Interventions- und Wohlfahrtsstaates – zunehmend in den Vordergrund und gipfelten im neuen Leitbildes des „aktiven Staates“. Entscheidend dafür war nicht nur der steigende Steuerungsbedarf, wie er am ständigen Anwachsen des staatlichen Aufgabenbestandes sichtbar wurde, sondern auch ein zunehmender Optimismus bezüglich der Möglichkeiten des Staates, umfassend und nachhaltig in gesellschaftliche Entwicklungen einzugreifen. Ausgangspunkt war das Konzept des „Marktversagens“, das durch staatliche Interventionen verhindert oder korrigiert werden sollte. Inspiriert durch ökonomische Konzepte der keynesianischen Globalsteuerung und rationalistische Planungsansätze – wie das PPBS aus den USA (Planning-Programming-Budgeting-System) – entwickelte sich eine Planungsdiskussion, die zunächst von konservativer Seite angestoßen, aber in der Folgezeit weitgehend von sozialdemokratischer Seite dominiert wurde und zeitweise in einer regelrechten „Planungseuphorie“ kulmilierte. Die politikwissenschaftlich inspirierte Verwaltungswissenschaft entwickelte sich dabei seit den siebziger Jahren in Verbindung mit den Konzepten eines aktiven Staates oder einer aktiven Politik (Mayntz/Scharpf 1973b) zunehmend in Richtung einer auf Voraussetzungen und Folgen der politischen Problemverarbeitung spezialisierten Steuerungswissenschaft. Das zentrale Schlagwort wurde politische Planung (Ronge/Schmieg 1973, Naschold/Väth 1973). Damit wurde letztendlich das bereits in den sechziger Jahren von Hennis formulierte Programm einer modernen Regierungslehre aufgenommen, die sich der Frage widmen sollte, wie unter der Herausforderung moderner Staatsaufgaben das Geschäft der Lenkung, Führung und Koordination eines Gemeinwesens besorgt werden kann (siehe 2.2.3.2). Gefragt wurde jetzt tatsächlich: Wie gewinnt ein Staat Handlungsfähigkeit, wie organisiert er seine Arbeit, welches sind die optimalen Instrumente zur Erfüllung seiner Aufgaben? Die klassische Politikwissenschaft hatte, wie bereits argumentiert, diese Herausforderung ignoriert und sich auf die Inputs des politischen Systems (Wahlen, Parteien, Interessengruppen etc.) konzentriert, aber die Policy-Forschung nahm die Herausforderungen an. Ausgangspunkt waren dabei spezifische Policies, also Politikinhalte in den unterschiedlichsten Politikfeldern (Umwelt, Arbeitsmarkt, Gesundheit etc.), deren Zustandekommen und zunehmend auch deren problema37
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tische Umsetzung und Wirkung untersucht wurde (Politikformulierung, Implementierung und Evaluierung). Die Verbindungen zu den politischen Diskussionen dieser Zeit und zur Verwaltungspraxis sind offenkundig. Dies ist die Zeit des optimistischen Ausbaus eines modernen Wohlfahrts- und Interventionsstaates, und dabei gerieten zunächst die internen Probleme und Voraussetzungen staatlicher Steuerung – also Strukturen und Prozesse insbesondere der Ministerialverwaltung, aber z. B. auch die Organisation und der territoriale Zuschnitt der Kommunalverwaltung – in die Aufmerksamkeit der Politik und damit auch der Wissenschaft. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform der Bundesregierung (1968–1975) aber auch eine ganze Reihe weiterer Reformkommissionen (siehe ausführlich 5.2.1 unten). Es ging nach dem ökonomischen Abschwung im Gefolge der steigenden Energiepreise (Ölpreisschock) Mitte der siebziger Jahre zunehmend darum zu verstehen, warum so viele der Reformvorhaben scheitern, oder zumindest intendierte Ziele nicht erreicht wurden. Entdeckt wurden so „Vollzugsdefizite“, etwa – auch damals schon – in der Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik. Die politikwissenschaftliche Verwaltungswissenschaft entwickelte sich dabei allerdings – genau wie ihr amerikanisches Vorbild – von einer auf Public Administration, also Organisationsfragen, zu einer vorrangig auf Public Policies, also auf Fragen der Voraussetzungen und Folgen politischer Problemverarbeitung fokussierten Wissenschaft. Während die Erneuerung der amerikanischen Verwaltungswissenschaft in den siebziger und achtziger Jahren nicht in den klassischen Public Administration Programmen vor sich ging, sondern in neu geschaffenen Schools of Public Policy (ausführlich Jann 1987), gab es in Deutschland dafür keinen adäquaten Begriff. Man benutzte bei uns den Terminus „Verwaltungswissenschaft“, beschäftigte sich aber zunehmend mehr mit Policies, mit der Entstehung und Durchführung staatlicher Politikinhalte, und weniger mit Administration. Am Anfang standen zwar Fragen der „intelligenten“ Planung und Formulierung politischer Programme im Vordergrund (Planungsorganisation), aber mit den Erfahrungen des Scheiterns anspruchsvoller politischer Programme gerieten Schwierigkeiten der Durchführung und Wirkung politischer Programme in den Vordergrund, insbesondere im Rahmen der Implementationsforschung. Die Forschung differenzierte sich dabei schnell aus in unterschiedliche Politikfelder und vernachlässigte klassische Organisations-, Struktur- und Personalfragen des öffentlichen Sektors. Gleichzeitig entwickelte sich die Policy-Forschung von einer zunächst eher Top-down, staatsfixierten Perspektive, der es vorrangig um die Erhöhung der Steuerungsfähigkeit des politisch-administrativen Systems ging, also um das „Intelligenter-Machen des Apparats“ im Rahmen der Politikformulierung und später der -durchführung, zu einer gesamtgesellschaftlichen Steuerungstheorie, die
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zunehmend die Steuerbarkeit der gesellschaftlichen Subsysteme problematisierte, also eine Bottom-up-Perspektive annahm. Es wurde Abschied genommen von einer Staatsvorstellung, in der der Staat für das gesellschaftliche Regelungszentrum steht (vgl. ausführlich Mayntz 1996, S. 148ff.). Aufgrund einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen in den unterschiedlichsten Politikfeldern wurde das Leitkonzept der hierarchischen staatlichen Steuerung zunehmend infrage gestellt. Das Interesse richtete sich auf eine gesellschaftliche Steuerungstheorie, bei der weniger Merkmale des Steuerungssubjekts „Staat“, also Regierung und Verwaltung, sondern vielmehr Charakteristika der Steuerungsobjekte, also der gesellschaftlichen Teilsysteme und deren Selbstregulierung, sowie deren gegenseitige Verflechtung und Beeinflussung im Vordergrund standen. Die Steuerungstheorie versuchte dabei, die in gesellschaftlichen Teilbereichen vorhandene Eigendynamik zu erkunden und die Möglichkeiten und Grenzen politischer Einflussnahme zu analysieren. Dabei konzentrierte man sich vor allem auf Politiknetzwerke und Verhandlungssysteme als Instrumente politischer Steuerung. Die interne Organisation des politisch-administrativen Systems wurde zunehmend uninteressant. Die Binnenstruktur der gesellschaftlichen Subsysteme wurde wichtiger als die Binnenstruktur des Staates. Die Policy-Forschung, die als verwaltungswissenschaftlicher Teil der Politikwissenschaft gestartet war, verlor so zunehmend die Verwaltung und den Staatsapparat als Forschungsgegenstand aus den Augen. Ein Ergebnis dieser Entwicklung waren die vor allem am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln entwickelten Theorien staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregelung und des akteurzentrierten Institutionalismus (Mayntz/Scharpf 1995, Scharpf 2000). Dieser erklärt das politische Geschehen aus dem Zusammenspiel institutioneller Regeln und zielgerichtetem Akteurhandeln. Mit diesem Ansatz, eher eine Forschungsheuristik als eine Theorie, sollte die Untersuchung von Steuerung und Selbstorganisation auf der Ebene ganzer gesellschaftlicher Teilbereiche möglich werden, also etwa dem Gesundheitswesen, Verkehrssektor oder Bildungssystem.
2.3.3 New Public Management und schlanker Staat Da die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung die Steuerungsfähigkeit und die internen Strukturen und Prozesse des politisch-administrativen Apparats zunehmend ignorierte, wurde diese Lücke in den neunziger Jahren von einer betriebswirtschaftlich inspirierten Managementlehre gefüllt (zu Entstehung, Konzept und Implementation des New Public Management vgl. ausführlich 5.2.4). Umgangssprachlich ist Management im angelsächsischen „the organization and 39
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direction of ressources to achieve a desired result“ und auch in der deutschen Betriebswirtschaftslehre meint Management den Komplex von Aufgaben, die zur Steuerung eines Systems erfüllt werden müssen, oder genauer, Steuerungsaufgaben, die zur Leistungserstellung und -sicherung in arbeitsteiligen Systemen notwendig sind (funktionaler Begriff). Management kann daher als zielorientierte Steuerung aufgefasst werden, als die Gestaltung und Lenkung von Organisationen, um diese und ihre Mitglieder auf bestimmte Ziele und Ergebnisse auszurichten. Im Deutschen spricht man in diesem Zusammenhang traditionell von Führung und Lenkung, und Manager sind daher zunächst nichts anderes als Führungskräfte (als Überblick Naschold/Bogumil 2000, Jann/Röber/Wollmann 2006, Schedler/Proeller 2011). Man tut der modernen Managementlehre und ihrem auf den öffentlichen Sektor bezogenen Ableger des Public Management daher sicherlich nicht unrecht, wenn man sie als die Lehre von der internen Steuerung komplexer Organisationen oder Organisationsnetzwerke bezeichnet. Interne Steuerung bedeutet dabei keineswegs, dass Management keine Außenbeziehungen aufweist – ganz im Gegenteil. Damit soll nur unterstrichen werden, dass die internen Strukturen und Prozesse der jeweiligen Organisation oder des jeweiligen Systems das zentrale Erkenntnis- und Steuerungsobjekt sind, und nicht externe Individuen, Organisationen oder Systeme, wie im Bereich der Policy-Forschung. Gleichzeitig ist offenkundig, dass die Managementlehre, wie alle anderen Lehren (Staatslehre, Regierungslehre, Verwaltungslehre und insbesondere Betriebswirtschaftslehre) einen starken normativen und präskriptiven Bezug aufweist, denn Ausgangspunkt sind praktische Probleme der Führung und Lenkung in Organisationen. Damit ist die Managementlehre eine problembezogene, angewandte Wissenschaft, wie etwa auch die Ingenieurwissenschaften oder die Medizin. Dies impliziert keineswegs, dass sie unwissenschaftlich ist. Sie sollte allerdings ihre normativen Empfehlungen so formulieren, dass deren theoretische Begründungen und/oder empirische Auswirkungen intersubjektiv nachprüfbar werden. Dies ist nicht immer der Fall, aber darin unterscheidet sie sich nicht entscheidend von anderen Sozialwissenschaften. Im Prinzip gab es über die für die deutsche Verwaltung adäquaten neuen Steuerungs- oder Managementinstrumente schnell einen weitgehenden Konsens. Das „Neue Steuerungsmodell“ (NSM) verbreitete sich „wie ein Buschfeuer“ als deutsche Variante des New Public Management (Reichard 1996, zusammenfassend Bogumil 2017, Jann 2019). Auch hier sind Parallelen zur politischen und praktischen Diskussion offenkundig, insbesondere zum neuen verwaltungspolitischen Leitbild des „Schlanken Staats“, das wiederum eng verflochten war mit der international bereits Mitte der siebziger Jahre und in Deutschland etwas später aufkommenden neo-liberalen
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Staatskritik. Diese sah als zentrales Problem sozio-ökonomischen Fortschritts nicht Marktversagen (wie in der Phase der aktiven Politik), sondern im Gegenteil Staats- und Bürokratieversagen. International verkörperten Thatcherism (seit 1979) und Reagonomics (seit 1980) diesen Themenwechsel. Eng damit verflochten und damit auch ein wichtiger Grund für den Bedeutungszuwachs der ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Sichtweise und der intensiveren Suche nach Effektivitäts- und Effizienzverbesserungen, war der abnehmende finanzielle Spielraum, in Deutschland vor allem auch im Gefolge der deutschen Einheit. Dabei wurde Bürokratisierung der Sammelbegriff für vielfältige Kritik am modernen Wohlfahrtsstaat. Kritisiert wurden zunehmende Gesetzesflut und Verrechtlichung, die stete Vermehrung staatlicher Aufgaben und damit der Staatsquote, das Wachstum des „bürokratischen Apparats“, die damit einhergehende zunehmende Abhängigkeit der Bürger und privaten Organisationen von staatlicher Verwaltung bis hin zur Entmündigung der Klienten und schließlich die Tendenz zur Verselbständigung der Verwaltung. Die Diskussionen über den schlanken Staat, Lean Government und ähnliche Konzeptionen wurden durch aktuelle Managementkonzepte und -moden des privaten Sektors beeinflusst. Was im privaten Sektor unter Schlagworten wie Lean Management, Lean Production, Outsourcing, Total Quality Management (TQM), Business Process Re-engineering und ähnlichen Rezepten diskutiert wurde, wurde nun versucht auf den öffentlichen Sektor zu übertragen (vgl. grundsätzlich zur Ökonomisierung der öffentlichen Verwaltung Bogumil 2004a). Deutlich wurde dabei aber auch, dass einige dieser Moden – Downsizing, Reengineering, Total Quality Management – nicht nur merkwürdige Partner sind, sondern sich direkt widersprechen. Downsizing geht davon aus, dass Mitarbeiter verzichtbar sind, TQM, dass sie eine unverzichtbare Ressource sind, Re-engineerig beruht auf der Demontage bestehender Organisationen, TQM ist eine Philosophie kontinuierlicher, schrittweiser Verbesserungen. Von daher kam schnell der Vorwurf auf, jetzt würde das Phänomen der ewig-neuen Management-Fads und -Gurus des privaten Sektors unkritisch auf den öffentlichen Sektor übertragen, ein Vorwurf, der nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Nicht zuletzt übertrug New Public Management aber auch neuere theoretische Entwicklungen der Wirtschaftswissenschaften, die unter dem Schlagwort Public Choice zusammengefasst werden (als Überblick Braun 1999), und der Institutionenökonomie (Überblick bei Ebers/Gotsch 2006), wie etwa Property-Rights-, Transaktionskosten-, Principal-Agent- und Vertragstheorien, auf die Steuerungsprobleme des öffentlichen Sektors. Auch wenn diese Ansätze nicht widerspruchsfrei sind, stellen sie ohne Zweifel relevante Fragen an die interne Steuerung der öffentlichen Verwaltung (siehe ausführlich unten 5.2.4). 41
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2.3.4 Governance und aktivierender Staat Schließlich dominierte seit Mitte der neunziger Jahre wiederum ein neues Schlagwort die politik- und verwaltungswissenschaftliche Diskussion, nämlich Governance (grundlegend Benz 2004, Schuppert 2005, Benz/Lütz/Schimank/Simonis 2007, Schuppert/Zürn 2008)12. Auch hier gibt es eine korrespondierende verwaltungspolitische Diskussion, die mit dem Leitbild des aktivierenden Staates verbunden ist. Allerdings spielen auch theoretische Entwicklungen der gesamten Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle. Das Leitbild des „aktivierenden Staats“ war zunächst der Versuch, dem managerialistischen Leitbild des schlanken Staates ein anderes, weniger „neo-liberales“ Konzept entgegenzusetzen. Es entstand Mitte der neunziger Jahre im Umfeld des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder (vgl. Behrens 1995, darin auch ein Beitrag von Schröder). Die Problemsicht dieses Leitbildes betont nicht nur Staats- und Bürokratieversagen, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Restriktionen staatlicher Steuerung (von Bandemer/Hilbert 2005). Nicht allein der Staat soll daher für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zuständig sein, sondern diese sollen, wo immer möglich, an die Zivil- oder Bürgergesellschaft zurückgegeben werden oder zumindest gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteuren bearbeitet werden. Gesellschaften mit hohem Potenzial an Problemlösungskapazitäten verfügen, so ein weiteres zentrales Stichwort, über ein hohes Maß an Sozialkapital. Der „aktivierende Staat“ zielt damit vor allem auf eine programmatische Neubestimmung des Verhältnisses von Staat, Markt und Zivilgesellschaft. Es wird nicht mehr vorrangig vom „Unternehmen Verwaltung“ gesprochen, sondern verstärkt vom „Gewährleistungsstaat“ (vgl. zum Folgenden Jann/Wegrich 2010). Ein zentrales Problem staatlicher Steuerung und Problemlösung wird zunehmend in der Gesellschaft selbst gesehen, es geht also, zugespitzt gesagt, nicht mehr nur um Staatsversagen – sondern auch um „Gesellschaftsversagen“ – und wie dies zu beheben wäre. Um dies an einem Beispiel – sicherlich simplifiziert – zu verdeutlichen: Wenn öffentliche Parks und Spielplätze verwahrlosen, fragt die managerialistische Verwaltungswissenschaft nach Möglichkeiten der Effizienzsteigerung der zuständigen Verwaltung, ggf. auch nach Möglichkeiten der Privatisierung und des Outsourcing der Grünflächenpflege. Der „aktivierende Staat“ problematisiert demgegenüber, inwieweit die Stakeholder dieser öffentlichen Plätze, also Bürgerinnen und Bürger, 12 Die Verwendung des Begriffs Governance ist im Social Science Citation Index, der die wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften und Artikel dokumentiert, zwischen 1990 und 2003 ca. um den Faktor 300 gestiegen (vgl. Jann 2005).
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Vereine, Nachbarschaften, in die Erhaltung öffentlicher Plätze involviert werden können – ausgehend von der einfachen Überlegung, dass soziale Probleme auch durch eine noch so effiziente Verwaltung nicht grundlegend zu lösen sind. Wenn ein Museum oder ein Theater zunehmend rote Zahlen schreibt, soll nicht nur gefragt werden, wie es effizienter zu führen ist, sondern ob und wie gesellschaftliche Akteure in die Unterhaltung einbezogen werden können. Aus dieser Sicht kommt es darauf an, gesellschaftliche Akteure in die Problembewältigung einzubinden, sie zu motivieren und aktivieren, und sie nicht länger von oben herab, top down, zu steuern oder zu versorgen (und damit abhängig zu halten oder gar zu machen, wie dem klassischen Wohlfahrtsstaat vorgehalten wird). Die neuen Ziele lauten – neben Effizienz und Dienstleistungsorientierung, die durchaus weiter gelten sollen – Stärkung von sozialer, politischer und administrativer Kohäsion und Interaktion, von politischer und gesellschaftlicher Beteiligung, von bürgerschaftlichem und politischem Engagement. Es geht nicht mehr nur um Steuerung von oben, oder um ökonomische Anreize, sondern zunehmend um die Regeln und Institutionen, innerhalb derer öffentliche und private Akteure interagieren. Genau hier ergeben sich die Verbindungen zur Governance-Diskussion. Das Konzept wurde zunächst von der Weltbank aufgrund der Erfahrungen der Entwicklungspolitik aufgegriffen (Worldbank 1991) und dann u. a. von der OECD umfassend propagiert (Jann 2005). Das zentrale Element der wissenschaftlichen Diskussion, darauf hat Renate Mayntz verschiedentlich hingewiesen (grundlegend Mayntz 2005, siehe auch die umfassende und informative Übersicht von Schuppert 2007), ist der Übergang von einer akteurszentrierten Steuerungsperspektive, wie dies für die Policy-Forschung und die Steuerungstheorie typisch ist, zu einer institutionalistischen Regelungsperspektive. Bei der Steuerungstheorie steht das handelnde Subjekt im Vordergrund, also etwa der Staat oder konkreter eine bestimmte öffentliche Behörde, bei der Governance-Theorie demgegenüber die Regelungsstruktur. Hintergrund für diese Entwicklung von Steuerung zu Governance ist die Erkenntnis, dass eine zentrale Prämisse der klassischen Steuerungstheorie, nämlich die klare Unterscheidbarkeit von Steuerungssubjekt (etwa Staat, Behörde etc.) und Steuerungsobjekt (etwa Unternehmen, Verband, Bürger) in der Welt des modernen Regierens zunehmend problematisch wird. Governance unterscheidet sich daher vom klassischen verwaltungswissenschaftlichen Konzept der Steuerung, aber auch von Management und Regieren. Während es bei der Management-Perspektive vorrangig um einzelne öffentliche Organisationen geht und eine Binnensicht auf die öffentliche Verwaltung vorherrscht, geht es Governance um das Verhältnis von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und deren Koordination und Kooperation (Jann 2002). Während die klassische Auffassung von Regieren, wie sie auch im Gegensatzpaar von Government und 43
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Governance deutlich wird, sich auf den Staat als Akteur und seine hierarchische Steuerung konzentriert, geht es bei Governance um Regieren als Prozess mit vielen Akteuren und die institutionelle Struktur dieses Prozesses, die Elemente von Hierarchie, Verhandlungssystemen und Wettbewerb miteinander verbindet (Benz 2004). Im Rahmen dieser „institutionalistischen Wende“ wird die Koordination staatlicher und nicht-staatlicher Akteure in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Hervorgehoben werden immer wieder Merkmale wie (Schuppert 2007): • • • •
die Koordination öffentlicher und gesellschaftlicher Akteure, neue Aufgabenteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, Koproduktion öffentlicher Güter, und Verhandlungen und Netzwerke staatlicher und gesellschaftlicher Akteure.
In diesem Zusammenhang kann man einen engeren und einen weiteren Begriff von Governance unterscheiden: • Der enge Begriff bezieht sich nur auf diejenigen Formen der Handlungskoordination, bei denen staatliche Hierarchie durch die Kooperation staatlicher und privater Akteure abgelöst und weitgehend ersetzt wird. Schlagworte sind Verhandlung und Netzwerke. Dies entspricht weitgehend dem normativen Konzept des aktivierenden Staates. • Dem steht ein analytischer, weiterer Governance-Begriff gegenüber, wie er von Renate Mayntz in einer klassischen Formulierung definiert wird: „Governance meint dann das Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handel staatlicher Akteure“ (Mayntz 2004, S. 66). Wenn man in diesem Sinne Governance ganz allgemein als die verschiedenen möglichen Formen kollektiven Handelns in institutionellen Kontexten versteht, werden klassischerweise vier elementare Governanceformen unterschieden, nämlich Hierarchie, Netzwerk, Verhandlung und Wettbewerb (ausführlich Benz 2006). Entscheidend ist auch hier wiederum der Hinweis auf den institutionellen Kontext. Governance bezeichnet vor allem eine Hinwendung zu, oder wenn man so will auch eine Wiederentdeckung der institutionellen Grundlagen gesellschaftlichen Handelns. Entscheidend ist dann die Frage, was eigentlich unter Institutionen verstanden wird.
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Hier ist es hilfreich, auf eine grundlegende Unterscheidung des Soziologen Richard Scott zurückzugreifen, der drei unterschiedliche „Säulen“ von Institutionen unterscheidet (Scott 1995): • eine regulative Säule, die aus den formellen Regeln, Gesetzen, Normen und Verträgen besteht, die man besser einhalten sollte, weil Verstöße in aller Regel durch Macht und Autoritäten sanktioniert werden; • eine normative Säule, bei der es um „angemessenes Verhalten“ geht, also diejenigen Normen und Werte, die kulturell definiert und moralisch unterstützt werden, und bei denen es vor allem um gegenseitige Erwartungen und Pflichten geht; • und schließlich eine kognitive Säule, in der definiert wird, was wir für wahr und selbstverständlich halten, also all die „allgemein anerkannten“ Tatsachen und Vorstellungen, die nicht hinterfragten Annahmen, die unser Zusammenleben durchdringen und strukturieren. Die erste dieser Säulen entspricht weitgehend der klassischen ökonomischen und juristischen Institutionentheorie, die von festen, sanktionierten Regeln ausgeht, die das Handeln von Akteuren strukturieren. Aber es spricht einiges dafür, dass institutionelle Regeln weit darüber hinausgehen. Öffentliche Verwaltungen sind nach dieser Annahme also nicht nur durch formale Regeln strukturiert und gesteuert, sondern auch – und vielleicht in einigen Bereichen viel stärker – durch bestimmte kulturelle Mechanismen und Traditionen, und nicht zuletzt durch das, was allgemein für wahr und richtig gehalten wird. Ähnlich argumentiert die einflussreiche skandinavische Schule der Verwaltungswissenschaft (als Übersicht Jann 2006a), die bei der Analyse öffentlicher Organisationen zwischen einer instrumentellen, kulturellen und „mythischen“ Perspektive unterscheidet ((Christensen/ Laegreid et al. 2020)). Entscheidend ist bei diesen Ansätzen und bei der neuartigen Governance-Perspektive insgesamt, dass die öffentliche Verwaltung und öffentliche Organisationen nicht nur als Akteure, die handeln, sondern gerade auch als Institutionen, die wirken, wahrgenommen werden.
2.3.5 What’s Next: Digitalisierung und „Open Government“? Die Verwaltungswissenschaft hat sich im Gleichklang zur Verwaltungspraxis in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert und entwickelt. In der Abb. 4 sind die „langen Wellen“ dieser Entwicklung noch einmal schematisch zusammengefasst, von der kaum hinterfragten bürokratischen und hierarchischen Perspektive des „demokratischen Rechtstaates“ der sechziger Jahre über die Planungsdiskussion, den 45
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„aktiven Staat“ und die damit verbundene Policy-Forschung und Steuerungstheorie der siebziger, die Management-Orientierung und Ökonomisierung der Konzepte des „schlanken Staates“ in den achtziger Jahren bis hin zum Governance-Diskurs und der institutionalistischen Wende in Verbindung mit den Konzepten des „aktivierenden Staats“ in den neunziger Jahren.
Periode Schlagworte
Probleme und Ziele
Theoretische Grundlagen zentrale Konzepte
Demokratischer Staat ab Beginn 50er Jahre Rechtsstaat Demokratie
Aktiver Staat ab Mitte 60er Jahre Planung innere Reformen
Schlanker Staat ab Ende 70er Jahre Management Entbürokratisierung
Aktivierender Staat ab Mitte 90er Jahre Governance Zivil-/ Bürger gesellschaft
Ausbau des Wohlfahrtsstaat Informations verarbeitung Konflikt lösung Verwaltungs- Policy-Forschung recht Makro-ÖkoBürokratienomie theorie GlobalsteueBürokratie rung Hierarchie Regierungspolitische und VerwalBeamte tungsreform PPBS
Staatsversagen Entbürokratisierung Privatisierung
Ko-Produktion Beteiligung Neue Aufgabenteilung
Überwindung von Demokratieversagen und Obrigkeitsstaat
InstitutioNew Public Management nentheorie Public Choice Kommunitarismus GewährleisAufgabentungsstaat kritik Neues Steue- Verantworrungsmodell tungsteilung Outsourcing Regulierung Privatisierung
Digitaler Staat ab Mitte 00er Jahre Digitalisierung eGovernment Open Government Vernetzung Transparenz
???
Open Data One-StopShop Shared Service Center
Abb. 4 Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis: Die langen Wellen Quelle: eigene Darstellung
Offenkundig ist diese Darstellung extrem vereinfacht und zugespitzt. Aber sie verdeutlicht zum einen, dass sich die verwaltungswissenschaftliche Forschung nicht unabhängig von gesellschaftspolitischen Diskussionen entwickelt, sondern eng mit ihnen verflochten ist, und dass sie sich zum anderen nicht abschottet von
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den übrigen Disziplinen, die sich mit Staat und Verwaltung beschäftigen, sondern im Gegenteil enge Beziehungen zu den aktuellen politikwissenschaftlichen, juristischen, ökonomischen und soziologischen Diskursen bestehen. Im nächsten Abschnitt wird diskutiert, wie die Verwaltungswissenschaft im Kanon dieser Disziplinen verortet werden kann. Aber vorab ist zu klären, wie es mit diesen grundlegenden Konzepten und Leitbildern weitergeht. Auch wenn die dargestellten Phasen vereinfacht und verkürzt sein mögen, provozieren sie eine einfache Frage, nämlich ‚What’s Next?‘, was ist denn das aktuelle oder sogar das nächste zentrale Leitbild der Verwaltungspraxis? Damit verbunden ist eine einfache, aber wichtige Erkenntnis: Es gibt kein Ende der Geschichte! Ganz egal, welches Konzept der Verwaltungsmodernisierung gerade als „letzter Schrei“ der Verwaltungspraxis propagiert oder gar „gehypt“ wird, demnächst wird es neue, andere Konzept geben. Allerdings sollte diese Abfolge von Konzepten, die man auch als „Verwaltungsmoden“ sehen könnte, keineswegs zynisch interpretiert werden. Sicherlich gibt es in der Beraterszene, aber auch in der Wissenschaft, das ständige Bedürfnis, alte Konzepte zu kritisieren und neue zu propagieren. Aber dahinter verbirgt sich mehr als einfache Modeerscheinungen. Tatsächlich handelt es sich um Lernprozesse, sowohl in Verwaltungspraxis als auch in der Verwaltungswissenschaft. Ob und wann immer das richtige gelernt und die richtigen Schlüsse gezogen werden, ist sicherlich fraglich, aber gerade die Strukturierung und wissenschaftlich gestützte Durchführung dieser Debatte ist Aufgabe einer angewandten Verwaltungswissenschaft. Bleibt die Frage, was denn das zentrale aktuelle oder gar zukünftige Thema oder Leitbild ist oder sein wird. Offensichtlich ist es viel einfacher, im Abstand von zehn oder mehr Jahren die alten Diskussionen zusammenzufassen und in einigen wenigen Schlagworten zu verdichten, als dies im Getümmel und Lärm der aktuellen Debatten zu versuchen. Aber wenn es überhaupt einen Begriff gab und gibt, der sowohl die derzeitige Praxis wie die Wissenschaft beschäftigt, ist es das Konzept der Digitalisierung, verbunden mit normativen Vorstellungen eines neuartigen “Open Government“. So wurde auf die Frage, welches Forschungsfeld in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen wird, bei einer aktuellen Befragung deutscher Verwaltungswissenschaftler und -praktiker der Bereich „E-Government, Digitalisierung und Big Data“ bei weitem am meisten genannt, gefolgt von „Europäisierung und Internationalisierung“ und an dritter Stelle dann „Open Government und Öffentlichkeits- bzw. Bürgerbeteiligung“ (Bauer/Becker 2018, S. 50). Digitalisierung und Open Government wurden gemeinsam beinahe 150mal genannt, Europäisierung etc. gut 90mal, abgeschlagen dann auf Platz vier „Flüchtlinge, Integration und Migration“ mit 37 Nennungen (vgl. zu letzterem Bogumil/Burgi u. a. 2018). 47
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Digitalisierung meint zunächst nicht mehr als die technische Umwandlung eines analogen Mediums in ein digitales Abbild (vgl. zum Folgenden Wewer 2019a). In der Praxis geht es dabei nicht nur um die schon seit den 1990er Jahren weit fortgeschrittene Überführung analoger Daten in digitale Speicherformate, sondern um die Einführung neuer Organisationsmodelle, die eine möglichst vollständige elektronische Abbildung der Kommunikationswege zwischen Verwaltungskunden und Behörden leisten (vgl. Heuermann u. a. 2018, S. 1). Aber natürlich hat dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten eine Bedeutung angenommen, die weit über diese technische Beschreibung hinausgeht. In Wirtschaft, Gesellschaft, aber auch Politik und natürlich auch Verwaltung wird seit einigen Jahren die digitale Revolution ausgerufen, die mindestens so bedeutend sein soll wie die industrielle Revolution vor 200 Jahren. Im Prinzip folgen Staat und Verwaltung auch hier wieder nur technologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen und Schlagworten, die durch die Entwicklung von Computer, Mikrochip, Internet, GPS, Smartphone bis hin zu Künstlicher Intelligenz, Blockchains und Big Data, also über moderne Informationstechnologien (IT) vorangetrieben werden. Wenn in der Wirtschaft „Industrie 4.0“ propagiert wird, geht es in der Verwaltung immerhin schon um „Verwaltung 2.0“ und inzwischen um „eGovernment 3.0“. Auch in der Verwaltung ist diese Diskussion im Prinzip alt. In den siebziger Jahren ging es um „Verwaltungs-Automatisierung“ mit Hilfe von Großrechnern, seit dieser Zeit wird vom „papierlosen Büro“ geschwärmt und es gibt Lehrstühle für Verwaltungsinformatik. Aber seit der Jahrtausendwende hat diese Debatte immer mehr an Bedeutung gewonnen und ist heute das zentrale Thema der Verwaltungsmodernisierung. Digitalisierung meint dabei weit mehr, „als in den Behörden Laptops, Tablets und Smartphones zu nutzen oder staatliche Dienstleistungen über das Netz anzubieten. Im Kern geht es um die systematische Erhebung, Auswertung, Verknüpfung und Anwendung von Daten, nicht nur, um die staatlichen Aufgaben schneller, flexibler und besser erfüllen zu können, sondern auch, um das öffentliche Leben ‚intelligent‘ managen zu können“ (Wewer 2019a, S. 2).
Ziel der digitalen Verwaltung ist also nicht nur die elektronische Leistungserstellung, sondern eine daten-getriebene Verwaltung, die versucht, die „staatlichen Aufgaben besser erfüllen zu können, die internen Arbeitsprozesse ständig zu optimieren, das öffentliche Leben möglichst intelligent zu managen und politische Entscheidungen fundierter vorzubereiten“ (ebd.). Göttrik Wewer, einer der profiliertesten kritischen Beobachter dieser Entwicklung geht davon aus, dass die digitale Transformation die Verwaltung stärker verändern wird als alle Reformkonzepte zuvor. Elektronische Aktenführung oder staatliche
2.3 Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis
49
Leistungen auch online anzubieten, seien insofern nur Vorboten dafür, dass das „Internet der Dinge und der Dienste“ über kurz oder lang auch in die Behörden einziehen wird. Er propagiert ein neues, ressortübergreifendes Politikfeld „Digitalpolitik“, das weit über die bisher diskutierte „Netzpolitik“ hinausgeht, und neben der Umgestaltung der Verwaltung auch die Veränderungen in allen anderen Politikbereichen, also etwa der Bildungspolitik, der Gesundheitspolitik oder der Verkehrspolitik einbeziehen sollte (ebd., m. w. A.). In der Verwaltungspraxis werden diese Entwicklungen bereits seit Ende der neunziger Jahre unter dem Schlagwort „electronic Government“ oder „eGovernment“ diskutiert, in einer frühen Definition: „die Durchführung von Prozessen der öffentlichen Willensbildung, der Entscheidung und der Leistungserstellung in Politik, Staat und Verwaltung unter sehr intensiver Nutzung der Informationstechnik“ (Memorandum E-Government 2000, S. 3, vgl. zum Folgenden Schuppan 2019, m. w. A.).
Hier wird bereits deutlich, dass es nicht nur um verwaltungsinterne Prozesse gehen soll, sondern auch um Willensbildung und Entscheidungen über staatliche Leistungen und Politikinhalte. In der Praxis hat sich die Diskussion über eGovernment aber seitdem vor allem mit Fragen der besseren, schnelleren und effizienteren Erstellung öffentlicher Leistungen durch die Verwaltung beschäftigt. Zentral sind Fragen der Vernetzung, d. h. der Zusammenarbeit bei der öffentlichen Leistungserbringung arbeitsteilig über Behördengrenzen hinweg und in Kooperation mit den Adressaten der Leistung. Ehrgeiziges Ziel ist es, öffentliche Leistungen und Informationen unabhängig von Ort und Zeit zugänglich zu machen, also 24 Stunden am Tag, z. B. orientiert an Lebenslagen (Umzug, Geburt, Betriebsgründung etc.). Letztendlich könnte so sogar das grundlegende Prinzip der Territorialität von Staat und Verwaltung verändert werden, Verwaltungsleistungen also unabhängig vom Wohnort angeboten werden (Schuppan 2011). Besonders intensiv wird dabei diskutiert, mit der Gestaltung von Informationsflüssen stärker Geschäftsprozesse als digitale Prozesse und damit die Produktionsebene, d. h. die operative Ebene der Verwaltung zu reformieren (ausführlich Brüggemeier 2019, m. w. A.). Grundsätzlich werden fünf Basis-Digitalisierungspotenziale unterschieden, nämlich Automatisierung, Vermehrung von Daten, Reduktion örtlicher und zeitlicher Schranken, Parallelisierung von Aufgaben und die Integration von Tätigkeiten und Leistungen. Geschäftsprozesse sollen so sowohl in organisationsinterner wie auch organisationsübergreifender Vernetzung durchgeführt werden, z. B. durch Portale, Vorgangs- und Dokumentenmanagementsysteme, Basisregister, Groupware- und Wissensmanagementsysteme. 49
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
Mittlerweile gibt es heute de facto kaum ein Modernisierungsthema in Staat und Verwaltung, das keinen IT-Bezug hat. Damit wird IT bzw. eGovernment zum zentralen Ansatzpunkt der Verwaltungsmodernisierung. Ein Indikator ist u. a. die Vielzahl der Kongresse und Preise zu diesem Thema, und die Vielzahl der Beratungsangebote. In der Verwaltungswissenschaft ist das Thema eGovernment allerdings immer noch wenig präsent. Das hat einerseits damit zu tun, dass diese Debatten, wie die oben aufgeführten Schlagworte zeigen, weitgehend technik-bestimmt und -getrieben sind. Electronic Government wird vorrangig von IT-Spezialisten vorangetrieben, obwohl es weit weniger um technische, sondern zentral um organisatorische und soziale Gestaltungsfragen geht. Informatiker interpretieren und bestimmen damit grundlegende Gestaltungsprinzipien des öffentlichen Sektors aus ihrer sehr spezifischen Sichtweise (Schuppan 2019, m. w. A.). Bisher ist daher auch keine eigenständige eGovernment-Theorie erkennbar. Ein zweiter Grund liegt in der zögerlichen praktischen Verbreitung der Digitalisierung öffentlicher Verwaltungsprozesse in Deutschland (vgl. ausführlich 5.2.6). E-Government wird in der deutschen verwaltungswissenschaftlichen Forschung und Lehre, und insbesondere in den Sozialwissenschaften, bisher zu wenig wahrgenommen, reflektiert und problematisiert. Damit droht sich die problematische Entwicklung der achtziger Jahre zu wiederholen, als der Modernisierungsdiskurs weitgehend der managerialistischen Bewegung des New Public Management überlassen wurde, nur dass es diesmal eher Techniker und nicht Betriebswirte sind, die die Richtung vorgeben (international ist die Diskussion seit einigen Jahren differenzierter, siehe insbesondere Dunleavy et.al. 2006). Allerdings gibt es eine verwaltungspolitische Reformbewegung, die eng mit dieser technikzentrierten Entwicklung verbunden ist, nämlich das Konzept des ‚Open Government‘ (vgl. hierzu ausführlich Wewer/Wewer 2019, m. w. A.). Der Begriff wurde, ähnlich wie New Public Management oder New Public Governance, zuerst von der OECD verwendet, unterschied sich aber von Governance-Konzepten zunächst allenfalls durch die stärkere Betonung von Rechenschaftspflicht (Accountability) und Transparenz des Regierungshandelns. Politisch populär wurde das Konzept dann durch den amerikanischen Präsidenten Obama, nach dem Open Government auf den Prinzipien Transparenz, Partizipation und Kollaboration basieren sollte. Das Vertrauen der Amerikaner in ihre Regierung sollte durch mehr Transparenz gestärkt werden, Effizienz und Effektivität des Regierens durch den Einsatz moderner sozialer Medien für eine permanente Kommunikation und Rückkopplung mit den Bürgern, und die amerikanische Demokratie durch eine stärkere Beteiligung und Kooperation der Bürger (Obama 2009). Auch hier stimmt die grundlegende Intention mit dem Governance-Konzept überein, welches auch Beteiligung und Ko-Produktion als zentrale Ziele definierte.
2.3 Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis
51
Neu ist die Betonung von Transparenz, sozialen Medien und die Digitalisierung von Staat und Gesellschaft. Genau dieser Aspekt wurde dann schnell von technik-affinen Interessengruppen und NGOs aufgenommen, u. a. von den in verschiedenen Ländern sich bildenden Piratenparteien. Transparenz wurde vorrangig zunächst als ‚Open Data‘ interpretiert, zugespitzt als die technische Bereitstellung sämtlicher öffentlicher Daten für interessierte Bürgerinnen und Bürger, aber damit nicht zuletzt auch für Interessengruppen und Unternehmen. Zentraler Träger dieser Bewegung ist die Open Government Partnership (OGP, www.opengovpartnership.org), die ursprünglich 2011 von acht Mitgliedsstaaten gegründet wurde (darunter UK und USA) und inzwischen 79 Mitgliedsstaaten umfasst, zudem eine Reihe von subnationalen Einheiten. Eine Besonderheit ist, dass die Mitglieder sich verpflichten, die Zivilgesellschaft bei der Gestaltung eines offeneren Regierens intensiv einzubinden. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind daher auch durch ein eigenes „Civil Society Steering Commitee“ und durch verschiedene Stiftungen und Ausschüsse eng in die Arbeit eingebunden. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, nationale Aktionspläne vorzulegen, die dann wiederum mit Hilfe zivilgesellschaftlicher Organisationen überprüft und bewertet werden (ausführlich und kritisch Wewer/Wewer 2019, S. 62ff.). Die zentralen Ziele werden in der „Open Government Declaration“ 2011 definiert, zu der sich die Mitgliedsländer durch ihren Beitritt bekennen: “Increase the availability of information about governmental activities. (…) Support civic participation. (…) Implement the highest standards of professional integrity throughout our administrations. (…) Increase access to new technologies for openness and accountability” (OGP 2011).
Besondere Bedeutung hat dabei die technische Unterstützung. Die Regierungen verpflichten sich “(…) to pro-actively provide high-value information, including raw data, in a timely manner, in formats that the public can easily locate, understand and use, and in formats that facilitate reuse. (…) We recognize the importance of open standards to promote civil society access to public data, as well as to facilitate the interoperability of government information systems. (…) We commit to making policy formulation and decision making more transparent, creating and using channels to solicit public feedback, and deepening public participation in developing, monitoring and evaluating government activities” (ebd.).
Deutschland ist 2016 dieser Initiative beigetreten und hat 2017 einen ersten Nationalen Aktionsplan vorgelegt, seit 2019 läuft die Vorbereitung eines zweiten Nationalen Aktionsplans im Rahmen eines sog. „Offenen Konsultationsvorhabens“ im 51
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
Internet (www.open-government-deutschland.de/opengov-de). Außerhalb einer eher engen technik-affinen eGoverment Community haben diese Aktivitäten und Aktionspläne allerdings bisher kaum öffentliches Interesse gefunden. Kritische Beobachter sind der Meinung, die Modewelle Open Government habe ihren Zenit bereits überschritten. Begründet wird dies einerseits mit dem Niedergang der Piraten, die dieses Thema besonders verfolgen, aber praktisch kaum noch Einfluss haben, und andererseits damit, dass das technokratische Politikverständnis einer „digitalen Glaubensgemeinschaft“ vollkommen ungeeignet sei, wirklich mehr Transparenz, Partizipation und Kooperation zu erreichen. „Die Kritik an Open Government richtet sich dabei nicht gegen die Ziele, sondern gegen den falschen propagierten Weg“ (Kubicek 2017, S. 212). Tatsächlich haben naive Vorstellungen von technisch getriebener Partizipation und unbegrenzter Transparenz aufgrund einschlägiger Erfahrungen in letzter Zeit abgenommen (Ringel 2019). Eine empirische Analyse der bisherigen Bemühungen im Bereich Open Government auf Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen zeigt zudem, dass auf keiner dieser Ebene dieses Leitbild faktisch als ein Instrument zur gezielten Modernisierung der Verwaltung eingesetzt wird (Wewer 2020). Stattdessen konzentrieren sich alle Ebenen stärker auf Bemühungen im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung. Die „offene Verwaltung“ wird wohl von der „digitalen Verwaltung“ abgelöst, noch bevor sie sich als Leitbild überhaupt allgemein durchsetzen konnte.
2.4
Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungswissenschaften?
2.4
Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungswissenschaften?
Verwaltungswissenschaft beschäftigt sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen, die zudem einem erheblichen Wandel unterworfen sind. Daraus folgt unmittelbar die grundlegende Frage, ob es eine einheitliche Verwaltungswissenschaft gibt, geben kann oder ob das überhaupt erstrebenswert ist. Diese Frage beschäftigt die Verwaltungswissenschaftler seit vielen Jahren. Der Gegenstand Verwaltung erfordert, darauf war einleitend hingewiesen worden, eine Einbeziehung unterschiedlicher Referenzsysteme oder „Rationalitäten“, denen öffentliches Handeln unterworfen ist. Verwaltung handelt nie ausschließlich nach einer Rationalität, also etwa der Rechtmäßigkeit, der Effizienz oder der Legitimität. Daher sind verschiedene Disziplinen gefragt (vgl. Offe 1974, S. 344, Jann 1998a, S. 50, Bogumil 2001, S. 26, König 2006b, Snellen 2006, Bouckaert/Jann 2020, S. 129ff). Wenn Verwaltungshandeln immer verschiedenen Rationalitäten unterliegt, diesen immer gleichzeitig ausgesetzt ist und kein überwölbendes Rationalitätskriterium in
2.4 Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungswissenschaften?
53
Sicht ist, ist offenkundig interdisziplinärer Austausch nötig, um den Gegenstandsbereich voll zu erfassen. Verwaltungshandeln unterliegt so mindestens jeweils • einem legalen Richtigkeitstest (juristische Rationalität), also der Frage der Legalität, der Gesetzmäßigkeit, der Gleichbehandlung und des Rechtsschutzes, • einem Wirtschaftlichkeitstest (ökonomische Rationalität), also der Frage der Effizienz staatlichen Handelns, • einem politischen Konsenstest (politische Rationalität im Sinne von politics), also der Frage der demokratischen Verantwortlichkeit und Kontrolle, d. h. der Legitimität der Verwaltung sowie • einem funktionalen Wirksamkeitstest (politische Rationalität im Sinne von policy), also der Frage der Effektivität politischer und administrativer Maßnahmen. Gleichzeitig gibt es gemeinsame Fragestellungen, oder zumindest Interessen. So dürfte es nicht nur die Politikwissenschaft, sondern auch die Managementlehre, die Rechtswissenschaft und die Ökonomie interessieren, • ob und wie politische Ziele erreicht werden können; • wie das Verhältnis von Politik und Verwaltung in modernen Verwaltungen ausgestaltet ist und ausgestaltet werden kann, ohne dass es zu Kontroll- und Steuerungsverlusten kommt; • wie der Governance-Mix zwischen staatlicher Eigenerstellung, marktlicher Produktion und gesellschaftlicher Selbststeuerung auszugestalten ist oder • welche Grenzen sich für die Ökonomisierung der Verwaltung ergeben. Dabei ist es unstrittig, dass die einzelnen Disziplinen auch weiter arbeitsteilig vorgehen. Disziplinen repräsentieren bestimmte Ordnungen und Regeln wissenschaftlichen Arbeitens, also Fragestellungen und Erkenntnismethoden, die sich historisch entwickelt haben und nicht ohne weiteres aufgegeben werden können. Chancen einer stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit in den Verwaltungswissenschaften bestehen daher eher auf der Grundlage der disziplinären Stärken einzelner Fächer. Interdisziplinarität beinhaltet aber nicht nur die Kenntnisnahme anderer Perspektiven (dies wäre eher Multidisziplinarität), sondern gewinnt ihren Charakter durch die Nutzung von Kenntnissen verschiedener Disziplinen und durch die Übertragung von Methoden und Bausteinen aus einer Disziplin in die andere. Es gilt, voneinander zu lernen. Aus einer stärkeren interdisziplinären Arbeit der Fachwissenschaften könnte sich eine Verwaltungswissenschaft als Interdisziplin oder Integrationswissenschaft ergeben, wie es Klaus König vorgeschlagen hat. Diese sollte über den Kenntnisstand 53
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
der Fachwissenschaften hinausragen und sich damit einem Zustand nähern, in dem „die politisch-administrativen Institutionen, ihre Aufgaben, Organisationen, Entscheidungsprozesse, Personalverhältnisse zusammen mit ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Umwelt fächerübergreifend“ erkannt und verstanden werden (König 1990, S. 305, neuerdings Bohne 2014). Dafür gibt es, wie oben gesehen, wichtige gemeinsame Grundlagen in der alten Polizei- oder Staatswissenschaft, und es würde den modernen, auf den Staat bezogenen Wissenschaften sicherlich nicht schaden, wenn sie sich dieser Grundlagen wieder bewusst würden. Es wäre dann zu erkennen, dass Fragestellungen und Konzepte nicht so unterschiedlich sind, wie oft angenommen wird. Tatsache ist aber, dass zwar ein interdisziplinärer Zugriff dem Gegenstandsbereich Verwaltung gegenüber angemessen wäre, sich aber in Deutschland aus verschiedensten Gründen bisher keine integrative Interdisziplin Verwaltungswissenschaft herausgebildet hat. Auch für die Zukunft sprechen vor allem zwei Gründe dagegen, dass sich dies ändern wird, dass sich also Juristen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und andere auf gemeinsame Vorgehensweisen und Fragestellungen einigen können: nämlich unterschiedliche Erkenntnisinteressen und methodologische Zugänge sowie die Ausdifferenzierung der Fachwissenschaften. Zum einen verfolgen Sozialwissenschaften im Unterschied zur normativ-juristisch geprägten Staats- und Verwaltungslehre ein eher empirisches und theoretisches Erkenntnisinteresse, d. h. sie stützen sich auf empirische Aussagen und befassen sich daher weniger mit der Sollstruktur formeller Regeln als mit den oft davon abweichenden tatsächlichen sozialen Vorgängen, die sie analysieren und erklären (vgl. Mayntz 1978, S. 2ff.). Überspitzt gesagt geht es weniger darum, die Realität in Rechtsbegriffen abzubilden, normativ zu bewerten und präskriptiv zu verändern, sondern darum die Realität zu erklären und ihre Funktionsweise zu verstehen. Dies impliziert in der Regel einen ganz anderen methodischen Zugang. Zum anderen ist der Austausch zwischen den Disziplinen auch aus wissenschaftsinternen Gründen schwierig. Jede Disziplin wird bei dem Versuch, Interdisziplinarität herzustellen, von der Sichtweise ihres Faches ausgehen. Dabei wird der Wert disziplinärer Eigenständigkeit innerhalb etablierter Disziplinen in der Regel höher geschätzt als mögliche Erkenntnisgewinne durch Öffnung gegenüber anderen Disziplinen, d. h. wissenschaftliche Karrieren werden noch immer vor allem innerhalb bestimmter Disziplinen gemacht, hier muss man publizieren und Anerkennung gewinnen, nicht in anderen Disziplinen (Probleme des Grenzgängertums). Insgesamt ist daher aus den Eigeninteressen der Disziplinen und der in ihnen Tätigen eher nicht damit zu rechnen, dass die Wissenschaftler selbst die entscheidende Triebkraft einer interdisziplinären Zusammenarbeit werden. Anstöße könnten daher eher aus der Praxis kommen, die integrierte Problemsichten und Analysen
2.4 Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungswissenschaften?
55
nachfragt und wenig Verständnis für disziplinäre Scheuklappen und Eitelkeiten aufbringt. In der Wissenschaft ist daher schon viel erreicht, wenn Interdisziplinarität auf der Grundlage einer multidisziplinären Zusammenarbeit einzelner Fächer überhaupt angestrebt wird. Wenn man die klassischen, bisher aufgeführten Dimensionen verwaltungswissenschaftlicher Zugänge, nämlich die Fragestellungen nach Legalität, Effizienz, Effektivität und Legitimität der öffentlichen Verwaltung zum einen, sowie einen eher ex-ante/präskriptiven und einen eher ex-post/deskriptiv analytischen Ansatz zum anderen miteinander kombiniert, ergibt sich die folgende Übersicht:
Legalität Effizienz Effektivität Legitimität Strukturen und Funktionen
ex-ante präskriptiv normativ Verwaltungsrecht (Rechtswissenschaft, öffentliches Recht) (öffentliche) BWL (New) Public Management (Management Consulting) (positive) VWL Finanzwissenschaft (Politikberatung) Staatsrechtslehre Politikwissenschaft Politische Theorie Verwaltungslehre
ex-post deskriptiv analytisch Verwaltungsrecht Rechtstatsachenforschung (Verwaltungsgerichte) Controlling Monitoring (Rechnungshöfe) Policy-Forschung Evaluationsforschung Politikwissenschaft Sozialwissenschaften Verwaltungssoziologie Verwaltungsgeografie etc.
Abb. 5 Dimensionen verwaltungswissenschaftlicher Fragestellungen Quelle: eigene Darstellung
Die Abbildung erlaubt es, diese unterschiedlichen Disziplinen und Zugänge ganz grob zu verorten: • präskriptive Ratschläge und Vorschriften, wie und durch welche Rechtsformen (z. B. des allgemeinen Verwaltungsrechts, etwa im Verwaltungsverfahrensgesetz) die Legalität und Verfassungskonformität der öffentlichen Verwaltung zu gewährleisten sei, sind die klassische Domäne der normativ und dogmatisch argumentierenden Verwaltungsrechtswissenschaft, 55
56
2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
• inwieweit dies dann im einzelnen Fall jeweils empirisch tatsächlich der Fall ist, untersucht das Verwaltungsrecht vor allem praktisch in verwaltungsgerichtlichen Verfahren, während eine empirisch argumentierende verwaltungsrechtliche Rechtstatsachenforschung nur sehr gering ausgeprägt ist, • wie ökonomische Effizienz (auch) in der öffentlichen Verwaltung zu erreichen ist oder sein sollte, ist wiederum der klassische Bereich der (öffentlichen) Betriebswirtschaftslehre (ÖBWL) bzw. dessen moderner Ableger des Public Management, und wird praktisch vor allem von der wachsenden Schar der im Bereich der öffentlichen Verwaltung aktiven Management-Consulting-Firmen vertreten, • während die ex-post Überprüfung dieser Effizienz Thema eines bisher nur eher rudimentär ausgeprägten Verwaltungs-Controllings ist, die klassische externe Kontrolle der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung allerdings seit langem von den Rechnungshöfen wahrgenommen wird, • die Effektivität und Problemlösungsfähigkeit öffentlicher Organisationen und Aktivitäten ist präskriptiv traditionell Gegenstand einer „positiv“, d. h. auf der Grundlage klarer Prämissen und modelltheoretischer Annahmen argumentierenden Ökonomie, insbesondere der Finanzwissenschaft, aber natürlich auch aller möglichen anderen Wissenschaften und Politikberater, insbesondere auch in allen möglichen Spielarten der präskriptiven Politikfeld- oder Policy-Forschung, die politikberatend tätig sind, • während die tatsächliche, ex-post zu ermittelnde Effektivität und Wirkungsweise des öffentlichen Sektors von der klassischen Ökonomie eher stiefmütterlich behandelt wird (obwohl der Nobelpreis für Ökonomie 2019 an drei Forscher ging, die sich vor allem mit der Effektivität von Entwicklungspolitik beschäftigt haben), aber seit einiger Zeit Thema einer empirisch argumentierenden Politikfeld- oder Policy-Forschung ist und dort zur Entwicklung einer stark methodologisch orientierten Evaluationsforschung geführt hat, • präskriptive Fragen der Legitimität, Eigenständigkeit und politischen Kontrolle der öffentlichen Verwaltung sind wiederum traditionelle Domäne einer normativ argumentierenden Staats(rechts)lehre, während Fragen der demokratischen Grundlegung, Steuerung und Qualität des Verwaltungshandelns selbstverständlich auch von der Politikwissenschaft und insbesondere von ihrem Teilgebiet der politischen Theorie behandelt werden, • während die empirischen Fragen der tatsächlichen politischen Wirkungen und Auswirkungen des Verwaltungshandelns, z. B. auch auf Wahlen, politische Unterstützung und Legitimation, aber auch Fragen nach der Eigenständigkeit der Verwaltung, der Möglichkeit ihrer politischen Steuerung und ihrer Beziehungen z. B. zur Politik oder zu gesellschaftlichen Gruppen und Interessen, der Rolle
2.4 Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungswissenschaften?
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von Verwaltung bei der Formulierung und Implementation von Politikinhalten den Kernbereich der Politikwissenschaft ausmachen, • schließlich gibt es auch Fragestellungen, die sich ganz generell (und eher funktional) den Strukturen und Funktionen der öffentlichen Verwaltung widmen, hier wäre auf der eher präskriptiven Seite die klassische (juristische) Verwaltungslehre zu verorten, • während die Erforschung der tatsächlichen Verwaltungsstrukturen und -funktionen die engere Domäne der empirischen Verwaltungswissenschaft ist, die sich dabei aller Methoden und Theorien der empirischen Sozialwissenschaften bedient. Diese schematische Betrachtungsweise vermag sicherlich nicht die Vielfalt und Differenziertheit der unterschiedlichen möglichen und tatsächlichen verwaltungswissenschaftlichen Fragestellungen und Vorgehensweisen einzufangen. Besonders die Unterteilung in präskriptive und deskriptiv-analytische Ansätze ist krude, denn im Prinzip argumentieren natürlich alle Ansätze analytisch, beruhen auf normativen Annahmen und machen mehr oder weniger explizit präskriptive Vorschläge. Aber die Unterscheidung verdeutlicht doch, dass unterschiedliche Disziplinen mit notwendigerweise sehr unterschiedlichen Fragestellungen an der Untersuchung und Erklärung der öffentlichen Verwaltung beteiligt sind. Relevante verwaltungswissenschaftliche Fragestellungen können nie allein aus der Sicht einer einzigen Rationalität beantwortet werden, aber das schließt wissenschaftliche Arbeitsteilung natürlich nicht aus. Die Frage, ob es Verwaltungswissenschaften im Plural oder nur eine Verwaltungswissenschaft im Singular gibt, ist also müßig – selbstverständlich brauchen wir, um die öffentliche Verwaltung zu beschreiben, verstehen und erklären zu können, alle möglichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Fragestellungen, von der Rechtswissenschaft über die Ökonomie bis hin zur Politikwissenschaft. Die Suche nach einer einheitlichen Verwaltungswissenschaft ist daher wenig hilfreich und kann sogar kontraproduktiv sein, denn sie droht, wichtige Erkenntnisgrundlagen der empirischen oder normativen Forschung auszugrenzen. Auf der anderen Seite verdeutlicht die Abbildung aber auch, was die Themen einer modernen, sozialwissenschaftlich inspirierten und informierten Verwaltungswissenschaft sind oder zumindest sein sollten. Es geht um sämtliche Felder der Abbildung: Es macht wenig Sinn, nach einer einheitlichen Disziplin oder Interdisziplin „Verwaltungswissenschaft“ zu suchen, mit spezifischen eigenen Methoden und Erkenntnisinteressen, denn verwaltungswissenschaftliche Forschung unterscheidet sich prinzipiell nicht von anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, d. h. sie benötigt alle möglichen vorhandenen Methoden und Theorien. Nach einem geflügelten Wort des Soziologen und Wissenschaftstheoretikers 57
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2 Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland
Hans Albert sind das problematischste an den modernen Sozialwissenschaften die künstlichen Grenzen, die sie versuchen untereinander aufzurichten. Jeglicher Abgrenzungs- oder Zuständigkeitswahn, der bestimmte Fragestellungen bestimmten Disziplinen ausschließlich zuweisen will, ist wenig hilfreich, ebenso natürlich jeglicher Ausschließlichkeitsanspruch valider Erklärungen. Gleichzeitig ist wissenschaftliche Arbeitsteilung unbedingt erforderlich, denn nicht alle Fragestellungen können kompetent von allen Verwaltungswissenschaftlern bearbeitet werden. Wie es tatsächlich mit dieser interdisziplinären Zusammenarbeit und generell mit dem Selbstverständnis der Verwaltungswissenschaft aussieht, diskutieren wir noch einmal abschließend am Ende des Buches in Kap. 6.
3
Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Lernziele am Ende dieses Kapitels sollten Sie • wissen, was man unter öffentlichen Aufgaben versteht, wie veränderbar diese sind und in welchem Zusammenhang sie mit dem Ausmaß der jeweiligen Staatstätigkeit stehen, • die öffentliche Aufgabenverteilung und den Verwaltungsaufbau im föderalen Bundesstaat Deutschland kennen, • die Besonderheiten öffentlicher Personalwirtschaft und der öffentlichen Finanzversorgung verstehen sowie • verschiedene Mechanismen der Kontrolle des Verwaltungshandelns überblicken.
3.1
Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
3.1
Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
Eingangs ist darauf verwiesen worden, dass die öffentliche Verwaltung allgegenwärtig und komplex ist und sich daher Versuchen eindeutiger Definitionen entzieht. Öffentliche Aufgaben berühren einen wesentlichen Teilaspekt öffentlicher Verwaltung, indem sie inhaltlich die Zwecke des Verwaltungshandelns beschreiben. Und mehr noch, die Eigenart des jeweiligen Aufgabenbereiches determiniert die Methoden und Instrumente der Aufgabenwahrnehmung ebenso wie die Form der Verwaltungsorganisation, ein Punkt, auf den noch zurückzukommen sein wird. Was öffentliche Aufgaben sind, kann empirisch beobachtet, analytisch erklärt oder normativ postuliert werden (vgl. Schuppert 1980, S. 310). Betrachtet man bestehende Systematisierungsversuche, so ordnet man entweder die vorhandenen öffentlichen Aufgaben nach bestimmten Kriterien, wie der Haushaltssystematik, Kriterien der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Bogumil und W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Grundwissen Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4_3
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Bürgernähe oder den Aufgabenträgern (Bund, Länder, Kommunen) oder erklärt den Bestand an öffentlichen Aufgaben analytisch, sei es verfassungsrechtlich (in dem man versucht, öffentliche Aufgaben aus dem Grundgesetz abzuleiten), systemtheoretisch (aufgrund gesamtgesellschaftlicher Steuerungserfordernisse) oder ökonomisch (auf der Grundlage eines ökonomischen Modells öffentlicher Aufgaben). So lassen sich öffentliche Aufgaben z. B. als solche erklären, die Private, aus welchen Gründen auch immer, nicht übernehmen (z. B. weil sie nicht marktfähig sind) oder normativ als Aufgaben mit Gemeinwohlbezug. Beispiele sind hier öffentliche Infrastruktureinrichtungen oder Bildungsmaßnahmen (die Ökonomen sprechen hier von meritorischen Gütern). Eine andere Möglichkeit ist es, auf staatliches Krisenmanagement zur Bewältigung wirtschaftlicher Problemlagen zu verweisen usw. Insgesamt geht es bei solchen Versuchen zur Bestimmung des öffentlichen Aufgabenbestandes immer um die Frage der angemessenen Aufgabenverteilung von Staat und Gesellschaft. Diese Aufgabenbestimmung ist aber sowohl historisch als auch im Ländervergleich sehr unterschiedlich, wie noch zu sehen sein wird. Sie hängt von der gesellschaftlichen Entwicklung und den dominierenden Vorstellungen zur Staatstätigkeit ab. Wenn somit die Frage der inhaltlichen Bestimmung öffentlicher Aufgaben immer eng verbunden ist mit den jeweiligen Vorstellungen von Staatstätigkeit, müssen wir uns, bevor in den folgenden Kapiteln die öffentliche Aufgabenwahrnehmung in Deutschland konkret dargestellt wird, zunächst kurz mit der Entstehung des modernen Staates (3.1.1), seinem Aufgabenspektrum (3.1.2) und den politischen Leitbildern zur Staatstätigkeit (3.1.3) beschäftigten.
3.1.1
Entstehung des modernen Staates
Der moderne Staat entsteht im territorial, politisch und kulturell fragmentierten Europa beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. An die Stelle des mittelalterlichen Personenverbundes tritt der Flächenstaat und statt persönlicher Eigentumsund Treueverhältnisse ist jetzt jeder, der sich auf einem bestimmten Territorium befindet, der dortigen Herrschaft und den Gesetzen unterworfen. Diese Entwicklung verlief in Europa jedoch ungleichzeitig. Vor allem in Deutschland stieß die Herausbildung des modernen Staates auf Probleme, da hier die politische Herrschaft sehr zersplittert war und es Probleme mit der Herausbildung einer nationalen Identität gab. Im 19. Jahrhundert und vor allem ab 1870/1871 kam es mit dem deutschen Reich aber auch in Deutschland zu einem Modernisierungsschub in Richtung moderner Staatlichkeit. Die Herausbildung des modernen Staates war dabei mit einer zunehmenden „Verstaatlichung“ ursprünglich privater Aufgaben verbunden (Benz 2001, S. 197).
3.1 Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
61
Führten noch im 17. Jahrhundert europäische Staaten Kriege mit Hilfe von privaten Militärunternehmern und Söldnern, setzen sich später stehende Heere durch. War die Schulbildung und Wissenschaft lange Zeit in der Hand der Kirchen und Gelehrten, begannen absolutistische Herrscher im 18. Jahrhundert Universitäten zu gründen. Wurde die Post zunächst von privaten Kurierdiensten befördert, wurde sie später zur Aufgabe des Staates. Ähnliches gilt für die ersten Eisenbahnen, die zunächst privat initiiert waren. Ursprünglich war sogar das Steuersystem „privatisiert“ oder „outgesourced“, d. h. Steuern wurden von damit beauftragten Privatleuten eingetrieben, die einen bestimmten Betrag abliefern mussten, ansonsten aber ihren Eigenbetrag maximieren konnten. Insgesamt dehnte sich die Staatstätigkeit im absolutistischen Wohlfahrtsstaat aus und der Staat übernahm neben dem Militär weite Bereiche der Produktion und Versorgung (Handel, Forstwesen, Verkehr, Jagd- und Fischfang), regulierte sozialpolitische Angelegenheiten (Armenfürsorge, Gesundheitswesen) und das öffentliche und private Leben durch so genannte „Policey-Verordnungen“ (z. B. Kleiderverordnungen, Regulierung von Sitten und Gebräuchen, Religionsausübung, Ehe und Vormundschaft, Verbot von Bettelei). Genau in dieser Zeit entstand die oben erwähnte Policey-Wissenschaft als die Politik- und Verwaltungswissenschaft des aufgeklärten Absolutismus (vgl. Kap. 2.2.1). Einige dieser Vorschriften über private Lebensführung wurden im liberalen Staat im 19. Jahrhundert zwar wieder beseitigt, aber die Expansion der Staatsaufgaben setzte sich allen Beteuerungen zum Trotze fort, z. B. durch die Übernahme von Infrastrukturaufgaben (z. B. Abwasser, Wasserversorgung, Gasversorgung, Schlacht- und Viehhöfe) oder durch die Schaffung neuer Vorschriften im Handel oder im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Überblicksartig ergibt sich folgendes Bild: Deutlich wird, dass ausgehend vom absolutistischen Staat des 18. Jahrhunderts über den liberalen Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts hin zum demokratischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts die Staatsaufgaben expandierten und zwar bezogen auf alle Formen staatlicher Tätigkeit (Regulierung, Förderung, Leistungserstellung). Dieser kurze Abriss zeigt auch, dass letztlich die Ursachen für Veränderungen von Staatlichkeit in den gesellschaftlichen Entwicklungen, nicht zuletzt auch in der Verbreitung demokratischer Teilhabe, in veränderten Handlungsbedingungen, neuen Anforderungen und dem politischen Umgang mit diesen liegen.
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Kompetenzarten
Regulierung
Förderung
Leistung, Produktion
umfassende Regulierung des öffentlichen und privaten Lebens durch Policey-Verordnungen Deregulierung im privaten Bereich, Gewerbefreiheit, Regulierung privater Produktion, Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz Marktregulierung, Raumordnung und Städtebau, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Technikregulierung
merkantilistische Wirtschaftspolitik
Landesverteidigung und innere Sicherheit, Manufakturen, Forstwirtschaft, Transportwesen
Förderung von Gewerbe und Industrie, Zollpolitik
Übernahme von großtechnischen Infrastrukturaufgaben
Beschäftigungsförderung, regionale und sektorale Wirtschafts-, Technologie- und Forschungsförderung
Öffentliche Versorgungswirtschaft, Sozialversicherung und soziale Dienste, Bildungs- und Kulturpolitik
Entwicklungsphasen Staat im Absolutismus
Liberaler Verfassungsstaat
Demokratischer Wohlfahrtsstaat
Abb. 6 Entwicklung der Staatsaufgaben Quelle: eigene Darstellung nach Benz 2008, S. 233
3.1.2 Aufgaben des modernen Staates Im 20. Jahrhundert werden dem modernen Staat in der Regel folgende Merkmale zugeordnet (vgl. Benz 2001, S. 224ff.; Ellwein/Hesse 1997, S. 67ff.): • Er erstreckt sich auf ein klar abgegrenztes, von den Bürgern und anderen Staaten anerkanntes Gebiet. • Die Menschen sind nicht wie im Absolutismus Unterworfene einer Herrschaft, sondern gleichberechtigte Mitglieder in diesem Staat und verfügen als Staatsbürger über Freiheits-, Beteiligungs- und soziale Rechte. • Die Menschen empfinden sich als Angehörige einer jeweils spezifischen Staatsbürgernation. • Dem Staat kommen spezifische Funktionen zu, die in einer institutionellen Ordnung, der Verfassung, festgelegt werden, und die von anderen gesellschaftlichen Organisationen, wie z. B. Wirtschaftsunternehmen, nicht erfüllt werden
3.1 Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
63
können. Dazu gehört vor allem, dass der Staat über das Monopol der physischen Gewalt verfügt. Keine andere Instanz darf auf seinem Territorium Gewalt ausüben. Zudem ist staatliche Gewalt im Unterschied zur privaten Gewalt – etwa durch Terroristen – an Recht und Verfassung gebunden. • Wesentliche Entscheidungen werden in demokratisch gewählten Organen (Parlamenten) gefällt und von dafür beauftragten Verwaltungen umgesetzt. Die institutionelle Ordnung und damit auch die Staatsfunktionen sind zwischen den einzelnen Staaten unterschiedlich ausgestaltet. Sie sind das Ergebnis politischer Prozesse und Entscheidungen und insofern auch veränderbar. Empirische Vergleiche der Staatsaktivitäten zeigen nun, dass es große Unterschiede zwischen einzelnen Nationalstaaten gibt. Dies ist zentraler Gegenstand der im Jahr 1990 veröffentlichten bahnbrechenden Studie „Three Worlds of Welfare Capitalism“ des dänischen Sozialwissenschaftlers Gøsta Esping-Andersen (Esping-Andersen 1990). Er unterschied idealtypisch zwischen konservativen (z. B. Deutschland), sozialdemokratischen (z. B. Schweden) und liberalen (z. B. USA) Wohlfahrtsstaaten (vgl. Abbildung 3). Das unterschiedliche Ausmaß an Staatstätigkeit kann seiner Ansicht nach durch Besonderheiten in der Regulierung des Arbeitsmarktes sowie durch das unterschiedliche Zusammenspiel öffentlicher und privater Sicherungsformen (Staat, Markt, Familie, Verbände) erklärt werden. Gründe für die Entwicklung unterschiedlicher Typen der Wohlfahrt sieht er vor allem in der politischen Situation in den jeweiligen Ländern und in der Stärke bestimmter Parteikonstellationen. Insbesondere unterscheidet er, wie jeweils Finanzierung, Leistungsberechtigte, Leistungsstandards und Umverteilungseffekte ausgestaltet sind, und kommt so zu drei verschiedenen Typen von „wohlfahrtsstaatlichen Regimen“, wie sie in der folgenden Abbildung wiedergegeben sind. Der deutsche Sozialstaat entspricht dabei dem „konservativen Wohlfahrtsstaat“, obwohl sicherlich auch bei uns die staatliche Vorsorge inzwischen weit über den engeren „Sozialversicherungsstaat“ (Riedmüller/Olk 1994) hinausreicht. Entscheidend ist aber, dass die Frage, ob ein Wohlfahrtsstaat z. B. über Versicherungen oder über Steuern finanziert wird, ob Leistungsstandards minimal oder hoch sind etc., selbstverständlich erhebliche Auswirkungen auf die Ausgestaltung des öffentlichen Sektors hat.
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
vorrangige Finanzierung primäre Leistungs berechtigte Leistungs standards
liberaler Wohlfahrtsstaat freiwillige Versicherung Bedürftige
konservativer Wohlfahrtsstaat PflichtVersicherung Versicherte
sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat Steuern alle
minimal
beitragsabhängig
hoch
Leistungs bereiche
wirtschaftliche und Sicherung des soziale Existenzrisiken individuellen Status
umfassende Versorgung
Umverteilung
gering
mittel
hoch
Charakteristikum Beispiel
marktkonform, selektiv USA
differenziert
universalistisch
Deutschland
Schweden
Abb. 7 Die drei Typen von Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen Quelle: eigene Darstellung
Diese Unterschiede in der Staatstätigkeit haben sich lange Zeit deutlich gezeigt, wenn man die sogenannte Staatsquote im Vergleich betrachtet (vgl. Abbildung 8), wenngleich es in den letzten Jahren insbesondere in Schweden zu Veränderungen gekommen ist.
1970 1985 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
Deutschland 38,3 47 43,6 46,1 47,3 48,3 47,9 48,3 49,3 48,3 48,1 48,2
Frankreich 49.4 50.6 52 54.9 54,2 54,4 54,5 54,1 52,7 52,6
Schweden 44,2 63,3 61,3 62,7 71,1 72,4 70,3 67,1 64,9 62,6 60,4 60
Großbritannien 38,8 46,1 41,9 43,6 45,6 45,7 45 44,5 42,7 41,2 40,0 39,4
EU 50,4 49,3 50,5 52,2 51 50,6 50,7 49,4 48,5 48,1
3.1 Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
45,1 47,5 48 48,4 47,3 47 45,4 42,8 43,6 47,6 47,3 44,7 44,3 44,7 44,0 43,7 43,9 43,9
51,6 51,6 52,6 53,3 53,3 53,7 53,3 52,6 53,3 57,2 56,9 56,3 57,1 57,2 57,2 56,8 56,6 56,4
57,1 56,7 58,1 58,3 56,9 56,6 55,6 49,3 50,0 52,7 50,8 50,3 51,3 52,0 51,1 49,6 49,7 49,3
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37,1 40,4 41,4 42,8 43,2 44,6 44,7 40,9 44,4 47,3 47,6 45,9 45,7 43,9 43,0 42,2 41,4 40,8
46,2 47,3 47,6 48,1 47,6 47,5 47,1 44,6 46,2 50,0 49,9 48.5 48,9 48,6 47,9 46,9 46,2 45,8
Abb. 8 Anteile der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (in %) Quelle: OECD 2008 (bis einschließl. 2006), OECD iLibrary 2019 (ab 2007), Eurostat 2009 (EU Daten ab 2007)
Zwar gibt es allgemeine Trends, denn die staatlichen Gesamtausgaben steigen kontinuierlich bis zum Jahr 1985 an, wonach eine erste Rückführung erfolgt, um dann bis 1995 wieder leicht anzusteigen. Auch werden die Staatsausgaben nahezu überall ab 1995 zurückgeführt. Es zeigt sich aber auch, dass diese Prozesse auf einem unterschiedlichen Ausgabenniveau und in unterschiedlichem Ausmaß zwischen den einzelnen Ländern stattfinden. Dabei zeigen sich am Beispiel von Deutschland und Großbritannien im Vergleich der letzten knapp 30 Jahre (zwischen 1990 und 2017) erstaunliche Stabilitäten. In Frankreich ist in diesem Zeitraum dagegen die Staatsquote zwar nur langsam, aber von einem hohen Niveau kommend stetig ausgebaut worden, so dass sie mit 56,4 % nun fast 10 % über dem EU-Durchschnitt liegt sogar noch vor Finnland (54 % in 2017). Die Staatsquote in dem früheren „sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat“ Schweden ist dagegen mittlerweile um zehn Prozentpunkte gesunken ist und liegt mit 45,8 % nur noch leicht über dem EU-Durchschnitt. Bezieht man zum Vergleich die „liberalen Wohlfahrtstaaten“ USA oder Japan ein, zeigt sich, dass diese zwischen 1995 und 2017 relativ kontinuierlich über Staatsquoten im Bereich zwischen 34 % und 39 % verfügen. 65
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Vor dem Hintergrund dieser Unterschiede in der Staatstätigkeit und auch bezüglich der Aufgaben, die in verschiedenen Staaten wahrgenommen werden, ist festzustellen, dass es fast keine gesellschaftliche Aufgabe gibt, die nicht irgendwo schon einmal entweder staatlich oder privat organisiert worden wäre. Offenbar lassen sich keine durchgängig plausiblen Abgrenzungskriterien zwischen öffentlichen und privaten, hoheitlichen, nicht-hoheitlichen und gewerblichen Aufgaben ausmachen. Die Frage, welche Aufgaben der Staat zu erledigen hat, scheint damit vor allem eine politische Frage zu sein. Allerdings gab es in der Staatswissenschaft verschiedenste Versuche, durch die Entwicklung spezieller Theorien zu begründen, welche Aufgaben der Staat zu übernehmen habe und welche nicht. So versuchte die juristische Staatslehre aus der Verfassung des Staates die zu erledigenden Aufgaben zu bestimmen. Die ökonomische Theorie der Staatsaufgaben postulierte, dass der Staat nur dann handeln darf, wenn der Markt versagt. Resümiert man diese Bemühungen, so zeigt sich, dass es zwar überzeugende Begründungen dafür gibt, dass der Staat wichtig ist und tätig werden muss, aber keine überzeugenden dafür, welche Aufgaben der Staat nun übernehmen soll und muss (vgl. ausführlicher Benz 2001, S. 186ff.). In der Politikwissenschaft geht man daher überwiegend davon aus, dass es keinen klaren Katalog von Aufgaben gibt, die ein Staat unbedingt erfüllen muss, sondern dass Umfang und Grenzen der Staatsaufgaben politisch veränderbar sind. Dennoch ist es möglich, zwischen unterschiedlichen Aufgabentypen staatlichen Handelns zu unterscheiden, wie dies exemplarisch bei Reichard (1993) zu finden ist. Die Systematik macht deutlich, dass wir es im Wesentlichen mit vier Aufga bent ypen zu tun haben: • Staatliche „Kernaufgaben“, die auf der Basis eines expliziten gesellschaftlichen Konsenses vom Staat gewährleistet und selbst vollzogen werden müssen (z. B. Verteidigung, innere Sicherheit). • Staatliche Gewährleistungsaufgaben, deren dauerhafte Erbringung zwar der Staat gewährleistet, bei deren Vollzug jedoch im Einzelfall zu prüfen ist, ob sie wirksamer bzw. kostengünstiger nach Maßgabe staatlicher Auftragserteilung und unter demokratischer Kontrolle von staatlichen Einrichtungen, von privaten Auftragnehmern oder von Organisationen des sog. Dritten Sektors erledigt werden können (z. B. Technische Überwachungsdienste, aber etwa auch Kindergärten, Seniorenheime bis hin zu Schulen oder Universitäten, in Deutschland auch das Gesundheitswesen). Gerade in Deutschland spielt das sog. Subsidiaritätsprinzip, demnach Aufgaben möglichst bürgernah und möglichst in Eigenverantwortung wahrgenommen werden sollen, seit dem „Kulturkampf“ zwischen Bismarck und der katholischen Kirche eine große Rolle.
3.1 Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
67
Aufgabe öffentliche Aufgabe (expliziter Gemeinwohl-Bezug)
staatliche Kernaufgabe (Gewährleistung und Vollzug beim Staat)
nicht-öffentliche Aufgabe (kein expliziter Gemeinwohl-Bezug)
staatliche Gewährleistungsaufgabe (Gewährleistung durch Staat, Vollzug durch Staat oder Private)
staatlicher Vollzug
staatliche Annexoder Ergänzungsaufgabe (Vollzug durch Staat oder Private)
privater Vollzug
privater Vollzug
Private Kernaufgaben
staatlicher Vollzug
= Contracting Out
Abb. 9 Aufgabentypen staatlichen Handelns Quelle: eigene Darstellung nach Reichard 1993
• Staatliche Ergänzungsaufgaben, bei denen es sich nach explizitem gesellschaft lichen Konsens um nicht-öffentliche Aufgaben handelt, die der Staat wahrnehmen könnte, sofern er dies wirksamer und wirtschaft licher als Private tun kann (Beispiele könnten sein: Gebäudereinigung, Grünflächenpflege, Straßeninstandhaltung). • Private „Kernaufgaben“, die auf der Basis eines gesellschaft lichen Konsenses von privaten gesellschaft lichen Institutionen (d. h. von kommerziellen Unternehmungen wie auch von Organisationen des sog. „Dritten Sektors“) erledigt werden. Die inhaltlichen Festlegungen der verschiedenen Aufgabentypen können jedoch, wie erwähnt, weder von der Wissenschaft erfolgen noch von einer übergeordneten Instanz vorgeschrieben werden. Wissenschaft kann allenfalls zur Klärung möglicher Bewertungskriterien beitragen und empirische Informationen bereitstellen, ob und wie diese Kriterien gegebenenfalls erfüllt werden bzw. wie die öffentliche Aufgabenwahrnehmung insgesamt stattfindet. Staatliche Aufgaben und die Frage, wie diese erledigt werden, können legitim aber nur über den demokratischen 67
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Prozess entschieden werden. Damit sind wir bei den politischen Leitbildern der Staatstätigkeit angelangt.
3.1.3 Politische Leitbilder der Staatstätigkeit Wie gezeigt ist der ständige Prozess der Expansion staatlicher Aufgaben spätestens seit 1995 weltweit zumindest in den hochentwickelten OECD-Staaten zum Stillstand gekommen. Insofern stellt sich die Frage, ob sich damit auch die politischen Leitbilder zur Staatstätigkeit verändern. Vieles spricht nun dafür, dass die alten Leitbilder des sozialdemokratischen Wohlfahrtstaates sowie des liberal-konservativen, auf privatwirtschaftliche Marktmechanismen setzenden Minimalstaates nicht mehr tragen. Das durch neo-liberale Konzepte definierte Leitbild des schlanken Staats, nach dem, in der radikalsten Fassung, der Staat nicht die Lösung gesellschaftlicher Probleme, sondern deren Ursache ist, wird wiederum durch neue Leitbilder abgelöst (vgl. auch Kapitel 2.5). Einerseits wurde mit dem Scheitern der „kommunistischen Kommandowirtschaft“ und mit der Erosion des klassischen Staatsinterventionismus eine Neubewertung des Marktmechanismus vorgenommen, die Rückwirkungen auf das Verständnis von Staat und Verwaltung hat. Der Zusammenbruch der kommunistischen Kommandowirtschaft hatte den „Sieg des Kapitalismus“ mit sich gebracht. Andererseits gibt es aber auch im Rahmen privatwirtschaftlicher Marktmechanismen weiterhin zahlreiche Problemlagen, wie z. B. Massenerwerbslosigkeit, Armut und soziale Ungleichheit. Deutlich wird, dass Staat, Verwaltung und öffentlicher Sektor nicht einfach Rahmenbedingungen privater Wirtschaft und Gesellschaft sind, sondern die von diesen hervorgerufenen Problemlagen mildern müssen. Der Staat wird also noch gebraucht für die Entwicklung der zivilen Gesellschaft und auch für die Erschließung neuer Märkte, so dass auch neoliberale Ideologien zu kurz greifen. Mit der Krise des Wohlfahrtsstaates verbindet sich eine intensive Diskussion um den „Regulierungsstaat“, also um die zunehmende Bedeutung von regulativer Politik (vgl. Czada/Lütz/Mette 2003). Unter regulativer Politik werden Instrumente wie Gebote, Verbote und Anreizprogramme subsummiert, die darauf abzielen, den Handlungsspielraum privater Akteure zu Gunsten des Gemeinwohls einzuschränken. Dabei geht es aber nicht nur um die Prozesse der Regelbildung, sondern auch um die Regelüberwachung und die Sanktionierung von Regelverstößen. In der Diskussion um den Aufstieg des Regulierungsstaates (Grande/Eberlein 1999, Majone 1997) steht die Frage der Neudefinition von Formen und Funktionen der Staatlichkeit im Vordergrund. Regulative Ordnungspolitik wird mit der Abkehr vom Keynesianismus zu Gunsten neoliberaler Marktkonzepte nun wichtiger als
3.1 Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
69
Verteilungspolitik. Vor allem aber entstehen durch die Privatisierung „natürlicher Monopole“ im Verkehrs-, Medien und Kommunikationssektor, durch die verstärkte Integration von Märkten insbesondere in Europa und durch zunehmende Umweltrisiken neue Regulierungsaufgaben.13 Insbesondere durch die Privatisierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen im Bereich der Infrastruktur- und Versorgungsleistungen (Energie, Telekommunikation, Post, vgl. König/Benz 1997, Eising 2000) wurden neue Regulierungsbehörden aufgebaut, die den Zugang und die Preise des jetzt eher wettbewerblich strukturierten Marktes regeln. Das Wechselspiel der klassischen Leitbilder von Staat und Wirtschaft zum Ausgang des 20. Jahrhunderts hat sich also offenbar überlebt. Die überkommenen parteipolitischen Symboliken werden zunehmend irrelevant. Vieles spricht für das Aufbrechen einer neuen Phase im Verhältnis von staatlicher Regulierung, ökonomischem Wettbewerb und gesellschaftlicher Teilhabe. Es geht um die Neuentwicklung einer komplexen Regelungsstruktur der unterschiedlichen Wirkungsmechanismen unserer Gesellschaft, die neuerdings immer mehr als „Governance“-Strukturen bezeichnet werden (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 2.3.4). Mit der im Herbst 1998 neu gewählten rot-grünen Bundesregierung zog auch auf Bundesebene ein neues Leitbild ein, das einige dieser Problemlagen aufnahm. Favorisierte die konservativ-liberale Regierung in ihrer Regierungszeit das Leitbild des „schlanken Staates“ und nahm sie vor allem Anfang der 90er-Jahre in diesem Sinne einige Privatisierungsmaßnahmen14 vor, so sollte nun aus dem schlanken der aktivierende Staat werden. Ging es im schlanken Staat um die Konzentration auf staatliche Kernaufgaben und Aufgabenabbau gepaart mit individueller Verantwortung und gesellschaftlicher Selbstregelung (Jann/Wewer 1998), will der aktivierende Staat die Handlungsfähigkeit des Staates durch Aufgabenumbau, Verantwortungsteilung und Leistungsaktivierung bewahren (Blanke/Plaß 2002).
13 Traditionelle Aufgaben regulativer Staatstätigkeit lagen im Bereich der Arbeitszeitregulierung, der Tierseuchenregulierung, des Baurechtes. Daneben gab es insbesondere im Bereich der technischen Sicherheit und im Bereich der Börsen- und Geldgeschäfte eine lange Tradition gesellschaftlicher Selbstregulierung (Czada/Lütz/Mette 2003, S. 13f.). 14 Zu nennen sind im Bereich der Bundesverwaltung die Deutschen Bundesbahn (seit 1.1.1994 Deutsche Bahn AG), die Unternehmen der Deutschen Bundespost (Postdienst, Postbank, Telekom) sowie die Flugsicherung (1993). Auf Bundesebene dominieren in dieser Zeit Privatisierungs- und Deregulierungsbemühungen. Im Zeitraum von 1982 bis 1994 wurden die Unternehmensbeteiligungen des Bundes von 958 auf weniger als 400 reduziert. Erzielt werden konnte ein Gesamterlös von 12 Mrd. DM und rund 1 Mio. Mitarbeiter schieden aus dem öffentlichen Dienst aus. 69
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Gemeint ist mit dem aktivierenden Staat ein Staat, der zu einer Optimierung der Abläufe in der Gesellschaft beiträgt, bestimmte Grundbedürfnisse (öffentliche Infrastruktur, Bildung, öffentliche Sicherheit, Rechtssicherheit, soziale Sicherung) sicherstellt und Eigeninitiative und gesellschaftliches Engagement unterstützt. Vor dem Hintergrund dauerhafter öffentlicher Haushaltsprobleme und der Notwendigkeit, Veränderungen staatlicher Aufgaben in demokratischen Prozessen durchzusetzen, was angesichts vorhandener Reformwiderstände und -blockaden nicht einfach ist, wird sich für eine Aufgabenentlastung des Staates durch Differenzierung verschiedener Verantwortlichkeiten ausgesprochen. In Weiterentwicklung des Konzeptes des Gewährleistungsstaates wird auf Verantwortungsteilung und Verantwortungsstufung gesetzt (Blanke/Plaß 2002, S. 12f.). Ausgehend von der politischen Führungsverantwortung soll der aktivierende Staat • die Gewährleistungsverantwortung für eine öffentliche Aufgabe übernehmen, wenn im demokratischen Prozess ein wichtiges öffentlichen Interesse festgestellt worden ist, • nur dann die Finanzierungsverantwortung übernehmen, wenn keine marktgerechten Erlöse zu erzielen sind oder staatliche Finanzierung politisch beabsichtigt ist (z. B., um soziale Benachteiligungen auszugleichen), und • nur dann die Vollzugsverantwortung übernehmen, wenn nichtstaatliche Dritte nicht verfügbar sind oder der Vollzug durch solche Dritte aus Risiko-, Gleichbehandlungs- oder Missbrauchsgründen ausscheidet. Diese Elemente finden sich auch in der Verwaltungspraxis wieder. Staatliche Stellen versuchen zunehmend, nicht mehr alles selbst zu erledigen, sondern neue Formen der Selbststeuerung und Selbstverantwortung zumindest ergänzend aufzubauen. So wurden zum einen vor allen in den verschiedenen Sozialversicherungszweigen die Bemühungen intensiviert, Elemente stärkerer Selbstverantwortung einzubauen. Man denke an die im Jahr 2001 beschlossene private Ergänzung zur gesetzlichen Rentenversicherung, an die Reformen im Bereich der Krankenversicherung oder an Teile der sog- Hartz-Gesetze. Zum anderen wurden vor allem auf kommunaler Ebene seit Ende der 90er-Jahre die Versuche verstärkt, die Bürger stärker in die öffentliche Dienstleistungsproduktion einzubeziehen (vgl. Kapitel 5.2.3). Auch wenn der aktivierende Staat von den Bundesregierungen der letzten Jahre, bei denen es sich überwiegend um „große Koalitionen“ handelte, nicht mehr explizit als Leitbild benannt wird, finden sich die oben genannten zentralen Prinzipien im Staatshandeln nach wie vor wieder. Elemente der stärkeren Kooperation und Beteiligung von Adressaten haben eher noch zugenommen (vgl. Döhler 2019, S. 25) und eine weitere Zurücknahme aus der Vollzugsverantwortung wird prinzipiell
3.1 Öffentliche Aufgaben und Staatstätigkeit
71
angestrebt, wenn man an die konzeptionellen Vorstellungen einer digitalen Transformation der Verwaltung denkt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die internationale Diskussion, und insbesondere auch die internationalen Erfahrungen mit heftigen Haushaltskürzungen im Rahmen einer überaus strengen staatlichen Sparpolitik, die unter dem Label Austerity in vielen Ländern in der Folge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 eingeführt wurde, in der deutschen Diskussion kaum ein Rolle gespielt haben (vgl. aber international Pollitt/Bouckaert 2017, S. 21ff). Ein neues einigermaßen kohärentes politisches Leitbild der Staatstätigkeit ist derzeit nicht zu erkennen, allenfalls die Vorstellungen eines „digitalen Staats“ kommen dafür infrage (siehe dazu insgesamt 12 Beiträge in Veit et.al. 2019, S. 521ff. zu verschiedenen Teilaspekten sowie Klenk u. a. 2020). Die entsprechenden Messen der Beratungsfirmen laufen schon seit einiger Zeit unter der Überschrift „Digitaler Staat“, und auch im aktuellen Programm der Bundesregierung „Moderne Verwaltung“ spielen Themen wie eGovernment, Open Government etc. eine große Rolle. Aber wie bereits oben argumentiert (2.3.5), gibt es dafür bisher keine einleuchtende theoretische und konzeptionelle Fundierung, außer der Überzeugung, dass mit der neuen Welt des Internets, mit Cloud Computing, Blockchains etc. alle Probleme zu lösen und eine bessere, schnellere und effizientere Verwaltung verhältnismäßig leicht zu erreichen sei. Eine ganz andere Frage ist, wie sich die Corona-Krise auf die längerfristige Entwicklung unserer Vorstellungen von Staat und Verwaltung auswirken wird. Es besteht weitgehend Einigkeit, dass diese Krise kurzfristig zu massiven, bisher kaum vorstellbaren staatlichen Eingriffen und Programmen geführt hat. Für einige Beobachter ist daher klar, big government is back. Inwieweit dies richtig ist, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Aber schon vor der Corona-Krise gab es Anzeichen, dass die Zeit der strengen Sparmaßnahmen, der Austerity, selbst in einem der davon am stärksten gebeutelten Länder wie dem Vereinigten Königreich vorbei ist (z. B. durch Re-Nationalisierung von Eisenbahnen, der Wasserversorgung, Kontrolle der Energiepreise etc. durch konservative Regierungen). Deutlich wurde dies schon an der Finanzkrise (vgl. Heinze 2009). Vielleicht stehen wir in den nächsten Jahren endgültig vor einer Renaissance des starken Staats, oder es gibt ein ganz neues Konzept des „Versorgungsstaats“ (Joschka Fischer).
71
72
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
3.2
Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat15
3.2
Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat
3.2.1 Gewaltenteilung und föderaler Staatsaufbau
Gewaltenteilung ist ein Grundprinzip politischer Herrschaftsgestaltung und -begrenzung. Minderheits- und Mehrheitsdiktaturen sollen verhindert und in der politischen und sozialen Auseinandersetzung benachteiligten und unterlegenen Minderheiten eine mitwirkende Teilnahme eröffnet werden. Gewaltenteilung zielt darauf ab, übermäßige Machtkonzentrationen an einer Stelle zu verhindern und Sicherungen gegen Machtmissbrauch zu institutionalisieren, um einen dauerhaften gesellschaftlichen und politischen Integrationsprozess zu gewährleisten. Es geht also nicht nur um Machtkontrolle, sondern immer auch um Gemeinschafts aktivierung (vgl. Steffani 1997, S. 29). Die wesentlichen Mittel der Gewaltenteilung sind Kompetenzaufgliederungen, Institutionalisierung von Kontrollinstrumenten und Institutionalisierung von Verfahren zur Gemeinschaftsaktivierung. Im Staatsaufbau der Bundesrepublik gibt es laut Grundgesetz zwei zentrale Mechanismen der Gewaltenteilung, die klassische horizontale Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Rechtsprechung, sowie die vertikale Gewal tenteilung zwischen Bund und Ländern durch das Bundesstaatsprinzip. Auf beide Prinzipien soll kurz eingegangen werden. Horizontale Gewaltenteilung geht auf die von Locke und Montesquieu entwickelte klassische Lehre von der Teilung der Staatsgewalt in die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative zurück. Auch in Deutschland wird die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20, Abs. 2 GG). Gesetzgebungskompetenzen üben nur der Bund und die Länder aus, zur vollziehenden Gewalt gehören Bund, Länder und Kommunen, und zur Rechtsprechung Bundes- und Landesgerichte (vgl. Abbildung 10). Allerdings ist klar, dass in einem parlamentarischen System wie in der Bundesrepublik Deutschland keine strikte Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung vorhanden ist, wie in einem präsidentiellen System (z. B. USA). Stattdessen sind Legislative und Exekutive im Parlament eng miteinander verflochten (vgl. z. B. Böhret/Jann/ Kronenwett 1988, S. 208ff).
15 Die Veränderung in der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung durch die Europäische Union und die institutionellen Besonderheiten des europäischen Mehrebenensystems werden in Kapitel 5.4 dargestellt.
Kommunen
Länder
Bund
3.2 Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat
Gesetzgebung (Legislative)
Vollziehende Gewalt (Exekutive)
Rechtsprechung (Judikative)
Bundestag Bundesrat
Bundesregierung Bundesverwaltung
Gerichte des Bundes
Parlamente der Länder
Landesregierungen Landesverwaltungen
Gerichte der Länder
Ausschließliche Gesetzgebung (Art. 73 GG) Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72, 74, GG)
Bundeseigene Verwaltung (Art. 86-87b, 87d,-89 GG)
Gesetzgebung der Länder Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72, 74 GG)
Landeseigene Verwaltung Ausführung der Bundesgesetze – als eigene Angelegenheit (Art. 83, 84 GG) – im Auftrag des Bundes (Art. 85 GG)
Kreistage Gemeindevertretungen/ Stadtverordnetenversammlungen/ Gemeinde-, Stadträte
Landräte/ Kreisausschüsse – (Ober-)Bürgermeister/ Gemeindevorstände/ Magistrate
Rechtsetzungsbefugnisse
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(Art. 93-96 GG) Bundesverfassungsgericht Oberste Gerichtshöfe des Bundes Bundesgerichte
(z.B. Landgerichte, Arbeitsgerichte, Oberverwaltungsgerichte, Kreisgerichte, Bezirksgerichte)
Abb. 10 Staatsaufbau Quelle: eigene aktualisierte Darstellung nach Heyde/Ziller 2000, S. 3.
Das zweite wesentliche Prinzip im Staatsaufbau Deutschlands ist laut Grundgesetz die Bundesstaatlichkeit (Art. 20, Abs. 1 GG). Unter Föderalismus versteht man ein politisches Grundprinzip, demzufolge sich Einzelstaaten unter Wahrung ihrer Staatlichkeit zu einem Bund zusammenschließen (lat. foedus = der Bund). Die Einzel- oder Gliedstaaten, in diesem Fall die Länder, haben neben dem Bund eigene Hoheitsrechte und Zuständigkeiten, man spricht daher auch von der „Eigenstaatlichkeit“ der deutschen Bundesländer. Grob gesagt lautet die Leitlinie des GG, 73
74
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
dass alles, was im allgemeinen Interesse einheitlich geordnet und geregelt werden muss, in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fällt, während in allen anderen Angelegenheiten grundsätzlich die Länder zuständig sind.
Gesetzgebung
Verwaltung
Rechtsprechung
Bund Länder • wenig eigene Gesetzgebungs• fast alle Gesetzgebungs kompetenzen kompetenzen (ausschließliche, (vor allem Polizei, Bildung, konkurrierende) Kommunales) • Zustimmungs- und Einspruchsrechte • fast alle Verwaltungs • kaum eigene Verwaltungs kompetenz kompetenz • Durchführung fast aller • meistens nur Rechtsaufsicht Gesetze bei der Durchführung • oberste Bundesgerichte • quantitatives Übergewicht der Landesgerichte
Abb. 11 Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern Quelle: eigene Darstellung
Die föderative Staatsform entspricht der deutschen Verfassungstradition, soll den Wettbewerb zwischen Regionen fördern, regionale Besonderheiten berücksichtigen, vor Machtmissbrauch schützen und eine überschaubare Politik ermöglichen. Ziel ist es, die Aufgaben zwischen Bund und Ländern so zu verteilen, dass sie auf der Ebene gelöst werden können, auf der es am besten möglich ist. Drei wesentliche Elemente machen den institutionellen Kern des deutschen Bundesstaates aus (Lehmbruch 2002, S. 103): • der Exekutiv- oder Verwaltungsföderalismus mit der funktionalen Aufteilung von Gesetzgebung und Verwaltungskompetenzen, • die Bundesratskonstruktion, also die Besetzung der zweiten Kammer durch Regierungsvertreter und nicht durch Parlamentarier, sowie • die finanzwirtschaftlichen Verflechtungen im Steuerverbund. Dieser Kern ist nach Lehmbruch weitgehend veränderungsresistent. Seit der Paulskirchenverfassung von 1849 gibt es das Basisarrangement, den Verwaltungs föderalismus, der den Vorrang der Gesetzgebung beim Bund sieht, aber mit Rücksicht auf die bereits vorhandenen Verwaltungen die Überlassung der inneren Verwaltung
3.2 Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat
75
an die Länder delegiert. Dieses Basisarrangement wurde von Bismarck ergänzt durch Verhandlungsmechanismen mit dem Bundesrat, während zu Beginn der Weimarer Republik das finanzpolitische Verbundsystem kreiert wurde. Lehmbruch weist allerdings auch wiederholt darauf hin, dass der deutsche Exekutivföderalismus mit den Merkmalen der Relativierung des Mehrheitsprinzips, dem Schutz von Minderheitspositionen und der Begrenzung von Hierarchie, noch weit ältere Wurzeln hat (Lehmbruch 1999, ebd. 2013, S. 167 ff). Grob vereinfacht ist er Ergebnis der religiösen Spaltung Deutschlands in Katholiken und Protestanten, und der daraus im westfälischen Frieden 1648 gezogenen Konsequenzen, nämlich die „erste groß angelegte Konstitutionalisierung eines Verhandlungssystems“ mit einer ins Detail ausgefeilten Machtverteilung der Konfessionen innerhalb der föderativen Reichsverfassung. Dieses Verhandlungssystem wurde abgesichert durch Mechanismen zur gütlichen Einigung im Reichstag (u. a. Fraktionssitzungen der Konfessionen) und Parität in den rechtsprechenden Institutionen des Reiches, im Wiener Reichshofrat und im Wetzlarer Reichskammergericht. Anders als zentralistische Staaten wie Frankreich oder England haben sich in Deutschland daher die reinen Prinzipen der Mehrheitsentscheidung (winner takes all) und eine strikte staatliche Hierarchie der Zentralregierung nie durchgesetzt. Verhandlungen und Kompromisse gehören zum zentralen Erbgut unserer Geschichte, sie finden sich sozusagen in unseren staatlichen Genen. Dies ist vermutlich auch ein Grund, warum Deutschland mit den komplizierten Entscheidungsprozessen in der EU viel besser zurechtkommt, als z. B. Großbritannien, welches immer Schwierigkeiten hatte die Ergebnisse dieser Verhandlungsprozesse als legitim anzuerkennen bzw. dies in der Bevölkerung zu vermitteln (vgl. hierzu Gröbe u. a. 2019).
3.2.2 Gesetzes- und Verwaltungszuständigkeiten Auch wenn das Bundesstaatsprinzip laut Grundgesetz nicht veränderbar ist (Art. 79, Abs. 3 GG), haben sich in der konkreten Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern zahlreiche Änderungen ergeben. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Verteilung der Gesetzgebungskompetenz in Deutschland. Im Prinzip haben nach dem GG (Art. 70) die Länder die Gesetzgebungskompetenz, es sei denn, das Grundgesetz bestimmt es anders. Nach und nach wurde jedoch durch zahlreiche Interpretationen hinsichtlich der konkurrierenden Gesetzgebung der größte Teil der Gesetzgebungskompetenz auf den Bund verlagert. Im Jahr 2006 wurde dann im Rahmen der Föderalismusreform I die Rahmengesetzgebung abgeschafft, die ehemals per Rahmengesetzgebung geregelten Materien und Teile der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Länder aufgeteilt, die Zustimmungspflicht bei 75
76
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Gesetzen verändert mit dem Ziel einer Reduzierung der zustimmungspflichtigen Gesetze sowie die Gemeinschaftsaufgaben neu geregelt (zur Föderalismusreform I und der Diskussion der möglichen Effekte vgl. Kapitel 3.2.1.4). Nunmehr lassen sich noch zwei Formen der Bundesgesetzgebung unterscheiden: Bei der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes handelt es sich um Gegenstände, die wegen ihrer Eigenart nur vom Bund geregelt werden können. Im Zuge der Föderalismusreform I und späterer Änderungen ist der Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung ausgeweitet worden. Gegenstände sind nach Art. 73 GG u. a. (neue Bereiche sind fett gedruckt): • Auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und Schutz der Zivilbevölkerung • Staatsangehörigkeit im Bunde • Freizügigkeit, Passwesen, Melde- und Ausweiswesen, Ein- und Auswanderung, Auslieferung • Währung-, Geld- und Münzwesen, Maße, Gewichte, Zeitbestimmung • Einheit des Zoll- und Handelsgebietes, Handels- und Schifffahrtsverträge, Waren- und Zahlungsverkehr mit dem Ausland, Zoll- und Grenzschutz • den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland • Bundeseisenbahnen und Luftverkehr • Post- und Telekommunikation • die Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechtes stehenden Personen • Gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht, Verlagsrecht • Zölle und Finanzmonopole • Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus, Waffen- und Sprengstoffrecht • die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in der Kriminalpolizei, beim Verfassungsschutz sowie die internationale Verbrechensbekämpfung • Kriegsopferversorgung • Kernenergie, Entsorgung radioaktiver Stoffe Bei der konkurrierenden Gesetzgebung hatte der Bund in festgelegten Bereichen bis zum Jahr 2006 immer dann ein Gesetzgebungsrecht, wenn es zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse notwendig erschien. Solange der Bund mit Hinweis auf die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ nach Art. 72 Abs. 2 GG von seinen Gesetzgebungsrecht noch keinen Gebrauch gemacht hatte, hatten die Länder die Gesetzgebungsbefugnis. Allerdings hatte der Bund in zunehmendem Maße von seinen Möglichkeiten Gebrauch gemacht. Im Zuge der Föderalismusreform I sind nun in Art. 72 GG weiterhin 10 Gebiete benannt, für die die alte Regelung
3.2 Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat
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gilt (kursiv hervorgehoben) und der Bund sein Tätigwerden begründen muss. Alle anderen in Art. 74 genannten Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung sind nun unstreitig Bundesangelegenheiten. In sieben im Art. 72 festgelegten Bereichen (fett hervorgehoben) können die Länder zudem abweichende Regelungen beschließen, wenn der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht. Diese Bereiche waren vorher in der Rahmengesetzgebung des Bundes geregelt. Schwerpunkte der konkurrierenden Gesetzgebung sind nach Art. 74 GG: • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Bürgerliches Recht, Strafrecht, Notariatswesen Personenstandswesen und Vereinsrecht Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer Öffentliche Fürsorge Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht Ausbildungsbeihilfen, Förderung der wissenschaftlichen Forschung Enteignung und Sozialisierung die Überführung von Grund und Boden, von Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum Kartellrecht Förderung der Land- und Forstwirtschaft, Sicherung der Ernährung Grundstückswesen, Bodenrecht, Wohnungswesen Seuchenschutz, Arzneimittelverkehr, Zulassung zu Heilberufen, Apothekerwesen Wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser Schutz beim Verkehr mit Lebens- und Genussmitteln Schifffahrt und Wasserstraßen Straßenverkehr, Kraftfahrtwesen sowie Bau und Unterhaltung von Fernverkehrsstraßen Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung medizinische unterstütze Erzeugung menschlichen Lebens, Transplantation, und Veränderung von Erbanlagen Jagdwesen Naturschutz und Landschaftspflege Bodenverteilung Raumordnung Wasserhaushalt Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse Grundsteuer
Die Gegenstände der Landesgesetzgebung sind wie ausgeführt nicht explizit im GG erwähnt, sondern ergeben sich für alle Bereiche, für die nicht explizit der Bund 77
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zuständig ist und für die der Bund keinen Gebrauch von der konkurrierenden Gesetzgebung macht. Durch die Föderalismusreform I ist den Ländern aus dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Zuständigkeit für die Untersuchungshaft, das Heimrecht, Ladenschluss, Gaststätten, Spielhallen, Messen, Ausstellungen, Märkte, Flurbereinigung sowie aus dem Bereich der Rahmengesetzgebung die Besoldung des öffentlichen Dienstes neu zugefallen. Schwerpunkte der Landesgesetzgebung sind jedoch nach wie vor • • • • • • • •
Schul- und Hochschulrecht Presse und Rundfunkrecht Kommunalrecht Landesplanungsrecht Polizeirecht Bauordnungsrecht Straßenrecht Wasserrecht
Die Rechtsetzungsbefugnis der Kommunen, die keine Eigenstaatlichkeit besitzen und Teil der Länder sind, wird durch den Erlass von Satzungen ausgeübt. Diese Rechtssetzungsbefugnis ergibt sich aus dem im GG gewährten Recht auf kommunale Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG). Das Recht, Satzungen zu erlassen, kommt den kommunalen Vertretungskörperschaften zu. Beispiele für kommunale Rechtssetzungen sind • • • • •
Hauptsatzungen Haushaltssatzungen Bebauungspläne Gebühren- und Beitragssatzungen Steuersatzungen, z. B. Gewerbesteuerhebesatz
Die Verwaltungszuständigkeiten und insbesondere der geringe Anteil zentralstaatlicher Verwaltung in Deutschland sind eine Folge des Föderalismusprinzips (Verwaltungsföderalismus), des Gewaltenteilungsprinzips sowie der grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung. Verwaltungszuständigkeit und Regelungskompetenz sind oft getrennt. Viele Verwaltungstätigkeiten, die Länder und Kommunen ausüben, werden durch einheitliche Bundesgesetze gesteuert. Der Bund bedient sich mit wenigen Ausnahmen zur Durchführung seiner Gesetze der Verwaltung der Länder und der Kommunen. Dass die starke Verwaltungsdezentralisierung die staatliche Einheit nicht gefährdet, wird neben einer bundesein-
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heitlichen Rechtsordnung durch einen weitgehend bundeseinheitlich geregelten öffentlichen Dienst, eine nationale Parteienstruktur sowie ein bundeseinheitliches Wirtschaftssystem gewährleistet. Nach dem Grundgesetz (Art. 30, Art. 83) ist die Verwaltung in Deutschland daher mit wenigen Ausnahmen Aufgabe der Länder und der Gemeinden. Anders als in anderen Bundesstaaten, z. B. in den USA, liegen Verwaltungs- und Gesetzgebungskompetenz meist nicht beim gleichen Träger. Folgende Verwaltungszuständigkeiten sind zu unterscheiden (vgl. auch Abbildung 12). Nur in wenigen, im Grundgesetz ausdrücklich aufgeführten Fällen besteht eine bundeseigene Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau. Dies wird als der Bundesvollzug von Bundesgesetzen bezeichnet. Hierzu gehören der Auswärtige Dienst, die Bundesfinanzverwaltung (in der Bund und Länder allerdings auch zusammenarbeiten), die Bundeswasserstraßen und die Schifffahrt, die Bundespolizei (vormals Bundesgrenzschutz), die Bundeswehrverwaltung, die Eisenbahnverwaltung und neuerdings die Verwaltung der Bundesautobahnen.16 In diesen Fällen bestehen die klassischen Weisungsrechte im hierarchischen Behördenaufbau, und der Bund trägt die gesamten Kosten, ansonsten kann der Bund i. d. R. nicht per Weisung in die Verwaltung der Bundesländer oder der Kommunen eingreifen. Es ist also im deutschen System undenkbar, dass die Bundeskanzlerin einem Ministerpräsidenten Weisungen erteilt, oder (außer in ganz wenigen Ausnahmefällen) ein Bundesminister einem Landesminister. Die Ausnahme ist der eher seltene Landesvollzug von Bundesgesetzen im Bundesauftrag, die so genannte Bundesauftragsverwaltung. Hierzu gehören die Luftverkehrsverwaltung, die Genehmigung von Kernkraftwerken und Anlagen zur Lagerung und Wiederaufbereitung radioaktiver Stoffe und die Verwaltung bestimmter Steuern (und bis zum Jahr 2021 auch die Verwaltung der Bundesautobahnen, die ab dann Teil der bundeseigenen Verwaltung wird, vgl. hierzu Fischer/ Pennekamp 2018, sowie generell zur Straßenbauverwaltung Bogumil/Ebinger 2013). Im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung besteht ein umfassendes Weisungsrecht des Bundes, und der Bund kann im Einzelfall die Länder anweisen, bestimmte Maßnahmen durchzuführen oder zu unterlassen, was vor allem im Bereich der Kernenergienutzung gelegentlich aufgetreten ist, allerdings immer sehr kontrovers war, und vom Bund möglichst vermieden wird. Der Bund übt damit die Rechtsund die Fachaufsicht aus. Ferner bestimmt er die Ausbildungsvorschriften und ist bei der Bestellung der Leiter von Mittelbehörden beteiligt. Allerdings trägt der Bund auch die Kosten. 16 Die Bundesfernstraßen sind aber nach wie vor den Ländern im Zuge der Bundesauftragsverwaltung zugeordnet. 79
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Als eigene Angelegenheiten der Länder (Art. 84 GG) Bundesaufsicht bzgl. Gesetzmäßigkeit
Keine Weisungsrechte des Bundes (außer in besonderen Fällen bei gesetzlicher Regelung mit Zustimmung des Bundesrates) Allgemeine Verwaltungsvorschriften des Bundes mit Zustimmung des Bundesrates
Bundesaufsicht bzgl. Gesetzmäßigkeit u. Zweckmäßigkeit
Durch Bundesverwaltung (Art. 86 und 87 GG) Ausführung durch nachgeordnete Behörden
Weisungsrecht des Bundes, im Allgemeinen an die obersten Landesbehörden
Umfassende Weisungsrechte im hierarchischen Behördenaufbau
Im Auftrag des Bundes (Art. 85 GG)
Wie bei eigener Angelegenheit, ferner: Ausbildungsvorschrif ten und Einvernehmen des Bundes bei Bestellung von Leitern der Mittelbehörde Verwaltungskosten Bund trägt Verbeim Land, Geldwaltungskosten; leistungen an Bürger Minderanteil an bis 50 % können Geldleistungen für vom Bund getragen Bürger kann beim werden (Art. 104a Land liegen (Art. GG)17 104a GG)
Gemeinschaftsaufgaben (Art 91a GG) Mitwirkung des Bundes bei Landes aufgaben durch „gemeinsame Rahmenplanung“ Unterrichtungsrechte von Bundesregierung und -rat
Bund organisiert eigene Behörden und bestellt ausführendes Personal
Bund trägt sämtliche Kosten
Bund und Länder teilen die Kosten
Abb. 12 Durchführung von Bundesgesetzen Quelle: eigene Darstellung
17 Wenn der Bund über 50 % der Kosten übernimmt, erfolgt ein Umschlagen in die Bundesauftragsverwaltung. Dieser Punkt wird insbesondere im Zusammenhang mit der Übernahme des Bundes bei den Kosten der Unterkunft im SGB II zunehmend kritisch diskutiert und gefordert diesen Anteil auf 60 % oder 75 % zu erhöhen, ohne dass ein Umschlagen in die Bundesauftragsverwaltung erfolgt.
3.2 Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat
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Die Regel des Verwaltungsvollzugs in Deutschland ist indes der Landesvollzug von Bundesgesetzen als eigene Angelegenheit der Länder.18 Die Länder dürfen hier die Einrichtungen der Behörden und das Verwaltungsverfahren selbst bestimmen. Praktisch können die Landesverwaltungen damit z. B. bei der Krankenhausplanung, bei der Jugendhilfe, im Umweltschutz, bei der Stadtsanierung und im Baurecht, im Straßenverkehrsrecht und im Ausländerwesen den Spielraum ausschöpfen, den die Gesetze lassen. Der Bund übt hier nur die Rechts-, aber keine Fachaufsicht aus. Die Verwaltungskosten werden hier vom Land getragen, Geldleistungen an die Bürger können bis zu 50 % vom Bund getragen werden. Beim Landesvollzug von Landesgesetzen führen die Landesbehörden, zu denen auch die Kommunen zählen, die Gesetze selbstständig und ohne Mitsprache des Bundes aus. Wir werden hierauf in Kapitel 3.4 zurückkommen. Hierzu gehören vor allem der Denkmalschutz, Theater, Museen, Sport, Polizei, regionale Strukturpolitik, Wirtschaftsförderung, Landesplanung und Raumplanung. Nur das Auswärtige Amt, die Bundeswasserstraßen, die Bundespolizei, die Finanzverwaltung, die Bundeswehrverwaltung sowie die Arbeitsverwaltung (als mittelbare) sind nach den Privatisierungen von Bahn, Post und Flugsicherung noch Bereiche mit einem eigenständigen bundesstaatlichen Behördenunterbau. Der gesamte Bildungsbereich, das Krankenhauswesen, die Polizei, Umweltschutzmaßnahmen, Straßenbaumaßnahmen (auch Bundesstraßen), die Finanzämter, Energiemaßnahmen, viele soziale Dienste wie Sozialhilfe, Wohngeld oder Kriegsopferfürsorge und anderes mehr werden von Ländern und Kommunalbehörden bearbeitet. Unterteilt man nun die Verwaltungszuständigkeiten nach Sektoren, so ergibt sich grob folgendes Bild: • In den Sektoren Auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung, Finanz- und Steuerverwaltung liegt die Verwaltungszuständigkeit überwiegend beim Bund; • in den Sektoren öffentliche Sicherheit und Ordnung, Rechtsschutz, Umweltschutz, Wirtschaft, Kultur (einschließlich Medien) und Bildungswesen bei den Ländern, und • in den Sektoren innere Verwaltung und allgemeine Staatsaufgaben, Soziales, Gesundheitswesen, Wirtschaftsförderung, Verkehr und öffentliche Einrichtungen bei den Gemeinden.
18 Nach der Föderalismusreform I können durch Bundesgesetze keine Aufgaben mehr an Gemeinden und Gemeindeverbände übertragen werden. 81
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3.2.3 Gemeinschaftsaufgaben und Politikverflechtung Neben diesen getrennten Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnissen ist eine Entwicklung zu Planungs-, Entscheidungs- und Finanzierungsverbünden zu beobachten, die 1969 durch die Einführung von Gemeinschaftsaufgaben (Hochschulbau, regionale Wirtschaftsstrukturverbesserung, Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, Art. 91a GG) begann. Hier finanziert der Bund die Aufgabenerfüllung in der Regel zu 50 % (in der Agrarstruktur zu 60 % und im Küstenschütz zu 70 %) und hat insofern auch Planungseinfluss durch die gemeinsame Rahmenplanung mit den Ländern. Durch die Föderalismusreform I ist jedoch der Hochschulbau aus dem Katalog der Gemeinschaftsaufgaben gestrichen worden, so dass hier auch die Mischfinanzierung entfällt. Der Hochschulbau (Ausbau und Neubau) ist künftig von den Ländern allein zu finanzieren. Die dadurch freiwerdenden Finanzmittel werden den Ländern jedoch bis zum Jahr 2019 zur Verfügung gestellt (vgl. Art. 143c GG). Zu diesem Zeitpunkt läuft die Vereinbarung zum staatlichen Finanzausgleich im Rahmen des Solidarpaktes II ab und es musste ein neuer staatlicher Finanzausgleich gefunden werden (vgl. hierzu Kap. 3.7.1). Diskutiert wird neuerdings (u. a. in den gescheiterten Koalitionsgespräche von CDU, CSU, GRÜNEN und FDP im Jahr 2017) die Schaffung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“, bei der sich der Bund mindestens mit 50 % beteiligen sollte und die darauf abzielt im Bereich des Ausbau von ÖPNV, Glasfaser, 5G, Gewährleistung einer wohnortnahen Grundversorgung u. a. die Kommunen in die Lage zu versetzen, diese Aufgaben anzugehen (vgl. Kersten u. a. 2015). Darüber hinaus haben Bund und Länder im Bereich der Bildungsplanung und Förderung der Forschung zusammengewirkt (Art. 91b GG). So werden die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Bereich der wissenschaftlichen Grundlagenforschung je zur Hälfte von Bund und Ländern finanziert, im Bereich der anwendungsorientierten Forschung die Großforschungsanlagen wie die Fraunhofer-Gesellschaft oder das Deutsche Krebsforschungszentrum sogar zu 90 % vom Bund. Im Bereich der Hochschulen können Bund und Länder auf Grund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre zusammenwirken. Diese Vereinbarungen bedürfen der Zustimmung der Länder. Zu nennen sind hier die Förderung von sogenannten „Eliteuniversitäten“ oder die Hochschulpakte I bis III zur Verbesserung der Lehrsituation. Die Vermischung der Aufgaben- und Verwaltungszuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen führt zu einer gesonderten Form der Willensbildung, die in der Politikwissenschaft unter dem Stichwort Politikverflechtung diskutiert wird (vgl. Scharpf u. a. 1976; Benz 1997, Benz/Detemple/Heinz 2016). Politikver-
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flechtung ist eine typische Eigenschaft föderativ verfasster Staaten. Sie steht für alle Kompetenzverschränkungen, die staatsrechtlich autonome Entscheidungsträger des Bundes und der Länder zwingt, bei der Erfüllung der Aufgaben zusammenzuwirken. Sie bezeichnet in Deutschland eine Entscheidungsstruktur, in der die meisten öffentlichen Aufgaben nicht durch Entscheidungen einzelner Gebietskörperschaften, sondern durch Kooperation von Bund, Ländern und Kommunen und zunehmend auch der Europäischen Union wahrgenommen werden, so dass hier auch von einem kooperativen Föderalismus gesprochen wird. Politikverflechtung ist in Deutschland durch die Gemeinschaftsaufgaben, durch die Mitsprache der Länder im Bundesrat, durch den Steuerverbund (vgl. 3.7.1) und den Verwaltungsföderalismus verfassungsmäßig institutionalisiert. Der Bundesrat ist neben dem Bundestag das zweite Gesetzgebungsorgan des Bundes, über den die Länder an der Bundesgesetzgebung, bei der Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirken. Bekannt geworden ist insbesondere die Mitwirkung an den sogenannten Zustimmungsgesetzen, die nur in Kraft treten können, wenn der Bundesrat sie ausdrücklich billigt. Ihr Anteil ist von ca. 30 % in den 1970er Jahren auf bis zu 55 % Anfang des 21. Jahrhunderts angestiegen. Die Zustimmungsgesetze sind im Einzelnen im Grundgesetz beschrieben. Es sind Gesetze, die in die Verwaltungshoheit der Länder eingreifen, die Finanzen der Länder beeinflussen oder die die Verfassung ändern. Auch können die wichtigsten Rechtsverordnungen und allgemeine Verwaltungsvorschriften nur mit Zustimmung des Bundesrates in Kraft treten (zu den Änderungen durch die Föderalismusreform I siehe Kapitel 3.2.4). Neben dieser vertikalen Form der Politikverflechtung gibt es auch horizontale Verflechtungen zwischen dezentralen Gebietskörperschaften, wenn diese Entscheidungen, die über das eigene Territorium hinausreichen, mit den anderen betroffenen Gebietskörperschaften abstimmen. Beispiele für aus einer horizontalen Verflechtung entstandene Einrichtungen sind z. B. das ZDF (als weitgehend autonome Rundfunkanstalt), die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen oder die Ständige Konferenz der Kultusminister. Daneben gibt es zum Zweck der Koordination regelmäßige Besprechungen der Regierungschefs der Länder untereinander und mit dem Bundeskanzler, den Konjunkturrat, den Finanzplanungsrat, den Wissenschaftsrat sowie die Bund-Länder Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderungen und alle möglichen Fachministerkonferenzen der Bundesländer (dies wird als sog. „Dritte Ebene“ bezeichnet). Insgesamt kann das Verwaltungsgefüge in Deutschland aufgrund der Mitwirkungsrechte der unteren Ebenen an Entscheidungen höherer Ebenen, der Freiräume beim Vollzug von Maßnahmen, dem Aufsichts- und Weisungssystem und der massiven finanziellen Verflechtungen de facto damit als ein in horizontaler und vertikaler Hinsicht 83
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ausgeprägtes Verbundsystem betrachtet werden. Die formal institutionalisierten Gremien der Bund-Länder-Zusammenarbeit werden durch eine Vielzahl informeller Gremien und Koordinationsmechanismen ergänzt. Hervorzuheben sind hier neben der institutionalisierten Interessenvertretung der Länder in Berlin durch die Landesvertretungen und eine Vielzahl hoch-spezialisierter und professionalisierter Abstimmungsgremien vor allem die von Frido Wagener (1979) als „Ressortkumpanei“ oder „vertikale Fachbruderschaften“ bezeichneten informellen Kontakte zwischen Fachbeamten auf verschiedenen Ebenen (etwa Kommune, Land, Bund bis hin zur EU; Beispiele wären Landwirtschaft, Verkehr oder auch Regionalpolitik), deren informell abgestimmte Standards und Absprachen durch die formell zuständigen politischen Gremien schwer zu kontrollieren und zu ändern sind (vgl. Kap. 4.1.2).
formalinstitutionalisiert
informell
Vertikal (einschließlich des Bundes) • Bundesrat • Gemeinschaftsaufgaben • Auftragsverwaltung • Oberfinanzdirektionen • Bund-Länder-Kommissionen • Landesvertretungen • Fachbruderschaften/ Ressortkumpanei • Treffen Bundeskanzlerin mit MPK
Horizontal (ohne Bund) • Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) • Kultusministerkonferenz (KMK) • Staatsverträge und Verwaltungs abkommen • Medienstaatsvertrag • Fachministerkonferenzen • Arbeitskreise und Beratungs gremien • Sog. „Dritte Ebene“
Abb. 13 Politik- und Verwaltungsverflechtung in Deutschland Quelle: eigene Darstellung
Bundesstaatlichkeit und Politikverflechtung sind wichtige Themen der Politikwissenschaft. Zentrale Spannungslinien werden im Parteienwettbewerb im Bundesstaat, in territorialen Verteilungskonflikten und in der Einbettung des Bundesstaates in die EU gesehen (vgl. z. B. Lehmbruch 1998, Benz 1999, Benz/Lehmbruch 2002). Die Vor- und Nachteile von Politikverflechtung lassen sich nur aufgrund einer differenzierten Analyse einzelner Formen erfassen, und sind hoch kontrovers. Als Vorteile gelten die Koordinierungsfunktion und die Herstellung von Stabilität und Flexibilität öffentlicher Aufgabenerfüllung, während die Nachteile in der Intransparenz, der Fragmentierung von Staatstätigkeit und zumindest in einigen Bereichen in einer ineffizienten und ineffektiven Aufgabenerfüllung gesehen werden (zu den
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Problemlagen von Politikverflechtung im Bereich der Integrations- und Migrationsverwaltung vgl. Bogumil/Kuhlmann 2020). Debatten über die Vor- und Nachteile des Föderalismus, aber auch über zentrale vs. dezentrale Aufgabenwahrnehmung (vgl. 3.2.5) sind so alt wie der Föderalismus in Deutschland. Zentrale Lösungen werden eher aus der Ebene des Bundes vorgeschlagen, dezentrale von den Ländern, wobei die ärmeren und kleineren Bundesländer eher gewillt sind, Kompetenzen zugunsten von Bundesmitteln abzugeben. In der Öffentlichkeit gibt es generell eine oft wenig reflektierte Vorliebe für zentrale und eher wenig Verständnis für die Vorteile dezentraler Aufgabenwahrnehmung, wie die ewigen Debatten über die Probleme des deutschen Bildungsföderalismus zeigen (vgl. Petersen/Grube 2017).
3.2.4 Föderalismusreformen Die Aufgabenerledigung im kooperativen Bundesstaat war daher immer wieder Thema von Reformdiskussionen. Wurde diese lang Zeit trotz einiger kritischer Stimmen durchaus eher positiv betrachtet, verdichten sich in Ende der 1990er Jahre die kritischen Stimmen, die stärker die Reformblockaden und die mangelnde „Regierungsfähigkeit“ in diesem System betonen (z. B. Bertelsmann-Stiftung 2000). Zwar gibt es über die grobe Richtung – Entflechtung, Dezentralisierung und mehr Wettbewerb – weitgehend Einigkeit, aber im Detail variieren die Vorschläge beträchtlich. Von der Schaffung radikal wettbewerbsföderalistischer Strukturen in einem dezentralisierten Einheitsstaat über Vorschläge zur Länderneugliederung, der Einführung eines strikten Steuertrennsystems oder anderer Maßnahmenpakete zur Entflechtung bis hin zu Vorschlägen über eine veränderte Zustimmungspflicht des Bundesrates oder eine Reform des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat oder zur Reform des Länderfinanzausgleiches gibt es ein buntes Bild. In der Reformdiskussion überschätzen nach Ansicht von Benz insbesondere die Verfechter eines Wettbewerbsföderalismus die Nachteile von Kooperation und Verflechtung und unterschätzen die Möglichkeiten des Wettbewerbs im bestehenden System (Benz 2002a, S. 392), so dass es seiner Ansicht nach keine überzeugenden Gründe für eine große Reform in Richtung Wettbewerbsföderalismus gibt, ganz abgesehen davon, dass sich diese auch nicht realisieren lassen würde. Zwar wird nicht bestritten, dass der kooperative Föderalismus hohe Entscheidungskosten mit sich bringt, aber vergessen wird, dass nicht alle Mängel und Problemlagen auf die institutionellen Strukturen des Föderalismus zurückzuführen sind (wie z. B. die Kosten der Deutschen Einheit, die Bildungsdebatte oder die Strukturprobleme in der Sozialversicherung). Nach Ansicht von Benz gibt es keinen festen Zusammenhang zwischen Staats organisation und Leistungsfähigkeit (2002b). Schlechte Kompromisse müssen nicht 85
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auftreten und sind auch in der Vergangenheit nicht immer aufgetreten. Kooperation bringt auch Interessenausgleich und Konfliktregulierung. Allerdings hat sich mit der Zunahme der Verteilungskonflikte der Parteienwettbewerb im Bundesstaat intensiviert und zunehmend auf bundesstaatliche Verhandlungsprozesse ausgewirkt. Auf der anderen Seite gibt es Anzeichen einer Veränderung des Parteiensystems in Richtung einer stärkeren Regionalisierung, die innerhalb der Parteien die Positionen der Ländervertreter stärkt (vgl. Benz 2003a, S. 36). Sollten sich parteipolitische Konfrontationen dadurch auflösen, eröffnen sich nach Benz Chancen für eine differenzierte Dezentralisierungspolitik. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der Politikwettbewerb um die Qualität der Aufgabenerfüllung gestärkt werden sollte und nicht so sehr der auf wirtschaftliche Ressourcen bezogene Standort- oder Steuerwettbewerb, der kaum unter fairen Bedingungen stattfindet und die ohnehin wirtschaftlich schwachen Länder überfordert (zu den Vorschlägen im Detail vgl. ebd., S. 37f). Generell müssen angesichts der pfadabhängigen und komplexen Strukturkonfiguration des deutschen Föderalismus Reformen sorgfältig bedacht werden, damit sie umsetzbar sind und auch die intendierten Effekte erreichen (vgl. ausführlich den Band von Benz/Lehmbruch 2002). Seit Beginn der 2000er Jahre arbeiteten verschiedene Kommissionen an diesen Themenbereichen. Nach langem Ringen und einigen gescheiterten Versuchen kam es letztlich im Zeitraum von 2006 bis 2017 zu drei Föderalismusreformen in Deutschland (vgl. auch Kuhlmann/Wollmann 2019, S. 90f.). Die Föderalismusreform I zielt auf eine die Entflechtung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern durch die Neuordnung der Gesetzgebungszuständigkeiten und eine Reduzierung der zustimmungspflichtigen Gesetze und trat nach einem gescheiterten Versuch im Jahr 2004 am 1.9.2006 mit Änderungen des Grundgesetzes und dem Föderalismusreform-Begleitgesetz in Kraft (vgl. Reutter 2006, Scharpf 2006, 2009, Behnke/Kropp 2016, Behnke 2020b, Kropp/Nguyen 2020). Vom Umfang her war es die umfassendste Reform des Grundgesetzes seit 1949. Zum einen wurde die Rahmengesetzgebung abgeschafft und die ehemals per Rahmengesetzgebung geregelten Materien zwischen Bund und Länder aufgeteilt (zu den Details vgl. Kap. 3.2.1.1). Zum zweiten wurde aus dem Katalog der Gemeinschaftsaufgaben der Hochschulbau gestrichen. Vor allem aber ging es um die Reduzierung der Zustimmungspflicht bei Gesetzen. Das größte Einfallstor für die Zustimmungspflicht der Länder lag in Art. 84 GG Abs. 1, nach dem ein Bundesgesetz dann zustimmungspflichtig wurde, sobald Details über die Art der Ausführung enthalten waren (also über die Einrichtung von Behörden oder bezüglich der Verwaltungsverfahren), da die Ausführung von Bundesgesetzen in der Regel im Rahmen des Landesvollzugs von Bundesgesetzen als eigene Angelegenheiten der
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Länder erfolgt.19 Die Länder verzichten nun in diesen Fällen auf die Mitwirkung am Zustandekommen des Bundesgesetzes, haben dafür aber die Möglichkeit für ihr Land die Ausführung durch ein abweichendes Landesgesetz zu verändern. Sollen die Bundesvorgaben dennoch für alle gültig sein, ist wie bisher die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Welche Effekte diese Maßnahmen hinsichtlich der Reduzierung der Zustimmungspflicht und damit der Einwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates auf die Bundesgesetzgebung haben, ist umstritten. Nach Ansicht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages hätte sich bei Anwendung der neuen Regelungen in den letzten beiden Legislaturperioden vor der Reform der Anteil der Zustimmungsgesetze von 55 % bzw. 51 % auf 26 % bzw. 24 % verringert (Deutscher Bundestag 2009). Burkhart/Manow (2006) machten allerdings darauf aufmerksam, dass der zweitwichtigste Auslöser der Zustimmungspflicht, die Steuergesetzgebung (Art. 105, Abs. 3 GG) ebenso wie alle anderen Zustimmungstatbestände erhalten bleiben und ein neuer geschaffen wurde (Art. 104a, Abs. 4 GG), wenn den Ländern durch Bundesgesetze Ausgaben entstehen. Zudem argumentieren sie, dass allein die zahlenmäßige Verringerung noch nichts darüber aussagt, ob der politische Handlungsspielraum der Regierung dadurch zunimmt oder ob der Gesetzgebungsprozess beschleunigt wird. Insgesamt hielten sie aufgrund ihrer Analysen die Interpretationen des wissenschaftlichen Dienstes für unrealistisch (ebd., S. 15) und die positiven Effekte durch die Föderalismusreform I für überschätzt. Eine erste Analyse des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages hat für den Zeitraum vom 1. September 2006 bis 28. Februar 2009 einen Anteil von 39 % verkündeter Zustimmungsgesetze ermittelt (Deutscher Bundestag 2009), also einen deutlichen Rückgang im Vergleich zu den oben genannten 55 %. Dieser Anteil von weniger als 40 % bei den Zustimmungsgesetzen ist auch in den folgenden Jahren weitgehend stabil geblieben (vgl. Stecker 2016). Bund und Länder haben die neuen ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen zu großen Teilen umgesetzt, wobei die neuen Abweichungsrechte ebenso wie die Möglichkeit des Bundes, eine Abweichung auszuschließen, nur selten angewendet werden (zur Abweichungsgesetzgebung vgl. Chandna 2011, im Umweltbereich Töller/Roßegger 2018). Die Länder haben mit der Beamtenbesoldung Kompetenzen hinzugewonnen (vgl. zu den Effekten Dose u. a. 2020) allerdings haben sie keine zusätzlichen eigenen Steuerquellen erhalten. 2007 konstituierte sich nach der Föderalismuskommission I eine gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanz19 Problematisch wurde diese Regelung auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, welches das Zustimmungserfordernis der Länder auch auf den politischen Inhalt dieser Gesetze ausweitete (vgl. Burkhart/Manow 2006, S. 2). 87
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beziehungen (Föderalismuskommission II). Sie sollte im Bereich der Finanzthemen vor allem die Einführung von Verschuldungsgrenzen und Schuldenbremsen zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen sowie die Etablierung eines Frühwarnsystems diskutieren und im Bereich der Verwaltungsthemen Vorschläge für eine Optimierung der Verwaltungsaufgaben zwischen Bund und Ländern entwickeln. Nach langen Verhandlungen kam es im Jahr Sommer 2009 zu einer Änderung diverser Grundgesetzartikel. Die möglichen Themenbereiche Länderfinanzausgleich, Steuerneuverteilung und Länderneugliederung wurden von vornherein nicht thematisiert. In der Steuerverwaltung wurde das vom Bund angestrebte Ziel, eine einheitliche und zentrale Steuerverwaltung beim Bundesministerium der Finanzen zu etablieren ebenfalls nicht erreicht. Das wesentliche Ergebnis der Föderalismuskommission II ist die Einführung neuer Schuldengrenzen durch den neugefassten Art. 109 GG. Grundsätzlich sind die Haushalte von Bund und Ländern ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Ausnahmen des Kreditaufnahmeverbots für Bund und Länder sind eingeschränkt zugelassen bei einer von der Normallage abweichenden Konjunkturentwicklung und in Fällen von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen. Ob eine solche Situation vorliegt, wird für den Bund mit einer Mehrheit des Bundestages entschieden. Für den Haushalt des Bundes ist es darüber hinaus zulässig, Einnahmen aus Krediten bis zur Höhe von 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) jährlich in Anspruch nehmen zu können. Für die Länder ist eine strukturelle Komponente nicht vorgesehen, daher dürfen sie ab 2020 keine Einnahmen aus Krediten mehr einstellen. Um das Finanzgebaren der Länder zu überwachen, ist mit dem Stabilitätsrat ein Kontrollgremium geschaffen worden (vgl. Korioth 2016, Kastrop u.a 2010). Diese Neuregelungen begannen im Haushaltsjahr 2011. Aufgrund von Übergangsregelungen ist die Einhaltung des ausgeglichenen Haushalts für den Bund ab dem Jahr 2016 zwingend vorgesehen und für die Länder ab dem Jahr 2020. Die fünf finanzschwächsten Länder erhielten bis 2019 zudem eine sogenannte „Konsolidierungshilfe“ in Höhe von 800 Mio. Euro jährlich, insgesamt also 7,2 Mrd. € (Bremen 300 Mio. €, Saarland 260 Mio. €, Berlin, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein jeweils 80 Mio. € jährlich), um in die Lage versetzt zu werden, ihre Haushalte bis spätestens 2020 auszugleichen. Durch die gute konjunkturelle Lage und ein wachsendes Steueraufkommen in den letzten Jahren konnte die daraus resultierenden Verknappung der Mittel in den finanzschwachen Ländern bisher z. T. aufgefangen werden (vgl. Kropp/Nyguen 2020, vgl. Kap. 3.7.2)). Mit der Neufassung des föderalen Finanzausgleiches und der damit verbundenen Abschaffung des horizontalen Finanzausgleiches in der Föderalismusreform III fand die Reformtätigkeit 2017 und 2018 ihren vorläufigen Abschluss (vgl. Renzsch 2017, zur Finanzverfassung Kap. 3.7.1). In der ersten Etappe dieser Föderalismusreform III im Juli 2017 wurde der bundesstaatliche Finanzausgleich ab 2020 neu geregelt.
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Insgesamt wurde das bestehende Ausgleichssystem trotz des Wegfalls des horizontalen Finanzausgleichs nicht grundlegend geändert, da der Wegfall des horizontalen Finanzausgleichs zum 1.1.2020 nun vertikal kompensiert wird. Der Bund lockte schon früh mit einem zusätzlichen Transfervolumen in Milliardenhöhe. Die Länder verfolgten höchst unterschiedliche Interessen – Bayern, Baden-Württemberg und Hessen als bisherige Geberländer im Länderfinanzausgleich, Nordrhein-Westfalen, das nicht mehr durch den Umsatzsteuervorwegabzug zum Nehmerland mutieren wollte, finanzschwächere Länder, Stadtstaaten, neue Bundesländer und Haushaltsnotlagenländer (vgl. Hellermann 2018). Das Ergebnis war die Verständigung auf einen neuen bundesstaatlichen Finanzausgleich, bei dem Ausgleichsleistungen zwischen den Ländern entfallen und in den der Bund zusätzliche Milliarden einbringt, von denen alle Länder im Vergleich zur bisherigen Lage im Ergebnis profitieren. Die Finanzkraftunterschiede sollen nun über die Bundesergänzungszuweisungen und höhere Anteile an der Umsatzsteuer ausgeglichen werden. Insgesamt überweist der Bund zwischen 10 und 13 Mrd. Euro pro Jahr (dynamisiert bis 2030) an die Länder. Als Gegenleistung hat der Bund hierfür Länderkompetenzen im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung, im Bereich der Verkehrsinfrastruktur (Verwaltung der Bundesautobahnen, vgl. hierzu Fischer/Pennekamp 2018) und im Bereich des sozialen Wohnungsbaus erhalten. Die Kompetenzen des Bundes zu Finanzhilfen für Investitionen der Länder und Kommunen wurden weiter ausgebaut und um Steuerungs- und Kontrollrechte des Bundes ergänzt worden (Art. 104b Abs. 2 S. 2 bis 4 GG). Der der neue Art. 104c GG erlaubt dem Bund nunmehr auch Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen der finanzschwachen Kommunen im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur. 2019 wurde diese Investitionshilfekompetenz des Art. 104c GG auf Investitionen auch der Länder und (aller) Kommunen im Bereich der Bildungsinfrastruktur ausgeweitet und im neuen Art. 104d GG eine weitere Bundesinvestitionshilfekompetenz für den Bereich des sozialen Wohnungsbaus eingeführt. In der Summe ist nach diesen drei Föderalismusreformen der letzten 13 Jahre eine zunehmende hierarchische Politikverflechtung zu beobachten, in deren Rahmen der Bund Landeskompetenzen an sich zieht und dafür Landesaufgaben mitfinanziert (zu weiteren Details vgl. Behnke 2020b, S. 8). Bundesstaatliche Solidarität wird nun nicht mehr zwischen den Ländern diskutiert, sondern soll vertikal als fiskalische Unterstützung durch den Bund hergestellt werden. Die ursprünglich (2006) angestrebte Entflechtung und auch damit verbundene Übertragung von Kompetenzen nach unten ist in den Hintergrund gerückt (zu den Gründen vgl. Behnke/Kropp 2016), Verflechtungen nehmen eher wieder zu. Ideen des Wettbewerbsföderalismus sind in der Debatte nicht mehr prägend, sondern die Kooperation und die gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern rückt wieder stärker in den Vordergrund. 89
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3.2.5 Verwaltungsorganisation, Verwaltungsebenen und Verwaltungsfunktionen Grundsätzlich kann zwischen zwei denkbaren theoretischen Grundmodellen der Staatsorganisation, einer horizontalen gebietsbezogenen und einer vertikalen funktionsbezogenen, Verwaltungsorganisation unterschieden werden (Wagener 1976, Benz 2002b, vgl. auch Abbildung 14). • Horizontal organisiert heißt, dass es in der Regel keinen durchgängigen Behördenapparat von der Bundes- bis zur Ortsebene gibt, sondern jede Verwaltungsebene ihren abgegrenzten und gebündelten Aufgabenbereich hat. Alle Aufgaben in einem Gebiet werden von einer Verwaltungseinheit erfüllt, deshalb nennt man dieses Modell auch Gebietsorganisationsmodell. Es kommt hier zu einer Bündelung von Verwaltungsaufgaben und einer einheitlichen Verwaltung. Zu diesem Organisationsmodell gehören Stichworte wie „Universalität des Wirkungskreises“ und „Einheit der Verwaltung.“ Diese Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften20 ist ein Grundprinzip föderalstaatlicher Systeme. Die horizontale, gebietsbezogene Organisation war vor allem im Feudalismus vorherrschend, als ein König, Fürst oder Gutsherr absoluter Gebietschef war, aber sie ist auch ein zentrales Grundelement der lokalen Selbstverwaltung, in der Gemeinden das Recht haben „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (…) in eigener Verantwortung zu regeln“ (Art 28, Abs. 2 GG). Auch Kreise gehören zu diesem Typus. • Das funktionsbezogene oder vertikale Modell ist historisch jünger und trat vor allem dort auf, wo eine hochentwickelte, komplexe Industriegesellschaft besonderen Wert auf die optimale Erfüllung von öffentlichen Teilfunktionen legte. Es ist gekennzeichnet durch einen durchgängigen Behördenapparat. Für jede abgrenzbare Fachaufgabe wird eine spezielle Organisation geschaffen (z. B. staatliche Sonderbehörden). Hier dominiert die sektorale, spartenhafte Betrachtungsweise und ein aufgabenbezogenes Organisationsmodell. In Deutschland waren z. B. der Auswärtige Dienst, Eisenbahn, Post und Militär schon immer funktional organisiert, aber Beispiele wären auf Landesebene auch staatliche Bereiche wie Forstwirtschaft, Gewerbeaufsicht, Polizei oder Schule (vgl. Wagener 1981, S. 76f.). Grundsätzlich erleichtert das Gebietsorganisationsmodell eher die Harmonisierung und den Ausgleich sich tendenziell störender Aufgaben und die demokratische 20 Eine Gebietskörperschaft ist nach Frido Wagener „raumausfüllendes Verwaltungsgerüst mit eigener Rechtspersönlichkeit und unmittelbar gewählten Organen“. Damit zählen Bund, Länder, Stadtstaaten und Kommunen zu den Gebietskörperschaften.
3.2 Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat
91
Kontrolle „vor Ort“, führt damit aber auch eher zur suboptimalen Erfüllung von Aufgaben aus fachlicher Sicht. Das Aufgabenorganisationsmodell führt zur Spezialisierung und Professionalisierung, damit aber auch zur Zentralisierung und erschwerten Kontrolle. In den unvergleichlichen Worten von Frido Wagener: „Die Entscheidenden und Durchführenden im Aufgabenorganisationsmodell neigen aus fachlicher Einseitigkeit zur Überschätzung der Bedürfnisse und damit zur überzogenen Erfüllung ihrer sektoral abgegrenzten öffentlichen Aufgaben. Sie orientieren sich säulenartig in der Form von Fachleuten, Oberfachleuten und Superfachleuten“ (Wagener 1976, S. 36).
Der darin angelegte Konflikt lässt sich in Deutschland gut am Beispiel der Umweltpolitik verdeutlichen: Normalerweise sind Anhänger der „GRÜNEN“ aufgrund ihrer Vorliebe für möglichst direkte demokratische Kontrolle eher Anhänger des Gebietsorganisationsmodells (starke lokale, bürgernahe und demokratisch kontrollierte Verwaltung), im Bereich des Umweltschutzes sind sie aber oft Verfechter starker zentraler staatlicher Sonderbehörden (staatliches Umweltamt, staatlicher Naturschutz), weil sie befürchten, dass bei Entscheidungen auf lokaler Ebene Umweltbelange hinter anderen Entscheidungskriterien zurückstecken müssen. Organisationsentscheidungen haben also immer auch politische Hintergründe und Konsequenzen. Gebietsorganisationsmodell • alle Aufgaben in einem Gebiet werden von einer Verwaltungseinheit erfüllt • regionale Betrachtungsweise • Bündelung von Verwaltungsaufgaben • Einheit der Verwaltung • Universalität des Wirkungskreises • • • •
Aufgabenorganisationsmodell • spezielle Organisation für jede abgrenzbare Fachaufgabe • sektorale, spartenhafte Betrachtungsweise • Einzelaufgabe entscheidend • aufgabenbezogenes Organisations modell horizontale Integration • vertikale Integration Gebietskörperschaften: z. B. Kommunal- • Sonderbehörden: z. B. Forstbehörden, verwaltung Gewerbeaufsicht, Zoll • Spezialisierung Harmonisierung und Ausgleich sich • Zentralisierung tendenziell störender Aufgaben • überzogene Erfüllung der Aufgabe suboptimale Erfüllung der Einzel • suboptimale Koordination aufgaben aus fachlicher Sicht
Abb. 14 Grundmodelle der Verwaltungsorganisation Quelle: eigene Darstellung
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Bundesverwaltung
unmittelbar
mittelbar
Landesverwaltung
unmittelbar
Oberste Bundesbehörden
Oberste Landesbehörden
– Bundeskanzleramt – Bundesrechnungshof – Bundesministerien
– Staatskanzleien – Landesrechnungshöfe – Landesministerien
Bundesoberbehörden
z.B. – Umweltbundesamt – Bundeskartellamt – Robert-Koch-Institut
Bundesmittelbehörden
Anstalten, Körperschaften und Stiftungen des öff. Rechts
z.B. – Bundesagentur für Arbeit – Deutsche Rentenversicherung Bund – Knappschaft
z.B. – Generalzolldirektion – Bundespolizeipräsidien
Untere Bundesbehörden
z.B. – Bundesvermögensämter – Wasserstraßen- und Schiffahrtsämter – Hauptzollämter
mittelbar
Landesoberbehörden
Anstalten, Körperschaften und Stiftungen des öff. Rechts
z.B. – Landesumweltamt – Landesämter für Denkmalpflege – Landeshauptkasse
z.B. – Landesmedienanstalten und Rundfunkanstalten – Fachhochschulen und Universitäten – Handwerkskammern
Landesmittelbehörden – Regierungspräsidenten – Oberfinanzdirektionen
Untere Landesbehörden z.B. – Ämter für Forstwirtschaft – Ämter für Arbeitsschutz – Finanzämter
Kommunalebene Kreise
Kreisfreie Städte
Gemeinden
Abb. 15 Verwaltungsaufbau Quelle: eigene Darstellung
In Deutschland kann man von einer abgeschwächten Gebietsorganisation ausgehen, in der aber viele Fachaufgaben in Sonderbehörden organisiert sind. Daher lassen sich grob drei Hauptverwaltungsebenen unterscheiden, die sich – horizontal organisiert – im Prinzip unabhängig gegenüberstehen: die Verwaltung des Bundes, die Verwaltung der Länder und die Kommunalverwaltung (vgl. hierzu und im folgenden Wagener 1981, 73ff., Thieme 1984, S. 82ff. Ellwein/Hesse 1997, S. 304ff., Miller 1995, S. 145ff., Benz 2002b). Die Gebietskörperschaften und ihre rechtlich unselbstständigen Wirtschaftsunternehmen sind zweifelsohne der wichtigste Bereich
3.2 Aufgabenverteilung und Verwaltungsaufbau im Bundesstaat
93
der öffentlichen Verwaltung in Deutschland. Daneben existieren noch Anstalten des öffentlichen Rechts wie die Bundesagentur für Arbeit, die Deutsche Bundesbank, die Sozialversicherungen, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Körperschaften wie die Deutsche Rentenversicherung sowie zahlreiche weitere Organisationen (vgl. 3.3.3 und Abb. 18). Bezogen auf den Verwaltungsaufbau in Deutschland ergibt sich damit folgendes Bild (vgl. Abbildung 15). Der Gesamtaufbau der Verwaltungsstrukturen in Deutschland verkompliziert sich allerdings dadurch, dass es drei unterschiedliche Typen von Bundesländern gibt. In den größeren Flächenländern (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, NRW, Rheinland-Pfalz, Sachsen) existieren (mit der Ausnahme von Niedersachsen seit 2005) unterhalb der Landesebene die Regierungsbezirke bzw. Bezirksregierungen (zur aktuellen Reformdiskussion vgl. Ebinger/Bogumil 2016; Bogumil/Ebinger 2019 und Kap. 5.2.5).21 Zudem gibt es in allen Flächenländern (also auch den kleineren wie z. B. Schleswig-Holstein oder dem Saarland, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen) oberhalb der untersten örtlichen Verwaltung die Verwaltung der Landkreise und der kreisfreien Städte. Und die drei Stadtstaaten (Berlin, Hamburg, Bremen) sind kreisfreie Städte und Stadtstaaten zugleich (und damit den Ländern gleichgestellt). Damit lassen sich fünf Verwaltungsebenen unterscheiden (vgl. Abbildung 16).
Bund Länder Regierungsbezirke Landkreise kreisfreie Städte Gemeinden
Vor der Verwaltungsreform (BRD) (1964) 1 11 33 425 24.411
Nach der Verwaltungsreform (BRD) (1981) 1 11 26 237 91 8.513
Vereinigtes Deutschland (2017) 1 16 19 294 107 11.054
Abb. 16 Verwaltungsebenen Quelle: Statistisches Bundesamt 2018 (Stand 31.12.2017) 21 In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg hat man auf die Einrichtung von Regierungsbezirken verzichtet, in Thüringen und Sachsen-Anhalt wurde ein Landesverwaltungsamt als Mittelbehörde gegründet. In Niedersachsen hat die Landesregierung die Auflösung der Bezirksregierungen zum 1.1.2005 durchgeführt (vgl. ausführlich Bogumil 2007b sowie Kapitel 5.2.5.). Argumente für oder gegen die Einrichtung von Regierungspräsidien finden sich bei Miller (1995, S. 184ff.), für die Entscheidungen in den ostdeutschen Ländern nach der deutschen Vereinigung sind jedoch eher schlechte Erfahrungen mit den Bezirksverwaltungen als regionalen Ankern der zentralistischen SED-Herrschaft ursächlich (vgl. Wollmann 1996b, S. 79). 93
94
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Verwaltungen nehmen, wie mehrfach erwähnt und im Folgenden zu sehen sein wird, sehr unterschiedliche Funktionen wahr. Verwaltungen sind abstrakt gesprochen „Herrschaftsinstrumente im Alltag“ (Max Weber) und zugleich Dienstleistungsproduzenten. Der Bürger befindet sich nicht nur der Verwaltung gegenüber in sehr verschiedenen Rollen (etwa als Untertan, Klient oder Kunde), auch das Verwaltungshandeln selbst ist hochgradig ausdifferenziert. Um diesen Besonderheiten gerecht zu werden, ist es sinnvoll, grob zwischen verschiedenen Verwaltungsfunktionen zu unterscheiden, was nicht heißt, dass nicht eine Verwaltung parallel mehrere Funktionen wahrnehmen kann (Ellwein/Hesse 1997, S. 343f.): • In der Ordnungsverwaltung geht es um den Vollzug und die Kontrolle von Gesetzen und Vorschriften (z. B. Gewerbeaufsichtsämter, Bauordnungsamt, Polizei). Das Verwaltungshandeln orientiert sich hier primär an den Vorschriften, allerdings gibt es dennoch Entscheidungsspielräume für die in der Verwaltung Beschäftigten. • In der Dienstleistungsverwaltung geht es um die Erbringung technischer, personeller oder finanzieller Dienstleistungen (Bürgerämter, Sozialämter, insgesamt große Teile der Kommunalverwaltung). Sie ist natürlich auch an Vorschriften und Gesetze gebunden, aber auch fachliche Besonderheiten sind zu berücksichtigen. Zwischen beiden Anforderungen kann es durchaus zu Spannungen kommen. • Die politische Verwaltung liefert Führungshilfen und Entscheidungsvorbereitungen für die politische Spitze (Ministerien). Hier spielen durch die Nähe zur Politik vor allem politische Überlegungen eine wichtige Rolle. • Die Organisationsverwaltung kümmert sich um die Verwaltung der Verwaltung selbst, indem sie Personal einstellt und betreut, Organisationsmittel besorgt und pflegt und sich um die Finanzen kümmert (z. B. Hauptamt, Personalämter, Kämmerei). Die Ordnungs- und Dienstleistungsverwaltung ist unmittelbar für die Erledigung öffentlicher Aufgaben zuständig, die Organisationsverwaltung für die Vorausset zungen der Aufgabenerledigung und die politische Verwaltung ist an der Bestim mung und Konkretisierung der Aufgaben selbst beteiligt. Bei weitem die Mehrheit aller öffentlich Beschäftigten arbeitet in der Dienstleistungsverwaltung.
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
95
3.3 Bundesregierung und -verwaltung 3.3
Bundesregierung und -verwaltung
3.3.1 Regierung und oberste Bundesbehörden Die Exekutive des Bundes besteht aus der Bundesregierung und der Bundesverwaltung (als Übersicht Busse/Hofmann 2019). Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Die Bundesverwaltung gliedert sich in die obersten Bundesbehörden, die nachgeordneten Behörden und die mittelbare Bundesverwaltung, die sog. nicht-ministerielle Bundesverwaltung (siehe nächster Abschnitt und Abbildung 17). Die zentrale Rolle für die Organisation der Bundesregierung spielt laut GG der Bundeskanzler, da die Bundesminister auf seinen Vorschlag hin vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen werden. Eine Zustimmung des Parlamentes ist nicht erforderlich, da das Kabinettbildungsrecht beim Bundeskanzler liegt. Tritt der Bundeskanzler zurück, müssen auch die Minister zurücktreten. Die Arbeit der Bundesregierung wird durch drei Prinzipien geleitet, die in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen (Art. 65 GG), • Richtlinienprinzip • Kabinettsprinzip und • Ressortprinzip. Zum einen bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Er leitet die Geschäfte der Bundesregierung, hat die allgemeinen Ziele für die innere und äußere Politik durch ein Regierungsprogramm festzulegen und für dessen Verwirklichung zu sorgen (Art. 65 GG). Zur Durchführung seiner Aufgaben bedient sich der Bundeskanzler des Bundeskanzleramtes, welches ihn über die laufenden Fragen der allgemeinen Politik und die Arbeit der Bundesministerien zu unterrichten hat, die Entscheidungen des Bundeskanzlers und die des Kabinettes vorbereitet und die Arbeiten der Ministerien koordiniert. Der Bundeskanzler regiert, aber er administriert nicht. Das Bundeskanzleramt wird bis 1984 von einem Staatssekretär und danach von einem Bundesminister für besondere Aufgaben geleitet. Mit der Umbenennung ist eine bedeutsame Aufwertung verbunden. Der Chef des Kanzleramtes (ChefBK) besitzt seitdem als Mitglied der Bundesregierung Sitz und Stimme im Kabinett. Er leitet die oberste Bundesbehörde und ist zugleich Beauftragter für die Nachrichten dienste des Bundes, der einzigen nachgeordneten Behörde des Bundeskanzleramtes. Der ChefBK ist mit der ganzen Bandbreite der Regierungsthemen befasst. In der täglichen Arbeit erweist sich der Kanzleramtschef als machtvolles Alter Ego des 95
96
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Bundeskanzlers hinter der politischen Bühne, als Koordinator vielfältiger Regierungsprozesse und als Problemlöser bei Konflikten zwischen den Ressorts (vgl. Bröchler 2019). Zudem sind dem Bundeskanzleramt verschiedene Staatsminister zugeordnet, in der 18. Wahlperiode z. B. für Kultur und Medien, Migration, Flüchtlinge und Integration sowie für Digitalisierung. Neben dem Bundeskanzleramt ist dem Bundeskanzler mit dem Presse- und Informationsamt eine zweite oberste Bundesbehörde unterstellt. Nach dem Kabinettsprinzip müssen bestimmte Entscheidungen der Bundesregierung gemeinsam vom gesamten Kabinett getroffen werden, etwa die Einbringung von Gesetzesvorhaben oder die Aufstellung des Bundeshaushalts. Weitere Informations- und Beschlusszuständigkeiten sind in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung geregelt (GGO), d. h. über wichtige Fragen, insbesondere über Meinungsverschiedenheiten, entscheidet die Bundesregierung als Kollegium. Dennoch ist dieses Kollegialprinzip in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern wie etwa Schweden, wo es keine individuelle Ministerverantwortung gibt, nur gering ausgeprägt. Das Kabinett hat allenfalls die Beschlusskompetenz, aber nicht die Initiativfunktion. Im Prinzip legt der Bundeskanzler, nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg), die Zahl der Ministerien und die Zuständigkeiten fest (im sog. Organisationserlass, der normalerweise am Anfang jeder neuen Regierung erlassen wird), allerdings ist dies in der Regel das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen. Die Entscheidung, wie die Ressorts zugeschnitten werden und welche Partei welches Amt in einer neuen Regierung übernimmt, wird dort geklärt. Die Zahl der Minister schwankt zwischen 13 in der ersten Wahlperiode von 1949 bis 1953 und 21 zu Beginn der 15. Wahlperiode (vgl. Beigang/von Blumenthal 2019). Unter Angela Merkel als Bundeskanzlerin bestand die Regierung bisher durchgehend aus 15 Ministern (zur Übersicht über Aufgaben und nachgeordnete Behörden im jeweiligen Geschäftsbereich siehe ausführlich www.bund.de): • Das Auswärtige Amt (AA) vertritt die Interessen Deutschlands in der Welt, fördert den internationalen Austausch und bietet Deutschen im Ausland Schutz und Hilfe. Es ist die zentrale Schaltstelle der deutschen Diplomatie, in der außenpolitische Analysen und Konzeptionen sowie konkrete Handlungsanweisungen für die deutschen Auslandsvertretungen erarbeitet werden. Diese vertreten unseren Staat, wahren seine Interessen und schützen deutsche Bürger im jeweiligen Gastland. Nachgeordnet sind z. B. die Botschaften und Konsulate im Ausland. • Das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) ist vor allem verantwortlich für die innere Sicherheit und den Schutz der Verfassung. Hierfür stehen ihm das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
•
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die Bundespolizei zur Verfügung. Daneben gehören noch die Gestaltung des öffentlichen Dienstes, die Migration und Flüchtlingspolitik und der Sport zu seinem Aufgabenbereich. Als „Verfassungs- und Kommunalministerium“ ist das BMI für die Modernisierung von Staat und Verwaltung zuständig. In der 18. Wahlperiode ist das BMI auch für den Bereich Bauen zuständig. Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist zuständig für die Gestaltung der Finanzpolitik und die Grundausrichtung der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Der Bundesfinanzminister koordiniert die Haushaltsvoranschläge der Ministerien und entwirft den jährlichen Haushaltsplan. Nachgeordnet ist z. B. die Bundesfinanzverwaltung. Das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg). Es ist zuständig für alle Aufgaben der militärischen Verteidigung, für den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen und für die gesamte Wehrverwaltung. Das Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz (BMJV). Es ist zuständig für die Sicherung und Fortentwicklung des Rechtsstaates. Im Rahmen der Rechtspolitik geht es um die Vorbereitung oder die Änderung und Aufhebung von Gesetzen. Das BMJV verantwortet seit Beginn der 18. Legislaturperiode auch den Bereich der wirtschaftlichen Verbraucherpolitik (z. B. bei Themen wie Roaming, Kreditverträge, Pauschalreisen). Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Es ist zuständig für die Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik durch gesetzgeberische sowie administrative und koordinierende Funktionen in der Wettbewerbs-, Regional- und Mittelstandspolitik. Zudem fördert das Ministerium technische Innovationen durch gezielte strukturpolitische Maßnahmen. In der 18. Wahlperiode ist das BMWi auch für die Ausgestaltung der Energiewende zuständig. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Es schafft die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung und sorgt für die Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik fällt insbesondere die Bundesagentur für Arbeit als mittelbare Bundesverwaltung in den Zuständigkeitsbereich des Ministeriums. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU). Es ist zuständig für alle Fragen der Umweltpolitik, des Naturschutzes und Teile der Energiepolitik. Unterstützt wird es durch das Umweltbundesamt, das Bundesamt für Naturschutz und durch vielfältige Beratungsgremien wie den Sachverständigenrat für Umweltfragen oder den wissenschaftlichen Beirat für globale Umweltveränderungen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Es ist zuständig für den Bereich der Ernährung und für die Agrarpolitik. 97
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
• Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Es ist zuständig für Grundsatz- und Koordinierungsaufgaben für die außerschulische berufliche Bildung, die Gesetzgebung zur Ausbildungsförderung, für die Grundsätze des Hochschulwesens, die Forschungsförderung und die Bildungsplanung. • Das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Es ist zuständig für die Familienförderung (Kindergeld, Erziehungsgeld, Mutterschutz), die Seniorenförderung, die Kinder- und Jugendförderung, die Wohlfahrtspflege und das bürgerschaftliche Engagement. • Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ist zuständig das Gesundheitswesen insgesamt die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Pflegeversicherung zu erhalten, zu sichern und fortzuentwickeln sowie für. • Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS). Es ist zuständig für das gesamte Verkehrswesen der Bundesrepublik, soweit der Bund nach dem Grundgesetz verantwortlich ist. Zudem nimmt das Ministerium die Zuständigkeit des Bundes auf den Gebieten des Wohnungswesens, der Raumordnung und des Bauwesen wahr. • Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Es ist zuständig für die Planung und Umsetzung der Entwicklungspolitik der Bundesregierung durch die Entwicklung multilateraler und bilateraler Förderstrategien, die Unterstützung von Entwicklungsprojekten sowie die Förderung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit nichtstaatlicher Organisationen. Die weit überwiegende Mehrheit der Gesetze wird durch die Bundesregierung vorbereitet und in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Die ausgearbeiteten Gesetzentwürfe müssen formal vom Kabinett beschlossen werden, welches (mit wenigen Ausnahmen, z. B. in der Corona-Krise) immer am Mittwoch tagt. Geleitet werden die Sitzungen durch die Bundeskanzlerin, Minister können durch ihre parlamentarischen Staatssekretäre vertreten werden. Das Kabinett entscheidet formal per Mehrheitsbeschluss. Allerdings kommt es in den Kabinettssitzungen nur äußerst selten zu kontroversen Abstimmungen, da Konflikte zwischen den Ressorts in Treffen auf Arbeits- oder Ministerebene geklärt werden (siehe unten ‚negative Koordination‘ 4.1.2.2). Bei Konflikten zwischen den Koalitionspartnern wird zudem der Koalitionsausschuss einberufen (Beigang/von Blumenthal 2019). Die Bundesminister sind Mitglieder des Kabinetts und leiten ein Ressort innerhalb der vom Bundeskanzler bestimmten Richtlinien selbstständig und unter eigener Verantwortung (Ressortprinzip). Das Ressortprinzip ist ein entscheidendes Strukturprinzip der deutschen Verwaltung, denn in aller Regel interveniert der Bundeskanzler nicht in die Arbeit der einzelnen Ressorts. Nur wenn im Ausnahmefall eine Frage durch Richtlinienbestimmung des Bundeskanzlers entschieden wird,
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
99
ist jeder Minister daran gebunden und muss diese Entscheidung wie seine eigene vertreten. Diese formale Anwendung der Richtlinienkompetenz ist in Deutschland allerdings äußerst selten und zudem in Koalitionsregierungen schwierig. Generell sind die Minister in ihren Ministerien voll verantwortlich (Ministerverantwortung) und haben die ihnen nachgeordneten Behörden zu beaufsichtigen. Im Rahmen ihrer Ressortverantwortung verfügen die Minister insbesondere auch über die Organisations- und Personalhoheit für ihr Ministerium und können entscheiden, ob eine Aufgabe auf ministerieller Ebene oder in nachgeordneten Behörden wahrgenommen wird. Die interne Führung der Ministerien obliegt den beamteten Staatssekretären sowie weiteren politischen Beamten, die jederzeit in den vorläufigen Ruhestand versetzt werden können (siehe 4.4.1). Daraus ergibt sich eine grundlegende Stabilität der Arbeitsstrukturen in den Ministerien auch bei wandelnder Führung (vgl. Beigang/ von Blumenthal 2019). In ihren engeren politischen Aufgaben, d. h. insbesondere im Parlament, werden die Minister durch parlamentarische Staatssekretäre unterstützt22 und mit Ausnahme der parlamentarischen Staatssekretäre im Bundeskanzleramt Mitglied des Deutschen Bundestages sein müssen. Im Bundeskanzleramt und im Auswärtigem Amt tragen die parlamentarischen Staatssekretäre den Titel eines Staatsministers, unter anderem damit sie auf dem internationalen Parkett auf Augenhöhe mit den in vielen Ländern vorhandenen Vize-Ministern agieren können. Die meisten Ministerien haben ihren ersten Dienstsitz von Bonn nach Berlin verlegt. Unter anderem das Bundesministerium der Verteidigung hat aber weiter seinen ersten Amtssitz in Bonn. Alle Ministerien haben jedoch zumindest jeweils einen zweiten Amtssitz in Bonn bzw. Berlin (siehe ausführlich 4.2.1.2). Insgesamt gibt es im Bundeskanzleramt und allen Ministerien in Berlin und Bonn derzeit ca. 18.000 Beschäftigte, damit ist die deutsche Ministerialverwaltung im internationalen Vergleich besonders klein.
22 Um den Informationsfluss zwischen Regierungsfraktionen und Bundesregierung zu verbessern, besteht die Möglichkeit parlamentarische Staatssekretäre komplementär hinsichtlich der Parteimitgliedschaft des Ministers zu besetzen. Dieses als Kreuzstichverfahren bekannte Prinzip wird in der Bundesregierung zwar nicht durchgehend angewendet, seit 1990 wurde es jedoch in den CDU/CSU-FDP- sowie die SPD/Grünen-Koalitionen stets bei einzelnen Ministerien benutzt, während in den CDU/CSU-SPD-Koalitionen weitgehend darauf verzichtet wurde (vgl. Beigang/von Blumenthal 2019). 99
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Bundeskanzler Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Bundesminister für besondere Aufgaben (Bundeskanzleramt)
Ministerium für Arbeit und Soziales
Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
Ministerium für Wirtschaft und Energie
Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Bundesamt für Soziale Sicherung
Deutsches Patentund Markenamt
Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle
Bundesamt für Familie und Zivilgesellschaftliche Aufgaben
Bundesamt für Jutiz
Bundeskartellamt
Bundesprüfstelle für jugendgefährdendeMedien
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
Ministerium für wirtschaftl. Zusammenarbeit und Entwicklung
Ministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit
Ministerium Ernährung und wirtschaft
Bildungszentrum der Bundeswehr
Bundesamt für Naturschutz
Bundesamt Verbrauchersc und Lebensm sicherheit
Amt für den Militärischen Abschirmdienst
Bundesamt für Strahlenschutz
FriedrichLoefflerInstitut
PhysikalischTechnische Bundesanstalt
Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr
Umweltbundesamt
BundesnetzAgentur
Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr
Ministerium der Verteidigung
Ministerium für Bildung und Forschung
Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzungder Bundeswehr Bundesamt für Informationsmanagement und InformationsTechnik der Bundeswehr
Bundesunterbehörden
Bundesmittelbehörden
Bundesoberbehörden und sonstige Einrichtungen
Oberste Bundesbehörden
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Abb. 17 Aufbau der Bundesverwaltung Quelle: eigene Darstellung
Bundeswehrdienstleistungszentren
Bundeswehrverwaltungsstellen im Ausland
Karrierecenter der Bundeswehr
Verpflegungsamt der Bundeswehr
Standortverwaltung Roth
Zentrum Brandschutz der Bundeswehr
Bundeswehrfachschulen
Wehrtechnische Dienststellen
Johann Heinr von Thünen Institut
Julius Kühn Institut
Bundessorten
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
Die Beauftragte der Bundesregierung für ultur und Medien
101
Bundespräsidialamt
Bundesrechnungshof
Ministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit
Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft
Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ministerium für Gesundheit
Ministerium der Finanzen
ntrum swehr
Bundesamt für Naturschutz
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit
Bundesamt für Güterverkehr
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
Bundeszentralamt für Steuern
den chen dienst
Bundesamt für Strahlenschutz
FriedrichLoefflerInstitut
Bundesamt für Gewässerkunde
für das alment swehr
Umweltbundesamt
Johann Heinrich von ThünenInstitut
m der gung
Ministerium für Bildung und Forschung
mt für ktur, utz und ungen swehr
mt tung, stechnik ngder wehr
mt für onsnt und Technik swehr
Auswärtiges Amt
Ministerium des Innern, für Bau und Heimat
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Innern
Kraftfahrtbundesamt
Paul EhrlichInstitut
Bundesamt für Verfassungsschutz
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
Julius KühnInstitut
Bundesanstalt für Verwaltungsdiensleistungen
Robert KochInstitut
Bundeskriminalamt
Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich
Bundessortenamt
Wasser- und Schifffahrtsdirektionen
Statistisches Bundesamt
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik
EisenbahnBundesamt
Technisches Hilfswerk
Bundesausgleichsamt
Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchungen
Bundesverwaltungsamt
Bundeszentrale für politische Bildung
Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen
Bundesamt für Zentrale Dienste und offene Vermögensfragen
Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung
Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung
Bundesamt für Kartographie und Geodäsie
Bundespolizeipräsidium
Bundesinstitut für Sportwissenschaft
Bundesanstalt Digitalfunkt der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben
Generalzolldirektion
Zollkriminalamt Bundeswehrverwaltungsstellen im Ausland
WasserstraßenNeubauämter
Hauptzollämter
Direktion der Bundesbereitschaftspolizei
Verpflegungsamt der Bundeswehr
Wasserstraßen- und Schifffahrtsämter
Zollfahndungsämter
Bundespolizeiakademie Lübeck
Zolltechnische Prüfungs- und Lehranstalten
Bundespolizeidirektionen
Zentrum Brandschutz der Bundeswehr Wehrtechnische Dienststellen
101
102
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Neben den Ministerien gehören das Bundespräsidialamt, die Verwaltungen des Bundestages und des Bundesrates, das Bundeskanzleramt, das Presse- und Informationsamt und der Bundesrechnungshof zu den obersten Bundesbehörden. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie keiner anderen Behörde unterstellt, sondern unmittelbar einem Verfassungsorgan oder einer sonstigen politischen Spitze untergeordnet sind (Busse/Hofmann 2019).
3.3.2 Obere Bundesbehörden und nicht-ministerielle Bundesverwaltung Die Ausgestaltung der nicht-ministeriellen Bundesverwaltung ist überaus vielfältig und unübersichtlich, so dass leicht ironisch von einem Administrativen Zoo gesprochen wird (Bach/Jann 2010). Eine grobe Übersicht liefert die folgende Abbildung.
Rechtskreis Rechtsträger Typus
Unmittelbare Bundes verwaltung öffentlichrechtlich Bundesrepublik Deutschland
Bundesober behörde Bundesmittel behörde untere Bundesbehörde Beauftragte Errichtung Gesetz durch Steuerung Rechts- und Fachaufsicht
Mittelbare Bundes verwaltung öffentlichrechtlich juristische Person des öffentlichen Rechts Anstalt Körperschaft Stiftung (ö. R.)
Gesetz oder Verordnung Rechtsaufsicht
Bundesverwaltung in Privatrechtsform privatrechtlich
Privatrechtliche Auftragsverwaltung privatrechtlich
Privatrechts subjekt in Bundes eigentum o. -beteiligung GmbH AG e. V. Stiftung
Privatrechts subjekt, Beliehener
nicht geregelt
nicht geregelt
Direktionsrecht des Eigentümers bzw. Anteils eigners
Vertrag
GmbH AG e. V.
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
Typische Aufgaben
Beispiele
Sozialversicherung, Forschungsa n stalten, Sondervermögen des Bundes • Bundesbank • Statistisches • BundesagenBundesamt tur für Arbeit • Bundesver waltungsamt • Deutsche Rentenversiche• Bundes rung Bund kartellamt • Bundesver• Bundesnetzband für den agentur Selbstschutz • Robert• Koch-Institut • Kassenärztliche Bundes• Bundesamt vereinigung für Migration und Flüchtlin- • Bundesstiftung Mutter ge (BAMF) und Kind • Bundes • Stiftung beauftrag Preußischer ter für die Kulturbesitz Unterlagen • Treuhand der Staats anstalt (und sicherheit Nachfolger) Sektorale Wirtschaftsaufsicht, Regulierung, „hoheitliche“ Aufgaben
103
Bundesunternehmen, Finanzierungsträger in der Forschung, Entwicklungshilfe • Deutsche Flugsicherung GmbH • DFG • Max-Planck-Gesellschaft • DAAD • Kreditanstalt für Wiederaufbau • Goethe Institut Inter Nationes e. V. • Deutscher Entwicklungsdienst GmbH • GIZ • Stiftung Warentest • Post AG • Bahn AG • Telekom AG
Normung, Verbraucherschutz, Kultur • TÜV • Verbraucher zentrale „Bundesverband“ • Verein Deutscher Ingenieure VDI • Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. • Deutscher Motor yachtverband
Abb. 18 Die nichtministerielle Bundesverwaltung Quelle: in Anlehnung an Döhler 2007a, S. 50
Zur unmittelbaren nichtministeriellen Bundesverwaltung gehören die nachgeordneten Behörden. Sie sind in drei Stufen gegliedert, in Bundesoberbehörden, Bundesmittelbehörden und untere Bundesbehörden. Den Ministerien unmittelbar nachgeordnet sind die Bundesoberbehörden, die einen speziellen Aufgabenbereich von ihrem Dienstsitz aus ohne eigene nachgeordnete Behörden bundesweit wahrnehmen (Art 87 Abs. 3 GG). Zu nennen sind hier z. B. das Bundeskriminalamt, das Statistische Bundesamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Bundeskartellamt, die Bundesnetzagentur das Deutsche Patent- und Markenamt, das Kraftfahrtbundesamt, das Umweltbundesamt, das Eisenbahnbundesamt, aber auch der Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit (vgl. Abb. 17). Insgesamt gibt es derzeit etwa 50 Bundesoberbehörden, der Sachverstän103
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
digenrat „Schlanker Staat“ hatte 1996 noch 61 gezählt. Zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) gehören zurzeit davon allein 20 Bundesoberbehörden und sonstige Einrichtungen, in denen rund 60.000 Beschäftigte arbeiten, davon rund 40.000 bei der Bundespolizei. Prinzipiell verfügen diese Behörden über einen eigenen Haushalt und eine eigene, beschränkte Personalhoheit, aber sie unterliegen sowohl der Fach-wie der Rechtsaufsicht ihres jeweiligen Ministeriums. Diese Art von Behörden verfügen über eine lange Geschichte, die ersten wurden kurz nach Etablierung des Deutschen Reichs nach 1870 gegründet (u. a. Reichseisenbahnamt und Reichsversicherungsamt). Wie erwähnt, gibt es nur einige wenige oberste Bundesbehörden mit einem eigenen dreistufigen Behördenaufbau (Oberste Bundesbehörde, Bundesmittelbehörde, Bundesunterbehörde), nämlich die Bundesfinanzverwaltung, die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, die Bundeswehrverwaltung mit ca. der Hälfte aller Bundesbediensteten und die Bundespolizei. Einen eigenen Unterbau hat auch das Auswärtige Amt mit dem diplomatischen Dienst, der aus insgesamt 227 deutschen Auslandsvertretungen, davon 153 Botschaften, 54 Generalkonsulate, 7 Konsulate, 12 Multilaterale Vertretungen und einem Vertretungsbüro besteht. Ferner gibt es 337 ehrenamtlich tätige Honorargeneralkonsuln und Honorarkonsuln (Stand 1.3.2020). Die meisten anderen Ministerien verfügen nur über eine Ministerialverwaltung und einen begrenzten nachgeordneten Bereich. Der größte Aufgabenbereich in der unmittelbaren Bundesverwaltung23 ist der Verteidigungsbereich. Hier befinden sich im Jahr 2017 231.370 VZÄ (66.970 Bundeswehrverwaltung, 164.405 Streitkräfte), das sind 49 % der Bundesbeschäftigten. 24 Weitere 42.075 VZÄ arbeiten in der Finanzverwaltung und 45.935 bei der Bundespolizei (vormals Bundesgrenzschutz), das sind jeweils fast 10 %. Neben dieser unmittelbaren Bundesverwaltung durch die Bundesministerien und die ihnen nachgeordneten Behörden gibt es noch die mittelbare Bundesverwaltung durch bundesunmittelbare Körperschaften, Anstalten und Stiftungen (Art. 86, 87 GG). Zu ihr gehören öffentlich-rechtlich verfasste Einrichtungen mit Sonderaufgaben, die nicht in die unmittelbare Verwaltung eingegliedert sind. Überwiegend handelt es sich dabei um Institutionen der Sozialversicherung sowie um wissen23 Der Kern des öffentlichen Dienstes arbeitet vor allem auf Landes- (50 %) und Kommunalebene (30 %). Der Anteil des Bundes liegt bei 11 % (einschließlich der Soldaten), rechnet man noch die Bundesagentur für Arbeit hinzu, die im Bereich der mittelbaren Verwaltung/ Sozialversicherung verortet ist, kommt man auf 14 % im Jahr 2017 (vgl. auch Kap. 3.6.2). 24 Bei den Personaldaten wird in der Regel auf Vollzeitäquivalente (VZÄ) zum Stand 30.6.2017 zurückgegriffen und nicht auf die Zahl der Beschäftigten, da die erste Zahl angesichts eines unterschiedlichen Ausmaßes an Teilzeitbeschäftigung im öffentlichen Sektor aussagekräftiger ist. Zurückgegriffen wird zudem auf die Personalstandstatistik zum Personal des öffentlichen Dienstes.
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
Aufgabenbereich Politische Führung und zentrale Verwaltung Auswärtige Angelegenheiten Verteidigung Öffentliche Sicherheit und Ordnung Rechtsschutz Finanzverwaltung Bildungswesen, Wissenschaft, Forschung, kulturelle Angelegenheiten Soziale Sicherung Verkehrs- und Nachrichtenwesen Sonderrechnungen (ins. Eisenbahnvermögen) Energie und Wasserwirtschaft Diverses Insgesamt
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Personal des Bundes, VZÄ (in Tausend) 35,7 9 231,4 50,1 4,8 42,1 10,5
in % 7,5 1,8 48,8 10,5 1 8,9 2,2
7,8 18,8 28,6 12,9 22,3 474,1
1,6 3,9 6 2,7 4,7 100
Abb. 19 Personal des Bundes nach Aufgabenbereichen 2017 Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 53
schaftliche und kulturelle Einrichtungen in Form von Anstalten, Körperschaften oder Stiftungen des öffentlichen Rechts, die durch Selbstverwaltungseinrichtungen gesteuert und daher dem unmittelbaren Zugriff von Bund oder Ländern entzogen sind. Die ehrenamtlichen Aufsichtsgremien sind bei den Sozialversicherungen meist paritätisch zwischen Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten (meistens durch die Gewerkschaften repräsentiert) besetzt. Diese Einrichtungen unterstehen grundsätzlich der Rechts- aber nicht der Fachaufsicht des zuständigen Bundesministers. Aufgabenbereich Krankenversicherung Unfallversicherung Rentenversicherung Sonstige Einrichtungen Knappschaftsversicherung u. landwirtschaftl. Sozialvers. Bundesagentur für Arbeit Insgesamt
VZÄ (in Tsd.) 127,3 22,8 54 7,6 14,6 102,2 328,5
in % 38,8 6,9 16,4 2,3 4,5 31,1 100,0
Abb. 20 Personal der Sozialversicherung 2017 (mittelbare Verwaltung) Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 74 105
106
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Zum Bereich der mittelbaren Verwaltung zählen vor allem: • die Träger der gesetzlichen Krankenkassen und Pflegeversicherungen (teilweise unter Aufsicht der Länder – Ortskrankenkassen, Ersatzkassen, Innungskrankenkassen, Betriebskrankenkassen) mit insgesamt 127.295 VZÄ, • die Bundesagentur für Arbeit mit der Zentrale in Nürnberg, 10 Regionaldirektionen, 156 Agenturen für Arbeit und rund 742 Geschäftsstellen mit insgesamt 102.210 VZÄ, • die Sozialversicherungsträger: also die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft Bahn-See und 14 eigenständige regionale Träger als selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts – mit 21.720 VZÄ unter der Aufsicht des Bundes und 32.230 VZÄ unter der Aufsicht der Länder), • die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung bei Arbeitsunfällen (teilweise in Trägerschaft der Länder) in Form von 26 gewerblichen Berufsgenossenschaften, neun regional gegliederten landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und 32 Unfallkassen mit insgesamt 22.815 VZÄ, • die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die mit einer weitgehenden Autonomie ausgestattet sind, • und eine ganze Reihe von öffentlich-rechtlichen Stiftungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen, etwa die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Verwaltung der ehemaligen preußischen Schlösser und Gärten) oder die Bundesstiftung Mutter und Kind (Hilfe von Schwangeren in Notlagen). Viele öffentliche Aufgaben werden aber auch von Organisationen wahrgenommen, die privat-rechtlich organisiert sind, sich aber im vollständigen oder teilweisen Eigentum des Bundes befinden, also öffentliche Unternehmen, oder die als eingetragene Vereine, private Stiftungen etc. organisiert sind. Beispiele sind: • die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), eine GmbH im 100 % Bundesbesitz, für die weltweit über 20.000 Mitarbeiter in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, • die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die weltweit größte nationale Förderbank sowie nach Bilanzsumme die drittgrößte Bank Deutschlands, deren Kapital zu vier Fünfteln von der Bundesrepublik Deutschland und zu einem Fünftel von den Bundesländern gehalten wird und für deren Verbindlichkeiten und Kredite die Bundesrepublik haftet, • fast alle Organisationen der Forschungsförderung, wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), der Deutsche Akademi-
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
107
sche Austauschdienst (DAAD), alle als eingetragene Vereine organisiert und weitgehend vom Bund finanziert, • Organisationen der internationalen Zusammenarbeit wie das Goethe-Institut (auch eingetragener Verein), • privatrechtliche Stiftungen wie die Stiftung Warentest, • und schließlich natürlich auch die verbliebenen öffentlichen Unternehmen, die voll oder noch zum Teil in öffentlicher Hand sind, wie die Bahn AG, Post AG oder Telekom AG. Schließlich gibt es aber auch rein private Organisationen ohne staatliche Beteiligung, die als „Beliehene“ oder auf Vertragsbasis wichtige öffentliche Aufgaben wahrnehmen, prominente Beispiele wären etwa: • die Technischen Überwachungsvereine (TÜV), bekannt durch die Überwachung der Sicherheit von Fahrzeugen, die aber z. B. auch die Sicherheit von Kernkraftwerken prüfen, • der Verein Deutscher Ingenieure (VDI), der gleichzeitig Interessenvertretung von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, aber auch im Rahmen technisch-wissenschaftlicher Standardisierungen tätig ist und als Projektträger öffentlicher Forschungsförderung auftritt, • das Deutsche Institut für Normung (DIN), das seit 1917 als rein privater Verein der deutschen Industrie Industrienormen festlegt (es gibt über 33.000 DIN-Normen, und jedes Jahr erscheinen über 2.000 neu – damit gibt es erheblich mehr technische Normen als rechtliche), • oder der Deutsche Motoryachtverband (DMYV), der als rein privater Verein vom Bundesverkehrsministerium mit der Abnahme der amtlichen Sportbootführerscheine betraut ist.
3.3.3 Verselbständigung, Agencies und Agenturen Die Verwaltungswissenschaft (aber auch die Rechtswissenschaft) hat sich in den letzten Jahren intensiv mit der der politischen Steuerung bzw. Autonomie aller dieser nachgeordneten Behörden und Organisationen beschäftigt (als Überblick Bach 2019). Angestoßen wurde die internationale Diskussion durch die zunehmende Auslagerung von öffentlichen Aufgaben aus Ministerien und anderen Behörden im Rahmen der Verwaltungsreformen der letzten Jahrzehnte. Die zentralen Begriffe sind Agencies und Agencification, deren weltweite Popularität (Pollitt u. a. 2001 sprechen von Agency Fever) mit zwei durchaus unterschiedlichen Diskursen verbunden ist. 107
108
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Zum einen wurde die Verselbständigung von Agencies als wichtiges Element von New-Public-Management-Reformen propagiert (vgl. 2.3.3). Ziel war, die Leistungsfähigkeit von Behörden durch strukturelle Eigenständigkeit, Ergebnisverantwortung, Kontraktmanagement und erweiterte interne manageriale Handlungsspielraume zu steigern (Public Management Agencies). Eine größere Effizienz bei der Ausführung öffentlicher Aufgaben sollte dadurch erreicht werden, dass Agenturen über größere Entscheidungsspielräume und Flexibilität beim Einsatz der vorhandenen Ressourcen verfügen und sich auf enger begrenzte, klare Ziele konzentrieren können. Zum anderen spielen Agencies im Rahmen neuartiger Regulierungen und damit in Verbindung mit den Reformdiskursen bezüglich einer veränderten staatlichen Leistungserstellung, d. h. beim Übergang vom Leistungs- zum Regulierungsstaat, eine wichtige Rolle (Majone 1997). Hierbei handelt es sich um Behörden, die im Bereich der Regulierung tätig sind, also „der Durchsetzung von Ge- und Verboten, insbesondere gegenüber Unternehmen (Döhler 2006). Hierzu zählen typischerweise Aufgaben der Marktregulierung, etwa der allgemeinen Wettbewerbsregulierung (Kartellbehörden) und der Regulierung bestimmter Sektoren (z. B. Finanzmarktaufsicht). In den vergangenen Jahrzehnten sind zudem infolge der Liberalisierung und Privatisierung ehemals staatlicher Monopole in zahlreichen europäischen Ländern neue Behörden entstanden, die den Zweck haben, Marktakteure zu kontrollieren, aber insbesondere bei netzbasierten Industrien (Eisenbahn, Elektrizität) den Marktzugang zu regeln und somit einen funktionierenden Markt erst zu ermöglichen (Gilardi 2005). Eine andere typische Aufgabe von Regulierungsbehörden besteht schließlich in der sogenannten Risikoregulierung, die auf eine Begrenzung potentieller Gefahren durch Anlagen, Produkte oder Stoffe abzielt, etwa im Bereich Arbeitsschutz, Lebensmittelsicherheit, oder Arzneimittelsicherheit“ (Bach 2019, S. 288).
Die in diesem Zusammenhang propagierten unabhängigen Regulierungsbehörden (Independent Regulatory Agencies) zeichnen sich nicht nur durch strukturelle Eigenständigkeit aus, sondern vor allem durch eine hohe technische und professionelle Expertise und ausdrückliche eigene regulatorische Kompetenzen, die der politischen Einflussnahme entzogen werden sollen. Ziel ist, durch weitgehende Unabhängigkeit von politischen Einflussnahmen diesen Behörden eine stärkere Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Der deutsche Begriff für Agency ist Agentur. Es gibt international keine einheitliche Definition dieser Begriffe, aber es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Agenturen • i. d. R. Organisationen des öffentlichen Rechts sind, auch wenn dies in den angelsächsischen Ländern anders definiert wird als in der kontinental-europäischen Tradition,
3.3 Bundesregierung und -verwaltung
• • • • •
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eine gewisse Kapazität für autonome Entscheidungen haben, strukturell disaggregiert, also nicht Teil eines Ministeriums sind, aber unter einer gewissen Kontrolle durch Ministerien und/oder Politikern stehen, Kontinuität aufweisen, und mit der Verfügungsgewalt über eigene Ressourcen ausgestattet sind (Bach u. a. 2010, S. 10–14).
In Deutschland fallen darunter die unmittelbare und der größte Teil der mittelbaren Bundesverwaltung, bei den typisch deutschen Einrichtungen der Selbstverwaltung ohne direkte Beteiligung des Staates, etwa im Bereich der Kranken- oder Sozialversicherung, ist die Zuordnung nicht ganz eindeutig, denn sie verfügen über erhebliche eigene Autonomie gegenüber der Politik. Die oben aufgeführten privat-rechtlichen Organisationen fallen nicht unter diese restriktive Definition. Für sie gibt es in der internationalen Diskussion die Bezeichnungen QUAGOS (Quasi Governmental Organizations) und QUANGOS (Quasi Non-Governmental Organizations), wobei die Begrifflichkeit keineswegs einheitlich ist (Jann 2013, S. 79ff). Die internationale Diskussion über Agencies ist auch an Deutschland nicht spurlos vorüber gegangen, allerdings hat es bei uns keinerlei Agency Fever gegeben. Weder gab es eine Zunahme solcher Behörden (tatsächlich gibt es durch Zusammenlegungen eher weniger), noch gab es umfassende Einführungen managerialer Steuerung (Bach/Jann 2010, Jann 2013). Der Name Agentur taucht bei uns zum ersten Mal 2004 auf (Bundesagentur für Arbeit) und wurde dann vor allem 2006 durch die Bundesnetzagentur bekannt. Der Name sagt aber nichts über die Rechtsform aus, die Bundesagentur für Arbeit ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (und war dies bereits, als sie noch „Bundesanstalt für Arbeit“ hieß), die Bundesnetzagentur ist eine Bundesoberbehörde und die Nationale Anti-Doping Agentur ist eine Stiftung bürgerlichen Rechts. Dass sich die deutsche Verwaltung eher wenig vom Agenturfieber anstecken ließ, hat verschiedene Gründe. Aufgrund des deutschen Föderalismus sind unsere Ministerien im internationalen Vergleich klein (nur die schwedischen Ministerien sind kleiner), und wir haben eine lange Tradition nicht-ministerieller Oberbehörden. Die erste Behörde, die im Vereinigten Königreich als Agency ausgelagert wurde, war das Vehicle Inspectorate, diese Aufgabe war in Deutschland nie auch nur in der Nähe eines Ministeriums, sondern wird, wie oben erläutert, vom privaten Verein TÜV wahrgenommen. Auch die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit von Regulierungsbehörden gegenüber opportunistischen politischen Eingriffen zu sichern, war in Deutschland aufgrund unserer starken rechtsstaatlichen Tradition vermutlich nie besonders groß. In Deutschland kann bekanntlich jede Entscheidung von Behörden vor Ver109
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
waltungsgerichten angefochten werden, und dies garantiert weitgehend rechtlich einwandfreie Entscheidungen. Allerdings hat die Idee der Independent Regulatory Agencies auch in Deutschland Anhänger und z. B. die neue Bundesnetzagentur ist mit weitgehend autonomen Rechtsetzungsbefugnissen ausgestattet, ähnlich die BAFIN (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht). Wie weit die Autonomie dieser Behörden geht, ist rechtlich durchaus umstritten. Die klassischen Beispiele für weitgehend autonome Behörden sind in Deutschland das Bundeskartellamt und natürlich die Bundebank, die eine Sonderstellung einnimmt. Auch die wissenschaftliche Unabhängigkeit wichtiger Ressortforschungseinrichtungen wie dem durch die Corona-Krise wohl-bekannten Robert-Koch-Institut (RKI) oder dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) wurde in den letzten Jahren gestärkt (beides übrigens keine normalen wissenschaftliche Institute, sondern Bundesoberbehörden). Insgesamt haben die deutschen Agenturen, die es als Bundesoberbehörden „schon immer“ gab, auch schon immer über eine gewisse Autonomie verfügt. Auch wenn diese Behörden sowohl der Rechts- wie der Fachaufsicht durch ihre Ministerien unterliegen, ist deren Kontrollkapazität für eine detaillierte Steuerung der nachgeordneten Behörden begrenzt. In der Regel will die Ministerialbürokratie nicht in Details involviert werden, solange keine gravierenden Probleme auftreten. Im internationalen Jargon spricht man in diesem Zusammenhang von ‚fire alarm‘ Kontrolle, also intensive und schnelle Eingriffe, wenn es Probleme oder Krisen gibt, aber nicht stetige, detaillierte Überwachung im Sinne von ‚police patrol‘. Die meisten Behörden der nicht-ministeriellen Bundesverwaltung genießen daher de facto ein recht hohes Maß an Unabhängigkeit von Ministerien, die sich selten in die Entscheidungen ihrer Agenturen einmischen (siehe die grundlegende Studie von Döhler 2007a).
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen 3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
3.4.1 Landesregierung
Wie beim Bund besteht die Exekutive der Länder aus den Landesregierungen (Staatsregierungen, Senate) und -verwaltungen. Die Landesregierungen bestehen aus den Ministerpräsidenten bzw. in den Stadtstaaten dem Regierenden Bürgermeister (Berlin), dem Bürgermeister (Bremen) und dem Ersten Bürgermeister (Hamburg) und den Landesministern bzw. in den Stadtstaaten den Senatoren. Die Regierungschefs werden vom Parlament gewählt, in den Stadtstaaten auch die anderen Regierungs-
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
111
mitglieder. Außer in den Stadtstaaten Berlin und Bremen hat der Ministerpräsident ähnlich dem Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz inne. Landesminister wirken im Regierungskollegium mit und sind selbstständige Leiter eines Ministeriums. Die Landesregierungen bestehen in der Regel aus acht bis zwölf Ministerien. Neben der Staatskanzlei gibt es überall ein Innenministerium, ein Finanzministerium, ein Justizministerium, ein Wirtschaftsministerium und/oder Sozial-/ Arbeitsministerium, ein Kultus-und/oder Wissenschaftsministerium, ein Verkehrs- sowie ein Landwirtschafts- und/oder Verbraucher-/Umweltministerium. Die Zuschnitte wechseln aber in Abhängigkeit von den Koalitionspartnern und den Aufgabenschwerpunkten. Die Länder sind für die Ausführung der meisten Bundesgesetze zuständig und setzen zugleich wesentliche Rahmenbedingungen für die Kommunalverwaltungen (durch Kommunalaufsicht, Gemeindeordnungen, Regelung von Verfahrensweisen). Zu dem eigenständigen Kompetenz- und Regelungsbereich der Länder gehört vor allem die Kulturhoheit, also der gesamte Bereich des Schulwesens, der Förderung von Wissenschaft und Kunst, des Baus und der Unterhaltung von Hochschulen, der Bereich Innere Sicherheit sowie die Gesetzgebung für Presse, Funk und Fernsehen. Allerdings lassen sich auch diese Aufgaben nicht immer nur durch die Länder wahrnehmen, so dass eine klare Aufgabenabgrenzung im Detail schwierig sein kann. Die Landesministerien nehmen sowohl Regierungs- als auch Verwaltungsfunktionen wahr und verfügen daher in der Regel über einen eigenen Verwaltungsunterbau. Bei den Aufgaben der Landesverwaltung sind, wie oben schon angeführt, solche der Bundesauftragsverwaltung, der Landesvollzug von Bundesgesetzen als eigene Angelegenheit der Länder und der Landesvollzug von Landesgesetzen zu unterscheiden. Im ersten, eher seltenen Fall führen die Länder Bundesrecht im Auftrag durch, insbesondere durch die Verwaltung der Bundesfernstraßen, der Vollzug der Wehrgesetze und der Gesetze zur Erzeugung und Nutzung von Kernenergie. Hier können die Länder im Einzelfall vom Bund angewiesen werden. Der Bund trägt in der Regel die Kosten. Die Ausführung von Bundesangelegenheiten in eigener Kompetenz ist der Regelfall und betrifft u. a. die Krankenhausplanung, die Jugendhilfe, den Umweltschutz, die Stadtsanierung, das Baurecht, das Straßenverkehrsrecht und das Ausländerrecht. In diesen Bereichen kann der Spielraum ausgeschöpft werden, der innerhalb der Bundesgesetze besteht und die Länder bestimmen z. B. selbst die Organisation der Behörden. Der Bund verfügt hier nur über die Rechtsaufsicht. Zum Vollzug von Landesgesetzen gehören die Bereiche Erziehung und Bildung (Kindergärten, Schulen, Fachhochschulen, Universitäten, Erwachsenenbildung) sowie die Denkmalpflege, Theater, Museen, die Unterstützung des Sports, die Polizei, die regionale Strukturpolitik, Wirtschaftsförderung, Landesplanung und Raumordnung. 111
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Aufgabenbereich Politische Führung und zentrale Verwaltung, Auswärtige Angelegenheiten Öffentliche Sicherheit und Ordnung Rechtschutz Finanzverwaltung Allgemeinbildende und berufliche Schulen Hochschulen Soziale Sicherung, Familie und Jugend, Arbeitsmarktpolitik Gesundheit, Umwelt, Sport und Erholung Wohnungswesen, Städtebau, Raumordnung und kommunale Gemeinschaftsdienste Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verkehrs- und Nachrichtenwesen Diverses Insgesamt
Personal der Länder VZÄ (In Tausend) 125,5
in % 6
280,2 161,1 126,4 726,4 442,4 29,2
13,3 7,7 6 34,5 21,5 1,4
41,1 16,3
2 0,8
30,8 45,3 80,6 2105,2
1,5 2 3,8 100
Abb. 21 Personal der Länder 2017 (nach Aufgabenbereichen) Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 58
Die Länder sind im Bereich des öffentlichen Dienstes mit einem Anteil von rund 50 % diejenigen mit dem größten Personalbereich. Der größte Anteil des Personals auf Länderebene befindet sich im Bereich von Bildung und Wissenschaft (ca. 56 % aller Beschäftigten auf Landesebene) gefolgt von dem Bereich Polizei/öffentliche Sicherheit und Ordnung (13 % aller Beschäftigten) Rechtsschutz (8 % aller Beschäftigten) und der Steuer- und Finanzverwaltung (ca. 6 %, vgl. Abb. 21). Man erkennt hier eindeutig die Kompetenzbereiche der Länder in den Schwerpunkten Bildung, Wissenschaft und Polizei. 83 % der Beschäftigten auf Landesebene arbeiten damit in Bereichen, in denen Personaleinsparungen äußerst schwierig und auch unpopulär sind, da dies die Bereiche sind, in denen in der Regel ein Ausbaubedarf besteht bzw. politisch formuliert wird. Die gesamten übrigen Aufgaben der Landesverwaltung werden daher von nur ca. 17 % der Beschäftigten wahrgenommen, darunter die politische Führung und zentrale Verwaltung mit einem Anteil von nur 6 %. Die Verwaltung des Landes besteht also nur zum kleinen Teil aus Verwaltung im engeren Sinne, dominant ist vor allem der Dienstleistungsbereich.
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
113
3.4.2 Verwaltungsaufbau der Länder Der Verwaltungsaufbau der Länder wird von ihnen selbst organisiert, so dass es hier durchaus Unterschiede gibt. Beeinflussbar sind auf der Landesebene • die Zahl der Ressorts und (begrenzt) die Anzahl der Sonderverwaltungszweige und Fachbehörden, • das Ausmaß an Dekonzentration von Aufgaben auf ortsnahe Träger, • die Frage des zwei- oder dreistufigen Verwaltungsaufbaus (also mit oder ohne der Ebene der Regierungsbezirke), • die interne Organisation der Landesministerien und Fachbehörden sowie • die Gestaltung der Rahmenbedingungen der kommunalen Selbstverwaltung. Dennoch können einige allgemeine Grundsätze im Verwaltungsaufbau der Länder beschrieben werden, denn insbesondere innerhalb der drei Typen große Flächenländer, kleine Flächenländer und Stadtstaaten gibt es einige Ähnlichkeiten. Im Aufbau der unmittelbaren Landesverwaltung lassen sich vier verschiedene Ebenen ausmachen (vgl. Abb. 22): Verwaltungsebene Oberste Landesbehörden
Obere Landesbehörden Mittlere Landesbehörden
Untere Landesbehörden Länderzuordnung
Verwaltungseinheiten Landesregierungen: acht bis zwölf Ministerien (in der Regel: Staatskanzlei, Innenministerium, Finanzministerium, Justizministerium, Wirtschaftsministerium, Sozial-/Arbeitsministerium, Kultus-/Wissenschaftsministerium; Landwirtschafts-/Verbraucher-/Umweltministe rium, Verkehrsministerium) Landesoberbehörden, Landesbetriebe fachliche Mittelinstanzen fachliche Mittelinstanzen (Oberfinanzdirektionen) (Oberfinanzdirektionen) allgemeine Mittelinstanzen (Regierungspräsidien) untere Landesbehörden und nachgeordnete Einrichtungen Dreistufig: Bayern, BadenZweistufig: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Württemberg, Hessen, NRW, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein Thüringen
Abb. 22 Verwaltungsebenen in der Landesverwaltung Quelle: eigene Darstellung 113
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
• Oberste Landesbehörden und Landesoberbehörden als Zentralstufe: Zu den obersten Landesbehörden gehören die Landesministerien (zwischen 8 und 12) und der Landesrechnungshof, zu den Landesoberbehörden, die oft parallel zu den Bundesoberbehörden organisiert sind, in der Regel das Landesamt für Ver fassungsschutz, das Landesarchiv, das Statistische Landesamt und das Landesamt für Besoldung sowie je nach Bundesland verschiedene weitere Landesämter oder Landesbetriebe, z. B. im Bereich Umwelt, Soziales oder Straßenbau. • Regierungspräsidien und höhere Sonderbehörden als Mittelebene. Generell versteht man unter einer Mittelbehörde jene Teile der öffentlichen Verwaltung, die für einen Teil des Landes zuständig sind und über einen nachgeordneten oder unteren Organisationsbereich verfügen. Zu den Landesmittelbehörden zählen die Bezirksregierungen oder Regierungspräsidien sowie die Oberfinanzdirektionen.25 • Untere Verwaltungsbehörden und Sonderbehörden als Unterstufe: Zu den unteren Landesbehörden im Rahmen staatlicher Sonderverwaltungen zählen z. B. die Finanzämter, die Forstämter, die Versorgungsämter, die Gewerbeaufsichtsämter, die Gesundheitsämter, die Katasterämter und die Straßenbauämter, wenn sie nicht in die Kommunen eingegliedert sind. Die Flächenländer mit Regierungspräsidien26 werden als dreistufig (zentrale, mittlere und untere Ebene), die ohne allgemeine Mittelinstanzen als zweistufig bezeichnet, auch wenn es fachliche Mittelinstanzen gibt (vgl. Bogumil/Ebinger 2019). Der zweistufige Verwaltungsaufbau stärkt eher die Fachverwaltung, der dreistufige eher die allgemeine Verwaltung. Eine zweistufige Verwaltung ohne allgemeine Mittelinstanz findet sich (mit der Ausnahme von Niedersachsen) vornehmlich in den einwohnermäßig kleinen Bundesländern (unter 3 Mio. Einwohner, Ausnahmen Sachsen-Anhalt und Thüringen). Vor allem den größeren Bundesländern (Ausnahme Niedersachsen) dominiert dagegen eine dreistufige Verwaltung (vgl. als Beispiel Abb. 23).
25 Daneben gibt es in verschiedenen Ländern auch einige Landesbehörden mit regionalen Zuständigkeiten sowie höhere Kommunalverbände. 26 Bezirksregierungen entstanden im 19. Jahrhundert als regionale Bündelungsbehörden, um die Vorgaben einzelner Ressorts auf regionaler Ebene wieder zusammenzuführen. In dem Begriff „Regierung“ wird die Stellvertreterfunktion deutlich. Die Bündelung ressortspezifischer Entscheidungen war von Anfang an eine Kernfunktion der Bezirksregierungen.
Ministerien
Obere Landesverwaltung und sonstige Einrichtungen
Mittelinstanzen
Untere Landesverwaltung und Einrichtungen
47 Kreispolizeibehörden (18 PolizeiPräsidien, 29 Landräte und ein Städteregionsrat als Kreispolizeibehörden)
Landeskriminalamt
Landesbetrieb Information und Technik
Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten
Landesamt für zentrale polizeiliche Dienste
Ministerium des Inneren
Landesbetrieb Straßenbau
Ministerium Für Verkehr
33 Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung
53 staatliche Schulämter
LandesPrüfungsamt für Lehrämter an Schulen
Ministerium für Schule und Bildung
Landesbetrieb Mess- und Eichwesen
geologischer Dienst
Materialprüfungsamt
Landesamt für Natur, Umwelt u. VerbraucherSchutz (Klimaschutz und Energieangelegenheiten)
Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie
Direktor der Landwirtschaftskammer als Landesbeauftragter
Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz
Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz
zehn Eichämter (Betriebsstellen)
Landesbetrieb Wald und Holz
fünf Chemische und Veterinäruntersuchungsämter
fünf Bezirksregierungen
sechs Universitätskliniken
zwölf Fachhochschulen
sieben Kunsthochschulen
14 Universitäten und Hochschulen
Ministerium für Kultur und Wissenschaft
Landesregierung
Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten
Landeszentrum Gesundheit
Landesinstitut für Arbeitsgestaltung
Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug
Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung
Ministerpräsident
Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration
129 Finanzämter
Oberfinanzdirektion NordrheinWestfalen
Bau- und Liegenschaftsbetrieb
Rechenzentrum der Finanzverwaltung
Landesamt für Finanzen
Landesamt für Besoldung und Versorgung
Ministerium der Finanzen
Landesrechnungshof
Justizvollzugseinrichtungen
19 Staatsanwaltschaften
acht Sozialgerichte
30 Arbeitsgerichte
129 Amtsgerichte
19 Landgerichte
drei Generalstaatsanwaltschaften
Landessozialgericht
sieben Verwaltungsgerichte
jeweils drei Oberlandesgerichte, Finanzgerichte und Landesarbeitsgerichte
Oberverwaltungsgericht
Verfassungsgerichtshof
Ministerium der Justiz
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen 115
Abb. 23 Aufbau der Landesverwaltung in NRW
115
116
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Allerdings gibt es verschiedenste Formen von allgemeinen Mittelinstanzen. Weder ihre Aufgaben noch ihre Einbindung in die Verwaltungsstruktur sind bundesweit einheitlich. Es lassen sich drei Modelle unterscheiden: der dreistufige Aufbau mit Landesverwaltungsämtern in Sachsen-Anhalt und Thüringen, der dreistufige Aufbau mit funktionalem Aufgabenzuschnitt in Rheinland-Pfalz und der dreistufige Aufbau mit regional ausgerichteten Mittelinstanzen in Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Nordrhein-Westfalen. Bezirksregierungen als staatliche Mittelinstanzen stehen zwischen den Obersten Landesbehörden, den Ministerien, und den Unteren Landesbehörden. Zurzeit gibt es in Deutschland 19 regional ausgerichtete Bezirksregierungen sowie fünf Einrichtungen mit ähnlichen Aufgaben (Landesverwaltungsämter, Landesdirektion, Dienstleistungsdirektionen, vgl. Abb. 24). Bundesland (sortiert nach EW-Zahl) NordrheinWestfalen Bayern BadenWürttemberg Niedersachsen Hessen Sachsen RheinlandPfalz SchleswigHolstein Brandenburg Sachsen-Anhalt Thüringen MecklenburgVorpommern Saarland
Mittelinstanz Kreise Einwoh(Anz.) ner (in Mio.) 17,64 Fünf regional ausgerich31 tete Bezirksregierungen 71 12,69 Sieben regional ausgerichtete Regierungen 10,72 Vier regional ausgerich35 tete Regierungspräsidien 7,83 38 6,09 Drei regional ausgerich21 tete Regierungsbezirke 10 4,06 Landesdirektion mit drei regionalen Standorten 4,01 Drei funktional ausge24 richtete Direktionen 2,83 11 2,46 2,26 2,16 1,60
Landesverwaltungsamt Landesverwaltungsamt -
0,99
-
Kommunen (Anz.) 396
EW-Zahl pro Gemeinde (Durchschnitt) 45.282
2.056
6.360
1.101
10.054
945 426
8.446 14.708
422
9.663
2.305
1.772
1.110
2.609
14 11 17 6
417 218 849 753
6.031 10.128 2.524 2.138
6
52
19.057
Abb. 24 Verwaltungsstrukturen in den Flächenländern Quelle: eigene Darstellung (Daten Ende 2018, Statistisches Bundesamt 2019)
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
117
Die allgemeinen Mittelinstanzen haben insbesondere Bündelungs-, Koordinierungs(Entlastung von Ministerien, Hilfe bei politischer Leitung, Koordinierung kommunaler Aufgaben) und Kontrollfunktionen (Aufsichtsbehörde und Widerspruchsinstanz) inne. Das Spektrum der Zuständigkeit der Regierungspräsidien reicht von polizei- und ordnungsrechtlichen Angelegenheiten über die Kommunal-, Schul-, Bau- und Sparkassenaufsicht bis hin zu Aufgaben der Raum- und Landesplanung. Die Frage, ob man in Flächenländern Bezirksregierungen braucht, hängt von den Alternativen ab. Ohne Bezirksregierungen müssen ihre Aufgaben von den Ministerien und Oberbehörden und von den Kommunen wahrgenommen werden. Insofern wird allgemein davon ausgegangen, dass vor allem ihre koordinierende Funktion schwer zu ersetzen ist, da in ihnen Aufgaben aus verschiedenen Ressorts zusammenlaufen und ein Interessenausgleich stattfindet (zur Reformdiskussion vgl. Bogumil 2007b sowie Kapitel 5.2.7). Bezirksregierungen gab es bisher in den sieben größeren Flächenländern, allerdings hat Niedersachsen sie zum 1.1.2005 abgeschafft. Die Zahl der Bezirksregierungen pro Bundesland schwankt zwischen drei und acht. In Baden-Württemberg, Bayern und Hessen variiert die Größe zwischen 1,1 Mio. und 3,9 Mio. Einwohner, in NRW zwischen 2 Mio. (Detmold) und 5,3 Mio. Einwohnern (Düsseldorf). In den Stadtstaaten nehmen die Landesregierungen, die hier als Senate bezeichnet werden, gleichzeitig Landes- und Gemeindeaufgaben wahr. Unterhalb der Senatsebene existieren in Stadtstaaten zudem die Bezirksverwaltungen (zu den aktuellen Verwaltungsstrukturreformen in den Bundesländern vgl. Kap. 5.2.5). Neben der unmittelbaren Landesverwaltung gibt es wie beim Bund eine mittelbare Staatsverwaltung durch Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts. Körperschaften sind z. B. Landesversicherungsanstalten, Ortskrankenkassen, Industrie- und Handelskammern, Rechtsanwaltskammer, Handwerkskammer, Ärztekammer, Landwirtschaftskammern, Hochschulen etc., Anstalten, z. B. die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Landesmedienanstalten, die Landesbanken und die Sparkassen. Ebenfalls zur mittelbaren Staatsverwaltung gehören die kommunalen Gebietskörperschaften, soweit ihnen staatliche Aufgaben der Vollzugsebene übertragen sind. Dies ist z. B. im Bereich des Wasser- und Abfallrechtes, der Naturschutzverwaltung, der Raumordnung und der Bauaufsicht der Fall. Zu den Aufgaben der Länder gehört auch die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen der kommunalen Selbstverwaltung und hier als häufig umstrittene Maßnahmen die Ausgestaltung der Gebietsstruktur der Kommunen, also die Frage, wieviel Kreise, kreisfreie Städte und Kommunen es in den jeweiligen Bundesländern gibt. Wie in Abb. 24 unschwer zu erkennen ist, variiert die Anzahl und auch die Größe von Kommunen und Kreisen im Bundesländervergleich erheblich. Dies ist das 117
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Ergebnis unterschiedlicher Verwaltungstraditionen und eines unterschiedlichen Ausmaßes von Gebietsreformen (vgl. hierzu Kap..5.2.1 sowie 5.2.5). In den alten Bundesländern sind die Gebietszuschnitte der Kommunen seit dem Jahr 1978 mit wenigen Ausnahmen durch freiwillige Gebietszusammenschlüsse in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz (die das Land genehmigen muss) weitgehend unverändert. Die meisten Bundesländer bis auf Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz haben ihre kommunalen Gebietsstrukturen bis 1978 um 70–85 % reduziert, da die Ausgangslagen aber sehr unterschiedlich waren, variiert die Anzahl der Gemeinden dennoch erheblich. Land Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Bayern Niedersachsen Baden-Württemberg Hessen Saarland NRW
Anzahl der Gemeinden 1968 2,905 1,378 7,077 4,231 3,379 2,684 347 2,277
Anzahl der Gemeinden 1978 2,320 1,132 2,056 1,030 1,111 426 52 396
Anzahl der Gemeinden 2017 2,305 1,110 2,056 945 1,101 426 52 396
Reduzierung um 21 % 19 % 71 % 78 % 67 % 84 % 86 % 83 %
Abb. 25 Kommunale Gebietszuschnitte in Westdeutschland Quelle: Bogumil 2016, S. 22 aktualisiert
In den neuen Bundesländern gab es zwei Phasen der Gebietsreformen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Im Ergebnis wurden die Gebietsstrukturen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg in ähnlichem Ausmaß wie in den alten Bundesländern reduziert. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern, welches allerdings ein radikale Kreisreform durchgeführt hat, und in Thüringen sind die Veränderung eher moderat.
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
Land Mecklenburg-Vorpommern Sachsen-Anhalt Thüringen Brandenburg Sachsen
Anzahl der Gemeinden 1990 1,117
Anzahl der Gemeinden 2001/2003 994
1,349 1,699 1,775 1,623
1,289 1,017 422 540
119
Anzahl der Gemeinden 2017 753 218 849 417 422
Reduzierung um 33 % 84 % 50 % 76 % 74 %
Abb. 26 Kommunale Gebietszuschnitte in Ostdeutschland Quelle: Bogumil 2016, S. 24 aktualisiert
3.5 Kommunalverwaltung 3.5.1 Kommunen im Bundesstaat Die Kommunen erfüllen im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Doppelfunktion. Zum einen werden auf kommunaler Ebene in vielen Politikfeldern politische Entscheidungen getroffen, die die Lebensumstände der Bürger nachhaltig prägen. Örtliche Lösungen bieten aufgrund ihrer geringen Distanz bessere Mitwirkungsmöglichkeiten für Bürger, sie machen Politik „fassbar“. Da die Auswirkungen von Politik, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem besonders anschaulich und konkret erfahrbar sind, besteht hier die Chance, Politik in größerem Umfang mitzugestalten und die Bürger in das politisch-administrative System einzubinden. Die lokale Ebene ist also die Ebene umfassender Mitwirkungsmöglichkeiten. Aus dieser Perspektive sind die Kommunen einerseits die „Schule der Demokratie“. Andererseits kommt den Kommunen mit Blick auf die Aufgabenerfüllung und die Bedeutung für die Lebensverhältnisse der Bürger eine wichtige Funktion der Daseinsgestaltung zu. Aus dieser Perspektive interessieren vor allem die Effektivität und Effizienz kommunaler Leistungen. Durch die Übernahme von Versorgungs-, Leistungs-, Fürsorge-, Vollzugs- und Planungsfunktionen sind Kommunen auch in Zeiten eines europäischen Mehrebenensystems unverzichtbar. Allerdings sind sie, gemessen an ihrer Finanzautonomie und hinsichtlich der administrativen und politischen Kompetenz, die am schlechtesten ausgestattete Politikebene (vgl. ausführlich Bogumil/Holtkamp 2013). Der Begriff „Kommune“ heißt wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt Gemeinde, allerdings werden mit diesem Begriff sowohl die Gemeinden, die kreisfreien Städte, 119
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
die kreisangehörigen Städte und die Landkreise bezeichnet. Juristisch sind die Kommunen Körperschaften des öffentlichen Rechtes. Im Rahmen der föderalstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik sind sie als Träger der grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28, Abs. 2 GG) eine eigene Ebene im Verwaltungsaufbau. Im Rahmen der föderalstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik sind die Gemeinden und Gemeindeverbände als Träger der grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz (GG)) eine eigene Ebene im Verwaltungsaufbau. Sie gehören neben dem Bund und den Ländern zu den Gebietskörperschaften und sind damit eine der drei Hauptverwaltungsebenen. In ihrem Gebiet sind sie grundsätzlich die Träger der gesamten örtlichen öffentlichen Verwaltung. Neben ihnen gibt es auf der lokalen Ebene nur untere Behörden des Bundes und des Landes als Sonderbehörden (z. B. Zoll, Polizei, Finanz- oder Arbeitsagentur). Allerdings nimmt die kommunale Ebene auch staatliche Aufgaben wahr, entweder als Auftragsangelegenheiten oder im Wege der sogenannten Organleihe (kommunale Behörden agieren zugleich als staatliche Behörden) vor allem auf der Kreisstufe. Insgesamt gibt es in Deutschland 107 kreisfreie Städte27 und 294 Landkreise. Alle Kommunen, die nicht kreisfreie Städte sind, sind Kreisen zugeordnet (vgl. zum gesamten Kapitel Bogumil/Holtkamp 2013). Die Größe der Kommunen variiert zwischen den Bundesländern erheblich. Während es im vereinten Deutschland bundesweit 11.054 Gemeinden (Stand 2019) gibt, ist z. B. NRW nach dem Saarland das Flächenland mit der geringsten Anzahl an Gemeinden (396), da es hier im Unterschied zu den anderen Flächenländern seit der Gebietsreform in den 70er-Jahren (vorher waren es in NRW insgesamt 2.347 Gemeinden) keine Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern und nur 3 Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern gibt. In Bayern liegt die Anzahl der Gemeinden dagegen bei 2.056 oder in Baden-Württemberg bei 1.111 (vgl. Abb. 25). Obwohl in NRW damit über 20 % der Bevölkerung leben, liegt der Anteil an der Zahl aller Kommunen in Deutschland bei knapp 3 %, ein deutlicher Beleg für die sehr unterschiedlichen Gemeindegrößen. Auch wenn die Kommunen zu den drei Hauptverwaltungsebenen gehören, so sind sie staatsrechtlich Teil der Länder und unterliegen damit ihrem Aufsichts- und Weisungsrecht. Wenn im engeren Sinne von staatlicher Verwaltung gesprochen wird, sind nur der Bund und die Länder gemeint, da nur sie über eine jeweils eigene staatliche Hoheitsmacht verfügen. Die konkrete Ausgestaltung der kommunalen 27 Kreisfreie Städte (oder Stadtkreise) sind in der Regel Großstädte oder größere Mittelstädte. Nur in BY, TH und RP gibt es noch kreisfreie Städte mit weniger als 50.000 Einwohnern, wobei die westpfälzische Stadt Zweibrücken mit ca. 34.000 Einwohnern die kleinste in Deutschland ist.
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
121
Aufgaben, Befugnisse und Strukturen wird durch die jeweilige Landesverfassung und durch von den Ländern erstellte Kommunalverfassungen geregelt. Dazu gehören die Gemeindeordnungen, die Kreisordnungen, die Kommunalwahlgesetze, die Kommunalabgabengesetze sowie Gesetze über kommunale Zusammenarbeit (z. B. in NRW Kommunalverband Ruhrgebiet oder das Gesetz über kommunale Gemeinschaftsarbeit). Die wichtigsten Regelungen finden sich in der Gemeindeordnung (GO). Grundsätzlich verfügen die Gemeinden zur Verwirklichung des Selbstverwaltungsrechtes im Rahmen der Gesetze von Bund und Land über die Organisations-, Personal-, Finanz-, Planungs-, Satzungs-, Gebiets- und Aufgabenhoheit. Die Fach- und Rechtsaufsicht über die kommunale Verwaltung hat das Land. Die Fachaufsicht gilt aber nur für den übertragenen Aufgabenbereich, also die Auftragsangelegenheiten. Aufsicht wird in der Regel durch die Bezirksregierungen (wenn vorhanden), die Landkreise und das Innenministerium ausgeübt. In den Stadtstaaten verschmelzen kommunale und staatliche Hoheit.
3.5.2 Aufgaben Die Kommunen nehmen vor allem Aufgaben in den Sektoren innere Verwaltung und allgemeine Staatsaufgaben, Soziales, Gesundheitswesen, Wirtschaftsförderung, Verkehr und öffentliche Einrichtungen wahr. Damit liegt ein Großteil von Verwaltungsaufgaben in Deutschland in der Zuständigkeit der Gemeinden und Gemeindeverbände. Einerseits nehmen die Gemeinden nach Art. 83 ff. GG Aufgaben des Bundes und des Landes als untere Verwaltungsinstanz wahr (übertragener Wirkungskreis, Auftragsangelegenheiten). Andererseits verfügen sie aber auch durch Art. 28 GG über eine Fülle von Aufgaben in eigener Verantwortung (Selbstverwaltungsangelegenheiten). Inhaltlich lassen sich Ordnungs-, Leistungsund Planungsaufgaben unterscheiden. Zu den Auftragsangelegenheiten gehört das Melderecht, das Bauaufsichtsrecht, Ausländerangelegenheiten, Zivilschutz und das Ordnungsrecht. Aufgabenbereiche sind hier die Kraftfahrzeugzulassung, das Ausländerwesen, das Pass- und Meldewesen, die Lebensmittelüberwachung, die Schulaufsicht oder das Gewerberecht. In diesem Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung bestehen bei der Gestaltung der Ziele keine Handlungsspielräume für die Kommunen. Insbesondere bei den Auftragsangelegenheiten nach Bundesrecht besteht ein umfassendes Weisungsrecht, das allerdings von den Ländern ausgeübt wird. Der Bund hat keine direkte Einflussnahme auf die Kommunen. Die Aufsichtsbehörden haben nicht nur die Rechts- sondern auch die Fachaufsicht. Die Auftragsangelegenheiten unterliegen in der Regel nicht der Zuständigkeit der kommunalen Vertretungen, sondern hier ist 121
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
der hauptamtliche Verwaltungschef (i. d. R. Bürgermeister oder Landrat) zuständig für die Durchführung (vgl. Schäfer/Stricker 1989, S. 39). Rechtsverordnungen des Landes und das Gesetz zur Funktionalreform regeln, welche dieser Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung alle Gemeinden zu erfüllen haben und welche auf die kreisfreien Städte und Kreise übertragen werden. Bei den Selbstverwaltungsangelegenheiten als nichtstaatliche Aufgaben der örtlichen Selbstverwaltung sind • die freiwilligen Aufgaben (z. B. Einrichtung und Unterhaltung von Grünanlagen, Museen, Schwimmbäder, Theater, Sportstätten, Büchereien, Altentreffs, Bürgerhäusern; Förderung von Vereinen; Wirtschaftsförderung; Partnerschaften mit anderen Städten) und • die Pflichtaufgaben (z. B. Gemeindestraßen, Bebauungspläne, Bauleitplanung, Kindergärten, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Wohngeld, Schulverwaltung, Volkshochschulen, Förderung des Wohnungsbaus, Abfallbeseitigung, Abwasserbeseitigung) zu unterscheiden. Bei den Selbstverwaltungsaufgaben ist die Gemeindevertretung28 durchweg die höchste Entscheidungsinstanz. Hier gilt die Zuständigkeit der Kommunalvertretung. Dennoch gibt es in Abhängigkeit von den einzelnen Aufgabenbereichen unterschiedliche Steuerungsmöglichkeiten. Die größten Gestaltungsmöglichkeiten für die Kommunalpolitik befinden sich im Bereich der freiwilligen Aufgaben, da hier auch die Ziele gesetzt werden. Die staatlichen Ebenen üben hier nur Rechtsaufsicht aus, d. h. sie kontrollieren, ob die Gemeinden bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht gegen Gesetze verstoßen. Allerdings ist der Anteil der freiwilligen Selbstverwaltungsangelegenheiten durch die Verengung des kommunalen Finanzrahmens und rechtliche Vorgaben der EU, des Bundes und der Länder unter dem Postulat der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse zurückgegangen. Im Bereich der pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben liegt der kommunalpolitische Gestaltungsspielraum im Weg, vorgegebene Ziele zu erreichen. Die Ausübung dieser Aufgaben ist durch Bundes- und Landesgesetze vorgeschrieben, die staatlichen Ebenen üben natürlich auch hier die Rechtsaufsicht aus, aber bei der Ausführung der Aufgaben gibt es – je nach Detaillierungsgrad der Rahmengesetze – z. T. erhebliche Handlungsspielräume. Die Aufgabenschwerpunkte bezüglich des Personaleinsatzes liegen auf kommunaler Ebene im Bereich Soziale Sicherung, Gestaltung der Umwelt, innere Verwaltung sowie etwas abgeschwächt im Bereich Schule und Kultur, Sicherheit und Ordnung 28 Die Gemeindevertretungen werden je nach Bundesland mitunter auch als Rat, Gemeinderat oder Stadtrat bezeichnet.
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
123
sowie Gesundheit und Sport (vgl. Abbildung 27). Insbesondere in den Bereichen Soziale Dienste und Gesundheitswesen ist die kommunale Ebene seit Anfang der 60er-Jahren immer wichtiger geworden und übernimmt hier Tätigkeiten, die früher auf Landesebene angesiedelt waren oder nicht in dem Ausmaß von Relevanz waren. Aufgabenbereich Innere Verwaltung Sicherheit und Ordnung Schule und Kultur Soziales und Jugend Gesundheit und Sport Gestaltung der Umwelt Insgesamt
VZÄ der Kommunen (in Tsd.) 258,9 123,1 131,5 331,6 130,5 295,7 1271,3
in % 20,4 9,7 10,3 26,1 10,3 23,3 100,00
Abb. 27 Personal der Gemeinden 2017 (nach Aufgabenbereichen) Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 69
Insgesamt zeigt sich auf kommunaler Ebene eine große Vielfalt von Tätigkeiten, so dass hier keine typischen Berufe existieren. Man findet vom fachlich-beruflichem Spektrum neben den für allgemeine Verwaltungsfragen zuständigen Mitarbeitern (als Verwaltungsfachangestellte oder an einer Fachhochschule ausgebildet) sehr unterschiedliche Bereiche. Zu nennen sind hier die technischen Berufe im Bauwesen, Umweltschutz, Ver- und Entsorgung, Verkehr, Gewerbekontrolle, Vermessungsdienst, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen im Sozialdienst, Ärzte und Pflegepersonal im Gesundheitsdienst, Erzieher und Pädagogen in Heimen, Kindergärten und Volkshochschulen, Gärtner und Gartenarbeiter im Grünflächenbereich, künstlerisches Personal in Theatern, Orchestern und Museen, Beschäftigte der Feuerwehr und Beschäftigte im Bibliotheksdienst. Kommunen sind also stark durch professionelle Ausbildungen und daher auch professionelle Standards der Aufgabenwahrnehmung bestimmt.
3.5.3 Kommunalverfassungen Im Rahmen der grundgesetzlichen Garantie kommunaler Selbstverwaltung haben die Länder einen erheblichen Spielraum zur Schaffung eigenständiger Kommunalverfassungen, den sie auch nutzen. Dabei haben die Länder sowohl auf histo123
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
rische Vorbilder zurückgegriffen als auch Vorbilder der Kommunalverfassungen der Besatzungsmächte berücksichtigt.29 Prinzipiell wird in Deutschland bei den Kommunalverfassungstypen (in den Flächenländern) bis Anfang der 90er-Jahre je nach dominantem Typisierungsmerkmal entweder zwischen monistischen oder dualistischen Systemen (bezieht sich auf die Kompetenzverteilung zwischen Rat und Verwaltung) oder – orientiert an den Organen, denen Kompetenzen zugeordnet werden – zwischen der norddeutschen Ratsverfassung, der süddeutschen Ratsverfassung, der rheinischen Bürgermeisterverfassung und der unechten Magistratsverfassung unterschieden (vgl. Knemeyer 1993; 1998; andere Typisierungsvorschläge finden sich bei Stargard 1995a; b). Ausgehend von den neuen Bundesländern30 entwickelte sich seit 1991 ein durchgängiger Trend zur Reform der Kommunalverfassungen in Richtung süddeutsche Rat-Bürgermeisterverfassung (mit baden-württembergischer Prägung) mit einem direkt gewählten Bürgermeister und der Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden. Bürgerentscheid und Bürgerbegehren sind nach Baden-Württemberg (1956) und den ostdeutschen Ländern in Schleswig-Holstein (1990), Hessen (1993), Rheinland-Pfalz (1993), NRW (1994), Bremen (1994), Bayern (1995), Niedersachsen (1996), dem Saarland (1997) und Hamburg (1998) in die GO aufgenommen worden. Bis auf Baden-Württemberg sind in allen Flächenländern die Kommunalverfassungen verändert worden.31 Damit werden auf lokaler Ebene die über 40 Jahre existie29 Einheitliche Kommunalverfassungen gab es nur 1850 in Preußen, allerdings auch nur für drei Jahre, und dann während der nationalsozialistischen Herrschaft durch die Deutsche Gemeindeordnung von 1935. Die Gemeindeverfassungssysteme orientieren sich fast immer auch an den historischen Vorbildern. So sind schon in Preußen sowohl bezüglich des Rheinlandes, Westfalens und Nassaus im frühen 19. Jahrhundert als auch später bezüglich Schleswig-Holsteins und Hannovers immer die in den Regionen bestehenden Kommunalverfassungen anerkannt und fortgeschrieben worden (vgl. von Saldern 1998). 30 Schon in der noch von der DDR-Volkskammer verabschiedeten DDR-Kommunal verfassung vom 17.5.1990 wurden Volksbegehren und -entscheid aufgenommen in der Absicht, ein Stück basisdemokratisches Erbe der ostdeutschen „Revolution“ zu bewahren. 31 Insbesondere die Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters kann als das Ergebnis eines von Parteienpräferenz, von Expertenwissen und vom Interessenkampf der Landespolitik geprägten Entscheidungsprozesses betrachtet werden. So war die SPD nicht nur in NRW (vgl. hierzu im Detail Bogumil 2001: 176), sondern auch in Hessen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein lange Zeit gegen eine Direktwahl des Bürgermeisters. Nach Derlien hat die CDU eine Präferenz für die exekutive Führerschaft und die SPD eine Präferenz für monistische Systeme, die auf eine Parlamentarisierung der Kommunalpolitik hinauslaufen. Eng zusammen mit diesen Leitbildern hängen Vorstellungen von der Gemeinde als Kommunalpolitik oder als kommunale Selbstverwaltung (vgl. Derlien 1994a, S. 66). Durchgesetzt hat sich das
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
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renden repräsentativ-demokratischen Formen politischer Entscheidungsfindung durch direktdemokratische Formen32 ergänzt (vgl. Jung 1995; 1999; Henneke 1996, Schefold/Neumann 1996; Bovenschulte/Buß 1996; Knemeyer 1997; 1998; Schliesky 1998; Wollmann 1998b) und die kommunale Verfassungswelt hat bei allen noch bestehenden Unterschieden eine kaum für möglich gehaltene Vereinheitlichung erfahren. Dies ist umso beachtenswerter, als es sich hierbei um einen dezentralen politischen Entscheidungsprozess handelt, denn die Kommunalverfassungen liegen in der Kompetenz der Bundesländer. Orientiert an den klassischen Unterscheidungen gehen nun alle Gemeindeordnungen von einer dualistischen Kompetenzverteilung einer kommunalen Vertretungskörperschaft und einem direkt gewählten Bürgermeister aus. Dieser ist überall Verwaltungschef und nur in Hessen muss er sich bei der Verwaltungsleitung im Magistrat absprechen (kollegiale anstatt monokratischer Leitung). Nach wie vor bestehen allerdings z. T. erhebliche Unterschiede im Institutionenarrangement zwischen einzelnen Bundesländern, u. a. bezüglich der Kompetenzverteilung zwischen Kommunalvertretung und Verwaltung, der Wahlzeit des Bürgermeisters, der Leitung der Gemeindevertretung (Bürgermeister oder Vorsitzender der Vertretungskörperschaft), der Möglichkeiten des Kumulierens (ein Kandidat auf einer Liste kann mehrere Stimmen erhalten) und des Panaschierens (Kandidaten von einer Liste können auf eine andere geholt werden) sowie der Durchführungsbedingungen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden. Bogumil/Holtkamp haben einige dieser Unterschiede benutzt, um einen neue vergleichende Kommunalverfassungstypologie zu erarbeiten (vgl. Bogumil 2002c, S. 33; Holtkamp 2003). Analysiert man die fünf gängigsten durch die Gemeindeordnung geregelten Kompetenzen des Bürgermeisters und des Rates, ergeben süddeutsche Modell bzw. Teile des süddeutschen Modells erst mit dem Argument der Direktwahl und der damit verbundenen Einbindung der Bürger (zum Zusammenhang zwischen Wertewandel und neuen Politikformen auf kommunaler Ebene vgl. Gabriel 1997). Die Einführung von Bürgerentscheiden und Bürgerbegehren ist in der Regel weniger umstritten, musste aber in einigen Bundesländern erst durch Volksbegehren auf Landesebene (Bremen, Bayern) durchgesetzt werden. 32 Bei direkter Demokratie handelt es sich um eine Form der Willensbildung, Konfliktregelung und Entscheidungsfindung, bei der die Entscheidungsbetroffenen unter Umgehung von Repräsentanten Sach- oder Personalentscheidungen treffen (vgl. Luthardt/ Waschkuhn 1997, S. 72). Bei den Sachentscheidungen sind Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundes- und Landesebene sowie Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene zu nennen, bei den Personalentscheidungen die Direktwahlmöglichkeiten des Bürgermeisters oder Landrates auf kommunaler Ebene. Direkte Demokratie wird hier nicht als Alternativmodell zur repräsentativen Demokratie aufgefasst, sondern als eine andere Form des Entscheidungsverfahrens. 125
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sich ganz erhebliche Unterschiede zwischen den Gemeindeordnungen hinsichtlich des Verhältnisses von Bürgermeister und kommunaler Vertretungskörperschaft. Mittlerweile hat sich zur Beschreibung dieser immer noch variierenden kommunalen Entscheidungsstrukturen das Begriffspaar „Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie“ durchgesetzt (vgl. Bogumil/Holtkamp 2013, S. 167). Angelehnt an diese idealtypische Unterscheidung können die Flächenländer mittels eines Konkordanzindex zugeordnet werden (ebd., S. 167, ebd. 2016). Danach dominieren konkordanzdemokratische Muster eher in baden-württembergischen, rheinland-pfälzischen und den meisten ostdeutschen Kommunen, während in NRW, dem Saarland und Hessen konkurrenzdemokratische Konstellationen prägend sind. Die anderen Bundesländer werden zwischen diesen Polen verortet (Niedersachsen, Bayern, Schleswig-Holstein). Insgesamt ist in Deutschland ein Trend zur kommunalen Konkordanzdemokratie zu beobachten, begünstigt durch die Kommunalverfassungsreformen und die zunehmende Schwäche der Parteien. Letzteres zeigt sich auch daran, dass die Verfahrensbedingungen für Bürgerbegehren in der Tendenz immer bürgerfreundlicher werden. In der kommunalen Konkordanzdemokratie treffen Akteure mit einer geringeren personellen Parteipolitisierung aufeinander. Im Rat wird kaum zwischen Opposition und Regierung unterschieden, die Fraktionsdisziplin ist aus Sicht der Ratsmitglieder geringer ausgeprägt, während der Bürgermeister als exekutiver Führer dominiert. In der Konkordanzdemokratie halten die Akteure zudem Parteipolitik in der kommunalen Selbstverwaltung eher für schädlich (konkordante Einstellungen) und die Varianz der politischen Prioritäten ist aufgrund der geringeren inhaltlichen Parteipolitisierung niedriger als in der Konkurrenzdemokratie bzw. die Parteidifferenz hat eine niedrigere Erklärungskraft für die Prioritäten. Empirische Untersuchungen haben diese Thesen weitgehend bestätigt (vgl. auch Bogumil/Holtkamp 2016). Mit niedrigen Werten auf dem Kommunalverfassungsindex (durch schwächere rechtliche Kompetenzen des Bürgermeisters und starre Ratslisten bei der Kommunalwahl) gehen eher konkurrenzdemokratische Konstellationen einher, die mit steigender Gemeindegröße und mit Lage in Westdeutschland noch mal forciert werden. Hervorzuheben ist insbesondere der starke Zusammenhang zwischen Kommunalverfassungsindex und Konkurrenz- bzw. Konkordanzdemokratie. Institutionen machen also für die Akteurskonstellationen vor Ort durchaus einen Unterschied, ohne diese zu determinieren. Kommunalverfassungen, die dem Bürgermeister mehr formale Kompetenzen einräumen, führen zu einer ausgeprägten exekutiven Führerschaft, wobei dann vor Ort zusätzlich viele endogenen Variablen, wie z. B. die erworbene Fach- und Führungskompetenz des Bürgermeisters, ins Spiel kommen.
3.4 Landesregierungen und -verwaltungen
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Kreise und Gemeinden verfügen im Rahmen der landesrechtlichen Bestimmungen über die Organisationshoheit in ihrem Gebiet, d. h. sie verfügen über das Recht auf eigenverantwortliche Gestaltung ihrer internen Organisation. Dies umfasst sowohl die Wahl der Organe, die Organisation der gemeindlichen eigenen Verwaltung und die Regelung der „inneren Verfassung“ der Gemeinde durch Erlass der Hauptsatzung und der Geschäftsordnung. Die Organisationsgewalt über die gemeindliche Verwaltung gilt sowohl für Selbstverwaltungsaufgaben als auch für Auftragsangelegenheiten. Dabei ist der Bürgermeister (Landrat) als Verwaltungschef verantwortlich für die Leitung und Verteilung des Geschäftsgangs der gesamten Verwaltung. Er ist Dienstvorgesetzter der Wahlbeamten, Beamten, Angestellten und Arbeiter. Disziplinarvorgesetzter ist die Aufsichtsbehörde. Der Bürgermeister verfügt damit über das Organisationsrecht und kann selbständig einen Geschäftsund Organisationsverteilungsplan erlassen und durch Einzelanweisungen die Geschäfte auf die Verwaltungsmitarbeiter verteilen (vgl. auch Kap. 4.2.2).
3.5.4 Finanzierung Zur Finanzierung ihrer Aufgaben verfügen die Kommunen über die Möglichkeit Steuern zu erheben. Dies sind derzeit vor allem die sogenannten Realsteuern (Art. 106 Abs. 6 GG), also die Gewerbe- und Grundsteuer, sowie kleinere Verbrauchs- und Aufwandssteuern (z. B. Hundesteuer). Von der Gewerbesteuer fließt allerdings ein Teil des Aufkommens über die Gewerbesteuerumlage wieder an Bund und Länder zurück. Die Entscheidung über die Steuersätze obliegt dem Rat. Die Gewerbesteuer als wirtschaftsbezogenes Element soll den Kosten einer Gemeinde für die Bereitstellung von Infrastruktur Rechnung tragen. Daneben sind die Gemeinden am Steuerverbund beteiligt, einmal direkt über die Einkommenssteuer und die Umsatzsteuer, zum anderen indirekt über den kommunalen Finanzausgleich der Länder (vgl. Kap. 3.7). Insgesamt sind im Jahr 2016 30 % der Einnahmen der Kommunen direkte Steuereinnahmen, weitere 40 % erfolgen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs in Form verschiedener Zuweisungen. Der kommunale Finanzausgleich resultiert aus der grundgesetzlichen Verpflichtung, die Kommunen an den Gemeinschaftssteuern zu beteiligen und eine Finanzkraftauffüllung vorzunehmen, damit die Kommunen ihre Aufgaben erfüllen können. Weitere Einnahmequellen sind die Erhebung von Gebühren und Abgaben für die Inanspruchnahme kommunaler Dienstleistungen (9,8 %) sowie die Kreditaufnahme. Deutlich wird bei der Betrachtung der Einnahmepositionen die relativ große Abhängigkeit von Entscheidungen der Bundes- und Landesebene und von der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Kreditaufnahme unterliegt gesetzlichen Rege127
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lungen und dem Genehmigungsvorbehalt der Aufsichtsbehörde, die Einnahmen aus der Gewerbe- und Einkommenssteuer sind konjunkturabhängig, die Einnahmen aus den Zuweisungen von Bund und Land Ergebnis von Verhandlungsprozessen, bei denen die Kommunen über die geringsten Machtressourcen verfügen, und die Gebühren unterliegen dem Gebot der Kostendeckung. Die Steuerbarkeit der eigenen Einnahmesituation ist mithin begrenzt. Betrachtet man die Ausgaben, so sind neben den Personalausgaben mit einem Anteil von 21 % und dem Sachaufwand mit 19 % die Kosten für soziale Leistungen mit einem Anteil von 20 % ein weiterer großer Ausgabenblock der Gemeinden, der allerdings kaum beeinflussbar ist. Es folgen die Investitionsausgaben mit knapp über 11 % (alle Zahlen aus dem Jahr 2016, vgl. Bogumil/Holtkamp 2019). Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich in der Regel nur die Grundsteuern und die Gewerbesteuerhebesätze und die Einnahmen aus Eigentumsveräußerungen sowie die Ausgaben für den laufenden Sachaufwand, die Personalausgaben und die Investitionsausgaben im Verbund mit den zweckgebundenen Investitionszuweisungen des Landes steuern lassen (zu den Ursachen kommunaler Haushaltsdefizite vgl. Bogumil u. a. 2014).
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Personal im öffentlichen Dienst
3.6
Personal im öffentlichen Dienst
3.6.1 Strukturprinzipien der Personalwirtschaft im öffentlichen Dienst Die Personalwirtschaft im öffentlichen Dienst in Deutschland hat mehrere Besonderheiten: • eine parlamentarische Verantwortung für den Stellenplan, • eine speziell auf den öffentlichen Dienst ausgerichtete Ausbildung und die damit verbundene begrenzte Mobilität des Personals, • die lebenslängliche Bindung, die auch weitgehend über die Gruppe der Beamten hinaus durch tarifvertragliche Unkündbarkeitsregeln und arbeitsrechtliche Praxis gilt, sowie • die Einbindung in ein engmaschiges gesetzliches Regelwerk (Bundesbeamtengesetz, Beamtenrechtsrahmengesetz, Bundeslaufbahnverordnung und die landesrechtlichen Laufbahnvorschriften, BAT sowie seit dem 1.10.2005 der TVöD und seit dem 19.5.2006 der TV-L).
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Diese Besonderheiten prägen die Ausgestaltung des Personalwesens im öffentlichen Dienst. Hier wird nun vor allem auf den Beamtenstatus und das Laufbahnsystem eingegangen, quantitative und qualitative Trends werden in Kapitel 3.6.2 und die Aus- und Weiterbildung in Kapitel 3.6.3 erläutert. Art. 33 GG regelt, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen sind, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Gemeint sind damit die Beamten (vgl. §2 BRRG). Bei hoheitlichen Aufgaben (Polizei, Schulen, Hochschulen, Finanzverwaltung) müssen in Deutschland also nach wie vor Beamte eingestellt werden. Allerdings ist umstritten, inwieweit Schulen und Hochschulen tatsächlich hoheitliche Aufgaben sind, und es gibt Anzeichen für eine Auflockerung dieses Prinzips (siehe unten). Historisch ist das Beamtentum aus dem Fürstendienst der Einzelstaaten entstanden. War zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Bedienstete dem Lehnsherren auf lehns- und privatrechtlicher Grundlage verpflichtet, beginnt mit dem Zeitalter des Absolutismus die Verrechtlichung des Beamtentums. Die Entfaltung des Beamtenrechts geht mit einer detaillierten Rechtsstellung einher. Merkmale sind • der Beamteneid, der allgemeine Treuepflicht, politische Zurückhaltung und Neutralität verbürgen soll, • die Sicherung der Unabhängigkeit der Amtsführung, • die Einführung einer eigenen Disziplinargerichtsbarkeit und • die Ausbildung eines differenzierten Laufbahnsystems. Mit der Weimarer Reichsverfassung werden die Anstellung auf Lebenszeit, die Regelung von Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung, die Haftung des Staates bei Amtspflichtverletzung eines Beamten sowie die Gewährleistung der Freiheit der politischen Gesinnung ergänzt. Auch heute noch ist das Beamtenverhältnis durch das Laufbahnprinzip, das Lebenszeitprinzip, die Treuepflicht, die Unparteilichkeit, die Fürsorgepflicht sowie die Hauptberuflichkeit gekennzeichnet. Das Recht der Beamten wird durch staatliche Rechtsnormen bestimmt. Die rechtliche Stellung des Beamten sieht einige besondere Pflichten des Beamten vor. Beamten sollen dem ganzen Volk dienen (nicht einer Partei), ihre Aufgaben unparteiisch und gerecht erfüllen und bei der Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht nehmen (§ 35 BRRG). Vergleicht man ihre Stellung mit der von Angestellten, so ergibt sich folgendes Bild:
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Unkündbarkeit (Lebenszeitprinzip) Versorgung Streikrecht Besondere Treuepflicht Regelung der Arbeitsverhältnisse Disziplinarrecht Rekrutierung für
Beamte Ja Alimentation Pension Nein Ja Gesetz Ja Laufbahn
Angestellte Nein Gehalt Rente Ja Nein Tarifvertrag Nein Dienstposten
Abb. 28 Vergleich Beamte/Angestellte Quelle: eigene Darstellung
Die Zugangsvoraussetzungen bei der Einstellung von Beamten sind für alle Bereiche der Verwaltung einheitlich geregelt. Dabei müssen die Ausbildungsvoraussetzungen für die einzelnen Laufbahnen und Fachrichtungen erfüllt sein. Laufbahnen sind Ordnungen der Berufswege der Beamtenschaft. Unterschieden wird in Deutschland zwischen den vier Laufbahngruppen, dem einfachen, mittleren, gehobenen und höheren Dienst. Schon im 19. Jahrhundert wurden zwischen diesen Laufbahngruppen feste Bildungsgrenzen installiert. Die Laufbahn des höheren Dienstes war im allgemeinen Verwaltungsdienst im Gegensatz zum Militärdienst Personen ohne wissenschaftliche Vorbildung verschlossen. Auch das heutige Laufbahnrecht spiegelt diese Bildungsgrenzen im Kern noch wider, auch wenn sie durch andere Aufstiegsmöglichkeiten durchlässiger wurden (vgl. weiter unten). Für den höheren allgemeinen Verwaltungsdienst ist eine universitäre wissenschaftliche Ausbildung, d. h. ein Masterabschluss oder Staatsexamen Voraussetzung.33 Für den gehobenen Dienst ist ein Bachelorabschluss (oft in internen Hochschulen34) Voraussetzung und für den mittleren Dienst die 33 Zusätzlich ist in der Regel für eine Verbeamtung auf Lebenszeit i. d. R. ein zweijähriger Vorbereitungsdienst (Referendariat) zu absolvieren. Dies gilt vor allem für Juristen, aber auch als Wirtschafts- bzw. Verwaltungsreferendariat für Absolventen wirtschafts- verwaltungs- oder sozialwissenschaftlicher Studiengänge und als technisches Referendariat für Absolventen technischer Studiengänge (z. B. Bauingenieure, Architekten oder Geodäten, vgl. Reichard/Röber 2019a, S. 397). 34 Seit 1973 gibt es zunächst in Berlin und Baden-Württemberg solche internen Verwaltungsfachhochschulen, seit 1979 auch für die Bundesebene. Sie sind in Trägerschaft des jeweiligen Landes und des Bundes und keine rechtsfähigen Körperschaften. Der Zugang erfolgt über Auswahlverfahren der verschiedenen Einstellungsbehörden. Die ausgewählten Personen müssen als Inspektorenanwärter auf Widerruf 18 Monate studieren und 18 Monate praktische Berufserfahrung sammeln. Der Zugang über eine
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Realschulausbildung für die zweijährige Berufs- und Verwaltungsschulausbildung im Rahmen des dualen Systems Voraussetzung. Ausbildung und Rekrutierung von Beamten orientieren sich also an der laufbahngerechten Vorbildung im öffentlichen Dienst. 35 Deutlich wird dies auch an der Besoldungsstruktur (vgl. Abbildung 29). Besoldungsgruppe36 A2 A3 A4 A5 A6 A7 A8 A9 A10 A11 A12 A13 A14 A15 A16 B1 B2 B3
Beispiel
Vorbildung
TVöD
Oberamtsgehilfe, Wachtmeister Oberaufseher, Oberschaffner Amtsmeister, Hauptschaffner Oberamtsmeister Sekretär, Lokführer Obersekretär, Polizeimeister Hauptsekretär Inspektor, Polizeikommissar Oberinspektor, Polizeioberkommissar Amtmann Amtsrat, Lehrer (Grundschule) (Regierungs-, Studien-) Rat Oberrat Direktor Leitender Direktor, Ministerialrat Direktor und Professor Ministerialrat (Land) Ministerialrat (Bund)
Hauptschulabschluss
2
3 4 Realschulabschluss + 5 zweiähr. Berufsausbildung 6 7 Hochschulstudium mit 8 Bachelorabschluss 9 10 11 12, 13 Hochschulstudium mit Masterabschluss 14 Staatsexamen 15 15Ü
externe Fachhochschulausbildung in den öffentlichen Dienst ist dagegen immer noch die Ausnahme in Deutschland. 35 Durch den Wegfall des Beamtenrahmengesetzes im Jahr 2009 als Folge der Föderalismusreform I hat sich das Laufbahnsystem in Bund und Ländern ausdifferenziert. Der Bund regelt seitdem nur einige Grundprinzipien und überlässt wesentliche Aspekte von Laufbahnen, Besoldung und Versorgung den Ländern (vgl. zu den Auswirkungen Dose u. a. 2020). So gibt es z. B. in den fünf norddeutschen Bundesländern nur noch zwei Laufbahngruppen (einfacher und mittlerer sowie gehobener und höherer Dienst), aber es gibt nach wie vor jeweils zwei Einstiegsämter, so dass sich an den klassischen Zugangsvoraussetzungen nichts geändert hat (vgl. Reichard/Röber 2019, S. 397). 36 Beispiele für die Besoldung der Beamten auf Bundesebene sind: A2 (von 2127–2410 Euro), A16 (5933–7526 Euro), B1 (6756 Euro), B6 (9876 Euro) B11 (14157 Euro), Stand 1. 3.2018. Beispiele für Entgelt nach dem TVöD sind: E4 (2329–2970), E 8 (2769–3439), E13 (3996–5842), E 15 (4788–6854). 131
132
Besoldungsgruppe36 B4 B5 B6 B7 B8 B9 B10 B11
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Beispiel
Vorbildung
TVöD
Leitender Ministerialrat Ministerialdirigent (Land) Ministerialdirigent (Bund), Oberbürgermeister (bis zu 100.000 Einwohnern) Ministerialdirigent (stv. AL) Regierungspräsident Ministerialdirektor Direktor des Bundesrates Staatssekretär
Abb. 29 Besoldung im öffentlichen Dienst
Für Tarifbeschäftigte gibt es auch gestufte Eingangsvoraussetzungen, allerdings mit kleinen Unterschieden. Für den mittleren Dienst wird eine dreijährige praktische Berufsausbildung (z. B. als Verwaltungsfachangestellter) vorausgesetzt, für den gehobenen Dienst gibt es neben dem Bachelorabschluss auch die Möglichkeit des Aufstiegs vom mittleren Dienst durch einen Fortbildungslehrgang (Angestelltenlehrgang II) und im höheren Dienst wird zwar ein Masterabschluss benötigt, aber kein zusätzlicher Vorbereitungsdienst (vgl. Reichard/Röber 2019a, S. 397). Zum 1.10.2005 bzw. 1.10.2006 wurde der traditionelle BAT (Bundesangestelltentarifvertrag) durch das neue Tarifvertragsrecht des TVöD (Bund und Kommunen) sowie des TV-L (Länder mit Ausnahme von Hessen und Berlin) nach jahrelangen Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretungen abgelöst. Wesentliche Neuerungen dieser Tarifverträge liegen in der Vereinheitlichung des Tarifwerks für Arbeiter, Angestellte und Pflegebeschäftigte sowie in der Ersetzung der früheren dienstalters- und familienbezogenen Bezahlung durch eine erfahrungs- und leistungsorientierte Vergütung. Die Vergütung besteht aus 15 Entgeltgruppen (vgl. Abbildung 28), innerhalb derer es jeweils zwei Grundstufen und vier Entwicklungsstufen gibt. Der Aufstieg erfolgt nach der Dauer der Berufserfahrung beim gleichen Arbeitgeber, ab Stufe 3 kann sie leistungsorientiert verlängert oder verkürzt werden. Die Beschäftigten, die am 1.10.2005 nach BAT bezahlt wurden, wurden nach einem ausgefeilten Überleitungssystem mit diversen Zulagen ohne Einkommensverluste in das neue System übergeleitet. Vergleicht man das neue Tarifwerk mit dem BAT so gibt es eine abgesenkte Eingangsstufe mit einem relativ schnellen Gehaltsaufstieg, der sich im Alter wieder verringert. Das leistungsorientierte Element
3.6 Personal im öffentlichen Dienst
133
sollte durch eine eigenständige Entlohnungskomponente künftig realisiert werden. Hierzu sollten zu einem noch nicht geklärten Zeitpunkt 8 % der Lohnsumme verwendet werden. Zunächst wurde mit einer Leistungskomponente in Höhe von 1 % begonnen (vgl. zu dieser Problematik Tondorf 2007). Die konkrete Ausgestaltung wurde den einzelnen Behörden überlassen, die hierfür mit dem jeweiligen Personalrat eine Vereinbarung schließen sollten (vgl. Vogel 2019, S. 411). Da dies auf vielfältige Kritik bei den Tarifbeschäftigten stieß, wurden die oben genannten Regelungen auf Länderebene in der Tarifrunde 2009 wieder abgeschafft. Für den Bund wurde 2013 beschlossen, dass die Behörden im Einvernehmen mit dem Personalrat entscheiden können, ob Leistungsentgelte gezahlt werden. Insgesamt gibt es keinen aktuellen Überblick über den Umsetzungsstand der leistungsorientierten Bezahlung für die Tarifbeschäftigten in der deutschen Verwaltung.
3.6.2 Entwicklungstrends: Personalabbau, Feminisierung, Überalterung, Veredelung Der öffentliche Dienst umfasst das Personal von Bund, Ländern und Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden (Kernhaushalte und Sonderrechnungen), der Sozialversicherungsträger (einschl. der Bundesagentur für Arbeit) sowie der rechtlich selbstständigen Einrichtungen in öffentlich-rechtlicher Rechtsform.37 Der größte Bereich hinsichtlich des Personals im öffentlichen Dienst ist der unmittelbare öffentliche Dienst, die Gebietskörperschaften, der im Jahr 2017 einen Anteil von 92 % ausmacht. Der Anteil des mittelbaren öffentlichen Dienstes, das sind vor allem die Sozialversicherungssysteme und die Bundesagentur für Arbeit, liegt bei 8 %.
37 Ausgliederungen wurden viele Jahre nicht erfasst (z. B. kommunale Unternehmen, Krankenhäuser). Seit 2012 werden Beschäftigte aus rechtlich selbstständigen Einrichtungen aber in die Personalstandstatistik der öffentlichen Arbeitgeber integriert, in dem sie einer der vier Ebenen „Bundesbereich“, „Landesbereich“, kommunaler Bereich“ und „Sozialversicherung (einschl. Bundesagentur für Arbeit)“ zugeteilt werden. 133
134
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Bereich Bund
VZÄ (in Tsd.)
in %
474,1
11,3
Länder
2105,2
50,4
Kommunen
1271,3
30,4
Sozialversicherung Insgesamt
328,5
7,9
4179,2
100
Abb. 30 Personal des öffentlichen Dienstes 201738 Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 25
Der Kern des öffentlichen Dienstes arbeitet vor allem auf Landes- (50 %) und Kommunalebene (30 %). Der Anteil des Bundes ist von 42 % im Jahr 1960 auf 11 % im Jahr 2017 stark gesunken (einschließlich der Soldaten, ohne diese liegt die Zahl bei ca. 7 %). Rechnet man noch die Bundesagentur für Arbeit hinzu, die im Bereich der mittelbaren Verwaltung/Sozialversicherung verortet ist, kommt man auf 14 %. Dieser Rückgang liegt zum Teil an der in den 90er Jahren durchgeführten Privatisierung von Bahn und Post, aber auch an dem überproportionalen Anwachsen des Bildungssektors, der sich in der Kompetenz der Länder befindet. Insgesamt hat sich die Zahl der im öffentlichen Dienst befindlichen Personen von 1950 bis 1990 ständig erhöht, so dass die Zahl der öffentlich Beschäftigten pro 1000 Einwohner von 46 auf 78 anwuchs. Durch die deutsche Vereinigung sind noch einmal ca. 1,8 Mio. Personen dazugekommen, so dass es im Jahr 1991 6,7 Mio. Beschäftigte im öffentlichen Sektor gab, das entspricht 84 Beschäftigten auf 1000 Einwohner. Seit 1991 gibt es nun einen kontinuierlichen Personalabbau bis 2015. Insgesamt wurden zwischen 1991 und dem Jahr 2007 ca. 33 % der Beschäftigten abgebaut.
38 Bei den Personaldaten wird in der Regel auf Vollzeitäquivalente (VZÄ) zum Stand 30.6.2017 zurückgegriffen und nicht auf die Zahl der Beschäftigten, da die erste Zahl angesichts eines unterschiedlichen Ausmaßes an Teilzeitbeschäftigung im öffentlichen Sektor aussagekräftiger ist. Zurückgegriffen wird zudem auf die Personalstandstatistik zum Personal des öffentlichen Dienstes. Da die Zahlen für VZÄ aber erst ab dem Jahr 2000 vorliegen, wird bei Langzeitvergleichen auf die Anzahl der Beschäftigten zurückgegriffen. So entsprechen die 4.74 Mio. Beschäftigte im öffentlichen Dienst im Jahr 2017 4.18 Mio. Vollzeitäquivalenten (Statisches Bundesamt 2019a).
3.6 Personal im öffentlichen Dienst
Jahr 1950 1960 1970 1980 1990 1991 2000 2007 2017
Beschäftigte im öffentlichen Sektor 2,282 3,152 3,876 4,658 4,920 6,738 4,910 4,540 4,739
135
% Teilzeit 3 6 10 13 18 16 25 33 32
pro 1000 Einwohner 45,7 56,9 63,9 75,7 77,8 84,2 59,7 57,0 57,1
Abb. 31 Beschäftigte im öffentlichen Dienst von 1950–2017 Quelle: Derlien 2002a, S. 233, Statistisches Bundesamt 2019a, S. 25
2017 liegt die Zahl der öffentlich Beschäftigten mit 57 Beschäftigten pro 1000 Einwohner auf einen Stand wie zu Beginn der 1960er-Jahre. Dieser Rückgang beruht auf verschiedenen Maßnahmen, zu denen vor allem die Privatisierung von Bahn und Post (ca. 0,8 Mio. Beschäftigte), die Verkleinerung der Bundeswehr, der drastische Abbau des Personalüberhangs in den ostdeutschen Kommunal-39 und Landesverwaltungen sowie insgesamt die sehr restriktive Personalpolitik bis zum Ende der 2000er Jahre zählen sind. Hinzu kommt, dass der Anteil der Teilzeitbeschäftigten ebenfalls erheblich gewachsen ist: Er stieg von 1960 bis zum Jahr 2007 von 6,2 % auf 33 % (vgl. Abb. 30). Betrachtet man die Entwicklung der Vollzeitäquivalente von 2000 bis 2017 so erkennt insgesamt einen VZÄ Rückgang um 7,9 %, allerdings Unterschiede zwischen den Ebenen. Während im Bereich der Sozialversicherung die Anzahl an VZÄ insgesamt leicht angestiegen ist, ist sie bei den Gebietskörperschaften bis 2008 insgesamt gesunken. Seitdem steigt die Zahl der VZÄ in Kommunen und Länder
39 Mitte 1991 hatten die ostdeutschen Kommunen eine Beschäftigtendichte von 41,6 pro 1.000 Einwohner und lagen damit zweimal so hoch wie die westdeutschen Kommunen (mit 20,8). Der massive Stellenabbau, in den die ostdeutschen Kommunen sogleich eintraten, ist daran abzulesen, dass das kommunale Personal von 1991 bis 1999 um 49 % reduziert wurde, während es in Westdeutschland in diesem Zeitraum „nur“ 10 % waren. Die Beschäftigtendichte liegt 1999 aber mit 22,1 immer noch über der in Westdeutschland mit 17,9 (Berechnungen von Sabine Kuhlmann). Auf Landesebene wurde in den ostdeutschen Ländern das Personal für denselben Zeitraum um 25,9 % reduziert, während es in den westdeutschen Ländern 6,9 % waren. Auch hier liegt die Beschäftigtendichte in Ostdeutschland mit 31,7 % zu 27,3 % im Jahr 1999 noch höher. 135
136
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
wieder an, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau, während sie im Bereich des Bundes bis zum Jahr 2015 weiter absinkt und erst dann wieder ansteigt (vgl. Abb. 31).
Abb. 32 VZE im öffentlichen Dienst 2000–2017 Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 83ff., eigene Darstellung
Die Höhe des Personalabbaus hängt generell von den Vergleichszeiträumen und vom Indikator ab. Unstrittig ist jedoch, dass es zwischen 1991 und dem Jahr 2007 zu einem erheblichen Personalabbau auf fast allen Ebenen gekommen ist, auch wenn berücksichtigt wird, dass es in nicht unerheblichen Ausmaß Ausgliederungen gegeben hat und auch eine Art „Friedensdividende“ durch die Reduzierung der Beschäft igten im Militärbereich. Zudem ist es in den letzten Jahren zu erheblichen Varianzen zwischen einzelnen Aufgabenbereichen gekommen. So sind im Bund die VZÄ im Bereich „Verteidigung“ um 18,7 % gesunken, aber im Bereich „politische Führung und zentrale Verwaltung“ um 13,5 % gestiegen, ebenso wie im Bereich „Sicherheit und Ordnung“ (+6,4 %). In den Ländern gibt es in den letzten 10 Jahren vor allem im Bereich „Hochschule“ einen beträchtlichen Zuwachs (ca. +20 %) und auch bei den allgemeinbildenden und beruflichen Schulen (+3,1 %), jedoch Rückgange im Bereich „Rechtsschutz“ (-5,4 %), „Umwelt“ und „Finanzverwaltung“ (-4,1 %). In den Kommunen gibt es Zuwächse im Bereich Kindertagesstätten und Soziale Hilfen und Abbauprozesse im Bereich Bauverwaltung (vgl. Vesper 2016, Bogumil/Seuberlich 2016).
3.6 Personal im öffentlichen Dienst
137
Zu den Wirkungen von Personalveränderungen im öffentlichen Dienst in Deutschland gibt es bisher wenig systematische Forschung. Studien in ausgewählten Bereichen der Landesverwaltung zeigen jedoch, dass ein Personalabbau, insbesondere wenn es zusätzliche Aufgabenanlagerungen gibt, zu nicht unerheblichen Vollzugsschwächen führt (vgl. für die Schulverwaltung Bogumil/Fahlbusch/Kuhn 2016, für die Umweltverwaltung Bogumil/Bogumil/Ebinger/Grohs 2016). Insofern zeigt sich, dass der jahrzehntelange Personalabbau im öffentlichen Dienst nicht ohne Folgen geblieben ist. In etlichen Aufgabenbereichen hat er inzwischen dessen Leistungsfähigkeit deutlich eingeschränkt. Dieser problematische Trend wird noch dadurch verstärkt, dass es in vielen Sektoren der öffentlichen Verwaltungen zu einer Aufgabenanreicherung gekommen ist. Um den öffentlichen Dienst auf wachsende zukünftige Aufgaben einzustellen, wird dieser Trend in einigen Bereichen seit Jahren gebrochen. Allerdings wird es noch weiterer Anstrengungen bedürfen, insbesondere aufgrund der problematischen Altersstruktur des öffentlichen Dienstes, die zu einer erheblichen Pensionierungswelle in den nächsten Jahren führt (siehe unten). Ein besonders dominierender allgemeiner Trend in der Personalstruktur des öffentlichen Dienstes ist die zunehmende Feminisierung. Die Frauenquote im öffentlichen Dienst stieg von 26 % im Jahr 1960 auf 48 % im Jahr 2007 und nunmehr 56,6 % im Jahr 2017. Damit liegt der Frauenanteil im öffentlichen Dienst über dem Anteil von Frauen in der Bevölkerung (vgl. Abb. 32). Die Frauenanteile unterscheiden sich jedoch erheblich zwischen den Ebenen. Während in der Bundesverwaltung (die vom Verteidigungsbereich dominiert wird) nach wie vor der Frauenanteil mit 28 % recht gering ist, liegt er im Bereich der Sozialversicherungen bei 70 %. Der Frauenanteil an der Teilzeitbeschäftigung liegt bei den Frauen allerdings nach wie mit 84 % erheblich über dem Durchschnitt von 32 %. Mit dem Vordringen von Teilzeitbeschäftigung ist also auch der Frauenanteil erheblich gewachsen (zum Frauenanteil unter den Führungskräften vgl. weiter unten). Allerdings findet sich nach wie vor größere Frauenanteil vor allem auf den niedrigen Hierarchiestufen und nimmt mit höheren Hierarchie- und Besoldungsstufen ab. in % Frauen
Bund 28
Länder 57,5
Kommunen 61,5
Sozialversicherung 69,5
Insgesamt 56,6
Abb. 33 Frauenanteile im öffentlichen Dienst Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 20ff. (eigene Berechnungen; Zahlen vom 30.6.2017)
Betrachtet man die Altersstruktur der Beschäftigten im öffentlichen Sektor, ergeben sich hieraus weitere Handlungsnotwendigkeiten. Der Anteil der über 50-jährigen 137
138
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
ist auf allen Ebenen mit Abstand am höchsten und liegt insgesamt bei fast 45 %. Angesichts der Überalterung der Belegschaft im öffentlichen Dienst sind systematische Personalentwicklungsmaßnahmen dringend erforderlich.
Abb. 34 Beschäft igte nach Altersgruppen Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 32 (eigene Berechnungen; Zahlen vom 30.6.2017)
Bezüglich der Aufgabenbereiche dominiert seit den 1990er Jahren der Bildungsbereich allerdings mit ständig steigendem Anteil. Im Jahr 2017 arbeiten dort 35 % der Beschäft igten im öffentlichen Dienst, während es im Jahr 1960 noch 12 % waren. Das Personal hat sich in dieser Zeit verfünffacht auf mittlerweile 1.633 Mio. Beschäft igte, davon 947.000 im Schulbereich und 538.000 im Hochschulbereich. Diese Entwicklung liegt im internationalen Trend. Der typische deutsche Beamte ist seit langer Zeit Lehrer. Der nächstgrößere Bereich ist Soziale Sicherung, Familie und Jugend mit 812.000 Beschäft igten (Statistisches Bundesamt 2019a, S. 45). Eng damit zusammenhängend haben sich auch bezogen auf die Laufbahngruppen deutliche Veränderungen ergeben. Befanden sich im Jahr 1960 nur 8,7 % der Beschäft igten im höheren Dienst, sind es 1990 schon 15,4 % und 2017 ergibt sich ein Anteil von 20,9 % (ebd., S. 32). Hier zeigen sich auch im öffentlichen Dienst die Wirkungen der Bildungsexpansion, ein Prozess, den Derlien als „Veredelung“ bezeichnet hat (Derlien 2002a, S. 238). Das frühere Bild einer „Zwiebel“ im Aufbau
3.6 Personal im öffentlichen Dienst
139
des öffentlichen Dienstes hat sich damit insofern geändert, als dass diese Zwiebel unten schmaler und insgesamt länglicher geworden ist. Der Beamtenanteil im öffentlichen Dienst lag seit Jahrzehnten relativ konstant bei 45 %. Seit dem Jahr 2007 ist es langsam zurückgegangen auf nunmehr 39 %. Während der Beamtenanteil auf der Bundesebene mit 70 % sehr hoch und sogar noch um 4 % seit 2007 angestiegen ist, ist der Anteil vor allem in den Ländern (um 6 %) und in den Kommunen (um 1,5 %) leicht gesunken. In der Kommunalverwaltung gab es im Vergleich zum gesamten öffentlichen Dienst schon immer eine „Angestellten-Lastigkeit“ (Reichard 1998, S. 512). Dass dagegen in Land und Bund Beamten dominieren, liegt vor allem am hoheitlichen Aufgabenspektrum, bzw. bei den Ländern im Bildungsbereich. In einigen Bundesländern wurden in den letzten Jahren vor allem Lehrer auf Angestelltenbasis eingestellt, dort ist der Beamtenanteil gesunken, aber inzwischen sind fast alle Bundesländer dazu übergegangen, Lehrer wieder zu verbeamten, vor allem um mit anderen Ländern konkurrenzfähig zu sein. Der Beamtenstatus ist immer noch erheblich attraktiver als ein Angestelltenvertrag, insbesondere durch die Altersversorgung (Pension statt Rente) und die Krankenversicherung (Beihilfe). Die unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnisse zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienstrecht und deren Begründung werden seit langem kontrovers diskutiert. Vorschläge zur Unitarisierung des öffentlichen Dienstrechtes sind seit dem Scheitern der Reformversuche (Dienstrechtsreform 1973) aufgrund einer fehlenden verfassungsändernden Mehrheit kaum mehr ernsthaft angepackt worden. Allerdings hat sich durch weitgehende leistungsrechtliche Angleichungen der Unterschied zwischen Beamten und Angestellten deutlich verringert40. Auch Angestellte sind im öffentlichen Dienst weitgehend unkündbar, zum Teil tarifvertraglich abgesichert, zum Teil aber auch vor allem durch Gewohnheitsrecht, und Beamte profitieren von den in Tarifverhandlungen und gelegentlichen Streiks erkämpften Verbesserungen der Angestellten, die i. d. R. automatisch für Beamte übernommen werden. Etwas polemisch kann man sagen, dass Müllmänner, Krankenschwestern und Busfahrer regelmäßig für Lohn- und Leistungsverbesserungen streiken, die dann Ministerialdirektoren, Professoren und Studienräten zu Gute kommen, die nicht streiken dürfen.
40 Durch TVöD und dem TV-L im Jahr 2005 bzw. 2006 sind die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten beseitigt worden. Seitdem werden Arbeiter/Angestellte in einer Gruppe ausgewiesen. 139
140
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
in % Bund Länder Kommunen Sozialversicherungen 70,4 53,6 12,6 8,1 Beamte41 Angestellte und Arbeiter 29,6 46,4 87,4 91,9
Insg. 39,2 60,2
Abb. 35 Statusgruppen in den Gebietskörperschaften Quelle: Statistisches Bundesamt 2019a, S. 20ff. (eigene Berechnungen; Zahlen vom 30.6.2017)
3.6.3 Führungskräfte und Personalrekrutierung Grundsätzlich wird der Begriff der Führung sehr vieldeutig verwendet. Führung in der Verwaltung wird oft angesehen als zielorientierte soziale Einflussnahme auf das Mitarbeiterverhalten zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben. Danach gibt es eine Vielzahl von Führungspositionen, vom Behörden- zum Abteilungsleiter bis zu denjenigen, die einen oder mehrere Kollegen anleiten. Ein derart weiter Führungsbegriff ist selbstverständlich nicht sinnvoll. Versucht man nun, den Begriff der leitenden Führungsperson näher zu bestimmen, so lässt sich auch nicht die Laufbahnkategorie des höheren Dienstes dafür verwenden, da sie sowohl Führungs- als auch Fachpersonal umfasst und auch zahlenmäßig mittlerweile 21 % des öffentlichen Dienstes umfasst. Sinnvoll scheint es daher zu sein, von Führungskräften zu sprechen, wenn ihnen erhebliche Personalführungsfunktionen zukommen (mitunter auch als Führungsspitzenkräfte bezeichnet). Dies ist in Ministerien in der Regel ab der Ebene des Unterabteilungsleiters der Fall (B6), mitunter auch schon auf der Referatsleiterebene. Im nachgeordneten Bereich sind dies etwa Direktoren von Schulen oder Leiter von Sonderbehörden (A16). Insgesamt handelt es sich bei diesem Personenkreis in Deutschland traditionell überwiegend um Beamte. In Deutschland gibt es keine besonderen Eliteschulen für die Ausbildung des öffentlichen Dienstes wie in Frankreich oder informal in Großbritannien.42 Den-
41 Einschließlich Richter und Berufs- und Zeitsoldaten. 42 An der Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer werden vor allem Juristen postgradual ausgebildet sowie Masterprogramme für Public Administration und Öffentliche Wirtschaft angeboten, an den Universitäten Konstanz und Potsdam finden sozialwissenschaftlich orientierte verwaltungswissenschaftliche Studiengänge statt. Keiner dieser Hochschulen kommt jedoch der Status einer zentralen Universität zur Ausbildung der Verwaltungselite zu, wie ihn beispielsweise die Ecole Nationale d’Ad ministration in Paris oder Oxford und Cambridge innehaben.
3.6 Personal im öffentlichen Dienst
141
noch verfügt die Mehrheit der Führungskräfte über eine ähnliche Ausbildung.43 Die öffentliche Verwaltung bedient sich zur Ausbildung ihres Personals eines vielfältigen Angebotes an öffentlichen, halböffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen (allgemeine Universitäten und Hochschulen, speziell ausgerichtete Universitäten wie die Bundeswehruniversitäten in Hamburg und München oder die Deutsche Universität der Polizei in Münster, verwaltungsinterne Hochschulen von Bund und Ländern, Verwaltungsakademien, Studieninstitute) (vgl. Reichard/ Röber 2019a, S. 398). Zugangsvoraussetzung für Beamte im höheren Dienst ist aber nach wie vor in der Regel ein juristisches Studium mit anschließendem zweijährigem Vorbereitungsdienst (allerdings gibt es auch das technische Referendariat). Diese Dominanz der juristischen Ausbildung wird als „Juristenmonopol“ bezeichnet (Dahrendorf 1965, S. 276). Zwar sind wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Studiengänge im Prinzip mit dem juristischen gleichgestellt, aber die Juristenausbildung mit der Integration des Vorbereitungsdienstes und Studiums in einem zweistufigen Ausbildungsgang hat gegenüber anderen Fachrichtungen den Vorteil, dass mit der Absolvierung der 2. Staatsprüfung (eigentlich der Befähigung zum Richteramt) eine unmittelbare Zugangsvoraussetzung für den höheren Verwaltungsdienst vorliegt. Auch die Ausbildungsinhalte und Zugangsvoraussetzungen sind nach wie vor stark am Leitbild des juristisch geschulten Generalisten orientiert. Der Anteil der Absolventen von verwaltungsbezogenen Masterstudiengängen in Public Administration, Public Policy oder Public Management, wie sie z. B. in Konstanz, Potsdam, Speyer, Friedrichshafen und Berlin (Hertie School of Governance) angeboten werden, ist bezogen auf die Gesamtzahl der für die Laufbahn rekrutierten Personen immer noch relativ gering. Der Juristenanteil unter den Führungskräften der Bundesministerien ist daher immer noch sehr hoch. Lag der Anteil unter den Staatssekretären, Abteilungsleitern und Unterabteilungsleitern 1987 noch bei 63 % fiel er 2009 auf 53 %, stieg aber 2013 auf 54 % an.44 Insgesamt variiert der Juristenanteil also seit Jahren um die 60 %, so 43 Ausbildung ist die Vermittlung des Bildungsstandes, der für die Berufsaufnahme erforderlich ist. Fortbildung baut darauf auf und soll die Ausbildungsinhalte über den durch berufliche Tätigkeit gewonnenen Erfahrungsschatz funktionsbezogen erweitern. 44 Diese Daten stammen aus der dritten Erhebungswelle (2013) des Forschungsprojekts „Politisch-Administrative Elite“ (Ebinger/Lux u. a. 2018). Im Rahmen des Projekts werden jeweils zum Ende einer Legislaturperiode des Bundestags die Mitarbeiter in Bundesministerien vom Referatsleiter über den Unterabteilungsleiter und Abteilungsleiter bis zum Staatssekretär befragt. Zum Vergleich kann auf die früheren Erhebungswellen aus den Jahren 2009 und 2005 zurückgegriffen werden (Schwanke/Ebinger 2006, Ebinger/ Jochheim 2009). 141
142
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
dass zwar nicht mehr von einem Juristenmonopol, wohl aber von einer Juristendominanz gesprochen werden kann (Ebinger/Lux u. a. 2018, S. 395).45 Die nächstgrößere Gruppe stellen im Jahr 2913 mit gut 14 % Ökonomen, gefolgt von 6 % Politik- und Sozialwissenschaftlern und gut 6 % Naturwissenschaftlern im ersten Hauptfach. Diese Zahlen variieren allerdings zwischen den einzelnen Fachministerien. Neben der Dominanz juristischer Ausbildung war die Dominanz der Laufbahnkarriere ein zweites wesentliches Merkmal für die Rekrutierung von leitenden Führungskräften in der deutschen Ministerialbürokratie. Anhand von Lebenslaufanalysen konnte für die Bundesebene zwischen 1949 bis 2013 nachgewiesen werden, dass unter den Abteilungsleitern immer noch ein Anteil von ca. 50 % als reine Laufbahnbeamten angesehen werden kann. Analysen auf der Landesebene kommen für den Zeitraum zwischen 2002 und 2013 auf einen deutlich geringeren Anteil von 39 % bei den AL (Veit/Scholz 2016, S. 526). Bei den Staatssekretären finden sich dagegen häufiger Personen, die auch längere Zeit außerhalb der Bürokratie tätig waren. Hier liegt der Anteil auf Landesebene bei 17 % (ebd.). Externe Erfahrungen sind aber auf Abteilungsleiterebene immer noch keine notwendigen Bedingungen für eine erfolgreiche Karriere in der Ministerialbürokratie, dennoch haben sich insgesamt gesehen die Karrierewege heterogenisiert (Ebinger/Lux u. a. 2018, S. 396; siehe auch Kap. 4.5). Die weitgehend juristisch geprägte Ausbildung für den höheren Dienst und eine immer noch hohe Orientierung an Laufbahnbeamten sind zwei Gründe für ein gemeinsames Grundverständnis unter den leitenden Führungskräften, auch wenn es keine gemeinsame Ausbildung für Führungskräfte gibt (Jann/Veit 2015). Es wird verstärkt durch Fortbildungsveranstaltungen. So gibt es im Bereich der Fortbildung für die leitenden Führungskräfte spezielle Lehrgänge. Auf Bundesebene hat die Bundesakademie für öffentliche Verwaltung als zentrale Fortbildungsinstitution ein eigenes Konzept zur Fortbildung von Führungskräften entwickelt, in dem stufenweise ausgehend vom Kern eines vierwöchigen Lehrgangs für Referatsleiter Führungskräfte geschult werden.46 Auf Landesebene gibt es eigene Fortbildungsakademien in Bayern (seit 1968) und Baden-Württemberg (seit 1986), in denen 14- bzw. 15-monatige Führungslehrgänge organisiert werden. Die jeweiligen Führungsakademien sind den 45 Rechnet man die Personen mit Zweit- und Aufbaustudiengang hinzu, erhöht sich dieser Anteil zudem (vgl. Ebinger/Lux u. a. 2018, S. 394). 46 An dieser Einrichtung werden jährlich ca. 400 Seminare mit 8.000 Teilnehmern durchgeführt, über 50 % kommen aus dem höheren und knapp 40 % aus dem gehobenen Dienst. Daneben gibt es noch die Bundesfinanzakademie, die Polizei-Führungsakademie, die Führungsakademie der Bundeswehr, die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die Aus- und Fortbildungsstätte des Auswärtigen Amtes und der Deutschen Bundesbank (Hauschild 1998, S. 588).
3.7 Finanzen und Haushalt
143
Staatskanzleien zugeordnet. In einigen anderen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen, Saarland, Schleswig-Holstein und für die Bundesanstalt für Arbeit) gibt es für Mitarbeiter des höheren Dienstes seit 1991 ein Führungskolleg der Universität Speyer für den höheren Dienst. Diese Grundtendenzen in der Fortbildung gelten auch heute noch, obwohl sich das Angebot an Fortbildung weiter diversifiziert hat. Der Führungskräftenachwuchs wird bei der Bewerbung in der Regel gefragt, ob sie an speziellen Fortbildungsmodulen teilgenommen haben. Referatsleiter werden verpflichtet an themenspezifischen Kurzseminaren teilzunehmen und es gibt Sonderveranstaltungen für UAL/AL, aber generell ist dieser Bereich der Führungsfortbildung im Vergleich zum privaten Sektor in Deutschland immer noch wenig profiliert. Zusammenfassend hängt die Besetzung der Führungspositionen im öffentlichen Dienst in Deutschland also von den Laufbahnvoraussetzungen und von spezifischen Fortbildungen ab. Wie der Vergleich mit früheren Untersuchungen zeigt, hat sich die Zusammensetzung dieser Gruppe über die vergangenen Jahrzehnte zwar geändert, bezogen auf die Fachausbildung jedoch nicht grundlegend. Allerdings ist der Anteil der Frauen unter den Spitzenbeamten deutlich angewachsen. 2013 betrug er 29 %,47 2009 waren es noch 13 %, so dass von einer beschleunigten Trendentwicklung bezogen auf den Frauenanteil gesprochen werden kann. 2017 waren über alle Obersten Bundesbehörden hinweg 35 % der Führungskräfte weiblich, wie eine Analyse des Statistischen Bundesamtes ergibt (Statistisches Bundesamt 2018, S. 6, 13). Weiterhin ist die Besetzung von Führungspositionen insbesondere in der Ministerialverwaltung ab einer bestimmten Ebene auch politisch beeinflusst (siehe Kapitel 4.5).
3.7 Finanzen und Haushalt 3.7
Finanzen und Haushalt
3.7.1 Finanzverfassung und Verteilung des Steueraufkommens Die Finanzverfassung ist das komplexeste aller Regelwerke in Mehrebenensystemen. Sie regelt die finanzielle Lastentragung, die Rechte auf Steuergesetzgebung und Steuererhebung sowie die Verteilung und gegebenenfalls Umverteilung der Einnahmen zwischen den Ebenen (vgl. hierzu und im Folgenden die sehr gute Darstellung bei Behnke 2020b, vgl. auch Färber 2020). Im Grundgesetz sind hier 47 Der Frauenanteil auf RL-Ebene betrug 31 %, auf den höheren Ebenen 20 % (vgl. Ebinger/ Lux u. a. 2018, S. 393). 143
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
die Art. 104a bis 115 einschlägig. Diese Regelungen gehören zu den am häufigsten geänderten Teilen des Grundgesetzes, da sie viele detaillierte Regelungen bis hin zu Prozentsätzen der Steuerverteilung zwischen den föderalen Ebenen enthalten. Bei der Ausgestaltung der Regelungen geht es im Prinzip um den Ausgleich zwischen dem Prinzip der fiskalischen Autonomie und der Leistungsfähigkeit der föderalen Einheiten und dem Prinzip der Solidarität zwischen den föderalen Einheiten. In der deutschen Finanzordnung haben wir es mit einer Mischung aus Trennund Verbundsystem zu tun. Die Finanzverfassung sieht einerseits eine Verteilung der Steuereinnahmen nach Ebenen, d. h. zwischen Bund, Ländern und Kommunen, vor (Art. 106 und 107 GG). Ausschließlich dem Bund stehen vor allem die Mineralölsteuer, die Tabaksteuer, die Kraftfahrzeugsteuer und der Solidaritätszuschlag zu (zum Volumen vgl. Abb. 38). Die Länder verfügen vor allem über die Erbschaftssteuer, die Grunderwerbsteuer, die Biersteuer sowie die Renn- und Lotteriesteuer und die Kommunen über die Gewerbe-, Grund-, Getränke- und Hundesteuer.48 Diese Steuern, die nach dem Trennsystem verteilt werden, machen im Jahr 2017 aber nur ca. 27 % des Gesamtertrages an Steuern aus. Neben den Steuern, deren Erträge nur einer staatlichen Ebene allein zufließen, gibt es andererseits Steuern, die zwischen den Ebenen aufgeteilt werden. Diese so genannten Gemeinschaftssteuern fließen Bund und Ländern gemeinsam zu. Es sind die Einkommensteuer (mit Lohnsteuer), die Körperschaftsteuer und die Umsatz-(Mehrwert-)steuer. Bund und Länder teilen sich die Körperschaftssteuer und die Einkommensteuer hälftig, wobei hinsichtlich der letzteren vorab ein Teil (15 %) an die Gemeinden abgeführt wird. Damit liegt der Anteil von Bund und Ländern an der Einkommenssteuer bei je 42,5 %, an der Körperschaftsteuer dagegen bei je 50 % (zur Finanzverfassung vgl. Renzsch 1991; Bajohr 2007, S. 72). Die hälftigen Anteile von Bund und Ländern an der Körperschaftssteuer und der Einkommensteuer ist im Grundgesetz festgeschrieben (Art. 106 Abs. 3), nur über den Anteil der Gemeinden an der Einkommenssteuer kann per einfachem Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates entschieden werden. Der 15%tige Anteil der Kommunen wird nach der Höhe der Einkommensteuerleistungen ihrer Bürger berechnet (vgl. Abb. 35). Die Steuergesetzgebungskompetenz ist in Art. 105 GG geregelt. In die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes fallen nur die Zölle und die Finanzmonopole. Da die Zollkompetenz weitgehend auf die Europäische Union übergegangen ist und im Bereich der Finanzmonopole nur das Branntweinmonopol besteht, hat dieser Bereich kaum noch eine Bedeutung. Wenig Bedeutung hat auch die ausschließliche Gesetzgebungskompentenz der Länder, in die die örtlichen Verbrauchs- und Aufwandssteuern (Vergnügungs-, Getränke-, Hunde-, Jagd- und Spielgerätesteuer) 48 Bund und Länder werden durch eine Umlage an der Gewerbesteuer beteiligt.
3.7 Finanzen und Haushalt
145
Abb. 36 Aufteilung der Gemeinschaftssteuern zwischen den Ebenen Quelle: eigene Darstellung
fallen. Der Kernbereich der Steuergesetzgebung ist mithin die konkurrierende Zuständigkeit des Bundes, von der dieser immer mehr Gebrauch gemacht hat, so dass er hier eine eindeutige Dominanz aufweist. Sogar die Erbschaftssteuer, deren Aufkommen ausschließlich den Ländern zusteht, oder die Gewerbesteuer (bis auf die Hebesätze) werden über Bundesgesetze geregelt. Allerdings wird die Dominanz des Bundes dadurch erheblich eingeschränkt, dass bei allen Steuern, deren Aufkommen ganz oder teilweise den Ländern und den Gemeinden zufließt, die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist. Um hier Einfluss zu nehmen, müssen sich die Länder allerdings weitgehend einigen. Im Zuge der Föderalismusreform I haben die Länder zudem die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbssteuer erhalten.49 Dennoch gibt es insgesamt gesehen für die Länder und Kommunen aufgrund der eingeschränkten Steuerautonomie wenig Möglichkeiten ihre Steuereinnahmen nachhaltig zu erhöhen. Da ihnen ab 2020 aufgrund der Föderalismusreform II auch eine weitere Einnahmenmöglichkeit genommen ist (die Schuldenaufnahme), gibt es nur die Möglichkeit Problemlagen durch höhere Transferzahlungen finanziell leistungsfähiger föderaler Einheiten zu generieren (vgl. Behnke 2020b).
49 Bis auf Bayern und Baden-Württemberg haben die Länder diesen Spielraum weitgehend ausgenutzt und den Steuersatz, der bis 2006 einheitlich bei 3,5 % lag, auf 4,5 % bis 6,5 % erhöht. 145
146
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Dem Bund kommt in der Haushalts- und Finanzpolitik also eine bedeutende Rolle zu. Neben der erwähnten Dominanz in der Steuergesetzgebung • bestimmt er über die Rechtsgrundlagen der Sozialversicherung, • wirkt er durch die Zuständigkeit für die Europäische Union an überstaatlichen Rahmenbedingungen mit, • verwaltet er den größten staatlichen Einzelhaushalt mit einem Volumen um die 356 Mrd. Euro im Jahr 2019 und • betreibt damit stets Ordnungs- und Verteilungspolitik und setzt so Anreize oder Hemmnisse für Wachstum und Beschäftigung. Allerdings haben auch die Länder über den Bundesrat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Finanzpolitik. So wird z. B. die Verteilung der Umsatzsteuer durch Bundesgesetz unter Zustimmung des Bundesrates festgelegt und ist damit natürlich häufig Gegenstand von Auseinandersetzungen. Daraus, dass 1986 der Bund noch 65 % und die Länder 35 % des Aufkommens der Umsatzsteuer erhielten, während das Verhältnis im Jahr 2017 bei 53,3 % zu 44,2 % und einem Anteil von 2,2 % für die Kommunen (als Ausgleich für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer) liegt, wird ersichtlich, dass sich das Verteilungsverhältnis im Laufe der Jahre ständig zu Gunsten der Länder verändert hat. Der Bund muss zudem insgesamt 5 % des Umsatzsteueraufkommens an die EU abführen (Bajohr 2007, S. 72). Der bundesstaatliche Finanzausgleich zielt darauf ab, die Einnahmen der Länder einander anzunähern um gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen oder zu bewahren. Nach der Steueraufteilung zwischen Bund und Ländern (erste Stufe) werden die Steuern zwischen den Ländern verteilt (zweite Stufe). Für die Einkommens- und Körperschaftsteuer gilt in der Regel das Prinzip des örtlichen Aufkommens, wonach der Länderanteil an den Gemeinschaftssteuern dem Land zusteht, das sie eingenommen hat, also eine Orientierung am Leistungsprinzip. Die Einkommenssteuern fließen dem Land zu, in dem der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat (Wohnsitzprinzip), bei der Körperschaftssteuer gilt das Betriebsstättenprinzip, das heißt die Steuer wird auf alle Länder verteilt, in denen ein Unternehmen Filialen betreibt. Die Mittel, die den Ländern dagegen aus der Umsatzsteuer zufließen, werden zu drei Vierteln nach deren Einwohnerzahl und zu einem Viertel nach Bedürftigkeit verteilt (Umsatzsteuervorwegausgleich vgl. Kammerhoff 2003 und weiter unten) und orientieren sich somit stärker am Solidarprinzip. Als dritte Stufe der Steuerverteilung gab es von 1969 bis 2019 den Länderfinanzausgleich, um ein gewisses Gefälle zwischen „reichen“ und „ärmeren“ Ländern auszutarieren. Ziel ist nicht die Nivellierung der Finanzausstattung, sondern die Annäherung der finanzschwachen Länder an die durchschnittlich verfügbare
3.7 Finanzen und Haushalt
147
Finanzkraft. Zur Durchführung des Länderfinanzausgleichs (horizontaler Finanzausgleich) werden aus Beiträgen der ausgleichspflichtigen Länder Zuschüsse an die ausgleichsberechtigten Länder gezahlt. Die Berechnung erfolgt nach einem System von Messzahlen, bei dem u. a. die Steuereinnahmen der Länder, die Einwohnerzahl und die Bevölkerungsdichte berücksichtigt werden. Ob ein Land ausgleichspflichtig oder ausgleichsberechtigt ist, hängt von dem Verhältnis zwischen Finanzkraft und Finanzbedarf ab. Diese Form des horizontalen Finanzausgleiches funktionierte bis 1990 zwar nicht konfliktfrei aber wurde nicht in Frage gestellt, zumal das Volumen des Finanztransfers maximal bei 2 Mrd. Euro lag. Mit der Wiedervereinigung und der Integration von fünf neuen Ländern, deren Finanzkraft weit unter der Hälfte der westdeutschen Länder lag, wären alle westdeutschen Länder zu Geberländern geworden (vgl. hierzu Behnke 2020b). Daher blieb der horizontale Finanzausgleich bis 1995 ausgesetzt in der Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung im Osten. Nach der Einbeziehung der ostdeutschen Länder verdreifachte sich dann sofort das Transfervolumen auf 6 Mrd. Euro und später auf 11 Mrd. (2016). Bundesland Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
2005 -2235 -2234 +2456 +588 +366 -383 -1606 +434 +363 -490 +294 +113 +1020 +587 +146 +581
2010 -1709 -3511 +2900 +401 +445 -66 -1752 +399 +259 +354 +267 +89 +854 +497 +101 +472
2015 -2324 -5468 +3622 +498 +627 -115 -1730 +476 +420 +1025 +351 +153 +1030 +601 +249 +585
2018 -3079 -6672 +4404 +550 +740 -83 -1613 +538 +831 +1015 +418 +194 +1180 +676 +235 +667
Abb. 37 Entwicklung des Länderfinanzausgleichs Quelle: eigene Darstellung, Daten aus Statistisches Bundesamt 2019a, S. 269, in Mio. Euro
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Da sich die relative Finanzkraft der ostdeutschen Länder weiter verschlechterte (von 47 % 1995 auf 31 % 2002)50 klagten die Geberländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen 1998 vor dem Bundesverfassungsgericht. Nach weiteren Übergangsregelungen durch das Finanzausgleichsgesetz von 2004 stieg die Belastung der wenigen Geberländer immer weiter an, so dass Bayern im Jahr 2016 5,9 Mrd. von insgesamt 10,8 Mrd. Euro übernehmen musste. Zudem ging ein Großteil der Ausgleichszahlungen an Berlin, seit 2010 mehr als an alle ostdeutschen Länder. Vor diesem Hintergrund und dem Einreichen einer erneuten Klage von Bayern und Hessen vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahr 2013 kam es 2017 zur Abschaffung des horizontalen Finanzausgleiches und einer Erhöhung des vertikalen Finanzausgleiches ab 2020 durch die Föderalismusreform III (vgl. Kap. 3.2.4). Nach diesem horizontalen Finanzausgleich erfolgt als vierte Stufe der Steuerverteilung ein vertikaler Finanzausgleich (und ab 2020 als dritte) zwischen Bund und Länder in Form von Bundesergänzungszuweisungen. Aus ihm erhielten alle Länder, deren Finanzkraft nach Abwicklung des horizontalen Ausgleichs unter 99,5 des Länderdurchschnitts liegt, allgemeine Bundesergänzungen, um den Fehlbetrag zu 77,5 % auszugleichen. Daneben gibt es noch Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen, die auf den Ausgleich besonderer nur vorübergehend bestehender Finanzbedarfe abzielen. Zum Ausgleich von Sonderlasten durch strukturell bedingte Erwerbslosigkeit erhielten die fünf neuen ostdeutschen Bundesländer bis 2009 derartige Sonderbedarfsergänzungszuweisungen. Sonderbedarfsergänzungszuweisungen zur Abgeltung überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung erhalten zudem neben den neuen ostdeutschen Ländern Berlin, Bremen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Schleswig-Holstein. Und last but not least erhielten die neuen Länder einschließlich Berlin durch den von 2005 bis 2019 laufenden Solidarpakt II insgesamt 105,3 Mrd. Euro zur Deckung teilungsbedingter Sonderlasten in Form von Sonderbedarfsergänzungszuweisungen. Insgesamt war die Summe der Bundesergänzungszuweisungen zwischen 1995 und 2010 immer doppelt (zwischen 12 und 16 Mrd. Euro jährlich) so hoch wie der horizontale Finanzausgleich. Insgesamt gesehen bestand der bundesstaatliche Finanzausgleich daher bis zum Jahr 2020 aus drei Stufen, dem Umsatzsteuervorwegausgleich, dem Länderfinanzausgleich sowie den allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen. Bezogen auf das Jahr ergibt sich damit folgende Finanzausgleichsverteilung:
50 2018 liegen die Einnahmen der ostdeutschen Flächenländer zwischen 54,3 % und 70,2 % des bundesdeutschen Durchschnitts, die Einnahmen der westdeutschen Flächenländer liegen zwischen 75,5 % und 131.8 % (BMF 2019., S. 23). Die Einnahmen der Stadtstaaten bewegen sich zwischen 85,4 (Bremen) und 157,2 % (Hamburg).
3.7 Finanzen und Haushalt
Bundesland
Insgesamt Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen MecklenburgVorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
149
Finanz ausgleich insgesamt
Umsatzsteuer- Länderfinanzausgleich vorweg ausgleich
-5.287 -9.277 +5.273 +1.825 +1.043 -449 -2.862 +1.867
9.092 -2.208 -2.605 -531 +1.026 +63 -366 -1.249 +1.111
11.448 -3.079 -6.672 +4.404 +550 +740 -83 --1.613 +538
+1.982 -585 +632 +581 +4.305 +2.592 +458 +2.474
+703 -2.121 -12 +296 +2.630 +1.636 +96 +1.533
+831 +1.015 +418 +194 +1.180 +676 +235 +667
Allgemeine Bundesergänzungszuweisungen 4.570 +1.400 +249 +240 +218 +448 521 +226 +91 +495 +280 +127 +274
Abb. 38 Bundesstaatlicher Finanzausgleich 2018 Quelle: eigene Zusammenstellung, Daten aus BMF 2019, + (ausgleichsberechtigt) – (ausgleichspflichtig), vorläufiges Ergebnis, in Mill. Euro
Man erkennt, dass im bundesstaatlichen Finanzausgleich insgesamt gesehen fünf Länder einzahlen müssen, insbesondere Bayern mit über 9,3 Mrd. Euro und Baden-Württemberg mit 5,2 Mrd. Euro. Hauptprofiteur ist Berlin mit 5,3 Mrd. Euro vor Sachsen mit 4,3 Mrd. Euro. Durch die Föderalismusreform III sind der Umsatzsteuervorwegausgleich und der Länderfinanzausgleich zum 1.1.2020 abgeschafft, stattdessen werden der Länderanteil an der Umsatzsteuer um rund 4 Mrd. Euro und die Bundesergänzungszuweisungen erhöht. Für den Bund bedeutet das erhebliche finanzielle Mehraufwendungen. Die Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer soll grundsätzlich nach der Einwohnerzahl erfolgen. Die Umverteilung zwischen den Ländern erfolgt in Zukunft durch Zu- und Abschläge bei der Verteilung der Umsatzsteuer je nach der Finanzkraft, wobei Unterschiede linear zu 63 % ausgeglichen 149
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
werden sollen. Die allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen sollen als weiteres Element der Umverteilung beibehalten werden, allerdings soll der Ausgleichssatz auf 80 % des Unterschieds zu 97,75 % der durchschnittlichen Finanzkraft erhöht werden. Zudem sieht die Neuregelung Ergänzungszuweisungen des Bundes an Länder, die eine unterdurchschnittliche kommunale Finanzkraft aufweisen, vor. Dabei sollen Unterschiede zu 80 % des Durchschnittswertes mit einem Tarif von 53,5 % ausgeglichen werden.
3.7.2 Steuervolumen und Schuldenentwicklung Nun sagt die Verteilung der Steuerarten noch nichts über das Steuervolumen aus. Insgesamt sind die Steuereinnahmen insbesondere in den letzten Jahren ständig angestiegen und liegen 2018 bei 776 Mrd. Euro. 2006 waren es noch 526 Mrd. Euro, das ist ein Anstieg von fast 50 % in 12 Jahren. Von den Steuereinnahmen 2018 entfielen 322 Mrd. auf den Bund, 314 Mrd. auf die Länder und 111 Mrd. auf die Kommunen. In der folgenden Abbildung ist das Steueraufkommen nach Steuerarten dargestellt. Steuerart Gemeinschaftssteuern, darunter: Lohnsteuer Veranlagte Einkommensteuer Nicht veranlagte Steuern vom Ertrag Abgeltungsteuer (einschl. Zinsabschlagssteuer) Körperschaftsteuer Umsatzsteuer Einfuhrumsatzsteuer Bundessteuern, darunter: Energiesteuer (vormals Mineralölsteuer) Tabaksteuer Solidaritätszuschlag Kraftfahrzeugsteuer Landessteuern darunter: Vermögensteuer (abgeschafft) Erbschaftsteuer Grunderwerbsteuer Rennwett- und Lotteriesteuer
in Mio. EUR 566941 208231 60415 23176 6893 33425 175437 59363 108586 40882 14339 18927 9047 23913 0 6813 14083 1894
Anteil am Gesamt aufkommen in % 73,0 26,8 7,8 3,0 0,9 4,3 22,6 7,6 14,0 5,3 1,8 2,4 1,2 3,1 0 0,9 1,8 0,2
3.7 Finanzen und Haushalt
Feuerschutzsteuer Biersteuer Zölle Gemeindesteuern darunter: Gewerbesteuer Grundsteuer Gesamtsteueraufkommen
151
467 655 5057 71765 55852 14202 776263
0,1 0,1 0,7 9,2 7,2 1,8 100,0
Abb. 39 Steueraufkommen in Deutschland nach Steuerarten (2018) Quelle: Statistisches Bundesamt 2019c, kassenmäßige Steuereinnahmen vor der Steuerverteilung
Deutlich wird, dass die Gemeinschaftssteuern mit einem Anteil von 73 % die entscheidende Steuerart in Deutschland sind. Dagegen fallen die Anteile der Landessteuern mit 3 % und der Kommunen mit 9 % vergleichsweise bescheiden aus und auch die reinen Bundessteuern erreichen nur 14 % des Gesamtsteueraufkommens. Deutlich wird, welches die zentralen Steuereinnahmequellen sind: vor allem die Lohn- und Einkommenssteuer (35 %) und die Umsatzsteuer (23 %) und dann mit einigem Abstand noch die Gewerbesteuer (7 %) sowie die Mineralölsteuer (5 %). Betrachtet man die finanzielle Entwicklung der öffentlichen Haushalte seit 1970, so wuchs die Schuldenstandsquote (Schulden bezogen auf das BIP) bis 2010 nahezu ständig.51 Insbesondere der Anteil des Bundes ist kontinuierlich angewachsen, nicht zuletzt durch seine besonderen Belastungen durch die Finanzierung der Einheitsfolgen. In manchen Jahren hatte diese zur Folge, dass die Zinssteuerquote, also der Anteil der Zinsausgaben an den Steuereinnahmen für den Bund, z. T. über 20 % und für die Länder ebenfalls bei über 10 % lag (Bajohr 2007, S. 211). Seit 2011 sinkt die Schuldenstandsquote jedoch durchgehend und liegt im Jahr 2018 wieder deutlich unter 60 %.52 51 Ähnlich wie bei den Personalzahlen werden seit dem Jahr 2011 in der Schuldenstatistik des Statistischen Bundesamtes Analyse nach dem sogenannten Schalenkonzept durchgeführt, in dem der öffentliche Gesamthaushalt sich aus den Kernhaushalten und den Extrahaushalten zusammensetzt. Dies ist notwendig, da es ca. 14.700 öffentliche Unternehmen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene gibt, auf die knapp 38 % der Schulden des Staates entfallen (vgl. Schaefer/Friedländer 2019, S. 4). 52 Es ist eine offene Frage, ob die Regelungen der Schuldenbremse durch die Föderalismuskommission II oder die neue Institution des Stabilitätsrates für eine Rückführung der Schuldenquote sorgte oder nicht andere Faktoren wie eine gute wirtschaftliche Entwicklung oder ein zunehmender gesellschaftlicher Konsens zu Gunsten ausgeglichener Haushalte für diesen Rückgang verantwortlich sind (vgl. Heinz 2019, S. 9). 151
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Abb. 40 Verschuldung von Bund, Ländern, Kommunen 1970–2018 Quelle: Färber 2020, in Tsd. Euro und in Relation zum BIP
Die Schulden (Wertpapierkredite, Kredite und Kassenkredite beim nicht-öffentlichen Bereich) betrugen zum 31.12.2018 insgesamt 1.916 Mrd. Euro, davon 1.213 auf Seiten des Bundes, 570 Mrd. bei den Ländern und 132 Mrd. in den Kommunen (Statistisches Bundesamt 2019b, S. 14). Auch absolut wurden die Schulden in den letzten Jahren zurückgeführt, 2012 waren es noch 2.066 Mrd. Euro insgesamt. Die Schuldenentwicklung im Ebenenvergleich ist der folgenden Abbildung zu entnehmen.
Abb. 41 Schuldenentwicklung im Ebenenvergleich 1991–2017 Quelle: Holtkamp 2011, S. S. 14, mit aktuellen Daten fortgeschrieben
3.7 Finanzen und Haushalt
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Im Jahr 2018 hat sich der Finanzierungsaldo53 von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen weiter positiv entwickelt (zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte vgl. Wagschal 2018, Holtkamp 2019). Gab es 2010 im Zeichen der Finanzmarktkrise noch einen negativen Saldo von 108 Mrd. so betrug der positive Saldo 2018 fast 54 Mrd. (Bund: 12 Mrd., Länder 20 Mrd., Kommunen 10 Mrd., Sozialversicherung 11 Mrd., vgl. https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/ Oeffentliche-Finanzen/EU-Haushaltsrahmenricht-linie/Tabellen/oeffentlicher-gesamthaushalt.html). Wie diese Entwicklung nach Überwindung der Corona-Krise aussehen wird, ist derzeit überhaupt nicht absehbar.
3.7.3 Öffentliche Rechnungs- und Haushaltswirtschaft Zum Wesen der parlamentarischen Demokratie gehört das Budgetrecht oder die Etathoheit des Parlamentes. Der Gesetzgeber entscheidet über den zur staatlichen Aufgabenerledigung erforderlichen Finanzbedarf und dessen Deckung in Form von Haushaltsplänen. In diesem Zusammenhang wird schon des längeren an Prinzipien zur Anleitung budgetären Handelns gearbeitet. Die Grundzüge des Haushaltsrechts in Bund, Ländern und Kommunen sind 1969 im Zuge der Haushaltsreform, in der es darum ging, die öffentlichen Haushalte in die Globalsteuerung mit einzubeziehen, sowie durch die Verabschiedung des vom Bund erlassenen Haushaltsgrundsätzegesetzes des Bundes und der Länder und der Bundeshaushaltsverordnung entstanden. Vor allem die Grundsätze der Vollständigkeit, der Einheit, der Ausgeglichenheit, der Jährlichkeit, der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, der Gesamtdeckung, der Fälligkeit, der Bruttoveranschlagung, der Einzelveranschlagung und sachlichen Bindung, der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit sowie der Öffentlichkeit prägen die öffentliche Haushaltswirtschaft. Der Haushalt ist das zentrale Instrument zur Sicherung parlamentarischen Einflusses und generell der politischen Steuerung. Er ist Ausdruck des politischen Willens und bestimmt das Handeln der Verwaltung. Das öffentliche Rechnungswesen54 erfüllt dabei eine Informations-, Dokumentations- und Rechenschaftsfunktion.
53 Der Finanzierungssaldo bezeichnet die Differenz zwischen den Einnahmen und den Ausgaben des Staates bzw. einer seiner Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung). 54 Gemeint ist das externe Rechnungswesen, welches sich vor allem an Adressaten außerhalb der Organisation richtet im Gegensatz zum internen Rechnungswesen, welches z. B. mit der Kosten- und Leistungsrechnung vor allem auf Adressaten in der Organisation ausgerichtet ist (Adam 2019, S. 444). 153
154
3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
Zu unterscheiden ist zwischen dem kameralen, dem erweitert kameralen55 und dem doppischen System. Die traditionelle kameralistische Haushaltsführung legt mit der finanzwirtschaftlichen Einnahmen- und Ausgabenrechnung und mit ihren ausdifferenzierten Instrumenten der Budgetkontrolle viel Wert auf die Ordnungsmäßigkeit der Mittelverwendung. Der Fokus liegt auf Kassenvorgängen und Geldbewegungen und damit auf dem Geldverbrauchskonzept. Kameralistik ist daher vor allem ein formales externes Rechnungswesen (gegenüber vorgesetzten Behörden, Parlament, Rechnungshof) und kein internes Rechnungswesen, mit dem Steuerungsziele der Organisation betrachtet werden können. Steuerungsrelevante Informationen über die Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit des Verwaltungshandelns fehlen in der Kameralistik weitgehend, während formale Rechenschaftslegung gut unterstützt wird. Damit – so ein immer wieder geäußerter Kritikpunkt von Seiten der öffentlichen Betriebswirtschaft – läuft aber auch eine parlamentarische Kontrolle der Verwaltung weitgehend leer. Hinzu kommen weitere Defizite kameralistischer Haushaltsführung. • Da Einnahme- und Ausgabekonten voneinander getrennt sind, gibt es keinen systematischen Zusammenhang zwischen Mittelherkunft und Mittelverwendung. Wenn man aber keine Kosteninformationen hat, kann auch kein Kostenbewusstsein entstehen. • Es werden grundsätzlich nur Geldzahlungen erfasst, nicht aber Werteverzehr von Sachanlagen (Abschreibungen, kalkulatorische Zinsen, Mieten und Pachten). • Bestimmte Kosten (z. B. Personal) werden nicht verursachergerecht zugeordnet, sondern in Sammelnachweisen veranschlagt. • Es gilt das Kassenwirksamkeitsprinzip, das heißt nur die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben in einem Jahr werden erfasst, so dass keine gute Planung möglich ist. Vor diesem Hintergrund wurde mit der Doppik auf ein an das kaufmännische Rechnungswesen des Privatsektors angelehntes Rechnungswesen zurückgegriffen und versucht, dieses auf die Besonderheiten des öffentlichen Sektors anzuwenden (vgl. insbesondere Lüder 1999). Die Doppik orientiert sich am Ressourcenverbrauchskonzept. Auf staatlicher Ebene handelt es sich um ein Zwei-Komponenten-Rechnungssystem wie im privaten Sektor, auf kommunaler Ebene um ein 55 Die erweiterte Kameralistik ist eine Ergänzung dieser insbesondere um eine Kostenund Leistungsrechnung und/oder eine Vermögensübersicht. Auf sie wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, da sie in der Praxis kaum eine Bedeutung hat.
3.8 Kontrolle des Verwaltungshandelns
155
Drei-Komponenten-Rechnungssystem (zu den Details vgl. Adam 2019, S. 445ff). Hier werden die Bilanz (Vermögensrechnung), die Ergebnisrechnung (Gewinn- und Verlustrechnung) und die Finanzrechnung (Kapitalflussrechnung) im Rahmen der Buchführung systematisch miteinander verbunden. Letztere fehlt im Zwei-Komponentensystem. Die Probleme der Kameralistik haben zu verschiedenen Reformmaßnahmen geführt. Die Modernisierung des öffentlichen Rechnungswesens begann auf kommunaler Ebene im Zusammenhang mit der Diskussion um das neue Steuerungsmodell (vgl. Kap. 5.2.4) vor ca. 20 Jahren. Im Jahr 2003 kam es zu einem Beschluss der Innenministerkonferenz mit Musterentwürfen für eine kamerale und doppische Gemeindehaushaltsverordnung. Seit Mitte der 2010er Jahre hat die Mehrzahl der Kommunen sowohl das Haushalts- als auch das Rechnungswesen auf Basis der Doppik (Ressourcenverbrauchskonzept) umgestellt. Auf der staatlichen Ebene wurde im Jahr 2009 das Haushaltsgrundsätze-Modernisierungsgesetz (HGrGMoG) verabschiedet, durch welches neben dem kameralen auch ein doppisches Rechnungswesen zugelassen wurde. Es dominiert auf der staatlichen Ebene aber weiterhin die Kameralistik, nur vier von 16 Bundesländern haben die Modernisierung des Rechnungswesens begonnen oder abgeschlossen und der Bund strebt dies ohnehin nicht an (vgl. Adam 2019, S. 443ff.). Im Ergebnis ist auch das öffentliche Rechnungswesen in Deutschland von einer weitgehenden Uneinheitlichkeit gekennzeichnet. Dies betrifft zum einen die prinzipiellen Unterschiede in der Rechnungslegung zwischen Kommunen und der staatlichen Ebene und zum anderen den Umsetzungsstand in den Gebietskörperschaften selbst (vgl. Kap. 5.2.4). Während die meisten EU-Mitgliedsstaaten ihre Rechnungslegung auf der Basis des Ressourcenverbrauchssystems durchführen, dominiert in Deutschland auf der staatlichen Ebene noch das Geldverbrauchssystem.
3.8
Kontrolle des Verwaltungshandelns
3.8
Kontrolle des Verwaltungshandelns
Der deutsche Begriff der Kontrolle setzt ein Gegenüber voraus, das kontrolliert wird, sei es eine Maschine, eine Person oder eine Verwaltung. Kontrolle bedeutet Überprüfung, ob ordnungsgemäß und richtig gehandelt wurde. Es geht jedoch nicht um Optimierung, wie z. B. beim Controlling, welches umfassender ansetzt. Kontrolle ist zunächst bescheidener und überprüft, ob sich die Verwaltung so verhalten hat, wie es erwartet wurde, aber z. B. auch, inwieweit Ziele erreicht oder verfehlt wurden (vgl. Püttner 1998, S. 663f.) In Deutschland gibt es eine Vielzahl von Verwaltungskontrollen. Inhaltlich kann man grob zwischen rechtlicher, finan155
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
zieller, politischer und administrativer Kontrolle unterscheiden, insgesamt geht es dabei um Rechenschaftspflicht und Legitimation.
3.8.1 Rechtliche Kontrolle: Gerichte Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechts- und Verfassungsstaat, in dem alle an die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes gebunden sind, auch der parlamentarische Gesetzgeber und die Exekutive. „Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist“ (Stern 1984, 781).
Rechtsstaatlichkeit umfasst die Garantie der Grundrechte, Gewaltenteilung, die Rechtsbindung aller Staatsorgane, die Rechtssicherheit sowie einen gerichtlichen Schutz gegenüber Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Die Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit obliegt der dritten Gewalt, der Judikative, der Rechtsprechung. Die rechtsprechende Gewalt hat durch das GG eine starke Stellung erhalten, denn nach Art. 19 Abs. 4 GG steht jedermann, der sich durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt fühlt, der Rechtsweg offen, Art. 93 garantiert die Verfassungsbeschwerde und Art. 92 beauftragt die Richter mit der rechtsprechenden Gewalt. In Deutschland gibt es jedoch keine einheitliche Gerichtsbarkeit, sondern verschiedene Gerichtszweige. Zu unterscheiden ist grob zwischen • der Verfassungsgerichtsbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte und • den fünf Fachgerichtsbarkeiten (Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Finanzgerichtsbarkeit, Arbeitsgerichtsbarkeit und die Sozialgerichtsbarkeit). Herrschaft und Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetzgeber und anderen staatlichen Organen sind die Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit. Für den Bund ist hier das Bundesverfassungsgericht (BVG) zuständig, welches nicht nur das oberste Gericht des Bundes ist, sondern zugleich ein Verfassungsorgan. Damit steht es gleichberechtigt neben anderen obersten Verfassungsorganen wie dem Bundespräsidenten, dem Bundestag, dem Bundesrat oder der Bundesregierung und kann diese sogar in ihre Schranken verweisen. Vereinfacht ausgedrückt ist das Bundesverfassungsgericht die Hüterin der Verfassung. Es kontrolliert den Ge-
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setzgeber, ob er beim Erlass der Gesetze gemäß den Vorschriften des GG handelt, überwacht im Wege der Verfassungsbeschwerde Behörden und Gerichte, schlichtet Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen, beschließt über das Verbot politischer Parteien und über die Verwirkung von Grundrechten. Die wichtigsten Kompetenzen umfassen die konkrete Normenkontrolle, die abstrakte Normenkontrolle, Organstreitigkeiten und Verfassungsbeschwerden. Das Bundesverfassungsgericht wird niemals von sich aus tätig, sondern nur, wenn es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften angerufen wird (Art. 93–100 GG). Die Entscheidungen werden in geheimer Beratung getroffen. Es besteht aus zwei Senaten mit je 8 Richtern, die jeweils höchsten für 12 Jahre gewählt sind. Eine Wiederwahl ist nicht möglich. Die Richter werden je zur Hälfte vom Bundestag durch einen speziellen Wahlausschuss und vom Bundesrat gewählt, wobei jeweils eine 2/3 Mehrheit nötig ist. Die Gerichtshoheit zwischen Bund und Ländern ist bei jeder der oben genannten Fachgerichtsbarkeiten so verteilt, dass die obersten Gerichtshöfe Bundesgerichte und alle anderen in der Regel Landesgerichte sind. Daher erklärt sich auch die Zahl von 22.825 Richtern auf Länderebene, der im Jahr 2017 nur 445 Richter auf Bundesebene gegenüberstehen (Statistisches Bundesamt 2019a, S. 76). Der Aufbau der Gerichtszweige ist jeweils verschieden, jedoch umfasst er meist drei Instanzen. Bei den Richtern ist zwischen Berufsrichtern und ehrenamtlichen Richtern zu unterscheiden. Generell sind die Richter bei der Ausübung ihrer Tätigkeit unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Die Berufsrichter werden auf Lebenszeit berufen, die ehrenamtlichen Richter nur für eine bestimmte Amtszeit. Das öffentliche Recht unterteilt sich in Verfassungsrecht, Strafrecht, Prozessrecht, Verwaltungsrecht, Polizei-, Schul-, Beamten-, Sozial- und Steuerrecht. Von zentraler Bedeutung für die öffentliche Verwaltung ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie ist historisch entstanden als Instrument zur Sicherung des Rechtsstaates, also zur Bindung öffentlicher Gewalt an Recht und Gesetz und zur Sicherung bürgerlicher Freiheitsrechte. Die ersten Formen einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelten sich in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den deutschen Staaten. Eine einheitliche bundesweite Regelung gibt es erst mit dem GG von 1949 (vgl. hierzu und im Folgenden von Oertzen/Hauschild 1998, S. 675f.; Bull/Mehde 2015, S. 423ff). Wesentliche Bestimmungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind in der 1960 erlassenen Verwaltungsgerichtsordnung enthalten. Sie begründet zum einen in einer Art Generalklausel die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, soweit es nicht um Verfassungsbeschwerden oder einem anderen Rechtsweg durch Gesetz zugewiesene Bereiche wie das Sozialrecht 157
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und das Finanzrecht handelt. Zum anderen regelt sie den Aufbau und die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dabei sind drei Instanzen vorgesehen: • als 1. Instanz insgesamt 52 Verwaltungsgerichte, größtenteils orientiert an den Verwaltungsgrenzen innerhalb der Bundesländer. Die Senate sind mit jeweils drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt. • als 2. Instanz 16 Oberverwaltungsgerichte, die in einigen Ländern auch Verwaltungsgerichtshöfe heißen. Die Senate sind hier mit jeweils drei Berufsrichtern besetzt. • als 3. Instanz das Bundesverwaltungsgericht mit Sitz in Leipzig. Die Senate sind mit jeweils fünf Berufsrichtern besetzt. Die Verwaltungsgerichte sind funktionell und organisatorisch selbständig sowie personell und sachlich unabhängig. Sie werden im Prinzip nur tätig, wenn sie durch Klage eines Betroffenen mit einem konkreten Fall befasst werden, es gilt hier also der Individualrechtschutz und nicht die Popularklage. Allerdings lässt eine Reihe von Sonderbestimmungen auch die Vertretung fremder Interessen zu. So haben in Umweltstreitsachen die anerkannten Umweltschutzverbände das Verbandsklagerecht und auch die anerkannten Naturschutzvereinigungen sind zu Klagen gegen Eingriffe in Natur und Landschaft befugt (Bull/Mehde 2015, S. 438). Als besondere Verfahrensart ist darüber hinaus das Normenkontrollverfahren zu erwähnen, nachdem Rechtsvorschriften überprüft werden können. Dieses findet immer vor den Oberverwaltungsgerichten statt. In jüngster Zeit ist dieser im internationalen Vergleich sehr starke Rechtsschutz durch Verwaltungsgerichte vor allem im Zusammenhang mit der Genehmigung von größeren Planungsvorhaben, z. B. von Windkraftanlagen, Stromtrassen oder generell von Industrieansiedlungen (z. B. Tesla in Brandenburg) in die Kritik geraten (neben den bereits sehr starken Beteiligungs- und Einspruchsrechten in Planungsverfahren). Umweltverbände, die bisher regelmäßig für die Ausweitung dieser Klagerechte eingetreten sind, fürchten neuerdings die Verlangsamung oder sogar Verhinderung von Maßnahmen des Klimaschutzes. Aber auch z. B. die Vielzahl der Klagen (vor den Sozialgerichten) im Bereich der Grundsicherung (sog. Hartz IV), im Jahr ca. 100.000, wird als problematisch gesehen. Zudem ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch die Flüchtlingskrise und der hohen Zahl von Klagen gegen das BAMF in die Aufmerksamkeit geraten. Die Zahl der asylrechtlichen Streitigkeiten bei den Verwaltungsgerichten ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen (vgl. Bogumil/Burgi u. a. 2018, S. 121). Betrug die Zahl der eingelegten Klagen, Berufungen und Revisionen 2014 noch über 40.000, stieg sie auf 68.000 im Jahr 2015 und 145.000 im Jahr 2016 bis hin zu 330.000 im
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Jahr 2017 (vgl. Abb. 40). Im Jahr 2018 gab es immerhin noch 135.000 neue Klagen. Auch wenn die Verwaltungsgerichte parallel durch Neueinstellungen56 und Umstrukturierungen ihren Output deutlich erhöht haben (von knapp 56.000 Entscheidungen im Jahr 2015 auf 173.000 im Jahr 2018), ist die Zahl der anhängigen Klagen, Berufungen und Revisionen ständig angestiegen, auf 362.000 Verfahren Ende 2017 und 312.000 Ende 2018.57
Klagen, Berufungen, Revisionen Gerichtsent- Insgesamt scheidungen Asyl (Art. 16a GG u. Familienasyl) Flüchtlingsschutz (GFK) Subsidiärer Schutz Abschiebungsverbot Erfolgsquote absolut prozentual Ablehnungen absolut prozentual Sonst. Verfahrens- absolut erledigungen (z. B. prozentual Rücknahmen) Anhängige Rechtsmittel Durchschnittliche Verfahrensdauer (Monate)
2015 2016 2017 2018 67.669 144.920 330.435 135.002 56.325 64.251 147.616 173.416 78 60 81 191 1.352 6.163 23.709 15.101 258 418 2.114 2.589 740 1.131 6.618 11.822 2.428 7.712 32.441 29.703 4,3 12,0 22,0 17,1 16.552 20.399 47.953 65.651 29,4 31,7 32,5 37,9 37.345 36.080 67.141 78.062 66,3 56,2 45,5 45,0 57.674 131.856 362.468 312.577 7,9 7,5 7,8 12,5
Abb. 42 Verwaltungsgerichtsverfahren im Bereich Asyl Quelle: Eigene Zusammenstellung nach BT-Drs. 18/7625, 18/11262, 19/1371, 19/8701, Verfahren zu Erst- und Folgeanträgen (2015 und 2016: Jan. – Nov.; 2017 und 2018: Jan. – Dez.).
Der Anstieg der Verfahren betrifft gleichermaßen sowohl Eil- als auch Hauptsacheverfahren und kommt damit auch bei den Oberverwaltungsgerichten (OVG) bzw.
56 Im Zeitraum 2015–2017 ist die Zahl der Richter an den Verwaltungsgerichten (VG) um ca. 20 % erhöht worden (vgl. Seegmüller 2018, S. 309). 57 Erfolgreich waren 22 % der eingelegten Rechtsmittel im Jahr 2017 und 17.1 % im Jahr 2019, dies sind überaus beachtliche Erfolgsquoten, die Zweifel an einer immer korrekten Rechtsanwendung im BAMF aufkommen lassen. 159
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Verwaltungsgerichtshöfen (VGH)58 und zeitversetzt beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) an (Rennert 2018, S. 402). Dennoch sind hier die Zahlen deutlich niedriger (anhängige Verfahren in der Berufungsinstanz [OVG/VGH] Ende 2017: 1.380, anhängige Verfahren in der Revisionsinstanz [BVerwG] Ende 2017: 29). Dieser Anstieg führt dazu, dass das Asylrecht in den letzten Jahren zahlenmäßig das mit Abstand bedeutendste Sachgebiet vor deutschen Verwaltungsgerichten geworden ist. Im Jahr 2016 waren 42 % allein dem Asylrecht zuzurechnen. Somit hat sich der Anteil dieser Verfahren an allen erledigten Hauptverfahren seit 2013 (16 %) mehr als verdoppelt (2014: 24 %; 2015: 33 %) (vgl. Bogumil/Burgi u. a. 2018, S. 122 mit weiteren Nachweisen). Ähnliches gilt für die erledigten asylrechtlichen Eilverfahren, die 2016 60,5 % aller erledigten Verfahren zur Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz ausmachten. Mit diesem Verfahrensanstieg im Bereich des Asylrechtes ist es trotz der durchaus beachtlichen Neueinstellungen zu einer deutlichen Verlängerung der durchschnittlichen Verwaltungsgerichtsverfahren gekommen. Auch vorher gab es in Verwaltungsgerichtsbarkeit angesichts ständig steigender Zahlen von Hauptverfahren schon Verfahrensdauern von über 12 Monaten. Deshalb wird häufig von dem Instrument des vorläufigen Rechtsschutzes Gebrauch gemacht, welches im Bereich des Asylrechtes nicht immer greift. Darüber hinaus wird diskutiert, durch eine Vereinfachung der Prozessvorschriften die Verfahrenszeiten zu verringern (hierzu Bogumil/Burgi u. a. 2018, S. 227ff.).
3.8.2 Finanzielle Kontrolle: Rechnungshöfe Die Geburtsstunde der Rechnungsprüfung in Deutschland liegt weit zurück. 1714 wurde von König Friedrich Wilhelm I. die Preußische Generalrechenkammer gegründet. Sie war eine selbständige Zentralbehörde mit Sitz in Berlin und unterstand direkt dem König. Als dann im deutschen Kaiserreich von 1871 ein einheitlicher Rechnungshof des Deutschen Reiches gegründet wurde, war hier schon das Anliegen der Parlamente, mit Hilfe der Rechnungsprüfung die Regierung besser zu kontrollieren dominant und nicht mehr das Interesse des Monarchen an Kontrolle seiner Beamten (vgl. hierzu und im Folgenden von Wedel 1998, Engels 2014, Seyfried 2019a). Nach dem GG führen nun die 17 Rechnungshöfe im Bund und den 16 Ländern Verwaltungskontrolle in Form staatlicher Finanzkontrolle durch. Für die Einnahmen und Ausgaben der EU ist der Europäische Rechnungshof zuständig. Die Rechnungs58 Zur Bezeichnung der OVG in manchen Ländern als VGH s. § 184 VwGO i. V. m. dem jeweiligen Landesrecht.
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höfe prüfen generell die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Staates hinsichtlich seiner Ordnungsmäßigkeit (Rechtsmäßigkeit, Vollständigkeit, Richtigkeit), seiner Wirtschaftlichkeit (Verhältnis von Kosten und Zweck) und seiner Sparsamkeit. Damit ist ihr Auftrag deutlich ausgeweitet gegenüber den historischen Vorbildern. Jeder Rechnungshof prüft den Haushalt in seinem Bereich. Alle Rechnungshöfe sind unabhängig voneinander, auch existiert keine Über- oder Unterordnung. Mitunter werden allerdings gemeinsame Prüfungen vorgenommen, wenn z. B. Haushaltsmittel verschiedener Gebietskörperschaften für einen Zweck gemeinsam verausgabt werden, etwa bei den Rundfunkanstalten. Die Rechnungshöfe sind Oberste Bundes- und Landesbehörden und damit von der Verwaltung unabhängig. Sie sind zudem weder der Exekutive noch der Legislative weisungsgebunden, sondern stehen im System der Gewaltenteilung zwischen ihnen. Prüfungsstoff und Bewertung bestimmen sie im Rahmen der Gesetze nach eigenem Ermessen, wobei sie Prüfungswünsche der Parlamente soweit wie möglich berücksichtigen. Die Mitglieder der Rechnungshöfe, der Präsident, der Vizepräsident, die Abteilungs- und Prüfungsgebietsleiter sind unabsetzbar und verfügen über richterliche Unabhängigkeit. Organisatorisch unterstützt werden die Rechnungshöfe durch ihnen nachgeordnete Rechnungsprüfungsämter. Die Aufbauorganisation des Bundesrechnungshofs orientiert sich an den Prüfungsgebieten, von denen es derzeit insgesamt 51 gibt, die wiederum in neun Prüfungsabteilungen zusammengefasst sind und von Abteilungsleiterinnen und -leitern geführt werden (Stand Ende 2018). Den in den Abteilungen organisierten Prüfungsgebieten sind jeweils Prüfungsgebietsleiterinnen und -leiter zugeordnet, die gemeinsam mit Prüfungsbeamtinnen und -beamten sowie weiteren Bediensteten des Bundesrechnungshofs die Prüfungen durchführen (Seyfried 2019a, S. 2). In der Regel prüfen die Rechnungshöfe stichprobenartig. Zudem gibt es unterschiedliche Formen der Prüfung, von der allgemeinen Prüfung über die Projektprüfung, die Schwerpunktprüfung, die Querschnittsprüfung hin zur Programmprüfung (vgl. hierzu im Einzelnen von Wedel 1998, S. 700). Die Prüfungstätigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes beispielsweise beinhaltet im Jahr 2018 nach Angaben des Bundesrechnungshofs ein Gesamtvolumen von über 600 Milliarden Euro an Einnahmen und Ausgaben. Hinzu kommen Sozialversicherungsträger und Beteiligungen des Bundes (Seyfried 2019a, S. 2). Die Ergebnisse der Erhebungen werden in der Regel mit den geprüften und übergeordneten Stellen erörtert, in Prüfungsmitteilungen zusammengestellt und dann der geprüften Stelle und der Aufsichtsbehörde übersandt. Die Ergebnisse der Prüfungen sind einmal im Jahr in einem Jahresbericht dem zuständigen Parlament zu überreichen. Dieser Jahresbericht ist Grundlage für die Entlastung der Regierungen. Der größte Teil der Prüfergebnisse ist indes in 161
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diesem Bericht nicht enthalten, da viele Beanstandungen während der Prüfung behoben oder anschließend in Erörterungen ausgeräumt werden können. Die meisten Prüfungen der Rechnungshöfe werden nicht veröffentlicht. Daneben können die Rechnungshöfe auch jederzeit Sonderberichte erstellen oder werden vom Parlament oder der Regierung zu Beratungszwecken konsultiert. Die Wirkung der Rechnungshöfe liegt in der Regel in der Güte ihrer Argumente und in der Angst vor ihnen, so dass sie sehr stark präventiv wirken. Zwar gibt es keine Rechtsverpflichtung, Beanstandungen auszuräumen, aber der Ruf sachlicher Objektivität und die öffentliche Wahrnehmung erzielen in der Praxis durchaus ihre Wirkungen.
3.8.3 Politische Kontrolle: Parlament und Öffentlichkeit Bei der politischen Kontrolle der Verwaltung kann man zwischen der parlamentarischen Kontrolle und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit unterscheiden. Die Parlamente haben im Prinzip in Deutschland universelle Kontrollrechte, das heißt die Kontrolle kann sich auf die Aufgabenerfüllung, die Rechtmäßigkeit und die Wirtschaftlichkeit beziehen. Allerdings handelt es sich meist um punktuelle und keine systematischen Kontrollen, da für letztere die Kontrollkapazität fehlt. Zudem fehlt es in der Regel an Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der Verwaltung (jedenfalls auf den staatlichen Ebenen) und insbesondere bei den jeweiligen Mehrheitsfraktionen an Interesse zumindest an öffentlichen Formen der Kontrolle, da sie die jeweilige Regierung tragen, dazu noch häufig eng mit den Verwaltungen verwoben sind und daher ihre Kompetenzen eher informell ausnutzen. Insofern werden solche Instrumente wie Untersuchungsausschüsse, Akteneinsichtsrechte und parlamentarische Anfragen vorrangig von der jeweiligen Parlamentsopposition genutzt (siehe zur Praxis des Bundestages umfassend Siefken 2018). Insgesamt kann man von einem „Eisberg-Modell parlamentarischer Kontrolle“ (ebd. S. 421) ausgehen, da parlamentarische Kontrolle deutlich mehr umfasst als die nach außen sichtbaren formalen Instrumente. Die Nutzung informaler Instrumente (etwa von Ministerbriefen oder direkten Gesprächen der Berichterstatter und zwischen Fachpolitikern von Regierungs- und Oppositionsfraktionen) bleibt zumeist unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild einer unzureichenden parlamentarischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung, welches laut Siefken einer näheren empirischen Betrachtung nicht standhält. Als noch wirksamere Form der Verwaltungskontrolle wird die „Öffentlichkeit“ angesehen, klassischerweise die durch Massenmedien vermittelte allgemeine Öffentlichkeit, die bereichsbezogene fachlich-wissenschaftliche Öffentlichkeit und
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die durch Interessengruppen gebildete fachgebundene Öffentlichkeit (Püttner 1998, S. 672). Die besondere Rolle einer seriösen Presse ist dabei offenkundig. Die Verwaltung gerät durch informierte Berichterstattung unter Rechtfertigungszwang und versucht, eine negative Presse im Vorhinein zu vermeiden. Da einzelne Verwaltungen sehr unterschiedlich vom allgemeinen öffentlichen Interesse berührt sind, ist es wichtig, dass es daneben auch die Kontrolle durch die Fach-Öffentlichkeit gibt, z. B. durch interessierte Verbände oder auch Bürgerinitiativen. Darüber hinaus gibt es in einigen Bundesländern und in vielen Kommunen institutionalisierte Formen der Öffentlichkeitskontrollen durch Bürgerbeauftragte oder Ombudsmänner. Kontrolle durch moderne soziale Medien ist bisher kaum untersucht. Hier beschränkt sich die Diskussion bisher auf allgemeine Vermutungen der positiven Effekte von „Open Government“ (kritisch Wewer 2020; siehe auch Kap. 2.3.5).
3.8.4 Administrative Kontrolle: Aufsicht Neben der rechtlichen, finanziellen und politischen Verwaltungskontrolle gibt es noch eine wichtige administrative Kontrolle durch die Exekutive: die Aufsicht (vgl. hierzu und im Folgenden Döhler 2004). Hierbei kann grundsätzlich zwischen der Ministerialaufsicht, der Bundesaufsicht und der Kommunalaufsicht unterschieden werden. Gemeinsam ist allen Aufsichtsfunktionen, dass ihnen ein hierarchisches Element innewohnt, allerdings unterscheiden sich die Intensität dieser hierarchischen Kontrolle und das Ausmaß an kooperativen Elementen von Verwaltungshandeln je nach Aufsichtsfunktion. Die am meisten verbreitete Form der Aufsicht, die Ministerialaufsicht, dient der Kontrolle der Durchsetzungsfähigkeit der Ministeriumsabsichten. Sie ist damit auch politische Kontrolle, da Ministerien ja hierarchisch von Politikern geleitet werden. Während im Rahmen der Rechtsaufsicht über die Einhaltung dienstrechtlicher und anderer Normen gewacht wird, geht es im Rahmen der Fachaufsicht um die „Zweckmäßigkeit“ des Verwaltungshandelns. Die Ministerialaufsicht innerhalb der unmittelbaren Verwaltung erstreckt sich oftmals auf die Rechts- und Fachaufsicht, während bei der Aufsicht gegenüber der mittelbaren Verwaltung aufgrund ihrer größeren „Staatsferne“ meist nur eine Rechtsaufsicht üblich ist. Zentrales Aufsichtsinstrument auf Ministerialebene ist der „Erlass“, dessen Inhalt von der Bekanntmachung beliebiger Rechtsnormen, über Auskunftsersuchen, bis hin zur terminierten Weisung reichen kann (Döhler 2004). Die Grenze zwischen Bitte, Wunsch und Weisung ist dabei häufig schwer zu ziehen. Die Aufsicht erstreckt sich grundsätzlich auf alle Funktionsbereiche der nachgeordneten Verwaltung. Weitgehend in die Eigenverantwortung delegiert sind aber mittlerweile Personal-, 163
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Organisations- und Haushaltsangelegenheiten, wobei im vorgesetzten Ministerium regelmäßig ein Zustimmungsvorbehalt verbleibt. Die Intensität wie auch der Hierarchiegehalt der Aufsicht hängen in erheblichem Maße von den „Besonderheiten der Aufgabe“ ab. Während manche Behörden, wie etwa das Umweltbundesamt und besonders das Bundeskartellamt, beachtliche Entscheidungsfreiräume für sich reklamieren konnten, dominiert andernorts, speziell auf der Ebene von Landesbehörden, nach wie vor eine hierarchisch geprägte Aufsicht. Im Fall der Bundes- und der Kommunalaufsicht werden eigenständig legitimierte Gebietskörperschaften beaufsichtigt, was den Hierarchiegehalt deutlich mindert (ebd.). Das gilt insbesondere für die Bundesaufsicht. Nach Art. 84 Abs. 2 GG überwacht der Bund die regelkonforme Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder. Mit Zustimmung des Bundesrates (Art. 85 Abs. 5 GG) könnte der Bund sogar Weisungen an die Länder erteilen, was im Unterschied zur Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 Abs. 2 GG) bisher allerdings nicht vorgekommen ist. Die Kommunalaufsicht wird hier als Sammelbegriff für die Kontrolle kommunalen Verwaltungshandelns durch Aufsichtsbehörden der Länder verstanden (vgl. hierzu und im Folgenden Wegrich 2003). Daneben wird natürlich auch die kommunale Verwaltung durch gewählte Politiker, also Bürgermeister, Landräte und Beigeordnete kontrolliert. Da im deutschen Verwaltungsföderalismus ein erheblicher Teil des Gesetzesvollzugs an die lokale Ebene delegiert ist, üben hier die Länder vor allem durch die Innenministerien und soweit vorhanden, die Regierungspräsidien, die Aufsichtsfunktion aus. In den Regierungspräsidien bündelt sich die Ministerial- und die Kommunalaufsicht. Sie nehmen einerseits Dienst-, Fach- und Rechtsaufsicht über nachgeordnete staatliche Behörden (z. B. Behörden des Arbeits- und Immissionsschutzes, Polizei, Staatshochbau, Schulen, Stiftungen) sowie Fach- und Rechtsaufsicht gegenüber den Kommunen wahr, insbesondere die Genehmigung der kommunalen Haushalte. Ebenfalls zur Aufsichtsfunktion zu zählen ist, dass der Regierungspräsident als Rechtsmittelinstanz über Widersprüche gegenüber Entscheidungen nachgeordneter Behörden fungiert. Diese Aufsichtsfunktionen sind allerdings je nach Bundesland in manchen Bereichen zwischen Bezirksregierungen, Sonderbehörden und Ministerien aufgeteilt. Trotz der Aufsichtsfunktion des Landes verfügt die kommunale Ebene über ein gewisses Maß an Autonomie, da sie die Gebiets-, Organisations-, Personal-, Planungs-, Finanz- und Satzungshoheit innehat und sich im Rahmen des Rechtsschutzes (Verfassungsbeschwerde oder verwaltungsgerichtliche Klage) gegen Eingriffe des Landes wehren kann. Zudem hat die Implementationsforschung aufgezeigt, dass in der Regel die Implementationsspielräume auf lokaler Ebene nicht unbeträchtlich sind. In der Praxis spricht daher einiges dafür, dass trotz weitgehender Aufsichtsrechte Konflikte zwischen Ländern und Kommunen vor allem im
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Rahmen kooperativer Verhandlungsbeziehungen ausgetragen werden. Der je nach Bundesland durchaus differierende hierarchische Zuschnitt in den Beziehungen zwischen Land und Kommunen weicht somit zunehmend einer „Vertrauens-“ bzw. „Beratungsaufsicht“. Allerdings wird die hierarchische Steuerung nicht vollständig durch kooperative Handlungsformen verdrängt, denn der wenn auch selektive Einsatz formaler Aufsichtsmittel verbleibt als Rute im Fenster (vgl. Wegrich 2003, S. 219). Nach Wegrich deutet sich – zumindest im Handlungsfeld Städtebaurecht – zudem an, dass in westdeutschen Ländern (Schleswig-Holstein, Niedersachsen) formale Aufsichtsmittel defensiver angewandt werden als in ostdeutschen Länder (Brandenburg, Sachsen-Anhalt). Diskutiert wurde die Rolle der aufsichtsbehördlichen Kontrolle auch am Beispiel der Finanzaufsicht über Kommunen (vgl. Person/Niemann 2016, Holtkamp 2016, Seuberlich 2017, Ebinger/Zabler u. a. 2018). Lange fokussierte sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung meist auf formal rechtliche Betrachtungen und weniger auf die Vollzugspraxis der kommunalen Finanzaufsicht. Die wenigen vorhandenen Studien berichten von erheblicher Varianz hinsichtlich der Wahrnehmung der Durchsetzungsfähigkeit der Aufsichtsbehörden sowie hinsichtlich der Kooperation mit den Kommunen. In einem bundesländervergleichenden Projekt kommen Ebinger u. a. zu dem Ergebnis, dass die Wahrnehmung der Praxis kommunaler Finanzaufsicht am ehesten von der fiskalischen Problemlage vor Ort determiniert ist, dagegen Parteicouleur oder parteipolitische Kongruenz zwischen Bürgermeister und Landrat, wie vielfach diskutiert, keine Rolle spielen (vgl. Ebinger/Zabler u. a. 2018).
3.8.5 Rechenschaftspflicht und Legitimität Kontrolle von Regierung und Verwaltung wird in der Verwaltungswissenschaft seit einigen Jahren intensiv unter dem Schlagwort „Rechenschaftspflicht“ diskutiert, vor allem unter dem englischen Begriff Accountability. Wie sein Gegenstück „Transparenz“ ist Rechenschaftspflicht ein ‚magischer Begriff‘ (Pollitt/Hupe 2011), untrennbar verbunden mit der Diskussion um gute Regierungsführung (Good Governance) und Kernthema vieler Reformdebatten im öffentlichen Sektor. Aber warum wird Rechenschaftspflicht so intensiv diskutiert? Was meint man mit dem Begriff, und warum wird er so oft gebraucht? Andersherum: Wenn Rechenschaftspflicht die Antwort ist, was war dann die Frage? (Jann 2016). Die Bedeutung von Rechenschaftspflicht als zentralem Konzept der aktuellen Diskussion ergibt sich aus seinem engen Verhältnis zu den Begriffen Leistung und vor allem Legitimität. Die aktuelle Debatte über Nutzen, Vorzüge und Probleme von Rechenschaftspflicht ist stark von dem niederländischen Autor Mark Bovens und der sog. Utrecht 165
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School of Accountability beeinflusst (Bovens u. a. 2014). Bovens unterscheidet zwischen Rechenschaftspflicht als eine Tugend, etwas Wichtigem und Gutem an sich, und Rechenschaftspflicht als einem Prozess, der sich beobachten und bewerten lässt. Diese prozedurale Rechenschaftspflicht definiert er als: “A relationship between an actor and a forum, in which the actor has an obligation to explain and justify his or her conduct, the forum can pose questions and pass judgment, and the actor may face consequences” (Bovens 2007, S. 452).
Zunächst ist zu klären, welche Akteure überhaupt gemeint sind. Akteure können die verschiedensten Personen und Organisationen in einer sogenannten Prinzipal-Agent-Beziehung sein: Bürokraten vs. Politiker, Politiker vs. Wähler, Ministerien vs. Regierungen, Behörden vs. Ministerien, Abteilungen einer Behörde vs. Leitung, Angestellte vs. Manager und so weiter und so fort. Der Prinzipal (Auftraggeber) kontrolliert die Arbeit des Agenten (Auftragnehmers). Das ist jedoch nicht leicht, da der Agent naturgemäß mehr über seine Aufgaben weiß als der Prinzipal (Informationsasymmetrie). Akteure, d. h. sowohl Prinzipale wie Agenten, können daher diverse staatliche Organisationen und Personen des öffentlichen Sektors sein. Allerdings ist die Beziehung viel komplizierter als ein einfaches Prinzipal-Agent-System, da es eine Reihe ganz verschiedener Prinzipale (also Akteure mit Kontrollaufgaben) gegenüber der Verwaltung gibt. Man unterscheidet daher drei Aspekte von Rechenschaftspflicht: Forum (gegenüber wem legt ein Akteur Rechenschaft ab?), Fokus (worüber legt er Rechenschaft ab?) und Form (wie legt er Rechenschaft ab?). Somit sind in der Verwaltung mehrere Foren von Rechenschaftspflicht zu unterscheiden: • politische Rechenschaftspflicht gegenüber gewählten Politikern, • administrative (oder bürokratische) Rechenschaftspflicht gegenüber übergeordneten Einheiten (Ministerien, Behörden, Abteilungen), • finanzielle Rechenschaftspflicht gegenüber Rechnungskontrollbehörden, z. B. Rechnungshöfen, • rechtliche Rechenschaftspflicht gegenüber Gerichten, aber auch • professionelle Rechenschaftspflicht gegenüber Kollegen und Berufsverbänden (etwa im Falle von Medizinern, Juristen oder Angehörigen sozialer Berufe) und schließlich • soziale Rechenschaftspflicht gegenüber Klienten, Beteiligten, Interessengruppen oder Kunden, oder auch generell gegenüber Bürgern.
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Davon zu trennen ist der Fokus oder Inhalt der Verpflichtung, also für was ist jemand verantwortlich, welche Informationen werden gegeben und welche Fragen gestellt? Hier ist zu unterscheiden: • Legalität: Handeln Akteure im Einklang mit bestehenden Gesetzen und Vorschriften? • Prozess: Werden Verfahren und Beschlüsse als korrekt, gerecht und fair wahrgenommen? • Finanzierung: Werden Ressourcen bedarfsgerecht und wirtschaftlich eingesetzt? • Leistung: Werden Ergebnisse erzielt und sind sie effektiv und effizient? Die ersten drei Merkmale sind klassische Kriterien für den „Einsatz“ (Input) und werden seit langem von Politik, Gerichten, der Bürokratie selbst oder Rechnungsprüfungsorganen kontrolliert. Das Kriterium „Ertrag/Ergebnis“ (Output) ist jünger und erst in letzter Zeit unter der Bezeichnung Ergebnisverantwortung durch Verträge, eine ziel- und ergebnisorientierte Steuerung, Leistungsmessung usw. verstärkt eingeführt worden. Allerdings lassen sich diese Kriterien mit unterschiedlichen Foren kombinieren. So geht es bei politischer wie auch administrativer Rechenschaftspflicht in der Regel immer um alle vier Kriterien, natürlich interessiert sich die Politik auch immer für die Leistung der Verwaltung. Auch die finanzielle Rechenschaftspflicht gegenüber Rechnungshöfen hat sich gewandelt, seit sich diese zunehmend für Leistung und ihre Bewertung interessieren Es geht also nicht mehr nur um finanzielle Korrektheit. Das gleiche gilt für soziale und professionelle Rechenschaftspflicht, Ärzte oder Sozialarbeiter, aber auch Lehrer, sind natürlich ebenfalls immer der öffentlichen Kontrolle durch ihre Professionen unterworfen, z. B. was gute Praxis angeht. Schließlich kann nach der Form bzw. dem Wesen der Verpflichtung unterschieden werden, also in welche Richtung Rechenschaftspflicht besteht. Differenziert werden vertikale (politische, administrative, rechtliche) Rechenschaftspflichtformen, also klassische Hierarchien (Döhler 2007b), von diagonalen (Rechnungshöfe, Bürgerbeauftragte, Aufsichtsorgane) und horizontalen Formen (soziale, professionelle). Die meisten vertikalen Rechenschaftsbeziehungen sind obligatorisch und können zu direkten Sanktionen führen, während horizontale Rechenschaftsbeziehungen eher freiwillig und indirekt sind. Die diagonalen Rechenschaftsforen nehmen eine Zwischenstellung ein, oft im Schatten von Hierarchien. Diagonale und horizontale Rechenschaftspflicht ist in der Regel nicht mit direkten Sanktionen verbunden, kann aber ernste politische Konsequenzen haben. Besonders der neuere Begriff der Ergebnisverantwortung oder „managerialen Rechenschaftspflicht“ ist in diesem Zusammenhang wichtig. Die Erbringung öf167
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fentlicher Leistungen ist, wie gezeigt wurde, geprägt durch die Übertragung von Budgets und Aufgaben auf niedrigere Ebenen (Dezentralisierung) oder unabhängige Einheiten (Agenturen) innerhalb des öffentlichen Sektors oder sogar durch Privatisierung. Daher dreht sich finanzielle Rechenschaftspflicht nicht mehr nur darum, Mittel im Einklang mit dem Gesetz zu verwenden, sondern zunehmend um Fragen der Effektivität, Effizienz und Produktivität. Maximalen Nutzen zu minimalen Kosten zu erzielen gewinnt an Bedeutung oder wird gar zur Priorität. Bürokraten sehen sich gefordert, zu Managern zu werden und Rechenschaft abzulegen, ob und wie sie festgelegte Ziele erreicht haben. Das wirft die Frage nach der Beziehung zwischen Rechenschaftspflicht und Leistung auf. Diese soll eng sein. Für manche sind Leistung, Transparenz und Rechenschaftspflicht sogar nahezu identisch. Barbara Romzek (2015, S. 28) zufolge ist Rechenschaftspflicht, einfach ausgedrückt, die Übernahme von Verantwortung für Leistungen, die unter normalen Bedingungen honoriert oder sanktioniert werden. Rechenschaftspflicht, so Romzek, setzt Informationen über Leistungen voraus; fehlen diese, ist Rechenschaftspflicht eine leere Worthülse. Tatsächlich jedoch sind Spannungen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche typisch für die Beziehung zwischen Rechenschaftspflicht und Leistung, und es besteht keine einfache direkte Verbindung zwischen beiden (Christensen/Lægreid 2015). Die meisten empirischen Belege für das schwierige und unsichere Verhältnis zwischen Rechenschaftspflicht und Leistung lassen sich mit den bekannten allgemeinen Konzepten begrenzte Rationalität, opportunistisches Verhalten und unbeabsichtigte Folgen beschreiben (siehe Kap. 4.3). Leistungsmessung und -steuerung werden erschwert durch die Vielschichtigkeit der Aufgabe, widersprüchliche Ziel- und Wertvorstellungen und unklare Kausalitäten. Viele staatliche Leistungen lassen sich nur schwer definieren und messen. Noch schwerer ist es, klare kausale Zusammenhänge zwischen Steuerungsinstrumenten, Organisationsverhalten und Ergebnissen (Outputs) und Wirkungen (Outcomes) herzustellen. Gleichzeitig kann mehr Rechenschaftspflicht eine Überfrachtung mit Rechenschaftspflichten und damit eine Lähmung zur Folge haben (multiple accountabilities disorder). Das kann schließlich zu opportunistischem Verhalten führen, etwa dazu, dass Zahlen manipuliert (das Ziel erreichen und den Sinn verfehlen) und Leistungspotenziale nicht ausgeschöpft werden, um zu vermeiden, dass Zielvorgaben erhöht werden (gaming, target ratcheting). Je mehr Angaben zu machen sind, desto größer ist der Anreiz, diese Art von Informationen zu manipulieren. Zu guter Letzt gibt es noch die unbeabsichtigte Folge der „Tyrannei des Lichts“ (tyranny of light): Je mehr Informationen gegeben und verarbeitet werden, umso größer wird das Misstrauen zwischen Akteuren (Jann 2016 m. w. A.).
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Wenn das Verhältnis von Rechenschaftspflicht und Leistung komplex und bestenfalls unscharf ist, bleibt die Frage, warum beide Konzepte so verbreitet sind und warum Rechenschaftspflicht in jüngster Vergangenheit so an Bedeutung gewonnen hat. Eine zentrale Rolle spielt hier der Begriff der Legitimität. Die allgemeine Definition von Legitimität geht auf Max Weber (und später Easton) zurück. Sie bezieht sich auf den Grad, in dem Politik (Input), Prozesse (Throughput) und politische sowie administrative Maßnahmen und Ergebnisse (Output/Outcome) für Bürger akzeptabel sind und akzeptiert werden, sodass staatliche Rechtsakte und Beschlüsse freiwillig befolgt werden, auch wenn sie unmittelbaren Interessen und Wünschen zuwiderlaufen sollten (grundlegend Scharpf 1973b; als Übersicht Jann 2006a). • So bezieht sich Input-Legitimität auf die partizipative Qualität des demokratischen Prozesses. Sie beinhaltet den demokratischen Grundsatz der ‚Herrschaft des Volkes‘. Er besagt, dass politische Entscheidungen in einer Rechenschaftskette, die Regierende mit Regierten verbindet, aus den Präferenzen der Bevölkerung abgeleitet werden, also z. B. durch Wahlen. Das ist jedoch nicht die einzige Form von Legitimität, auch und gerade nicht in modernen Demokratien. • Daneben wichtig ist Output-Legitimität, also das Vermögen einer Regierung oder Verwaltung, kollektive Probleme zu lösen oder zumindest zu mildern. Ein vorbildlich demokratisches System, das die höchsten partizipativen Standards erfüllt, aber keine akzeptablen politischen Lösungen und Leistungen bietet, zum Beispiel ein gewisses Maß an Sicherheit und sozialen Standards, ist nicht legitim und wird von den Bürgern auf Dauer nicht akzeptiert werden. • Schließlich gibt es den Begriff der Throughput-Legitimität. Diese Form der Legitimität verlangt staatliches Handeln, das sich durch Transparenz, Inklusivität, Offenheit und Gerechtigkeit auszeichnen. Eine Entscheidung, Politik oder Organisation besitzt Legitimität, wenn sie eine formal und verfahrensrechtlich ordnungsgemäße und akzeptierte Form hat oder auf diese Weise Beschlüsse fasst (Schmidt 2013). Luhmann (1983) hat dies „Legitimation durch Verfahren“ genannt. Ausgehend von diesen drei Formen von Legitimität lassen sich also drei Formen von Rechenschaftspflicht unterscheiden: • die klassische, auf Input basierende, politische und demokratische Rechenschaftspflicht, die sich vor allem an Ketten von Prinzipal-Agent-Beziehungen zwischen Bürgern, Politikern und Bürokraten orientiert, z. B. das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Konzept der „ununterbrochenen Legitimationskette“, die sicherstellen soll, dass sich der demokratische Mehrheitswille zuverlässig 169
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3 Institutioneller Aufbau der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
als konkretes staatliches Handeln um- bzw. durchsetzen lässt, oder auch der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, nachdem jeder staatliche Eingriff auf ein demokratisch zustande gekommenes Gesetz zurückgeführt werden muss, • die auf Wirkung und Output ausgerichtete Rechenschaftspflicht, bei der es im Wesentlichen um Leistung, zweckmäßige politische Konzepte und Ressourceneffizienz für Bürger, Klienten und ‚Kunden‘ geht, also um die Zufriedenheit mit staatlichen Leistungen, • und schließlich auf „Throughput“ ausgerichtete Rechenschaftspflicht, in deren Mittelpunkt formale Prozeduren, ordnungsgemäße Verfahren, Gerechtigkeit, Expertise und ähnliche Werte stehen (siehe auch Kap. 4.5.3). Genau auf diese verschiedenen Formen der Rechenschaftspflicht und Legitimität beziehen sich die oben skizzierten Kontrollformen der Verwaltung. Da Akteure im öffentlichen Sektor zunehmend nach ihrer Bereitschaft beurteilt werden, Forderungen nach partizipativer Beteiligung zu erfüllen, und sich für die Ergebnisse und Wirkungen ihrer Entscheidungen verantworten müssen, wird Rechenschaftspflicht für die öffentliche Verwaltung immer wichtiger. Dabei wird aber auch deutlich, dass moderne Rechenschaftspflicht mehr denn je die Qualität dieser Entscheidungen im Sinne ordnungsgemäßer Verfahren betrifft. Wenn Wirkungsketten staatlicher Policies lang und kompliziert sind, wenn es schwer bis unmöglich ist, die Effektivität und Effizienz staatlicher Interventionen einfach zu messen und zu begründen, und wenn auch die direkte Verantwortlichkeit einzelner Politiker oder Parteien für bestimmte Entwicklungen immer unklarer wird, nimmt die Bedeutung ordnungsgemäßer Verfahren, das Vertrauen, dass die Verwaltung auf jeden Fall nach bestem Wissen und Gewissen, im Rahmen der Gesetze entscheidet, zu. Dies ist vermutlich der Hintergrund der zu beobachtenden „Renaissance der Bürokratie“ und des Neo-Weberianischen Staates, und auch der Debatte um Quality of Government (vgl. Kap. 4.1.3). Dies mag auch der Hintergrund sein, warum weltweit das Vertrauen in sog. non-majoritarian institutions, also Institutionen, die nicht direkt durch die Politik gesteuert werden, wie Zentralbanken, unabhängige Regulierungsagenturen, Gerichte oder sogar internationale Organisationen zunimmt, während es für klassische politische Organisationen wie Parlamente, Parteien und Regierungen abnimmt (Zürn 2013 m. w. A.).
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Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
Lernziele am Ende dieses Kapitels sollten Sie • einen Überblick über die zentralen Elemente, Vorteile und Probleme bürokratischer Organisationen und Verfahren haben; • deren Ausgestaltung auf der Ebene der Ministerien und Kommunen in der Bundesrepublik sowie die wichtigsten Kritikpunkte kennen; • unterschiedliche Möglichkeiten von Planung und Entscheidung in der öffentlichen Verwaltung und wichtige klassische Entscheidungstheorien kennen; • die vielfältigen Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung und die dabei relevanten normativen Vorstellungen verstehen; sowie • erkennen, dass es in der Politikberatung meistens um Verwaltungsberatung geht. Während die bisherige Darstellung die öffentliche Verwaltung vorrangig aus der Makro-Perspektive betrachtet hat, sich also vor allem auf Aufgaben und interorganisatorische Beziehungen öffentlicher Organisationen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Sektoren bezogen hat, geht es im Folgenden um das „Innenleben“ solcher Organisationen. Im Mittelpunkt steht die Mikro-Perspektive, also intraorganisatorische Strukturen und Prozesse. Dies ist auch eine klassische Perspektive der Organisations- und Verwaltungssoziologie (vgl. Mayntz 1997, Derlien 1984). Zunächst ist festzuhalten, dass die öffentliche Verwaltung nicht nur vielfältige Aufgaben und Funktionen wahrnimmt, sondern auch aus einer großen Vielfalt unterschiedlicher öffentlicher Organisationen besteht. Neben den bekannten und besonders sichtbaren Ministerien auf Bundes- und Landesebene und den Kommunalverwaltungen gibt es eine Fülle von © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Bogumil und W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Grundwissen Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4_4
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• nachgeordneten Behörden (von der Polizei über den Denkmalschutz oder die Gesundheitsämter bis hin zu Forschungsanstalten und Forstämtern), • Oberbehörden (vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bis zur Bundesnetzagentur), • Anstalten (von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht bis hin zur Bundesanstalt für Vereinigungsbedingte Sonderaufgaben), • Körperschaften (von der Bundesversicherungsanstalt bis hin zur Bundesagentur für Arbeit) und • öffentlich-rechtlichen Stiftungen (von der Stiftung Mutter und Kind bis hin zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz). Eine Universität ist somit genauso eine öffentliche Organisation wie eine Strafvollzugsanstalt, eine Schule oder ein Museum, und damit Teil der öffentlichen Verwaltung. Im allgemeinen Sprachgebrauch spricht man oft von Behörden, und auch im Verwaltungsverfahrensgesetz heißt es lapidar „Behörde im Sinne dieses Gesetzes ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt“ (§1 Abs. 4 VwVfG). Die meisten Schulen und Universitäten würden sich allerdings heute wohl dagegen verwahren, als „Behörde“ bezeichnet zu werden, und auch die alte Bundesanstalt für Arbeit wollte eine Bundesagentur werden, um damit zumindest nach außen den Wandel von einer Behörde zum modernen Dienstleister zu vollziehen. Auch wenn daher der Begriff „öffentliche Verwaltung“ vielschichtig und missverständlich ist, gibt es dennoch ein Merkmal, das zumindest in der alltäglichen Wahrnehmung mit fast allen öffentlichen Organisationen verbunden wird und als charakteristisch für deren interne Strukturen und Prozesse gilt, das der Bürokratie (siehe zum Folgenden als systematische Einführung Derlien/Böhme/Heindl 2011).
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik 4.1
4.1.1
Bürokratie und Bürokratiekritik
Merkmale bürokratischer Organisation
Der Begriff der Bürokratie ist zunächst als Schimpfwort erfunden worden (vgl. Albrow 1972). Er geht auf den Franzosen de Gournay zurück, der – lange vor der französischen Revolution – damit die Herrschaft des „Büros“, die nicht-legitimierte Herrschaft von Subalternen kritisiert hat. Er definierte damit Bürokratie ganz explizit als vierte Herrschaftsform neben Monarchie, Aristokratie und Demokratie, als Regierungsform, in der Regieren und Verwalten zum Selbstzweck geworden sei. Erst viel später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde dieser Begriff und das
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damit zusammenhängende Konzept von Max Weber wissenschaftlich „neutralisiert“ und objektiviert. Max Weber, geboren 1864 in Erfurt, studierte Jura, Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie in Heidelberg, Göttingen und Berlin. 1886 promovierte er an der juristischen Fakultät in Berlin mit einer Arbeit „Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter“, drei Jahre später folgte die Habilitation über die „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht“, ebenfalls in Berlin. 1893 wird er auf die Professur für Nationalökonomie in Freiburg berufen, 1897 wechselt er nach Heidelberg, wo er bis 1903 ordentlicher Professor bleibt. Nach einer längeren, zunächst krankheitsbedingten Pause nahm er erst 1919 mit einem Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie in München die Lehrtätigkeit wieder auf, stirbt aber bereits 1920 an einer Lungenentzündung. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit engagierte sich Weber für sozialpolitische Fragen, unter anderem im „Verein für Socialpolitik“. Das Werk Max Webers ist äußerst vielfältig und umfangreich. Neben eher historischen Werken umfasst es vor allem Werke zur Philosophie und Methode der Sozialwissenschaften, religionssoziologische Werke über die Rolle der protestantischen Ethik bei der Entwicklung des modernen Kapitalismus und schließlich sein posthum veröffentlichtes Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“, in dem er die Grundzüge einer verstehenden Soziologie entwickelt. Von besonderer Bedeutung für die Politik- und Verwaltungswissenschaft sind Max Webers Überlegungen zur Bürokratie. In „Wirtschaft und Gesellschaft“ konzipiert Max Weber den Idealtypus der bürokratischen (legalen) Herrschaft, die er mit den Formen der traditionellen (patriarchalischen) und der charismatischen Herrschaft kontrastiert. Für Max Weber war die Herausbildung einer Bürokratie Ausdruck der Rationalisierung der Institutionen in einer zunehmend als berechenbar und beherrschbar empfundenen natürlichen Welt. Rund 100 Jahre später prägt Max Webers Analyse nach wie vor viele Vorstellungen über Politik und Verwaltung. Mit seinem umfassenden Werk ist Max Weber einer der Begründer der Soziologie und der modernen Sozialwissenschaften, mit seiner Analyse zur Bürokratie ist er zudem Wegbereiter der modernen Organisationstheorie und der Verwaltungswissenschaften.
In einem berühmten Zitat postuliert Max Weber: „Die rein bureaukratische, also: bureaukratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste Form der Herrschaftsausübung“ (Weber 1921).
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Als Merkmale einer solchen bürokratischen Organisation hebt er besonders hervor:59 • Hauptamtliches Personal (Trennung von Amt und Person und von öffentlichen und privaten Mitteln); • Fachlichkeit, Professionalisierung (Einstellung und Beförderung nach Ausbildung und Leistung); • Arbeitsteilung und Spezialisierung; • Hierarchische Über- und Unterordnung (klare Zuständigkeiten, Dienstweg); • Regelgebundenheit sowie • Schriftlichkeit, Aktenmäßigkeit. Bei der Interpretation dieser Merkmale ist ihr historischer Kontext zu betonen (vgl. Derlien 1989). Für Max Weber ist bürokratische Organisation eine wichtige Errungenschaft und eine rationale Form der Herrschaft, weil sie überkommene feudale, willkürliche Herrschaftsformen ersetzt, also etwa die Aneignung öffentlicher Mittel durch die Besitzer von Ämtern, die Ausübung dieser Ämter und die Einstellung und Beförderung auf der Grundlage von Vererbung, Nepotismus oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, unklare, kollegiale Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, unprofessionelle Verwaltung durch Amateure und Begünstigte und insbesondere undurchschaubare und unkontrollierte Willkür. Fachlichkeit, Unpersönlichkeit, Berechenbarkeit sind daher zentrale Merkmale des weberschen Bürokratiebegriffs. Dass dies auch heute noch wichtige Errungenschaften sind, kann man sich schnell verdeutlichen, wenn man sich z. B. klar macht, was eine in diesem Sinne unbürokratische amtliche Entscheidung wäre, also etwa „so wie Sie aussehen, bekommen Sie hier gar nichts“ (schnell, persönlich und nicht durch Paragraphenreiterei behindert). Die Webersche Bürokratietheorie gehört sicherlich zu den wichtigsten Grundlagen der Verwaltungswissenschaft, und sie ist auch im gesamten Kanon der Sozialwissenschaften eine der bekanntesten und einflussreichsten Theorien. Allerdings ist sie auch immer wieder selektiv oder falsch interpretiert worden, etwa als allgemeingültige empirische Beschreibung vorhandener Organisationsformen oder als normative und präskriptive Vorschrift, als Modell, wie öffentliche und formale Organisationen gestaltet werden sollten. Beides trifft für Weber gerade nicht zu, der bestimmte in der Wirklichkeit vorfindbare Merkmale von Organisationen typologisch zusammenfasst (und durchaus auch kritisch sieht). Er nennt dies zwar 59 Da Weber Bürokratie an unterschiedlichen Stellen definiert, gibt es keine definitive Enumeration, unterschieden werden u. a. auch die Personal- und Organisationsmerkale von Bürokratien (vgl. im Detail Derlien u. a. 2011).
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
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einen „Idealtypus“, aber damit ist kein normatives Ideal gemeint, sondern eine analytische Beschreibung, die in dieser reinen Form historisch nicht vorkommt. Eine mögliche und sinnvolle Frage ist aber, ob denn vorhandene Organisationen Merkmale bürokratischer Organisationen aufweisen. Tatsächlich weisen öffentliche Organisationen in Deutschland, insbesondere im Kernbereich von Ministerial- und Kommunalverwaltung die klassischen bürokratischen Merkmale in hohem Maße auf. Die von Max Weber besonders hervorgehobenen Merkmale der professionellen Verwaltung, also Hauptamtlichkeit, Einstellung und Beförderung nach Ausbildung, Leistung und Seniorität sind bereits im Abschnitt 3.6 „Personal“ ausführlich behandelt worden und finden sich besonders ausgeprägt im deutschen Beamtenrecht. Beamte werden aufgrund ihrer i. d. R. durch einen Abschluss nachgewiesenen Qualifikation für eine bestimmte Laufbahn eingestellt (etwa allgemeiner Verwaltungsdienst, Forstdienst, Schuldienst, Bauverwaltung etc.), stehen zum Dienstherrn in einem besonderen Vertragsverhältnis, werden geldlich entlohnt (alimentiert) und die Arbeitsmittel sind kein persönlicher Besitz. Wie Hans-Ulrich Derlien bemerkt, besitzt heute kein Wissenschaftler die teuren Laboreinrichtungen, mit denen er arbeitet, und während der Kavallerist sich früher in der Regel selbst ausrüsten musste, „ist es für uns ganz undenkbar, dass sein historischer Nachfolger, der Panzeraufklärer, noch im Besitz dieses Verwaltungsmittels ist“ (Derlien 1989, S. 323). Die übrigen oben aufgeführten Merkmale bürokratischer Organisationen können unter den gängigen Begriffen „Aufbauorganisation“, also formale Gliederung durch Arbeitsteilung und Hierarchie, und „Ablauforganisation“, also Regelgebundenheit, Aktenmäßigkeit und Schriftlichkeit zusammengefasst werden, wobei beide Organisationsmerkmale voneinander abhängen.
4.1.1.1 Aufbauorganisation: Spezialisierung und Hierarchie Die deutsche Verwaltung ist durch eine starke Arbeitsteilung, Spezialisierung und Differenzierung gekennzeichnet – auf die Vielfalt der deutschen Behördenlandschaft ist bereits verschiedentlich verwiesen worden. Schematisch kann man unterschiedliche Typen von Spezialisierung und Differenzierung danach unterscheiden, ob sie zwischen (interorganisatorisch) oder innerhalb von Organisationen (intraorganisatorisch) stattfindet, und ob es sich um horizontale oder vertikale Differenzierung handelt.
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horizontal vertikal
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interorganisatorisch • Ressorts, Ministerien • Dezernate • Sonderbehörden • Dezentralisierung, • Föderalismus • nachgeordnete Behörden (Dekonzentration) • Auslagerungen, Outsourcing
intraorganisatorisch • Abteilungen • Referate • Sachgebiete • Hierarchieebenen
Abb. 43 Formen von Spezialisierung und Differenzierung Quelle: eigene Darstellung
So wird zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung auf der horizontalen Ebene in der Anzahl von Fachressorts, Ministerien oder Dezernaten und innerhalb dieser durch die Anzahl von Abteilungen, Referaten oder Sachgebieten deutlich. Vertikal gibt es Dezentralisierung etwa im Rahmen kommunaler Selbstverwaltung, aber auch durch die Zunahme nachgeordneter Fachbehörden und die verschiedenen Formen der Auslagerung etwa in Landesbetriebe, über GmbHs bis hin zur reinen Privatisierung. Innerhalb von Organisationen ist die Erhöhung der Anzahl von Hierarchieebenen zu nennen, also etwa Hauptabteilungen, Abteilungen, Referatsgruppen, Referate, Sachgebiete etc. Der Grund für diese zunehmende Arbeitsteilung liegt, einmal abgesehen von internen Gründen (etwa dem Eigeninteresse der Beschäftigten, s. u.), in der mit dem Begriff „requisite variety“ benannten Beobachtung, dass die Fähigkeit einer Organisation auf eine komplexe Umwelt zu reagieren, eine entsprechende Eigenkomplexität erfordert. Eine Verwaltung in einer kleinen Gemeinde wird so mit einigen wenigen Abteilungen auskommen, eine Großstadtverwaltung kommt nicht umhin, nicht nur das Sozialamt vom Jugendamt zu trennen, sondern auch innerhalb des Sozialamts oder z. B. des Bauamts verschiedene Abteilungen und Sachgebiete auszuweisen (Hochbau, Tiefbau etc.). Der große Vorteil dieser Spezialisierung ist die Fachkompetenz. Kindergärtnerinnen sind nicht für Bauanträge zuständig und Polizisten nicht für die Gesundheitsvorsorge – dafür gibt es speziell ausgebildete Mitarbeiter und Facheinheiten. Eine gesicherte, feste Zuständigkeit ist ein großer Vorteil sowohl für die Kunden und Klienten der Verwaltung als auch für die politisch Verantwortlichen. Zur Beschreibung und Analyse der horizontalen Differenzierung von Organisationen oder von organisatorischen Feldern unterscheidet man seit dem grundlegenden Werk von Gulick/Urwick (1937) folgende Organisationsprinzipien:
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
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• nach Objekt (divisional): alle Personen, die für dieselbe öffentliche Aufgabe arbeiten, werden in einer Einheit zusammengefasst (Beispiel: Umwelt, Denkmalschutz); • nach Verrichtung (funktional): alle Personen einer Berufsgruppe bzw. alle, die mit denselben Kenntnissen und Techniken arbeiten (Planungsabteilung, Haushalt, Bibliothek, Forschung, Labore); • nach Klientel (klientelistisch): alle die mit denselben Personen- oder Sachgruppen arbeiten (Frauenministerium, Jugendamt); • nach Bezirk (regional): alle in einem abgegrenzten Bezirk (Bezirksamt, Quartiersmanagement, Bezirksregierung). Es gibt keine „beste“ Lösung der Organisation von Aufgaben nach diesen Prinzipien, zumal die Verbindungen zwischen ihnen offenkundig sind, sondern jedes dieser Organisationsprinzipien hat Vor- und Nachteile. In der Realität findet man eine Kombination der verschiedenen Prinzipien, die naturgemäß zu Koordinationsproblemen führt und immer wieder hinterfragt wird und werden muss. Im Rahmen der vertikalen Differenzierung ist insbesondere das Prinzip der hierarchischen Linienorganisation für bürokratische Organisationen von entscheidender Bedeutung. Im klassischen Einliniensystem ist jede Organisationseinheit genau einer anderen unterstellt. In dieser klassischen Autoritätshierarchie gibt es also feste, eindeutige Strukturen für Kommunikation, Weisungen und Kontrolle. Verantwortlichkeiten sind klar verteilt, und damit auch Zuständigkeiten. Wer BAföG braucht, bekommt es nicht im Bauamt, aber auch nicht in einem Büro, das für einen anderen Stadtteil oder Buchstaben zuständig ist. Hier liegt einer der Gründe für die klassische Bürokratiekritik: Man muss erst die für sein Anliegen „zuständige“ Einheit finden, und das ist manchmal nicht ganz einfach. Für die vertikale Differenzierung und Organisation sind zwei weitere Prinzipien von großer Bedeutung, nämlich Leitungsspanne und Leitungstiefe. Die Leitungsspanne, auch Kontrollspanne genannt (engl. span of control) gibt an, wie viele Einheiten oder Personen einer übergeordneten Einheit (oder einem Vorgesetzten) unmittelbar, also auf der direkt folgenden Leitungsebene, unterstellt sind. Die Leitungstiefe gibt dann die Anzahl der Leitungs- oder Organisationsebenen an, aus denen eine Organisation besteht. Offensichtlich hängen beide Konzepte eng zusammen: je größer die Leitungs- oder Kontrollspanne, desto geringer die Leitungstiefe, also desto flacher die Organisation (bei einem festen Bestand von Personal). Auch hier gibt es keine einfachen „optimalen“ Bezugsgrößen, keinen einfachen „best way“ der Organisation, obwohl es seit längerem generell eine Präferenz für eine möglichst geringe Leitungstiefe gibt (Minimalebenenprinzip, also „flache Organisationen“) (vgl. ausführlich Reichard 1987, S. 184ff.). Der Sinn einer starken vertikalen Diffe177
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renzierung, also vieler Hierarchieebenen, liegt selbstverständlich in dem Ziel der möglichst direkten Weisung und Kontrolle: je kleiner die Leitungsspanne, desto besser können untergeordnete Einheiten überwacht werden. Eine differenzierte Hierarchie über- und untergeordneter Einheiten mit eindeutigem Dienstweg (Einliniensystem) sowie eine klare Kompetenzverteilung mit starker Entscheidungszentralisation (und als Folge erheblicher Leitungstiefe) sind klassische Merkmale von Bürokratien. Die damit verbundenen Aufgabenzuweisungen sind wiederum in Form von Geschäftsverteilungsplänen schriftlich fixiert, die die innerbehördliche Arbeitsteilung und vor allem eindeutige Zuständigkeiten festschreiben. Im Prinzip kann so jede Aufgabe, jeder „Vorgang“, jedes Schreiben, das eine Behörde erreicht, aufgrund des Geschäftsverteilungsplans einer eindeutig zuständigen Einheit zugewiesen werden.
4.1.1.2 Ablauforganisation: Aktenmäßigkeit und Geschäftsordnung Aber nicht nur die Aufbauorganisation ist in einer Bürokratie schriftlich fixiert, sondern auch die Ablauforganisation, also die Prozesse, nach denen innerhalb der Organisation gearbeitet werden soll. Eine Bürokratie zeichnet sich aus durch ein System von genau definierten Verfahrensweisen für die Erfüllung von Aufgaben. Bürokratisches und damit Verwaltungshandeln ist also stark regelgebunden und standardisiert. Die Verwaltung handelt, im Prinzip, nur aufgrund schriftlich fixierter (und damit transparenter, überprüfbarer) Regeln, und sie dokumentiert ihre Aktivitäten schriftlich (Aktenmäßigkeit). Beide Prinzipien, Regelgebundenheit und Aktenmäßigkeit, haben erhebliche Vorteile. Zusammen mit Hierarchie und Spezialisierung verhindern sie, so zumindest die theoretische Annahme, Willkür und Inkompetenz und ermöglichen erst rechtsstaatliche und demokratische Führung und Kontrolle der Verwaltung. Sie sind die Garanten von Fachlichkeit, Berechenbarkeit und Unpersönlichkeit, d. h. der Behandlung „ohne Ansehen der Person“, „sine ira et studio“. Aus diesem Grund regeln Geschäftsordnungen oft bis ins kleinste Detail, wie Prozesse innerhalb der Bürokratie ablaufen sollen, also von der Behandlung der Eingänge (Wer sieht welche Eingänge? Wer entscheidet über die Verteilung? Wie werden Aktenzeichen vergeben?), die Bearbeitung von Vorgängen (Wer ist zeichnungsberechtigt? Wie müssen andere Einheiten beteiligt werden? Welche Form soll ein Vermerk haben?) bis hin zu Fragen bei der Abwicklung „besonderer Dienstgeschäfte“ (Kontakte mit Klienten oder Interessengruppen, Dienstreisen und Dienstgänge) und der Dienstoder Hausordnung. So wird in klassischen Geschäftsordnungen u. a. geregelt, wer mit welcher Farbe Vermerke abzeichnen darf (Leitungsebene mit grün, Staatssekretäre mit rot, Abteilungsleiter mit violett etc.), welche Zeichen auf einem Schreiben was bedeuten
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sollen, welche Vorgänge „vor Abgang z.Kts.“ gegeben werden müssen usw. Der Sinn dieser Vorschriften ist, dass im Nachhinein auf jeder Akte erkennbar sein muss, wer sie gesehen und daher „abgezeichnet“ hat bzw. wer welche „Verfügungen“ auf die Akte geschrieben hat – alles im Interesse der Berechenbarkeit und Nachprüfbarkeit. In einer klassischen Bürokratie müssen Probleme a. d. D., „auf dem Dienstweg“, gelöst werden, d. h. Eingänge werden in der untersten Ebene bearbeitet und laufen dann die Hierarchieleiter hoch, bis sie vom jeweils zuständigen „Letztentscheider“, ggf. dem Minister oder Bürgermeister, entschieden und unterzeichnet werden. Der Dienstweg ist die getreue Abbildung der innerbehördlichen Verantwortung. Offensichtlich werden diese klassischen Kommunikationswege in modernen Verwaltungen durch elektronische Kommunikation (Emails, elektronische Akten etc.) überlagert, die die gleichzeitige Beteiligung vieler Stellen prinzipiell sehr einfach machen würde. Insbesondere mit Systemen „elektronischer Aktenführung“ wird dabei versucht, die klassische Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen auch in der Welt der digitalen Kommunikation abzubilden. Bei umfangreicher Spezialisierung, Hierarchisierung, Aktenmäßigkeit und Regelgebundenheit ist die gegenseitige Kommunikation, Integration und Koordination der unterschiedlichen Einheiten ein besonderes Problem, denn es kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass alle Einheiten einer Organisation, also etwa das Umwelt- und das Verkehrsamt einer Kommune die gleichen Interessen verfolgen und nach den gleichen Rationalitätskriterien entscheiden, vom Jugendamt ganz zu schweigen. Eine bürokratische Organisation ist also keineswegs konfliktfrei, ganz im Gegenteil. Größere Spezialisierung bedeutet gleichzeitig fachliche Vertiefung und Verengung, sog. „selektive Problemperzeption“ oder auch „tunnel view“ und im Extrem Fachidiotentum. Straßenbauämter sind dafür da, dass sie sich mit Straßenbau beschäftigen, für Landschaftsschutz, Denkmalpflege, Gewässerschutz und Wirtschaftsförderung sind andere Einheiten zuständig. Inner- und interorganisatorische Konflikte sind daher keine zu überwindende Schwäche, kein Mangel von Verwaltungen, sondern sind gewollt und notwendig. Sie sind, wenn man so will, der eigentliche Sinn von Organisationen. Spezialisierung und Koordination sind zwei Seiten der gleichen Münze, je spezialisierter die Verwaltung, desto mehr Konflikte und desto mehr Bedarf an Koordination. Ein zentrales Problem für bürokratische Organisationen ist daher die Koordination unterschiedlicher Interessen und die Lösung der zwischen ihnen auftretenden Konflikte.
4.1.2 Koordination Jeder kennt Koordinationsprobleme öffentlicher Organisationen. Kaum ist die Straße nach langwierigen Bauarbeiten fertig, wird sie wieder aufgerissen, weil noch irgendwelche Kabel verlegt werden müssen. Während die Agrarverwaltung die intensive Viehzucht durch Sonderprogramme fördert, versucht die Umweltverwaltung die 179
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Verseuchung der Bäche durch Gülle zurückzudrängen, die Verkehrsverwaltung plant eine neue Autobahn und eine Umgehungsstraße, und der Naturschutz will ganze Areale jeglicher Nutzung entziehen. In einer zunehmend vernetzten und interdependenten Gesellschaft nehmen diese Koordinationsprobleme offenkundig zu. Agrarpolitik hängt eng mit Naturschutz, Verbraucherschutz oder auch Regionalpolitik zusammen, die Bewältigung von Migration erfordert die Zusammenarbeit u. a. der Sozial-, Schul-, Ausländer- und Jugendämter und Jobcentern, von neuartigen Problemen wie Klimapolitik oder nachhaltige Entwicklung ganz zu schweigen. Wissenschaftlich werden diese Probleme seit einiger Zeit unter der Überschrift wicked problems (vertrackte Probleme) diskutiert (als Übersicht Fuhr 2019 und das Schwerpunktheft von dms 1/2016). Sie zeichnen sich ganz allgemein durch besondere Komplexität, Unsicherheit und Ambiguität aus: • sie sind komplex, weil sie viele gesellschaftliche Akteure, Sektoren und Ebenen (und damit viele unterschiedliche Verwaltungen) und auch unterschiedliche Zeithorizonte betreffen (multi-actor, -sector, -level and -temporal); • sie sind unsicher, weil Wirkungsketten und Interdependenzen lang und wenig oder gar nicht bekannt, Effekte daher kaum vorhersehbar und Wissensbestände kontrovers sind (contested knowledge); • und sie sind mehrdeutig (ambiguos), weil sie widersprüchliche Werte, Weltanschauungen und Bewertungskriterien umfassen und daher keine gemeinsamen normativen Standards vorhanden sind. Die Koordinationsprobleme moderner Gesellschaften und politisch-administrativer Systeme werden international seit Jahren diskutiert, Schlagworte sind joined-up government oder whole of government (Pollitt 2003, Christensen/Laegreid 2007, Kuhlmann/Bogumil 2019b). Grundlegende Konzepte, wie Koordination durch Weisung (Hierarchie), Verhandlung (Netzwerke), Solidarität (Gemeinschaften) oder Tausch (Märkte) sind bekannt, aber es gibt keine übergreifende und allgemeine Theorie der Koordination (grundlegend immer noch Wildavsky 1973, als Überblick Alexander 2014, Hustedt/Veit 2014 und die Beiträge im Schwerpunktheft von dms 1/2014). Ein besonderer Koordinierungsbedarf entsteht zudem durch die starke Verwaltungsverflechtung, die strukturell im deutschen Verwaltungsföderalismus verankert ist (vgl. Kap. 3.2.3). Dann wenn Zuständigkeiten zu stark zwischen verschiedenen Ebenen verteilt sind, können Doppelarbeiten, Koordinierungsprobleme und eine fehlende Verantwortung für den Gesamtprozess auftreten. Insbesondere der Bereich der Migrations- und Integrationspolitik ist in jüngster Zeit als Beispiel für eine sol-
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che besondere Verwaltungsverflechtung identifiziert worden. In diesem Politikfeld werden die Aufgaben vertikal auf allen drei Verwaltungsebenen bearbeitet, sind horizontal durch den Querschnittscharakter geprägt, so dass eine policy-übergreifende Abstimmung nötig ist, und es besteht ein formal institutionalisierter Zwang zur Kooperation im Mehrebenensystem (hoher Formalisierungsgrad der Verwaltungsverflechtung). Beispiele für die auftretenden Koordinationsprobleme sind die unzureichende Koordination z. B. der Sprachkursangebote zwischen Bund, Ländern und Kommunen, ein mangelhafter inner-/zwischenbehördlicher Datenaustausch, erhebliche Doppelarbeiten zwischen verschiedenen Organisationseinheiten sowie ein hoher Beantragungs- und Verwaltungsaufwand (vgl. Bogumil/Burgi u. a. 2018, Bogumil/Kuhlmann 2020). Möglichkeiten diese Koordinationsprobleme zu vermindern liegen • in der Entflechtung (z. B. durch Verlagerung des Verwaltungsvollzugs der Integrationskurse und der berufsbezogenen Sprachförderung vom BAMF auf die Länder oder im Bereich der Digitalisierung durch stärkere Standardisierung und Zentralisierung), • in der Optimierung von Verflechtungsstrukturen (z. B. Verbesserung des Datenaustausches zwischen Bund, Ländern und Kommunen durch mehr Standardisierung, Registermodernisierung und Überprüfung von Datenschutzregeln; stärkere Absprachen bei Fördermaßnahmen durch die Fachministerien, Aufbau Ministerien übergreifender Förderportale) oder • in der Bündelung (z. B. Reform der unterschiedlichen Sozialleistungen wie SGB II, BAföG, Berufsausbildungsbeihilfe, Wohngeld, Pflegegeld in Richtung weniger Schnittstellen und Vorrangprüfungen, Vermeidung des Rechtskreiswechsels von Leistungen des AsylbLG / SGB III zum SGB II durch Abschaffung des AsylbLG und Öffnung des SGB II generell für Asylbewerber; prozessorientierte Bündelung von Verwaltungstätigkeiten durch Aufbau integrierter Verwaltungseinheiten für Migration und Integration sowohl auf der Ebene der Ministerien, der Bezirksregierungen als auch der Kommunen).
4.1.2.1 Bürokratische Koordination Zur Bewältigung dieser überall verbreiteten Koordinationsprobleme in einer differenzierten, hoch-spezialisierten Verwaltung, hinter denen sich natürlich unterschiedliche inhaltliche, fachliche und politische Interessen und Präferenzen verstecken, gibt es allerdings seit langem bekannte klassische bürokratische Koordinationsmechanismen:
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• Federführung bedeutet, dass für jede Aufgabe eine und nur eine Organisationseinheit verantwortlich ist. Doppelzuständigkeiten darf es, so zumindest die Theorie, nicht geben. Jeweils eine Einheit ist dafür zuständig, dass die Aufgabe bewältigt wird, sie hat aber gleichzeitig dafür zu sorgen, dass andere Stellen, die daran ein Interesse haben oder von Entscheidungen betroffen sind, beteiligt werden. Dies geschieht zunächst im Rahmen der • Mitzeichnung, d. h. Vorschläge, Verfügungen, Anordnungen, Pläne der Verwaltung müssen anderen, beteiligten Stellen zugeleitet werden und dürfen erst entschieden werden, wenn diese, eben durch ein schriftliches Kürzel, bestätigt haben, dass sie den Vorgang gesehen haben und damit einverstanden sind. Auch hier ist die Rationalität wiederum die Nachvollziehbarkeit der Verantwortlichkeit: Die Straßenbaubehörde soll nicht behaupten können, dass sie von der geplanten Kabelverlegung oder dem geplanten Naturschutzgebiet nichts gewusst habe. Umgekehrt wird die federführende Einheit gezwungen, andere zu beteiligen. Bei größeren Planungsvorhaben, bei denen interorganisatorische Abstimmungen notwendig sind, ist so gesetzlich vorgeschrieben, dass alle möglichen „Träger öffentlicher Belange“ zu beteiligen sind.60 Selbstverständlich können die umfassenden intra- oder auch inter-organisatorischen Konflikte nicht immer durch einfache schriftliche Mitzeichnung gelöst werden. Das nächste klassische bürokratische Koordinationsinstrument ist daher die • Besprechung, in der die beteiligten Organisationen oder Organisationseinheiten versuchen, ihre unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen miteinander zu vereinbaren. Wie bei den anderen Instrumenten auch, geht es immer gleichzeitig um Informationsbeschaffung und -verarbeitung und um Konfliktlösung und Konsensbildung. Jeder kennt wiederum die klassische und frustrierende Antwort, wenn bürokratische Akteure mal wieder nicht erreichbar sind: „Die Damen und Herren befinden sich gerade in einer Besprechung“. Abgesehen von der Frage, ob alle Besprechungen in Umfang, Dauer und Beteiligung notwendig sind, ist doch offenkundig, dass sie ein klassisches und unverzichtbares bürokratisches Instrument sind, auch in Zeiten von Videokonferenzen und Email. Wenn die Zahl der beteiligten oder interessierten Akteure zu umfangreich wird, gibt es schließlich die Möglichkeit der • Anhörung, bei der nicht nur „formal“ Mitzeichnungsberechtigte an der Entscheidungsfindung beteiligt werden, sondern der Kreis anzuhörender Akteure und Interessen noch weiter ausgeweitet wird, in der Regel auch in die Richtung
60 Die Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit liegt dagegen nicht auf der Ebene der innerbürokratischen Verfahren und Prozesse, um die es hier geht.
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
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externer, also nicht- oder halb-öffentlicher Akteure (Kammern, Interessenverbände, Firmen, Bürgerinitiativen etc.).
4.1.2.2 Positive und negative Koordination Die offenkundigen erheblichen Koordinationsprobleme innerhalb des öffentlichen Sektors zeigen sich nicht nur in Koordinationsfehlschlägen (die berühmte „Soda-Brücke“, die einfach nur so da in der Landschaft herumsteht, ohne den eigentlich geplanten Anschluss), sondern insbesondere auch in zeitlichen Verzögerungen, z. B. bei der Bewilligung von Investitionsvorhaben. Kritisiert werden immer wieder die unzureichende gegenseitige Unterstützung und Integration staatlicher Vorhaben, etwa im Bereich der Regionalentwicklung, der Bildungspolitik oder der Kommunalpolitik, neuerdings ganz besonders im Bereich der Energie- oder Klimapolitik. Darauf, dass dieses immer wieder beklagte Koordinationsversagen nicht einfach auf die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der beteiligen Akteure zurückzuführen ist, hat Fritz Scharpf in einem berühmten Aufsatz über „Komplexität als Schranke politischer Planung“ (1973a) hingewiesen. Sein Ausgangspunkt ist, dass Politik und Verwaltung durch Differenzierung und Arbeitsteilung zwar eine der Umwelt entsprechende und angemessene Eigenkomplexität erreichen können (siehe oben „requisite variety“), dass es jedoch viel schwieriger ist, die realen Problemzusammenhänge und Interdependenzen, die es in der sozio-ökonomischen Umwelt der Verwaltung gibt, durch entsprechende Verknüpfungen und Mechanismen innerhalb des politisch-administrativen Systems zu reproduzieren. Regionalentwicklung hängt z. B. nicht nur von Wirtschaftsförderung ab, sondern von Verkehrspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Umweltpolitik, Bildungspolitik usw. Politische und gesellschaftliche Problemverarbeitung und damit administratives Handeln findet zunächst in den Basiseinheiten statt, also den Referaten oder Sachgebieten, die eben „federführend“ sind. Der Preis für deren Spezialisierung und Expertise ist die selektive Perzeption, d. h. jede Einheit konzentriert sich auf ihre Zuständigkeiten und nimmt Probleme außerhalb kaum oder überhaupt nicht wahr oder hält sie zumindest für weniger wichtig. Das zentrale Anliegen der Straßenbauer ist nun einmal der Bau von Straßen, und nicht die Erhaltung von Feuchtbiotopen für Krötenwanderungen. Aus diesem Grund sind interdependente Probleme schwer zu bearbeiten und (mögliche) negative Folgewirkungen des eigenen Handelns in anderen Bereichen werden oft nicht gesehen oder bewusst ignoriert. Eine mögliche Lösung dieses Dilemmas besteht darin, Entscheidungen „hochzuzonen“, sie zu zentralisieren. Dies führt aber in der Regel eher zu einer Verschlechterung als zu einer Verbesserung der Entscheidungsqualität, denn „auf dem Dienstweg“ nach oben findet nun einmal eine notwendige Informationsverdichtung und damit ein Informationsverlust statt. Wenn man interdependente Probleme 183
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
lösen will, braucht man aber mehr, nicht weniger Informationen. Übertriebene Zentralisierung und Hierarchisierung führt also zu Informationsverlust und vor allem zu einer Überlastung der Hierarchie sowohl bezüglich ihrer Informationsverarbeitungs- wie auch ihrer Konfliktlösungskapazität. Wenn zu viele Entscheidungen „nach oben“ abgeben werden, wird in aller Regel der Zeitbedarf steigen und die Qualität von Entscheidungen sinken. Eine andere Strategie ist, die dezentralen Koordinationskapazitäten von Organisationen zu erhöhen. Hier spielt die Unterscheidung von negativer und positiver Koordination eine Rolle: • Negative Koordination bezeichnet die normale Praxis: Die Initiative zur Problemverarbeitung geht von einer spezialisierten Einheit aus und ist dieser zugeordnet, und diese ist vorrangig auf das eigene Problem fixiert, ansonsten interessiert nur, inwieweit andere Bereiche negativ durch vorgesehene Lösungen und Maßnahmen betroffen sind. Um die eigene Problemlösungsfähigkeit nicht zu früh einzuschränken, werden andere Bereiche und Interessen daher so spät wie möglich einbezogen, damit sie die eigene Problemlösung nicht stören, typischerweise mit dem Instrument der Mitzeichnung. Es wird also abgeklärt, inwieweit andere Einheiten mit einer Lösung „nicht leben“ können, und nicht, inwieweit sie ggf. selbst etwas zur Lösung des Problems beitragen könnten. • Positive Koordination will genau dies erreichen: Auf der Grundlage einer Analyse des gesamten interdependenten Problemzusammenhangs sollen Maßnahmen aus unterschiedlichen Bereichen ausgewählt werden, die einander unterstützen und gemeinsam zur Problemlösung beitragen. Dies bedeutet aber, dass in allen voneinander abhängigen Entscheidungsbereichen alle infrage kommenden Entscheidungsalternativen gemeinsam und gleichzeitig zur Disposition gestellt werden müssen. Dass reale Verwaltungen in aller Regel negative Koordination vorziehen ist allerdings nicht einfach auf deren Unfähigkeit, Bequemlichkeit oder das Vorherrschen von Fachidioten zurückzuführen, sondern kann mit den entstehenden „Koordinationskosten“ erklärt werden. Dazu benutzt Scharpf ein ganz einfaches Zahlenbeispiel: In Abbildung 44 haben wir es mit folgender Situation zu tun: Insgesamt gib es drei Entscheidungsbereiche (z. B. Referate oder Ämter, n=3) und eines der Ämter muss zwei Handlungsalternativen mit den anderen beiden abklären (a=2). Hier sind also vier gegenseitige Abhängigkeiten oder Relationen zu prüfen. Wenn im gleichen Beispiel jede Einheit zwei Alternativen präsentiert hätte, deren gegenseitige Abhängigkeiten zu prüfen wären, wären dies schon 24 Relationen oder Koordinationsschritte (Abbildung 45).
Abhängigkeiten zu prüfen wären, wären dies schon 24 Relationen oder Koordinationssc (Abbildung 45).
Abbildung 44: Negative Koordination
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
185
Negative Koordination
B
C
a
a
1
2
A Rn = (n-1) * a
Quelle: Scharpf 1973a
Abb. 44 Negative Koordination Quelle: Scharpf 1973a
Abbildung 45: Positive Koordination Positive Koordination
b2
c1
c2
b1 B
C
a2
a1 A
Rn = n * (n-1) * a2
Abb. 45 Positive Koordination Quelle: Scharpf 1973a Quelle: Scharpf 1973a
Die Zahl der jeweils notwendigen Prüfungen kann durch einfache Formeln ermi (auf den „Beweis“ dieser Formeln wird hier verzichtet). Dies bedeutet aber folge Die Zahl der jeweils notwendigen Prüfungen kann durch einfache Formeln ermittelt wir (auf es statt nur mit dieser drei mit fünf Einheiten (n=5) zuDies tun bedeutet hätten, die werden den „Beweis“ Formeln wird hier verzichtet). aberjeweils drei A ins Gespräch bringen derfünf Koordinationsbedarf im Rahmen folgendes: Wenn wir es statt(a=3), nur mitsteigt drei mit Einheiten (n=5) zu tun hätten, der negativ die nation jeweils drei ins Gespräch bringen (a=3), steigt der Koordinationsauf Alternativen immerhin zwölf zu prüfende Möglichkeiten, nämlich (5-1)*3 = 12. B Koordination wären dies aber bereits 5*(5-1)*9 = 180 Alternativen. Schon diese r 185 tische Betrachtung verdeutlicht, warum Organisationseinheiten, wann immer es den Mechanismus der negativen Koordination wählen werden: der normativ vo Weg der positiven Koordination führt sehr schnell zu einer Überlastung der Inform
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bedarf im Rahmen der negativen Koordination auf immerhin zwölf zu prüfende Möglichkeiten, nämlich (5-1)*3 = 12. Bei positiver Koordination wären dies aber bereits 5*(5-1)*9 = 180 Alternativen. Schon diese rein schematische Betrachtung verdeutlicht, warum Organisationseinheiten, wann immer es möglich ist, den Mechanismus der negativen Koordination wählen werden: der normativ vorzuziehende Weg der positiven Koordination führt sehr schnell zu einer Überlastung der Informations- und Konfliktverarbeitungskapazitäten von Organisationen. In den Worten von Scharpf: „Selbst wenn es im Entscheidungsprozess keine verfestigten Interessen und auf Machtpotentiale gestützten Veränderungswiderstände gäbe, wenn also alle Beteiligten prinzipiell innovationsbereit und für rationale Argumentation offen wären, selbst dann müsste der Versuch der simultanen Problematisierung und positiv koordinierten Veränderung interdependenter Entscheidungsbereiche (…) notwendigerweise in der Frustration des totalen Immobilismus enden“ (Scharpf 1973a, S. 93).
Auch positive und negative Koordination sind offenkundig „Idealtypen“, die in der Realität in reiner Form kaum vorkommen. Allerdings haben empirische Untersuchungen immer wieder gezeigt, dass das alltägliche Geschäft bürokratischer Organisationen, und damit auch der deutschen Verwaltung, immer noch durch die Merkmale negativer Koordination gekennzeichnet ist, gerade auch bei neuartigen Problemen wie der Klimapolitik, und selbst wenn zur Koordination verstärkt interministerielle Arbeitsgruppen eingesetzt werden (vgl. Radtke/Hustedt/Klinnert 2016, Hustedt/Danken 2017). Tatsächlich gibt es eine spezifische Form der innerbürokratischen Koordination und Abstimmung, die verhältnismäßig gut funktioniert, die aber auch alles andere als unproblematisch ist, nämlich die von Frido Wagener zunächst als „vertikale Ressort-Kumpanei“ (1975, S. 134) oder, etwas freundlicher, als „Fachbruderschaften“ (1979, S. 238ff.) bezeichnete Koordinierungsbürokratie. Gemeint ist damit die vertikale, nicht nur organisations- sondern auch ebenenübergreifende, Zusammenarbeit bestimmter Fachverwaltungen. Im Kern geht es darum, dass sich z. B. zwischen den zuständigen Behörden etwa im Bereich Agrar-, Verkehrs- oder auch Umweltverwaltung notwendigerweise über die Jahre enge Kontakte entwickeln, die sowohl lokale (Kommunalverwaltung), regionale (Mittelinstanzen), landesweite (Landesministerien) und bundesweite Organisationen umfassen können und inzwischen bis auf die EU-Ebene ausgedehnt werden. Das, worauf sich diese „Fachbrüder und -schwestern“ aus ihrer sektoralen, „fachlichen“ Sicht geeinigt haben, kann oft nur sehr schwer auf der jeweils politisch zuständigen Ebene verändert werden. Etwas zugespitzt formuliert: Wenn sich die Verkehrsplaner im Bundesministerium mit ihren Kollegen auf Landesebene, und die wiederum mit den Kollegen im Regie-
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rungspräsidium und im Kreis auf den Ausbau einer bestimmten Straße geeinigt haben, und sich zudem auch einig sind, dass dabei bestimmte Standards unbedingt einzuhalten sind (etwa Fahrbahnbreite, Kurvenradien), dann ist dies von den jeweils politisch verantwortlichen Gremien kaum noch zu verändern. Sobald der Kreistag (oder etwa eine andere Fachbehörde) versuchen wird, Einfluss auf diese Maßnahme zu nehmen, kann ihnen vorgehalten werden, dies sei bereits mit den anderen Ebenen abgestimmt, und der Versuch dieses Ergebnis infrage zu stellen würde ggfs. das gesamte Projekt torpedieren. Besonders problematisch wird diese vertikale Koordination, wenn sie mit finanziellen Anreizen verbunden ist. Die inhaltliche Politikverflechtung der Fachverwaltungen wird dann durch eine ebenenübergreifende Mischfinanzierung unterstützt, die dazu führt, politische Handlungsspielräume weiter einzuschränken, denn schließlich will man öffentliche Mittel möglichst „mitnehmen“ und nicht „verschenken“. Wagener weist darauf hin, dass es dabei subjektiv nicht bösartig zugeht, sondern durchaus löblich, denn es geht darum, die eigene fachliche Aufgabenwahrnehmung zu optimieren. Im Ergebnis führt dies allerdings zu einer politisch unkontrollierten Selbstbestimmung der Fachbürokraten. In den Worten von Frido Wagener: „In den Ministerien von Bund und Ländern und in den Spitzenstellungen der Großstädte und Landkreise ist der öffentliche Dienst heute jedenfalls weidlich damit beschäftigt, den Standard der öffentlichen Aufgabenerfüllung und teilweise auch die Erfindung neuer öffentlicher Aufgaben mit Hilfe von Gesetzen, Erlassen und Programmen, insbesondere aber durch Geld, an dessen Annahme man Bedingungen knüpft, zu steuern. (…) der besonders gute Ministerialbeamte hat (…) die Formulierung schon im Vorfeld der Entscheidung soweit vorbesprochen, herunterkoordiniert, abgestimmt und mit ein klein wenig Änderungsstoff für die partout nicht zu überzeugenden Politiker angereichert, dass im Ergebnis genau das aus dem gesetzgeberischen Ratifizierungsprozess herauskommt, was die Ministerialbürokraten für angemessen und machbar halten. Dies ist gewöhnlich nicht wenig. Es ist genau geregelt und entspricht einem hohen Standard“ (Wagener 1979, S. 242).
Also gerade die zu perfekte vertikale Koordination fachlicher Standards und Interessen kann zu kontraproduktiven Ergebnissen führen. Die Schlussfolgerungen von Frido Wagener aus dem Jahre 1979 sind an Deutlichkeit kaum zu übertreffen, auch wenn sie die Möglichkeiten politischer Steuerung der Ministerien (vgl. unten 4.4) vermutlich unterschätzen: „Es ist festzuhalten, dass die Leitungsebene des öffentlichen Dienstes im bundesdeutschen Staat der Gegenwart ganz im Gegensatz zum Verfassungsverständnis unserer Staatsrechtslehre Art und Umfang der öffentlichen Aufgabenerfüllung nicht etwa 187
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nur mitbestimmt, sondern in pragmatischer Illegalität weitgehend selbst bestimmt“ (ebd., S. 243).
4.1.3 Bürokratiekritik und Bürokratieabbau Wie erwähnt ist Bürokratiekritik erheblich älter als die formale Definition bürokratischer Merkmale durch Max Weber. Bürokratiekritik zeichnet sich zunächst aus durch einen ungemein diffusen Charakter (vgl. auch Derlien/Böhme/Heindl 2011, S. 29ff.). Es gibt vermutlich in Deutschland, aber das gilt sicherlich auch für andere Länder, kaum eine einfachere und billigere Art und Weise sich öffentlichen Beifall zu sichern als „die Bürokratie“ anzuprangern. Ein kurzer Blick in die aktuelle Presse zeigt dies. Dabei werden sehr unterschiedliche Phänomene kritisiert, z. B. • bürokratische Sprache: gestelzte, unverständliche bis absurde Vorschriften, Formulare und Bescheide; • bürokratisches Verhalten: Unpersönlichkeit, Unfreundlichkeit, langsame und schwerfällige Bearbeitung, Verantwortungsscheu, Kontrollfixierung; • bürokratische Persönlichkeit: Rigidität, Dogmatismus, Risikovermeidung, Zielverschiebung (Mittel wird zum Zweck); • bürokratische Vorschriften: Verrechtlichung und Überregelung, für die Betroffenen nicht einsehbare und nachvollziehbare Regelungen, die Eigeninitiative einengen, Kosten verursachen und Aktivitäten verzögern; • bürokratische Geschäftsprozesse und Organisationsstrukturen: Zuständigkeitswirrwarr, negative Auswirkungen der selektiven Problemwahrnehmung, Überbetonung formaler Richtigkeit gegenüber Effizienz und Effektivität; • bürokratische Verselbstständigung: unkontrollierte Machtausübung, fehlende politische Loyalität, Klientelismus usw. Offenkundig beinhalten alle diese Kritikpunkte viele Stereotypen. Aus Umfragen wissen wir, dass „der Bürokratie“ alle diese negativen Merkmale zugeschrieben werden, dass aber, je konkreter gefragt wird, die Befragten ihre praktischen Erfahrungen mit öffentlichen Bürokratien und Bürokraten viel positiver bewerten. Insgesamt sind die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber der Bürokratie widersprüchlich, man könnte sogar sagen gelegentlich schizophren: Zwei Drittel der Bevölkerung und mehr sind im Allgemeinen mit der Verwaltung zufrieden, der Anteil, der über positive persönliche Erfahrungen berichtet, ist teilweise noch höher. Zugleich werden bestimmte Behördenmerkmale und administrative Verfahren von 80 % und mehr der Befragten kritisiert (Grunow/Strüngmann 2008 m. w. A.).
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
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Klagen über bürokratische Hemmnisse und Überregelung gehören seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, zum guten Ton – und das nicht nur in Deutschland (die ersten Entbürokratisierungskommissionen gab es z. B. schon in der Weimarer Republik und in der Bizone, vor der Gründung der Bundesrepublik). Auf allen staatlichen Ebenen gibt es daher seit Jahren eine beinahe unüberschaubare Anzahl von Initiativen zum „Bürokratieabbau“, zur „Entbürokratisierung“ und „Deregulierung“ (vgl. Jann/Wegrich 2008). Gleichzeitig ergab eine Unternehmensbefragung, dass im Jahr 1994 58 % die Belastung durch staatliche Bürokratie als hoch oder sehr hoch einschätzten, zehn Jahre später gaben dies 79 % an (Kayser u. a. 2004). War die Belastung durch staatliche Bürokratie tatsächlich in zehn Jahren um mehr als ein Drittel gestiegen? Tatsächlich ist die aktuelle Diskussion stark durch Befunde „gefühlter Bürokratie“ bestimmt, die kaum mit objektiven Daten unterlegt werden (vgl. zum Folgenden ausführlich Jann/Wegrich/Tiessen 2007, Jann/Wegrich 2008). In einer aktuellen Studie des IfM (Institut für Mittelstandsforschung) kritisieren z. B. 78 % der Unternehmen die Regelungsdichte und 59 % stellen den Sinn vieler Vorschriften generell infrage. Aber die Autoren der Studie weisen ausdrücklich darauf hin, dass fast alle Unternehmen den Bürokratie-Begriff sehr weit fassen und darunter z. B. auch halb-öffentliche (z. B. durch Berufsgenossenschaften) oder sogar privatwirtschaftliche Regulierung (in Verträgen) verstehen (Holz et.al. 2019). Die Bundesregierung lässt seit 2015 alle zwei Jahre die Zufriedenheit sowohl der Bürgerinnen und Bürger wie der Unternehmen mit der deutschen Bürokratie ermitteln, mit bemerkenswerten Ergebnissen (zu finden unter www.amtlich-einfach.de). So sind insgesamt 83 % der Unternehmen mit der öffentlichen Verwaltung eher oder sehr zufrieden und mehr als die Hälfte der Unternehmen empfanden ihre Behördenkontakte als sehr oder eher einfach. Seit 2015 ist das Vertrauen in Behörden sogar gestiegen, auf einer Skala von -2 bis +2 liegt es 2019 bei 1,1 (wenn man diese Skale auf die normale Notenskala von 1 bis 5 übertragen würde, wäre dies eine Note von 1,9 – also besser als gut). Hilfsbereitschaft und Fachkompetenz der Behörden werden auf der Ursprungsskala mit 1,3 bewertet, eGovernment und Verständlichkeit schneiden mit 0,5 am schlechtesten ab, bei Unbestechlichkeit und Diskriminierungsfreiheit ist die Bewertung 1,9, also nahe am Höchstwert von 2,0. Die Zufriedenheit mit der deutschen Verwaltung ist also höher als man denkt. Dennoch reißt die Kritik an der Bürokratie nicht ab, wie ein kursorischer Blick in die Zeitungen bestätigt, zumal viele Menschen durchaus negative Erfahrungen mit längeren Wartezeiten, kaum verständlichen Formularen oder „übergründlich“ prüfenden Verwaltungsmitarbeitern machen. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass diese Kritikpunkte keinesfalls alle auf der gleichen Ebene liegen und schon gar nicht alle auf eine einzige Ursache zurückzuführen sind. Es ist daher hilfreich 189
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und notwendig zu differenzieren: Dabei kann man mindestens vier Dimensionen der Bürokratiekritik unterscheiden (Mayntz 1980b; Jann/Wegrich 2008): • die Aufgabenebene (Umfang der vom Staat bzw. von der öffentlichen Verwaltung wahrgenommen Aufgaben), • die Regulierungsebene (Anzahl und Dichte der Regulierungen bzw. der darin festgelegten materiellen Standards, Qualität der Regulierungen), • die Organisationsebene (Anzahl staatlicher Behörden, horizontale und vertikale Koordination, Merkmale der Ablauforganisation und des Personals etc.) und • die politische Ebene (Verselbständigung der Bürokratie, politische Steuerung der Verwaltung etc., siehe ausführlich unten 4.3).
4.1.3.1 Aufgaben: zu viel Staat Ein erheblicher Teil der gängigen Bürokratiekritik ist eigentlich eine Kritik des modernen Interventionsstaates. Diese Ebene der Bürokratiekritik beanstandet im Kern, dass es zu viele staatliche Aktivitäten und Interventionen in zu vielen Bereichen gibt. Dies ist offenkundig eine alte und kontroverse, aber auch vollkommen legitime und notwendige politische Diskussion. Dennoch wird hier oft der Sack „Bürokratie“ geschlagen, und eigentlich der Esel Sozialstaat, oder präziser sozialer Rechtsstaat gemeint. Hierunter fällt z. B. die Kritik • am Wachstum und Umfang neuer staatlicher Aufgaben – also etwa Gleichstellungs-, Klima- oder Sozialpolitik – allerdings hat das vorrangig etwas mit politischen Schwerpunkten zu tun, und weniger mit Bürokratie; • an der wachsenden Staatsquote, (Bürokratisierung als Finanzproblem); • am Wachstum der öffentlichen Verwaltung (Bürokratisierung als Personalproblem). Bezüglich der „Bürokratisierung als Finanzproblem“ zeigt sich in Deutschland, dass staatliche Ausgaben und Einnahmen (Staats- und Abgabenquote) europaweit im durchschnittlichen bis unterdurchschnittlichen Bereich liegen. Die Ausgaben des deutschen Staates gemessen am BIP, also die sogenannte Staatsquote, lag z. B. 2017 mit 44 % unter dem EU-27 Schnitt von 46 % (vgl. Abb. 8). Allerdings stellt sich die Frage, ob legitime Klagen über „zu viel staatliche Ausgaben“ überhaupt etwas mit Bürokratie zu tun haben und nicht vielmehr mit sozialstaatlicher Schwerpunktsetzung. Immerhin machen Sozialausgaben inzwischen ca. 41 % des Bundeshaushalts aus; wenn die Ausgaben für Zinsen und Verteidigung dazu kommen, bleiben für sämtliche übrigen staatlichen Ausgaben auf Bundesebene gerade noch gut 30 % übrig. Politische Kontroversen über Umfang und Schwerpunkte staatlicher Auf-
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
191
gaben und Ausgaben sind notwendig und legitim, aber sie sind etwas anderes als Bürokratiekritik. Hinsichtlich des Personalumfangs des öffentlichen Dienstes (öffentlich Beschäftigte) gibt es keine Anzeichen dafür, dass es in Deutschland einen im internationalen Vergleich „aufgeblähten öffentlichen Dienst“ gibt, wie bereits in Kapitel 3.6.2 ausgeführt. Nach der Wachstumsphase in den siebziger Jahren ist vor allem seit den neunziger Jahren ein anhaltender Verschlankungsprozess zu beobachten, so dass der öffentliche Dienst in Deutschland im internationalen Vergleich eher unterdurchschnittlich groß ist. Der Anteil der öffentlichen Beschäftigten an den Gesamtbeschäftigten liegt in Deutschland bei ca. 11 %, gegenüber 17,7 % im OECD-Durchschnitt, und somit im unteren Drittel der OECD (2019). Ein „aufgeblähter öffentliche Dienst“ ist sicher nicht das zentrale Bürokratieproblem. Eher stellt sich die Frage, und wird auch öffentlich diskutiert, ob der Personalabbau der letzten Jahrzehnte zu umfangreich war, ob das Personal im öffentlichen Dienst zukunftsfähig ausgebildet ist und ob unter den Bedingungen des bestehenden Dienstrechts mit Humanressourcen intelligent umgegangen wird. Im Gegensatz zu diesen empirischen Daten bezogen auf die jüngeren Entwicklungen in der Deutschland, behauptet die ökonomische Theorie der Bürokratie unverdrossen (grundlegend Downs 1966, Niskanen 1971, als Übersicht Braun 2013), dass ein erheblicher Anteil des Wachstums öffentlicher Budgets, Regelungen und Personals „endogen“, also durch interne Merkmale bürokratischer Organisationen erklärt werden kann. Verwaltungsangehörige werden nicht als uneigennützige Diener des Allgemeinwohls aufgefasst, sondern als ganz normale opportunistische Nutzenmaximierer, die vor allem eigennützige Ziele wie Einkommen, Prestige, Sicherheit oder Macht verfolgen. Aufgrund der Merkmale bürokratischer Organisationen, insbesondere der asymmetrischen Informationsverteilung und der beschränkten Kontrollkapazität der Vorgesetzten und der Politik, nutzen die Mitglieder der Bürokratie ihre Handlungsspielräume für ihre eigenen Interessen. Dies führt u. a. zu einem Überangebot öffentlicher Güter und Dienstleistungen und zu überhöhten Kosten. Bürokraten agieren als „Budgetmaximierer“, indem sie aus eigennützigen Gründen versuchen, die Anzahl der ihnen unterstellten Mitarbeiter oder das von ihnen kontrollierte Budget zu maximieren. Wenn, wie es früher z. B. in der bürokratisierten Reichs- oder Bundesbahn üblich war, die Besoldung von Stationsvorstehern von der Anzahl ihrer Untergebenen abhängig ist, werden diese versuchen, deren Anzahl zu erhöhen. Mit anderen Worten wachsen Bürokratien nach dieser Erklärung nicht vorrangig aufgrund externer Anforderungen, sondern aufgrund ihrer internen Strukturen. Die erste Formulierung dieses „Gesetzes vom Wachstum der Bürokratie“ stammt von dem englischen Wissenschaftler 191
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und Satiriker C. Northcote Parkinson und wurde als Parkinsons Gesetz bekannt (Parkinson 1957).
4.1.3.2 Regulierung: Normenflut, Verrechtlichung und Informationskosten Ein weiterer Schwerpunkt der modernen Bürokratiekritik ist die Kritik staatlicher Regulierung gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft. Hier geht es zum einen um die Reduzierung von Regeln und Vorschriften, um De-Regulierung. Dies ist die Kritik an der Gesetzes- und Verordnungsflut, an den „überflüssigen“ oder „unnützen“ Gesetzen und Vorschriften. Diese Diskussion wird in Deutschland seit den siebziger Jahren unter den Stichworten der Überregelung, Normenflut oder Verrechtlichung geführt (Voigt 1993). Im Kern geht es hier zum einen um den quantitativen Umfang der regulativen Aktivitäten des Staates, womit sämtliche rechtliche Regelungen aller möglichen staatlichen Steuerungsaktivitäten gemeint sind, unabhängig von den dabei zur Anwendung kommenden Instrumenten, also etwa Ge- und Verbote, aber auch finanzielle Anreizprogramme, Besteuerung oder Information. Davon zu unterscheiden, aber oft in einem Atemzug genannt, ist die materielle Regelungsebene. Gemeint sind damit die materiellen Standards etwa im Umwelt-, Arbeits- oder Verbraucherschutz. Hier geht es um den Umfang des Kündigungsschutzes, die inhaltlichen Kriterien im Immissionsschutz, Qualitätskriterien für Nahrungsmittel oder sogar um das Recht, bei staatlichen Planungen beteiligt zu werden und sich zu wehren. Alles dies sind politisch hoch kontroverse Fragen. Die Abschaffung „bürokratischer Hemmnisse“ im Arbeits- oder Umweltrecht hat vor allem etwas damit zu tun, welche Rechte wie geschützt werden sollen und für wie schützenswert man diese Rechte im Abwägungsprozess hält. Auch unser Steuerrecht ist nicht so überaus kompliziert, weil wildgewordene, hyperaktive Beamte im Finanzministerium außer Kontrolle geraten sind, sondern weil es sehr gut informierte und aktive Interessengruppen gibt, denen es gelungen ist, ihre (durchaus legitimen) Interessen in einzelnen Bereichen des Steuerrechts durchzusetzen. Und auch die Änderung der Handwerksordnung und die Abschaffung des Meisterzwangs ist, wie gut zu beobachten war, ein politischer Kraftakt, kein bürokratischer, der letztendlich dann auch weitgehend gescheitert ist. Alle diese Interessen sind nicht bürokratisch begründet, sondern allein politisch. Im Prinzip ähnelt die ‚Normenflut‘ der ewigen Debatte um überflüssige Subventionen. Generell ist die Öffentlichkeit davon überzeugt, es gäbe viel zu viele Subventionen, wenn aber eine konkret abgeschafft werden soll, gibt es erheblichen politischen Widerstand. Genauso ist auch staatliches Sparen generell überaus populär, allerdings nicht, wenn konkret irgendwo gespart werden soll.
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
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Davon zu unterscheiden ist zum anderen die Kritik der Ausgestaltung von Regulierungen, im Sinne von (ausführlich Mayntz 1980b) • • • • • •
Umfang, Dichte, Genauigkeit, Kosten, Effektivität und Problemlösungsfähigkeit von staatlichen Regelungen.
Hier wird im Kern angenommen, dass das gleiche Niveau der Zielerreichung staatlicher Vorschriften (z. B. Einhaltung bestimmter Sicherheitsstandards) mit geringeren administrativen Lasten, d. h. Kosten für die Betroffenen (und die Verwaltung), zu erreichen ist. Das aktuelle Schlagwort ist hier nicht De-Regulierung, sondern „better regulation“ (als Übersicht Wegrich 2011, Jantz/Veit 2019), und der zentrale Ansatzpunkt sind Informations- und Erfüllungsaufwand, die sich aus rechtlichen Regelungen ergeben, also etwa welche Daten gegenüber staatlichen Stellen wie oft in welchem Detaillierungsgrad nachgewiesen werden müssen. Ent-Bürokratisierung im Sinne von Vorschriftenreduzierung und Rechtsvereinfachung hat in Deutschland eine lange Tradition. Zu erinnern ist an eine große Entbürokratisierungswelle Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre sowohl in den Bundesländern als auch etwas später auf Bundesebene („Waffenschmidt-Kommission“), in der es um Verwaltungsvereinfachung, Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und Anfang der neunziger Jahre um Erleichterung von Gewerbeansiedlung in den neuen Bundesländern ging. Es gab den Sachverständigenrat „Schlanker Staat“, der einen „Deregulierungsbericht“ vorlegte oder auch den „Masterplan Bürokratieabbau“ der zweiten Regierung Schröder. 2006 hat dann die Große Koalition nach niederländischem Vorbild die Institutionalisierung eines unabhängigen Gremiums zur Bürokratiekostenmessung und -reduktion (Nationaler Normenkontrollrat) sowie die Übernahme des auch in den Niederlanden entwickelten Standardkosten-Modells (SKM) zur Messung der administrativen Belastungen durchgesetzt (als Überblick Jann/Jantz 2008a, Jantz/Veit 2019). Die Bundesregierung hatte sich dabei verpflichtet, die mit bestehenden Informationspflichten verbundenen Belastungen messbar zu senken (bis 2011 um 25 %) und neue Informationspflichten für Bürger, Unternehmen und Verwaltung zu vermeiden, und hat diese Ziele auch tatsächlich erreicht. Alle neuen Gesetzesvorhaben der Bundesregierung werden seitdem von den Ressorts vorab auf ihre Bürokratielasten geprüft, und diese Prüfung wird vom Normenkontrollrat überwacht (siehe ausführlich zu den Maßnahmen und ihren Ergebnissen Kapitel 5.2.2). 193
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4.1.3.3 Verfahren: Vor- und Nachteile bürokratischer Organisation Schließlich geht es unter dem Stichwort der Bürokratiekritik um die interne Arbeitsweise von Behörden und öffentlichen Organisationen, also um übertriebene Formalisierung, Hierarchisierung, aber auch Arbeitsteilung und Professionalisierung. Kritisiert wird u. a. eine zu langsame und schwerfällige Bearbeitung, interne Koordinationsprobleme zwischen und in Behörden und mangelhaftes Kostenbewusstsein, und gegenüber Kunden und Klienten, Bürgerferne, Unpersönlichkeit, mangelnder Dienstleistungs- und Kundenorientierung, die bekannt-berüchtigte Verwaltungssprache und generell eine unzureichende Information und Transparenz der Verwaltung. Auf der Grundlage der Erfahrungen der Entbürokratisierungskommissionen der Länder der siebziger und achtziger Jahre hatte Wolfgang Seibel bereits 1986 darauf hingewiesen, dass diese Dysfunktionen bürokratischer Organisation nur die Kehrseite durchaus positiver und erwünschter Funktionen sind, sowohl für die Bürgerinnen und Bürger wie für den Staat oder die Politik: • Die strikte bürokratische Arbeitsteilung hat für den Staat den Vorteil der dauerhaften spezialisierten und kompetenten Aufgabenwahrnehmung, für den Bürger wird so die verlässliche Zuständigkeit einer bestimmten Einheit garantiert. Allerdings ist diese Arbeitsteilung auch verantwortlich für die beschriebenen Phänomene der selektiven Problemperzeption und die damit verbundene vorherrschende negative Koordination, während sie sich für den Bürger oft als undurchschaubares Zuständigkeitslabyrinth darstellt. • Die klassische Regelbindung ermöglicht auf der Seite des Staates erst die kontinuierliche und verlässliche Steuerung der Verwaltung, für den Bürger ist sie die Garantie der Berechenbarkeit und möglichen Kontrolle des Verwaltungshandelns. Umgekehrt führt sie auch intern zu Verrechtlichung und Überregelung bis hin zu einer „pragmatischen Vorschriftenreduktion im Vollzug“ (Frido Wagener), bei der sich die Verwaltung aus der Überfülle relevanter Vorschriften diejenigen heraussuchen kann, die gerade „passen“ (Wagener 1979). Für den Bürger ist die Regelbindung Ursprung bürokratischer Komplexität, Distanz und Abgehobenheit – bis hin zu den Verhaltensweisen der „bürokratischen Persönlichkeit“ (Rigidität, Zielverschiebung etc.), die letztendlich zu einer Verrechtlichung aller möglichen Lebensbereiche führt und die „Herrschaft der Bürokratie“ stabilisiert. • Hierarchie ist für den Staat eine weitere notwendige Bedingung der Steuerung von Verwaltungseinheiten, und für den Bürger garantiert sie klare Verantwortlichkeitsketten und Einspruchsmöglichkeiten. Innerhalb der Bürokratie kann sie allerdings auf der einen Seite bei den Beschäftigten zu Motivations-
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
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verlusten, Verantwortungsscheu und Risikovermeidung führen, andererseits zu Informations- und Konfliktüberlastung bei den Vorgesetzten. Zusammen mit Regelbindung liegen hier einige der Ursachen für langsame, schleppende Bearbeitung und mangelhafte flexible Berücksichtigung spezifischer Bürgerinteressen („Bürgerferne“). • Professionalität des Personals garantiert für den Staat wie für die Bürger die notwendige Fachkompetenz bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben, aber die Kehrseite ist hier auf der Seite des Staates die Überbetonung bis hin zur Verabsolutierung professioneller Interessen, für die Bürger Überheblichkeit und professionelle Besserwisserei (die Bürger wissen nicht, was gut für sie ist). Organisationsmerkmale Arbeitsteilung
Regelbindung
Hierarchie Professionalität
Funktion
Dysfunktion
Für den Staat Für den Bürger Spezialisierung, Zuständigkeitsgarantie Kompetenz garantie Steuerungs entlastung
Für den Staat Selektive Perzeption/ Negativ koordination Berechenbarkeit Kontroll überlastung
Für den Bürger Zuständigkeitslabyrinth
Verrechtlichung der Lebenswelt, Verfahrenskomplexität Steuerung und Verantwort Motivations Einschränkung Kontrolle lichkeit verlust, Kondezentraler fliktverdichtung Flexibilität Fachkompetenz Fachkompetenz Betriebs „Expertokratie“ blindheit
Abb. 46 Funktion und Dysfunktion bürokratischer Organisation Quelle: eigene Darstellung nach Seibel 1986
Es ist allerdings fraglich, inwieweit „normale“ Bürgerinnen und Bürger wirklich unter der deutschen Bürokratie leiden, jenseits aller Vorurteile und Stereotypen, insbesondere, wenn man davon ausgeht, dass diese „normalen Bürger“ durchschnittlich nur ca. zwei bis drei Behördenkontakte jährlich aufweisen. Außer in bestimmten „Lebenslagen“ (Umzug, Autokauf, Hausbau, Geburt) ist die Bürokratie vor allem Ansprechpartner bestimmter ausgewählter Gruppen (vor allem der sozial Schwachen) und ansonsten vor allem des „großen Publikums“ der Unternehmen und Freiberufler. Aus diesem Grund richten sich die aktuellen Bestrebungen, ad195
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ministrativen Belastungen zu messen und zu reduzieren, zum einen vor allem an bestimmte Lebenslagen und Betroffene (etwa die Eltern behinderter Kinder), zum anderen an die Belastung von Unternehmen und Freiberuflern (Jantz/Veit 2019; siehe auch die jährlichen Berichte des Normenkontrollrats unter https://www. normenkontrollrat.bund.de). Hinsichtlich der Bürokratieproblematik im Sinne allgemeiner „bürokratischer Organisation und Verfahren“ (also Kundenzufriedenheit, Schnelligkeit, Qualität etc., s. o. 4.3.1) zeigen vorliegende Untersuchungen, ungeachtet der problematischen Umsetzung der Reformen des Neuen Steuerungsmodells (siehe Kap. 5.2.4) eine Verbesserung der Kunden- und Bürgerorientierung vor allem auf der intraorganisatorischen Ebene, d. h. auf der Ebene der einzelnen Behörden und Ämter. Die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist hier, wie erwähnt, uneindeutig und widersprüchlich, sie richtet sich sowohl gegen Phänomene der „Überbürokratisierung“ (Überregelung, Anonymität, Inflexibilität), wie auch der „Unterbürokratisierung“ (Willkür, Korruption; vgl. Grunow/Strüngmann 2008). Dagegen stellt die interorganisatorische Teildimension, bei der es um die Koordination und Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Behörden, Verwaltungszweigen und -ebenen in Entscheidungsprozessen (insbesondere in Genehmigungs- und Bewilligungsverfahren) geht, offensichtlich die „Problemzone“ der Bürokratieproblematik in Deutschland dar (ausführlich Jann/Wegrich/Tiessen 2007). Entbürokratisierung und Bessere Rechtsetzung sind generell beliebt – niemand ist gegen die Abschaffung unnötiger Bürokratie oder gegen bessere Gesetze – aber sie stoßen im Detail immer wieder auf erhebliche Widerstände, denn sie berühren die Interessen sektoraler Policy-Netzwerke. Diese sind im Konfliktfall meist durchsetzungsfähiger als die Promotoren der Entbürokratisierung, d. h. prinzipiell sind ‚Generalisten‘, die sich für verwaltungspolitische Reformen wie Bürokratieabbau einsetzen, dem Netzwerk der ‚Spezialisten‘ der betroffenen Politikbereiche in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Verwaltung unterlegen (das sog Generalisten-Spezialisten-Dilemma, Jann/Wegrich 2008, dies. 2019). Vor allem ist es aber auch eine gefährliche technokratische Illusion, dass sich Bürokratie durch die richtigen wissenschaftlichen Methoden, also etwa ‚regulatory impact analysis‘ (RIA) einfach und konfliktfrei (also ‚unpolitisch‘) reduzieren lässt: „Entbürokratisierung ist immer auch eine politische Frage und hängt somit von den Akteurs- und Interessenkonstellationen ab. Entbürokratisierung ist (wie Bessere Rechtsetzung) Querschnittspolitik und als solche vor allem dann wirkungsvoll durchzusetzen, wenn politische oder administrative Unterstützung gegenüber den im Zweifelsfall mächtigeren Sektor-/Ressortpolitiken mobilisiert werden kann“ (Jantz/Veit 2019, S. 519).
4.1 Bürokratie und Bürokratiekritik
197
Dies gelingt nur durch die institutionelle und organisatorische Stärkung dieser generellen Anliegen und ihre Verankerung in den normalen bürokratischen Entscheidungs- und Koordinationsprozessen, wie dies in Deutschland durch die Etablierung des Normenkontrollrates durchaus in Ansätzen gelungen ist.
4.1.3.4 Renaissance der Bürokratie? Trotz der vielfältigen und wie gezeigt seit langer Zeit etablierten Bürokratiekritik und den kontinuierlichen Forderungen nach Bürokratieabbau, ist es in der Verwaltungswissenschaft weitgehend Konsens, dass bürokratische Organisationen unverzichtbar sind, und es gibt sogar Stimmen, die eine Renaissance der Bürokratie sowohl empirisch konstatieren wie auch normativ fordern. Insbesondere in der neo-institutionalistischen, sog. „skandinavischen Schule“ der Verwaltungswissenschaft (vgl. zum Folgenden Jann 2006a, S. 140ff.) argumentiert z. B. deren profiliertester Vertreter Johan P. Olsen (2006, 2008) gegen die These, Bürokratien seien organisatorische Dinosaurier, deren langsamen aber unvermeidbaren Todeskampf wir gerade beobachten, also „an undesirable and non-viable form of administration developed in a legalistic and authoritarian society and now inevitably withering away because it is incompatible with complex, individualistic and dynamic societies“ (Olsen 2006). Empirisch wird dem Befund von der schwindenden Bedeutung bürokratischer und hierarchischer Organisationen für moderne Gesellschaften widersprochen. In den Worten von Herbert Simon: “We are so accustomed to hearing our society described as a market economy, that we are often surprised to observe that, since the time of Adam Smith, markets have steadily declined, and business (and governmental) organizations have steadily grown as the principal coordinators of economic activity” (Simon 2000, S. 1).
Weltweit beobachten wir eine rule explosion, die mit dem Schlagwort freer markets, more rules beschrieben wird (Vogel 2018). Insbesondere die Entwicklung der EU gilt als Hinwendung zu einem regulatory state, und die Ablösung klassischen Vertrauens in Bürokraten, Sozialarbeiter oder im Gesundheitsbereich, hat im Rahmen von NPM-Reformen gerade nicht zu weniger Regeln und weniger Kontrolle geführt, sondern zu einer audit explosion, und zum sog. auditory state (Power 2005). Regulierung und ihre Umsetzung ist daher seit einiger Zeit ein Schwerpunkt moderner sozialwissenschaftlicher Forschung über den Staat (Döhler/Wegrich 2010, siehe auch die Zeitschrift Regulation & Governance). Normativ, so die Argumentation, unterstützen und stärken bürokratisch strukturierte Organisationen wichtige Werte, Prinzipien und Ziele, also Vorstellungen 197
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
von richtigem und angemessenem Verhalten, z. B. in Bezug auf Gleichbehandlung, Fairness, Verantwortlichkeit und Berechenbarkeit. Grundlage ist eine klassische institutionalistische Argumentation: “Institutions give order to social relations, reduce flexibility and variability in behaviour, and restrict the possibilities of a one-sided pursuit of self-interest or drives. The basic logic of action is rule following – prescriptions based on a logic of appropriateness” (March/Olsen 2006, S. 8).
Bürokratien sind daher Ausdruck und Verstärker kultureller Werte, z. B. prozeduraler Rationalität und Verlässlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und professioneller Standards. Identitäten, Werte und Normen von Akteuren sind aus dieser Sicht nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis von institutionellen Arrangements. Im Prinzip werden Individuen also durch die Institutionen, in denen sie agieren, zu egoistischen und opportunistischen Nutzenmaximierern, zu kooperierenden, tauschorientierten Netzwerkern oder zu regelorientierten, neutralen und integren Amtsinhabern, eben Bürokraten. Olsen argumentiert weiter, dass Bürokraten daher nicht in erster Linie Diener und Hüter der Herrschenden sind, sondern vor allem gesetzlicher und professioneller Regeln und der verfassungsmäßigen Ordnung. In Bürokratien gibt es daher mindestens drei konkurrierende Prinzipien mit unterschiedlichen Aufpassern und gate-keepern, nämlich Hierarchie (Politiker), Regeln (Gerichte) und Expertise (Professionen). Bürokratien zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Lage sind, zwischen diesen konkurrierenden Prinzipien zu vermitteln (Olsen 2008). In der verwaltungswissenschaftlichen Diskussion spielt eine mögliche „Renaissance der Bürokratie“ vor allem im Konzept des neo-weberianischen Staates eine Rolle (Bouckaert 2006, zusammenfassend Byrkefklot et.al. 2018, siehe auch unten 5.2.4). Empirisch wie normativ wird argumentiert, dass moderne Verwaltungen sowohl klassisch weberianische wie moderne managerialistische Merkmale aufweisen. Als zentrale weberianische Merkmale werden genannt: • Bewahrung von Staat als zentralem Akteur gesellschaftsorientierter Problemlösung, Souveränität, Legitimation und Gemeinwohlorientierung; • Bewahrung von Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz vor willkürlichen und unvorhersehbaren Handlungen staatlicher Stellen, umfangreiche staatliche Rechenschaftspflicht; • Bewahrung des öffentlichen Diensts mit eigenem Status, eigener Kultur und eigenen Beschäftigungsbedingungen; • Bewahrung der zentralen Bedeutung des öffentlichen Rechts.
4.2 Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation
199
„Neo“ an diesen modernen Verwaltungen soll u. a. sein: • die Stärkung externer Orientierung an Kunden und Klienten; • die Kombination repräsentativer Prozesse mit direkter Bürgerbeteiligung; • die Stärkung von ex-ante Leistungssteuerung gegenüber prozeduraler ex-post Kontrolle; • die Stärkung der Professionalisierung als Manager und • die Stärkung von Effektivität, Nutzenmaximierung und Effizienz. Schließlich spielt Bürokratie auch eine zentrale Rolle in den aktuellen Diskussionen über Good Governance (vgl. Hill 2005) oder Quality of Government (siehe insbesondere das Quality of Government Institute, https://qog.pol.gu.se/). Dabei wird immer wieder zentral auf die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit (rule of law), Rechenschaftspflicht (accountability) und vor allem Unparteilichkeit (impartiality) als Grundlagen staatlichen Handelns und politischer Legitimation hingewiesen (als Übersicht Rothstein/Teorell 2008). In einer umfangreichen international vergleichenden Studie zeigen z. B. Dahlberg/Holmberg (2014), dass unparteiische und effektive Bürokratien für die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger weltweit wichtiger sind als die Ausprägungen repräsentativer Demokratie.
4.2 Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation 4.2
Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation
Im Folgenden soll es darum gehen zu skizzieren, inwieweit öffentliche Organisationen in Deutschland tatsächlich dem Idealtypus einer bürokratischen Organisation entsprechen und wo sie ggf. warum von diesem abweichen. Dazu werden die beiden klassischen Bereiche Ministerien und Kommunalverwaltung betrachtet. Die dabei identifizierten Merkmale bürokratischer Organisationen gelten dabei auch, und oft in noch stärkerem Ausmaß, für nachgeordnete Behörden und Ämter.
4.2.1 Organisation der Ministerien 4.2.1.1 Aufbau- und Ablauforganisation Ministerien unterstützen einerseits die Regierungstätigkeit, indem sie politische Entscheidungen des Ministers oder der Ministerin, insbesondere Gesetzgebung und Budgetentscheidungen vorbereiten, andererseits sind sie als oberste Bundes- oder 199
200
4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
Landesbehörden auch an der Durchführung der Gesetze, der Implementation von Politik beteiligt, in ihnen wird also regiert und verwaltet. Während Landesministerien vor allem in Ländern ohne Mittelinstanz auch vielfältige Vollzugsaufgaben wahrnehmen, bedienen sich die Bundesministerien im Wesentlichen der nachgeordneten Bundesbehörden – wenn der Bund überhaupt in die Implementation seiner Gesetze eingebunden ist (siehe Kap. 3.2). Zu den Aufgaben der Ministerien gehören neben diesen Vollzugsaufgaben, also der Steuerung und Überwachung nachgeordneter Behörden und des Gesetzes- und Haushaltsvollzugs, auch eine Reihe für die Politik wichtiger Hilfsaufgaben wie die Beantwortung parlamentarischer Anfragen, die Vorbereitung von Reden und generell die Aufbereitung und Zusammenstellung relevanter Informationen. Zentrale Aufgabe der Ministerien ist aber die Programmentwicklung, also der Entwurf und, vor allem, die Novellierung von Gesetzen, die Entwicklung von Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, die Aufstellung des jeweiligen Haushalts und generell die Entwicklung und Planung neuer Politikinhalte und Policies. Im Prinzip sind Ministerien in Deutschland im Wesentlichen einheitlich und nach bürokratischen Merkmalen aufgebaut. Im Folgenden wird dies anhand der Bundesministerien erläutert; Landesministerien weisen die gleichen Merkmale auf, sind allerdings kleiner und verfügen i. d. R. z. B. nicht über parlamentarische Staatssekretäre: • An der Spitze des Ministeriums steht der politisch ernannte Minister oder die Ministerin. Diese sind keine Beamten, nach dem Grundgesetz dürfen sie auch keine weitere berufliche Tätigkeit ausüben. • Jedem Minister sind (auf Bundesebene) i. d. R. ein oder zwei parlamentarische Staatssekretäre zugeordnet, die den Minister bei der Erfüllung der Regierungsaufgaben insbesondere hinsichtlich der Verbindung zum Bundestag und Bundesrat unterstützen und hier auch vertreten. Auch die parlamentarischen Staatssekretäre sind keine Beamten, sondern es handelt sich, wie der Name schon sagt, um Mitglieder des Parlaments. Mit dem Rücktritt des Ministers scheiden auch sie aus. • An der Spitze jedes Ministeriums stehen ein oder mehrere beamtete Staatssekretäre, die den Minister nach innen in der Leitung der Ressorts unterstützen und als Behördenchefs die Dienstvorgesetzten der Mitarbeiter sind. Sie sind „politische Beamte“ (siehe 4.4.1) • Die Ministerien gliedern sich in Abteilungen, Unterabteilungen und Referate. Diese werden von Ministerialdirektoren, Ministerialdirigenten sowie in den Referaten von Ministerialräten geleitet.
4.2 Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation
201
• Als Stabseinrichtungen für die Leitung gibt es Ministerbüros mit persönlichen Referenten und Pressestellen, gelegentlich auch Stäbe oder Projektgruppen für besondere Aufgaben (etwa in der 13. Legislaturperiode im BMI die „Stabstelle Moderner Staat – Moderne Verwaltung“). Die zentralen Merkmale der Aufbau- und auch Ablauforganisation der Bundesministerien, der hierarchische Aufbau, die Art und Weise der Aufgabenerledigung und insbesondere auch die Formen der internen Koordination und der Kontakte nach außen sind in der GGO, der „Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien“ (BMI 2011) festgelegt, die es seit der Weimarer Republik gibt, und die zwar verschiedentlich vereinfacht und abgespeckt wurde, aber die klassische bürokratische Ablauforganisation nicht infrage stellt. Auf den ersten Blick weisen Ministerien damit alle Merkmale einer klassischen bürokratischen Organisation auf, insbesondere strikte Arbeitsteilung, hierarchische Kommunikation in einem Einliniensystem, Professionalisierung und klare Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit durch Aktenmäßigkeit und Schriftlichkeit. Die Basiseinheit der Ministerien, in denen sämtliche Aufgaben zunächst wahrgenommen werden, sind die Referate. Sie gelten daher als „Arbeitstiere“ der Ministerialverwaltung. Die erste umfassende Untersuchung über die deutsche Ministerialverwaltung wurde Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts von der „Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform“ vorgenommen (vgl. 5.2.1)61. Die vorherrschende Programmformulierung in den Ministerien wurde von Mayntz/Scharpf dabei als „reaktive Politik“ kritisiert, die vor allem heteronom, d. h. von äußeren Einflüssen und durch bürokratische Strukturen beeinflusst und daher in ihrer Reichweite und Zielsetzung als begrenzt, kurzfristig und umweltanpassend zu charakterisieren sei. Demgegenüber formulierten sie den Anspruch einer „aktiven Politik“, d. h. einer politik- und leitungsbestimmten Programmformulierung, die umfassende, längerfristige und umweltverändernde Politikinhalte unterstützen sollte. Gefordert wurde u. a. die Einrichtung von Planungsstäben und eine Reduzierung der Vielzahl von Referaten, insbesondere von sogenannten „Kleinstreferaten“ mit nur wenigen Mitarbeitern, weil eine übergroße Spezialisierung übergreifende Problemsichten eher erschwert und den Mechanismen der selektiven Perzeption und negativen Koordination Vorschub leistet. Von den von der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform vorgeschlagenen Veränderungen der klassisch-bürokratischen Strukturen wurden nur wenige direkt umgesetzt (vgl. Müller 1977), aber dennoch 61 Die umfassendste Studie, die im Gefolge der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform entstand, liegt leider nur auf Englisch vor, Mayntz/Scharpf 1975, siehe auf Deutsch vor allem dies.1973. 201
Spezialisierung übergreifende Problemsichten eher erschwert und den Mechanismen der selektiven Perzeption und negativen Koordination Vorschub leistet. Von den von der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform vorgeschlagenen Veränderungen der klassisch202 4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen bürokratischen Strukturen wurden nur wenige direkt umgesetzt (vgl. Müller 1977), aber dennoch hat sich die deutsche Ministerialbürokratie seit dieser Zeit verändert, insbesondere ist die sich Ministerialbürokratie „politischer“ geworden (vgl. auch 4.4). insbesondere hat die deutsche Ministerialbürokratie seit dieser Zeit verändert, Insgesamt verfügen die Bundesministerien über (vgl. gut 1000 ca. 240 Unterabteilunist die Ministerialbürokratie „politischer“ geworden auchReferate, 4.4). genInsgesamt und 110 Abteilungen. Zahlen sind seit 1980 stabil, obwohl die Zahl verfügen die Diese Bundesministerien über gutüberraschend 1000 Referate, ca. 240 der Ministerien inund diesem Zeitraum vonDiese ca. 20Zahlen auf 13sind reduziert wurde (siehe im Detail die inUnterabteilungen 110 Abteilungen. seit 1980 überraschend stabil, obwohl die Zahl derLangzeitstudie Ministerien in zur diesem Zeitraumder vonStrukturen ca. 20 auf 13 ternational vergleichende Entwicklung derreMinisterialverduziert wurde (siehe im Detail die international vergleichende Langzeitstudie zur waltung in fünf Ländern seit 1980, Fleischer et.al. 2018 und Bertels/Schulze-Gabrechten Entwicklung der Strukturen der Ministerialverwaltung in fünf Ländern seit 1980, 2020). Fleischer et.al. 2018 und Bertels/Schulze-Gabrechten 2020). Abbildung 47:
Aufbau eines Ministeriums Leitungsbereich/ Stabstelle
Minister/In
Parlament. Staatssekretär/In
Staatssekretär/In
Abteilung 1
Abteilung 2
Unterabteilung 11
Unterabteilung 12
Referat 111
Referat 121
Referat 112
Referat 122
Abteilung 3
Abteilung 4
Referat 113 Referat 114
Abb. 47 Aufbau eines Ministeriums
30
Quelle: eigene Darstellung
Zu den gemeinsamen Organisationsvorgaben der GGO gehören neben der Definition der organisatorischen Kernelemente der Bundesministerien, also der Referate, Unterabteilungen und Abteilungen aber auch eine Reihe von „besonderen Organisationsformen“ (BMI 2011, §10), z. B.:
4.2 Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation
203
• Organisationseinheiten mit Stabsfunktion, vor allem zur Unterstützung der Leitung; • Projektgruppen für „zeitlich befristete komplexe Aufgaben, die einen übergreifenden Personaleinsatz erfordern“; • Beauftragte der Bundesregierung, die Bundesbeauftragten sowie Koordinatorinnen und Koordinatoren der Bundesregierung. Der Anteil dieser weiteren Einheiten nimmt im Zeitverlauf deutlich zu (vgl. im Detail Fleischer et.al. 2018, S. 32ff). Während sie 1980 lediglich ca. 7 % der Einheiten in der Ministerialverwaltung auf Bundesebene ausmachen, liegt ihr Anteil 2015 bei 18 %. Insbesondere ab 1995 ist ein deutlicher Anstieg erkennbar. Vor allem der strukturelle Ausbau der Leitungsbereiche ist dabei bemerkenswert. Während Anfang der achtziger Jahre „nur drei bis maximal sechs Bundesministerien derartige Einheiten mit organisatorischem Unterbau besaßen und die Mehrheit der Ministerien stattdessen nur singuläre Referate auf Leitungsebene organisierte, ist inzwischen in jedem Ressort eine solche Leitungseinheit mit untergeordneten Referaten eingerichtet und als Standardorganisationsformat etabliert“ (Fleischer et.al. 2018, S. 39, siehe im Detail zu dieser Entwicklung auch Hustedt 2013, S. 263f.).
Es geht bei diesen Einheiten vor allem um die direkte politische Beratung der Minister, aber auch um Kommunikation und Pressearbeit, Koordination und längerfristige Planung. Auch wenn sich die schon von der „Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform“ vorgeschlagenen umfassenden Planungsstäbe nicht durchgesetzt haben, ist also die steigende Bedeutung von Stäben vor allem zur direkten Unterstützung des Ministers oder für begrenzte besondere Aufgaben unverkennbar. Dabei dürfen die durch Stäbe hervorgerufenen Konflikte in Organisationen nicht unterschätzt werden. Überspitzt gesagt sehen Stäbe Linienorganisationen als „Fachidioten“, die nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, während wiederum die Fachleute in der Linie den Stäben vorwerfen, sie würden sich kontinuierlich besserwisserisch in Angelegenheiten einmischen, in denen sie über keinerlei Kompetenz verfügten. Aus diesen Gründen sind auch andere Organisationsformen, etwa eine professionell-teamartige Organisation mit einer weniger starren Festlegung des Aufgabenund Verantwortungsbereichs einzelner Mitarbeiter und einer eher netzwerkartigen Kommunikations- und Kontrollstruktur, z. B. in Projektgruppen, in der klassischen deutschen Ministerialbürokratie immer noch selten. Das gleiche gilt für Formen der Matrix- oder Mehrlinienorganisation, in denen Einheiten gleichzeitig zweien oder sogar mehreren Einheiten untergeordnet werden. Solche Organisationsformen 203
204
4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
sind nicht ausgeschlossen, aber sie sind der klassischen bürokratischen Einlinienorganisation mit eindeutigen Kommunikations- und Kontrollstrukturen fremd. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass es zunehmend mehr strukturelle Flexibilität in der deutschen Ministerialverwaltung gibt, als normalerweise angenommen wird, und die Vielfalt dieser Organisationseinheiten beständig wächst.
4.2.1.2 Bonn-Berlin Eine Besonderheit der Ministerialverwaltung des Bundes ist schließlich der doppelte Regierungssitz in Berlin und Bonn (vgl. Jann/Wewer 1998; Hustedt 2015 m. w. A.). Dieser ist eine Folge des Beschlusses des deutschen Bundestages vom Juni 1991 für Berlin als Bundeshauptstadt62 und für Bonn als Bundesstadt. Die wichtigsten Entscheidungen in diesem Zusammenhang, nämlich die Festlegung des sog. Kombinationsmodells mit Bundesministerien sowohl in Berlin wie in Bonn und der Beschluss, welche Bundesministerien mittelfristig nach Berlin gehen und welche in Bonn verbleiben sollten, wurden bereits im gleichen Jahr im Bundeskabinett gefasst und waren durch politische Kompromisse mit der beteiligten Region (Bonn, NRW) und den Beschäftigten des Bundes geprägt. Allerdings dauerte es bis zum April 1994, bis diese Eckpunkte im sog. Berlin/ Bonn-Gesetz festgeschrieben wurden. Dazu gehören die Sicherstellung einer „dauerhaften und fairen Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn“, die Ansiedlung des „Kernbereichs der Regierungsfunktionen“ in Berlin, „Erhalt und Förderung politischer Funktionen“ in Bonn in den Politikbereichen Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie, Telekommunikation, Umwelt und Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Entwicklungspolitik sowie Verteidigung, Kompensation für Bonn und für die Mitarbeiter in Bonn, Bundesministerien in beiden Städten, Dienstsitze aller Ministerien in beiden Städten, Bewahrung des „größten Teils der Arbeitsplätze der Bundesministerien in der Bundesstadt Bonn“. Bereits 1992 hatte das Bundeskabinett beschlossen und dem Bundestag mitgeteilt, dass etwa zwei Drittel der Arbeitsplätze der Ministerien in Bonn verbleiben sollten. Gleichzeitig sollten alle Ministerien Dienstsitze in beiden Städten unterhalten, wobei die Berliner Dienstsitze der Bonn-Ministerien etwa 10 % des Personalbestandes der Ministerien umfassen sollten. Diese Festschreibungen des Regierungsumzuges, insbesondere das sog. „Kombinationsmodell“, wurden von Beginn an kritisiert, weil es u. a. zu einer erschwerten Koordination und Kommunikation zwischen 62 Seit dem 1.9.2006 ist die Hauptstadt Berlin im GG in Art. 22 erwähnt, woraus eine finanzielle Mitverantwortung des Bundes für alles, was mit der Hauptstadtfunktion verbunden ist, erwächst.
4.2 Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation
205
und sogar innerhalb der Ministerien, zu suboptimaler Kommunikation zwischen Parlament und Regierung, zu einer Duplikation von Funktionen in Berlin und Bonn, zu umfangreicher, nicht notwendiger Reisetätigkeit, zu größerer Distanz zwischen politischer Führung und Mitarbeitern, zu einer Zweiklassengesellschaft wichtigerer (Berlin-) und unwichtigerer (Bonn-)Ministerien und schließlich auf längere Sicht zur „Rutschbahn“ sämtlicher Ministerien von Bonn nach Berlin führen werde (vgl. Jann 1997). Nachdem der Regierungsumzug im Sommer 1999 durchgeführt wurde ist es tatsächlich zu einer schnellen Verlagerung aller wichtigen Regierungsfunktionen nach Berlin gekommen (ausführlich Hustedt 2015). Von Beginn an haben Ressortchefs der sog. Bonn-Ministerien erklärt, dass die vorgesehenen 10 % Beschäftigte in Berlin nicht ausreichen und haben begonnen, wichtige Teile der Ministerien nach Berlin zu verlagern. Derzeit haben noch sechs Ministerien ihren ersten Dienstsitz in Bonn (Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU), Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)), dabei befinden sich jeweils noch etwa 80 % der Planstellen dieser Ministerien in Bonn (Verteidigung 90 %). Insgesamt waren am Stichtag 31.12.2015, für den die letzten offiziellen Zahlen vorliegen, 12.654 (64,3 %) Mitarbeiter/-innen in Berlin und 7.030 (35,7 %) in Bonn beschäftigt. Damit ist die Festlegung des Gesetzes, dass „insgesamt der größte Teil der Arbeitsplätze der Bundesministerien in der Bundesstadt Bonn erhalten bleibt“ (§4, Abs. 4) schon lange obsolet. Selbst der offizielle Bericht der „Beauftragten der Bundesregierung für den Berlin-Umzug“ (BMUB 2017, S. 4f.) stellt fest: „In der Vergangenheit wurden aus verschiedenen Gründen zunehmend Ministeriumsarbeitsplätze von Bonn nach Berlin verlagert“, und dass „die Arbeitsteilung sowohl den fachlichen als auch den persönlichen Austausch innerhalb der jeweiligen Ressorts erschwert“. Insgesamt gibt es daher regelmäßig Forderungen, diese Doppelstrukturen aufzulösen und sämtliche Ministerien nach Berlin zu verlagern, die aber bisher aus Rücksicht auf die Region Bonn nicht aufgegriffen wurden – obwohl es im Jahr 2015 ca. 37.300 Arbeitsplätze in Einrichtungen des Bundes in der Region Bonn gab, gegenüber ca. 35.100 im Jahr 2020, und Bonn im Jahresdurchschnitt 2014 mit 99.492 Euro je Erwerbstätigen das höchste BIP in NRW hatte (ebd.).
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206
4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
4.2.2 Organisation der Kommunalverwaltung Kreise und Gemeinden verfügen im Rahmen der landesrechtlichen Bestimmungen über die Organisationshoheit in ihrem Gebiet, d. h. sie verfügen über das Recht auf eigenverantwortliche Gestaltung ihrer internen Organisation. Dies umfasst sowohl die Wahl der Organe, die Organisation der gemeindlichen eigenen Verwaltung und die Regelung der „inneren Verfassung““ der Gemeinde durch Erlass der Hauptsatzung und der Geschäftsordnung. Die Organisationsgewalt über die gemeindliche Verwaltung gilt sowohl für Selbstverwaltungsaufgaben als auch für Auftragsangelegenheiten. Der direkt gewählte hauptamtliche Bürgermeister bzw. der Landrat ist als Verwaltungschef verantwortlich für die Leitung und Verteilung des Geschäftsgangs der gesamten Verwaltung und er bereitet die Beschlüsse der Gemeindevertretung, der Bezirksvertretungen und der Ausschüsse vor. Er ist Dienstvorgesetzter der Wahlbeamten, Beamten, Angestellten und Arbeiter.63 Der Bürgermeister bzw. Landrat ist kommunaler Wahlbeamter64. In allen Kreisverwaltungen und ab einer bestimmten Größenordnung in den Städten und Gemeinden gibt es hauptamtliche Beigeordnete (ansonsten ehrenamtliche). Diese werden von der Gemeindevertretung gewählt, sind ebenfalls kommunale Wahlbeamte auf Zeit (meistens acht Jahre) und für die politische Leitung eines Geschäftsbereichs zuständig. Bemerkenswert ist, dass sie i. d. R. nicht nach dem Prinzip „Mehrheit vs. Minderheit“ gewählt werden, sondern dass alle wichtigen Parteien und anderen Gruppen in den Gemeinderäten beteiligt werden und so, je nach ihrer Stärke, in der politischen Führung der lokalen Verwaltungen vertreten sind. In einigen Bundesländern ist diese Proporzwahl sogar in den gesetzlichen Regelungen für die Kommunalverwaltung vorgeschrieben (z. B. in Baden-Württemberg und Sachsen), aber selbst, wenn nicht vorgeschrieben, ist diese Praxis weit verbreitet (vgl. Schleer 2014). Obwohl die Beigeordneten von der Gemeindevertretung gewählt sind, besitzt der Bürgermeister allerdings ein Weisungsrecht gegenüber den Beigeordneten. Der Bürgermeister verfügt über das Organisationsrecht, in das die Gemeindevertretung nur in gesetzlich geregelten Ausnahmefällen eingreifen darf. Gleiches gilt auch in den meisten Bundesländern für die Regelung der Geschäftsbereiche 63 Disziplinarvorgesetzte ist allerdings die Aufsichtsbehörde. 64 Gegenüber dem früheren ehrenamtlichen Bürgermeister, der (in NRW) in Großstädten eine Aufwandsentschädigung von ca. 30.000 Euro erhielt, verfügt der hauptamtliche Bürgermeister nun über ein jährliches Einkommen zwischen 90.000 und 170.000 Euro je nach Gemeindegröße (B2 bis B11). Allerdings liegt zum Vergleich dazu das Einkommen des Vorstandssprechers von städtischen Versorgungsunternehmen in Großstädten mitunter bei 300.000 Euro.
4.2 Bürokratie in Deutschland: Strukturen der Aufbauorganisation
Abbildung 48:
207
Verwaltungsgliederungsplan der KGST
7
Abb. 48 Verwaltungsgliederungsplan der KGST65
Wie unschwer zu erkennen, ist auch die Kommunalverwaltung hochgradig arbeit
65 In kleineren es nicht so starke nisiertKommunen und starkgibt hierarchisiert. DieAusdifferenzierungen. zentrale organisatorische Gliederungsgröße i 207 7
In kleineren Kommunen gibt es nicht so starke Ausdifferenzierungen.
208
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der Beigeordneten. Der Bürgermeister kann selbstständig einen Geschäfts- und Organisationsverteilungsplan erlassen und durch Einzelanweisungen die Geschäfte auf die Verwaltungsmitarbeiter verteilen. Zudem verfügt er über eine Beanstandungspflicht, wenn er der Meinung ist, dass gegen geltendes Recht verstoßen wird. Hier gibt es eine aufschiebende Wirkung und die Aufsichtsbehörde entscheidet. Der hauptamtliche Bürgermeister hat weiterhin ein Widerspruchsrecht mit aufschiebender Wirkung gegenüber Gemeinderatsbeschlüssen, die, seiner Meinung nach, das Wohl der Gemeinde gefährden. Dieser Beschluss muss dann noch einmal im Rat behandelt werden. Ein weiterer Widerspruch ist unzulässig. Auch bei der Darstellung der inneren Organisation der Gemeinden kann zwischen der institutionellen Organisation, das heißt dem Aufbau der Verwaltung, und der funktionellen Organisation, das heißt dem Ablauf des Verwaltungshandelns, unterschieden werden. Die Aufbauorganisation in Kommunalverwaltungen orientierte sich jahrzehntelang weitgehend einheitlich in Gemeinden aller Größenklassen und Ländern an dem schon in den fünfziger Jahren entwickelten, aber mehrfach neueren Entwicklungen angepassten Verwaltungsgliederungsplan der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt). Wie unschwer zu erkennen, ist auch die Kommunalverwaltung hochgradig arbeitsteilig organisiert und stark hierarchisiert. Die zentrale organisatorische Gliederungsgröße ist das Amt. Die Ämter sind die den Vollzug der kommunalen Aufgaben tragenden Organisationseinheiten, die nach außen hin selbstständig in Erscheinung treten. Die Amtsleiter haben die Fach- und Dienstaufsicht gegenüber ihren Mitarbeitern und verfügen damit über erhebliche Machtpotenziale. Der Gliederungsplan ordnet die Ämter acht Aufgabenhauptgruppen zu. Diese unter fachlichen Gesichtspunkten gebildete Systematik bildet die Basis für den organisatorischen Aufbau der Verwaltung. Unter diesen Hauptaufgabengruppen werden die Ämter der Verwaltung nach Zuständigkeit aufgeteilt, wobei ihnen zweistellige arabische Zahlen zugewiesen werden. Die Ämter sind dann noch weiter aufgegliedert in Abteilungen (dreistellig) und Sachgebiete (vierstellig). Insgesamt sind folgende Arbeitseinheiten von unten nach oben zu unterscheiden: Stelle, Sachgebiet, Abteilung, Amt, Dezernat. Eine Ausnahme von der fachlichen Gliederung bilden die Querschnittsämter, deren Aufgaben darin bestehen, das Funktionieren der Verwaltung sicherzustellen. Die wichtigsten Querschnittsämter sind das Hauptamt, das Personalamt und die Kämmerei. Einzelne Abweichungen von diesem Gliederungsplan sind in der Regel ortsbedingten Umständen geschuldet, insbesondere in den kreisfreien Städten sind die Abweichungen jedoch marginal. Die Zahl der Ämter hängt vor allem von der Größe der Stadtverwaltung ab. Der Gliederungsplan sagt aber noch nichts über die
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politischen und administrativen Zuständigkeiten innerhalb der Verwaltung aus. Hier ist in der Regel der Dezernatsverteilungsplan aufschlussreicher. Dieser ordnet einzelne Verwaltungsbereiche den jeweils zuständigen Beigeordneten zu. Dezernate sind also Geschäftsbereiche der Beigeordneten, die von der Gemeindevertretung für eine bestimmte Zeit (z. B. acht Jahre) gewählt sind. Über die Zahl der Beigeordneten und den Dezernatsverteilungsplan entscheidet ebenfalls die Gemeindevertretung innerhalb des von der Gemeindeordnung vorgegebenen Rahmens. Der Zuschnitt und die Anzahl der Dezernate sind deshalb sowohl politisch motiviert wie an Kenntnissen der Dezernenten orientiert. Die Dezernenten sind die direkten Vorgesetzten der Amtsleiter. In den letzten 25 Jahren hat es in einigen Kommunen Veränderungen im Zuge der Verwaltungsreformen nach dem New Public Management-Modell gegeben, so dass man nicht mehr flächendeckend von der Gültigkeit des KGSt-Organisationsmodells und der eben dargestellten Hierarchieebenen ausgehen kann. Vor allem in vielen Mittel- und Großstädten sind im Zuge des Neuen Steuerungsmodells (NSM) neue Organisationsformen geschaffen worden. So wird in einer repräsentativen Umfrage unter den deutschen Kommunen über 10.000 Einwohner aus dem Jahr 2005 (vgl. Bogumil/Grohs u. a. 2007 sowie Kapitel 5.2.3) im Bereich der Umgestaltung von Organisationsstrukturen die Einführung von Fachbereichsstrukturen mit einem Anteil von fast 44 % als der Modernisierungsschritt genannt, der umgesetzt wurde.66 Seit dieser Zeit gibt es jedoch keine weiteren repräsentativen Erkenntnisse, in welchem genauen Ausmaß es zu Veränderungen der Aufbauorganisation gekommen ist. Ein neues einheitliches Aufbaumodell ist ebenso nicht erkennbar. Die funktionelle Organisation, mithin der Ablauf des Verwaltungshandelns, regeln die zentrale Geschäftsordnung und allgemeine Geschäftsanweisungen. Die Regelungen beziehen sich auf Fragen der Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen, den Verkehr mit der Bevölkerung und die Organisation des Geschäftsganges (Post, Eingangsbearbeitung, Schriftverkehr, Zeichnungsbefugnis, Aktenführung. Neben der Aufgabenwahrnehmung in der „Kernverwaltung“ werden kommunale Aufgaben auch in anderen Organisationsformen vorgenommen, also in Regiebetrieben, kommunalen Eigenbetrieben und verschiedenen privatrechtlichen Formen. Zudem gibt es als Organisationsform für interkommunale Zusammenarbeit die Zweckverbände oder höheren Kommunalverbände. 66 Beispielhaft kann dieses neue Vorgehen an der Stadt Arnsberg dargestellt werden. Hier wurden aus vier Dezernaten, 22 Ämtern und 64 Abteilungen im neuen Organisationsplan sieben Fachbereiche mit 32 Untereinheiten, also aus 90 Einheiten wurden somit knapp 40 (vgl. ausführlich Bogumil/Holtkamp 2013, S. 72ff.). Dadurch sollen die enormen Abstimmungsnotwendigkeiten in einer sehr spezialisierten Verwaltung vermieden werden. 209
210
4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
Zusammenfassend ist trotz aller Reformen der letzten Jahre davon auszugehen, dass sowohl im Bereich der Ministerial- wie auch abgeschwächt der Kommunalverwaltung noch immer die klassischen bürokratischen Merkmale der weitgehenden Arbeitsteilung, der hierarchischen Kommunikation und Kontrolle sowie der Aktenmäßigkeit und Professionalität gelten und dass dies auch für den weitaus größten Teil der diesen Behörden nachgeordneten Organisationen gilt.
4.2.3 Begriffe der Aufbauorganisation Abschließend soll kurz noch einmal die Begrifflichkeit der unterschiedlichen Aufbauorganisationen zusammengefasst werden, denn entgegen der Vorstellung, in der juristisch geprägten Verwaltung seien Begriffe eindeutig besetzt, herrscht einige Verwirrung in der deutschen Verwaltungssprache. „Abteilung“ ist die oberste Organisationsebene in Ministerien, aber eine eher untergeordnete Ebene in der Kommunalverwaltung. „Dezernate“ in Bezirksregierungen entsprechen Referaten auf Ministerialebene. Vor allem aber die Bezeichnung „Amt“ verfügt in der Verwaltung über noch viel mehr sehr unterschiedliche Bedeutungen (das Verwaltungslexikon Eichhorn u. a. 2003 enthält auf über sechs Seiten beinahe 50 Stichworte zu diesem Thema). Z. B. ist ein Amt • nach dem Dezernat die oberste Organisationsebene in der Kommunalverwaltung (z. B. Einwohnermeldeamt, Rechtsamt), • eine Verwaltungsgemeinschaft von Gemeinden (z. B. in Schleswig-Holstein und Brandenburg), • im Dienstrecht die Bezeichnung der Übertragung einer funktionsgebundenen Aufgabe an eine Person, die dann ein Amt innehat und eine Amtsbezeichnung führen darf (z. B. Präsident des Umweltbundesamtes, Staatssekretär, Abteilungsleiter, Professor), und schließlich • die Bezeichnung bestimmter staatlicher Behörden (sowohl auf der oberen Ebene, etwa Umweltbundesamt, Bundeskriminalamt, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, wie auf der unteren Ebene, Amt für Agrarordnung, Gesundheitsamt oder Finanzamt). Wie diese verschiedenen Bezeichnungen systematisch vergleichbar sind, verdeutlicht die folgende Abbildung:
4.3 Verfahren: Entscheidungen in der Verwaltung
oberste politische Leitung politische Leitung des einzelnen Ressorts administrative Leitung horizontale Differenzierung nach vertikale Differenzierung nach
211
Ministerium (Bund und Land) Regierungschef (Bundeskanzler, Ministerpräsident) Minister (kein Beamter) (beamteter) Staatssekretär
Kommune (Gemeinde und Kreis) Verwaltungschef (Bürgermeister, Landrat) Beigeordneter, Dezernent (Wahlbeamte) Beigeordneter, Dezernent (Wahlbeamte)
Ressort
Dezernat
• Abteilung • Unterabteilung • Referat
• Amt • Abteilung • Sachgebiet
Abb. 49 Aufbauorganisation in Ministerien und Kommunen Quelle: eigene Darstellung
4.3
Verfahren: Entscheidungen in der Verwaltung
4.3
Verfahren: Entscheidungen in der Verwaltung
Wenn man die Bedeutung interner Strukturen und Prozesse für das Handeln der Verwaltung analysieren und verstehen will, ist es hilfreich, mit Entscheidungsprozessen zu beginnen. Tatsächlich produzieren Verwaltungen vor allem Entscheidungen: „In einem sehr allgemeinen Sinne können Verwaltungen begriffen werden als soziale Systeme, die bindende Entscheidungen produzieren, und öffentliche Verwaltungen als solche, deren Entscheidungen gesamtgesellschaftlich verbindliche Wirkungen haben“ (Luhmann 1971, S. 165).
Zur Darstellung bietet sich wiederum eine Orientierung an dem einfachen Phasen- oder Zyklenmodell (Policy Cycle) der Politikfeld- oder Policy-Forschung an, das die Phasen der Politikformulierung (policy formation), Politikumsetzung oder -durchführung (policy implementation) sowie Bewertung (evaluation) und ggf. Beendigung (termination) unterscheidet (vgl. Kapitel 2.1; Jann/Wegrich 2014). Ein zentrales Ergebnis der empirischen Verwaltungsforschung besteht darin, gezeigt zu haben, dass öffentliche Verwaltungen oder allgemeiner öffentliche Organisationen, in allen diesen Phasen eine entscheidende Rolle spielen:
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
• im Bereich der Politikformulierung z. B. bei der Vorbereitung von Gesetzen, Regierungsprogrammen, Plänen und im Budgetprozess, aber auch schon in der Phase des Agenda Settings und der Problemdefinition, • während der Implementationsphase, da öffentliche Organisationen nur sehr unvollständig durch Gesetze gesteuert werden können (Grenzen der legislativen Programmsteuerung) und daher bei der Umsetzung über erhebliche Handlungsspielräume verfügen, • und schließlich auch bei der Evaluation politischer Programme, weil es in erster Linie der Verwaltungsapparat ist, der in der Lage ist, entsprechende Informationen zu generieren und zu analysieren. Politikformulierung und -durchführung können so als kontinuierlicher Entscheidungs- und Auswahlprozess verstanden werden, d. h. in und mit Verwaltungen wird entschieden über die Definition sozialer Wirklichkeit (was ist ein/das Problem?), über politische Ziele und Prioritäten, über Sinn und Zweck, Nutzen und Kosten alternativer Maßnahmen und Programme, über die Rechtsform politischer Programme, ihre Finanzierung, über Zweck- oder Zielprogramme, über jeden einzelnen Schritt der Implementation und schließlich auch über den Erfolg oder Misserfolg politischer Programme oder administrativer Maßnahmen. In jeder Phase des Policy-Cycle wird entschieden, dabei sind nicht einzelne Entscheidungen, der einzelne Auswahlakt das essenzielle Element, sondern der gesamte Entscheidungsprozess determiniert das Ergebnis, den Output. Im Folgenden soll es darum gehen, einige empirische und theoretische Erkenntnisse der Verwaltungs- und Organisationswissenschaft über diese Prozesse kurz zusammenzufassen. Es soll gefragt werden, wie tatsächlich entschieden wird und welche Bedeutung verwaltungsinterne Strukturen und Prozesse für den Policy-Output des politisch-administrativen Systems haben, also für Politikinhalte und deren Umsetzung.
4.3.1 Politikformulierung und Planung In der Phase des Agenda Settings, der Problemdefinition und der Politikformulierung geht es im Prinzip um Entscheidungen über zukünftige Aktivitäten: Welche Probleme sollen durch welche Maßnahmen, Instrumente und Programme zukünftig wie bearbeitet werden? Dies ist das klassische Problem der Planung.67 67 In der Frühphase der westdeutschen Verwaltungsforschung wurden daher Probleme der Politikformulierung und -umsetzung fast ausschließlich unter der Überschrift
4.3 Verfahren: Entscheidungen in der Verwaltung
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Planung hat umgangssprachlich und auch wissenschaftlich verschiedene Bedeutungen, aber im Kern geht es jeweils um einen Entwurf, der den Weg zu einem Ziel ebnet (nach lateinisch planum = eben). Kern ist also die Sicherung vor ungewissen Zukünften durch eine rationale, d. h. Zweck-Mittel-orientierte Zukunftsorientierung. Es geht um „vorausschauendes Setzen von Zielen und gedankliches Vorwegnehmen der ihrer Verwirklichung erforderlichen Verhaltensweisen“, oder in der Diktion von Luhmann um „Entscheidungen über künftige Entscheidungen“. Nach einer anderen klassischen Definition von Frido Wagener ist Planung der Übergang vom Zufall zum Irrtum. Tatsächlich gehört Planung zum Standardrepertoire der öffentlichen Verwaltung in Deutschland.
4.3.1.1 Planung in der Bundesrepublik Deutschland In einer groben Systematisierung kann man drei verbreitete öffentliche Planungsarten unterscheiden: • In der Raumplanung geht es um Festlegungen der zukünftigen Nutzung des knappen Gutes „Raum“, also von Flächen oder Grundstücken, z. B. durch kommunale Bauleitplanung und Flächennutzungsplanung, aber auch durch regionale Raumordnungspläne oder etwa durch die Festlegung von Naturschutzgebieten. • Bei der Finanzplanung geht es um Festlegungen, für welche öffentlichen Aktivitäten wann wie viel Geld bereitgestellt werden soll und kann. Das zentrale Instrument ist hier das jährliche Budget (auf allen Ebenen der Verwaltung und nicht zuletzt für jede einzelne öffentliche Organisation), aber es gibt zumindest auch Versuche längerfristiger Finanzplanungen, etwa „mifrifi“ (mittelfristige Finanzplanung). • Daneben gibt es in fast allen Sektoren und Ressorts der Verwaltung Fachplanungen, also etwa Hochschulentwicklungspläne, Krankenhausbedarfspläne, Seniorenpläne, Frauenförderpläne. Offensichtlich wäre es sinnvoll und hilfreich, wenn alle diese Pläne – im Sinne positiver Koordination – kontinuierlich aufeinander abgestimmt und miteinander koordiniert wären. Dies ist insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren unter der Überschrift integrierte Entwicklungsplanung diskutiert und versucht worden. Die Erfahrungen mit diesem Instrument sind allerdings eher ernüchternd. Eine wirkliche integrierte Entwicklungsplanung, in der alle relevanten Raum-, Finanz- und Fachplanungen für einen längeren Zeitraum aufeinander abgestimmt werden, gibt es allenfalls für kleinere Entwicklungsgebiete. Ansonsten überfordert „Politische Planung“ behandelt, siehe etwa Ronge/Schmieg 1973 oder Naschold/Väth 1973. 213
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
eine solche Planung sowohl die Informations- wie die Konfliktlösungskapazitäten unseres politisch-administrativen Systems (siehe oben unter 4.1.2 Koordination). Eine zweite Systematisierung unterscheidet Planungsarten nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit, also • Aufgabenplanung, in der allgemeine Aufgaben einer Organisation oder eines Politikfeldes definiert werden (etwa das Regierungsprogramm zu Beginn einer Legislaturperiode); • Programmplanung, bei der bestimmte umfangreiche staatliche Vorhaben festgelegt werden (etwa im Bundesverkehrswegeplan); • Projektplanung, in der die Durchführung spezifischer Projekte programmiert wird (etwa die Trassierung einer Autobahn oder der Ausbau bestimmter Forschungsschwerpunkte), und schließlich • Maßnahmenplanung, bei der eine einzelne Maßnahme im Detail „durchgeplant“ wird (etwa der Bau einer einzelnen Brücke oder die Festlegung eines bestimmten Schutzgebietes). Im Prinzip kann man öffentliche Planungen also nach dem Grad der Konkretisierung von materiellen (Zielen), zeitlichen, räumlichen und finanziellen Festlegungen unterscheiden. Für die Verwaltungsforschung ist in diesem Zusammenhang relevant, wie diese Pläne und Entscheidungen zu Stande kommen und durch welche verwaltungsinternen und -externen Strukturen und Prozesse sie beeinflusst werden.
4.3.1.2 Rationale Entscheidungstheorien und begrenzte Rationalität Die klassische Entscheidungstheorie hat ein klares normatives Bild von rationalen (Planungs-) Entscheidungen, die etwa nach folgendem Schema ablaufen sollten: • • • •
Definition und Analyse der zu lösenden Probleme, Definition der zu erreichenden Ziele, Suche nach möglichen Alternativen der Zielerreichung (Mittel-Zweck-Analyse), Analyse der jeweiligen Kosten und Nutzen verschiedener Alternativen (einschließlich der wahrscheinlichen Effektivität der Problemlösung), • vergleichende Analyse der Alternativen sowie • Auswahl der besten Alternative zur Erreichung der festgelegten Ziele.
So, oder so ähnlich, sollte rational entschieden werden. Leider ist aber ein zentrales Ergebnis der modernen Organisationsforschung, dass dieses normative Modell fast immer unrealistisch ist. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das
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Konzept der „begrenzten Rationalität“, der bounded rationality des Nobelpreisträgers Herbert A. Simon (vgl. hierzu ausführlich Bogumil/Schmid 2001, Kapitel 2).
Herbert A. Simon (1916–2001) war ursprünglich Politik- und Verwaltungswissenschaftler, der aber als Ökonom berühmt wurde. Er gilt als eigentlicher Begründer der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie. 1978 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine bahnbrechende Erforschung von Entscheidungsprozessen. In der Organisationstheorie wurde er berühmt durch seine Kritik des unrealistischen Nutzenmaximierungsmodells der Mikroökonomie und sein Modell der „bounded rationality“. Eines seiner Vorbilder war Barnard, der auch das Vorwort zu Simons Dissertation „Administrative Behavior“ von 1945 schrieb. Ähnlich wie Barnard zielt Simon auf eine allgemeine Organisationstheorie, die sich primär auf Entscheidungen in Organisationen bezieht (administrative organization). Für Simon war die anwendungsorientierte Erforschung von Verwaltungssystemen nur auf der Grundlage empirischer und verhaltensorientierter Analysen von Entscheidungsprozessen möglich. Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit Organisationsproblemen war die öffentliche Verwaltung, siehe das Vorwort seiner berühmten Dissertation „Administrative Behavior“: „Diese Studie soll Handwerkszeug für die Wissenschaft von der öffentlichen Verwaltung bereitstellen. Sie ist aus der Überzeugung entstanden, dass uns in diesem Bereich noch die angemessenen sprachlichen und begrifflichen Mittel fehlen, um Wesen und Bedeutung selbst einer einfachen Verwaltungsorganisation in einer Weise zu erfassen, die als Grundlage für die wissenschaftliche Beurteilung der Tauglichkeit ihrer Struktur und Arbeitsweise dienen kann“ (Simon 1955, S. X).
Nach Simon beabsichtigen Akteure durchaus rational zu entscheiden und zu planen, können dieses Ziel aber nie erreichen, weil unser Wissen, unsere Ressourcen und unsere Kapazität, Informationen zu verarbeiten, begrenzt sind. Individuen und Organisationen haben daher Erkenntnisgrenzen, wenn es darum geht • klare Ziele zu formulieren und zu ordnen, denn unser Wissen über die Bedingungen, die die Konsequenzen von Entscheidungsalternativen beeinflussen, ist immer fragmentarisch;68
68 Die moderne Organisationstheorie hat überdies darauf aufmerksam gemacht, dass das menschliche Wissen und die menschliche Rationalität nicht nur begrenzt sind, sondern dass daher viele Handlungen nicht auf der unmittelbaren Wahrnehmung von Daten und Kausalgesetzen der realen Welt, sondern auf kulturell geformten und sozial konstruierten Überzeugungen basieren (vgl. Scharpf 2000, S. 51). Die „soziale Konstruktion der Realität“ (Berger/Luckman) ist daher von entscheidender Bedeutung. Was Akteure für wahr und real halten, bestimmt ihr Handeln. 215
216
4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
• einen Überblick über mögliche Handlungsalternativen und deren Konsequenzen zu erhalten; • Handlungsalternativen zueinander und zu Zielsetzungen zuzuordnen und zu bewerten; • zu beeinflussen oder zu kontrollieren – oder auch nur vorherzusagen –, was andere potenzielle Akteure unter unterschiedlichen Bedingungen unternehmen werden. Reale Menschen oder Organisationen sind nach Simon also keine Optimierer oder Maximierer, sondern satisficer, sie suchen nur so lange nach Alternativen, bis sie eine Lösung gefunden haben, die „gut genug“, good enough erscheint. March/Simon (1976) verdeutlichen dies an dem bekannten Stecknadelbeispiel: Auf der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen wird die Suche nach dem Auffinden der ersten Nadel abgebrochen, die ausreichend spitz ist (befriedigende Lösung), um damit zu nähen. Es wird nicht versucht, die spitzeste Nadel zu finden (optimale Lösung), da das Individuum weder weiß, ob es noch eine spitzere Nadel gibt, noch wie lange die Suche dauern würde. Was jeweils die befriedigende Lösung ist, hängt vom jeweiligen Anspruchsniveau ab, welches mit der Erfahrung der Individuen variiert. Kann ein gegebenes Anspruchsniveau über längere Zeit nicht erreicht werden, senkt der Entscheider seine Ansprüche. Dieser Zusammenhang gilt auch in umgekehrter Richtung. Man kann sein Anspruchsniveau auch erhöhen, wenn gegebene Niveaus ohne Probleme erreicht werden. Eine weitere Entscheidungshilfe neben dem satisficing ist die selektive Perzeption der Situation. Individuen und Organisationen gehen in der Regel von einer vereinfachten Definition der Situation aus, sie nehmen nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wahr (vgl. ausführlich auch Bogumil/Schmid 2002, S. 40f.).
4.3.1.3 Inkrementalismus und Durchwursteln Genau dies ist auch der Ausgangspunkt der Lehre vom Inkrementalismus oder vom „Sich-Durchwursteln“ (the science of muddling through), wie sie sich selbstironisch bezeichnet. Sie möchte in erster Linie realistisch beschreiben und erklären, wie politisch-administrative Systeme handeln und entscheiden, dabei wird zwischen den beiden Elementen Regierung und Verwaltung nicht weiter differenziert. Untersuchungsgegenstand ist die „Administration“. Politik ist nach dieser Auffassung ein kontinuierlicher Prozess der Problemlösung. Diese Aufgabe muss von der jeweiligen Administration erfüllt werden. Zentrale Fragestellung ist daher: Wie werden politische Entscheidungen getroffen und wie sollten sie sinnvollerweise getroffen werden? Ansatzpunkt der Argumentation ist auch hier die Auseinandersetzung mit einem rationalen oder synoptischen Modell der Entscheidungsfindung, wie es z. B. von Anhängern umfassender, langfristiger Planung vorgeschlagen wird. Charles E. Lindblom, der bekannteste Vertreter und „Erfinder“ der Lehre vom
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„Sich-Durchwursteln“ (vgl. Lindblom 1959, deutsch 1975 und Braybrooke/Lindblom 1972, zusammenfassend Migone/Howlett 2015, Wegrich 2015b), behauptet, dass Administrationen nicht, wie im rationalen Modell unterstellt, zunächst Ziele und Zwecke des politischen Handelns genau ermitteln und festlegen, dann sämtliche Strategien (Mittel) zur Erreichung dieser Ziele erarbeiten und schließlich die für das gesetzte Ziel beste oder geeignetste Strategie auswählen (Zweck-Mittel-Abwägung). Eine umfassende, „rationale“ Planung in diesem Sinne ist nicht nur unmöglich; es ist auch verfehlt, dieses Modell nur anzustreben. Stattdessen ist für administratives Handeln eine Strategie der unkoordinierten kleinen Schritte (disjointed incrementalism) bei der Entscheidungsfindung rational und sinnvoll (vgl. zu dieser Darstellung Böhret/Jann/Junkers/Kronenwett 1979, S. 263).
Charles E. Lindblom (geb. 1917) promovierte 1945 an der an der University of Chicago in Volkswirtschaft, anschließend wechselte er 1946 an die Yale University, wo er bei seiner Emeritierung 1980 eine Professur für Wirtschafts- und Politikwissenschaft innehatte. Wie die Arbeiten von Robert Dahl, Anthony Downs, Thomas Schelling u. a. steht auch Lindbloms Werk an der Schnittstelle zwischen den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Zum einen behandelt er Fragen der Politikwissenschaft mit dem konzeptionellen Fokus und den Methoden der Wirtschaftswissenschaften, zum anderen bringt er politikwissenschaftliche Standpunkte in die Wirtschaftswissenschaften ein. Von bahnbrechender Bedeutung ist vor allem Lindbloms 1959 veröffentlichter Aufsatz über die „Wissenschaft des Sich-Durchwurstelns“ (The Science of Muddling Through), der ihn zu einem der in den Sozialwissenschaften am häufigsten zitierten Autoren machte. Zur Blütezeit politisch-administrativer Planung und des Glaubens an durch immer bessere technische Systeme unterstützte, rationale Entscheidungssysteme zeichnet Lindblom ein völlig neues Bild politischer und administrativer Entscheidungsprozesse. Sie seien weniger als planvolle, rationale Problemlösungsaktivitäten zu verstehen, sondern vielmehr als das Ergebnis eines sich Durchwurstelns in kleinen, unkoordinierten, inkrementellen Schritten, die bestenfalls in einer schrittweisen Problemlösung mit kleinen Verbesserungen münden. Dieses Modell des „muddling through“ versteht Lindblom zum einen deskriptiv als eine Beschreibung tatsächlicher Entscheidungsprozesse, zum anderen aber auch normativ, als die einer Demokratie angemessene Entscheidungsform, da sie die schrittweise Einbindung verschiedener gesellschaftlicher Interessen erlaube.
Der Begriff der inkrementalen Politik, der sich auch im Deutschen durchgesetzt hat, bedeutet dabei nach Lindblom: • Politische oder administrative Entscheidungen orientieren sich normalerweise am Status quo und streben nur jeweils kleine Verbesserungen an (marginale Veränderungen). 217
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• Dadurch wird eine schrittweise Problemlösung (sequenzielle Problemverarbeitung) erreicht. Probleme sollen und können nicht endgültig „gelöst“ werden, sondern es wird nach einem angemessenen Fortschritt in einer vermutlich erfolgversprechenden Richtung gesucht. • Dabei werden nicht adäquate Mittel für feststehende Zwecke gesucht, sondern die Zwecke werden umgekehrt an vorhandene Mittel angepasst. Die wichtigsten Impulse für politische Entscheidungen ergeben sich nicht aus übergeordneten Zielen, sondern aus aktuellen Missständen und vorhandenen Mitteln. Inkrementale Politik ist weiterhin dadurch charakterisiert, dass sie „disjointed“, d. h. unkoordiniert abläuft. Dies bedeutet: • Problemlösung wird nicht von irgendwelchen Zentren hierarchisch kontrolliert, sondern findet unkoordiniert, durch eine Vielzahl von Entscheidungseinheiten statt, wie dies für hochgradig arbeitsteilige Organisationen typisch ist; • dadurch werden Interessen und Informationen von verschiedenen Seiten berücksichtigt; • die Beiträge dieser verschiedensten Entscheidungsträger werden durch einen Prozess der gegenseitigen Verhandlung und Anpassung (partisan mutual adjustment) zusammengebracht und ausgeglichen, bei dem keine Entscheidungseinheit andere dominieren oder unterdrücken kann (siehe oben negative Koordination). Der hier beschriebene Vorgang der politischen Entscheidungsfindung als ein Prozess der permanenten und partiellen Anpassung an veränderte Problemlagen und relevante Interessen ist nach Ansicht Lindbloms das in der politisch-administrativen Realität vorherrschende Verhalten. So wie hier beschrieben, handeln Administrationen wirklich. Das klassische Beispiel für inkrementale Entscheidungen ist der jährliche Budgetprozess, wie ihn der amerikanische Politikwissenschaftler Aaron Wildavsky in einer berühmten Studie über den Budgetprozess in den USA beschrieb (1984, zuerst 1964). Auch beim Budget wird nicht jedes Jahr wieder bei politischen Zielen und Handlungsalternativen begonnen, sondern das alte Budget ist Ausgangspunkt der politischen Verhandlungen und wird dann, je nach „partisan mutual adjustment“ marginal fortgeschrieben. Ein aktuelles Beispiel ist die Corona-Krise, in der es kontinuierliche Verhandlungen und Anpassungen zwischen verschiedenen Politikbereichen, Bund, Ländern und Gemeinden gab, und immer wieder ein ‚schrittweises‘ Vorgehen mit der Möglichkeit der Korrektur angemahnt wurde. Nach Ansicht Lindbloms ist diese Strategie der unkoordinierten kleinen Schritte des „Sich-Durchwurstelns“ nicht nur eine realistische Beschreibung politisch-ad-
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ministrativer Prozesse, sondern das für ein demokratisches System angemessene und sinnvolle Verhalten. Lindblom sieht u. a. folgende Vorteile: • Die menschliche Entscheidungsfähigkeit und Möglichkeit, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, wird nicht überfordert: „etwas ‚vernachlässigen‘, heißt etwas ‚überhaupt erst analysierbar machen‘; nach Vollständigkeit zu streben, bedeutet zuweilen, sich ein unbrauchbares Ergebnis einzuhandeln“ (Braybrooke/Lindblom 1972, S. 150). • Weil das Wissen über die Zukunft prinzipiell unsicher ist, ist die schrittweise Veränderung des Status quo der sicherste Weg, um Risiken zu vermeiden. Da Veränderungen jeweils nur geringfügig sind, können sie nach dem Prinzip des „Versuch und Irrtum“ (trial and error) vorgenommen werden. Wenn eine Entscheidung sich als falsch erweist, sie z. B. andere als die gewünschten Folgen hat, kann sie leicht wieder revidiert werden (vgl. hierzu auch Karl Poppers Begriff des piecemeal social engineering; ders. 1945, S. 139ff.). • Die durch inkrementales Vorgehen getroffenen Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie weitgehend akzeptiert werden, da sie ja nur geringfügige Änderungen vornehmen und durch den Prozess der gegenseitigen Anpassung die verschiedensten Interessen berücksichtigen. Daraus folgt aber auch, dass die Politik richtig ist, denn „Einigung auf eine bestimmte Politik ist (…) der einzige brauchbare Test für die Richtigkeit einer Politik“ (Lindblom 1975, S. 168). • Schließlich entspricht die inkrementale Politik in idealer Weise einer pluralistischen Gesellschaft. Durch die dezentralisierte Entscheidungsfindung wird eine Vielzahl der vorhandenen gesellschaftlichen Interessen berücksichtigt und somit eine gewisse Vollzähligkeit der in der Gesellschaft vorhandenen Werte erreicht. Inkrementalismus ist daher die dem Pluralismus angemessene Form der Entscheidungsfindung. Ähnlich wie im ökonomischen Marktmodell entsteht durch die marginalen und unkoordinierten Entscheidungen der isolierten Entscheidungsträger ein gesellschaftlich optimaler Zustand. Inkrementale Politik bedeutet dabei nicht, dass auf jegliche Analyse oder Planung verzichtet wird. Es geht nur darum, den Stellenwert rationaler Analyse in politisch-administrativen Entscheidungsprozessen realistisch einzuschätzen und einzuordnen. In Anlehnung an Lindblom unterscheidet Wildavsky daher zwei „reine“ Modelle, nämlich „synoptische“ und „inkrementale“ Politik (Wildavsky 1979, S. 114 ff.). Die klassische Institution synoptischer Entscheidung ist der Plan, der idealtypisch umfassende Information erfordert, die zentral und hierarchisch erhoben und aggregiert wird. Grundlage „richtiger“ Pläne ist die „richtige“ Erkenntnis und umfassende Analyse. Faktische und normative Irrtümer müssen möglichst ver219
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mieden werden, da sie in umfassenden Plänen erhebliche negative Auswirkungen haben. Das Kriterium, ob ein umfassender Plan angenommen werden sollte, ist daher, ob er „richtig“ ist, auf richtiger Erkenntnis basiert.
Institution Information Akteure Grundlage Irrtum Kriterium
„reines synoptisches Modell“ Plan umfassend zentral hierarchisch Erkenntnis Analyse Vermeidung Richtigkeit
„reines inkrementales Modell“ Markt Politik begrenzt dezentral unabhängig Verhandlung Anpassung Korrektur Übereinstimmung
Abb. 50 Modelle synoptischer und inkrementaler Politik Quelle: eigene Darstellung nach Wildavsky 1979, S. 123
Demgegenüber geht es im reinen inkrementalen Modell prinzipiell nur um begrenzte Information, die dezentral und unabhängig voneinander in vielen Einheiten erhoben und verarbeitet wird. Grundlage inkrementaler Politik sind Verhandlung und Anpassung, Irrtümer können nicht vermieden werden, es geht im Gegenteil darum, sie möglichst schnell zu machen, um sie schnell korrigieren zu können. Das Kriterium inkrementaler Politik ist die Übereinstimmung der beteiligten Akteure, und die typischen Institutionen sind sowohl der Markt wie die Politik. Wildavsky behauptet nun keinesfalls, dass politisch-administrative Entscheidungsprozesse nur und ausschließlich inkremental ablaufen oder ablaufen sollten. Aber er insistiert, dass diese Prozesse immer aus Interaktionen (Verhandlungen, Abstimmungen) und Analysen (Erkenntnis) bestehen und dass politische Interaktionen und Verhandeln nicht durch rationale Analyse und Erkenntnis ersetzt werden können und sollen. Als Ergebnis hält er eine Daumenregeln bereit: Das Verhältnis von 1/3 Analyse (Policy Analyse) und 2/3 Interaktion scheint ihm eine sinnvolle und anzustrebende Mischung bei Entscheidungen über staatliche Policies zu sein. Offenkundig gibt es in Politik und Verwaltung nicht nur inkrementelle Entscheidungen, sondern gelegentlich auch umfassende, zum Teil sehr schnelle Veränderungen von Policies. In der wissenschaftlichen Diskussion werden diese eher seltenen, aber wichtigen Umwälzungen mit dem Konzept des punctuated equlibrium beschrieben und erklärt. Der Ansatz hat allerdings ausdrücklich nicht das Ziel, inkrementelle
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Erklärungen zu verdrängen oder zu widerlegen, sondern es geht darum, besser zu verstehen, wo und warum es gelegentlich doch zu Richtungswechseln kommt. Es geht, in den Worten von Baumgartner darum „to understand the nature of policy change more generally“ (als Übersicht Baumgartner et.al. 2014, Hegelich/Knollmann 2014).
4.3.1.4 Garbage Can In der gleichen Tradition sog. „nicht-rationaler“ Entscheidungstheorien, die allerdings keineswegs behaupten, dass in Politik und Verwaltung irrational entschieden würde, sondern die die Aufmerksamkeit von normativen aber unrealistischen Modellen auf realistische Prozesse und die ihnen innewohnenden Rationalität lenken wollen, steht ein von James March und Johan P. Olsen entwickeltes Modell, das sie durchaus selbstironisch Garbage Can oder auf Deutsch Mülleimer-Modell von Entscheidungen genannt haben (zuerst Cohen/March/Olsen 1972, March/Olsen 1976, zusammenfassend Jann 2015). Ausgangspunkt sind Entscheidungs- und Lernprozesse unter den Bedingungen von Mehrdeutigkeit und Unklarheit (ambiguity). Solche Situationen sind durch beschränktes Wissen und Kontroversen sowohl über die zugrunde liegenden Probleme, die zur Lösung geeigneten Technologien und gleichzeitig durch inkonsistente oder sogar unoperationale Zielsysteme gekennzeichnet. Anhand einer klassischen, natürlich stark vereinfachenden Matrix von Thompson/Tuden kann dies verdeutlicht werden (Thompson/Tuden 1959, de Leon 1998):
Instrumente/ Technologien
sicher unsicher
klar eindeutig Berechnung Bürokratie Hierarchie Beurteilung Kollegium Profession
Ziele widersprüchlich konfliktär Verhandlung Repräsentation Abstimmung Abstimmung Netzwerk Anarchie
Abb. 51 Handeln in mehrdeutigen Situationen Quelle: eigene Darstellung nach Thompson/Tuden 1959
In Situationen, in denen sowohl über die zu erreichenden Ziele wie auch über die dafür adäquaten Instrumente und Technologien Einigkeit besteht, also wenn es
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darum geht, eine Straße zu bauen oder Wohngeld auszuzahlen, sind technokratische, bürokratische und hierarchische Entscheidungsregeln angemessen. Es gibt aber auch Situationen, in denen zwar klar ist, wie ein Problem zu lösen wäre, aber durchaus nicht, welche Ziele vorrangig verfolgt werden sollen. Ein Beispiel sind typische Verteilungsprobleme, wenn also klar ist, dass und wie eine Straße gebaut werden soll, aber umstritten ist wo? Oder wenn etwa die Gesundheitskosten gesenkt werden müssen, aber durchaus kontrovers ist, wer dafür aufkommen soll (Ärzte, Patienten, Pharmakonzerne, Krankenhäuser). Diese Probleme werden i. d. R. durch Verhandlungen gelöst, in denen die wichtigsten Akteure und Interessen repräsentiert sind. Ein klassisches Beispiel sind Entscheidungen in politischen Gremien wie Parlamenten oder Kommunalvertretungen. Wenn es keine Einigung gibt, wird am Ende abgestimmt. Eine ganz andere Situation entsteht, wenn zwar die zu erreichenden Ziele eindeutig und unkontrovers sind, allerdings unklar und kontrovers bleibt, wie diese Ziele zu erreichen wären. Das klassische Beispiel ist hier wiederum die Gesundheit, aber auch Bildung gehört dazu: Wenn wir zum Arzt gehen, wollen wir gesund werden. Wie dies zu erreichen ist, ist aber unklar. Genau aus diesem Grund haben in der Corona-Krise die Virologen eine so entscheidende Rolle gespielt. Probleme dieser Art werden i. d. R. „professionell“ gelöst, d. h. sie werden einer Profession zugewiesen, der man das notwendige Wissen zutraut, die man aber gleichzeitig von den Folgen ihrer Handlungen entlastet und die ggf. kollektiv entscheidet. Ärzte können nur bei schweren Kunstfehlern verklagt werden; Studenten, die bei ihren Hochschullehrern nichts lernen, haben kaum eine Chance sich zu wehren. Bei Entscheidungsbedarf gibt es ein Kollegium von Ärzten oder eine Prüfungskommission von Professoren. Besonders interessant sind schließlich Situationen, in denen es weder Einigkeit über die Ziele gibt noch darüber, was eigentlich zu tun sei und wirksam sein könnte. Genau dies sind die Probleme, die typischerweise der Politik und damit natürlich auch der Verwaltung zugewiesen werden. Über das allgemeine Ziel der Bildungs- und Forschungsförderung besteht noch Einigkeit, aber welche konkreten Ziele dabei vorrangig sind (Förderung der Allgemeinbildung oder der Eliten, Natur- oder Sozialwissenschaften) und wie dies erreicht werden soll (Privatschulen und Privatuniversitäten, Studiengebühren oder mehr staatliches Geld), bleibt kontrovers und unklar. Genau hier setzt die Garbage Can Theorie an. Sie behauptet, dass viele nur einigermaßen komplexe Entscheidungsprozesse und Problemlösungen aus vier weitgehend voneinander unabhängigen „Strömungen“ (Cohen/March/Olsen 1990, S. 333) bestehen:
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• Lösungen, die nach Problemen suchen, auf die sie angewendet werden könnten (man denke nur an neue Kommunikationstechnologien, Reorganisationsvorschläge, Führungsinformationssysteme u. ä.), • Teilnehmer, die nach Gelegenheiten suchen, in relevanten Entscheidungsprozessen eine gewichtige Rolle zu spielen, • Situationen, die es erlauben oder erfordern, Entscheidungen zu treffen oder einen Entscheidungsprozess abzuschließen (z. B. regelmäßige Gelegenheiten wie das jährliche Budget, aber auch unverhoffte Krisen), und schließlich auch • Probleme, die ganz unabhängig von vorhandenen Lösungen, Aktivisten und Gelegenheiten darauf warten, bearbeitet zu werden. Diese vier grundlegenden Entscheidungsströme, so diese Theorie, existieren weitgehend unabhängig voneinander, ihre Interaktionen sind stark situationsabhängig und deshalb nur schwer vorhersehbar. Konkrete Entscheidungsprozesse ähneln daher besagtem Mülleimer, in dem die vier Ströme mehr oder weniger zufällig zusammentreffen. Offensichtlich gibt es verschiedene Mülleimer, und welche Lösungen mit welchen Akteuren wann zusammenkommen, hängt u. a. davon ab, welches Etikett die einzelnen Mülleimer tragen (daher die Bedeutung von Organisationsstrukturen). Kingdon (1995) hat diesen Ansatz auf Prozesse der Politikformulierung und des Agenda Setting übertragen und dabei besonders auf die Gelegenheitsstrukturen, die „windows of opportunity“ für innovative und kontroverse Entscheidungen verwiesen. Zudem betont er die Rolle von „policy entrepreneurs“, also Akteuren, die in der Lage sind, solche unklaren Entscheidungssituationen für Ihre Interessen auszunutzen. In der wissenschaftlichen Diskussion hat dieser Ansatz inzwischen unter der Überschrift „multiple streams“ Karriere gemacht (vgl. zusammenfassend Rüb 2014). Auch wenn die Garbage Can Theorie gelegentlich wie eine Karikatur konkreter Entscheidungsprozesse erscheinen mag (damit der Inkrementalismustheorie sehr ähnlich), so lenkt sie doch unsere Aufmerksamkeit auf unbestreitbare Phänomene, wie z. B. darauf, dass in Organisationen keineswegs immer aufgrund rationaler Analysen entschieden wird, sondern dass vorhandene Lösungen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, gern auf neue Probleme angewendet werden. So hat die Elbe-Flut im Jahre 2002 dazu geführt, dass zum einen seit langem kontroverse Ausbaupläne von den Gegnern gestoppt, zum anderen vorhandene Pläne zum Ausbau und zur Reorganisation des Katastrophenschutzes endlich durchgesetzt werden konnten (Radunz 2003). Die Vorschläge der Hartz-Kommission waren keineswegs allesamt neu, aber der „Vermittlungsskandal“ in der Bundesanstalt für Arbeit schuf ein „window of opportunity“, eine einmalige Entscheidungsgelegenheit zur Verbin223
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dung seit langem diskutierter Lösungen mit neuen Problemen und vor allem mit wichtigen Akteuren (Weimar 2003, Schmid 2003). Und vielleicht wird die aktuelle Coronakrise die Gelegenheit bieten, schon länger existierende Vorschläge einer stärkeren Digitalisierung von Verwaltungsprozessen künftig stärker durchzusetzen. Insgesamt lenken alle diese Theorien unsere Aufmerksamkeit darauf, dass arbeitsteilige, bürokratische Organisationen sehr konfliktär sind, insbesondere gilt dies für öffentliche Organisationen. Sie leben mit permanenter Unsicherheit und immanenten Zielkonflikten. Daher widmen sie sich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlichen Problemen, sie beschäftigen sich gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Organisation mit widersprüchlichen Zielen. Während die Verkehrsabteilung versucht, Autobahnen zu bauen, versucht die Umweltabteilung, sie zu verhindern. Öffentliche Organisationen versuchen diese Unsicherheiten aufzufangen und organisatorisch zu verarbeiten, z. B. durch Arbeitsteilung, Regelbindung, Hierarchie und negative Koordination. Eine weitere neue Organisationstheorie spricht in diesem Zusammenhang von der „organization of hypocrisy“, von der organisierten Heuchelei, und weist darauf hin, dass „talk, decisions and actions“ in Organisationen allenfalls „lose gekoppelt“ sind (Brunsson 1989). Das worüber Organisationen in der Öffentlichkeit reden, entspricht nicht notwendigerweise dem, was sie programmatisch entscheiden, und dies wiederum wird oft auch gar nicht umgesetzt (siehe nächster Abschnitt). Um die eigene Informations- und Konfliktlösungskapazität nicht permanent zu überlasten, handeln solche Organisationen, wann immer es geht, auf der Grundlage von Routine, von Standard Operating Procedures, anstelle von gründlicher Analyse, Planung und Prognose. Genau dies ist der tiefere Grund der bekannten bürokratischen Maximen „das haben wir schon immer so gemacht“ und „das haben wir noch nie so gemacht“. Ansätze wie Garbage Can oder Hypocricy verdeutlichen die engen Beziehungen, die sich in den letzten Jahren zwischen Verwaltungswissenschaft und modernen Organisationstheorien entwickelt haben. Ausgehend von Simons Theorie der begrenzten Rationalität (bounded rationality) waren dabei vor allem skandinavische Verwaltungswissenschaftler führend (als bester Überblick Christensen et.al. 2020, s. a. Jann 2006a, Laegreid 2020), gleichzeitig gibt es enge Verbindungen zu neo-institutionalistischen Theorien und generell zur „institutionalistischen Wende“ in der Politikwissenschaft (grundlegend March/Olsen 1983, dies. 2006, auf Deutsch Kaiser 2001).
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4.3.2 Politikdurchführung und Evaluation 4.3.2.1 Implementation Die Entscheidung für ein politisches Programm, z. B. die Verabschiedung eines Gesetzes oder auch des jährlichen Budgets, garantiert noch kein praktisches Handeln der durchführenden Instanzen, d. h. in aller Regel der öffentlichen Verwaltung, und erst recht nicht den Erfolg eines Programms. Die Phase der Durchführung oder Umsetzung eines beschlossenen Programms, der Vollzug von Gesetzen und Rechtsverordnungen, die Ausführung von politisch beschlossenen Maßnahmen, wird in der Politikwissenschaft als Implementation bezeichnet. Die besondere Bedeutung dieser Phase des politischen Prozesses besteht darin, dass politisches und administratives Handeln durch Gesetze, Handlungsprogramme, Zielvorgaben usw. nicht endgültig steuerbar ist und daher in dieser Phase politische Programme und deren Intentionen verzögert, verändert oder sogar vereitelt werden können (siehe zum Folgenden Jann/Wegrich 2014 m. w. A., zur Weiterentwicklung der Implementationsforschung Adam/Knill 2018). Elemente dieser Phase sind Entscheidungen über • Programmkonkretisierung (Wie und durch wen soll das Programm ausgeführt werden? Wie ist das Gesetz zu interpretieren?), • Ressourcenbereitstellung (Wie werden Finanzen verteilt? Welches Personal führt das Programm durch? Welche Organisationseinheiten sind mit der Durchführung betreut?), und natürlich ganz besonders • Einzelfälle (welche Genehmigung wird erteilt, wer bekommt welche Unterstützung, welche Straße wird gebaut? etc.). Die „Entdeckung“ und Problematisierung der Implementationsphase kann als eine der wichtigsten Innovationen der Politik- und Verwaltungsforschung in den siebziger Jahren gelten. Die Implementation politischer Programme, die Durchführung von Gesetzen war zuvor als im Prinzip unproblematisch angesehen worden. Gesetze werden bekanntlich vom Parlament „verabschiedet“, und damit war das Problem für den Gesetzgeber erledigt. Hintergrund dieser Implementationsignoranz war wiederum eine problematische Interpretation der weberschen Bürokratietheorie, nach der die Bürokratie gesetzte Regeln effektiv, präzise, verlässlich etc. umsetzt. Weber war durchaus klar, dass dieses idealtypische Merkmal der Bürokratie in der Wirklichkeit durchaus prekär ist, aber zur Legitimation administrativen Handelns ist es von großem Wert. Wenn die Verwaltung „nur Gesetze umsetzt“, so die normative und empirische Interpretation der Bürokratietheorie, ist sie von den Folgen und Konflikten ihres Handelns weitgehend entlastet. 225
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Mit der bahnbrechenden Studie von Pressman/Wildavsky (1973; zusammenfassend Wegrich 2015b) zur Implementation sozialpolitischer Programme in den USA (mit dem berühmten Untertitel „How Great Expectations in Washington are Dashed in Oakland; Or Why it’s Amazing that Federal Programs Work at all…“) wurde gezeigt, dass die Durchführungsphase nicht nur Teil des politischen Prozesses ist, sondern häufig die entscheidende Phase, in der sich der Erfolg oder Misserfolg eines politischen Programms herausstellt, und in der auch kontroverse politische Entscheidungen erst getroffen oder zumindest konkretisiert werden. Wenn in Einzelfallentscheidungen festgelegt wird, wer welche Genehmigungen, staatlichen Förderungen oder Infrastrukturleistungen bekommt oder nicht bekommt, geht es um grundlegende politische Entscheidungen: Wer bekommt was, wann, wo und warum? (So die klassische Definition von Politik durch Lasswell). Nach dem deutschen Rechtsstaatsverständnis ist Verwaltungshandeln rechtlich programmiert, d. h. alle Maßnahmen und Entscheidungen der Verwaltung müssen rechtmäßig sein und können daher auch vor Verwaltungsgerichten überprüft werden. Die Verwaltung wird also durch Gesetze, Rechtsverordnungen und durch autonome Satzungen (etwa der Kommunen) gesteuert (legislative Steuerung). Es gilt der Vorrang des Gesetzes (Gesetze sind anderen Rechtsquellen außer der Verfassung übergeordnet) und der Vorbehalt des Gesetzes (nach der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts bedürfen wesentliche staatliche Maßnahmen einer gesetzlichen Grundlage). Die typische Einzelfallentscheidung ist daher der öffentlich-rechtliche Verwaltungsakt, allerdings gibt es auch andere Handlungsformen, etwa öffentlich-rechtliche Verträge oder privatrechtliches Handeln der Verwaltung (etwa städtebauliche Verträge, die im Bereich der Stadtsanierung eingesetzt werden oder Arbeits- und Werkverträge, vgl. zusammenfassend Becker 1989, S. 449ff.). Bezüglich der rechtlichen Programmierung des Verwaltungshandelns werden zwei grundsätzliche Formen unterschieden (grundlegend Luhmann 1966) • Konditionalprogramme, die ein bestimmtes Verwaltungshandeln festlegen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. In der einfachsten Form sind dies „Immer-Wenn-Dann-Programme“, die der Verwaltung, zumindest theoretisch, überhaupt keinen Entscheidungsspielraum überlassen. Beispiele wären etwa das Passgesetz oder das Gesetz über Personalausweise: Immer, wenn die notwendigen Unterlagen beigebracht werden, muss ein Pass ausgestellt werden. Es gibt im Prinzip keinen Handlungsspielraum der Verwaltung.69
69 Handlungsspielräume gibt es indes auch hier bei der Beurteilung der für die Verwaltungsleistung notwendigen Unterlagen, wie dies z. B. in der Flüchtlingskrise beim Agieren
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• Final- oder Zweckprogramme lassen demgegenüber den jeweiligen Entscheidern in der Verwaltung wesentlich größere Freiräume. Hier sind nur die angestrebten Zwecke und Ziele festgelegt, während die Mittel zur Erreichung dieser Zwecke erst noch von der Verwaltung ausgewählt werden müssen (allenfalls sind zu beachtende Restriktionen, etwa finanzielle Mittel vorgegeben). Beispiele wären etwa staatliche oder kommunale Fachplanungen oder z. B. Wirtschaftsförderungsprogramme, ein klassisches Beispiel ist der §1 des Bundesraumordnungsgesetzes: „Das Bundesgebiet ist in seiner allgemeinen räumlichen Struktur einer Entwicklung zuzuführen, die der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft am besten dient. Dabei sind die natürlichen Gegebenheiten sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erfordernisse zu beachten“ (§1 BRauOG). Es ist offenkundig, dass diese beiden reinen Formen in der Realität kaum anzutreffen sind, sondern dass reales Verwaltungshandeln durch eine Kombination konditionaler und finaler Programmierung gesteuert wird (für den Versuch der Bildung weiterer Typen s. Becker 1989, S. 451). Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang z. B. unbestimmte Rechtsbegriffe (etwa „unbillige Härte“), die von der Verwaltung interpretiert werden müssen, oder der Verweis auf „pflichtgemäßes Ermessen“ der Verwaltung. Gerade auch in Deutschland, wo aufgrund der rechtsstaatlichen und bürokratischen Tradition die rechtliche und formale Programmierung besonders ausgeprägt ist (siehe oben 4.1 Überregelung und Verrechtlichung), verfügt also die Verwaltung, selbst die Ordnungs- und Eingriffsverwaltung, über erhebliche Handlungsspielräume. Frido Wagener hat z. B. wiederholt darauf hingewiesen, dass aufgrund der Vielzahl und Komplexität der rechtlichen Regelungen die öffentliche Verwaltung ohnehin nur einen Teil davon überhaupt beachten kann, sie also „pragmatische Vorschriftenreduktion im Vollzug“ betreibt, sich diejenigen Regelungen aussucht, die gerade passen und sich dabei im „permanenten Verfassungsbruch“ befindet (Wagener 1979). Die für die Verwaltungswissenschaft entscheidende Frage ist, wie die Verwaltung diese Handlungsspielräume nutzt. Ähnlich wie in den USA begann auch in Deutschland mit den ersten Enttäuschungen der Reformpolitiken der sozial-liberalen Koalition Anfang der siebziger Jahre der Aufschwung der Implementationsforschung. Zunächst nahm man dabei eine Perspektive ein, die später als „Gesetzgeberperspektive“ oder „Top-down“-Ansatz bezeichnet wurde. Die Implementationsprozesse wurden vor allem unter dem Aspekt des Grades der zielgenauen Umsetzung der von Ausländerämtern deutlich geworden ist (vgl. Bogumil/Burgi u. a. 2018 und weiter unten). 227
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auf übergeordneter (meist zentralstaatlicher) Ebene definierten Politikziele analysiert und die Gründe für Abweichungen von diesen Zielen in verwaltungsinternen Prozessen sowie der Interaktion der Vollzugsbehörden mit den betroffenen Adressaten im Rahmen von Verhandlungs- und Konfliktbeziehungen analysiert. Die theoretische Perspektive basierte dabei auf einem klassischen hierarchischen Verständnis politischer Steuerung (vgl. grundlegend Mayntz 1980a, dies. 1983, Wollmann 1980, zusammenfassend Mayntz 1987). Gefragt wurde also nach Vollzugsdefiziten (warum werden bestimmte Regelungen nicht angewendet? z. B. in der Umweltpolitik, Mayntz 1977), nach Zielverschiebungen (warum werden in der Umsetzung andere Ziele als ursprünglich intendiert verfolgt? etwa in der Wirtschaftsförderung, Böhret/Jann/Kronenwett 1982) oder nach sozialen Selektivitäten (welche Gruppen werden benachteiligt, welche warum bevorzugt? vgl. auch Mayntz 1997, S. 217). In die Aufmerksamkeit der Forscher gerieten Probleme des Kontakts zwischen Verwaltung und Publikum, die bereits in den siebziger Jahren zu einem umfassenden Forschungsprogramm zur „bürgernahen Verwaltung“ führten (Kaufmann 1979, Hegner 1978, Grunow 1982) und die Probleme der Zusammenarbeit und Steuerung zwischen Behörden und in Policy-Networks zum Gegenstand hatten. Vollzugsdefizite, z. B. die ineffektive (Ziele werden verfehlt) oder ineffiziente Durchführung von Gesetzen und politischen Programmen (Aufwand und Ertrag stehen in einem problematischen Verhältnis zueinander) wurden so in Merkmalen der Programme (etwa widersprüchliche oder unklare Ziele, problematische Ziel-Mittel-Annahmen, Überregelung, Verrechtlichung) oder der Implementationsstrukturen (unklare, komplizierte Organisation, ungeeignetes Personal, komplexe und langwierige Verfahren, unzureichende Finanzen) verortet, zunehmend aber auch in Merkmalen des Regelungsumfeldes, die von der Verwaltung gar nicht zu beeinflussen sind. Zugleich leiteten diese empirischen Studien somit einen Perspektivenwechsel ein (insgesamt zur Entwicklung der Implementationsforschung Winter 2012). Der Implementationsprozess wurde immer weniger als hierarchische (top down) Steuerung durch übergeordnete Einheiten betrachtet, sondern zunehmend als gemeinsamer Lern- und Aushandlungsprozess. Die Verwaltung erhält ihre Entscheidungsprämissen nicht nur „von oben“, durch Gesetze und hierarchische Weisungen, sondern auch „von unten“ und „von der Seite“, also durch Kunden, Klienten, Bürgerinitiativen, Interessengruppen. Einerseits erkannte man die zentrale Bedeutung der Vollzugsbehörden auf den unteren Ebenen („Street Level Bureaucracy“, grundlegend Lipsky 2010, Hupe/Hill/ Bbuffat 2015) und richtete den Blick auf die Interaktionsbeziehungen mit den eigentlichen Adressaten politischer Programme (vgl. z. B. Wollmann 1983). Andererseits
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sah man zunehmend die Verbindung zwischen den internen und externen Akteuren eines Politikfeldes auf den verschiedenen Ebenen und begann Policy-Making als alle Phasen umfassenden Verhandlungsprozess innerhalb netzwerkartiger Beziehungen zu verstehen – womit letztendlich von der Annahme abgerückt wurde, dass ein staatliches Steuerungszentrum hierarchisch in gesellschaftliche Handlungsfelder intervenieren kann. Stattdessen richtete man den Blick auf das Zusammenspiel verschiedener Akteure in einem Policy-Subsystem (Sabatier 1987, 1993), das zwar durch unterschiedliche Interessen und asymmetrische Einflussverteilung zwischen den Beteiligten geprägt ist, jedoch insgesamt einen systemischen Zusammenhang kollektiver „Politikproduktion“ konstituiert (Jansen/Schubert 1995). Eine weitere Erkenntnis war, dass die Implementationsphase ganz entscheidend durch die zur Anwendung kommenden Instrumente des politischen Programms geprägt wird (König/Dose 1992, Braun/Giraud 2003). Neben regulativen Instrumenten (Ge- und Verbote, Genehmigungspflichten) werden u. a. finanzielle (positive und negative Anreize, Leistungsprogramme), die direkte Bereitstellung von staatlichen Leistungen (harte und weiche Infrastruktur, also z. B. sowohl Schulen und Universitäten wie Lehrer und Professoren) und Informationsinstrumente (Aufklärung, Propaganda) unterschieden. Die Untersuchungen zeigten, dass die verschiedenen Instrumente spezifische Implementationsprobleme aufweisen. Während regulative Politik vor allem mit dem Kontrollproblem und möglichen Widerständen auf Seiten der Adressaten verbunden ist (vgl. z. B. Bohne/Hucke 1980), sind Anreizprogramme, wie Scharpf bereits 1983 am Beispiel der Arbeitsförderung zeigte, der Gefahr von „Mitnahmeeffekten“ (Unternehmen nehmen Fördergelder für ohnehin geplante Investitionen oder Arbeitsplätze in Anspruch), d. h. der ineffizienten Mittelverteilung ohne Steuerungseffekte, ausgesetzt. In jüngster Zeit sind einige experimentellen Studien zum Problembereich der „soziale Selektivität“ entstanden (Grohs/Adam/Knill 2016, Adam/Grohs/Knill 2020), die thematisieren, dass in Abhängigkeit vom Antragsteller (Geschlecht, Migrationshintergrund) die Schnelligkeit und Qualität der Verwaltungsleistung variieren, obwohl eigentlich Gleichbehandlung beabsichtigt sein sollte. Auch Beobachtungen hinsichtlich des Verwaltungsbeitrags bei der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen z. B. im Bereich des Bildungs- und Teilhabepaketes70 oder bei der Einbürgerung (vgl. hierzu Bogumil/Burgi u. a. 2018) gehören zu diesem
70 Die im Jahr 2011 eingeführten „Leistungen für Bildung und Teilhabe“ sind eine der Sozialleistungen mit der geringsten Inanspruchnahme in Deutschland (neben Wohngeld und Grundsicherung im Alter). Gleichzeitig streut im interkommunalen Vergleich die Inanspruchnahme der BuT-Leistungen mit Spannweiten der Inanspruchnahme von1,9 % bis 91,3 % enorm (Grohs 2019). 229
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Themenkomplex der sozialen Selektivität von Verwaltungshandels. Weiterhin werden Untersuchungen zu Mitnahmeeffekten beim Konjunkturpaket (Schneider/ Grohs/Knill 2011) angesichts der Corona-Krise wieder ein aktuelles Thema werden.
4.3.2.2 Verhandelnde Verwaltung und kooperativer Staat Die Ergebnisse der empirischen Verwaltungs- und Implementationsforschung haben zu einem von der klassischen hierarchischen Bürokratie abweichenden Bild der modernen Verwaltung geführt, das unter dem Schlagwort der verhandelnden oder kooperativen Verwaltung zusammengefasst wird und schließlich sogar zu einem veränderten Bild des Staates als „kooperativer Staat“ geführt hat (grundlegend Benz 1994, Dose 1997, Schuppert 2000, S. 110ff.). Andere Autoren sprechen in diesem Zusammenhang auch vom „informalen Verwaltungshandeln“ das schliesslich zu einem „informalen Rechtsstaat“ führe (Bohne 1981). Grundlegendes Merkmal der kooperativen Verwaltung ist der weitgehende Verzicht auf die Anwendung von Zwang. Kooperativ handelt die Verwaltung also z. B., wenn sie mit Adressaten Entscheidungen aushandelt und mit ihnen entweder informelle Absprachen trifft oder Verträge schließt. So war ein Ergebnis der Implementationsforschung, dass Behörden etwa im Bereich des Umweltschutzes oder der Gewerbeaufsicht auf regulative Instrumente (Verbote, Gebote bis hin zu Geldstrafen oder Betriebsschließungen) verzichten, obwohl diese Maßnahmen ausdrücklich im Gesetz vorgesehen sind. Stattdessen versuchen die zuständigen Behörden sich z. B. mit „Umweltsündern“ zu einigen, bis wann bestimmte Missstände abgestellt werden. Der Hintergrund ist die Abwägung unterschiedlicher Ziele. Die Schliessung einer Betriebsstätte mag umweltpolitisch sinnvoll sein, hat aber negative arbeitsmarktpolitische, sozialpolitische und andere ungewollte Folgen. Um einen Ausgleich dieser unterschiedlichen Interessen zu erreichen, ist kooperatives Verwaltungshandeln sinnvoller und angemessener als der eigentlich juristisch vorgesehene Vollzug z. B. mit Hilfe von Zwangsmitteln. Ein weiteres Verständnis der kooperativen Verwaltung umfasst daher auch Fälle, in denen zuständige Behörden Verhaltensweisen vorübergehend oder dauerhaft dulden, obwohl sie diese aufgrund von Gesetzen verhindern könnten (vgl. zum Folgenden Benz 2003c). Normalerweise beruht eine solche Kooperation zwischen Verwaltung und den Adressaten von politischen Programmen auf Verhandlungen, in denen Verwaltungsbehörden mit Entscheidungsbetroffenen eine Einigung suchen. Nicht selten enden diese mit einem formalen Verwaltungsakt, der die Ergebnisse der Verhandlungen festlegt. Dieser ist dann zwar der Form nach ein Hoheitsakt der Verwaltungsbehörde, tatsächlich stellt er aber eine Vereinbarung zwischen gleichberechtigten Partnern dar. Oft beruht eine Einigung, wie oben erwähnt, auf Tauschgeschäften, die durch Verbindung verschiedener Entscheidungsmaterien möglich werden, wobei die Ver-
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waltung in einem Bereich und die Adressaten ggfs. in einem ganz anderen Bereich Konzessionen machen. Auf die Problematik solcher Vereinbarungen, wenn nicht zusammengehörende Sachverhalte verkoppelt werden, macht Benz aufmerksam: Kooperation kann z. B. die Rechte und Belange „Dritter“ verletzen, die nicht an Verhandlungen beteiligt sind (siehe auch Dose 2009). Eine weitere Bedeutung kooperativen Verwaltungshandelns ergibt sich bei der Erstellung personenbezogener Dienstleistungen, die ohne Mitwirkung der Adressaten nicht erfolgreich sein können. Wenn es z. B. darum geht, Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln oder sie fortzubilden, oder die Ansiedlung bzw. den Ausbau von Unternehmen zu unterstützen, ist dies nur in enger Kooperation mit den jeweiligen Adressaten und Klienten der Verwaltung möglich. Der mit dem Konzept der kooperativen Verwaltung eng verbundene Begriff des „Kooperativen Staates“ entstammt der politischen Theorie und der Staatsrechtslehre, die damit von überholten Vorstellungen einer Überordnung des Staates über die Gesellschaft bzw. einer Trennung von Staat und Gesellschaft abrücken (Ritter 1979, grundlegend Scharpf 1992). Das Bild des kooperativen Staates beschreibt also die Beobachtung, dass der moderne Staat in vielen Aufgabenbereichen auf Verhandlungen und Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Gruppen oder Organisationen angewiesen ist, und zwar sowohl bei der Formulierung wie auch gerade bei der Umsetzung politischer Programme und Maßnahmen.
4.3.2.3 Evaluation Schließlich sind Behörden und Verwaltungen bei Entscheidungen über die Wirkungen und Auswirkungen politischer Programme beteiligt, und damit bei der Frage nach deren Veränderung, Verbesserung oder ggfs. sogar Beendigung (Termination). In der verwaltungswissenschaftlichen Forschung hat sich dafür der Begriff der Evaluation eingebürgert. Evaluation ist dabei von den traditionellen „Kontrollschleifen“ (Wollmann 2003) im deutschen Regierungs- und Verwaltungssystem zu unterscheiden (siehe oben unter 3.8), nämlich • der Überprüfung von Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit durch Rechnungshöfe, • der Überprüfung der Rechtsmäßigkeit des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsgerichte, • der verwaltungsinternen Kontrolle durch hierarchische Überordnung und (Rechts- und Fach-) Aufsicht sowie • der politischen Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit (siehe aber unten).
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Staatliche Programme und Aktivitäten und damit auch Verwaltungshandeln, sollen einen Beitrag zur Lösung oder zumindest Verarbeitung gesellschaftlicher, sozialer und ökonomischer Problemlagen leisten. Diese angestrebten Wirkungen politischer Programme und administrativer Aktivitäten stehen in der Evaluation im Vordergrund, nicht die Kontrolle einzelner Akteure. Mit Evaluation wird dabei einerseits die Phase des politischen Prozesses bezeichnet, in der die Ergebnisse der Implementation bewertet (evaluiert) werden. Zugleich hat sich andererseits die Evaluationsforschung als ein Teilbereich der Verwaltungs- und Policy-Forschung entwickelt, die ihren Ausgangspunkt in der Frage nach den – intendierten und nicht-intendierten – Wirkungen öffentlicher Aktivitäten hat und dabei inzwischen alle Phasen des politischen Prozesses thematisiert (ausführlich Wollmann 2003, Sager/Hinterleitner 2014; zum Folgenden auch Jann/Wegrich 2014). Die wissenschaftliche Diskussion über Evaluation und Wirkungsforschung hatte sich in den USA wiederum in Verbindung mit den politischen Kontroversen über Sinn und Erfolge der sozialpolitischen Programme der „Great Society“ der sechziger Jahre herausgebildet. Auch sie wurde sehr schnell in Deutschland rezipiert und führte zu einer umfangreichen Diskussion z. B. über Möglichkeiten und Grenzen der Wirkungsforschung und „experimenteller Politik“ (Derlien 1976, Wollmann/ Hellstern 1978). Inzwischen ist Evaluationsforschung einer der erfolgreichsten und umfangreichsten Zweige angewandter Sozialforschung (Bussmann/Klöti/Knöpfel 1997, Vedung 1999). Unter Evaluation wird gemeinhin die wissenschaftliche oder zumindest systematische Untersuchung der – intendierten oder nicht-intendierten – Wirkungen und Auswirkungen politischer und administrativer Interventionen verstanden. Dabei interessiert nicht nur die jeweilige Zielerreichung (Erfolgskontrolle), sondern auch positive oder negative Effekte und Nebenwirkungen, z. B. auch in anderen als den intendierten Bereichen (Wirkungsforschung). In der wissenschaftlichen Diskussion werden eine Reihe unterschiedlicher Ansätze und Methoden der Evaluation und der Evaluationsforschung unterschieden (Wollmann 2003, S. 338ff.): • Bei der ex-post (oder summativen) Evaluation wird im Nachhinein, nach Abschluss eines Programms oder einer Maßnahme, untersucht, welche Wirkungen und Nebenwirkungen eingetreten sind (Wirkungsanalyse) bzw. ob und in welchem Umfang die intendierten Ziele erreicht wurden (Erfolgskontrolle). • Demgegenüber hat die ex-ante Evaluation die Aufgabe, Wirkungen, Nebenwirkungen und Ursache-Wirkungszusammenhänge eines künftigen Handlungsprogramms vorab abzuschätzen (pre-assement). Im deutschen wird hier oft der Begriff Gesetzesfolgenabschätzung verwendet (vgl. Böhret/Konzendorf 2002,
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Veit 2008), in diesen Zusammenhang gehören auch die klassischen Methoden der Kosten-Nutzen-Analyse. Formative (oder on-going) Evaluation findet begleitend zur Durchführung der jeweiligen Programme und Maßnahmen statt, um möglichst frühzeitig im Rahmen der „Rückkopplung“ von Ergebnissen Korrekturen zu ermöglichen. Im deutschen hat sich hierfür der Begriff der Begleitforschung etabliert, die mehr oder weniger analytisch distanziert bis hin zur Form einer sich aktiv einmischenden Aktionsforschung stattfindet. Weiter werden Effektivitäts- und Effizienz- (oder Wirtschaftlichkeits-) Untersuchungen unterschieden. Bei ersteren geht es in der Form eines Soll-Ist-Vergleichs um den Zielerreichungsgrad bezüglich der Outputs (Leistungen der Verwaltung), bis hin zu den direkten Wirkungen (Impacts) und weitergehenden gesellschaftlichen Auswirkungen (Outcomes), bei letzterer um das Verhältnis zwischen Inputs (finanzielle, personelle, organisatorische Ressourcen) und Ergebnissen (Outputs und Impacts). Unter Monitoring versteht man in diesem Zusammenhang eine deskriptiv-analytische, auf kausale Interpretationen und Erklärungen weitgehend verzichtende Beobachtung relevanter Ergebnisse und Resultate, möglichst mit Hilfe standardisierter Indikatoren, also eine routinemässige, permanente und systematische Sammlung von vergleichbaren Daten (Sager/Hinterleitner 2014, S. 439). Controlling ist schließlich vor allem in Verbindung mit dem Neuen Steuerungsmodell populär geworden, insbesondere zur Überprüfung der dort postulierten Output-orientierten Steuerung der Verwaltung durch Produkte, Kennzahlen, Berichtswesen und generell performance measurement (vgl. zu den verschiedenen Konzepten die Beiträge in Veit u. a. 2019; auch Kuhlmann/Bogumil/ Wollmann 2004). Auch beim Controlling geht es „strategisch“ um Ziel- und Effektivitätssteigerung und „operativ“ vor allem um Effizienz. Der zentrale Unterschied zur Evaluation besteht darin, dass es sich um interne Instrumente der jeweiligen Organisationen, Behörden etc. handelt und die Ergebnisse des Controllings direkt zur Steuerung des Planungs- und Leistungsprozesses und zur Leistungssteigerung erhoben und eingesetzt werden sollen.
Evaluationen können Monitoring-Daten oder auch Resultate des Controllings einbeziehen. Klassische wissenschaftliche Evaluationsuntersuchungen versuchen allerdings möglichst nach den strikten Regeln empirischer Sozialforschung (Experimente, Quasi-Experimente, counter-factuals, vergleichende Fallstudien etc.) zu klären, ob beobachtbare Veränderungen – intendierte wie nicht-intendierte Wirkungen – auf die politischen Programme, Projekte und Maßnahmen, oder aber auf andere Faktoren kausal zurückzuführen sind (als Lehrbuch Vedung 1999). 233
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Dabei ergeben sich eine ganze Reihe schwieriger Methodenprobleme, denn zum einen sind die Zielsetzungen politischer Programme oft alles andere als klar und eindeutig (siehe oben 4.3.1.4 „Garbage Can“), zum anderen ist es äußerst schwierig, bestimmte Ergebnisse auf bestimmte politisch-administrative Faktoren „kausal“ zurückzuführen (siehe ebd. „unklare Instrumente und Technologien“). Wenn z. B. die Wirkung arbeitsmarkt- oder regionalpolitischer Massnahmen evaluiert werden soll, ist selbst der deutliche Rückgang der jeweiligen regionalen Arbeitslosigkeit ein sehr problematischer Indikator. Die geringere Arbeitslosigkeit könnte nämlich etwa durch Abwanderung oder durch konjunkturelle Einflüsse beeinflusst sein. Selbst wenn Erfolge nachweisbar sind, bedeutet dies nicht, dass sie auch tatsächlich auf staatliche Maßnahmen und Programme zurückzuführen sind. Dennoch ist deutlich, dass Evaluierung in Zukunft eine zunehmende Bedeutung haben wird. Ein Beispiel ist die durch die internationale PISA-Studie der Lernerfolge von Grundschülern ausgelöste Diskussion. Hier wurde deutlich, dass zum einen unterschiedliche Schulsysteme sehr unterschiedliche materielle Resultate hervorbringen (z. B. in Bezug auf Lese- und Rechenfähigkeit), dass diese unterschiedlichen Ergebnisse aber nicht einfach auf den Ressourceneinsatz zurückgeführt werden können (Deutschland schneidet eher schlecht ab, obwohl deutsche Lehrer besonders gut bezahlt werden, deutsche Klassen nicht besonders groß sind und insgesamt das Bildungssystem überdurchschnittlich kostspielig ist). Evaluationsuntersuchungen sind also besonders geeignet, um beliebte und einfache Erklärungsmuster zu hinterfragen („Das einzige was unseren Schulen fehlt sind mehr Geld und mehr Lehrer …“). Ein besonderes Problem wirft die Evaluation verwaltungspolitischer Maßnahmen auf, also etwa der Nachweis der Erfolge oder Misserfolge der Verwaltungsmodernisierung der letzten Jahrzehnte. Das Bedürfnis für verlässliche Evaluationen in diesem Bereich ist groß, denn natürlich ist es wichtig zu wissen, welche positiven und negativen Veränderungen die Verwaltungsmodernisierung tatsächlich hervorgerufen hat, jenseits der vollmundigen Versprechungen der professionellen Berater. Gerade den Protagonisten des New Public Management wird immer wieder vorgeworfen, dass ausgerechnet eine Reformbewegung, die darauf besteht, der öffentliche Sektor müsse von einer Input- zu einer Output-Steuerung kommen, seine Kosten und vor allem seinen Nutzen transparent machen und diese Informationen in kontinuierlichen Feedback-Prozessen nutzen – und gelegentlich zu unterstellen scheint, dies sei alles ganz einfach, wenn man nur richtig wolle –, bisher nicht in der Lage sei, systematisch über die Erfolge der stattgefundenen Reformbemühungen zu berichten. Die Philosophie des NPM ist bisher eher selten auf die eigenen Aktivitäten angewendet worden (siehe aber Pollitt/Bouckaert 2017, als erste Bestandsaufnahmen für
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Deutschland Jann u. a. 2004 und besonders Bogumil/Groh u. a. 2007; als Überblick Seyfried 2019b, siehe auch unten 5.2.3). Die Evaluation staatlicher Programme und Aktivitäten findet allerdings – unabhängig von der Bedeutung wissenschaftlicher oder systematischer Evaluation – als Teil des Prozesses politischer und administrativer Auseinandersetzungen „schon immer“ statt, wie sowohl das PISA- wie das Verwaltungsreform-Beispiel verdeutlichen. Von der wissenschaftlichen kann so die administrative Evaluation durch die Verwaltung und die politische Evaluation durch Akteure innerhalb der politischen Arena, zu denen auch die Öffentlichkeit gerechnet werden muss, unterschieden werden (zur Frage der Evaluationsstandards vgl. Grohs/Piesker 2019). Nicht nur wissenschaftliche Studien, sondern z. B. Regierungsberichte und die öffentliche Debatte, nicht zuletzt Verlautbarungen der jeweiligen Opposition, sind typische Elemente und Ergebnisse dieser Art von Auseinandersetzungen, bei der es natürlich auch immer um Zielerreichung, intendierte und nicht-intendierte Wirkungen geht. Evaluationen sind daher im besonderen Maße mit der politischen Rationalität administrativer Handlungen verbunden. Dies betrifft nicht nur die interessengefärbte Interpretation der Ergebnisse und Wirkungen. Die Möglichkeit systematischer Evaluation wird auch durch unklare Zieldefinitionen eingeschränkt, die ihrerseits in der Anreizstruktur von Regierungen und politisch Verantwortlichen begründet sind – denn genaue Zieldefinition birgt das erhebliche Risiko des deutlichen späteren Scheiterns (s. die Probleme der ersten rot-grünen Regierung mit ihrem ursprünglichen quantifizierten Ziel zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit). In einem immer noch äußerst lesenswerten Beitrag macht Aaron Wildavsky (1979, S. 212ff.) darauf aufmerksam, dass dies ein allgemeines Phänomen sei, dass also die „self-evaluating organization“, die sich ständig selbst evaluierende und damit prinzipiell infrage stellende Organisation ein Widerspruch in sich sei. Es sei naiv anzunehmen, dass Organisationen ein unmittelbares Interesse an Evaluationen haben, weder „von innen“, also durch spezialisierte und herausgehobene Evaluationseinheiten, noch von „außen“, also durch andere Organisationen mit vermutlich anderen Interessen und Prioritäten. Evaluationen sind „weapons in the political wars“, Waffen in politischen und fachlichen Auseinandersetzungen, und zwar sowohl zwischen Organisationen auf der makro-politischen Ebene wie mikro-politisch innerhalb von Organisationen. Evaluationen sind möglich und notwendig, aber sie sind alles andere als selbstverständlich und einfach nur technisch schwierig. Sie werfen nicht nur erhebliche methodische, sondern mindestens ebenso komplizierte politische Probleme auf, d. h. sie müssen in kontinuierlichen politischen Auseinandersetzungen durchgesetzt, durchgeführt und interpretiert werden. In den Worten von Wildavsky: 235
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“I started out thinking it was bad for organizations not to evaluate, and I ended up wondering why they ever do it” (Wildavsky 1979, S. 212).
Ergebnis eines politischen Evaluationsprozesses kann schließlich auch die „Terminierung“ (Beendigung) eines politischen Programms sein. In Deutschland wird auch der Begriff „Aufgabenkritik“ für die Terminierung von Policies bzw. den Abbau oder die zeitliche Befristung staatlicher Aktivitäten verwendet (Dieckmann 1977). Dabei erscheint die zunächst nahe liegende Möglichkeit, dass zu Grunde liegende gesellschaftliche Probleme als gelöst betrachtet und eine Fortsetzung daher als unnötig eingeschätzt werden, nur als eine unwahrscheinliche, zudem schwierig durchzusetzende, Variante der Terminierung. Eher können finanzielle Engpässe (beispielsweise in der Arbeitsförderung) oder Gelegenheitsfenster (z. B. im Zuge eines Regierungswechsels oder durch Krisen, etwa Fukushima im Bereich der Kernkraft) Auslöser für die Terminierung bestimmter Policies und Aktivitäten sein (vgl. zu den Beispielen Kernenergie und Kohlesubventionen in Deutschland Heyen 2011).
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Politik und Verwaltung
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4.4.1 Dichotomie oder politisch-administratives System Die Unterscheidung bzw. der Zusammenhang zwischen Politik und Verwaltung ist ein klassisches, wenn nicht das klassische Thema der Verwaltungswissenschaft, die sich nun einmal mit öffentlicher Verwaltung beschäftigt, und natürlich auch ein kontroverses Thema der Verwaltungspraxis (siehe Kapitel 2.4.1 und 2.4.2 und zum Folgenden Jann/Veit 2020). In der verwaltungswissenschaftlichen Literatur können idealtypisch zwei Sichtweisen unterschieden werden. Auf der einen Seite gibt es die Vorstellung einer grundsätzlichen Dichotomie zwischen Politik und Verwaltung, die auf die bahnbrechenden Beiträge von Woodrow Wilson (1887) und Max Weber (1921) zurückgeht. Beide beschreiben Politik und Verwaltung als unterschiedliche soziale Systeme, die jeweils ihre eigene Rationalität aufweisen. In der Politik geht es um Macht, Legitimität, Leidenschaft, die Durchsetzung von Interessen und Politikinhalten, während es in der Verwaltung um Sachkunde, Professionalität, Legalität und die technische Durchführung von Politik gehen soll. Verwaltung ist in diesem Sinne nicht eigenständig, sondern ‚nur‘ Instrument der Politik. Allerdings hatten bereits Wilson und Weber erhebliche Zweifel, dass professionelle Bürokratien von Amateurpolitikern kontrolliert werden können. Weber verwies auf die Überlegenheit der Bürokraten aufgrund zweier Ar-
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ten von Wissen: Fachwissen (die überlegene Expertise spezialisierter Bürokraten) und Dienstwissen (ihr prozedurales und institutionelles Wissen über die Funktionsweise der öffentlichen Verwaltung). Verwaltungen können also eigenständige Machtzentren sein, deren Herrschaft schwer zu kontrollieren ist. Diese Sichtweise ist auch die Grundlage moderner principal-agent Theorien, in denen die Prinzipale, also Politiker, aufgrund unvermeidlicher Informationsasymmetrien erhebliche Probleme haben, das Verhalten ihrer Agenten, also der Verwaltung zu kontrollieren. Das Verhältnis zwischen Politikern und Bürokraten ist daher durch systematisches Misstrauen, Opportunismus, durch Machtspiele und ewige blame-games gekennzeichnet, in denen die eine Seite jeweils die andere für Misserfolge und Probleme verantwortlich macht. Im Extremfall geht der ökonomisch geprägte Prinzipal-Agent Ansatz davon aus, dass Bürokraten grundsätzlich nicht zu trauen ist, da diese sich entweder vor Arbeit drücken oder eigene Ziele verfolgen, etwa Budgetmaximierung (siehe zu diesen „Theorien rationalen Handelns in der Politikwissenschaft“ Braun 2013; umfassend zu principal-agent Gilardi/Braun 2002, kritisch Pierre/Peters 2017). Auf der anderen Seite gibt es eine eher empirisch geprägte Auffassung, die eine strikte Trennung von Politik und Verwaltung für unmöglich hält. Die Orthodoxie der Dichotomie von Politik und Verwaltung brach in den USA spätestens mit den Erfahrungen des New Deal und des Zweiten Weltkrieges zusammen. Die damals entwickelte Grundthese, dass sowohl Politik wie Verwaltung bei der Konzipierung und Formulierung von Politikinhalten, wie bei deren Durchsetzung und Evaluation zusammenarbeiten und beteiligt sind, wurde von der empirischen Verwaltungsforschung seit dieser Zeit immer wieder, immer differenzierter und immer überzeugender belegt. Zum einen hat die die empirische Verwaltungsforschung gezeigt, wie groß der „Entscheidungsbeitrag der Bürokratie“ (Scharpf 1973b, S. 16) im Rahmen der Programmformulierung ist, d. h. welche Probleme verdrängt, welche Ziele vernachlässigt und welche Handlungsalternativen in der Phase der Entscheidungsvorbereitung bereits aussortiert werden, ehe formale politische Strukturen wie Parlamente mit dem Entscheidungsprozess befasst sind. Sie zeigt auch, wie stark die Verwaltung in gesellschaftliche Interessenstrukturen eingebunden ist. Administrative Interessenvermittlung (Lehmbruch 1987) ist eines der herausragenden Merkmale moderner demokratischer Staaten. Zum anderen zeigt die empirische Verwaltungsforschung, insbesondere die Implementationsforschung (vgl. 4.3.2), dass der Vollzug von Programmen zu einem nicht unerheblichen Teil „politischer Prozess“ ist, dass viele Fragen durch die formelle politische Entscheidung noch nicht entschieden wurden und die eigentliche politische Auseinandersetzung erst während des Vollzuges beginnt (Mayntz 1980a, 1983). 237
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Die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung hatte auf diese Erkenntnis zunächst mit einer radikalen Negierung der Trennung von Politik und Verwaltung reagiert (erst in den USA, ab den siebziger Jahren auch in Deutschland). In der Folge sprach man fortan vom „politisch-administrativen System“, abgekürzt PAS, oder sogar vom Kürzel RV für „Regierung und Verwaltung“. Aber indem man die politischen Funktionen der Verwaltung betont und Politik und Verwaltung konsequent gemeinsam betrachtet, wird die Frage, wie denn das Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung konkret ausgestaltet ist, einfach verdrängt. Das politisch-administrative System mag eine Metapher sein, mit der man die Wirklichkeit in Ministerien einfangen kann (siehe nächster Abschnitt), aber sie versagt vor der Größe und gleichzeitigen Vielgestaltigkeit der öffentlichen Verwaltung. Das theoretische Konzept des nahtlosen und undifferenzierten politisch-administrativen Systems, in dem es keinen Unterschied zwischen Politik und Verwaltung gibt, trägt wenig zum Verständnis der empirisch offenkundigen unterschiedlichen Funktionen, Rollenzuweisungen, Rekrutierungen und Einstellungen in öffentlichen Organisationen bei. Weder eine klare Dichotomie noch ein einheitliches politisch-administratives System, können offensichtlich die Komplexität der Wirklichkeit einfangen. Dazu braucht es präzisere Unterscheidungen. Die einfachste Unterscheidung setzt an der jeweiligen Rekrutierung und Legitimationsbasis an. Unterschieden wird zwischen gewählten Politikern (etwa Parlamentarier, Minister, oder auch kommunale Wahlbeamte), die jederzeit abgewählt werden oder zumindest Wahlen und damit ihre Stellung verlieren können, und ernannten (oder angestellten) Bürokraten (also allen Mitarbeitern der Verwaltung), die entweder als Beamte eine Lebensstellung haben, und ansonsten durch das normale Arbeitsrecht geschützt sind. Die problematische Unterscheidung der diesen Gruppen jeweils zugeordneten Funktionen kann dann am besten anhand von vier gängigen Interpretationen des Verhältnisses und der Kooperation zwischen beiden illustriert werden:71 • Nach Interpretation I, der ältesten und einfachsten Theorie über das Verhältnis von Politik und Verwaltung machen Politiker Politik und Bürokraten verwalten. Die einen treffen Entscheidungen und die anderen führen sie nur aus. Dieses Bild der Arbeitsteilung, auch wenn es wahrscheinlich nie vollständig zugetroffen hat, ist dennoch ein wichtiges Element der Mythologie über die neutrale,
71 Diese Interpretationen, im Original „Images“ genannt, gehen zurück auf die international vergleichende Untersuchung der Einstellungen von Parlamentariern und Bürokraten von Aberbach/Putnam/Rockman 1981.
4.4 Politik und Verwaltung
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unpolitische Rolle der Bürokraten im politischen System und damit im Prozess der Formulierung und Umsetzung von Politik. • Interpretation II geht davon aus, dass sowohl Politiker wie Beamte an politischen Entscheidungen beteiligt sind (etwa: wie soll das Gesetz aussehen? wer bekommt wann, was, wo und warum?), dass sie aber unterschiedliche Beiträge liefern. Beamte liefern Fakten und Wissen, Politiker bringen Interessen und Werte ein. Die einen sind für die neutrale Expertise zuständig, während die anderen für die politische Sensibilität verantwortlich sind. • Interpretation III hingegen behauptet, dass sowohl Bürokraten wie Politiker „Politik machen“, also z. B. verhandeln und am Interessenausgleich teilnehmen, dass sie aber unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen. Während Politiker breite, diffuse aber auch spezifische Interessen artikulieren und so dafür sorgen, dass sich im politischen Prozess etwas bewegt, also als Beweger und Energielieferanten auftreten, sind Beamte damit beschäftigt, zwischen wohldefinierten und etablierten Interessen zu vermitteln, d. h. sie sorgen eher für Kontinuität und Ausgleich. Nach diesem Bild sind Politiker eher parteiisch, engagiert, idealistisch und sogar ideologisch, während Bürokraten eher als vorsichtig, praktisch, pragmatisch und distanziert gelten. • Interpretation IV geht schließlich davon aus, dass sich Bürokraten und Politiker immer mehr angleichen, beide artikulieren und verhandeln Interessen und sind mit der gesellschaftlichen Umwelt eng vernetzt. Angenommen wird, dass eine Entwicklung hin zu reinen „Mischlingen“ zwischen Politikern und Bürokraten feststellbar sei. Diese Interpretationen oder Bilder, die anhand des Verhältnisses zwischen „Bürokraten“ und „Politikern“ in Ministerien entwickelt wurden (Aberbach/Putnam/ Rockman 1981), treffen vermutlich nicht nur für diesen Bereich zu. Auch in Kommunalverwaltungen sind Beamte und Angestellte damit beschäftigt, Interessen auszugleichen oder auch Interessen, die sonst vielleicht nicht artikuliert werden, überhaupt erst in den Prozess des Verwaltungshandelns einzubringen. Die verschiedenen Interpretationen können vereinfacht in der folgenden Abbildung zusammengefasst werden. Offenkundig leistet Verwaltung in aller Regel mehr, als nur politische Entscheidungen hierarchisch durchzuführen (wie es der Webersche Idealtypus nahelegt, auch wenn Max Weber nie dieser Illusion aufgesessen ist). Letztendlich ist auch die Durchführung keine Domäne der Verwaltung mehr, sondern unterliegt (zunehmenden) politischen Einflüssen, und auch im Konzept der kommunalen Selbstverwaltung war diese Trennung schon immer aufgehoben (siehe unten). 239
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I Politikdurchführung
V
Politikformulierung Interessenausgleich Interessenartikulation
Interpretation III
II V
V
P
G
G
P
P
G
P
P
P
IV V G G G
V = Verwaltung, P = Politik, G = Gemeinsam Abb. 52 Interpretation des Verhältnisses von Politik und Verwaltung Quelle: eigene Darstellung nach Aberbach/Putnam/Rockman 1981, S. 239
4.4.2 Bürokraten und Politiker: Funktionale und parteipolitische Politisierung Gerade auch im internationalen Vergleich werden die unterschiedlichen Auffassungen der Rollen von Politikern und Bürokraten deutlich. In praktischer und normativer Hinsicht ähnelt der erste Idealtyp – das „instrumentalistische“ Konzept mit seiner Betonung eines neutralen und a-politischen öffentlichen Dienstes – dem sogenannten „Westminster-Modell“, das aus dem (ehemaligen) Commonwealth oder den skandinavischen Ländern bekannt ist. Dort sind Ministerialbeamte prinzipiell „unpolitisch“ und werden auch nach Regierungswechseln i. d. R. nicht ausgewechselt. Gleichzeitig spielen Prinzipal-Agent-Probleme eine wichtige Rolle in politischen und theoretischen Diskussionen, genauso wie Konflikte zwischen politischen Beratern und permanenten Bürokraten (Hustedt/Houlberg Salomonsen 2014). Einfache und, wie viele argumentieren, naive Modelle des New Public Management haben diese instrumentelle Sichtweise übernommen, indem sie argumentierten, Politik sollte sich nur mit dem „Was“, also den Zielen der Politik befassen, während das „Wie“ der Verwaltung überlassen werden sollte (vgl. 5.2.4). Die zweite Sichtweise, die davon ausgeht, dass es zumindest in Führungspositionen keine unpolitischen Bürokraten gibt und solche Stellen daher politisch besetzt werden sollten, entspricht am ehesten dem US-System mit seiner großen Anzahl von politisch besetzten Positionen in der Verwaltung (Lewis 2012). Aber z. B. auch in vielen süd- und osteuropäischen Ländern zollen Regierungen oft dem Ideal von neutralen und a-politischen Beamten Lippenbekenntnisse, während sie eine große Anzahl von ihnen nach Wahlen oder aus anderen politischen Gründen ersetzen (Meyer-Sahling 2008). Die politische Praxis in Deutschland liegt zwischen diesen beiden Idealtypen, obwohl nach der überkommenen traditionellen Auffassung in den alten hegelianisch
4.4 Politik und Verwaltung
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inspirierten Staatstheorien, die zumindest bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prominent und dominant waren, die Bürokratie unpolitisch ist und über der Politik steht, da sie den Staat „als sittliche Idee“ verkörpert. Nur der öffentliche Dienst, also die Bürokratie, kann, so die Annahme, das Gemeinwohl garantieren und durchsetzen, notfalls auch gegenüber Politikern, Interessengruppen und Parteien, die lediglich Sonderinteressen vertreten (Böhret/Jann/Kronenwett 1982, S. 257ff.; Jann 2003). Diese Ideologie des unpolitischen, neutralen, nur am Gemeinwohl interessierten Beamten wurde allerdings spätestens in der Nazi-Zeit brutal diskreditiert. Bereits in der Weimarer Republik waren viele Spitzenbeamte entschieden antidemokratisch, unterstützten rechte Parteien und Ideen und spielten später eine wichtige Rolle beim Aufstieg und den Verbrechen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Viele traten der NSDAP bei, nachdem Deutschland 1933 ein Einparteienstaat geworden war72. Der berühmte liberale Verfassungsrechtler, Gustav Radbruch, hatte die Vorstellung des a-politischen, neutralen Beamten bereits 1930 als „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“ charakterisiert. Aber auch vor diesen verheerenden Erfahrungen war eine einfache Unterscheidung zwischen Politik und Verwaltung noch nie ein bestimmendes Merkmal des deutschen politischen und administrativen Systems. In Deutschland waren schon früh institutionelle Merkmale entwickelt worden, um Verbindungen zwischen den beiden Sphären herzustellen, insbesondere die Konzepte des „politischen Beamten“ auf der ministeriellen und des „Wahlbeamten“ auf der lokalen Ebene (siehe unten). In Deutschland ist die Verwaltung daher nicht prinzipiell a-politisch oder neutral, sondern durchaus politisiert. Dabei ist es hilfreich, analytisch zwei Dimensionen von Politisierung zu unterscheiden. Zum einen „funktionale Politisierung“, also die Fähigkeit, alle möglichen Aufgaben der Politikgestaltung wahrzunehmen, also von Politikformulierung, Zieldefinition, Verhandlungen innerhalb und außerhalb der Regierung bis hin zur Interaktion mit Bürgern und Interessengruppen (siehe Abb. 52 oben). Dabei geht es auch, aber nicht nur darum, die Erreichung der politischen Zielsetzungen der Hausleitung voranzutreiben. Dies bedeutet wiederum, die Position der Hausspitze nicht nur zu kennen und zu vertreten, sondern bei neu auftretenden Fragen eine solche Position auch treffsicher zu antizipieren oder sogar zu beeinflussen (und damit konstruktiv zu gestalten), noch bevor sie überhaupt gebildet werden konnte. Die zweite Dimension ist die „Parteipolitisierung“, also welche Rolle parteipolitische Orientierung z. B. für Stellenbesetzungen und Karrieren in der Verwaltung spielt, bis hin zu einer Ämterpatronage (vgl. zum Folgenden Jann/Veit 2020). 72 Bereits 1934 waren zwei Drittel aller deutschen Spitzenbeamten in den Ministerien Mitglieder der NSDAP, dieser Anteil stieg bis auf mehr als 90 % in 1939 (Jann/Veit 2020). 241
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4.4.2.1 Ministerialverwaltung des Bundes In der deutschen Verwaltungswissenschaft wird, ausgehend von den skizzierten Idealtypen der Beziehung zwischen Politik und Verwaltung, schon des längeren mit den Idealtypen des klassischen und des politischen Bürokraten gearbeitet (vgl. Steinkemper 1974). Klassische Bürokraten operieren dabei eher auf der Basis eines monistischen Verständnisses des öffentlichen Interesses, indem sie sich um die Schaffung objektiver Standards für technische Praktikabilität, Recht und Gerechtigkeit bemühen und davon ausgehen, dass Probleme vor allem sachlich zu lösen seien. Ihr Verhältnis zu den Institutionen politischer Macht wie Parlamenten, Parteien und Verbänden ist eher von Misstrauen bis hin zur Ablehnung geprägt. Dagegen erachten politische Bürokraten den politischen Einfluss auf Entscheidungsprozesse als legitim und akzeptieren die Notwendigkeit politischer Kompromisse auch jenseits von sachlichen Notwendigkeiten. Sie verhalten sich zu den Parteien eher affirmativ, vielfach sind sie sogar Mitglied einer Partei. In der schon erwähnten grundlegenden international vergleichenden Untersuchung zu den politischen Einstellungen der Ministerialbeamten in westlichen Ländern fanden Robert Putnam u. a. (Putnam 1976, Aberbach/Putnam/Rockman 1981) schon Mitte der siebziger Jahre, dass 3/5 der damals befragten Ministerialbeamten in Deutschland die politische Seite ihrer Arbeit eher positiv beurteilen (Putnam 1976, S. 39). Dies wurde von ihnen mit einiger Überraschung konstatiert, galt doch der deutsche Beamte als der klassische Bürokrat der Gegenwart. Ihre Ergebnisse zeigten jedoch schon damals eine überdurchschnittliche Aufgeschlossenheit gegenüber den politischen Anforderungen des demokratischen Prozesses. Als einen wesentlichen Erklärungsfaktor sahen die Autoren das Alter der Befragten an. Je jünger, desto weniger neigten diese dem Typ des klassischen Bürokraten zu. Gleichzeitig machten sie darauf aufmerksam, dass in der Realität die Typen nicht dichotomisch auftreten, sondern sich eher auf einem Kontinuum verteilen. Die Studie zeigte auch, dass höhere Beamte in Bundesministerien sogar stärker als in anderen westlichen Demokratien tief in den Prozess der Politikgestaltung eingebunden waren: Sie entwickeln nicht nur Gesetzesentwürfe und Politikinhalte, sondern spielen auch eine herausragende Rolle bei der innerstaatlichen Koordinierung sowie bei Verhandlungen und Abstimmungen mit anderen Regierungsebenen und externen Akteuren wie Interessengruppen (siehe auch Mayntz/Scharpf 1975). Eine Replikation in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre (Mayntz und Derlien 1989) sowie neuere Studien (Ebinger/Lux u. a. 2018a) bestätigen diese Befunde und unterstreichen, dass die meisten leitenden Beamten in den Bundesministerien die politische Seite ihrer Arbeit schätzen und bei der Erfüllung ihrer Aufgaben politische Überlegungen einbeziehen. Die Schwerpunktsetzung der Bundesebene auf Politikformulierung spiegelt sich somit in einer hohen funktionalen Politisierung
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der Beamten in den Bundesministerien wider. Diese funktionale Politisierung ist in Ministerien höher als in Bundesämtern, und für Spitzenpositionen höher als für niedrigere hierarchische Ränge (Ebinger/Schmitt 2010, Ebinger/Lux u. a. 2018). Das Konzept der funktionalen Politisierung ist eng mit dem Konzept des „political craft“ verbunden, das Klaus Goetz (1997) als typisch für die deutsche Ministerialbürokratie herausgearbeitet hat. Er definiert dieses politische Handwerk als “the ability to assess the likely political implications and ramifications of policy proposals; to consider a specific issue within the broader context of the government’s programme; to anticipate and, where necessary, influence or even manipulate the reactions of other actors in the policy-making process (…); and to design processes that maximise the chances for the realisation of ministers’ substantive objectives. To do all this, senior officials need to be able to draw on personal networks of information and communication that extend beyond their own ministry (…)” (Goetz 1997, S. 754).
Politisches Handwerk umfasst also nicht nur die Fähigkeit, politische Aspekte zu berücksichtigen, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit, sich aktiv am politischen Prozess zu beteiligen, den Minister zu beraten und ihm wenn notwendig zu widersprechen, um die Chance auf Zielerreichung zu erhöhen (Veit/Fromm/Ebinger 2018, Ebinger u. a. 2019) und sich in der Durchsetzung der Ziele auf Netzwerke des jeweiligen Politikbereichs zu stützen (Policy Networks). Empirische Untersuchungen zum beruflichen Werdegang von höheren Beamten in Bundesministerien haben wiederholt gezeigt, dass viele von ihnen Berufserfahrungen in politiknahen Positionen des öffentlichen Dienstes, z. B. als persönliche Assistenten von Ministern oder Staatssekretären, im Bundeskanzleramt oder als Fraktionsmitarbeiter im Parlament sammeln, oft während sie von ihrer Tätigkeit im Ministerium beurlaubt waren (Veit/Scholz 2016). Alle diese Positionen sind nicht nur geeignet, sich „politisches Handwerk“ anzueignen, sondern können auch eine parteipolitische Verbundenheit widerspiegeln. Ein wichtiges und prägendes Merkmal des deutschen Systems ist, dass alle Beamten, von der niedrigsten bis zur höchsten Ebene, Mitglieder politischer Parteien sein können und sehr oft sind. Dies ist in den meisten europäischen Ländern anders. Die Zulassung der Parteimitgliedschaft (auch für Soldaten) ist eine der vielen Lehren, die die „Gründerväter“ der Bundesrepublik aus den Erfahrungen des Untergangs der Weimarer Republik und des Aufstiegs und Erfolgs von Nazi-Deutschland gezogen haben. Beamte sollten lieber ihre politischen Präferenzen offenlegen als sich hinter einer vermeintlichen politischen Neutralität zu verstecken. Dies bedeutet nicht, dass alle oder auch nur die meisten Beamten Mitglied einer politischen Partei sind, aber dass die Mitgliedschaft in einer Partei eine legitime und respektable Offenlegung der eigenen politischen Ansichten ist (Jann/Veit 2015). Dabei wird von Beamten 243
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eine gewisse parteipolitische Zurückhaltung erwartet, und das Engagement für radikale Parteien, auch wenn sie nicht vom Verfassungsgericht verboten sind, kann zur Entfernung aus dem öffentlichen Dienst führen. Die starke funktionale Politisierung und Einbindung von Beamten der Bundesministerien in die Formulierung und Ausgestaltung von Politikinhalten zeigt sich in einem besonderen deutschen Rechtskonstrukt, den „politischen Beamten“. Nach § 54 des Bundesbeamtengesetzes sind die beiden höchsten hierarchischen Ränge in Bundesministerien, also beamtete Staatssekretäre und Abteilungsleiter, politische Beamte. Als solche können sie jederzeit ohne Angabe von Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden, wobei sie ihre erworbenen Pensionsansprüche behalten und jederzeit zurückgerufen werden können. Der Grundgedanke ist, dass Minister die Möglichkeit haben sollten, als ihre wichtigsten Beamten und Berater Personen ihres Vertrauens zu wählen, und wenn dieses Vertrauen – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr besteht, sie problemlos zu ersetzen. Die Institution des „politischen Beamten“ und die Tradition der „politischen Pensionierung“ in Deutschland reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als in Preußen das „Lebenszeitprinzip“ für Beamte eingeführt wurde (Kugele 1976). Danach konnten Beamte nur noch dann entlassen werden, wenn sie eine disziplinarische Straftat begingen, und dies wiederum warf die Frage auf, wie ihre Macht eingeschränkt werden und wie insbesondere politische Übereinstimmung zwischen dem Monarchen und den Spitzenbeamten sichergestellt werden konnten. Deshalb wurde 1849 (als nicht wenige Beamte Sympathien für die gescheiterte Revolution von 1848 gezeigt hatten) in Preußen eine Verordnung eingeführt, die erstmals eine Aufzählung von Führungspositionen innerhalb der staatlichen Verwaltung enthielt, deren Inhaber vom König jederzeit vor-übergehend in den Ruhestand versetzt werden konnten. In den folgenden Jahrzehnten wurde dann in vielen deutschen Ländern und ab 1871 auch auf nationaler Ebene die Position dieser „politischen Beamten“ eingeführt. Zurzeit gibt es neben der Bundeskanzlerin 15 Bundesminister und 35 parlamentarische Staatssekretäre, also insgesamt 50 Exekutivpolitiker in der Bundesregierung, und etwa 130 politische Beamte (25 beamtete Staatssekretäre, etwa 100 Abteilungsleiter und einige Leiter von nachgeordneten Bundesbehörden, insgesamt weit weniger als 1 % aller höheren Beamten auf Bundesebene). Alle anderen Beamten in den Bundesministerien, d. h. Unterabteilungsleiter, Referatsleiter und alle unteren Dienstgrade sind Laufbahnbeamte in Planstellen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie keine politisierten Funktionen erfüllen oder keine Parteizugehörigkeit haben. Der Aufstieg in die Spitzenpositionen der Bundesministerien hängt daher sowohl von fachlicher Kompetenz als auch von parteipolitischer Bindung und Loyalität ab. Politische Beamte sind meist, aber nicht notwendigerweise, Mitglieder derselben
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politischen Partei wie ihre Minister (Fleischer 2016). Die meisten von ihnen, aber längst nicht alle, werden nach einem Regierungswechsel ersetzt. Allerdings schützt auch die „richtige“ Parteizugehörigkeit nur sehr bedingt bei einem Ministerwechsel. Selbst bei gleicher Parteizugehörigkeit übernehmen nur wenige Minister politische Beamte ihrer Vorgänger in nennenswerter Zahl (Ebinger/Lux u. a. 2018). Der Anteil von Parteimitgliedern und Beamten mit klaren parteipolitischen Loyalitäten unter den Spitzenbeamten ist hoch, selbst unter den „unpolitischen“ Leitern von Unterabteilungen und Referaten (Bach/Veit 2018; Ebinger/Lux u. a. 2018). Alles dies deutet auf eine gewisse Relevanz von Ämterpatronage hin. Parteipolitisierung der Ministerialbürokratie hat in Deutschland allerdings gerade nicht die Form der Dominanz einer Partei, sondern bedeutet Parteienkonkurrenz, die Mitglieder aller koalitionsfähigen Parteien umfasst (Veit 2015). Eine Parteimitgliedschaft ist für Spitzenkarrieren im deutschen öffentlichen Dienst sicherlich nicht ohne Bedeutung. Aber während Spitzenbeamte für ihre Karriere auf politische Unterstützung angewiesen sein können, gilt dies auch umgekehrt. Minister sind ebenso oder vielleicht sogar noch mehr von der Unterstützung, der Loyalität und noch mehr von der Professionalität, dem Dienst- und Fachwissen ihrer Spitzenbeamten abhängig. Politische Beamte fungieren daher als Bindeglied zwischen der professionellen Bürokratie und der politischen Führung und tragen dazu bei, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zu schaffen und Missverständnisse und Misstrauen zwischen beiden Sphären abzuschwächen. Die typischen Schuldzuweisungen zwischen Politikern und Beamten oder auch „a government of strangers“ (Heclo 2011) sind in Deutschland eher ungewöhnlich. Das Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung, zwischen gewählten Politikern und ernannten Beamten, ist auch in Deutschland nie spannungs- und konfliktfrei, aber insgesamt scheint der politisierte öffentliche Dienst, sowohl in funktionaler als auch in parteipolitischer Hinsicht, zu weniger Konflikten, Missverständnissen und Schuldzuweisungen zu führen, als in anderen demokratischen Ländern. Spitzenbeamte in Deutschland brauchen sowohl fachliche Expertise als auch politisches Handwerk, sie geben nicht vor, unpolitisch und neutral zu sein, und die informierte Öffentlichkeit weiß in der Regel, woher ihre Spitzenbeamten kommen und wofür sie stehen. Diese politische Orientierung beeinträchtigt ihre Rolle als Beamte keineswegs, denn die Loyalität zu allen demokratisch gewählten Führern kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Trotz der wachsenden Bedeutung des „politischen Handwerks“ sind die Karrieren von Politikern und Beamten in den Bundesministerien immer noch traditionell klar getrennt: Spitzenbeamte kommen in der Regel nicht aus einer Karriere im Parlament oder als Minister, und Minister waren i. d. R. keine Spitzenbeamte, auch wenn es in letzter Zeit einige bekannte Ausnahmen gibt (z. B. Steinmeier, Steinbrück, de Maizière). 245
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Karrieren in Bundesministerien sind – ähnlich wie in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung in Deutschland – immer noch durch eine geringe inter- und intrasektorale Mobilität gekennzeichnet, d. h. Ministerialbeamte verbringen in den meisten Fällen ihre gesamte Laufbahn innerhalb eines Ministeriums. Neben der hohen Kontinuität der Karriereverläufe sind in den letzten Jahrzehnten aber auch Veränderungen zu beobachten. Zum einen ist die typische „reine Beamtenlaufbahn“, bei der eine Person direkt nach dem Hochschulabschluss in den öffentlichen Dienst eintritt und dort bis zur Pensionierung verbleibt, nicht mehr die Regel. Neueste Zahlen zeigen, dass weniger als ein Fünftel der beamteten Staatssekretäre noch zu dieser Gruppe gehören, alle anderen verfügen über Erfahrungen außerhalb der öffentlichen Verwaltung, oft in der Wissenschaft, der Justiz oder einer politischen Funktion (Veit/Scholz 2016). Unter den Abteilungsleitern sind „reine Beamtenlaufbahnen“ häufiger, aber auch hier haben in den letzten Jahren gemischte Laufbahnen an Bedeutung gewonnen. Zum anderen hat sich das ehemalige „Juristenmonopol“ abgeschwächt. Während 1954 mehr als drei Viertel der Spitzenpositionen in der Bonner Verwaltung mit Juristen besetzt waren, sank der Anteil in den 2000er Jahren auf rund 50 % (Veit/Scholz 2016, Ebinger/Lux u. a. 2018). Zusammengefasst sind Politik und Verwaltung in den Bundesministerien in Deutschland durch enge Zusammenarbeit in der Politikgestaltung und einen hohen Grad an funktionaler- und Parteipolitisierung der Spitzenbürokraten einerseits, aber deutlich unterschiedliche Karrieremuster von Politikern und Bürokraten andererseits gekennzeichnet. Die wachsende Bedeutung der beruflichen Erfahrungen von Ministerialbeamten im politischen Bereich scheint jedoch auf Veränderungen hinzuweisen. Bemerkenswerterweise sind diese auf der Ebene der Länder weiter fortgeschritten, wie im nächsten Abschnitt deutlich wird.
4.4.2.2 Ministerialverwaltung der Bundesländer Die Anzahl „Politischer Beamter“ in den Ländern ist geringer als auf Bundesebene, denn auch die Ministerien sind kleiner und haben weniger politische Aufgaben, aber in allen Bundesländern (außer Bayern) ist der oberste Beamte jedes Ministeriums (der beamtete Staatssekretär, der in Baden-Württemberg Ministerialdirektor genannt wird) ein politischer Beamter, der – ähnlich wie beim Bund – jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden kann. Abteilungsleiter in Landesministerien und alle Beamten der unteren Dienstgrade sind Laufbahnbeamte auf Lebenszeit, aber z. B. auch Polizeipräsidenten oder Regierungspräsidenten sind häufig politische Beamte. Insgesamt gibt es auch in den größten Bundesländern nicht mehr als zwanzig politische Beamte. Wie auf Bundesebene werden auch die Staatssekretäre in den Landesministerien in der Regel aus dem öffentlichen Dienst rekrutiert, d. h. von allen zwischen 2000 und 2018 ernannten Staatssekretären hatten
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85 % eine mindestens einjährige Berufserfahrung, etwa die Hälfte hatte mehr als zehn Jahre Erfahrung im öffentlichen Dienst. Im Hinblick auf die Politisierung in den Landesministerien ist der Anteil der Parteimitglieder hoch (ähnlich wie auf Bundesebene). Allerdings haben die Staatssekretäre sehr häufig, d. h. in mehr als zwei Drittel aller Fälle, in früheren Karrierestufen Berufserfahrung in der Politik erworben (sei es als gewählte Politiker, als Parteiprofis oder als Beamte mit Erfahrung in politiknahen Ämtern wie z. B. als persönliche Assistenten eines Ministers). Andererseits verfügen aber auch viele Minister (etwa ein Drittel) über Berufserfahrung im öffentlichen Dienst. Dies deutet darauf hin, dass die politischen und administrativen Laufbahnen auf Länderebene nicht mehr so strikt getrennt sind wie auf Bundesebene. Fast jeder fünfte politische Beamte (18 %) war vor seiner Ernennung zum politischen Beamten hauptberuflich als Politiker (Abgeordneter) tätig, und auch politische Erfahrung auf kommunaler Ebene (etwa als gewählter Stadtrat) ist weit verbreitet, nimmt allerdings im Laufe der Zeit ab. Während Anfang der 2000er Jahre 38 % der beamteten Staatssekretäre in den deutschen Bundesländern einen solchen Hintergrund hatten, ist dieser Anteil in den Jahren 2015–2018 auf weniger als ein Viertel gesunken. Insgesamt nimmt aber die Relevanz von Erfahrungen als Parteifunktionär oder in politiknahen Ämtern im Laufe der Zeit erheblich zu. Diese zunehmende Vermischung politischer und administrativer Karrieren verdeutlicht die offensichtlich zunehmende Bedeutung des „politischen Handwerks“ für administrative Spitzenpositionen, gerade auch auf Landesebene (die Zahlen basieren auf einer aktuellen Untersuchung von Sylvia Veit, siehe Jann/Veit 2020).
4.4.3 Politik und Verwaltung auf kommunaler Ebene 4.4.3.1 Institutionelle Ausgangslage Betrachtet man die formale Ausgestaltung des Verhältnisses von Politik und Verwaltung in den Gemeindeordnungen, so zeigt sich, dass die klassische Gewaltenteilung für die kommunale Ebene ohnehin nicht gilt. Die kommunale Vertretungskörperschaft ist in der deutschen Kommunaltradition ein Verwaltungsorgan, damit Teil der kommunalen Selbstverwaltung und der Exekutive zuzuordnen, und kein Parlament im eigentlichen Sinne, obwohl es viele Übereinstimmungen mit sonstigen Parlamenten gibt. Eine klare Trennung zwischen Politik und Verwaltung ist nicht erkennbar und auch nicht beabsichtigt. So wurde auch in der alten GO NW davon ausgegangen,
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dass die Gemeindevertretung das oberste Verwaltungsorgan73 ist, also verwaltet (§27 GO NW: „Träger der Gemeindeverwaltung“), also auch, dass die Verwaltung Politik macht, indem sie die Entscheidungen in der Gemeindevertretung vorbereitet (§47 GO NW). Entscheidend für den fehlenden Status der Kommunalvertretung als Parlament ist nach Ansicht einiger Autoren, dass den Gemeinden keine eigenständige Gesetzgebungskompetenz zukommt, sie also über keine staatliche Hoheitsmacht verfügen. Im Unterschied zu Satzungen, in denen das Ortsrecht festgehalten wird, können Gesetze nur von den Landesparlamenten und vom Bundestag erlassen werden. Beschlüsse der Gemeindevertretung können im Aufsichtswege beanstandet, aufgehoben oder sogar ersetzt werden (§108, 109 GO NW), das Innenministerium kann einen Beauftragen zur Erfüllung einzelner Aufgaben einsetzen (§110 GO NW) und der Rat kann durch Beschluss der Landesregierung sogar aufgelöst werden (§111 GO NW), so dass, wie Forsthoff schon früh ausführte, von einem originären Parlamentsrecht nicht gesprochen werden kann (1973, S. 551f.). Zudem haben die Gemeinden nur sehr begrenzt Einfluss auf die eigenen Einnahmemöglichkeiten. Trotz dieser Einschränkungen hat sich in der kommunalen Praxis zumindest in den großen Städten kommunale Selbstverwaltung zu einer modernen lokalen Demokratie entwickelt (Wollmann 1998c). Insbesondere in den größeren Kommunen haben sie sich in ihrer Arbeitsstruktur durchaus den Arbeitsstrukturen von Parlamenten angenähert. So sind auch in den Kommunalvertretungen vor allem die Ausschüsse wichtig, in denen alle Entscheidungsvorlagen vorbesprochen werden. Zudem gibt es seit Ende der siebziger Jahre einen Ausbau „parlamentarischer Rechte“ in den Gemeinderäten und Kreistagen durch die Schaffung von Minderheitsrechten von Fraktionen bezüglich der Einberufung des Rates, der Durchsetzung von Tagesordnungspunkten, des Akteneinsichtsrechts und der Forderung nach namentlicher und geheimer Abstimmung. Damit wird die Oppositionsrolle in der kommunalen Vertretungskörperschaft rechtlich deutlich aufgewertet. Zudem gibt es überall Regelungen zum Verdienstausfall und Aufwandsentschädigungen, die aber von Kommune zu Kommune anders gehandhabt werden. Die kommunalen Vertretungskörperschaften werden zudem wie ein Parlament gewählt, die Mitglieder schließen sich zu Fraktionen zusammen, haben das Recht, kommunale Satzungen zu beschließen und fühlen sich als Parlamentarier. Von den klassischen Parlamentsrechten verfügt man somit über die Möglichkeit der politi-
73 In Baden-Württemberg gibt es dagegen schon immer zwei Organe, den Gemeinderat als Hauptorgan und den Bürgermeister (§23; 24, 1 GO BaWü). Allerdings kam in NRW dem Gemeindedirektor aufgrund seiner Zuständigkeiten bei der Leitung und Verteilung der Geschäfte nach einem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes von 1954 die Rechtsstellung eines Organs zu, obwohl dies zunächst nicht in der GO kodifiziert wurde.
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schen Leitungsentscheidung, über das Budgetrecht, über die Normsetzungsbefugnis sowie über die Kontrollfunktion. Zur Wahrnehmung ihrer Kontrollaufgaben (§40, §49 GO NW) verfügen die Vertretungskörperschaften neben dem schon erwähnten Budgetrecht über ein Frage- und Antwortrecht, das umfassende Recht auf Information sowie die Möglichkeit, den Verwaltungschef abzuwählen. Wollmann sieht diesen Parlamentarisierungsprozess als Verwirklichung der ursprünglichen Grundgesetzintention an, nämlich des Art. 28, Abs. 1, Satz 2, der vorsieht, dass „das Volk (…) in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Volksvertretung“ (Wollmann 1998a, S. 406, 1998c, S. 50ff.) haben müsse. Auch Ott spricht hier von einem Parlamentscharakter der Gemeindevertretung (Ott 1994). Die Kommunalpolitiker arbeiten ehrenamtlich, d. h., sie erhalten nur Aufwandsentschädigungen. Allerdings nehmen die Komplexität und die zu verarbeitenden Informationen mit der Gemeindegröße stark zu, sodass zumindest in den 79 deutschen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern häufig die Grenzen der Ehrenamtlichkeit erreicht sind. Eine repräsentative Studie zur Situation des kommunalen Ehrenamtes aus dem Jahre 2017 in NRW zeigt, dass der mittlere Zeitaufwand in den Städten 32,5 Stunden im Monat beträgt (Kreise: 29,7 Stunden). Erwartungsgemäß sind es im Vergleich die Fraktionsvorsitzenden, die die meiste Zeit in ihre Tätigkeit investieren (43,9 Stunden je Monat; Kreise 40,8; vgl. Bogumil/ Gehne/Garske 2017, S. 62).74 In den einwohnerstärksten Städten Nordrhein-Westfalens fällt der Zeitaufwand bei Fraktionsvorsitzenden mit 56,4 Stunden noch deutlich höher aus. Die Ratsmitglieder in den Großstädten erhalten im Jahr 2006 eine durchschnittliche Gesamtaufwandsentschädigung aus Pauschale und/oder Sitzungsgeld von monatlich 521 Euro (vgl. Reiser 2006). Während es in Erfurt nur 187 Euro pro Monat sind, erhalten die die Stuttgarter Stadträte 2.460 Euro pro Monat (zum Vergleich Hamburg 2.456 Euro, Bundestag 7.009 Euro zum gleichen Zeitpunkt). Zudem wird den Fraktionen ermöglicht, Fraktionspersonal einzustellen. Durchschnittlich erhält eine Fraktion in den Großstädten pro Fraktionsmitglied Zuwendungen in Höhe von 9.289 Euro pro Jahr. Auch hier schwanken die Beiträge beträchtlich, zwischen 30.612 Euro in Frankfurt und 612 Euro in Heilbronn (zum Vergleich Hamburg: 26.682, Bundestag 88.731 Euro, vgl. Reiser 2006). Die Größe der Gemeindevertretung hängt von der Gemeindegröße ab. Dabei gibt es bezüglich der Anzahl der Sitze zwischen den Bundesländern leichte Abwei-
74 In einer der größten Befragungen von Rats- und Kreistagsmitgliedern in der Bundesrepublik Deutschland wurden im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen 10 % aller Ratsmitglieder befragt, das waren 2.283 kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger aus 44 Städten und Gemeinden und sechs Landkreisen. Rund 61 % von ihnen nutzten die Möglichkeit zur Rückantwort (vgl. ebd., S. 5). 249
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chungen, sodass z. B. in NRW die Räte prinzipiell größer sind. Hat eine Stadt z. B. etwas über 400.000 Einwohner, gibt es in Baden-Württemberg und Bayern 60 Sitze und in NRW 74. Bei Kommunen mit einer Größe von 5.000 Einwohnern sind es entsprechend 18, 20 und 26 Gemeinderatssitze. Insgesamt gibt es in NRW 15.818 Kommunalmandate. Aufgrund der größeren Anzahl an Kommunen sind es in Baden-Württemberg 18.216 und in Bayern 32.576 (vgl. Bogumil/Holtkamp 2013, S. 42). Die Befragung aus dem Jahr 2017 in NRW ergab zudem, dass der typische kommunale Mandatsträger männlich ist, über 55 Jahre alt und hoch gebildet. Damit unterscheiden sie sich nicht wesentlich von anderen Mandatsträgern in Deutschland. Zwar fällt keine Alterskohorte komplett aus, doch sind es vor allem Schüler und Studenten, Berufseinsteiger und Mandatsträger im Lebensalter zwischen 30 und 40, die im Vergleich zur Bevölkerung erheblich unterrepräsentiert sind. Der Frauenanteil ist mit 27 % in den Städten und 29 % in den Kreisen – gemessen an dem Bevölkerungsdurchschnitt – immer noch gering. Zweidrittel der Mandatsträger haben die Fachhochschulreife oder die Hochschulreife erworben, während der Anteil in der Bevölkerung bezogen auf die 20–65-Jährigen bei 33 % liegt, so dass von einer deutlichen Akademisierung der Vertretungskörperschaft auszugehen ist (vgl. Bogumil/Gehne/Garske 2017, S. 37). Zusammenfassend zeigt sich, dass die Kommunen nach dem deutschen Kommunalrecht den Status einer besonderen Form politischer Verwaltung innehaben, der durch seine Unklarheit mit für die Konflikte zwischen eher verwaltungs- und sachorientierten sowie parteienstaatlichen Konzeptionen kommunaler Selbstverwaltung verantwortlich ist. Dabei gibt es zwischen den einzelnen Bundesländern trotz der in Kapitel 3.5.3 geschilderten Angleichung der Kommunalverfassungen deutliche Unterschiede in der Ausgestaltung des institutionellen Rahmens, die sich zwischen den Extremen eher konkurrenzdemokratisch und eher konkordanzdemokratisch ausgerichteten Kommunalverfassungen bewegen (vgl. Kap. 3.5.3).
4.4.3.2 Empirische Erkenntnisse Neben dieser normativen Diskussion, wie eigentlich die kommunale Selbstverwaltung einzuschätzen sei, gibt es auch einige empirische Erkenntnisse zum Verhältnis von Politik und Verwaltung auf lokaler Ebene. Seit Anfang der neunziger Jahre lassen sich grob fünf wesentliche Trends unterscheiden, die das alte Verhältnis von Politik, Verwaltung und Bürgern zunehmend berühren (vgl. Bogumil 2001): • zunehmende Haushaltskonsolidierungsanstrengungen, • Liberalisierungs- und Privatisierungsbestrebungen vor allem im Bereich kommunaler Daseinsvorsorge,
4.4 Politik und Verwaltung
251
• die flächendeckende Einführung von direkt-demokratischen Elementen (Direktwahl des hauptamtlichen Bürgermeisters, Bürgerbegehren/-entscheide), • die zunehmende Bedeutung kooperativer Demokratieelemente (z. B. durch Lokale-Agenda-Prozesse, Mediationsverfahren) sowie • die umfassenden Bemühungen zur Verwaltungsmodernisierung nach dem Neuen Steuerungsmodell (NSM) im Rahmen der Public-Management-Reformen. Hierbei handelt es sich um recht unterschiedliche Entwicklungen, die zudem an verschiedenen Stellen im kommunalen Entscheidungsprozess ansetzen. Wie wirken sich die Modernisierungsimpulse nun im kommunalen Kräftedreieck zwischen Rat, Verwaltungsspitze und Bürgerschaft aus? Das folgende Schaubild zeigt eine sehr verdichtete Zusammenfassung bezogen auf die Einflusschancen der verschiedenen Akteure (vgl. ausführlich Bogumil/Holtkamp/Kißler 2004). Haushalts- Privatisiekrise rung Bürgermeister 0 – Verwaltung + – Vertretung75 – – Bürger – –
Direktwahl + 0 – +
Bürger begehren – – – +
Kooperative NSM Demokratie + 0 + + – 0 + +
Abb. 53 Wirkungen lokaler Modernisierungstrends auf die Einflusschancen der Akteure Quelle: Bogumil/Holtkamp 2006
Spitzt man die Ergebnisse zu, so zeigt sich zum einen, dass die gewählte Kommunalvertretung der absolute Verlierer der Entwicklungen ist und immer geringere Handlungsspielräume hat. Die Haushaltskrise und zunehmende Privatisierungen schränken die traditionellen Politikgestaltungsmöglichkeiten ein, durch die Direktwahl des Bürgermeisters und durch die Einführung von kommunalen Referenden entstehen Vetopositionen sowohl für die Verwaltungsleitung als auch für die Bürger, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Aber auch diese Vetopositionen schränken den Handlungsspielraum der kommunalen Vertretungskörperschaften ein. Dies gilt in schwächerem Maße auch für kooperative Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten, die, 75 Vor allem die Mehrheitsfraktionen sind hier in ihrem Handlungsspielraum getroffen, für die Oppositionsfraktionen ergeben sich mitunter sogar neue Handlungsspielräume, z. B. durch die Nutzung von Bürgerbegehren. 251
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
einmal installiert, Eigendynamiken entwickeln. Allerdings hat die Vertretung durch Verteidigungsstrategien durchaus die Möglichkeit, einen Teil der Handlungsspielräume zu konservieren. Dies gilt nicht nur für die neue Arbeitsteilung zwischen Vertretung und Verwaltung im Rahmen der Verwaltungsreformen des NSM, die durchweg gegen ihren Widerstand nicht umgesetzt wurde. Auch im Rahmen der kooperativen Demokratie ist teilweise zu beobachten, dass die Kommunalvertretung zwar immer mehr Bürgerforen einrichtet, aber nur wenig Bereitschaft zeigt, hinterher auch Beteiligungsergebnisse umzusetzen, sondern eher ihre eigenen Präferenzen realisieren will. Diese Verteidigungsstrategie führt aber dazu, dass sich Partizipationsenttäuschungen bei den Bürgern verschärfen können. Weiterhin ist in manchen Bundesländern wie in Nordrhein-Westfalen zu beobachten, dass die Vertretungsmehrheiten allzu selbstbewussten Bürgermeistern über die Hauptsatzung oder das Aufbauen von starken Beigeordneten Einhalt gebieten. Nur führt dies nicht selten zu einer Politikblockade. Der Bürgermeister kann viele Dinge nicht mehr alleine voranbringen und revanchiert sich dafür mit der mangelhaften Vorbereitung und Implementation von Vertretungsbeschlüssen. Die Selbstverteidigungsstrategien der Vertretung können also nicht unbeträchtliche negative Nebenfolgen hervorbringen. Die Verwaltungsspitze, repräsentiert durch den hauptamtlichen Bürgermeister, kann in der Summe ihr Machtpotential durchaus ausbauen. Sie wird zwar auch durch Privatisierungsmaßnahmen und die Einführung von Bürgerbegehren negativ in ihren Einflussmöglichkeiten tangiert, erhält aber vor allem durch die Direktwahl eine deutliche Stärkung im kommunalen Entscheidungssystem. Auch zeigt sich, dass die Bürgermeister in der Regel Bürgerbeteiligungsmaßnahmen sehr gut für ihre eigenen Zwecke nutzen und damit häufig die kommunalen Vertretungskörperschaften unter Druck setzen können. Ähnliches gilt für die hauptamtliche und professionelle Verwaltung, die durch ihren Informationsvorsprung und ihre vielfältigen Kontakte sowohl die Möglichkeiten des Neuen Steuerungsmodells, wie auch der kooperativen Demokratie, und nicht selten sogar der Haushaltskrise zur Durchsetzung ihrer Präferenzen nutzen kann. Bezogen auf die Bürger gibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits haben die Bürger immer mehr Möglichkeiten sich in das politische System einzubringen, andererseits wird es aufgrund der geringeren Handlungsspielräume durch Privatisierung und Haushaltskrise immer unwahrscheinlicher, dass dies Auswirkungen auf den Output des kommunalpolitischen Systems hat. Während die stärkere Bürgerorientierung der drei partizipativen Modernisierungstrends (Bürgerbegehren, Direktwahl und kooperative Demokratie) bei den Bürgern also die Erwartungen weckt, dass sie zukünftig mehr Einfluss auf die Kommunalpolitik nehmen können, reduzieren stetig abnehmende kommunale Handlungsspielräume demgegenüber die Einflussmöglichkeiten und können zu einer Enttäuschung dieser Erwartungen
4.4 Politik und Verwaltung
253
führen. Die Bürger werden so zwar immer mehr nach ihrer Meinung gefragt, aber ihre Meinung ist aufgrund geringerer Handlungsspielräume immer folgenloser. Frustration ist deshalb vorprogrammiert. Der Anspruch der anderen Modernisierungstrends, Politik(er)verdrossenheit durch Beteiligung abzubauen, könnte unter diesen Rahmenbedingungen in sein Gegenteil umschlagen.
4.4.4 Normative Bilder der Verwaltung Die Rolle der öffentlichen Verwaltung im demokratischen Staat ist, wie gezeigt, keinesfalls selbstverständlich und unproblematisch. Die Verwaltung ist in Gewaltenteilungslehren und Demokratietheorien keine eigenständige Kategorie neben Judikative und Legislative, aber sie sollte und müsste es eigentlich sein, denn die bequeme Subsumptionen unter „Exekutive“ oder auch „politisch-administratives System“ (PAS) verschleiern die Problematik mehr, als dass sie diese erhellen würden (zum folgenden ausführlich Jann 1998a m. w. A., aus dem weite Teile übernommen wurden). So argumentiert z. B. die traditionelle Verwaltungsrechtswissenschaft im Anschluss an Otto Mayer, Verwaltung sei „Tätigkeit des Staates, die nicht Gesetzgebung oder Justiz ist“ (Mayer 1895, S. 7), und H. Peters hat sich in einer einflussreichen Schrift „Die Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt“ (Peters 1965) ausdrücklich mit einer möglichen Trennung von Regierung und Verwaltung auseinandergesetzt und diese Unterscheidung mit dem Argument abgelehnt, im Gewaltenteilungsschema gebe es keinen Platz für eine abgesonderte Regierung (Thieme 1984, S. 3). Ausgangspunkt ist jeweils die klassische Trennung des Regierungssystems in Legislative, Judikative und Exekutive, die als abschließend betrachtet wird. Für Verwaltung gibt es in dieser Theorietradition keinen Platz. In einer klassisch-konservativen Staatstheorie, bei der Demokratie ohnehin nur „staatsformabhängiges Beiwerk“ ist (Krüger 1966) und einzig der Staat, repräsentiert durch seinen hoheitlichen Apparat, sich dadurch auszeichnet, dass er allein das Gemeinwohl erkennen und durchsetzen kann (ausführlich Böhret/Jann/Kronenwett 1979, S. 256ff.), ist diese Einheit von Regierung und Verwaltung kein Problem, sie ist sogar Kern dieses Staatsverständnisses. Die Exekutive ist der eigentliche Staat und die Bürokratie die eigentliche Exekutive. Das Beamtentum ist der „allgemeine Stand“, der „die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte“ hat (Hegel, Rechtsphilosophie §§ 205, 303). Diese Theorie lässt sich im demokratischen Verfassungsstaat nicht mehr überzeugend vertreten. Die funktionelle Differenzierung, insbesondere das Entstehen hochgradig organisierter funktioneller Teilsysteme der Gesellschaft, die mit den Stichworten Spezialisierung, Differenzierung, Interdependenz und nicht zuletzt 253
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
Enthierarchisierung charakterisiert werden kann (Mayntz 1996), hat eine erhebliche territoriale und funktionale Differenzierung des öffentlichen Sektors erzeugt. Dabei erstrecken sich die gesellschaftlichen Widersprüche in den Staat selbst und verringern seine Kohärenz. Je mehr staatliche Steuerung, desto mehr Zielkonflikte. Unterschiedliche Verwaltungszweige verfolgen – wissentlich oder absichtslos – unvereinbare Zwecke und verursachen Folgewirkungen in anderen Ressorts. Der Bedarf an Koordination übersteigt zunehmend die Kapazitäten des politischen Systems, auf keinen Fall kann mehr von einer einfachen politischen Steuerung der Verwaltung ausgegangen werden. Offenbar macht es auch keinen Sinn mehr, von einer einheitlichen öffentlichen Verwaltung zu sprechen. Das Bild von der öffentlichen Verwaltung als hierarchischer, einfach zu steuernder Pyramide war vermutlich nie realistisch und ist heute auf jeden Fall grob irreführend. Die öffentliche Verwaltung ist viel zu spezialisiert, differenziert und fragmentiert, als dass sie diesem Bild noch entspräche. Statt einer festen Pyramide entsteht eher das Bild eines vielfältig verknüpften und sich weitgehend selbst tragenden Netzes. Es erscheint daher sinnvoller, vom „öffentlichen Sektor“ zu sprechen, als von der „öffentlichen Verwaltung“ oder vom „öffentlichen Dienst“. Insbesondere Fritz W. Scharpf hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der öffentliche Sektor sich so stark differenziert hat und so sehr mit anderen gesellschaftlichen Sektoren verflochten ist, dass die mit der Steuerungs-Metapher fast immer unterstellten Voraussetzungen einer aus einheitlicher Absicht hervorgebrachten Willensbildung und Willensdurchsetzung des ,Staates‘ nicht mehr gegeben sind, falls es sie je gab. Dass sich aus dieser Erkenntnis erhebliche Probleme der politischen Steuerung der Verwaltung und ihrer Legitimation ergeben, liegt auf der Hand. Demokratietheoretisch ist das klassische Modell von der gesetzesgebundenen, streng bürokratisch und hierarchisch organisierten und handelnden Verwaltung viel unproblematischer, als das der flexibel handelnden, mit ihrer gesellschaftlichen Klientel verflochtenen, weitgehend autonomen Verwaltung. Im Folgenden soll es darum gehen, diese Problematik in unterschiedlichen, mehr oder weniger expliziten Sichtweisen der Rolle der öffentlichen Verwaltung deutlich zu machen, zu systematisieren und dabei pointiert zusammenzufassen. In diesem Zusammenhang werden vier normative Bilder der öffentlichen Verwaltung im Regierungssystem unterschieden, deren jeweilige Herausbildung unterschiedlichen Entwicklungsstufen des demokratischen Staates zugeordnet werden kann, die aber auch heute noch alle in bestimmten Bereichen der Verwaltung relevant sind. Die Unterscheidung dieser Modelle geht zurück auf eine umfassende empirische Untersuchung des dänischen öffentlichen Sektors, in der 120 öffentliche Organisationen analysiert und in einer Datenbank mit über 1000 Variablen beschrieben wurden (siehe Beck Jørgensen 1993, Antonsen/Jørgensen 1995).
4.4 Politik und Verwaltung
Abbildung 54:
255
Normative Bilder der Verwaltung
Abb. 54 Normative Bilder der Verwaltung
Quelle: eigene Darstellung Quelle: eigene Darstellung
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80
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
„Öffentliche Verwaltung“ wird dabei zunächst ganz einfach institutionell verstanden, im Gegensatz z. B. zu der oben vorgenommenen personellen Unterscheidung zwischen „Bürokraten“ (Beamten, Angehörigen des öffentlichen Dienstes) und „Politikern“ (nicht ernannten, sondern gewählten Funktionären). Ganz allgemein sollen unter öffentliche Verwaltung alle Organisationen subsumiert werden, die – im deutschen Rechtssystem – öffentlich-rechtlich organisiert sind und/oder überwiegend durch in öffentlichen Haushaltsplänen festgelegte Finanzen finanziert werden (also z. B. auch öffentliche Theater, Eigenbetriebe, Universitäten oder Schulen, öffentliche Stiftungen, Körperschaften und Anstalten). Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist daher die formal definierte „öffentliche Organisation“, die in vier unterschiedlichen normativen Bildern der öffentlichen Verwaltung typologisch unterschieden wird, nämlich als • • • •
autonome Verwaltung hierarchische Verwaltung kooperative Verwaltung und responsive Verwaltung.
4.4.4.1 Normative Grundlagen Ausgangspunkt traditioneller Vorstellungen der Verwaltung ist die „autonome Verwaltung“. Die Funktion öffentlicher Organisationen besteht in diesem Idealtypus darin, das Gemeinwohl zu erkennen und zu verwirklichen. Normative Grundlage ist das a priori vorhandene Gemeinwohl, das „nur“ erkannt und umgesetzt werden muss. Darin besteht die eigentliche Aufgabe des Staates, und nur er ist dazu in der Lage. Der Staat wiederum besteht aus seinen loyalen Beamten. Zentrales Merkmal dieses Beamtenkörpers sind gemeinsame moralische, ethische und professionelle Werte, die vor allem durch eine spezifische Sozialisation vermittelt werden können. Organisationsprinzip der öffentlichen Verwaltung ist daher die autonome Bürokratie, die letztendlich vor den unsachlichen und das Gemeinwohl verfälschenden Einflüssen der Umwelt geschützt werden muss. Diese feindliche Umwelt besteht insbesondere aus Interessengruppen, die gemeinwohlfeindliche Eigeninteressen verfolgen, aber auch der Politik, insbesondere den eigensüchtigen Parteien, im Endergebnis aber auch aus den egoistischen, uninformierten und vorurteilsbeladenen Bürgern. Siehe z. B. die Auffassung eines traditionellen Staatsrechtlers wie Herbert Krüger: „Anders als für die Gesellschaft im Verhältnis zum Staat gibt es (…) für den Staat keinen spezifischen Schutz vor der Gesellschaft. Umso mehr muss daher vor allem
4.4 Politik und Verwaltung
257
Bedacht auf die Abschirmung des Staates gegenüber dem natürlichen Menschen genommen werden“ (Krüger 1966, S. 629, ausführlich Böhret/Jann/Kronenwett 1982).
Die vorrangige Rolle der Bürger ist die der Untertanen dieses paternalistischen Obrigkeitsstaates. Politikformulierung, die Festlegung öffentlicher Aufgaben, und ihre Umsetzung, „was soll der Staat tun und wie soll er dies tun“, obliegt der neutralen Bürokratie. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Politikformulierung und -durchführung, allenfalls ist dies eine Frage der Kompetenz. Die Implementation wird von weniger kompetenten Angehörigen der Verwaltung vorgenommen, daher muss sie hierarchisch überwacht und gesteuert werden. Das nächste Bild ist das der hierarchisch organisierten Verwaltung im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat. Hier besteht die zentrale Funktion öffentlicher Organisationen in der Verwirklichung demokratisch definierter politischer Präferenzen. Normative Grundlage dieses Bildes ist die Demokratie, und zwar im Sinne von Dahl als Polyarchie, d. h. gekennzeichnet durch Organisations-, Koalitions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, allgemeines Wahlrecht, Offenheit sämtlicher öffentlicher Ämter für alle Bürger, und vor allem das Recht, um Ämter und Unterstützung zu konkurrieren, Informationsfreiheit und alternative Angebote von Informationen, freie, gleiche, geheime und faire Wahlen und insbesondere die Existenz von Institutionen, die Politikinhalte und deren Umsetzung an Wahlen, Abstimmungen und andere Manifestationen von politischen Präferenzen binden (Dahl 1971, Schmidt 1995, Böhret/Jann/Kronenwett 1979). Dies ist das klassische Bild des demokratischen Verfassungsstaates. Das Idealbild der öffentlichen Verwaltung ist darin das der Bürokratie als verlässlicher Maschine, die all diese demokratischen Funktionen ohne Bias, „sine ira et studio“, fair, neutral und wie die Adjektive alle heißen, unterstützt. Im Gegensatz zum ersten Bild soll die Verwaltung hier alles andere als autonom sein, sie soll stattdessen vollständig demokratisch determiniert und kontrolliert werden. Die vorrangige Rolle der Bürger ist die der Wähler, die ihre Präferenzen und Interessen über ihre gewählten Repräsentanten qua demokratisch-legitimierter Gesetzgebung und Regierung der Verwaltung vorgeben. Politikformulierung geschieht durch Wahlen, Parlamente, Kabinette, Parteien und alle anderen legitimen Möglichkeiten demokratischer Willensbildung – durchaus unterstützt von einer loyalen Bürokratie. Es gibt eine parlamentarische Steuerungs- und Legitimationskette, die entweder über Wahl-Parlament-Gesetze-Bürokratie (legislative Programmsteuerung) oder Wahl-Parlament-Regierung-Bürokratie (demokratisch-legitimierte Weisung) funktioniert. Die Politikdurchführung ist demgegenüber weiterhin der neutralen Expertise und Professionalität der Bürokratie überlassen. Dies ist das Bild der klassischen Dichotomie zwischen Politik und Verwaltung. 257
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
Nachdem auch dieser Idealtypus sich als wirklichkeitsfremd – selbst für einen Idealtypus – erwiesen hatte, entstand das Bild der kooperativen Verwaltung (grundlegend Benz 1994, Dose 1997, Dose/Voigt 1995). Hier erweitert sich die Funktion der öffentlichen Verwaltung in Richtung eines Konstrukteurs und Moderators komplexer Verhandlungssysteme zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Normative Prämisse ist hier die Ermöglichung adäquater Problemlösungen durch die Berücksichtigung und den Ausgleich legitimer Interessen und der internen Strukturen und Funktionen sozialer, weitgehend selbst-regulierender Subsysteme und kollektiver Akteure (Scharpf 1993, Mayntz 1996). Dies ist das Bild des hoch-differenzierten, pluralistischen und korporativen Verhandlungsstaates. Die Bürokratie ist in diesem Bild kompetenter Verhandlungspartner in und auch Architekt von Politiknetzwerken, dabei wird nicht prinzipiell zwischen Politik und Verwaltung unterschieden. Akteur ist das politisch-administrative System. Eine zentrale Rolle der Verwaltung besteht in der administrativen Interessenvermittlung, d. h. in der Aggregation und durchaus auch Artikulation gesellschaftlicher Interessen in enger Verbindung mit gesellschaftlichen Organisationen (Lehmbruch 1987). Bürger treten dieser Verwaltung vorrangig als Mitglieder von Organisationen gegenüber. Je differenzierter und organisierter die Gesellschaft, desto handlungsfähiger sind im Prinzip corporate actors und das politisch-administrative System. Politikformulierung geschieht daher notwendigerweise in hoch-differenzierten Politiknetzwerken, unter Mitwirkung von betroffenen Verbänden, Unternehmen, Wissenschaft und natürlich auch politischen Organisationen. Die Politikdurchführung wird weiterhin einer professionellen Bürokratie überlassen, die allerdings über erhebliche Verhandlungs- und Handlungsspielräume verfügen muss. Die hierarchische Überordnung des Staates über die Gesellschaft wird zunehmend infrage gestellt. Schließlich gibt es ein weiteres, „moderneres“ Bild der öffentlichen Verwaltung, nämlich das der responsiven Dienstleistungsorganisation. Hier liegt die zentrale Aufgabe der öffentlichen Verwaltung in der Befriedigung der konkreten Wünsche und Bedürfnisse der Bürger, also ihrer Klienten und ihrer „Kunden“ (Oppen 1995, KGSt 1992). Die Verwaltung als öffentliche Organisation ist eher der Gesellschaft untergeordnet als der Politik. Normative Prämissen sind in diesem Modell die effektive und effiziente Dienstleistung und „Kundenorientierung“. Die Präferenzen der Bürger werden nicht, wie im autonomen Modell, von der Verwaltung selbst definiert, sie werden auch nicht, wie im hierarchischen Modell, per Gesetz oder Regierung vorgegeben und auch nicht in komplexen Verhandlungssystemen festgelegt, sondern sie werden direkt gegenüber der Verwaltung artikuliert und durch direkten Austausch durchgesetzt. Das Idealbild der öffentlichen Verwaltung ist hier die Bürokratie im Wettbewerb. Die Bürger können sich ihre öffentlichen Dienstleistungen in der Konkurrenz
4.4 Politik und Verwaltung
Abbildung 55:
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Verhältnis zwischen Politikern und Bürokraten
Abb. 55 Verhältnis zwischen Politikern und Bürokraten Quelle: eigene Darstellung Quelle: eigene Darstellung 259
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
einer Vielfalt von Anbietern, seien sie privat, aus dem sog. Dritten Sektor oder auch andere öffentliche Organisationen aussuchen. Bürger sind daher vorrangig Klienten, Konsumenten, Kunden der öffentlichen Verwaltung, oder auch, in einem modernen Verständnis von Dienstleistungen, aktive Ko-Produzenten dieser Leistungen. Politikformulierung geschieht durch direkte Beteiligung und aktive Teilnahme der Bürger, Partizipation ist hier die normative Leitlinie. Im nächsten Abschnitt soll genauer untersucht werden, wie die Realität der öffentlichen Verwaltung in Deutschland mit diesen normativen Bildern korrespondiert. Vorher ist es aber notwendig, kurz das prekäre Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung in diesen Modellen anhand der ihnen zugeordneten Akteure, also der Politiker und Bürokraten zu spezifizieren.
4.4.4.2 Politiker In der autonomen Verwaltung gibt es eigentlich keinen Bedarf für Politiker. Sollte es sie dennoch geben, sind sie für die Verwirklichung des Gemeinwohls eher schädlich und gefährlich. Politikern fehlt die notwendige fachliche Expertise, sie vertreten allein ihre bornierten, kurzfristigen und unsachlichen Einzelinteressen und behindern so sachlich adäquate Problemlösungen. Spätestens jetzt fällt auf, dass diese Bestimmung der Rolle von Politik und Verwaltung offenbar keineswegs historisch überholt ist. Die skizzierten Bilder vermitteln nicht nur eine historische Abfolge normativer Bilder, sondern sie existieren gleichzeitig in allen modernen, öffentlichen Organisationen. Die Vorstellung, dass Politik die Verwaltung bei der „sachgerechten“, „gemeinwohlorientierten“ Erledigung öffentlicher Aufgaben behindert, ist immer noch aktuell. In der hierarchischen Verwaltung sind Politiker demgegenüber, zumindest im normativen Selbstverständnis, die unangefochtenen demokratisch legitimierten Meister der Bürokratie. Sie bilden die Spitze der bürokratischen Pyramide, nur durch sie werden Präferenzen und Werte für die Verwaltung selektiert. Dieses Bild entspricht in etwa Image I und II der Darstellung von Aberbach/Putnam/Rockman (siehe oben 4.4.1) und auch das Bild, das die öffentliche Verwaltung gern selbst von sich zeichnet, insbesondere wenn sie unter Kritik gerät. So werden regelmäßig gern alle Kritikpunkte an der Verwaltung mit dem Hinweis auf die Verantwortung der Politik zurückgewiesen. Allein die Politik erfindet neue staatliche Aufgaben, die bedauernswerte Verwaltung muss sie dann ausführen und dafür die Kritik einstecken. In der kooperativen Verwaltung sind Politiker Partner der Bürokratie. In Politiknetzwerken und „issue networks“ arbeiten sie mit Organisationen zusammen und sind, genau wie Politiker, bei der Artikulation und Aggregierung von Interessen unverzichtbar. Dies entspricht weitgehend Image III und IV der Aberbach/Putnam/ Rockman-Darstellung. Dieses Bild ist insbesondere anhand der Politikformulierung
4.4 Politik und Verwaltung
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im Bereich der Ministerialbürokratie des Bundes oder der Europäischen Union empirisch hervorragend belegt. Fraglich ist, wie die Rolle der Politiker im Rahmen der responsiven Verwaltung zu sehen ist. Das Neue Steuerungsmodell forderte apodiktisch eine neue Aufgabenteilung zwischen Politik und Verwaltung, in der die einen für die Zielsetzung und Überwachung öffentlicher Aufgabenerfüllung zuständig sein sollen, die anderen für die Umsetzung. Aber das ist im Prinzip nur eine Wiederholung ihrer normativen Rolle im hierarchischen Modell, allerdings ergänzt durch neuartige Kontrollinstrumente (Kosten- und Leistungsrechnung, Berichtswesen, Controlling etc., ausführlich Bogumil/Kißler 1997). Wenn aber deutlich geworden ist, dass diese normative Rollenbestimmung im klassischen Modell problematisch ist, warum sollte sie jetzt plötzlich als Richtschnur der responsiven Verwaltung ausreichen? Es ist offenbar notwendig, auch die Rolle der Bürokraten, hier verstanden als alle Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, seien sie nun Ministerialbeamte, Lehrer, Politesse, Inspektorin im Sozialamt oder Krankenschwester, genauer zu differenzieren.
4.4.4.3 Bürokraten Im Bild der autonomen Verwaltung kennen und verwirklichen nur ihre Mitarbeiter das Gemeinwohl und sind in der Lage, es unverfälscht umzusetzen. Aufgrund ihrer ethischen und professionellen Einstellung und Ausbildung sind sie in der Lage, öffentliche Ziele, Werte und Identität zu vermitteln und zu verkörpern. Das Bild der öffentlichen Verwaltung ist das einer Funktionselite oder eines Corps, charakterisiert durch normative Auswahl und Selbstselektion, gemeinsame Sozialisierung und die Beurteilung durch Vorgesetzte und „peer groups“ (vgl. auch Mintzberg 1996). Wenn es ein klassisches Vorbild für diese Art der Organisation gibt, dann ist es die Kirche, die weniger durch strikte Regeln (obwohl es die natürlich auch gibt) und mehr durch gemeinsame Werte zusammengehalten wird. Das klassische moderne Beispiel sind die Gesundheitsberufe, aber auch Sozialarbeiter oder Denkmalschützer fallen in diese Kategorie. In abgeschwächter Form sind dies die von Frido Wagener beschriebenen Fachbruderschaften. Für die hierarchische Verwaltung ermöglicht die auch dort vorhandene professionelle Einstellung und Ausbildung den Mitarbeitern, als neutrale und loyale Instrumente der demokratischen, rationalen Herrschaftsform zu handeln, berechenbar, stetig, effektiv usw., wie von Max Weber gefordert. Das Bild des öffentlichen Dienstes ist das einer präzise überwachten Maschine, in der Aufgaben zunächst isoliert, dann zugewiesen und schließlich gewissenhaft kontrolliert werden. Das klassische Vorbild ist hier das Militär oder auch die moderne, tayloristische Fabrik. In der kooperativen Verwaltung ist die Verwaltung Partner und Widersacher der Politik sowohl bei Politikformulierung und -durchsetzung und insbesondere 261
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natürlich Partner und Widersacher organisierter Interessen. Politiker und Bürokraten bestimmen gemeinsam, was zu tun ist und wie es getan werden sollte. Das normative Bild ist das des Netzwerks. Es kommt darauf an, zu kommunizieren, Verbindungen zu schaffen und zu kooperieren. Gesteuert wird der loyale öffentliche Dienst in erster Linie durch Information und Verhandlung, aber auch durch die Personalauswahl und die Organisation als Verstetigung (oder Erschwerung) von Kommunikationsbeziehungen. Hier gilt zum einen das vormoderne Vorbild des Clans, aber vor allem das des schon beinahe post-modernen Netzwerkes. Der öffentliche Dienst im Rahmen der responsiven Verwaltung ist schließlich bestimmt durch Kundenorientierung, Effizienz und Effektivität. Der moderne Bürokrat ist der öffentliche Manager und Entrepreneur, gesteuert durch Wettbewerb, Dialog und direkten Austausch mit der Gesellschaft und nicht zuletzt durch Geld. Das normative Bild ist das des Marktes, d. h. es kommt darauf an, öffentliche Bedienstete und administrative Einheiten so selbstständig wie möglich zu machen, sie mit Hilfe von Verträgen und – i. d. R. monetären – Anreizen dem Wettbewerb auszusetzen und für Erfolge direkt zu belohnen.
4.4.4.4 Verwaltung und Demokratie Stellt sich schließlich die Frage, wie die demokratische Regierungsform mit diesen unterschiedlichen Steuerungsformen verbunden ist. Die autonome Verwaltung braucht bekanntlich keine Demokratie, sondern hält sie im Prinzip sogar für schädlich. Die Bindung an Politik wie Gesellschaft ist schwach, die ideale Regierungsform ist eine mit nicht-vorhandenen oder schwachen Politikern und starken, professionellen Angehörigen des öffentlichen Sektors. So stellen sich Chefärzte Krankenhäuser und Professoren Universitäten vor. Die ideale Regierungsform der hierarchischen Verwaltung sind repräsentative Demokratie und Rechtsstaat, Willensbildung erfolgt Top-Down oder mit anderen Worten in der Form der „overhead democracy“. In dieser Regierungsform ist die Bindung an die Politik (Parlamente, Regierungen) stark, an die Gesellschaft (Interessengruppen, Einzelinteressen) eher schwach. Eine ideale Regierungsform mit starken Politikern und schwachen oder besser neutralen und loyalen Beamten, die keine Eigen- oder Partialinteressen vertreten. Die kooperative Verwaltung ist die Regierungsform der organisierten Demokratie (Olsen 1983) und des liberalen Korporatismus. Sie ist gekennzeichnet durch starke Bindungen an die Politik und gleichzeitig an organisierte Interessen, sozusagen eine horizontale Demokratie. Idealerweise gibt es hier starke Politiker und starke Bürokraten, die sich in ihren normativen und faktischen Kompetenzen ergänzen. Die ideale Regierungsform der responsiven Verwaltung könnte schließlich die partizipative, direkte Demokratie sein, gekennzeichnet durch Selbstorganisation der
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Gesellschaft und enge Verbindungen zwischen Bürokratie und Bürgern. Bindungen an die organisierte Politik sind schwach, dafür die an die Bürger umso stärker. Die responsive Verwaltung reagiert auf die „realen“ Bedürfnisse der Bürger, nicht auf die „bornierten“ Präferenzen der Politik. Im idealen Modell ist dies eine Regierungsform sowohl schwacher Politiker wie schwacher Beamter: Da die Verwaltung eng an die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger gekoppelt ist, sind die Handlungs- und Entscheidungsspielräume beider Akteursgruppen äußerst beschränkt. Die Kunden entscheiden, was die Verwaltung unternimmt, nicht Politiker oder Bürokraten.
4.4.4.5 Beispiele in Deutschland Nach dieser geballten Ladung normativer Idealtypen muss natürlich gefragt werden, ob und in welchen Formen diese Typen zumindest annäherungsweise in der Realität zu finden sind. Tatsächlich handelt es sich offenkundig nicht nur um eine historische Abfolge normativer Bilder der modernen, öffentlichen Verwaltung, sondern um unterschiedliche, widersprüchliche Vorstellungen, die aktuell unser Bild der Verwaltung bestimmen – und daher ein wichtiger Grund für die kontroversen normativen wie analytischen Einschätzungen der Verwaltung sind. Als Beispiel sollen dabei u. a. jeweils unterschiedliche Auffassungen einer modernen Universität herangezogen werden. Das klassische Bild der autonomen Verwaltung ist offenkundig der überkommene Obrigkeitsstaat, aber es gibt diese Form auch in anderen Orientierungen. Es wurde bereits angedeutet, dass Strukturen der autonomen Verwaltung im demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland durchaus wohlauf und erkennbar sind. Gemeint ist damit das, was gelegentlich als der professionell-bürokratische Komplex bezeichnet wird, also die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch mehr oder weniger etablierte Professionen oder Fachbruderschaften. Ärzte, Sozialarbeiter, Kulturschaffende, Denkmal- oder Umweltschützer sind nicht selten davon überzeugt, dass ihre Aufgabenwahrnehmung den „richtigen“, professionellen (ethischen, wissenschaftlichen) Standards entspricht und entsprechen sollte, und dass diese Standards insbesondere durch unqualifizierte, egoistische, kurzsichtige und unvorhersehbare politische Eingriffe gefährdet sind. Ziel dieser Professionen ist daher oft keineswegs eine Stärkung demokratischer Mitbestimmung, sei es über die organisierte Politik, sei es über direkte Demokratie, sondern eher, die professionelle Aufgabenwahrnehmung vor politischer Einflussnahme und letztendlich auch vor Transparenz zu beschützen. Autonomie ist dabei keineswegs gleichbedeutend mit Unabhängigkeit (das wäre Autarkie), „Autonom ist vielmehr, wer die in sozialen Beziehungen immer vorhandene Abhängigkeit zum eigenen Vorteil nutzen kann“ (Czada 1992, S. 183). Öffentliche Theater, Krankenhäuser aber auch Universitäten und Sozialämter verwenden einen nicht unerheblichen Teil ihrer Energie darauf, 263
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ihre (sicherlich keineswegs unbegrenzte) Autonomie gegenüber „willkürlichen“ politischen und gesellschaftlichen Eingriffen zu verteidigen. Auch und insbesondere die Politik ist eine problematische Umwelt dieser vom Anspruch her „autonomen“, professionell gesteuerten Bereiche. Ein typisches Beispiel für diese Art öffentlicher Organisation ist auch die Universität in ihrem Bild als „Gelehrtenrepublik“, die sich jegliche politische Einflussnahme verbittet, und insgesamt alle öffentlichen wissenschaftlichen Einrichtungen, die stolz darauf sind, ihre Aufgaben ohne politische Einflussnahme wahrzunehmen. Aber zu denken ist zum Beispiel auch an Fachbehörden wie Umweltämter, die sich mit aller Macht dagegen wehren, in eine allgemeine Verwaltung (z. B. des Kreises) eingeordnet zu werden. In unserem System ist die autonome Verwaltung nie wirklich autark, aber die Erhaltung und Erweiterung ihrer Autonomie ist eines ihrer wichtigsten Ziele. Typische Reformvorschläge aus dieser Verwaltung zielen daher vorrangig auf die Stärkung der professionellen Autonomie, z. B. durch bessere, professionell kontrollierte Ausbildung, professionalisierte Zugangsbeschränkungen, aber auch z. B. durch dezentrale Ressourcenverantwortung und Befreiung von allgemeinen politisch-administrativen Vorgaben. Die modernste Form der autonomen Verwaltung sind unabhängige Regulierungsbehörden, die ihre Aufgaben ohne „unsachliche“ politische Interventionen wahrnehmen können. Die hierarchische Verwaltung ist das Idealbild des demokratischen Verfassungsstaats, und selbstverständlich ist sie auch empirisch relevant. Ihren reinsten Ausdruck findet sie in der klassischen Ministerverantwortlichkeit, aber auch der kommunalen Selbstverwaltung. Es gibt ohne Zweifel viele Felder, die durch legislative Programmierung verbunden mit klassischer Rechts- und Fachaufsicht gekennzeichnet sind, z. B. Polizei, Rentenversicherung, Bauaufsicht oder der gesamte Schulbereich. Aber genau diese Bereiche sind auch durch eigene professionelle Standards und nicht zuletzt durch Implementationsprobleme und „Vollzugsdefizite“ gekennzeichnet. Recht ist, insbesondere in unserer Verwaltungskultur, immer noch das zentrale Steuerungsmedium innerhalb des politisch-administrativen Systems, und starke, d. h. mit erheblichen Handlungsspielräumen ausgestattete hierarchische Steuerung verbunden mit schwacher, d. h. in ihren Handlungsspielräumen beschränkte Bürokratie ist keineswegs ausgestorben, aber dennoch gibt es auch und gerade in streng durchnormierten Bereichen, wie z. B. der Steuerverwaltung, Tendenzen der Autonomisierung, der verhandelnden Verwaltung und schließlich auch der responsiven Aufgabenerfüllung („angemessener Gesetzesvollzug“). Wenn wir wiederum die Universitäten als Beispiel nehmen, ist dies das Bild der Universität als „nachgeordneter Behörde“, von der demokratisch legitimierten Politik über Rechts- und Fachaufsicht und insbesondere über das jährliche Budget und den Stellenplan und deren Kontrolle stark beeinflusst, wenn nicht bis zur
4.4 Politik und Verwaltung
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Dysfunktionalität in ihren Aufgaben behindert. Das Umweltamt auf lokaler oder regionaler Ebene ist selbstverständlich durch umfangreiche Rechtssetzung und das Budget gesteuert, aber auch durch die hierarchische Einordnung in eine Behörde. Reformvorschläge für diese Form der Verwaltung richten sich insbesondere an die Stärkung der politischen Steuerung, z. B. durch die Verbesserung der politischen Führung (Planung, Informations- und Konfliktregelungskapazität, „aktive Politik“), an eine verbesserte Rechtssetzung (Rechtsbereinigung, Entbürokratisierung) oder auch an Verbesserungen der Aufbau- (schlankere, straffere Hierarchie, Optimierung der Leitungsspanne, Großreferate etc.) und Ablauforganisation (Verminderung von Schnittstellen, Beschleunigung von Verfahren). Auch die Reduzierung von Politikverflechtung und Mischfinanzierung bis hin zu Spitzenpositionen auf Zeit gehören in diesen Reformkanon. Die kooperative Verwaltung ist offenkundig das Lieblingskind der empirischen Politik- und Verwaltungsforschung. Ihr Prototyp ist die moderne Ministerialverwaltung, aber sie findet sich auch im Bereich der Kommunen und nicht zuletzt im weiten Feld der Quagos und Quangos (Hood/Schuppert 1988). Klassische Beispiele sind die Umweltpolitik, die Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik, wo inzwischen vielfach nachgewiesen wurde, dass öffentliche Verwaltung nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Formulierung von Politikinhalten spielt, sondern zum einen ein wichtiger Akteur ist bei der Konstruktion und ständigen Rekonstruktion der Politiknetzwerke und Verhandlungssysteme, zum anderen auch im Rahmen der Politikdurchführung viel mehr mit Adressaten verhandelt und koordiniert als Gesetze einfach anwendet und anweist. Insbesondere die Implementationsforschung hat gezeigt, dass öffentliche Verwaltungsorganisationen durch legislatorische Programme nur sehr ungenügend gesteuert werden können, und dass erhebliche und erweiterte Handlungsspielräume im Rahmen der Implementation von Programmen keineswegs nur negativ zu bewerten sind. Im Gegenteil, eine sklavische Implementation der vorliegenden Programme deutet weniger auf starke politische Determination und Steuerung, sondern eher auf Unfähigkeit oder Unwilligkeit im Rahmen des Implementationsprozesses zu lernen und notwendige Anpassungsleistungen zu erbringen. Am Beispiel der Universität wäre dieses Steuerungsmodell die moderne durch einen externen Hochschulrat gesteuerte und so von kurzfristiger politischer Einflussnahme und Eigeninteressen weitgehend abgekoppelte Hochschule, die eng mit ihrer Umgebung (z. B. Stadt, regionale Wirtschaft, Verbände) verflochten ist. Diese ideale Hochschule erhält die Prämissen ihres Handelns nicht allein aus dem Ministerium, sondern ebenso oder stärker durch die gesellschaftlichen Kräfte ihrer Umwelt. Ähnlich zeichnet sich das kooperative Umweltamt zum einen durch enge Verbindungen mit der Politik aus, zum anderen durch intensive gesellschaftliche 265
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
Kontakte. Umweltschutz wird im Dialog und als Verhandlungsprozess betrieben, gleichzeitig werden intensive Kontakte mit der eigenen Klientel und insbesondere mit den relevanten Interessengruppen betrieben. Sollte die gesellschaftliche Organisation des Umweltschutzes noch schwach sein, leistet die Verwaltung Hilfe bei der Organisation dieser gesellschaftlichen Interessen (Müller 1986, Czada 1991). Typische Reformvorschläge zur Stärkung und Verbesserung der kooperativen Verwaltung bewegen sich in Richtung verstetigter Konsultations- und Kooperationsgremien, größerer und erleichterter Mobilität zwischen öffentlichem und privatem Sektor, mehr Projektorganisation bis hin zu Globalhaushalten. Die responsive Verwaltung, gesteuert durch Kunden und öffentliche Entrepreneure ist schließlich in weiten Teilen das Idealbild der Diskussionen über neue Steuerungsmodelle. Aber auch bisher gibt es bereits diese Art der Verwaltung, die sich durch ihre Bürgernähe definiert, zumindest einen Teil ihrer Ressourcen durch Gebühren oder andere Einnahmen selbst deckt und ihren Erfolg vorrangig an ihrer Akzeptanz bei ihren Klienten, weniger der Politik misst. Beispiele sind öffentliche Kindergärten, Altersheime, Pflegedienste, externe wie interne Dienstleister (Reinigung, Gebäudemanagement, Fuhrpark etc.), aber auch Katasterämter, Statistische Landesämter und selbst Polizeidienststellen können sich als responsive Verwaltung „neu erfinden“. Die Politik wird in diesem Modell geschwächt, sobald Ressourcen eigenständig eingenommen und eingesetzt werden können, die Bürokratie ist schwach, sobald sie sich in ihren Leistungen und Angeboten an den Wünschen der Klienten orientieren muss und insbesondere sobald Klienten die Möglichkeit haben, zwischen vergleichbaren öffentlichen und privaten Angeboten zu wählen. Demgegenüber ist die Bindung an die Gesellschaft stark, nicht nur über Preise und Nachfrage, sondern z. B. auch durch Beiräte, Bürgerbefragungen oder öffentliche Leistungsvergleiche. Die Universität als responsive Organisation wäre die moderne Service-Universität, die einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Einnahmen durch Studiengebühren und Forschungsförderung selbst erwirtschaften muss, die sich gleichzeitig ihre Studenten selbst aussuchen kann und durch starke Präsidenten und Dekane geleitet wird. Das Umweltamt dieser Art finanziert einen nicht unerheblichen Teil seines Haushalts durch Dienstleistungen, außerdem misst es regelmäßig sowohl die objektive Umweltqualität wie die subjektive Zufriedenheit der Bürger mit seinen Leistungen und vergleicht sich mit anderen Umweltämtern. Was die typischen Reformvorschläge in diese Richtung angeht, braucht hier das umfangreiche Arsenal des Neuen Steuerungsmodells nicht wiederholt zu werden, von der dezentralen Ressourcenverantwortung über Kosten-Leistungsrechnung, Produktorientierung, Qualitätsmanagement und Leistungsvergleichen bis hin zu Ausschreibungen, Markttests und Outsourcing (siehe ausführlich 5.2.4).
4.5 Politikberatung
267
Die Diskussion dieser „normativen Bilder“ der Verwaltung, und insbesondere der darin enthaltenen unterschiedlichen Vorstellungen der Verbindungen und Funktionen von Politik, Verwaltung und Gesellschaft, zeigt, dass es keine eindeutigen und invarianten Funktionszuweisungen gibt, und auch nicht geben kann. Das Bild der öffentlichen Verwaltung verändert sich mit dem Bild des modernen, demokratischen Verfassungsstaates. Wenn sich, z. B. im Gefolge der Diskussionen über Management und Governance (s. o. 2.5), neue und veränderte Vorstellungen staatlicher Steuerung und der Bedeutung staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen entwickeln, hat dies selbstverständlich auch erhebliche Auswirkungen auf unser Verständnis der Verwaltung. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass es „schon immer“ und auch in Zukunft sehr unterschiedliche Vorstellungen von den Aufgaben, der Autonomie und der gesellschaftlichen Verankerung öffentlicher Organisationen gibt und geben wird. Gerade dies macht den Reiz und die offenkundige Relevanz der modernen Verwaltungswissenschaft aus, die daher immer sowohl eine analytische wie auch normative Wissenschaft sein muss.
4.5 Politikberatung 4.5 Politikberatung
Politikberatung ist ein schillernder Begriff, Politikberater ist keine geschützte Berufsbezeichnung (siehe als Überblick Falk et.al. 2019). Nach Göttrik Wewer (2014), der sowohl Erfahrungen als Wissenschaftler, Top-Beamter und Lobbyist hat, gibt es kaum eine Berufsgruppe, die ständig so viele gute Ratschläge bekommt wie Politiker: von Parteifreunden, von Journalisten, von Lobbyisten, aus dem Parlament, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Familie, bei Empfängen, auf der Straße, im Taxi, und natürlich auch in Form von Expertisen, Memoranden, Gutachten oder auch Anhörungen und Beiräten.
4.5.1 Ist denn alles Politikberatung? Sven Siefken (2010) hat daher darauf hingewiesen, dass Politikberatung als „Modethema der Politikwissenschaft“ zu einer inflationären Verwendung des Begriffs und zur begrifflichen Unschärfe geführt hat, „Es gilt offenbar: Politikberatung ist Beratung von allen, durch alle und zu allem!“ (S. 129). Der expandierende Begriff der Politikberatung bedarf, wie alle wichtigen Begriffe, einer realistischen Beschreibung und klaren Eingrenzung des Gegenstandes. 267
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
Für die Verwaltungswissenschaft ist Politikberatung aus zwei miteinander verbundenen Gründen von besonderer Bedeutung. Zum einen ist offenkundig, dass professionelle Bürokratien die wichtigsten Berater der Politik und unserer Politiker sind, denn es ist ihre zentrale Aufgabe, die in unseren extrem arbeitsteiligen und spezialisierten öffentlichen Organisationen vorhandenen umfangreichen Informationen zu filtern, zu verdichten und entscheidungsreif zu präsentieren. Zum Teil produziert der öffentliche Sektor in einer Vielzahl von Forschungsanstalten, Stiftungen etc. auch eigene wissenschaftliche Politikberatung (sog. Ressortforschung). Zum anderen ist ein Großteil der normalerweise unter der Überschrift Politikberatung laufenden Aktivitäten in Wirklichkeit Verwaltungsberatung. Die Ergebnisse von Gutachten, Expertenkommissionen, Anhörungen, Enqueten usw. sind in aller Regel so umfangreich und so speziell, dass sie wiederum nur von den Experten in den Verwaltungen im Detail gelesen und verarbeitet werden können, die diese Ergebnisse dann wiederum für die politischen Spitzen aufbereiten. „Der Großteil der Tätigkeit der wissenschaftlichen Berater erfolgt ohne die Aufmerksamkeit der Medien, geräusch- und ereignislos zumeist auf der Referentenebene der Ministerien und nachgeordneten Behörden“ (Weingart 2019, S. 68). Das ist auch gar nicht zu beklagen, denn das ist der Sinn arbeitsteiliger Organisationen. Politik- und Verwaltungsberatung kann nach einer Reihe unterschiedlicher Kriterien unterschieden werden, z. B. • • • • •
wissenschaftlich oder interessengeleitet, dauerhaft oder zeitlich begrenzt, kommerziell oder gemeinnützig, von Individuen oder spezialisierten Organisationen, bestellt oder ungefragt usw.
Allerdings zeigt schon eine oberflächliche Betrachtung, dass diese Unterscheidungen alles andere als einfache Dichotomien sind, sondern alle auf einem Kontinuum liegen. Welche wissenschaftliche Untersuchung ist vollkommen interessenfrei, und wie sieht es mit wissenschaftlichen Expertisen des Instituts der Deutschen Wirtschaft oder des Öko-Instituts in Freiburg aus? Ist ein Gutachten, weil es von den Gewerkschaften oder dem BUND bestellt und bezahlt wurde, unwissenschaftlich? Sind bei universitären An-Instituten bestellte Gutachten kommerziell oder gemeinnützig, und sagt das etwas über ihre Qualität aus? Idealtypisch lassen sich aufgrund der jeweils vorherrschenden Struktur der Nachfrage drei große Felder von Politikberatung unterscheiden (vgl. Wewer 2014; Siefken 2007, S. 38ff.):
4.5 Politikberatung
269
• Organisatorische und institutionelle Beratung, die sich zum einen auf die Verbesserung von Abläufen und Strukturen, der Effizienz und Effektivität von Personal oder Finanzen öffentlicher Organisationen bezieht, z. B. von Verwaltungen, Universitäten, öffentlichen Unternehmen etc. Dies ist eine Domäne der Betriebswirtschaft sowie kommerzieller Managementberater und Beratungsfirmen (man könnte auch von Management-Beratung sprechen). Zum anderen ist dies aber auch Beratung zum institutionellen Aufbau des politisch-administrativen Systems (etwa des deutschen Föderalismus), zu Fragen der Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Sektor (z. B. Privatisierung) oder etwa zu allgemeinen Verfahren der besseren Regulierung oder Gesetzesfolgenabschätzung. Im Sinne der klassischen Politik-Unterscheidung könnte man hier von Polity-Beratung sprechen (d. h. es geht um „Verwaltungspolitik“ im Sinne von Policies zur Veränderung der Polity). • Strategische und taktische Beratung, bei der es um die Chancenerhöhung im politischen Wettbewerb (etwa im Wahlkampf) geht, also die klassische Domäne von Befragungsfirmen (wie Infas, Forschungsgruppe Wahlen) oder auch von Public-Relations-Beratern (Politics-Beratung). • Materielle oder Programmberatung beschäftigt sich schließlich mit der ex ante Ausgestaltung und Planung oder auch ex post Evaluierung und Bewertung politischer Programme und Vorhaben, also von Politikinhalten in allen möglichen Politikbereichen, von der Umwelt- über die Arbeitsmarkt- bis zur Kultur- und Klimapolitik. Dies ist eine Domäne sowohl der natur- wie der sozialwissenschaftlichen oder ökonomischen Politikfeld-Forschung, der jeweils „zuständigen“ Disziplinen, aber natürlich auch der jeweils betroffenen Interessen und Akteure (Policy-Beratung). Dazu gehört auch die klassische Fachberatung, etwa zur Klärung technischer Fragen im Bau- oder Umweltbereich, z. B. welche Kosten eine Bauleistung verursachen wird, wie bestimmte Ökosysteme geschützt werden können, Gutachten zu Sicherheitsfragen oder Bebauungsplänen oder auch die juristische Beratung bei Vertrags- und Schadensersatzfragen (technische Beratung oder Expertise). Offensichtlich gibt es Überschneidungen zwischen diesen Kategorien – auch materielle Politikberatung kann der Verbesserung von Wahlchancen dienen, oder strategische Beratung der Evaluierung bestimmter Maßnahmen, veränderte Policies betreffen i. d. R. auch institutionelle Fragen usw. –, aber die Unterscheidungen verdeutlichen doch den Umfang und die unterschiedlichen Funktionen von Politikberatung. Siefken weist allerdings darauf hin, dass diese schon sehr weite Definition von Politikberatung in den letzten Jahren noch erweitert worden ist, indem darunter auch 269
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
die Beratung von Unternehmen oder Interessengruppen zur besseren Vertretung ihrer Interessen und Standpunkte gefasst wird. Diese Ausweitung des Begriffs wurde „nicht zuletzt von interessierter Seite, namentlich den expandierenden Lobbyingund Public-Relations-Agenturen, betrieben, die mit dem neutraleren Begriff der Politikberatung offenbar ein besseres Image für ihre Dienstleistungen erhoffen, als es der im Ruf einseitiger Interessenspolitik stehende Begriff des Lobbying ermöglicht. Sehr aktiv war in dieser Erweiterung des Beratungsbegriffes insbesondere die ‚Deutsche Gesellschaft für Politikberatung‘ (degepol), die Marketingfunktionen für ihre rund hundert Mitglieder aus dem Lobbying- und Agentur-Bereich übernimmt, in der wissenschaftlichen und publizistischen Außendarstellung aber nicht selten – völlig unzutreffend – als ‚Sprachrohr der Politikberater‘ wahrgenommen wird“ (Siefken 2010, S. 131).
Er schlägt daher vor, den Begriff der Politikberatung analytisch zu begrenzen, Politikberatung also sinnvollerweise nicht als Beratung aller möglichen Adressaten zu politischen Themen zu verwenden, sondern darunter nur die Beratung politischer Entscheidungsträger zu verstehen, also derjenigen, die verbindliche allgemeingültige Entscheidungen treffen können. In diesem Sinne soll der Begriff auch hier verwendet werden.
4.5.2 Akteure der Politikberatung Im Folgenden soll es um diese offizielle und organisierte Politikberatung gehen, die also von Verbänden, Unternehmen, Kommissionen, Wissenschaftlern, professionellen Beratern und ähnlichen zur Verfügung gestellt wird. Eine einfache Unterscheidung fragt nach den zentralen Anbietern von Politikberatung. Hier kann man folgende grobe Kategorien unterscheiden (vgl. Wewer 2014; Siefken 2007; als Überblick auch Falk et.al. 2019, S. 14): • Kommerzielle Berater, die von der Beratung „leben müssen“, die also auf eine relevante Nachfrage reagieren. Hierzu gehören Consulting-Firmen (wie etwa Roland Berger und McKinsey), aber auch Stadtplaner, Ingenieure oder EDV-Firmen, private Institute (wie Prognos oder Battelle) und die professionellen Meinungs- und Umfrageforscher (in der Begrifflichkeit der Statistik sind dies „Vollerwerbsbetriebe“). • Potenzielle Anbieter sind etwa Wissenschaftler und wissenschaftliche Institute an Universitäten, Max-Planck- oder Fraunhofer-Institute, die zwar nicht von Politikberatung leben, aber diese Aufträge doch gut als Drittmittelforschung und zur Erhöhung der eigenen Reputation gebrauchen können („Zuerwerbsbetriebe“).
4.5 Politikberatung
271
• Spezialisierte Beratungsinstitutionen sind im Prinzip dazu geschaffen, Politikberatung in einem bestimmten Feld anzubieten, aber reagieren nicht nur auf eine bestimmte Nachfrage; dazu gehören Einrichtungen der Ressortforschung (Umweltbundesamt, Bundesforschungsanstalten, öffentliche Labore etc.), aber auch die Stiftung Wissenschaft und Politik in der Außenpolitik, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung oder die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, international etwa die OECD („Nebenerwerbsbetriebe“ mit einer staatlichen Grundfinanzierung). • Eigenständige Denkfabriken, wie etwa Brookings in den USA oder das Policy Institute in Großbritannien (vgl. Gellner 1995, Braml 2004) sind in Deutschland noch rar, aber dazu könnte man etwa die Bertelsmann Stiftung zählen. Eigenständig bedeutet durchaus nicht immer unparteiisch (auch nicht bei den ausländischen Beispielen), hierzu zählen also auch Institute von Verbänden und Interessengruppen, die vorrangig deren Positionen untermauern (Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Institut für Mittelstandsforschung) die Forschungsinstitute der parteinahen Stiftungen oder durch eine bestimmte inhaltliche „Richtung“ festgelegte Institute (etwa das Freiburger Öko-Institut). Das Angebot ist also vielfältig und bunt, auch wenn die Zahl derjenigen, die sich ausschließlich oder zu großen Teilen durch Politikberatung finanzieren, noch recht klein sein dürfte. Schließlich ist noch zu unterscheiden, wie diese Politikberatung präsentiert wird. Neben den klassischen Formen der Gutachten, Expertisen, Memoranden etc. geht es hier insbesondere um Beiräte, Kommissionen u. ä. Auch hier ist die Anzahl und Vielfalt sehr unübersichtlich, und war insbesondere durch verschiedene bekannte und kontroverse Beratungsgremien – wie etwa die Süssmuth-Kommission zur Zuwanderung, die Hartz-Kommission zur Arbeitsmarktpolitik, die Rürup-Kommission zur Renten- und Gesundheitspolitik – zunehmender Kritik ausgesetzt. Aber auch im Koalitionsvertrag der Großen Koalition vom Februar 2018 werden insgesamt 16 neue Kommissionen angekündigt, von der bekannten „Kohlekommission“ bis hin zu einer Expertenkommission zum Thema „Antiziganismus“. In der bisher umfassendsten und besten Untersuchung zu Expertenkommissionen kann Sven Siefken (2007, 2019) zeigen, dass die Anzahl solcher Beratungsgremien im Gegensatz zur populären Wahrnehmung vermutlich langfristig kaum gestiegen ist. Bei aller Unsicherheit der Datenlage liegt die Zahl offizieller Beratungsgremien des Bundes seit den neunziger Jahren etwa bei 150, während in den siebziger Jahren bis zu 350 gezählt wurden. Was sich allerdings erheblich verändert hat, ist die öffentliche Wahrnehmung dieser Gremien. Während in den neunziger Jahren jährlich etwa 200 271
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4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
bis 240 Berichte über solche Gremien in den deutschen „Qualitäts-Tageszeitungen“ erschienen, sind es seit dem Jahr 2000 zwischen 500 und über 700. Siefken macht auch einen hilfreichen Vorschlag zur Vereinheitlichung der sehr uneinheitlichen Begrifflichkeit. Besetzung76 Wissenschaft, Interessengruppen Regierung, Verwaltung Parlament
dauerhaft Beirat Arbeitskreis Ausschuss
zeitlich begrenzt Expertenkommission Projektgruppe Enquete-Kommission Untersuchungsausschuss
Abb. 56 Unterschiedliche Expertengremien Quelle: nach Siefken 2003, S. 496
Beispiele für Beiräte wären so z. B. der Wissenschaftliche Beirat im Finanzministerium, die Monopolkommission, der Normenkontrollrat oder der Nationale Ethikrat, während ein typischer Arbeitskreis der Arbeitskreis Steuerschätzung wäre und das Parlament einen Großteil seiner Arbeit bekanntlich in festen Ausschüssen organisiert. Beispiele für zeitlich begrenzte Gremien wären die berühmt-berüchtigten Hartz- oder Rürup-Kommissionen, während Beispiele für eine Projektgruppe etwa die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, der Staatssekretärsausschuss für Bürokratieabbau oder die Kommission zur Gemeindefinanzreform wären. Enquete-Kommissionen vereinen bekanntlich externe Experten und Parlamentarier, wobei die Zusammensetzung zwischen Bundestag und Landtagen etwas differiert. Expertengremien sind weder ein spezifisch deutsches noch ein neues Phänomen, sondern gehören zum festen „Inventar“ der Politikberatung, sie erfüllen alle möglichen Funktionen, von der Klärung wissenschaftlicher Grundlagen über die Externalisierung von Verhandlungen bis hin zur Symbolpolitik, von der Problemdefinition bis zur Legitimation (Siefken 2019, S. 158f.; Wewer 2014, S. 486). Sie sind allerdings, gerade weil es sich dabei in aller Regel nicht um rein wissenschaftlich besetzte Gremien handelt, sondern in aller Regel „Fachleute“ und Vertreter gesellschaftlicher Gruppen in ihnen vertreten sind, ein wichtiges Element der schwierigen Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik.
76 Jeweils die Mehrheit der Mitglieder sollte der jeweiligen Gruppe entstammen.
4.5 Politikberatung
273
4.5.3 Wissenschaft und Politik Die moderne Gesellschaft wird oft als Wissensgesellschaft bezeichnet, und gerade die Corona-Krise hat gezeigt, dass politische Entscheidungen in vielen, wenn nicht allen Bereichen ohne wissenschaftliche Beratung nicht mehr möglich sind. Die Frage, wie das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik empirisch ausgestaltet ist und wie es normativ ausgestaltet werden sollte, ist daher von eminenter Bedeutung. Die theoretische Diskussion um die Beziehungen zwischen politisch-administrativer Praxis und Politikberatung wird seit den sechziger Jahren durch drei ursprünglich von Jürgen Habermas unterschiedene Beratungsmodelle bestimmt: dem dezisionistischen, dem technokratischen und dem pragmatistischen Modell der Politikberatung (Habermas 1963; zusammenfassend Siefken 2007, Blätte 2019, S. 29): • Dem technokratischen Modell zufolge wird der politische Entscheidungsspielraum aufgrund zunehmender „Sachzwänge“ immer mehr auf den von der Wissenschaft vorgezeichneten „one best way“ reduziert. Letztendlich entscheiden Experten und die Wissenschaft alle wichtigen Fragen, es gilt eine Expertokratie, Politik legitimiert nur noch. • Dagegen verbleibt die Entscheidung im dezisionistischen Modell vollständig in der Politik, die Ziele und Wege der Beratungstätigkeit bestimmt und der Wissenschaft als „hired guns“ die bloße Dienstleistung überlässt. Die Wissenschaft ist Handlanger der Politik und wird von dieser für ihre Zwecke genutzt. • Im pragmatistischen (nicht ‚‚pragmatischen‘’) Modell wird ein kritisches Wechselverhältnis angestrebt: Praktiker bzw. Politiker und Wissenschaftler vollziehen im Forschungs- und Entscheidungsprozess immer neue, nicht nur vom Sachzusammenhang, sondern auch von Wertungen begleitete Wahlakte. Entscheidungen entstammen der Kooperation und des gegenseitigen Lernens. Als am ehesten realistisch und auch normativ erwünscht gilt seit langem das pragmatistische Modell. Auch wenn die Interessen der beiden Pole höchst unterschiedlich sein mögen – Wissenschaftlern mag es um „Wahrheit“, die Anwendung und Weiterentwicklung von Methoden und Reputation gehen, Praktiker erhoffen sich Argumentations- und Rechtfertigungshilfe –, ist die Chance eines sachdienlichen Austausches hier tendenziell gegeben, werden neue Forschungen angeregt und scheinbar gesichertes Handeln problematisiert. Insgesamt ist allerdings umstritten, ob und wie wissenschaftliche, insbesondere sozial- und politikwissenschaftliche Analysen und Theorien überhaupt von der politisch-administrativen Praxis genutzt werden können. Die Probleme der Bereitstellung und Nutzung von Wissen 273
274
4 Interne Strukturen und Prozesse öffentlicher Organisationen
werden dabei unterschiedlich verortet. Unterscheiden kann man in der aktuellen Diskussion drei sozialwissenschaftliche Ansätze (vgl. zum Folgenden Blätte 2019). Akteurzentrierte Ansätze sehen Politikberatung als Austausch handlungsrelevanten Wissens zwischen Individuen und vor allem Organisationen. Hier gelten dann alle Restriktionen der oben bereits diskutierten begrenzten Rationalität (bounded rationality), der selektiven Perzeption usw. (vgl. oben 4.3). Politikberatung ist durch begrenztes Wissen und Informationsverarbeitungskapazitäten eingeschränkt, durch organisatorische Gegebenheiten, aber auch durch Defizite der gegenseitigen Kommunikation und Wahrnehmung und gegensätzliche Interessen. Betont werden in diesen Studien Unzulänglichkeiten • der Angebotsseite, d. h. des Wissenschaftssystems, z. B. weil die von der Wissenschaft angebotenen Darstellungen und Erklärungen unzureichend empirisch und theoretisch fundiert, d. h. unbrauchbar sind, weil sie zu spät kommen oder weil Wissenschaft sich, aufgrund falscher Anreize, unzureichend mit praxisrelevanten Problemen beschäftigt; • der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis, z. B. weil unterschiedliche Fachsprachen und Jargons benutzt werden und man sich daher nicht verständigen kann oder will; und • der Nachfrageseite, d. h. des politisch-administrativen Systems, z. B. weil durch ausgeprägte juristische Orientierung der öffentlichen Verwaltung Ansprechpartner auf der Seite der Praxis fehlen, wissenschaftliche Ergebnisse nicht wahrgenommen oder bewusst ignoriert werden oder vorrangig zur Legitimation bereits gefasster Entscheidungen verwendet werden. Systemtheoretische Ansätze gehen in ihrer reinen Form davon aus, dass soziale Systeme in ihrer eigenen Logik „autopoetisch“ gefangen sind, und es daher keinen sinnvollen Austausch zwischen Wissenschaft (Leitdifferenz Wahrheit/Unwahrheit) und Politik (Machterhalt/Machtverlust) geben kann (Luhmann 1983): „Politische Akteure können nicht umhin, wissenschaftliche Erkenntnisse unter dem Gesichtspunkt des politischen Nutzens zu bewerten. Der strategische Einsatz des Wissens im Ringen um Macht dominiert. Wissenschaftliche Akteure, denen der Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnisse als Leitstern gilt, müssen darin einen sachfremden Missbrauch der Ergebnisse ihres Schaffens wittern“ (Blätte 2019, S. 31).
Erfolgreiche Politikberatung ist daher, wenn nicht prinzipiell unmöglich, dann zumindest äußerst unwahrscheinlich. Wissensbasierte Ansätze betonen schließlich die Bedeutung spezifischer Deutungsmuster, die sich gemeinsam zwischen Politik und Wissenschaft entwickeln.
4.5 Politikberatung
275
Schlagworte sind Diskurskoalitionen, Epistic Communities oder Advocacy Coalitions, Diskurse, Ideen und Institutionen stehen im Zentrum der Forschung (Nullmeier 2014). Die Beziehung zwischen Politik und Beratern wird als eine Konflikt- bzw. Machtkommunikation gesehen, deren Gegenstand Definitionsmacht im Hinblick auf die Legitimation politischer Entscheidungen ist: „Die Bedeutung der wissenschaftlichen Politikberatung ergibt sich aus dem Umstand, dass politische Macht, insbesondere in modernen Demokratien, auf einer doppelten Legitimation beruht: auf der Delegation der Macht durch Wahl und auf der Rationalität politischer Entscheidungen durch den Bezug auf gesichertes und in der Wissenschaft konsentiertes Wissen. (…) Entscheidungen, die offenkundig gesichertem Wissen zuwiderlaufen, haben wenig Aussicht auf öffentliche Akzeptanz“ (Weingart 2019, S. 71f.).
Gesichertes Wissen ist allerdings ein knappes Gut (vgl. zum Folgenden die Zusammenfassung von Weingart 2019, S. 73ff.). In den Naturwissenschaften ist der Grad des wissenschaftlichen Konsenses in vielen Fällen vergleichsweise hoch, sodass es seltener zu grundlegenden Expertenkonflikten und dadurch zu Politisierung der Beratung kommt. Aber auch hier gibt es Unsicherheit des Wissens, Kontextgebundenheit und Nichtwissen. Die aktuellen Debatten über Klimafolgen oder die Bekämpfung des Coronavirus sind dafür gute Beispiele. In Politikbereichen, die in die Zuständigkeit der Sozialwissenschaften fallen, ist dies noch viel ausgeprägter: „In diesen Bereichen ist das relevante Wissen zu einem weit geringeren Grad in den entsprechenden Gemeinschaften konsentiert. Die Wert- und Interessenbezüge der involvierten Entscheidungen (u. a. soziale Gerechtigkeit, Besitzstandswahrung) reichen weit in weltanschauliche Deutungssysteme hinein und sie lassen sich infolgedessen leichter politisieren“ (ebd., S. 73).
Weingart spricht in diesem Zusammenhang von Expertise, also auf politische Probleme hin aufbereitetes und interpretiertes Wissen. Berater können sich nicht auf die Präsentation von Fakten und Theorien beschränken, sondern müssen deren Bewertung mitliefern, „Beratungsprozesse sind aus dieser Perspektive Aushandlungsprozesse, in denen es zwischen Experten und Entscheidern um die Angemessenheit des Wissens im Hinblick auf Entscheidungsprobleme geht“ (ebd., S. 75).
Politikberater sind dabei weder reine Wissenschaftler noch Handlanger, sondern befinden sich auf einem Kontinuum zwischen vollkommener Autonomie auf der einen, und politischer Abhängigkeit auf der anderen Seite. Ihre Position auf diesem 275
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Kontinuum können sie, zumindest in Demokratien, weitgehend selbst bestimmen (auch wenn natürlich finanzielle Anreize und Reputation immer eine Rolle spielen). Für die verwaltungswissenschaftliche Beratung gilt dies in besonderem Maße, denn Verwaltungswissenschaft hat sich seit Jahren vielfach mit Verwaltungsreformen beschäftigt, ist in vielen Bereichen vor allem also Verwaltungsreformwissenschaft.77 Die moderne Verwaltungswissenschaft und Policy-Forschung ist daher mit dem Schlagwort „praktische Fragen und theoretische Antworten“ charakterisiert worden (Jann 2009, siehe hierzu auch die Überblicksartikel zu Public Administration and Practices von Pollitt/Ongaro/Saporito in Bouckaert/Jann 2020). Wie verwaltungswissenschaftliche Beratungsprozesse im Geflecht zwischen Parteienwettbewerb, beschränkten Ressourcen, Implementationsproblemen durch vertikale und horizontale Verflechtungen sowie Eigeninteressen der Implementeure konkret ablaufen und welche Logik sich wann durchsetzt, ist bisher allerdings kaum erforscht. Ein gutes Beispiel ist die verwaltungswissenschaftliche Beratung der letzten Jahre im Bereich der Verwaltungspolitik der Bundesländer (vgl. zum Folgenden Bogumil 2018). Dabei wurden seit Mitte der neunziger Jahre mindestens 150 externe verwaltungswissenschaftliche Gutachten in Auftrag gegeben, dazu wurden ca. 15 Enquetekommissionen eingesetzt. Es dominieren politik- und verwaltungswissenschaftliche Stellungnahmen, diese sind aber auf wenige Personen beschränkt. Ein Grund für diese intensive Nutzung von Expertenwissen ist, dass die Reformmaßnahmen, vor allem Gebiets- und Funktionalreformen, häufig politisch sehr umstritten sind, und die Hinzuziehung von externem Wissen daher helfen soll, die Legitimation der Maßnahmen abzusichern. In einer genaueren Untersuchung, in der danach gefragt wird, wie und wann welche Experten ausgewählt werden, ob es Einflussversuche seitens der Auftraggeber gibt und wie die Prozesse der Ergebnisverwendung verlaufen zeigt sich, dass sich die Logik wissenschaftlicher Expertise mit der Logik politischer Entscheidungsrationalität verkoppeln muss, damit wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt eine Chance haben, die Verwaltungspraxis zu verbessern. „Dies erfordert die Bereitschaft von Wissenschaftlern, sich in die Entscheidungslogiken von Verwaltung und Politik einzudenken (und z. T. in dieser zu agieren), um überhaupt in den Wahrnehmungshoriziont der Praxis vorzudringen. Dann besteht eine Chance, wissenschaftliche Argumente in politische Prozesse einfließen zu lassen, wohlwissend, dass zumindest im Feld der Verwaltungspolitik sich im Zweifel die Machtlogik durchsetzt“ (Bogumil 2018, S. 157).
77 Natürlich spielen auch Policy-Probleme wie die „Flüchtlingskrise“, Arbeitsmarktprobleme oder der technische Wandel (Digitalisierung) eine wichtige Rolle. Diese Debatten verbinden sich dann häufig mit Verwaltungsreformdiskussionen.
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Wissenschaftliche Beratung hat aber dennoch erhebliche Einflussmöglichkeiten, allerdings werden diese Beratungschancen bisher eher unzureichend genutzt: „Zum einen gibt es – trotz der zunehmenden Tendenzen, Universitäten die Rolle einer third mission78 zuzuweisen – insbesondere in Teilen der Sozialwissenschaften immer noch Bedenken, dass Politik- oder Praxisberatung „unwissenschaftlich“ sei. Möglicherweise ist dies auch dadurch inspiriert, dass man Angst hat, in Machtprozesse involviert zu werden. Eine zweite Barriere könnte in der internen Logik des Wissenschaftssystems liegen, welches sich stärker an den jeweiligen disziplinären Communities orientiert. Damit ist es heute in vielen Fächern möglich, eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere mit wissenschaftlichen Arbeiten zu machen, die von nur wenigen „Peers“ der eigenen Fach-Community rezipiert, aber für methodisch gut befunden werden, selbst wenn diese Forschung keinerlei gesellschaftliche Relevanz erkennen oder erwarten lässt“ (Bogumil 2018, S. 175).
In bestimmten Bereichen gibt es allerdings auch Hinweise auf eine Renaissance „expertokratischer“ oder technokratischer Positionen, also der Forderung, die Politik solle sich viel stärker als bisher an dem orientieren, was ihr von Experten gesagt wird. Der Wunsch nach einer objektivierten Politikgestaltung auf der Basis gesicherten Expertenwissens wird insbesondere unter dem Schlagwort einer evidenzbasierten Politik (evidence based policy making) vertreten (Blätte 2019, S. 34; zusammenfassend Cairney 2016). Dieses Vertrauen in wissenschaftliche Daten und Modelle ist in Deutschland insbesondere in der Klimapolitik oder im Gesundheitswesen (Saretzki 2019) verbreitet, in der Bildungspolitik eher kontrovers (siehe die PISA-Studien der OECD). Allerdings zeigen sich auch hier die Grenzen dieses Vertrauens: während die Prognosen der Klimaforscher weitgehend unbesehen geglaubt werden, wird z. T. von der gleichen Klientel der überwältigende Konsens, was die Unwirksamkeit homöopathischer Medizin angeht, ignoriert (siehe zu den kulturellen Grundlagen der Risikowahrnehmung immer noch grundlegend Douglas/ Wildavsky 1983). Umgekehrt argumentieren gerade populistische Positionen mit prinzipiellem Misstrauen gegenüber Experten. Gerade in der Coronakrise hat sich gezeigt, wie stark die Politik auf die Expertise von Virologen angewiesen ist und auf diese zurückgegriffen hat. Man hat intensiv auf Experten gehört und mit diesen diskutiert, aber auch dort gab es Unsicherheiten und Dissens. Dabei ist die Politik weitgehend offen mit diesen Unsicherheiten umgegangen und hat immer wieder versucht, ihre Maßnahmen zu erklären.
78 Gemeint ist damit, die Hochschulen neben ihren beiden ersten „Missionen“, Forschung und Lehre, stärker auf ihre gesellschaftliche Verpflichtung zu orientieren und ihre gesellschaftliche Orientierung zu verstärken. 277
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Jenseits der Kontroversen, wie stark sich Politik auf Experten verlassen soll, gibt es einen weitgehenden Konsens über die steigende Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Formulierung und Umsetzung von Politik. Wenn man unter Nutzung nicht nur die konkrete Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse bei einzelnen Entscheidungen versteht, sondern umfassender die Beeinflussung der Perzeption und Interpretation sozialer Phänomene, ihrer Ursachen und möglicher Veränderungen, spricht vieles dafür, dass wissenschaftliche Beratung erheblichen Einfluss hat. Von einigen Beobachtern (vgl. grundlegend Weiss 1977) wird seit langem die These vertreten, dass „wissenschaftliche Erkenntnis“, z. B. über die Ausgestaltung oder die Wirkung von Policies, nicht einfach von Verwaltung und Politik übernommen wird, indem z. B. Wissenschaftler befragt oder die Thesen oder Ergebnisse von Untersuchungen gelesen und dann einfach umgesetzt werden (auch und gerade nicht bei bestellten Gutachten). Die zentrale Bedeutung der Wissenschaft für die Praxis liegt vielmehr darin, dass sie Daten, Konzepte und Denkschemata bereitstellt, mit denen die Realität neu geordnet und interpretiert wird. Praktiker übernehmen in der Regel keine fertigen Lösungen oder abstrakten Theorien, sondern werden durch Begriffe, Konzepte und Sichtweisen der Wissenschaft beeinflusst. In diesem „diffuse process of enlightenment“ (Carol Weiss), also in einem langfristigen und wenig strukturierten Prozess der „Aufklärung“, liegt daher die zentrale längerfristige Bedeutung und Wirkung von Wissenschaft. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass der Zugang zu wissenschaftlichem Wissen längst kein Privileg von Regierungen mehr ist (Weingart 2019, S. 68). Weil Wissen eine strategische Bedeutung im politischen Machtkampf haben kann, versuchen alle Parteien, Verbände, Unternehmen und NGOs sich das aus ihrer Perspektive relevante Wissen zu beschaffen und zu kontrollieren. Wissen war schon immer Munition in politischen Auseinandersetzungen. Dies stimmt auch mit der Beobachtung überein, dass sich ein großer und zunehmend wichtiger Teil der Politikberatung heute nicht mehr ausschließlich an Politik und Verwaltung richtet, sondern die öffentliche Diskussion und Konsensbildung beeinflussen will, z. B. durch öffentlichkeitswirksame Gutachten und Präsentationen. Ein wichtiger Teil der Politikberatung ist daher heutzutage Gesellschaftsberatung (Leggewie 2007, Bertelsmann Stiftung 2011), aber auch diese Beratung wirkt natürlich in erster Linie, sozusagen „über Bande“, durch den professionellen Verwaltungsapparat auf Politik und Regierung.
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Entwicklungsphasen der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
5 Entwicklungsphasen der öffentlichen Verwaltung in Deutschland 5 Entwicklungsphasen der öffentlichen Verwaltung in Deutschland
„Das Beharrungsvermögen der deutschen öffentlichen Verwaltung war und ist beträchtlich. Manchmal ist es auch furchterregend.“ (Thomas Ellwein 1997, S. 324).
Lernziele am Ende dieses Kapitels sollten Sie • einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungsphasen und Reformansätze der öffentlichen Verwaltung in Deutschland gewonnen haben, • Möglichkeiten und Grenzen von Verwaltungsreformen abschätzen können, • die Problemlagen der Verwaltungstransformation im Zuge der deutschen Einheit sowie • die neuen Herausforderungen für die öffentliche Aufgabenerledigung durch den fortschreitenden Europäisierungsprozess kennen. Will man die Entwicklung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland charakterisieren, so kommt man zu einem eher widersprüchlichen Bild. Zum einen gibt es Tendenzen einer außerordentlichen Kontinuität des deutschen Verwaltungssystems, aber auf der anderen Seite sind ebenfalls deutliche Veränderungen unübersehbar. Heute wie vor siebzig Jahren, und im Prinzip wie vor einhundert oder sogar einhundertfünfzig Jahren, ist unsere öffentliche Verwaltung durch die Merkmale einer klassischen weberianischen Bürokratie gekennzeichnet, also durch Aktenmäßigkeit, Amtshierarchie, generell geordnete Kompetenzen, Regelgebundenheit der Amtsführung und ähnliches (vgl. Kap. 4.1). Die bestimmenden Strukturmerkmale der Verwaltung, sei es im Bereich des Personals (Berufsbeamtentum), der Makro- und Mikroorganisation (Dreistufigkeit, Linienorganisation), der Verfahren © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Bogumil und W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Grundwissen Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4_5
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• Abschaffung des Berufsbeamtentums (Alliierte 1947-52, gescheitert) • Aufbau der Bundesministerien (1949) • Luther-Kommission (Länder-Neugliederung 1952-55) • Sachverständigenkommission für die Vereinfachung der Verwaltung beim BMI (1960)
• Finanzreform (Tröger-Kommission 1964-66) • Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform (1968-75) • Dienstrechtreformkommission (1970-73) • Ernst-Kommission (Länder-Neugliederungen 1970-72)
• „Bürger in Fesseln“ (CDU 1978, SPD 1979) • Ursachen der Bürokratisierung (BMI 1980) • Unabhängige Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung (1983ff.) • Unabhängige Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren (Schlichter-Kommission 1994) • Sachverständigenrat Schlanker Staat (1995-97)
• Bürgernahe Sozialpolitik (BMFT 1975ff.)
Aktive Politik, Planung und kommunale Gebietsreform (1964ff.)
Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung (1978ff.)
Bürgernähe und Bürger ämter (1970ff.)
Bund
Restauration, Aufbau und Konsolidierung (1947-1960)
• integrierte Entwicklungs planung
Gemeinden
• Landesprogramm BW (1992-heute)
• Ausbau formeller Bürgerbeteiligungsrechte (Städtebaufördergesetz, Bundesbaugesetzbuch) • Bürgerämter, One Stop Shops (1992ff.)
• Entbürokratisierungskommissio• Kommunale Aufgabenkritik nen in allen Bundesländern (1978ff. (KGSt 1976) – Ausnahme Bremen, RLP) • Ellwein-Kommission (NRW 1981-83) • Enquete-Kommission (Berlin 1982-84) • Bulling-Kommission (BW 1984-86) • Burger-Kommission (NRW 198687) • Zwanziger-Kommission (RLP 1989)
• Gemeindegebietsreform (1964-78) • Planung und Koordination in den Staatskanzleien (ab 1969) • Funktionalreform • Verwaltungsreformkommissionen (u.a. BW, Bayern 1970ff.)
• Arnsberger Gutachten (NRW 1955) • Staatsvereinfachung in Bayern (1955-57) • Verwaltungsvereinfachungsplan (BW 1958) • Verwaltungsreformplan (SH 1958)
Länder
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• Landesförderungen Freiwilligenzentren
• alle Flächenländer in unterschiedlichem Ausmaß: Abbau von Doppelstrukturen aus Sonderbehörden und Mittelinstanzen, Kommunalisierungen, Privatisierungen • Gebietsreformen in Ostdeutschland • E-Government-Gesetze in allen Ländern (2016ff.)
Neue Verwaltungsstrukturreformen (2005ff.)
Digitale Verwaltung (2005ff.) • • • • •
Abb. 57 Entwicklungsphasen und Reformthemen in der deutschen Verwaltung
Bund-Online (2005) IT-Planungsrat (2010) Open Government (2011ff.) E-Government-Gesetz (2013) Onlinezugangsgesetz (2017)
• NKR Sachsen (2016) • NKR Baden-Württemberg (2018)
Bürokratieabbau und bessere • Masterplan Bürokratieabbau (2002-04) Rechtsetzung (2002ff.) • Nationaler Normenkontrollrat (2006) • Bürokratiekostenmessung (2006) • Messung des Erfüllungsaufwands (2011) • „One-in-one-out“-Regelung (2015)
• „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ (1999) • Enquetekommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (1999-2002) • Hartz-Kommission (2002) • Rürup-Kommission (2003)
Bürgergesellschaft, Bürgerkommune und aktivierender Staat (1998ff.)
• Verwaltungshilfe • Aufbau der Landesverwaltungen (1990-91) • Enquetekommission (S-A 1994) • Gebiets- und Funktionalreformen • Arbeitsstab Aufgabenkritik (NRW 1989ff.) • Denkfabrik (SH 1989-93) • Einbeziehung von Unternehmensberatern (1990ff.) • Enquetekommission (SH 1993-95)
• Verwaltungshilfe (1990ff.) • Auflösung und Integration der Zentral verwaltung der DDR (1990) • Regierungsumzug (1991ff.)
New Public Management • Privatisierung Post, Bahn, Flugsicherung und Neues Steuerungsmodell (1992) (1990ff.) • Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ (1995-97) • Liberalisierung kommunaler Daseinsvorsorge (Energie, Abfall, Verkehr, 1996ff.)
Vereinigung und Trans formation der DDR-Ver waltung (1990ff.)
• Der digitale Landkreis (2018)
• Bürgerkommune (1998ff.) • Leitlinien der Bürger beteiligung (2015ff.)
• Neues Steuerungsmodell (KGSt 1991ff.) • Netzwerk Kommunen der Zukunft (1997ff.) • Formelle und materielle Privatisierungen (1998ff.)
• Verwaltungshilfe • Umbau der Kommunal verwaltungen
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(Rechtsförmigkeit, Justiziablilität) und der Finanzen (Kameralistik) wurden, trotz kontinuierlicher Reformversuche, nicht grundlegend verändert (König 1996). Aber dennoch ist die öffentliche Verwaltung von 1949 nicht mit der des Jahres 2020 gleichzusetzen, ganz zu schweigen mit der Verwaltung des Kaiserreichs. Die moderne Verwaltung unterscheidet sich aufgrund ihrer Aufgaben, ihres Umfangs, ihrer Differenzierung und Professionalisierung, der Einstellungen und Qualifikationen ihrer Mitarbeiter, ihrer Techniken, Kommunikationsmittel und Verfahrensweisen und nicht zuletzt aufgrund ihrer vielfältigen Verflechtungen mit ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwelt und ihrer politischen Steuerung grundlegend von ihren Vorgängern. Diese quantitativen und qualitativen Veränderungen haben seit 1945 zu einer Binnenpluralität des Staates und zu einer früher nie vorstellbaren Komplexität geführt (Ellwein 1997, S. 464, 551). Wir wollen im Folgenden die wesentlichen Etappen dieser Entwicklungen und die Reformthemen darstellen (vgl. voranstehende Abbildung). Angefangen mit der unmittelbaren Nachkriegszeit (5.1) stehen vor allem verschiedenste Versuche der Verwaltungsreform (5.2.) im Fokus des Interesses. Selbstverständlich ist diese Darstellung und Periodisierung stark vereinfacht, historische Phasen sind nie so klar abgegrenzt, Ansätze und Aktivitäten überlappen oder wiederholen sich, aber dennoch gehen wir davon aus, dass es hilfreich ist, für einen ersten Überblick die jeweils dominierenden Aspekte herauszuheben. Da wir den Aufbau des Staats- und Verwaltungsapparates in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung im Gegensatz zu Seibel (1997) nicht als Verwaltungsreform, sondern eher als einen (Verwaltungs-)Neuaufbau betrachten, wird die Transformation westdeutscher Verwaltungsstrukturen (5.3) in einem eigenen Kapitel behandelt. Abschließend widmen wir uns der Europäisierung der öffentlichen Verwaltung (5.4).
5.1 5.1
5.1.1
Restauration in der Nachkriegszeit Restauration in der Nachkriegszeit
Personelle und institutionelle Kontinuität
Die öffentliche Verwaltung der neugegründeten Bundesrepublik war, mit wenigen Ausnahmen, die der Besatzungszeit, und diese hatte wiederum weitestgehend am vorhandenen Organisations-, Personal-, Aufgaben-, Verfahrens- und Rechtsbestand des Dritten Reiches angeknüpft. Allenfalls hatte eine gewisse „Entbräunung“ stattgefunden (Gustav Heinemann). Die Struktur des deutschen Verwaltungsapparats war 1945 auf der Ebene der Kommunen und der Mittelinstanzen ohne wesentliche Änderungen von den Alliierten übernommen worden. Die Militärregierungen
5.1 Restauration in der Nachkriegszeit
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waren in die „Fußstapfen der Reichsressorts, Statthalter und Gauleiter“ eingetreten, indem sie mehr oder minder unbelastete neue Behördenchefs eingesetzt hatten, ansonsten die Verwaltung aber unverändert beließen. Die personelle Kontinuität der deutschen Funktionseliten, insbesondere der administrativen Funktionseliten, über die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg ist „im Grundsatz unbestritten“ (Ruck 1997). Insbesondere das Berufsbeamtentum hat sich in den drei Umbrüchen 1918, 1933 und schließlich auch 1945 „mit dem ihm eigenen Beharrungsvermögen“ gehalten (Eschenburg 1974). Die personelle verstärkte und verfestigte wiederum die institutionelle Kontinuität. Die Mechanismen, die diese Entwicklung begünstigten, sind einleuchtend. Sowohl alliierte Besatzer wie deutsche Bevölkerung hatten nach dem Krieg großes Interesse an einer möglichst schnell wieder voll funktionsfähigen öffentlichen Verwaltung insbesondere auf kommunaler und regionaler Ebene, wo gewaltige Aufbauleistungen unter den Bedingungen einer administrierten Mangelwirtschaft zu erbringen waren. Aus diesem Grund galten qualifizierte, erfahrene Mitarbeiter als unverzichtbar, auch wenn ihre politischen Ansichten nicht immer lupenrein waren. Die Mitarbeiter wiederum hatten ein Interesse an den ihnen bekannten und vertrauten Strukturen, von streng hierarchischen Gliederungs- und Verfahrensweisen bis zum die eigene Karriere abstützenden Senioritätsprinzip: „So viel die Militärregierungen von Demokratisierung redeten, und so sehr es für manche Angehörigen ein ernsthaftes Anliegen war, sie haben, was durch diese Konstruktion der Zusammenarbeit bedingt war, in starkem Maße die Rehierarchisierung der Behörden nach 1945 bewirkt“ (Eschenburg 1994, S. 70).
Es gab daher weder 1945 noch 1949 zumindest in den Westzonen einen Bruch mit den klassischen deutschen Verwaltungstraditionen. Da die alten Institutionen blieben und auch das alte Personal nach und nach weitermachte wie bisher, trat die Restauration in der öffentlichen Verwaltung „graduell stärker in Erscheinung als in anderen Bereichen“ (Eschenburg 1974, S. 89). Allerdings fand dies in der breiten Öffentlichkeit aufgrund des vorherrschenden Bestrebens um „Normalität“ kaum Beachtung. In der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR war der Bruch mit den alten Traditionen nachhaltiger, aber auch dort hielten sich die klassischen bürokratischen Strukturmerkmale.
5.1.2 Berufsbeamtentum Die einzige grundlegende Kontroverse zu Beginn der Bundesrepublik betraf die Wiederherstellung, Weiterentwicklung oder ggf. Abschaffung des Berufsbeamten283
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tums, und diese Debatte basierte fast ausschließlich auf alliierten Reformkonzepten. Es ist eine Geschichte hinhaltender deutscher Opposition gegen alliierte Initiativen. Am Ende blieb von den alliierten Reformvorstellungen kaum etwas übrig, während sich die überkommenen Interessen der Beamtenschaft fast auf der ganzen Linie durchsetzen konnten. Ausgangspunkt der alliierten Reformbestrebungen war die Überzeugung, das deutsche Berufsbeamtentum habe sich nicht nur personell als willfähriger Vollstrecker der Nazidiktatur gründlich diskreditiert, sondern in seinen überkommenen Strukturen seien autoritäre und undemokratische Strukturen angelegt, die für die deutsche Barbarbei zumindest mit-ursächlich gewesen seien. Insbesondere die Amerikaner, sicherlich unterstützt durch die Beratung deutscher Emigranten, sahen das deutsche Berufsbeamtentum einerseits als mitschuldig am Untergang der Weimarer Demokratie und an den Nazi-Verbrechen und andererseits als Risikofaktor, wenn nicht Hemmschuh beim demokratischen Neuanfang. Aus amerikanischer Sicht gehörten zu den eklatanten Mängeln des deutschen Berufsbeamtentums (ausführlich Benz 1981, Morsey 1977, Garner 1993) u. a. das überkommene staatsfixierte Selbstverständnis der Beamten, die Tradition der Geheimhaltung und der Amtsverschwiegenheit, die Anstellung auf Lebenszeit sowie die politische Betätigung der Beamten, die die Gewaltenteilung unterlaufe. Von daher wurde zunächst in den Bundesländern der amerikanischen Zone, dann auch in der Verwaltung der Bizone insbesondere von den Amerikanern versucht, ein neues Personalsystem einzuführen und durchzusetzen. Es unterschied sich vom hergebrachten deutschen Berufsbeamtentum durch die Einführung unabhängiger Personalämter für Auswahl und Rekrutierung, die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Beamten und Angestellten insbesondere durch gleiche Bezahlung, Rechtsstellung und Ruhestandsbezüge, die Beendigung des Juristenmonopols und die Inkompatibilität zwischen Beamtenstatus und politischer Betätigung. Tatsächlich wurden in der amerikanischen und britischen Zone und auch bei der gemeinsamen Wirtschaftsverwaltung unabhängige Personalämter unter deutscher Leitung eingerichtet, um diese Prinzipien durchzusetzen. Deren Tätigkeit wurde allerdings durch hinhaltenden Widerstand und eine mehr oder weniger offene Obstruktionspolitik der Fachbehörden und Beamtenverbände behindert oder ignoriert, obwohl nach anfänglichem Desinteresse die Position der Amerikaner auch von Teilen der SPD und der Gewerkschaften übernommen worden war (Benz 1981 mit instruktiven Beispielen aus Bayern). Während dieser Grabenkrieg zwischen Alliierten, Personalämtern, Behörden und dem Vorgänger des Deutschen Beamtenbundes, der Deutschen Beamtengewerkschaft, noch andauerte, wurden im parlamentarischen Rat die Weichen für die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums unter „Berücksichtigung der her-
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gebrachten Grundsätze“ gestellt. Wie diese Weichenstellung zustande kam, kann hier nicht im Detail nachvollzogen werden. Immerhin hat der Beamtenbund sich später gerühmt, den Prozess der Verfassungsgebung mit mehr als 100 Eingaben in dieser Sache unterstützt zu haben, gleichzeitig waren mehr als 60 % der Mitglieder des Parlamentarischen Rates Beamte, einschließlich der Professoren und Richter. Ähnliches galt übrigens auch schon für die damaligen Landtage. Auch in den politischen Parteien war der Einfluss der Beamten bereits erheblich, so dass die professionelle Handlungsfähigkeit der Parteien, sicherlich auch der SPD, aus Sicht der Parteiführungen ohne Beamte gefährdet schien. Die Vorstellungen der Alliierten trafen also, einmal abgesehen von einigen wenigen Fachleuten der SPD und der Gewerkschaften und bei einigen linksliberalen Publikationen (schon damals: Der Spiegel, Frankfurter Rundschau), auf wenig Begeisterung und Gegenliebe. Dennoch griffen die Alliierten, um die deutsche Hinhaltetaktik zu überwinden, zu dem außergewöhnlichen Schritt, kurz vor Verabschiedung des Grundgesetzes die Materie auch ohne die inzwischen übliche vorherige Zustimmung im Wirtschaftsrat durch ein einseitiges „Militärregierungsgesetz 15 (Verwaltungsangehörige des Vereinigten Wirtschaftsgebietes)“ in ihrem Sinne zu regeln. Die Umsetzung dieses Gesetzes wurde aber von den Länderregierungen und der Ende des Jahres gewählten Bundesregierung durch alle möglichen Verzögerungstaktiken verhindert, bis schließlich die Alliierten 1952 das Gesetz zurückzogen. Festzuhalten bleibt damit, dass die einzige prinzipielle Kontroverse bezüglich der zukünftigen öffentlichen Verwaltung der Bundesrepublik trotz außergewöhnlicher Hartnäckigkeit und Unterstützung der Alliierten im Interesse der unmittelbar Betroffenen im Sinne der „hergebrachten Grundsätze“ gelöst wurde.
5.1.3 Organisation und Umfang der Bundesverwaltung Im Zusammenhang mit dem Aufbau von Bundesregierung und Bundesverwaltung in Bonn gab es einige interessante Kontroversen, deren Themen noch heute vertraut klingen. Zu nennen sind hier im Bereich der Makro-Organisation eine mögliche Trennung von Bundesregierung und Ministerialverwaltung, im Bereich der Mikro-Organisation die Größe und Rolle der Ministerien im Verwaltungsaufbau und im Bereich der Personalstrukturen die parteipolitische Zusammensetzung. Bereits zu Beginn der Bundesrepublik wurde erörtert, ob es nicht machbar und sinnvoll wäre, Bundesregierung und Bundesministerien zumindest zum Teil in verschiedenen Orten anzusiedeln. Durch die räumliche Trennung zwischen Regierungsspitze und Ministerialverwaltung, damals natürlich Bonn und Frankfurt, die insbesondere von Adenauer 1948/49 wiederholt in die Diskussion 285
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gebracht wurde, hoffte der Kanzler die Wahl Bonns als Sitz der Bundesregierung leichter durchsetzen zu können (Morsey 1977). Schon damals stieß diese Idee bei den meisten Fachleuten auf wenig Gegenliebe. In diesem Zusammenhang wurden die ersten Verwaltungsreformgutachten erstellt; u. a. gab es ein Gutachten des Rechnungshofes der Bizone vom 1.3.1949, das Adenauers Vorstellungen entgegenkam und für kleine Ministerien sowie für die Verlagerung aller „nicht zur eigentlichen Ministerialarbeit gehörenden Tätigkeit“ auf Bundesoberbehörden plädierte. Dort wurde u. a. auch gegen die Etablierung eines selbständigen Personalamtes argumentiert. In einem weiteren Gutachten vom Mai 1949 sprach sich der Rechnungshof ausdrücklich gegen eine räumliche Trennung von Regierung und Ministerien aus, allerdings gelangte dieses Gutachten nie an die Öffentlichkeit (Wengst 1984, S. 97ff.). Schon vorher hatte es verschiedentlich Kritik an dem aufgeblähten bürokratischen Apparat der Wirtschaftsverwaltung der Bizone gegeben. In fast allen Landtagen fanden Debatten über das Problem der „sich ständig vergrößernden Bürokratien“ statt, und es häuften sich Fälle von Korruption, die von entsprechenden Landtagsausschüssen untersucht wurden (Ambrosius 1979, S. 184ff.). Es gab bereits 1948 eine erste Verwaltungsreformkommission, die sog. Haaser-Kommission, die den Auftrag hatte, „eine Organisation vorzuschlagen, die zu einer Verringerung des Verwaltungsaufwandes und zu einer Steigerung der Verwaltungsleistung“ führen sollte und deren Reorganisationsvorschläge auf eine drastische Verkleinerung der vorhandenen Verwaltung hinausliefen, u. a. durch Verringerung der Zahl der Organisationseinheiten und durch Vergrößerung der Sachbereiche und Zuständigkeiten. Kritisiert wurde auch bereits das Fehlen zentraler Programminitiativen: „Die leitenden Kräfte des Hauses werden in nicht vertretbarem Umfange mit Einzelfragen und Einzelentscheidungen in Anspruch genommen“ (Quellen bei Ambrosius 1979).
Alles dies klingt nach inzwischen über 70jähriger Erfahrung mit Verwaltungsreform erschreckend familiär. So auch der folgende Passus aus der ersten Regierungserklärung Adenauers 1949, der noch heute in jeder Regierungserklärung auftauchen könnte: „Die Hauptsache ist, daß der ministerielle Apparat im demokratischen Staat im ganzen möglichst klein gehalten wird, daß die Ministerien von all den Verwaltungsaufgaben befreit bleiben, die nicht in die ministerielle Instanz gehören. Dadurch werden die nötige Übersicht, die Arbeitsfähigkeit der Ministerien gewährleistet, Verwaltungskosten gespart und die Bundesminister werden vor allem Zeit haben, ihre wichtigsten Aufgaben, die Koordinierung der verschiedenen von ihnen wahrzunehmenden Interessen und die Wahrung der großen politischen Linie zu erfüllen“ (auch zitiert vom Sachverständigenrat Schlanker Staat 1998, S. 109).
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Schon damals wurden diese guten Vorsätze nur zum Teil befolgt. Die Bundesministerien wurden erheblich umfangreicher mit Personal ausgestattet als im ursprünglichen Vorschlag des Organisationsausschusses der Ministerpräsidenten vorgesehen, und auch die damaligen Begründungen klingen bekannt. Zum einen war es die koalitionspolitisch bedingte Anzahl von 13 gegenüber 8 geplanten Bundesministerien, zum anderen aber auch ein Mangel von geeigneten Fachleuten, der als Begründung für diese personelle Überbesetzung angeführt wurde.
5.1.4 Ämterpatronage Auch die Parteipolitisierung der Verwaltung war 1949 bereits verhältnismäßig weit entwickelt. Alle vier in der ersten Bundesregierung vertretenen Parteien betrieben Ämterpatronage (Morsey 1977), auch und gerade die CDU hatte die Besetzung der neuen Bundesministerien mit Parteifreunden langfristig vorbereitet und professionell umgesetzt. Auf Betreiben Adenauers wurde eine entsprechende Arbeitsgruppe gebildet, die geeignete Personen ausfindig machte und vorschlug, und u. a. die CDU/ CSU-Fraktion verlangte über einen speziellen Fraktionsausschuss Mitspracherecht bei der Besetzung aller Ministerialdirektorenstellen (Abteilungsleiter), eine detaillierte Unterrichtung über alle Personalpläne der Regierung, konfessionelle Parität und die Übertragung der Personalreferentenstellen an „zuverlässige CDU-Leute“ (Quellen bei Wengst 1984, S. 158f.). Unterstützt wurden diese parteipolitische Ämterpatronage in großem Umfang durch standes- und verbandsbedingte Zugehörigkeiten (Studentenverbände, Korporationen) und frühere berufliche Kontakte. Laut Quaritsch waren solche Seilschaften unter den ungewöhnlichen Verhältnissen jener Zeit allerdings eigentlich ganz selbstverständlich. Eine derart „ganz normale“ Verhaltensweise sei im modernen Verwaltungsstaat überdeckt oder abgelöst worden durch formale Verfahren, Ausschreibungen, Anonymität usw. In der Übergangszeit der ersten Nachkriegsjahre seien aber die natürlichen Ordnungen wieder zu ihrem Recht gekommen (Hochschule Speyer 1977, 243). Auch in einem anderen Bereich wurde die „natürliche Ordnung“ wiederhergestellt, nämlich durch die Reduzierung der Zahl der weiblichen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die während des Krieges erheblich angestiegen war. Zu diesem Zweck wurde u. a. eine Bestimmung aus der NS-Zeit wieder und sogar verschärft angewendet, nach der verheiratete Beamtinnen entlassen werden können, wenn die „wirtschaftliche Versorgung nach der Höhe des Familieneinkommens dauernd gesichert erscheint“ (Quellen bei Garner 1993). Mit dieser Vorschrift sollten unter dem Eindruck der nachkriegsbedingten Arbeitslosigkeit die sog. „Doppelverdiener“ 287
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verhindert und Arbeitsplätze für zurückkehrende männliche „Normalversorger“ geschaffen werden. Manche Verwaltungen legten diese Vorschrift so weit aus, dass auch junge unverheiratete Frauen, die mit ihren Eltern in einem gemeinsamen Haushalt lebten, betroffen waren. Das Ergebnis all dieser Prozesse war auf jeden Fall eine Bestätigung und Konservierung der klassischen bürokratischen Personal-, Aufbau- und Ablaufstrukturen. Die kommunalen und regionalen Verwaltungen waren einfach weitergeführt worden, und die Bundesverwaltung knüpfte ganz bewusst an die Ministerialverwaltung des Reiches an, nicht nur in ihren Strukturen und ihrem Personal, sondern zum Beispiel auch im Rahmen der Gemeinsamen Geschäftsordnung (GGO). Bürokratische Strukturen wurden keineswegs als Problem gesehen, sondern als Errungenschaft. Als Problem der Naziherrschaft galten weniger ihre bürokratische Effizienz und Unmenschlichkeit, sondern vielmehr ihre organisatorischen Widersprüche und Doppelungen. Wenn überhaupt Verwaltungsverfahren in das Blickfeld der Verwaltungspolitik gerieten, dann zunehmend mit dem Ziel der Durchsetzung einer streng rechtsstaatlichen, in jedem ihrer Schritte durch unabhängige Gerichte überprüfbaren Verwaltung.
5.1.5 Aufbau und Konsolidierung In der ersten Phase der bundesdeutschen Verwaltungspolitik ging es um die Beseitigung der Kriegs- und Nazischäden, den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder auch in der Verwaltung. Die Verwaltung wuchs in dieser Zeit erheblich, zwischen 1950 und 1965 um etwa 2/3, besonders die allgemeine Verwaltung (100 %), und die Besoldung wurde dem allgemeinen Niveau angepasst. Der öffentliche Dienst nahm am Wirtschaftswunder teil, auch die „131er“, die ehemaligen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, darunter nicht wenige Alt-Nazis, wurden wieder in den öffentlichen Dienst integriert (erleichtert durch regelmäßige Gesetzesnovellen jeweils kurz vor den Bundestagswahlen, Garner 1993). Insgesamt verstärkte sich auf diese Weise in den fünfziger Jahren sogar noch die personelle Kontinuität zwischen den Behörden des alten Reichs und der neuen Bundesrepublik. Diese Kontinuität ist erst in den letzten Jahren durch verschiedene sog. unabhängige Historiker-Kommissionen für unterschiedliche Ministerien aufgebarbeitet worden. So hatten z. B. von den 170 Juristen, die von 1949 bis 1973 in Leitungspositionen des Bundesjustizministeriums tätig waren, 90 der NSDAP und 34 der SA angehört. Mehr als 15 Prozent waren vor 1945 schon im Reichsjustizministerium der Nazis tätig (Görtemaker/Safferling 2016; für das AA Conze et.al 2010).
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Eine bewusste oder sogar einheitliche Verwaltungspolitik ist in dieser Zeit nicht erkennbar. Die Verwaltung wuchs und differenzierte sich dort, wo sich die Gelegenheit ergab oder sie gerade gebraucht wurde; sie sollte möglichst so funktionieren wie „früher“, allerdings, dies auch eine Folge der Naziherrschaft, unbedingt auf rechtsstaatlicher und demokratischer Grundlage. Wenn überhaupt, ist daher die rechtsstaatliche Vereinheitlichung, Durchdringung und Normierung des Verwaltungsrechts (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes) das zentrale Reformvorhaben dieser Periode. Die legalistische, formale und hierarchische Ausrichtung der Verwaltung wurde gestärkt. Bereits diese Periode ist durch kontinuierliche Reformansätze gekennzeichnet, und zwar in der Regel in der für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik typischen Form der Expertenkommissionen, Denkschriften und Gutachten (Quellen bei Wagener 1969). Die Luther-Kommission (1952–1955) legte Vorschläge für eine Neuordnung des Bundesgebietes vor, und in Nordrhein-Westfalen forderte Ministerpräsident Arnold 1952 eine organisatorische (Entlastung der obersten Landesbehörden von Verwaltungsaufgaben, Konzentration in der Mittelstufe, Kommunalisierung in der Orts- und Kreisstufe und weitgehende Aufgabendelegation) und sachliche Verwaltungsreform (Aufgabenabbau), die schließlich bezüglich der Bezirksregierungen im „Arnsberger Gutachten“ (1955) zusammengefasst wurde (Ellwein 1997, S. 468). In anderen Ländern wurde ähnlich argumentiert. Es gab ein Gutachten zur „Staatsvereinfachung in Bayern“ (1955), einen „Verwaltungsvereinfachungsplan“ in Baden-Württemberg (1958), einen „Verwaltungsreformplan“ für Schlesw ig-Holstein (1958) und sogar eine „Sachverständigenkommission für die Vereinfachung der Verwaltung beim Bundesministerium des Innern“ (1960), die sich ausdrücklich mit der „Aufblähung des Beamtenkörpers“ beschäftigte. Überall ging es um eine Vereinfachung des überkommenen Behördenaufbaus, um Aufgabenabbau und zunehmend um die Anpassung der Verwaltung an die veränderten demografischen und sozio-ökonomischen Problemlagen. Allenthalben gab es marginale Verbesserungen und Anpassungen, aber die überkommenen Strukturen wurden nicht infrage gestellt, stattdessen einzelne Elemente gelegentlich vereinfacht, in der Regel aber erweitert, differenziert und verändert.
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5.2 Verwaltungsreformen 5.2 Verwaltungsreformen
„Nur Faule, Unfähige und Narren kamen und lebten in den Büros. So setzte sich die Mittelmäßigkeit langsam und sicher in den Verwaltungskörpern (…) fest. Die Bürokratie war nur aus kleinen Geistern zusammengesetzt, und überall hemmte sie die Wohlfahrt des Landes.“
Was der Dichter und Denker Honoré de Balzac 1842 behauptete, klingt irgendwie vertraut, zumindest nicht danach, dass diese Aussage bald 180 Jahre alt ist. Das Nachdenken über den Arbeitgeber Staat, über die Staatsaufgaben sowie über die Art und Weise, wie diese Aufgaben zu bewältigen sind und insbesondere die Bürokratiekritik, ist alles andere als neu. Eng damit zusammenhängend wird schon lange über Verwaltungsreformen nachgedacht. Insbesondere die deutsche Verwaltung kann daher als generell als reformfreudig gelten. Allein bezogen auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik werden bis zu elf Reformphasen ausgemacht (Becker 1989). Diese Einschätzung hängt allerdings damit zusammen, was man unter Verwaltungsreformen versteht. Der Begriff der Verwaltungsreform erfreut sich insbesondere seit Ende der sechziger Jahre zunehmender Beliebtheit. Er steht für das Bemühen, mit politischen Zielsetzungen der Verwaltung und ihrem schleichenden Wachstums- und Verände rungsprozessen gegenüberzutreten (vgl. hierzu und im Folgenden Hesse/Benz 1990, S. 319ff.; Brinckmann 1994, S. 178ff.; Miller 1995, S. 339ff.; Seibel 1998, Holtkamp 2012, Kuhlmann/Wollmann 2013, Veit 2018, Reichard/Veit/Wewer 2019, Bach/Veit 2019). Verwaltungsreformen sind geplante Veränderungen von organisatorischen, rechtlichen, personellen und fiskalischen Strukturen der Verwaltung und sind damit weitgehend identisch mit dem Konzept der Verwaltungspolitik (vgl. Kap. 6.3.2). Verwaltungsreformen sind vor allem Sache der Länder, die für die meisten Verwaltungstätigkeiten zuständig sind. Die Länder organisieren ihre eigene Verwaltung und setzen den Gemeinden über die Gemeindeordnungen einen entsprechenden Rahmen. Der Bund war allerdings lange für die Reform des öffentlichen Dienstrechts zuständig und beeinflusst durch die Ausweitung oder Verlagerung öffentlicher Aufgaben die Verwaltungstätigkeiten der anderen Gebietskörperschaften. Auch die Gemeinden sind keine reinen Vollstreckungseinrichtungen, da sie neben der Organisationshoheit für die eigene Verwaltung auch über nicht unbeträchtliche Handlungsspielräume beim Vollzug von Maßnahmen verfügen.
5.2 Verwaltungsreformen
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Überblicksartig lassen sich acht Phasen79 der Verwaltungsreform in Deutsch land unterscheiden, die im Folgenden näher erläutert werden (vgl. zum engen Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Diskussionen und den allgemeinen Reformphasen Kap. 2.3 und Jann 2009): • die „Aktive Politik“ sowie die kommunale Gebietsreform Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre (5.2.1), • die Bemühungen um Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung, die Ende der siebziger Jahre begannen (5.2.2), • die Diskussionen um Bürgernähe und Bürgerämter (5.2.3), seit Ende der siebziger Jahre, • die betriebswirtschaftlich inspirierte Binnenmodernisierung der Verwaltung im Zuge des Neuen Steuerungsmodells (NSM) und der New-Public-Managementbewegung (NPM), sowie die Privatisierungs- und Liberalisierungsdiskussionen (5.2.4) seit Anfang der neunziger Jahre, • die Diskussionen um Bürgergesellschaft, Bürgerkommune und den aktivierenden Staat seit Mitte der neunziger Jahre (5.2.5), • die Neuauflage des Bürokratieabbaus unter dem Schlagwort „bessere Rechtsetzung“ seit Anfang des 21. Jahrhunderts (5.2.6), • die neueren Verwaltungsstrukturreformen in den Bundesländern seit ca. Anfang 2005 (5.2.7) sowie • die Bemühungen um eine zunehmende Digitalisierung der Verwaltung, ebenfalls seit ca. 2005 (5.2.8). Abschließend werden dann die Erfolgsfaktoren von Verwaltungsreformen kurz resümiert (5.2.9).
5.2.1 Aktive Politik und kommunale Gebietsreform Die Phase von der Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre kann als Periode der „Inneren Reformen“ bzw. als Phase der „Aktiven Politik“ angesehen werden (ähnliche Periodisierungen und detailliertere Übersichten bei Böhret/Konzendorf 1997, Seibel 1996b, Derlien 1996a, Wollmann 1997, Jann 2009). Gemeinsam war den Innovationsversuchen die Überzeugung, eine modernisierte Verwaltung sei 79 Bestimmte Themen haben eine lange Geschichte und durchlaufen daher, wie die Entbürokratisierungsdiskussionen oder die Diskussionen um Bürgernähe, unterschiedliche Zeitphasen. 291
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notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Die Verwaltung sollte reformiert werden, um die Bedingungen für weitere Modernisierungen zu schaffen, insbesondere sollte sie in die Lage versetzt werden, eine vorausschauende und integrative staatliche Politik zu ermöglichen und zu unterstützen. Planung und aktive Politik waren sowohl die Schlagworte der allgemeinen politischen Diskussion (Bildungsplanung, Globalsteuerung, Raumordnung, Infrastrukturplanung etc. bis hin zu Vorstellungen von Investitionslenkung) wie der Verwaltungsreform auf Ebene des Bundes, der Länder und der Gemeinden. Aufgabe des Staates war die Korrektur von Marktversagen oder sogar dessen vorausschauende Verhinderung. Der „organisierte Kapitalismus“ erforderte ein intelligentes, vorausschauendes und aktives politisch-administratives System (Mayntz/Scharpf 1973b). Die verwaltungspolitischen Maßnahmen und Diskussionen dieser Reformperiode, also Finanzreform, Gebiets- und Funktionalreform, Planungsorganisation und Ministerialreform sowie Dienstrechtsreform waren Folge der Handlungs- und Organisationsprobleme des expandierenden Sozial- und Interventionsstaates. Sie waren gleichzeitig Bestandteil der allgemeinen politischen Diskussion, wenn auch eine eher technokratische Spezialität für Insider, und sie waren auch Teil der allgemeinen internationalen Diskussion, denn in allen westlichen Industrienationen (insbesondere USA, Großbritannien, Skandinavien) gab es in dieser Periode umfangreiche ähnliche Bestrebungen. Die dort entwickelten Konzepte, z. B. Programm-Budgeting (PPBS), Zero-Based-Budgeting (ZBB) oder Management by Objectives (MbO), wurden in Deutschland aktiv rezipiert, wenn auch kaum eingesetzt. Die Finanzreform von 1969 ist nicht ohne das vorausgehende Scheitern der territorialen Länderreform zu erklären. Um zu einer stärkeren Homogenisierung der infrastrukturellen Leistungsfähigkeit zwischen den Bundesländern zu kommen, konnte man im Prinzip territorial oder fiskalisch ansetzen (Seibel 1998, S. 94). Da alle territorialen Neugliederungen des Bundesgebietes bis in die sechziger Jahre hinein gescheitert waren (was bis heute gilt), blieb als Ausweg nur die fiskalische Lösung, die durch die Große Koalition und ihre verfassungsändernde Mehrheit letztlich im Mai 1969 durch den neu geschaffenen Länderfinanzausgleich ihren Abschluss fand. Insgesamt kann man neben dem Länderfinanzausgleich das Stabilitätsgesetz von 1967, das neue Instrumentarium der Gemeinschaftsaufgaben, bei dem eine Mischfinanzierung vorgesehen war (Art. 104a, Abs. 4 GG) und die Beteiligung der Kommunen an der Einkommenssteuer nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahlen mit besonderer Berücksichtigung der Belastung durch zentralörtliche Funktionen zum Gesamtpaket der Finanzreformen zählen (vgl. ausführlicher Ellwein/Hesse 1997, S. 93ff.). Sie gelten insgesamt als erfolgreich, ist doch ihr wesentlicher Effekt
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unbestritten, eine weitgehende Homogenisierung der Finanzausstattung von Ländern und Kommunen.80 Die Ministerialreform zielte auf die Stärkung der Planungs- und Koordinierungskapazitäten der zentralstaatlichen Ebene. Hierzu wurde eine „Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform“ noch zur Zeit der großen Koalition eingesetzt und arbeitete von Anfang 1969 bis Ende 1975. Beteiligt war die gesamte Pioniergeneration der deutschen Verwaltungswissenschaft, u. a. Hans-Ulrich Derlien, Renate Mayntz, Frieder Naschold und Fritz W. Scharpf. Die Projektgruppe hatte den Auftrag, sowohl auf Kabinetts- als auch auf Ressortebene Reformvorschläge für eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit von Bundesregierung und Bundesverwaltung zu erarbeiten. Sie veröffentlichte drei Berichte, wobei der erste (1969) vor allem die Planungsorganisation, der zweite (1972a) die Verlagerung von Aufgaben aus den Bundesministerien und der dritte (1972b) die Einführung eines integrierten Aufgaben- und Finanzplanungssystems behandelt (hinzu kommen separate Veröffentlichungen von Teilprojekten zum Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, zum Verkehrsministerium, zum Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung und zur nichtministeriellen Bundesverwaltung, alle 1975). Während die Empfehlungen des ersten Berichtes zur Neuabgrenzung der Geschäftsbereiche, der Stellung und Aufgaben der Parlamentarischen Staatssekretäre und der Verbesserung des Führungsinstrumentariums von Kanzler und Bundesregierung bei der Regierungsneubildung im Herbst 1969 weitgehend berücksichtigt wurden, stellten sich bei den späteren Vorschlägen zur Verlagerung von Aufgaben aus den Bundesministerien, zur Fortentwicklung politischer Planung, zur Verbesserung der inneren Organisation der Bundesministerien, zu den Problemen der Ressortabgrenzung und zur Schaffung von Querschnittseinrichtungen und interministeriellen Zusammenarbeit nicht unerhebliche Umsetzungsprobleme ein und das Interesse an der Kommission schwand (vgl. Miller 1995, S. 407ff., 623ff., zusammenfassend auch Lepper 1976, Müller 1977). Beabsichtigt war insbesondere, durch die Nutzung neuer IuK-Techniken die Defizite arbeitsteiliger Organisation zu überwinden. Es kam allerdings nur zur Einrichtung von Planungsstäben, die neuen technischen Planungs- und Entschei80 Spätestens ab Anfang der achtziger Jahre funktionierte dieses System des bundesstaatlichen Finanzausgleiches aber zunehmend weniger, da sich in einigen Bundesländern durch Kohle, Stahl- und Werftenkrise die Finanzkraft drastisch verringerte, die Stadtstaaten durch Abwanderungen ins Umland getroffen und Einnahmen bestimmter Bundesländer nicht berücksichtigt wurden. Zur Neugestaltung des Finanzausgleichs wurde daher mehrfach das Bundesverfassungsgericht angerufen. Durch die deutsche Einheit wurde das generelle Ziel der Annäherung der Wirtschaftskraft der Länder dann nochmals erheblich beeinträchtigt (zu den jetzigen Regelungen vgl. Kap. 3.7.1). 293
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dungstechniken stellten sich nicht ein. Ein Grund liegt in dem sehr technokratischen Verständnis von Planung und der Vernachlässigung personeller, kommunikativer und machtpolitischer Faktoren. Deutlich wurde an den Erfahrungen mit der Ministerialreform, dass Entscheidungsprozesse nicht nur Prozesse der Informationsgewinnung und -verarbeitung, sondern immer auch Konflikt-, Konsens- und Machtprozesse sind. Im Rahmen der Projektgruppe wurden die ersten umfangreichen empirischen Untersuchungen zur Arbeit der deutschen Ministerialverwaltung durchgeführt. Die umfassendste Zusammenfassung der Ergebnisse gibt es nur auf Englisch (vermutlich, weil dafür das Interesse in Deutschland nicht mehr sehr groß war, siehe Mayntz/Scharpf 1975), auf Deutsch wurde in diesem Zusammenhang das Schlagwort des „aktiven Staats“ geprägt (dieselben 1973a). Die vom Bund zu verantwortende Reform des öffentlichen Dienstrechtes in den siebziger Jahren gilt noch mehr wie die Reform der Ministerialverwaltung als weitgehend gescheitert. Die Forderungen der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechtes von 1973 (samt Anlagen enthält der Bericht 4.500 Seiten, vgl. Wiese 1972, Ellwein/Zoll 1973) zur Schaffung eines einheitliches Dienstrechtes und der Aufhebung der Dreiteilung von Beamten, Angestellten und Arbeitern verzögerte sich vor allem aufgrund des Bemühens um eine Reform aus einem Guss und scheiterte letztlich an Geldmangel, Widerständen der betroffenen Verbände, der F.D.P., unklaren Vorgehensweisen und wachsender öffentlicher Kritik an den Privilegien des öffentlichen Dienstes. Nachdem Gebietsreformen auf der föderalen Ebene, also eine Länderneugliederung scheiterte, zielte die kommunale Gebietsreform auf die Schaffung leistungsfähiger Verwaltungseinheiten (vgl. hierzu Thieme/Unruh/Scheuner 1981). Ausgangspunkt war die Feststellung, dass eine weitgehend dezentrale Aufgabenwahrnehmung nur dann funktioniert, wenn die Territorien der Gebietskörperschaften so beschaffen sind, dass eine Aufgabenübertragung organisatorisch und wirtschaftlich möglich ist. Es bedarf also eines austarierten Verhältnisses von Einwohnerzahl, Verwaltungskraft, demokratischer Legitimation und Infrastrukturmöglichkeiten (Schule, Verkehr, Bäder). Man ging davon aus, dass eine Verwaltung mindestens 10–15 Mitarbeiter haben sollte und dass ca. 5000–8000 Einwohner nötig wären (grundlegend Wagener 1969). 1968 hatten unter den 24.000 Gemeinden jedoch 80 % unter 2.000 Einwohner. Zur Reduzierung der Zahl der Gemeinden wurden drei alternative Strategien angewandt: • die Einrichtung von Verwaltungsgemeinschaften auf Grundlage der örtlichen Gebietskörperschaften; • die Schaffung einer zweistufigen Gemeindeorganisation, die eine politische Vertretung auf der Ebene der Orts- und der Gesamtgemeinden vorsieht, sowie
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• die Schaffung großflächiger Gemeinden mit Ortsverfassungen. Alle drei Strategien wurden umgesetzt, die erste Strategie in Schleswig-Holstein und Bayern, aber auch in Baden-Württemberg, die dritte Strategie dagegen vor allem in NRW, wo die Gebietsreform am stärksten vollzogen wurde. Insgesamt gelang es innerhalb eines Jahrzehnts, trotz eines z. T. beachtlichen Widerstandes einiger eingemeindeter Kommunen, in allen acht Flächenländern der alten BRD zu einer drastischen Reduktion der Zahl der Kreise und Gemeinden zu kommen. Die Zahl der Regierungspräsidien verringerte sich bis Mitte der 70er Jahre von 33 auf 26, die Zahl der Landkreise von 425 auf 237 (Reduktion um 45 %), die Zahl der kreisfreien Städte von 135 auf 91 (34 %) und die Zahl der 24.411 Gemeinden wurde auf 8.513 (65 %) reduziert (Laux 1999, S. 175, auch Miller 1995, S. 363, Seibel 1998, S. 95). Nach Thomas Ellwein war die kommunale Gebietsreform „die einzige Verwaltungsreform, die seit den Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirklich geglückt ist“ (Ellwein 1994, S. 73). Die Gebietsreform führte zu einem gewissen Rückzug der Verwaltung aus der Fläche, zu Zentralisierung und Spezialisierung, damit zum Verlust von räumlicher Nähe und von Allzuständigkeit. Die fachliche Differenzierung wurde für die Qualität der Dienstleistungen als positiv eingeschätzt und war schließlich Sinn der Reform, es war nun möglich, Dienstleistungen mit mehr fachlicher Expertise zu erhalten (Sozialamt, Jugendamt, Bauamt), allerdings bedarf dies der Ergänzung durch eine räumliche Dezentralisierung und Bündelung von einfachen Aufgaben vor Ort. Mehr Bürgernähe, einfache Dienstleistungen vor Ort, komplexere von der Zentrale, gestützt durch leistungsfähige IuK-Technik können daher als Anstöße aus dieser Phase betrachtet werden (vgl. Thieme/Prittwitz 1981; Brinckmann 1994, S. 180). Mit der Schaffung größerer Verwaltungseinheiten durch die Gebietsreform waren eigentlich die Grundlagen für eine Verlagerung der Zuständigkeiten nach unten und für eine Reduktion staatlicher Sonderverwaltungen, die Hauptziele der Funktionalreform, gelegt (vgl. Thränhardt 1978, Wittkämper 1978). Hierbei geht es um eine Aufgabenverlagerung auf andere Verwaltungsträger nach dem Subsidiaritätsprinzip, z. B. um die Kommunalisierung von Sonderbehörden wie Gesundheitsämtern, Veterinärämtern, Vermessungs- und Katasterämtern und Schulämtern oder die Verlagerung von Rechten auf Bezirksgliederungsebene (vgl. zu den Vor- und Nachteilen von Sonderbehörden und allgemeiner Verwaltung Kap. 3. 2.5). Diese Ziele wurden jedoch insgesamt sehr zögerlich und unvollständig umgesetzt, so dass von einer steckengebliebenen Reform oder einem „Showgeschäft“ gesprochen wird. Die Sonderbehörden blieben insgesamt gesehen weitgehend erhalten, da sie oft durch starke gesellschaftliche Gruppen unterstützt wurden (etwa im Agrar- oder Umweltbereich), und eine Verlagerung von Zuständigkeiten fand 295
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kaum statt, auch wenn es durchaus Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gibt (am konsequentesten wurde die Funktionalreform in NRW umgesetzt, dort sind die Kommunen allerdings auch am größten, während es in Bayern keine nennenswerten Aktivitäten gab, Miller 1995, S. 379ff.). An diesem Punkt zeigt sich einmal mehr, dass es einfacher ist eine abhängige Organisation zu verändern (wie z. B. bei der kommunalen Gebietsreform) als im eigenen Bereich tätig zu werden, da hier die Verteidigung von Eigeninteressen erfolgreicher ist.81 Einen neuen Anlauf zu Gebietsreformen gab es zum einen direkt nach der Vereinigung, als die große Zahl extrem kleiner und damit kaum leistungsfähiger Kommunen in den neuen Bundesländern vermindert wurde, und dann noch einmal nach 2005 in verschiedenen Verwaltungsstrukturreformen in fast allen Bundesländern (vgl. Kap. 5.2.7).
5.2.2 Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung Der Beginn der nächsten verwaltungspolitischen Themenkonjunktur ist bereits Mitte der siebziger Jahre erkennbar und befindet sich wiederum in Übereinstimmung mit den allgemeinen politischen und internationalen Diskussionen. Ähnlich wie die Debatten über Finanzreform und Planungsorganisation lange vor der sozial-liberalen Koalition einsetzten und mit der Bildung dieser Koalition rasch ihren Höhepunkt überschritten, begannen die Auseinandersetzungen über Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung lange vor der innenpolitischen Wende des Jahres 1983. Hintergrund dieser neuerlichen verwaltungspolitischen Aktivitäten war die Mitte der siebziger Jahre international und etwas später in Deutschland sich verstärkende neo-liberale Staatskritik, die als größten Hinderungsgrund sozio-ökonomischen Fortschritts nicht länger Marktversagen, sondern im Gegenteil Staats- und Bürokratieversagen identifizierte. International verkörperten Thatcherism (seit 1978) und Reagonomics (seit 1980) diesen Themenwechsel, während in Deutschland der Regierungswechsel noch auf sich warten ließ. Aber auch in Deutschland wurde Bürokratisierung der Sammelbegriff für vielfältige Kritik am modernen Wohlfahrtsstaat. Zu nennen sind
81 Zu den verschiedenen Phasen der Gebietsreformen in Ostdeutschland vgl. weiter unten Kap. 5.2.5. Auch in den östlichen Bundesländern kam es nach der deutschen Vereinigung zur Gebietsreform (vgl. Frenzel 1995). Hier wurden die Zahl der Gemeinden allerdings zunächst nicht so drastisch reduziert, wie in den westdeutschen Ländern 30 Jahre zuvor. Erst in der zweiten Welle kam es zu größeren Reduktionen (vgl. Abb. 25).
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• zunehmende staatliche Regelungen, • Gesetzesflut und Verrechtlichung, • ungebändigte Vermehrung staatlicher Aufgaben und damit Erhöhung der Staatsquote, • Wachstum des nach den bürokratischen Prinzipien formeller, schriftlicher Regelung und strikter Hierarchie aufgebauten, unpersönlichen Apparats, • zunehmende Abhängigkeit von Bürgern und privaten Organisationen von staatlicher Verwaltung bis hin zur Entmündigung der Klienten, und schließlich • zunehmende Tendenz zur Verselbstständigung der öffentlichen Verwaltung. Zusammengefasst gab es vor allem zwei zentrale Ansatzpunkte der Kritik: Zum einen Überregelung und Verrechtlichung, also die zunehmende staatliche Intervention in gesellschaftliche Teilbereiche durch Gesetze und Verordnungen, die zur Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen, der Behinderung privater Initiativen und zu einer ständig steigenden Staatsquote führe. Zum anderen die zunehmenden bürokratischen Strukturen und Funktionsweisen der Verwaltung, also Bürgerferne und Amtsschimmel, Unpersönlichkeit und mangelnde Dienstleistungsorientierung, deren Folge auch Entmündigung und Behinderung der Bürger sei (vgl. Mayntz 1980b, Ellwein/Hesse 1985). Die politische Diskussion wurde früh von den politischen Parteien aufgegriffen, 1978 von der CDU in einem Kongress „Verwaltete Bürger – Gesellschaft in Fesseln“, 1979 von der SPD in einem Forum „Bürger und Verwaltung“. Auf der Bundesebene wurde zunächst keine neue Reformkommission gebildet, allerdings gab es 1980 eine umfangreiche Anhörung beim Bundesinnenministerium zu „Ursachen einer Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung sowie zu ausgewählten Vorhaben zur Verbesserung des Verhältnisses von Bürger und Verwaltung“, die wiederum einen Großteil des bundesdeutschen verwaltungswissenschaftlichen Sachverstandes versammelte (Mayntz 1980b). Gleichzeitig begannen 1978 fast alle Bundesländer, eigene Entbürokratisierungskommissionen einzusetzen, wiederum i. d. R. mit externem Sachverstand. 1983, nach dem Regierungswechsel, kam schließlich auch auf Bundesebene eine „Unabhängige Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung“, nach ihrem Vorsitzenden, dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren, auch „Waffenschmidt-Kommission“ genannt, hinzu. Mit dieser Kommission holte die Bundesregierung im Prinzip allerdings nur nach, was fast alle Bundesländer seit 1979 vorexerziert hatten, nämlich eine überfällige Rechtsbereinigung des schwer zu überblickenden Vorschriftendschungels. Viel mehr als Rechtsbereinigung war bei den Entbürokratisierungskommissionen der Länder nicht herausgekommen (Seibel 1986), und viel mehr kam auch beim Bund nicht heraus (zum Folgenden Jann/Wewer 1998). 297
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Die „Waffenschmidt-Kommission“ verabschiedete eine Reihe von Zwischen berichten und Berichten (insgesamt sieben) mit einer Fülle von Anregungen (z. B. den ersten und zweiten Bericht zur Verwaltungsvereinfachung [1985 und 1986], zur „Beschleunigung von Genehmigungsverfahren“ [1990], zur „Erleichterung von Gewerbeansiedlung in den neuen Bundesländern“ [1992] usw.) und zwischen 1983 und 1993 ergriff die Bundesregierung auch etliche Maßnahmen auf diesem Gebiet. 1984, so ein Ergebnis der Bundeskommission, gab es auf Bundesebene 5.070 Gesetze mit durchschnittlich 17 Einzelnormen, so dass man auf 87.000 Einzelnormen in der Summe kam.82 Aufgrund einer umfassenden Durchsicht der geltenden Rechtsvorschriften durch die zuständigen Bundesressorts wurden in drei Rechtsbereinigungsgesetzen und zwei Rechtsbereinigungsverordnungen 15 Gesetze und 30 Verordnungen ganz aufgehoben sowie 400 Einzelvorschriften in mehr als 100 Gesetzen gestrichen oder vereinfacht. Einzelne Rechtsgebiete wurden eigenständig vereinfacht, z. B. im Steuerrecht oder im Baurecht. Die Vereinfachungsbemühungen waren hinsichtlich des Abbaus von Regelungen also durchaus erfolgreich. Allerdings wurden auch die Grenzen deutlich, die in den wesentlichen Ursachen für die zunehmende Regelungsdichte liegen. Zu nennen sind hier die gesellschaftliche Differenzierung und die Etablierung und der Ausbau neuer Politikfelder (Bildungspolitik, Umweltpolitik, Arbeitsmarkpolitik, Familienpolitik), aber auch das Auseinanderklaffen der Ebene der Politikformulierung und des Vollzugs, der Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung, die horizontale und vertikale Koordination nach bürokratischen Kriterien und die komplexen finanziellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften (vgl. Ellwein 1989, S. 113). Jenseits des Abbaus von Vorschriften aber gab es keine grundlegenden strukturellen Veränderungen. Diejenigen Kommissionen, die in ihrem Anspruch ehrgeiziger und in der Vorgehensweise kritischer waren (Ellwein-Kommission in NRW 1981–83, Bulling-Kommission in BW 1984–85) konnten weitergehende Vorschläge insbesondere zur Verwaltungsvereinfachung nicht durchsetzen. Um sicherzustellen, dass nur „notwendige, wirksame und verständliche Regelungen“ in die Entwürfe von Gesetzen und Verordnungen aufgenommen werden, hatte die Bundesregierung bereits in den achtziger Jahren einen Katalog von Prüffragen verabschiedet („Blaue Prüffragen“), die bei jedem Gesetzesentwurf zu berücksichtigen waren. Auf Grundlage der Erfahrungen mit diesen Prüffragen verabschiedete die Bundesregierung 1989 ein weiteres Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung der Rechtsetzung und von Verwaltungsvorschriften. Dass auch die Bundesregierung 82 Auf Landesebene wurden z.B in NRW 420 Landesgesetze und 1.250 Rechtsverordnungen ausgemacht, von denen man ca. ein Viertel für entbehrlich hielt (Miller 1995, S. 438).
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mit diesen Bemühungen keineswegs zufrieden war, zeigt sich u. a. darin, dass in den neunziger Jahren, noch vor Einsetzung des Sachverständigenrates „Schlanker Staat“, ein neuer Anlauf auf diesem Gebiet genommen wurde. Es wurde ein gesonderter „Deregulierungsbericht“ eingeführt, eine weitere Deregulierungskommission gegründet (1987) und schließlich noch eine Kommission „Zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren“ (nach ihrem Vorsitzenden „Schlichter-Kommission“) eingesetzt. Ab Mitte der neunziger Jahre verstärken sich sowohl auf EU-Ebene als auch in fast allen europäischen Ländern Maßnahmen der besseren Rechtssetzung (better regulation). „Bessere Rechtsetzung zielt darauf ab, Überregulierung zu vermeiden, die Gesamtzahl der Rechtsvorschriften überschaubar zu halten und die Qualität von Gesetzen zu verbessern. Qualitätsverbesserung meint in diesem Zusammenhang, dass der Prozess der Auswahl einer Regelungsalternative auf möglichst umfangreichem Wissen über Effektivität, Effizienz und potenzielle Problembereiche basieren soll“ (Jantz/Veit 2019, S. 511).
In Deutschland wurden Fragen der Rechtsbereinigung noch einmal grundsätzlich vom Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ aufgegriffen. In seinem Bericht wird Ende 1997 auf folgende Punkte aufmerksam gemacht (1997, S. 203ff.): Erstellung eines Testkatalogs für gesetzgeberische Vorhaben zur Eindämmung der Gesetzesflut (Gesetzesfolgenabschätzung, GFA) sowie die Einrichtung einer Normprüfstelle beim Bundeskanzleramt sowie auf europäischer Ebene. Gleiches gilt auch für Verwaltungsvorschriften und Standards, die nur mit Verfallsdatum erlassen werden sollten. Hintergrund war, dass ein Vergleich zum Jahr 1984 zeigte, dass sich wenig verändert hatte: 1997 existieren 4.874 Gesetze mit über 89.400 Einzelbestimmungen (Sachverständigenrat 1997, S. 7), ein weitgehend identisches Ergebnis zur damaligen Bestandsaufnahme. Auch die zweite Regierung Schröder hatte 2002 „Bürokratieabbau“ zu einem Schwerpunkt ihres Regierungsprogramms gemacht und dazu einen „Masterplan Bürokratieabbau“ entwickelt. Die Bundesregierung forderte dabei die Industrie auf, besondere Bereiche der Überregulierung zu benennen, und die daraufhin vorgelegten Vorschläge verschiedener Interessengruppen wurden in einem umfangreichen Gutachten zusammengefasst (Kroker/Lichtblau/Röhl 2003). Umgesetzt wurde davon allerdings wenig, denn wie Aufgabenabbau oder Subventionsabbau ist Bürokratieabbau generell populär, aber nicht im Detail. Sobald einzelne Vorschläge vorliegen, verbünden sich die Spezialisten in den betroffenen Politikbereichen mit ihren Netzwerken in Politik und Verwaltung, um ihre Interessen zu schützen (Jann/Wegrich 2008, dies 2019). Beispiele wären die damaligen Versuche, z. B. die 299
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Apothekenordnung, die Vergütung der Architekten oder den Meisterzwang im Handwerk zu vereinfachen, die allesamt von den „interessierten Kreisen“ verhindert wurden. Nachdem diese Bemühungen wenig erfolgreich waren, gab es dann mit der neuen Großen Koalition 2006 einen neuen Anlauf, in dem Bürokratieabbau nicht mehr nur mit Kommissionen und ex-post Bereinigungen versucht wurde, sondern direkt in den Gesetzgebungsprozess eingebunden wurde. Diese Strategie ist offenbar erfolgreicher (vgl. Kap. 5.2.6).
5.2.3 Bürgernähe und Bürgerämter Parallel zu den Diskussionen um Entbürokratisierung machte seit den siebziger Jahren die Vorstellung von mehr „Bürgernähe“ in den öffentlichen Verwaltungen eine rasante Karriere. In dem Maße, wie staatliche Interventionstätigkeiten zunehmen, Probleme der Leistungsfähigkeit und Steuerbarkeit staatlichen Handelns offensichtlicher werden, Bürger höhere Anforderungen an die öffentliche Verwaltung haben und die Wirksamkeit bestimmter Dienstleistungen von der Mitwirkung der Bürger abhängig ist, bekommen Vorstellungen von einer bürgernahen Verwaltung eine stärkere Bedeutung. Bürgernähe bezieht sich dabei in erster Linie auf den Prozess der Politikumsetzung, nicht auf den der Politikformulierung. Bürgernähe avanciert neben den Zielvorstellungen der Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Rechtmäßigkeit zu einem vierten Hauptkriterium, unter dem der Erfolg von Verwaltungshandeln zu betrachten ist. Durch die Veränderung der bundesgesetzlichen Rahmenbedingungen (Bundesbaugesetzbuch und Städtebauförderungsgesetz) wurde darüber hinaus in den Kommunen ein Ausbau der Bürgerbeteiligungsangebote bei räumlichen Planungsprozessen induziert. Die Beschäftigung mit Aspekten bürgernaher Verwaltung schlug sich auf wis senschaftlicher Ebene vor allem in umfassenden Untersuchungen der Projektgruppe „Verwaltung und Publikum“ der Universität Bielefeld nieder.83 Zentrale Ursachen von Bürgerferne öffentlicher Verwaltungen liegen nach Ansicht der erwähnten Autoren in ihrem Größenwachstum, in der zunehmenden Zentralisierung, der wachsen83 Diese führte von 1971 bis 1976 Untersuchungen in der Steuerverwaltung (Grunow 1978) durch, zunächst durch die Volkswagenstiftung finanziert, und von 1975 bis 1979 im vom BMFT finanzierten Forschungsverbund „Bürgernahe Sozialpolitik“ (vgl. Kaufmann 1977, 1979). In separaten Publikationen haben sich Hegner (1978) zudem mit den psychischen Belastungen und Spannungen im Verhältnis von Bürger und Verwaltung und Grunow zunächst mit den Alltagskontakten mit der Verwaltung (1978) und später mit konzeptionellen Überlegungen zur bürgernahen Verwaltung überhaupt (Grunow 1982, 1988, vgl. auch Hoffmann-Riem 1979; Gramke 1978) auseinandergesetzt.
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den Arbeitsteilung und in der durch Recht und Verfahren gesteuerten Form der Problembearbeitung (vgl. hierzu und im Folgenden Bogumil/Kißler 1995, S. 18ff.). Diese Punkte gelten gleichzeitig als wesentliche Faktoren der Leistungsfähigkeit öffentlicher Verwaltung. Dort jedoch, wo die Grenzen der möglichen Gewinne durch Zentralisierung, Spezialisierung und Verfahrensförmigkeit nicht gesehen werden, kommt es zu einer übermäßig bürokratisierten, bürgerfernen und wenig effektiven Verwaltung. Dies gilt umso mehr für jene Aufgabengebiete, in denen eine schematisierende Bearbeitung nach feststehenden Programmen den Anliegen der Bürger nicht gerecht wird und in denen stärker situationsspezifisch zu handeln wäre, wie z. B. bei der Polizei oder den sozialen Diensten (vgl. Kaufmann 1979, S. 532). Die Verwirklichung einer bürgernahen Verwaltung wird als kontinuierlicher Prozess, als eine Daueraufgabe begriffen. Dabei können unterschiedliche Ge staltungselemente genutzt werden, wie die Information und Partizipation der Bürger, die räumliche Verteilung des Leistungsangebotes, die zeitlichen Spielräume, die räumlich-baulichen Gegebenheiten, die Organisation der Verwaltungstätigkeit (Entscheidungsbefugnisse, Anerkennung von Publikumstätigkeit), der Personaleinsatz, die Kommunikationsstrukturen und die Leistungsgewährung (vgl. Kaufmann 1979, S. 535f.). Als Ergebnis der Bemühungen um mehr Bürgernähe stellt Grunow bereits Ende der achtziger Jahre fest, dass zwar im persönlichen Kontakt Barrieren abgebaut sind und das Verhalten des Verwaltungspersonals meist positiver als der Aufbau, die Arbeitsweise und die Leistungsfähigkeit der Behörde interpretiert wird (zu den neueren Bemühungen um Bürgernähe in Kombination mit dem Konzept des „aktivierenden Staates“ vgl. Kap. 5.2.5). Dennoch bleibt festzuhalten, dass es „am wenigsten an gut gemeinten Empfehlungen (fehlt d. V.), eher schon an praktisch erprobten Alternativen, besonders aber an praktischen Methoden der Verwirklichung der Empfehlungen unter Alltagsbedingungen. Mängel hinsichtlich der Bürgernähe sind dementsprechend als fehlende Innovations- und Wandlungsfähigkeit zu interpretieren“ (Grunow 1988, S. 166).
Mit der Idee des Bürgeramts, manchmal auch als Bürgerbüro bezeichnet, entwickelte sich im deutschen Kontext erstmals zwischen 1980 und 1984 in der Stadt Unna ein Modell für eine technisch unterstützte Integration von bürgerbezogenen Aufgabenbereichen (vgl. Liedtke/Tepper 1989). Nachdem es zunächst wenige Nachahmer gab, wurde die Idee zu Beginn der neunziger Jahre, nicht zuletzt im Sog der Reformbewegung des „Neuen Steuerungsmodells“ (NSM; vgl. Bogumil et al. 2007, S. 67 ff.), durch einen weiteren Modellversuch – diesmal mit dem „Bürgerladen Hagen“ (Kißler et al. 1994) – wiederbelebt und anschließend bundesweit beachtet. Verwaltungshistorisch haben sich die Bürgerämter aus den früheren klassischen 301
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Einwohnermeldeämtern entwickelt. Statt fragmentierter Leistungsangebote, die über mehrere Ämter verteilt sind und die in spezifischen Lebenslagen (z. B. Umzug) nacheinander aufzusuchen sind (etwa Einwohnermeldeamt, Sozialamt, Wohnungsamt, Versicherungsamt, Straßenverkehrsamt), bieten Bürgerämter zahlreiche Dienstleistungen für die Bürger an einer Stelle an. Dabei geht es meist um Passangelegenheiten, Meldeangelegenheiten, KFZ-Wesen, Urkunden, Führungszeugnisse, Beglaubigungen und Parkausweise (vgl. hierzu im Folgenden Bogumil u. a. 2019, S. 14ff.). Anhand des Modellversuchs „Bürgerladen Hagen“ konnte erstmalig nachgewiesen werden, dass kundenorientierte Angebotsstrukturen durch Bürgerämter nicht nur die Arbeitsqualität verbessern, sondern auch Produktivitätseffekte mit sich bringen (vgl. Kißler u. a. 1994, S. 173ff.), was angesichts der damaligen Diskussion um die Produktivität öffentlicher Dienstleistungen hilfreich war. Einen weiteren Umsetzungssprung erfuhren die Bürgerämter im Zuge der Diskussion um das „Neue Steuerungsmodell“ (Bogumil/Grohs u. a. 2007, Bogumil u. a. 2006). Die Einführung von Bürgeramtsstrukturen wird als ein wichtiger Fortschritt hin zu einer bürgerfreundlichen Verwaltung gesehen und die Einrichtung von vielen Oberbürgermeistern und Bürgermeister forciert (vgl. auch Lerche 2012). Seit Mitte der 2000er Jahre sind Bürgerämter in Kommunen der Regelfall, es gibt in nahezu allen Kommunalverwaltungen – zumindest ab 15.000 Einwohnern – derartige Bürgeramtsstrukturen. Eine 2010 durchgeführte Umfrage im Kommunen über 20.000 Einwohner in NRW brachte das Ergebnis, dass es in 91 % der Kommunen bereits Bürgerämter gab und in weiteren 4 % ihre Einrichtung geplant war (Bogumil/Ebinger 2012). Blickt man auf die Anfangszeit der klassischen Bürgeramtsidee zurück, so zeigen sich einige zentrale Gestaltungselemente (vgl. Kißler u. a. 1994, S. 159ff., Beyer u. a. 1992, S. 2ff.): • Aufgabenintegration aus der Sicht der Kunden: Die Anliegen der Bürger werden aus ihrem Lebenszusammenhang heraus definiert und nicht aus der spezialisierten Verwaltungsorganisation. Aufgabenintegration wird also aus einer verwaltungsexternen Sichtweise betrachtet, indem man das Angebot an die Kunden möglichst ganzheitlich gestaltet. Die Aufgabenintegration ist in Bürgerämtern zudem eng gekoppelt an die Allzuständigkeit der Beschäftigten. Wer in ein Bürgeramt kommt, kann bei jedem Mitarbeiter sämtliche Dienstleistungen abrufen. • Dezentralisierung der Kommunalverwaltung nach dem Motto: Die Verwaltung soll laufen und nicht die Bürger. Bürgerämter sollen die Kommunalverwaltung in die Stadtteile bringen. Während die Verwaltungsaufgaben zentralisiert werden, wird die Verwaltungsorganisation dezentralisiert. In allen Bürgerämtern
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kristallisiert sich ein kombiniertes Angebot zwischen einem meist im Rathaus ansässigen zentralen Bürgeramt mit einigen dezentralen Außenstellen heraus. Kurze Wartezeiten werden möglich, da bei der Auswahl des Leistungsangebotes darauf geachtet wird, dass die Leistungserstellung eine relativ geringe Bearbeitungszeit hat. Eine abschließende Bearbeitung von Sozialhilfe ist daher z. B. nicht möglich. Weitgehende Öffnungszeiten, zwischen 40 und 45 Stunden die Woche gegenüber ca. 21 Stunden in der sonstigen Verwaltung, sollen dafür sorgen, dass die Bürger jederzeit die Bürgerämter besuchen können. Für Berufstätige wird es möglich, in der Mittagspause oder noch nach Dienstschluss Behördengänge zu erledigen. Ein neues Raumkonzept soll dafür sorgen, dass sich die Bürger wohl fühlen und Zugangsängste zur Verwaltung abbauen. Neben freundlichen Wartezonen und Kinderspielecken ist insbesondere die Großraumsituation hervorzuheben, die dazu führt, dass die Bürger den Beschäftigten bei der Arbeit zuschauen können. Dadurch sind die Besucher von Bürgerämtern meist der Auffassung, dass dort schneller Anträge bearbeitet werden als in der übrigen Kommunalverwaltung, und dies auch bei Angelegenheiten, bei denen objektiv gleiche Bearbeitungszeiten festzustellen sind. Für die Beschäftigten bringt das Großraumbüro allerdings neue Belastungen durch die „Präsentiertellersituation“ mit sich. Bei der Wahrnehmung neuer Beratungsfunktionen wird in der Regel auf die Nutzung eines Informationssystems, in dem alle Zuständigkeiten, Öffnungszeiten und Voraussetzungen für Dienstleistungen, bezogen auf die jeweilige Stadtverwaltung, gespeichert sind, zurückgegriffen.84 Es entsteht eine neue Zusammenarbeit zwischen Backoffice und Frontoffice. Einfache Vorgänge, die keine weiteren Bearbeitungsschritte im Fachamt, dem sog. Backoffice (das Bürgeramt bildet das Frontoffice), erfordern (z. B. Wohnsitzmeldungen, Beglaubigungen, Meldebescheinigungen, Parkberechtigungen), werden abschließend im Bürgeramt bearbeitet. Bei Leistungen, die eine komplexere Bearbeitung erfordern, geben Bürgerämter Vordrucke aus, nehmen die entsprechenden Anträge entgegen und stellen Kontakt zu den zuständigen Ämtern her.
84 Dies kann als ein frühes kommunales Vorläuferprojekt für bessere Bürgerinformationssysteme angesehen werden. Zu denken ist hier zum einen an die Schaffung von kommunalen Servicecentern ab dem Jahr 2002 sowie an die die Einführung der bundesweit einheitliche Behördenrufnummer 115, die ab dem Jahr 2011 in den Regelbetrieb ging (vgl. Goldau 2013, S. 67). An der bundesweiten Behördennummer 115 beteiligen sich zum Stand 1.6.2019 über 500 Kommunen, zahlreiche Landesbehörden sowie die gesamte Bundesverwaltung mit über 88 Behörden und Institutionen (vgl. https://www.115.de/ DE/Startseite/startseite_node.html). 303
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Verändert wurde mit Bürgeramtsstrukturen vor allem die horizontale Arbeitsteilung (vgl. Beyer u. a. 1992, S. 2ff.), also die Aufgliederung von Tätigkeitsverläufen auf der gleichen Hierarchiestufe. Die neue Allzuständigkeit schuf in den Bürgerämtern mehr Abwechslung. Die Fachämter wurden von Publikumskontakten entlastet und können sich verstärkt fachamtsspezifischen Tätigkeiten zuwenden. Aber auch die vertikale Arbeitsteilung, also die Aufteilung in anordnende und ausführende Tätigkeiten, die auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen ausgeführt werden, wurde ein Stück zurückgedrängt. Assistenztätigkeiten, die zuvor von den Schreibdiensten oder der Registratur wahrgenommen wurden, wurden in die Sachbearbeitung reintegriert. Die veränderte Gestaltung der Arbeitsbedingungen in Bürgerämtern brachte für die Beschäftigten dort zwar nicht durchgängig weniger, sondern andere Belastungen mit sich, sie ermöglichte aber insgesamt einen völlig anderen Kundenkontakt. Bestimmte negative Aspekte, die in anderen Ämtern zwangsläufig mit dem Kundenkontakt verbunden waren, fielen hier weg. Es kam zur Entzerrung der Besucherströme, einem Abbau von Schwellenängsten und der Schaffung von Transparenz. Die neue Kommunikationssituation sorgte nachweisbar für eine größere Zufriedenheit der Kunden. Dies wirkte sich auch positiv auf die Beschäftigten und ihre Arbeitsmotivation aus. Insgesamt gelang es den Kommunalverwaltungen mit Bürgeramtskonzepten ihre Servicequalität zu verbessern. Bürgerämter sind das sichtbarste Zeichen einer kundenorientierten Verwaltungsentwicklung und tragen positiv zum Image der Verwaltung bei (vgl. auch Goldau 2013, S. 55). Heute existieren Bürgerämter in nahezu allen deutschen Städten mit über 15.000 Einwohnern. Dieses Modell eines One-Stop Shops ist inzwischen eine gängige Organisationsvariante lokaler Leistungserbringung85 und hat sich – auch unabhängig vom deutschen Beispiel – international verbreitet. Allerdings mehren sich in Deutschland die Zweifel, ob Bürgerämter noch als ein Erfolgsmodell der Verwaltungsmodernisierung betrachtet werden können. So sind Bürgerämter allerdings in den letzten Jahren durch mediale Berichterstattungen über mangelhafte Leistungserbringung, zu lange Wartezeiten, Schließungen von Außenstellen, durch Klagen von Seiten der Mitarbeiterschaft über sich verschlechternde Arbeitsbedingungen infolge von Überstunden, hoher Fluktuation, hohen Krankenständen und Fehlzeiten, durch den wachsenden Erfüllungsaufwand durch komplexere gesetzliche Vorgaben (z. B. beim elektronischen Personalausweis) und durch die Diskussion um eine stärkere Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen immer wieder unter Druck geraten. 85 Dies gilt auch für andere Fachbereiche. Zu nennen sind Wohnungsnotfachstellen, Lotsen im Bereich der Wirtschaftsförderung, neue Beratungsstrukturen bei Bauanträgen oder neu geschaffene Verwaltungseinheiten für Migration und Integration.
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Eine aktuelle umfassende Analyse der aktuellen organisatorischen, personellen und technischen Situation in den deutschen Bürgerämtern zeigt, dass sich die institutionellen und personellen Rahmenbedingungen der Bürgerämter in den letzten Jahren teilweise erheblich verändert haben (vgl. für die folgenden Abschnitte Bogumil/ Kuhlmann u. a. 2019, S. 97ff.). So führt ein wachsender Erfüllungsaufwand aufgrund von geänderten Bundesgesetzen, z. B. bei der Erstellung des Personalausweises und bei Meldeangelegenheiten, dazu, dass die einzelnen Verwaltungsprozesse deutlich länger dauern. Da in vielen Bürgerämtern der Personaleinsatz nicht erhöht oder gar verringert wurde, ist es zu einer zunehmenden Arbeitsverdichtung für die einzelnen Mitarbeiter und/oder rückläufiger Servicequalität (z. B. längere Verfahrensdauer, Wartezeiten) gekommen. Dies wiederum führt zu einer teilweise erheblichen Fluktuation von Mitarbeitern. Um weiterhin (oder wieder) kurze Wartezeiten zu realisieren, wird jedoch in zunehmendem Maße auf das neue Element von Terminsprechstunden, die online gebucht werden können, zurückgegriffen und zum Teil auch der Personaleinsatz erhöht. In einigen Bürgerämtern ist mittlerweile die Großraumsituation zunehmend umstritten, die dazu führen sollte, dass die Bürger den Beschäftigten bei der Arbeit zuschauen können. Insbesondere, wenn es gelingt, durch die (zeitnahe) Vergabe von Terminsprechstunden die Bürgeranliegen ohne große Wartezeiten zu bearbeiten, ist dieser positive Effekte der Großraumsituation überflüssig. Zudem wird die Großraumsituation von den Beschäftigten, u. a. wegen des hohen Geräuschpegels, stärker als früher problematisiert. Weiterhin sind die Bürgerämter im Bereich digitaler Verwaltungsprozesse nicht die Vorreiter der Modernisierungsbewegung. Zwar ist es in den letzten Jahren gelungen, die Informationsfunktion von E-Government, also das Bereitstellen von Informationen zu Verwaltungsleistungen auf elektronischem Wege, als ersten Reifegrad der Digitalisierung, zu verbessern. Insbesondere bei der Suche nach der zuständigen Stelle werden die Online-Auftritte der Kommunen oder Suchmaschinen mittlerweile von den Bürgern als Hauptinformationsquelle genutzt. Damit ist der Anteil derjenigen Bürger, die Schwierigkeiten haben, die richtige Stelle in der Kommunalverwaltung zu identifizieren relativ gering (ca. 8 %). Im Hinblick auf den zweiten Reifegrad, d. h. die Kommunikation zwischen Verwaltung und Bürger, und insbesondere im dritten Reifegrad, der medienbruchfreien Transaktion, bestehen jedoch erhebliche Lücken und Defizite. Es gibt beispielsweise keine einzige Verwaltungsleistung, die deutschlandweit in allen Bürgerämtern als medienbruchfrei online abschließbar einzustufen wäre. Betrachtet man die Performanz der Bürgerämter, so ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits besteht nach wie vor eine hohe Zufriedenheit mit den Leistungen der Bürgerämter sowohl aus der Sicht der Bürger, des Verwaltungschefs oder der Mitarbeiter selbst. Zudem haben Organisationsveränderungen (z. B. Termin305
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sprechstunden) Leistungsverbesserungen mit sich gebracht. Andererseits haben Personalreduzierungen teilweise zu Leistungseinbußen geführt und halten sich auch die positiven Effekte der Digitalisierung bislang in Grenzen bzw. ist es in Teilbereichen zu Leistungsverschlechterungen (z. B. zunehmendem Zeitaufwand der Fallbearbeitung) gekommen. Für die zukünftige Gestaltung von Bürgerämtern empfehlen die Autoren der Studie vor allem eine angemessene Personalausstattung, verantwortungsvolle Führungsstrukturen und engagierte Mitarbeiter. In Fällen der Unterbesetzung sind Personalaufwüchse geboten, die angesichts der verbesserten kommunalen Finanzsituation auch machbar scheinen. Denn gemessen an den Personalbeständen in Kommunalverwaltungen ist der Anteil der Mitarbeiter in publikumsintensiven Bereichen relativ gering (vgl. ebd.). Eine weitere Baustelle besteht im Bereich der Digitalisierung von Bürgeramtsleistungen. Wo, wenn nicht im Bürgeramt, wäre ein Ausbau digitaler Angebote gerechtfertigt und notwendig? Der hier dargestellte Digitalisierungsstand hinkt jedoch den Erwartungen der Bürger deutlich hinterher (vgl. hierzu Kap. 5.2.8).
5.2.4 New Public Management und Neues Steuerungsmodell 5.2.4.1 Ziele und Instrumente Seit Anfang der neunziger Jahre steht die betriebswirtschaftlich inspirierte Binnenmodernisierung der Verwaltung und die Neuausrichtung der Staatsaufgaben nach dem Konzept des „New Public Management“ (NPM) auch in Deutschland auf der Tagesordnung.86 Begreift man Management allgemein als die Steuerung komplexer Organisationen, so kümmert sich Public Management um die Spezifizierung der Steuerungsprobleme von öffentlichen Organisationen. NPM zielt auf die Analyse und Gestaltung von Managementprozessen einzelner Verwaltungseinheiten ab (Budäus 1989, S. 231, 1994, S. 45f., vgl. zum Folgenden Jann 2019). Die deutsche Version des NPM ist unter dem Begriff „Neues Steuerungsmodell“ (NSM) bekannt geworden. Es wurde als Reformmodell für die kommunale Verwaltung zwischen 1988 und 1991 von einer Arbeitsgruppe der KGSt (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfach, später umbenannt in Verwal-
86 Gründe für die in Deutschland vergleichsweise relativ späte Rezeption liegen im Fehlen eines akuten Problem- und Handlungsdrucks in den achtziger Jahren, dem relativ günstigen Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich und in der Existenz einiger institutioneller Regelungen (das föderative System, die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung sowie die Dekonzentration der staatlichen Verwaltungsfunktionen), die lange Zeit einen Modernitätsvorsprung sicherten (vgl. Wollmann 1996a, S. 19).
5.2 Verwaltungsreformen
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tungsmanagement) entwickelt und dann seit 1991 in einer Vielzahl von Berichten in der (kommunalen) Öffentlichkeit propagiert. Ausgangspunkt der Diskussion über ein NSM war Ende der achtziger Jahre eine zunehmende Unzufriedenheit mit den überkommenen Funktionsweisen und Leistungen der deutschen Kommunalverwaltungen bei Bürgern, Politikern und – vor allem – Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung, insbesondere ihrer Führungskräfte, die von Banner (1998) unter dem polemischen Schlagwort der „organisierten Unverantwortlichkeit“ zusammengefasst wurde. Die Entwicklung des NSM ist daher auch als „Revolution der Verwaltungschefs“ bezeichnet worden, sie ist im Wesentlichen ein Produkt von Verwaltungspraktikern. Stadtdirektoren, Kämmerer und Hauptamtsleiter waren die wesentlichen Promotoren, erst danach wurde das Konzept von der Beraterszene entdeckt und enthusiastisch aufgenommen, und noch später von der Verwaltungswissenschaft kritisch evaluiert und reflektiert. Die Bewältigung der Probleme des modernen Sozialstaates, und insbesondere der Kommunen, wurde dabei ausdrücklich nicht in einer Reduzierung sozialstaatlicher Aktivitäten und Leistungen gesehen, wie in den seit den achtziger Jahren – insbesondere in den angelsächsischen Ländern – populären neo-liberalen Konzepten zur Reduzierung der Staatstätigkeit, sondern in verbesserten internen Steuerungsmechanismen des öffentlichen Sektors, in einer Modernisierung der Binnenstrukturen der öffentlichen Verwaltung. Das NSM wurde daher in Deutschland von Beginn an von gewerkschaftlicher Seite und von den Sozialdemokraten und den Grünen nahestehenden Autoren unterstützt, siehe die Reihe „Modernisierung des Staates“ im Verlag edition-sigma, die ursprünglich sowohl von der SPD wie der ÖTV finanziert wurde. Die Ursache der Probleme des öffentlichen Sektors, so die Diagnose, bestehe vorrangig in einer Reihe von „Steuerungslücken“ (KGSt 1993), z. B. in der Form einer • Effizienzlücke: fehlende Anreize zur ständigen, effizienten Mittelverwendung, • Strategielücke: fehlende Orientierung an klaren, mittelfristigen Entwicklungszielen und Prioritäten, • Managementlücke: fehlender Zwang und fehlende Instrumente zur Leistungsverbesserung, zur Strukturanpassung, zu Ressourcenumschichtungen, zur Anpassung an Nachfrageänderungen, • Attraktivitätslücke: sinkende Attraktivität des öffentlichen Sektors für engagierte Mitarbeiter, unzureichende Nutzung der vorhandenen Bereitschaft zu Engagement und Kreativität, • Legitimitätslücke: Unfähigkeit nachzuweisen, dass Verwaltungsleistungen durchaus ihr Geld wert sind, fehlende kontinuierliche Rechenschaftslegung über Effizienz, Zielgenauigkeit und Qualität öffentlicher Leistungen und daher schwindende Akzeptanz in der Öffentlichkeit. 307
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Im Kern richtete sich die Kritik gegen ein bestimmtes Bild der klassischen bürokratischen Verwaltung, die in Verbindung mit in den Zeiten unproblematischen Haushaltswachstums angenommenen Gewohnheiten zu „Verkrustungen“ und gravierenden Mängeln in der internen Steuerung der Verwaltung, aber auch der kommunalen Beteiligungen geführt habe. Dem negativ besetzten – und schon beinahe karikierten – Leitbild der bürokratischen und zentralistischen Steuerung wurde daher das neue Leitbild einer ergebnisorientierten und dezentralen Steuerung entgegengesetzt. So gesehen waren die einzelnen Elemente des neuen Leitbilds zunächst nichts anderes als bloße – ideale – Gegenentwürfe zu den eklatanten oder behaupteten Mängeln der überkommenen Steuerungspraxis (siehe Abb. 58). bürokratisch-zentralistische Steuerung
ergebnisorientierte und dezentrale Steuerung („Neues Steuerungsmodell“) Ziel- und ergebnisorientierte Steuerung (Produktsteuerung) Steuerung auf Abstand, Steuerung über Ziele Aabgestufte Ergebnisverantwortung (Einheit von Fach- und Ressourcen verantwortung) Gesamtprozess-Optimierung
Steuerung über Inputs (Regeln und Ressourcen) Ständige Eingriffe ins Tagesgeschäft, Übersteuerung im Detail Organisierte Unverantwortlichkeit (Trennung von Fach- und Ressourcen verantwortung) Übertriebene Arbeitsteilung und Spezialisierung Orientierung an den internen Erfordernis- Bürger- und Kundenorientierung sen des Verwaltungsablaufs Orientierung an Recht- und Ordnungs Umfassende Qualitätsorientierung mäßigkeit Juristische Personalverwaltung Personalmanagement (Leistungsanreize, Führung, Personal entwicklung) Kameralistische Haushaltsführung Transparenz von Kosten und Leistungen (Doppik, Kosten- und Leistungsrechnung) Konzentration auf Kernkompetenzen Präferenz für Eigenerstellung (Gewährleistungsverwaltung, Leistungs(übertriebene vertikale und horizontale tiefenpolitik) Integration) Abschottung vom Marktdruck, Marktorientierung und Wettbewerb natürliche und künstliche Monopole Abb. 58 Bürokratisch-zentralistische vs. ergebnisorientierte-dezentrale Steuerung Quelle: Jann 2019, S. 130
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Das NSM entspricht in weiten Teilen dem internationalen Trend des New Public Management (NPM) und kann guten Gewissens als dessen deutsche Version bezeichnet werden. Allerdings bezog man sich in Deutschland in den ersten Jahren kaum auf diese internationale Diskussion. Das Vorbild stammte stattdessen aus den Niederlanden, das sog. Tilburger-Modell, an dem insbesondere die Elemente Kontraktmanagement, dezentrale Ressourcenverantwortung und Kostenrechnung erläutert wurden. Während Tilburg und seine Verwaltung in den Niederlanden kaum Aufmerksamkeit auf sich zogen, erlangte es in Deutschland zeitweise Kultstatus. Inhaltlich kann das Public-Managementkonzept als eine Verbindung von Public-Choice-Theorien, vor allem mit den Theoriesträngen des Property-Rights- und der Principal-Agent-Ansatzes, und privatwirtschaftlichen Managementkonzepten verstanden werden (grundlegend Hood 1991, Lane 2000, Schedler/Proeller 2011, Naschold/Bogumil 2000). In der Kritik stehen Struktur und Größe des Staatssektors. Der spezifische Charme des NPM entsteht durch die Verbindung der alten Frage nach den Aufgaben des Staates mit neuartigen Anforderungen und Problemlagen für staatliches Handeln in einem stark veränderten internationalen Kontext. Beabsichtigt ist eine Neuorganisation der Aufgabenerledigung durch staatliche und kommunale Institutionen und eine Neubewertung der Staatsaufgaben87 (vgl. hierzu Naschold/Bogumil 2000): • Zum einen geht es um die Art und Weise der administrativ-organisatorischen Umsetzung von Staatsaufgaben und hier insbesondere um die Einführung einer marktgesteuerten, kundenorientierten öffentlichen Dienstleistungsproduktion, die unter dem Stichwort Binnenmodernisierung diskutiert wird. Die dominierende Frage ist dabei: Wie kann die Effizienz im öffentlichen Sektor gesteigert werden? • Zum anderen steht die Reichweite staatlicher Politik, eine Neubestimmung öffentlicher Aufgaben und dabei insbesondere die Bestimmung der optimalen Leistungstiefe88 im Blickpunkt des Interesses. Hier wird danach gefragt, ob und in welchen Formen staatliches Handeln stattfinden soll. 87 Mit dem Begriff der Staatsaufgaben werden die von einem Staat konkret übernommenen Zuständigkeiten beschrieben, also die konkreten Tätigkeitsfelder. Dies ist etwas anderes als die Staatsfunktionen, auf die sich diese Aufgaben in der Regel beziehen. Um ein Beispiel zu geben: Um ein Staatsgebiet nach außen hin zu schützen (Staatsfunktion), können verschiedene Aufgaben wahrgenommen werden: z. B. militärische Verteidigung, Aufbau friedlicher Beziehungen mit anderen durch Außenpolitik oder verschiedenste Formen von Grenzkontrollen (vgl. Benz 2008, S. 183). 88 Unter dem Begriff „Leistungstiefe“ im öffentlichen Sektor wird analog zur „Fertigungstiefe“ von Industrieunternehmen diskutiert, in welchem Umfang und in welcher Qualität 309
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Zur Disposition stehen damit das Aufgabenspektrum und die Aufgabenerledigung staatlicher Institutionen. Auch wenn diese beiden Aspekte im Konzept des Public Managements enthalten sind, konzentriert sich die Diskussion in Deutschland zu Beginn der neunziger Jahre zunächst auf die Binnenmodernisierung in den Gebietskörperschaften. Die Frage der Neubestimmung öffentlicher Aufgaben wird – mit Ausnahme einiger Privatisierungsmaßnahmen auf Bundesebene – erst gegen Ende der neunziger Jahre verstärkt Gegenstand der wissenschaftlichen und praktischen Diskussionen (vgl. 5.2.4.3). Zentrales Credo des NPM war, dass die klassische bürokratische Steuerung der Verwaltung zunehmend dysfunktionale Folgen zeige und dass sich Konzepte modernen betriebswirtschaftlichen Managements mit Erfolg auf die öffentliche Verwaltung übertragen lassen. Dabei handelte es sich eindeutig um eine politische, eben eine verwaltungspolitische Bewegung, deren Protagonisten zwar zunächst i. d. R. nicht gewählte Politiker, sondern Verwaltungsführungskräfte waren, die aber relativ schnell von klassischen „Politikern“ (Bürgermeistern, Ministern, Abgeordneten) aufgegriffen und unterstützt wurde. Als zentrales Problem der modernen öffentlichen Verwaltung wurde weiter, wie seit Mitte der achtziger Jahre, Staats- oder noch genauer Bürokratieversagen identifiziert, zusammengefasst in den oben bereits genannten von der KGSt aufgelisteten „Steuerungslücken“ (Effizienz-, Strategie-, Management-, Attraktivitäts- und Legitimitätslücke). Dieses Leitbild war in Deutschland nie unumstritten, und es war auch nicht in dem Sinne dominant, dass es als alleiniges Leitbild die Verwaltungspolitik und vor allem deren Umsetzung ausschließlich bestimmt hätte – im Gegenteil, inwieweit die neue Orientierung zu permanenten Veränderungen geführt hat, ist durchaus kontrovers. Dominant war das Leitbild aber dennoch in dem Sinne, dass es die Debatte über Verwaltungsreform und -modernisierung definiert hat, sowohl bei Anhängern wie auch bei Gegnern (vgl. König/Füchtner 2000).89
öffentliche Leistungen selbst erstellt werden sollten. Je geringer die Leistungstiefe, umso mehr müssen bei gegebenem Leistungsumfang Teilleistungen von dritter Seite zugekauft werden. Das Spektrum der Leistungstiefe reicht von 100 %, einer vollständigen Eigenerstellung durch öffentliche Einrichtungen, bis zu 0 %, einem vollständigen Verzicht auf öffentliche Eigenleistungen (vgl. Naschold/Bogumil 2000). 89 Es gab praktisch keine Modernisierungsstrategie, sei es im Bereich des Personals (leis tungsgerechte Bezahlung, Personalentwicklung und Mitarbeiterführung, Spitzenpositionen auf Zeit, Qualifizierung), der Organisation (flachere Hierarchie, Projektorganisation, Bürgerämter), der Verfahren (Kennzahlen, Berichtspflichten, Kundenorientierung, Leistungsvergleiche) oder der Finanzen (Budgetierung, Kostenrechnung, Globalhaushalt), die nicht unter dieser Überschrift zusammengefasst wurde – einerlei, ob es sich um neuartige oder im Prinzip altbekannte Reformvorschläge handelt.
5.2 Verwaltungsreformen
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Intendiert wird mit dem NPM die Stimulierung neuer Wirkungsmechanismen im öffentlichen Sektor mit dem Ziel der Verbesserung der Qualität, der Effizienz und der Effektivität der Dienstleistungsproduktion. In der deutschen Diskussion variieren zwar die Anzahl und die Auswahl der Elemente, die dem NPM zugeordnet werden, zwischen den Autoren (vgl. z. B. Budäus 1994; Damkowski/Precht 1995). Implizit greifen aber alle Konzepte eines NPM auf ein Verständnis von Organisationsveränderung zurück, welches davon ausgeht, dass an verschiedenen Führungsfunktionen (Strukturen, Verfahren, Personal- und Außenverhältnis) gleichzeitig angesetzt werden muss, da starke Interdependenzen zwischen ihnen bestehen (vgl. hierzu und im Folgenden Kißler u. a. 1997, S. 23ff.). Ansatzpunkt Organisations strukturen Verfahren
Personal
Außenverhältnis
Maßnahmen Dezentralisierungs-, Entflechtungs- und Verselbstständigungsstrategien Ergebnisorientierung durch Kosten-/Leistungsrechnung, Controlling, outputorientiertes Rechnungswesen und Wirkungsanalysen Kontraktmanagement: Trennung von Politik und Verwaltung durch klare Verantwortungsabgrenzung Organisationsentwicklung durch die Einrichtung von Partizipations-, Kooperations- und Gruppenelementen und den Einbezug externer Beratung Personalentwicklung durch Personalbeurteilung, Fort- und Weiterbildungsplanung, Karriere- und Verwendungsplanung und die Herausbildung einer Corporate Identity (CI) Ausbau der Kundenorientierung durch Total Quality Management (TQM) und Management by Competition (MbC)
Abb. 59 Gestaltungselemente des New Public Management Quelle: Eigene Darstellung
Konsens besteht darin, dass die Grundvoraussetzung für eine systematische Steuerung der Ressourcen die Schaffung organisatorisch abgrenzbarer Einheiten im Sinne von Verantwortungszentren ist (Dezentrale Ressourcenverantwortung). Dezentralisierungs-, Entflechtungs- und Verselbständigungsstrategien kommt daher besondere Bedeutung zu. Ergebnisorientierte Verfahren (Kosten- und Leistungsrechnung, Controlling 90, outputorientiertes Rechnungswesen, Wirkungsanalysen) sind erst 90 Controlling ist zunächst ein Sammel- und Modebegriff für eine Vielzahl von auf Führungs- und Sachfunktionen bezogenen Verfahren. Hier wird Controlling als ein System 311
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dann sinnvoll anwendbar, wenn Organisationseinheiten institutionalisiert sind, denen Kosten und Leistungen zugeordnet werden können. Vorteile dezentraler Strukturen im Sinne von Verantwortungszentren liegen somit im Abbau von Komplexität, in der Schaffung von Transparenz, in der Zurechenbarkeit von Kosten und Leistungen, in der Möglichkeit globaler Budgetierung, in der Herstellung einer Einheit von Entscheidung und Verantwortung und in der Möglichkeit der Institutionalisierung von wettbewerbsadäquaten Mechanismen. Allerdings bedarf es der Entwicklung von Verfahren zur Integration und Ko ordination der dezentralisierten Verantwortungszentren in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang sowie des Einverständnisses der Politik, sich nicht mehr in die operative Steuerung einzumischen, sondern sich auf die Vorgabe von strategischen Größen und Rahmendaten zu beschränken. Die Verlagerung operativer Entscheidungen in verselbstständigte Verantwortungszentren muss konsequent eingehalten werden. Die strikte Trennung von Politik (policy making) und öffentlicher Dienstleistung (service delivery) steht somit in einem engen Zusammenhang mit der Bildung von Verantwortungs- und Ergebniszentren (vgl. Budäus 1994, S. 57; Damkowski/Precht 1995, S. 272). Gedacht ist an eine klare Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik und Verwaltung. Dazu ist jedoch ein Wandel im Politikverständnis nötig. Politik soll die Ziele und Rahmenbedingungen setzen, die Erfüllung der Leistungsaufträge kontrollieren und somit in die Rolle eines Auftrag- und Kapitalgebers hineinwachsen. Die Verwaltung ist dagegen für die Erfüllung der Leistungsaufträge und einen Bericht über Auftragsvollzug und Abweichungen zuständig. In diesem Zusammenhang kommt Konzepten eines Management by Objektives (MbO) bzw. eines Kontraktmanagements eine zentrale Bedeutung zu. Diese Konzepte sind gekennzeichnet durch den Abschluss einer Zielvereinbarung oder eines Kontraktes, in dem für eine bestimmte Periode definiert wird, wer welche Ziele in nachprüfbarer Weise umsetzt. Der Begriff des Kontraktmanagements wird dabei sowohl für die neue Beziehung zwischen Politik und Verwaltung als auch für das Verhältnis zwischen Kernverwaltung und ausgegliederten Einheiten (interorganider Führungsassistenz angesehen, welches der Zielentwicklung, Entscheidungsfindung und Entscheidungskontrolle des Managements durch Informationsversorgung, -bearbeitung und -auswertung dient (in Anlehnung an Damkowski/Precht 1994, S. 412). Controlling versucht, die Führungsfunktionen „Planung“ „Organisation“ „Personal“ und „Kontrolle“ funktional miteinander zu verknüpfen (Budäus 1994, S. 65). Geht es um die Gesamtsteuerung einer Organisation im Bereich der Ziel- und Aufgabenentwicklung und Erfolgskontrolle, spricht man von strategischem Controlling. Geht es dagegen um den Aufbau eines effizienten Rechnungswesens und um die Binnensteuerung einzelner Organisationseinheiten, spricht man von operativem Controlling.
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satorisch) sowie für die Beziehungen innerhalb einer verselbstständigten Einheit (intra-organisatorisch) verwandt. Politik und Verwaltung treffen eine Vereinbarung über die von den Fachbereichen zu erzeugenden Leistungen und Produkte sowie über die dafür vorgesehenen Budgets. Zentrale Maßnahmen zur Optimierung der Führungsfunktion „Personal“ sind die Organisations- und Personalentwicklung (OE bzw. PE). Als Innovations- bzw. Motivationsstrategien kommt ihnen eine wichtige Bedeutung zu. In einer zunehmend komplexen und dynamischen Welt, die mit Schlagworten wie Interdependenz, Unübersichtlichkeit und Vorhersageunsicherheit beschrieben wird, ist eine direkte Steuerung über allumfassende Regeln, von oben nach unten und zeitlich in Plänen festgelegt, nicht mehr zufriedenstellend (vgl. Reinermann 1992, S. 136). Auch die Verwaltung muss Steuerung dezentralisieren und jeweils Menschen mit ihren Fähigkeiten der Flex ibilität und Sensibilität, der Fantasie und Kreativität überlassen. Vertragsgrundlagen zwischen Institutionen und ihren Angehörigen sollten von Gehorsam und Treue auf Einfluss und Engagement umgestellt werden. Dazu ist es nötig, die Beschäft igten in der öffentlichen Verwaltung stärker einzubeziehen und zu beteiligen (Kißler u. a. 1994, S. 159f.). Bei OE- und PE-Maßnahmen handelt es sich zwar um aufwändige, aber dafür längerfristig wirksame Änderungsansätze. OE ist ein längerfristiger, rückgekoppelter Prozess, der auf ein Lernen der Organisationsmitglieder und der Organisation durch die Änderung von Verhaltens- und Kommunikationsformen zielt. OE ist durch die Einführung von Partizipations-, Kooperations- und Gruppenelementen und durch die Einbeziehung der Qualifikation der Beschäftigten mit Hilfe von Fort- und Weiterbildungsbemühungen gekennzeichnet. PE-Maßnahmen sollen in enger Verzahnung mit Formen der OE die Partizipations- und Selbstorganisationschancen der Beschäftigten erhöhen, mit dem Ziel einer Sensibilisierung für notwendige Organisationsinnovationen, einer Einbeziehung ihrer Qualifikationsentwicklung in organisatorische Innovationsprozesse und letztlich eines verbesserten Outputs an personaler Leistung. Dazu dienen kooperative Führungsstrukturen, Verfahren direkter Arbeitnehmerbeteiligung sowie ein Set von Anreiz- und Motivationssystemen wie die Personalbeurteilung, die Fort- und Weiterbildungsplanung sowie die Karriere- und Verwendungsplanung. Auch Unternehmenskulturansätze (Corporate Identity, CI) können als PE-Maßnahmen angesehen werden.91 91 Die Herausbildung einer CI ist ein strategisch geplanter Prozess, mit dem das Erscheinungsbild sowie die Verhaltens- und Wirkungsweisen der Organisation nach innen und außen durch ein einheitliches Konzept koordiniert wird. CI hat aber immer eine Doppelfunktion: Einerseits soll nach innen die Mitarbeitermotiviation und -identifikation 313
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Neben den binnenorientierten Veränderungsstrategien im Bereich der Organisationsstrukturen, Verfahren und Personen erscheinen aus der Sicht des NPM ergänzende Maßnahmen zur Steigerung der Produktqualität und Kundenorientierung nötig. Dabei wird im Wesentlichen auf zwei konzeptionelle Ansätze zurückgegriffen: Das Total Quality Management (TQM) und das Management by Competition (MbC). Total Quality Management gilt als Konzept zur systematischen Erreichung eines höchstmöglichen Qualitätsgrades betrieblicher Produkte und Leistungen. Es wurde Anfang der achtziger Jahre in den USA aus Japan mit großem Erfolg reimportiert. Wesentliche Prinzipien sind die Ausrichtung an den Bedürfnissen der Kunden, die permanente Verbesserung von Produkt-, Serviceund Informationsqualitäten und die Optimierung der Arbeitsabläufe. Ansätze einer Konkurrenzbürokratie (Management by Competition, MbC) sollen die traditionelle Bürokratie entflechten und marktwirtschaftliche Mechanismen fördern. Erhofft wird sich eine Steigerung von Produktivität und Kundenorientierung durch die Installierung interner und externer Wettbewerbsstrukturen und die Vornahme von Leistungsvergleichen. Unterschieden werden Wettbewerbsstrukturen zwischen privaten Unternehmen und Organisationen des öffentlichen Sektors (intersektoriell), zwischen den Organisationen des öffentlichen Sektors (interorganisationell) sowie zwischen den Organisationseinheiten im öffentlichen Sektor (intra-organisationell).
5.2.4.2 Erfolge und Problemlagen Eine erste Zwischenbilanz zum „Status“ des NPM-Modells auf allen Gebietskörperschaftsebenen nach zehn Jahren (vgl. hierzu Jann/Bogumil u. a. 2004) zeigte, dass sich die wenigen vorliegenden empirischen Studien92 vordringlich mit institutionellen Veränderungen beschäftigten und untersuchten, ob und wie Organisations-, Personal- und Finanzstrukturen in Bewegung geraten und welche Instrumente des NPM in der Alltagspraxis der Verwaltung auffindbar sind. Untersucht wird auch, was eigentlich die Auslöser und Treiber dieser Veränderungen sind, institutionelle Veränderungen also als abhängige Variable. Inwieweit sie aber tatsächlich zu Vergestärkt und andererseits nach außen eine kundenorientierte Marktstrategie entwickelt werden. 92 Als empirische Feldstudien über die Betrachtung von Verlauf und Stand der Reform sind zu nennen: Kißler u. a. 1997, Engelniederhammer u. a. 1999, Wegrich u. a. 1997, Maaß/ Reichard 1998. Als empirische Studien, die sich ausdrücklich um eine erste Analyse der Wirkungen der Reformprojekte bemühen, sind zu nennen: Jaedicke u. a. 2000, Osner 2001, Bogumil/Grohs u. a. 2007. Eine international vergleichende Analyseperspektive wird eingenommen in den Arbeiten von Naschold 1995, Naschold u. a. 1998, Naschold u. a. 1999, Pollitt/Bouckaert 2017.
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haltens- und Performanzveränderungen geführt haben, d. h. ihre Betrachtung als unabhängige oder intervenierende Variablen, ist eher selten gefragt worden (hierzu aber weiter unten Bogumil/Grohs u. a. 2007). Noch seltener sind Untersuchungen, die sich mit den möglichen Aus- und Fernwirkungen von Verwaltungsreformen beschäftigen. Die Zurückhaltung der Verwaltungsforschung ist verständlich, denn Performanz und Wirkungen hängen von sehr vielen intervenierenden Variablen ab, und es ist daher beinahe unmöglich, den Einfluss institutioneller Veränderungen eindeutig zu isolieren. Wie steht es seither mit der Umsetzung der einzelnen Elemente des „Neuen Steuerungsmodells“ und des NPM in Deutschland aus? Es zeigt sich, dass die managerialistische Bewegung auch in Deutschland erhebliche Bedeutung hatte. Auf allen Ebenen können Einfluss und Einsatz neuer Instrumente nachgewiesen werden. Extern gab es Privatisierungen und Ausschreibungen, intern wurde mit Instrumenten wie Budgetierung, Produkthaushalten, Kosten- und Leistungsrechnung, Controlling usw. experimentiert. Gleichzeitig wurde offenkundig, dass die Veränderungsintensität von unten nach oben abnimmt. Auf der Ebene der Kommunen ist am meisten passiert und sind Strukturen am ehesten im Wandel. Länder und Bund sind, nicht zuletzt aufgrund ihrer Aufgabenschwerpunkte und der unterschiedlichen Relevanz von Reformtreibern, zurückhaltender mit Refomen. Betrachtet man die kommunale Ebene, so ist jetzt 25 Jahre her, dass in Deutschland die ersten Kommunen mit viel Euphorie begannen das Neue Steuerungsmodell umzusetzen. Gut zehn Jahre später (2005) lagt die erste umfassende Evaluation des NSM in Deutschland vor (vgl. Bogumil/Grohs u. a. 2007). Seit dieser Zeit ist es um das NSM eher ruhiger geworden, eine weitere umfassende Evaluation unterblieb. Dafür fand in fast allen Bundesländern seit dem Jahr 2003 ein gesetzlich erzwungener Umstellungsprozess von der Kameralistik zum Neuen Kommunalen Finanzmanagement (NKF), der sogenannten Doppik, statt. Die Grundidee, über betriebswirtschaftliche Informationssysteme die politische und finanzielle Steuerung in Kommunen zu verbessern, entspricht dabei der Grundidee des NSM. Auch werden über das NKF wesentlichen Elemente des NSM wie Produkthaushalte, Kosten- und Leistungsrechnung und Controllingsysteme z. T. (zwangsweise) implementiert. Im Folgenden soll ein zusammenfassendes Resümee zur Umsetzung des Neuen Steuerungsmodells bzw. ähnlicher Elemente durch das NKF gezogen werden. Wesentliche Ergebnisse der erwähnten Evaluationsstudie zum NSM waren (Bogumil/Grohs u. a. 2007): • Zweifelsohne haben die deutschen Kommunen seit Beginn der 1990er-Jahre die Modernisierung ihrer Verwaltungen beachtlich vorangetrieben. Es gab in den deutschen Kommunen eine breite Verwaltungsmodernisierungsbewegung. 315
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Den Reformpromotoren ist es gelungen, die intensive Beschäftigung mit einer im Kern betriebswirtschaftlich ausgerichteten Binnenmodernisierung in den deutschen Kommunen durchzusetzen. Zahlreiche Maßnahmen wurden in die Wege geleitet, manches war erfolgreich, aber es gibt auch viele Problemlagen, insbesondere im Bereich der Beschäftigtenmotivation. Eine wirklich neue Steuerung, also ein umfassender „Paradigmenwechsel“ der deutschen Verwaltung vom weberianischen Bürokratiemodell zum New Public Management ist nicht festzustellen. • Der Modernisierungsstand und die Modernisierungsergebnisse in den deutschen Kommunen sind durchaus unterschiedlich. Zwar wurde bewusst darauf verzichtet ein Modernisierungsranking vorzulegen, allerdings gibt es einige wichtige Erklärungsfaktoren für die Unterschiede. Exogene Erklärungsfaktoren sind die Größe der Verwaltungen (am modernisierungsaktivsten sind mittlerweile die Großstadtverwaltungen) und der Ost-West-Faktor (anhaltender Modernisierungsrückstand ostdeutscher Kommunen durch die spezifische Situation der ostdeutschen Kommunen nach der Wiedervereinigung). Der Druck durch Haushaltskonsolidierung war zwar häufig Auslöser der Reformen, doch auch Kommunen mit vergleichsweise guter Haushaltslage zeigen gute Modernisierungsergebnisse, vor allem in den Bereichen Personalmanagement und Kundenorientierung, während sich Kommunen mit schwieriger Haushaltslage überwiegend auf betriebswirtschaftlich orientierte Reformelemente konzentrieren. Von den endogenen Erklärungsfaktoren erweisen sich insbesondere die Einrichtung eines Modernisierungsmanagements als „Parallel-Organisation“ und eine ausgeprägte Mitarbeiterbeteiligung als erfolgssteigernd. Zudem kommt der Verwaltungsführung (Profil, Rollenverständnis und Durchsetzungsfähigkeit) eine zentrale Rolle für den Modernisierungsprozess zu, im Guten wie im Schlechten. Bürgermeisterwechsel in den Jahren nach 1999 führten häufig zu einem Rückbau der Modernisierungsmaßnahmen, was Ausdruck einer zunehmenden NSM-Skepsis bei neu ins Amt tretenden Verwaltungschefs sein dürfte. • Ist es nun durch das NSM zu Einsparungen und Effizienzgewinne, zu einer Verbesserung von Servicequalität, Verfahrensdauer, Kundenfreundlichkeit und insgesamt zu einer Stärkung der politischen und gesamtstädtischen Steuerung gekommen? Zunächst werden von den kommunalen Akteuren Effizienzgewinne und Einsparungen konstatiert. Eine intensivere Betrachtung im Rahmen von Fallstudien fördert hier allerdings keine eindeutigen Einsparerfolge zutage. Effizienzgewinne und Einsparungen in Teilbereichen und insbesondere eine erhöhte Kostensensibilität sind zwar in zahlreichen Kommunen eingetreten. Stellt man aber die mit der Verwaltungsmodernisierung entstehenden Kosten durch Sachund Personalaufwand in der Planung, bei der Einführung und im laufenden
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Betrieb in Rechnung, fällt die Gesamtbilanz eher negativ aus. Auf der Outputseite hat es zweifelsohne sichtbare Verbesserungen gegeben. Ausweislich der Umfrageergebnisse hat vor allem der Umbau der Organisationsstruktur (insbesondere die Einführung von Fachbereichsstrukturen, der Abbau von Hierarchieebenen sowie der Übergang zu Teamstrukturen) zu markanten Outputverbesserungen geführt. Augenfällig ist eine stärkere Bürger- und Kundenorientierung, die vor allem auf den Siegeszug des Bürgeramtskonzeptes zurückzuführen ist. Weiterhin sind auf der Outputseite zahlreiche sektorale Bereiche zu nennen, in denen es durch eher klassische Maßnahmen der Organisationsentwicklung zu deutlichen Leistungsverbesserungen und Verfahrensverkürzungen kam. • Die angestrebten Veränderungen hinsichtlich der politischen Steuerung und einer verstärkten Mitarbeiterorientierung konnten kaum realisiert werden. Die Verbesserung der gesamtstädtischen politischen Steuerung ist das am seltensten bearbeitete Problemfeld im Neuen Steuerungsmodell und dort, wo Bestrebungen unternommen wurden, erzielt man selten positive Ergebnisse. Die vielfältigen Bemühungen um eine verbesserte Outputsteuerung haben zwar die Transparenz des Verwaltungshandelns erhöht, ohne dass es zu einer wirklichen Ablösung der „klassischen“ Input- und Regelsteuerung gekommen ist. Viele Kommunen haben bessere Kenntnisse im Hinblick auf Verwaltungsleistungen, Kosten und wichtige „Wirtschaftskennzahlen“ der Verwaltung. Es zeigt sich aber, dass eine bessere Transparenz und Informationslage nicht automatisch zu besserer Steuerung führen. Die lokalen Vertretungskörperschaften sind aus nachvollziehbaren Gründen nicht willens, sich auf die im NSM geforderte Steuerung auf Abstand einzulassen. Gleichzeitig zeigen sich in den Kommunen zahlreiche zentrifugale Tendenzen, ausgelöst einerseits durch die Dezentralisierungspolitiken im Rahmen des NSM, denen keine adäquaten Steuerungsverfahren entgegengesetzt werden und die so zu einer verwaltungsinternen Abkopplung der Fachbereiche von gesamtstädtischen Zielen führen. Insgesamt ist eher von Steuerungsverlusten auszugehen, denen nur unzureichende Anstrengungen entgegengesetzt werden, um die Steuerungsfähigkeit etwa durch effektives Controlling und Zielvereinbarungen zu re-etablieren. Diese Ergebnisse zeichnen also insgesamt ein ambivalentes Bild: Einerseits gab es in den deutschen Kommunen eine breite Bewegung für eine Verwaltungsmodernisierung. Zahlreiche Maßnahmen wurden in die Wege geleitet, zum Teil erfolgreich, aber auch mit deutlichen Rückschlägen. Eine einheitliche Entwicklung, ein umfassender „Paradigmenwechsel“ der deutschen Verwaltung vom weberianischen Bürokratiemodell zum New Public Management, war allerdings nicht festzustellen. Gemessen an den ursprünglichen Absichten des NSM wurde z. T. 317
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in einem harten Soll-Ist-Vergleich von einem weitgehenden Scheitern gesprochen (vgl. Holtkamp 2008c). Allerdings hatten sowohl Wissenschaftler als auch Praktiker von vornherein auf einige konzeptionelle Problemlagen des NSM aufmerksam gemacht. Gemessen an den Erkenntnissen über die Veränderungsresistenz öffentlicher Verwaltungen sah die Bilanz im Zeitvergleich daher besser aus. Die Kommunalverwaltungen waren im Jahr 2005 ohne jeden Zweifel vor allem bürger- und kundenorientierter: Zu denken ist insbesondere an die Schaffung von Bürgerbüros, Verfahrensbeschleunigung oder die Stärkung professioneller Konzepte im Sozial- und Jugendhilfebereich (vgl. hierzu Grohs 2010). Allerdings waren dies keine originären Kernelemente einer betriebswirtschaftlichen „Neuen Steuerung“, obgleich sie wahrscheinlich ohne das NSM nicht in diesem Maß umgesetzt worden wären. Die Verwirklichung des NSM als Reformkonzept war vielfach ins Stocken geraten, beschränkte sich auf „Modernisierungsinseln“ und die selektive Umsetzung einzelner Instrumente. Hierfür waren neben schlechten finanziellen Rahmenbedingungen insbesondere die konzeptionellen Mängel eines zu stark betriebswirtschaftlich ausgerichteten Modells ursächlich (vgl. Bogumil 2011). Anstatt modernisierter Verwaltungsstrukturen war daher vielfach gerade in den Kommunen, die sich zwischenzeitlich auf diese zubewegt hatten, eine Rückkehr zu bürokratischen Strukturen und Prozessen, also zu Max Weber festzustellen. Auf die (unbeabsichtigten) Folgeprobleme der NSM-Reform wurde in den Pionierkommunen entweder dadurch reagiert, dass man die neuen Strukturen und Verfahren bewusst „zurückbaut“ oder dass man im Verwaltungsalltag sukzessiv wieder auf altbewährte Handlungsroutinen vertraut. In der Konsequenz rückten sie von der »Reinform« des NSM ab und dürften gerade dadurch in die Lage versetzt sein, die negativen Reformwirkungen zu bearbeiten und zu beheben. Damit hat partiell eine Art Rückbesinnung auf das „Max-Weber-Modell“ der hierarchie- und regelgesteuerten Verwaltung stattgefunden, ohne dass freilich alle Reformelemente gleich über Bord geworfen werden, denn die über ein Jahrzehnt währende Diskursvorherrschaft des NSM dürfte deutliche Spuren hinterlassen haben. Fazit war, dass die Organisationskultur und Einstellungswelt in der Kommunalverwaltung sich nachhaltig verändert haben und in der deutschen Verwaltung nicht nur über Rechtsförmigkeit und formale Richtigkeit, sondern auch über Kosten und Leistungen nachgedacht und diskutiert wird. Ein neues Verwaltungsmodell war indes noch nicht entstanden (Bogumil/Grohs et al. 2007). Eine positivere Sicht der Dinge wurde dagegen von den Reformprotagonisten skizziert. Sie betonten, dass die Verwaltungen durch das NSM effizienter geworden seien, gestanden aber zu, dass das Modell nicht seine volle Effizienzwirkung entfalten konnte. Allerdings sei dies nicht auf Fehler im Konzept zurückzuführen, sondern
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ein Implementationsproblem in den Kommunen (KGSt 2013). Die kommunalen Akteure pickten sich aus dieser Perspektive nur die Teile aus dem Gesamtkonzept heraus, die ihren Interessen entsprachen bzw. die keine massiven Akteurswiderstände erwarten ließen. Weil das Modell nicht ganzheitlich umgesetzt wurde, konnte es demnach nicht seine volle positive Wirkung entfachen. Durch das in vielen Bundesländern verpflichtende NKF werde sich dies nun erheblich verbessern, wenn in einem zweiten Anlauf wesentliche Bestandteile des NSM gesetzlich vorgeschrieben werden. Es wird unterstellt, mit der gesetzlichen Verankerung werde den Modernisierungsbefürwortern in den Kommunen der Rücken gestärkt und das NSM eher als Gesamtpaket implementiert. Derartige Implementationsprobleme lassen sich auf zweierlei Weise erklären (vgl. Wollmann 1999b, S. 12). Entweder sie hängen damit zusammen, dass eine an sich richtige Theorie unzulänglich implementiert wird. Hier wird dann z. B. darauf aufmerksam gemacht, dass das Modernisierungsmanagement schlecht konzipiert ist (keine Freistellungen, keine Kompetenzen, falsche organisationsinterne Ansiedlung), dass es an der Prozessorientierung fehlt oder dass die Beschäftigten unzureichend einbezogen werden. Oder aber Implementationspro-bleme erklären sich daraus, dass die zugrunde liegende Theorie falsch ist. Hier wird dann darauf aufmerksam gemacht, dass öffentliches Verwalten spezifischen Besonderheiten unterliegt, die im betriebswirtschaftlich ausgerichteten Public Managementmodell nicht berücksichtigt würden und in der Modernisierungspraxis zu Problemen führen. Aus unserer Sicht sind beide Erklärungen relevant. Ein Teil der Implementationsprobleme hängt mit unzulänglicher Implementation zusammen. OE-Prozesse in öffentlichen Verwaltungen sind angesichts schwieriger Rahmenbedingungen (Haushaltskonsolidierung, Strukturkonservatismus) und wenig Erfahrung mit Partizipationsstrategien, Flexibilität und offenen Prozessen oftmals schwierig, zumal, wenn es Rückzugsmöglichkeiten gibt (keine exit-option) und vielfältige Möglichkeiten mikropolitischer Einflussnahmen bestehen (vgl. ausführlich Naschold/Bogumil 2000, auch Bogumil/Schmid 2001). Die Versuche im Bereich der Umgestaltung des Verhältnisses von Politik und Verwaltung oder in der Schaffung eines strategischen Managements scheitern jedoch an der „falschen“ Theorie, in der die Rationalität politischer Prozesse vollkommen ausgespart bleibt (vgl. ausführlich Bogumil 2002b, 2003, 2006). Deutlich wird dies auch an den vorliegenden Erfahrungen mit der Doppik in Form des Neuen Kommunalen Finanzmanagements (NKF) (vgl. ausführlich Bogumil/Ebinger/Holtkamp 2011, 2012, Bogumil/Holtkamp 2012, zudem Buchholz/ Lasar 2010, Bolay 2012, Schäfer u. a. 2010, Landesrechnungshof Rheinland-Pfalz 2011, Landesrechnungshof Mecklenburg-Vorpommern 2011). 319
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Der in den meisten Bundesländern gesetzlich erzwungene Umstellungsprozess von der Kameralistik auf das Neue Kommunale Finanzmanagement hat in den Kommunen zur Folge, dass das Rechnungswesen stärker an der kaufmännischen Buchführung (Doppik) von Unternehmen orientiert werden soll. Insbesondere sollen damit das kommunale Vermögen, der Vermögensverzehr und die Zukunftsbelastungen durch Pensionen systematisch in die Kommunalhaushalte einfließen, die im kameralen Haushalt nicht oder nur unzureichend abgebildet wurden. Allerdings handelt es sich bei der Doppik nicht nur um eine neue Variante der Rechnungslegung. Durch die Reform des Haushalts- und Rechnungssystems durch das Ressourcenverbrauchskonzept sollen die Kommunen in die Lage versetzt werden, ihre Verwaltungssteuerung zu verbessern. Deutlich wird diese doppelte Zielvorgabe in folgendem Zitat des Landesrechnungshofes Rheinland-Pfalz: „Ziel der Haushaltsreform war die Einführung eines Rechnungswesens, das nicht nur zahlungsorientiert ist und den „Geldverbrauch“ nachweist, sondern vollständig über den Verbrauch an finanziellen und sachlichen Ressourcen informiert, indem auch der Werteverzehr des kommunalen Vermögens berücksichtigt wird. Damit sollte das neue Haushaltsrecht als Grundlage dienen, dass sich Gemeinden und Gemeindeverbände in ihrer Haushaltsführung wirtschaftlicher als bisher verhalten. Mit der kommunalen Doppik sollte demnach nicht nur ein neues Rechnungssystem eingeführt, sondern insbesondere die Verwaltungssteuerung verbessert werden. Die kommunalen Mandatsträger sollten in die Lage versetzt werden, nicht nur anhand von Ausgabeermächtigungen, sondern durch Vorgabe von Zielen für kommunale Leistungen zu steuern (Hervorhebung d. A.)“ (Landesrechnungshof Rheinland-Pfalz 2011, S. 47).
Diese Vorgaben gelten im Prinzip für alle Bundesländer, was nicht verwunderlich ist, angesichts der Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom 21.11.2003 zur Reform des Gemeindehaushaltsrechtes, in denen diese Ziele nahezu identisch formuliert wurden. Allerdings wird die Doppik konzeptionell dennoch unterschiedlich umgesetzt. In neun der 13 Flächenländer wird die Doppik verpflichtend umgesetzt, allerdings in sehr unterschiedlichen Zeiträumen (zwischen 2009 und 2020), in zwei Bundesländern kann zwischen Doppik und Erweiterter Kameralistik gewählt werden (Hessen, Schleswig-Holstein), in zwei weiteren Bundesländern zwischen Doppik und Kameralistik (Bayern, Thüringen). Diese unterschiedlichen Konzepte und Zeiträume führen dann auch zu einem unterschiedlichen Implementationsstand (vgl. Böhme/Heindl 2014). Untersuchungen in den Bundesländern, die bereits die Doppik implementiert haben, zeigen nun, dass es relativ unstrittig ist, dass auf der Basis der Doppik prinzipiell die reale Finanzlage unter Berücksichtigung von Vermögen, Abschreibungen und Schulden besser erfasst werden kann, wenngleich es auch hier Spielraum für
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Buchungstricks und Schönrechnerei gibt (vgl. Bogumil 2017). Die Transparenz über die reale Vermögenslage einer Kommune kann durch die Doppik ohne Zweifel erhöht werden. Durch die Doppik und die auf ihr aufbauende Kostenund Leistungsrechnung ist es an vielen Stellen möglich, genauer festzustellen, was bestimmte öffentliche Leistungen kosten. Im Bereich der Qualität gibt es jedoch nach wie vor größere Erfassungsschwierigkeiten. Zudem stellt sich die Frage, ob diese Daten immer Hilfestellungen geben, die politische Steuerung zu optimieren. Dort, wo dies nicht der Fall ist, sind sie interessant, aber möglicherweise nutzlos. Bezüglich der Verbesserung der politischen Steuerung durch die Doppik zeigt sich, genau wie beim Neuen Steuerungsmodells, dass dies mehr als fraglich ist (vgl. auch Jethon 2017). In NRW, ein Vorreiterland im Bereich der Doppik, welches über die Gemeindehaushaltsverordnung mit Sollvorschrift alle Kommunen zwingen wollte, produktorientierte Ziele und Kennzahlen im Haushalt aufzustellen, um die Steuerungsfähigkeit zu verbessern, hat man diese Regelung bei der Neufassung der Kommunalen Haushaltsverordnung im Jahr 2019 wieder ersatzlos gestrichen (vgl. Jethon 2019). Insgesamt gesehen hat es mit Ausnahme der Umstellung des Rechnungssystems im kommunalen Haushaltsprozess in der Regel kaum Veränderungen gegeben. Auch über 20 Jahre nach dem Start der NSM und ca. zehn Jahre nach der Einführung der Doppik in einigen Bundesländern bestätigt sich also die frühere Diagnose, dass das NSM kein Allheilmittel für öffentliche Verwaltungen ist, sondern eine Medizin, die nach sorgfältiger Diagnose verabreicht werden sollte. Es gibt auch eindeutig Bereiche, wo sie nicht hilft, z. B. bei der Optimierung politischer Steuerung. Je politiknäher und je weniger standardisiert der Verwaltungsbereich, desto unangebrachter ist die Übertragung des privatwirtschaftlichen Managementmodells. Dies ist auch einer der wesentlichen Gründe für die weitaus geringere Implementationsdichte in Ministerien. Damit bestätigt sich, dass durch eine bessere Informationsversorgung nicht quasi automatisch bessere politische Entscheidungen getroffen werden, ein Mythos von Teilen der betriebswirtschaftlichen Verwaltungswissenschaft, auf den schon seit langem hingewiesen wurde (vgl. zusammenfassend Bogumil 2011). So zeigt sich auch für die Bundesebene, dass die in den frühen 2000er Jahren auf Verlautbarungsebene und in Form von Handreichungen und Berichten sehr präsenten internen NPM-Instrumente (wie Kontraktmanagement, Zielvereinbarungen, Controlling, Produkthaushalte, Kosten-Leistungs-Rechnung, etc.) heute eine untergeordnete Rolle spielen (Veit 2018, S. 134). „Die mangelhafte Implementation dieser Instrumente schlug sich gelegentlich auch in nicht unerheblichen Fehlinvestitionen nieder. Beispielsweise kritisierte der Haushaltsausschuss des Bundestages im Jahr 2016, dass das Bundesinstitut für Risikobewertung Ende 2009 einen Vertrag über das Liefern und Einführen einer 321
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Software zur Etablierung der Kosten-Leistungs-Rechnung (KLR) für 500.000 Euro geschlossen hatte, bis Ende 2013 aber zum einen rund 1,3 Mio. Euro hierfür bezahlt wurden und zum anderen erhebliche Zweifel in Bezug auf die Nutzung dieser bestünden. So kaufte das Bundesinstitut 500 Anwenderlizenzen für ein Berichtswesen, von denen es vier Jahre lang nur eine einzige Lizenz nutzte“ (BT-Drs. 18/9108 vom 7.7.2016, Veit 2018, S. 136).
Ungeachtet der insgesamt nur verhaltenen und häufig auf der symbolischen Ebene verbleibenden Einführung von NPM-Instrumenten in der Bundesverwaltung gibt es einzelne Bereiche, in denen eine umfassendere Implementierung stattfand. Hierzu gehört vor allem die Arbeitsverwaltung, welche sich durch eine vergleichsweise intensive Anwendung von Ansätzen des Performance Managements und insgesamt besonders umfassende Reformanstrengungen auszeichnet (Wegrich 2015a). Ist die hier präsentierte Bilanz zum NSM und zum NKF aber tatsächlich so niederschmetternd? Wenn man sich einmal von den vollmundigen und diffusen Versprechungen absetzt, die insbesondere die professionellen Jünger der Verwaltungsmodernisierung in unzähligen Firmenpräsentationen, Hochglanzbroschüren und Verkaufsseminaren verkündet haben, ist unverkennbar, dass die deutsche Verwaltung in den letzten zwanzig Jahren einem erheblichen Modernisierungsschub ausgesetzt war. Bei Bund, Ländern und Kommunen wird ohne jeden Zweifel restrukturiert und dezentralisiert, wird mit Budgetierung und dezentraler Ressourcenverantwortung experimentiert, diskutierte man über Leitbilder, Leistungsvergleiche, Controlling, Personalentwicklung und Kontraktmanagement. Kundenzufriedenheit, Bürgerorientierung, Doppik, aktivierender Staat, Zivilgesellschaft und selbst neue Formen von Governance sind Konzepte, die in weiten Bereichen der Verwaltung zumindest nicht mehr gänzlich unbekannt sind. Es wäre leichtfertig, dies alles nur als symbolische (Verwaltungs-)Politik abzutun. Die zu beobachtenden Veränderungen sind zwar nur schwer mit entsprechenden Entwicklungen in Bereichen wie Produktivität, Transparenz, Effizienz, Effektivität und letztendlich Legitimität in Verbindung zu bringen, aber das in der deutschen Verwaltung heute nicht nur über Rechtsförmigkeit und formale Richtigkeit, sondern auch über Kosten und Leistungen nachgedacht und diskutiert wird, ist kaum zu bestreiten. Gleichzeitig ist unverkennbar, dass diese Veränderungen nicht nur durch eine bewusste Verwaltungsmodernisierungspolitik angestoßen wurden. Verwaltungen verändern sich aufgrund verwaltungspolitischer Interventionen „von oben“, aber nicht nur und nicht ausschließlich. Mindestens ebenso wichtig sind externe Erschütterungen, z. B. durch Haushaltskürzungen, aber auch durch internationale Entwicklungen (etwa die Wettbewerbspolitik der EU) oder durch neue Technologien (Internet etc.). Und es gibt Veränderungsimpulse „von der Seite“ oder sogar „von unten“, durch die Kunden und Klienten der Verwaltung,
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insbesondere wenn befürchtet werden muss, dass diese Nachfrage in Zukunft nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Dennoch ist erklärungsbedürftig, warum auf der Ebene von Verlautbarungen und zumindest äußerlichen institutionellen Anpassungen die Ideologie des NPM auch in Deutschland so erfolgreich war. Hier hilft die moderne Institutionentheorie, die davon ausgeht, dass Organisationen sich nicht einfach ändern, weil es „rational“ überlegene Modelle gibt, etwa in der Form von „best practices“. Organisationen verändern sich, so diese Theorien, weil sie sich legitimieren müssen, und dies geschieht durch sog. mimetischen (Imitation als Reaktion auf Unsicherheit) oder normativen Isomorphismus (kognitive Imitation aufgrund von professionellen Standards), oder sogar „erzwungenen Isomorphismus“, also die externe Setzung verbindlicher Standards, bei der Anpassung einfach hierarchisch durchgesetzt wird (vgl. Jann 2004). Auf die verschiedenen immer wieder beschriebenen Defizite und „Lücken“, insbesondere auf ihr Legitimitätsdefizit („organisierte Unverantwortlichkeit“), hat die deutsche Verwaltung daher mit „allgemein anerkannten“, eben „Modernisierungsstrategien“ reagiert. Auf die Vielzahl von Hochglanzbroschüren und Selbstdarstellungen wurde bereits hingewiesen. Eine Fülle von Seminaren und Konferenzen und einige Zeitschriften haben aus diesem Bedürfnis ein florierendes Geschäft gemacht. Selbstverständlich sind nicht alle diese Reformen ernst gemeint oder ernst zu nehmen. Wenn man bei der Verbreitung von Reformideen in Organisationen danach unterscheidet, ob Veränderungen tatsächlich akzeptiert oder eher abgelehnt, und ob sie wie intendiert oder aber nur symbolisch durchgeführt werden, ergibt sich eine zunächst erschreckende Matrix.
Veränderungen akzeptiert Veränderungen nicht-akzeptiert
reale Umsetzung Unterstützer „strategische Wahl“ widerwillige Umsetzung „Lähmschicht“
symbolische Umsetzung Nachäffer, Jubel-Anhänger „cultural dopes“ Heuchler „de-coupling“
Abb. 60 Verbreitung von Reformideen in Organisationen Quelle: Jann 2004, S. 18
Drei der vier denkbaren Gruppen von Reformakteuren stehen realen Veränderungen eher im Wege. Aber dennoch ist keineswegs davon auszugehen, dass der in Deutschland zu beobachtende Wandel nur symbolisch ist. Selbstverständlich spielen mimetische und professionelle Isomorphie eine große Rolle. Die meisten 323
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Veränderungen beruhen nicht auf gründlicher und erschöpfender Analyse, sondern auf einfacher Nachahmung, und die Bedeutung der Vielzahl von Konferenzen, Seminaren und Artikeln in einschlägigen Fachzeitschriften ist dabei nicht zu unterschätzen. Aber diese Diffusion von neuen Ideen, Werten und Normen bleibt eben nicht auf die Nachäffer, Heuchler und die unvermeidliche Lähmschicht begrenzt. Sie führt zu unweigerlichen Lernprozessen, d. h. wenn Akteure Vorteile für sich und ihre Organisation erkennen können, werden sie früher oder später in das Feld der Unterstützer, die Veränderungen strategisch einsetzen, überwechseln. Es gibt Hinweise, dass dies in Deutschland zumindest in einigen Bereichen zunehmend geschieht. Aber damit dies geschehen kann, muss auch die Verwaltungsforschung sich ernsthafter bemühen, diese Vorteile zu belegen. Dies wird nur durch empirische Nachweise gelingen, nicht durch weitere theoretische und konzeptionelle Modelle. Bleibt die Frage, wie die deutschen Erfahrungen im internationalen Kontext zu bewerten sind? Zum einen ist offenkundig, dass die Umsetzung zentraler Elemente des NPM in vielen OECD-Ländern umfangreicher und schneller von statten ging als in Deutschland. Sowohl bezüglich der Veränderungen im Bereich des Personals (Normalisierung der Beschäftigungsverhältnisse, Individualisierung und Leistungsorientierung), der Organisation (Verselbstständigung und Kontraktsteuerung), der Finanzen (leistungsorientierte Budgets und Ressourcenverbrauch) und der Leistungsmessung (Benchmarking und League Tables) waren andere Länder mutiger, von den radikaleren Marktreformen der Marketizer (competitive tendering, radikale Privatisierung) ganz zu schweigen. Aber auch in anderen Ländern ist es sehr schwer, von institutionellen Veränderungen auf bessere Performanz oder sogar veränderte Outcomes zu schließen (vgl. Wollmann 2004, Pollit/Bouckaert 2017, Kuhlmann 2006a, Kuhlmann 2008). Insgesamt herrscht mittlerweile in der verwaltungswissenschaftlichen Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass der Reformdiskurs des NPM nicht zu jener allumfassenden Konvergenz der Verwaltungssysteme in Richtung eines managerialistischen Staates oder Gewährleistungsstaates geführt hat, die von manchen vorausgesagt und erwartet worden war. Stattdessen wurde die NPM-Doktrin in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich umgesetzt (vgl. Kuhlmann/ Wollmann 2019, Kuhlmann/Bogumil 2019b) und es zeigen sich je nach Kontextbedingungen vielfältige Variationen zwischen traditionellen und neuen Elementen der Verwaltungssteuerung. Außerdem ist inzwischen vielfach NPM-Ernüchterung eingetreten, wurden frühere Reformen teils wieder zurückgenommen und wird zunehmend nach alternativen Lösungen gesucht (Pollitt/Bouckaert 2017, S. 12). Hier kommt das Konzept des Neo-Weberianischen Staates (NWS) ins Spiel (Byrkjeflot et al. 2018, vgl. auch Kap. 4.1.3.4). Dieses wurde von Pollitt und Bouckaert zunächst als eine Art empirische Beschreibung der spezifischen (eher moderaten)
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NPM-Ausprägung in den kontinentaleuropäischen und nordischen Staaten – im Unterschied zu den (radikalen) angelsächsischen NPM-Ansätzen – eingeführt. Jedoch findet es inzwischen auch als normatives Reformmodell Anwendung, von dem angenommen wird, dass es zu einer fruchtbaren Kombination und Synergie aus klassisch-Weberianischen Elementen auf der einen Seite und „Neo-/NPM-Elementen“ auf der anderen Seite führt (Pollitt/Bouckaert 2017, S. 121f.). So wurde der NWS insbesondere in Mittel- und Osteuropa teils als wünschenswertes Leitbild für die Staats- und Verwaltungsreform angesehen, da er den Verzicht auf radikale NPM-Reformen und stattdessen die pragmatische Kombination von „alten“ und „neuen“ Elementen verspricht (vgl. hierzu und im Folgenden Kuhlmann/Bogumil 2019). Als normatives Reformleitbild umfasst der NWS einerseits die rechtsstaatliche Verfasstheit des Staates, rückt aber neben der Rechtmäßigkeit auch die Leistungsfähigkeit und Kundenorientierung als Richtschnüre administrativen Handelns in den Vordergrund. Betrachtet man die empirische Realität des NWS, so kann zwischen dem NWS als Hybridisierung und zwischen dem NWS als (partielle) Umkehr von NPM-Ansätzen verbunden mit einer Hinwendung zu alternativen (Gegen-) Konzepten unterschieden werden. Kombinationen und Amalgamierungen von klassisch-bürokratischen Weberianischen und Neo/NPM-Elementen sind vor allem in den kontinentaleuropäischen und nordischen Staaten anzutreffen (Kuhlmann 2008, S. 324, Kuhlmann/Wollmann 2019). Der NWS als NPM-Umkehr ist mit verschiedenen Labeln versehen worden, wie etwa „Joined-up Government“ (JUG) oder „Whole-of-Government“ (WOG) oder New Public Governance (NPG; vgl. Pollitt/ Bouckaert 2017, S. 22), wobei kein einheitliches Modell oder übergreifendes Konzept zu erkennen ist (vgl. hierzu im Detail Kuhlmann/Bogumil 2019b, S. 143ff.). Im Hinblick auf die NPM-Umkehr zeigt sich, dass die verschiedenen Maßnahmen wie die Re-Integration von Verwaltungseinheiten oder Agenturen in die Kernverwaltung, die Re-Kommunalisierung von (vormals privatisierten) Betrieben oder auch die Re-Hierarchisierung der Verwaltung (nach vorheriger Dezentralisierung) darauf abzielen, übergreifende politische Steuerungsfähigkeit zurückzugewinnen. Im Hinblick auf den NWS als Hybridisierung ergibt sich anhand des vorliegenden empirischen Kenntnisstandes ein differenziertes Bild. Einerseits gibt es Anhaltspunkte für eine optimistische Bewertung der hybriden Verwaltung und dafür, dass der Neo-Weberianische Staat in Teilbereichen eine gelungene Verbindung von NPM und klassisch-Weberianischer Verwaltung darstellen kann (Pollitt/Bouckaert 2017). Andererseits zeigen empirische Befunde, dass die Amalgamierung von NPM und Weberianischer Verwaltung oftmals zu Dysfunktionalitäten und nicht-intendierten Effekten führt, da die Komplementarität von Weberianischer und managerieller Verwaltung oftmals nur bedingt gegeben war. Die Neukombination erwies sich unter 325
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anderem deshalb als problematisch, weil oftmals die traditionelle Steuerungsform (hierarchische Koordination) geschwächt wurde, ohne dass die neue funktionierte (quasiökonomische dezentrale Anreizsteuerung). Häufig wurde dezentralisiert, ohne die notwendige Rückkopplung von Dezentralisierung durch Informationsund Anreizsysteme zu gewährleisten. Zudem blieb die postulierte Orientierung am Wettbewerb vielfach aus, was im Zusammenspiel mit Auslagerungen und Privatisierungen zur Fragmentierung der kommunalen Selbstverwaltung führte. Zudem ist zu beobachten, dass man sich formal auf neue Steuerungselemente einlässt, diese aber nur im traditionellen (hierarchisch-Weberianischen) Sinne nutzt. Ein Beispiel dafür stellen Produktkataloge oder Kosten- und Leistungsrechnungen dar, die zwar implementiert, aber nicht für die Steuerung genutzt wurden (Bogumil u. a. 2006). Ob der NWS funktioniert oder fehlschlägt, ist damit letztlich keine normative und generell, sondern eine empirische und differenziert zu beantwortende Frage, die auch den Vergleich unterschiedlicher Verwaltungsmodelle voraussetzt (vgl. hierzu Kuhlmann 2019b). Vor diesem Hintergrund wäre dafür zu plädieren, den NWS eher als analytisches Konstrukt (und weniger als Reformleitbild) zu nutzen, das helfen kann, konkrete Reformentwicklungen zu typisieren und unterschiedliche institutionelle Mischungen aus NPM und Weberianismus zu vergleichen. Zum anderen ist für Verwaltungsreformer wichtig, im Auge zu behalten, dass Konzepttransfers, sei es aus unterschiedlichen Handlungssphären (zwischen Markt und Staat), sei es aus verschiedenen Länderkontexten (z. B. vom angelsächsischen in den kontinentaleuropäischen Kontext), in der Regel zu institutionellen „Neuschöpfungen“ und Mischungen aus „Altem“ und „Neuem“ führen, was die Wirksamkeit der Reforminstrumente beeinflusst und diese auch konterkarieren kann.
5.2.4.3 Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben Aber auch jenseits des NSM gab es in dieser Zeit Reformen. Ende der achtziger Jahre hatte zunächst allenthalben Ermattung eingesetzt, Regierungs- und Verwaltungsreform, Dienstrechtsreform, Haushalts- und Finanzreform – die klassischen verwaltungspolitischen Themen verschwanden von der Tagesordnung. Dies war zum Teil bedingt durch den Regierungswechsel auf Bundesebene. Die Regierungen Kohl verfolgten vor allem einen wesentlichen Reformbereich: eine umfassende Privatisierungsstrategie (vgl. Jann/Wewer 1998). Der Schwerpunkt ihrer Politik lag zunächst (1983–1990) auf dem vollständigen Rückzug des Bundes aus den großen Industriekonzernen (Volkswagen AG, VEBA AG, VIAG AG und Salzgitter AG). Dieses Privatisierungsprogramm füllte praktisch die ersten beiden Legislatur perioden. Bereits vorbereitet wurde in dieser Zeit ein weiterer Schwerpunkt, nämlich die Privatisierung der Kommunikations- und Verkehrsbereiche, die ab 1989 umgesetzt wurden. Insgesamt wurden im Zeitraum von 1982 bis 1994 die
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Unternehmensbeteiligungen des Bundes von 958 auf weniger als 400 reduziert. Erzielt werden konnte ein Gesamterlös von 12 Mrd. DM und rund 1 Mio. Mitarbeiter schieden aus dem öffentlichen Dienst aus. Zu nennen sind insbesondere die Privatisierung der Deutschen Bundesbahn (seit 1.1.1994 Deutsche Bahn AG), der Unternehmen der Deutschen Bundespost (Postdienst, Postbank, Telekom) sowie der Flugsicherung (1993). Seit Ende der neunziger Jahre verdichten sich dann vor allem auf kommunaler Ebene Tendenzen, Aufgabenbereiche kommunaler Daseinsvorsorge, z. B. im Bereich der Energie- und Wasserversorgung, der Abfallentsorgung sowie des Öffentlichen-Personen-Nahverkehr (ÖPNV), zunehmend dem Wettbewerb zu öffnen bzw. zu privatisieren. Diese Aufgabenbereiche waren in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts überwiegend von der öffentlichen Hand wahrgenommen worden. Nun geraten sie einerseits durch europäische Vorgaben einer Politik der Liberalisierung von Märkten unter Wettbewerbsdruck. Dies gilt namentlich für die schrittweise Liberalisierung in den sogenannten Netzwirtschaften mittels sektorspezifischer EG-Richtlinien (vor allem: Strom- und Gasversorgung; ansatzweise auch: Abfallund Wasserwirtschaft, ÖPNV). Sektorübergreifend wirken zudem die Vorgaben des EU-Beihilferechts (Art. 87 EG) und des europäischen Vergaberechts mit der Pflicht zur EU-weiten Ausschreibung „öffentlicher Aufträge“. Andererseits sorgen die andauernde Haushaltskrise und die Hoffnung, dieser durch Privatisierung und den daraus resultierenden Vermögenserlösen begegnen zu können, für weiteren Handlungsdruck.93 Insgesamt zeigt sich damit ein genereller Trend in Richtung einer stärkeren Betonung von Marktkräften, aber ein recht unterschiedliches Bild bezüglich der empirischen Umsetzung von Liberalisierungs- und Privatisierungstendenzen in Abhängigkeit vom Aufgabenbereich. Am weitesten fortgeschritten ist die Liberalisierung des Energiemarktes, in dem durch den diskriminierungsfreien Zugang zu den Leitungsnetzen in Form von Durchleitungsrechten der Wettbewerb verstärkt wurde. Insgesamt ist es zu Preisnachlässen für die Verbraucher gekommen, und auch die kleinen Stadtwerke haben sich oftmals behaupten können. Negative Effekte ergeben sich allerdings hinsichtlich umweltpolitischer Ziele und bezüglich der vorher gängigen Subventionierung des ÖPNV. Im Bereich der Wasserver- und -entsorgung gibt es keine wahrnehmbaren Veränderungen, allerdings zwischenzeitlich Überlegungen auf Bundesebene, 93 Bekanntestes Beispiel ist der Verkauf ca. 48.000 Wohnungen an die US-amerikanische Investorengruppe Fortress für 1,7 Milliarden Euro in Dresden aus dem Jahr 2006, womit zunächst eine vollständige Entschuldung der Stadt erfolgte. Auch die Stadt Braunschweig hat im Jahr 2002 74,9 % ihrer Versorgungsbetriebe verkauft, um den Schuldenstand von ca. 469 Millionen Euro im Jahr 2000 auf 213 Millionen Euro im Jahr 2006 zu senken (Sack 2006). 327
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die kommunalen Wassermonopole abzuschaffen, um Deutschland für den internationalen Wettbewerb um die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung vorzubereiten. Dabei geht es jedoch nicht um einen Wettbewerb um Einzelkunden wie im Energiebereich, sondern um einen Wettbewerb um Konzessionen für Versorgungsgebiete. Befürchtet werden aber auch hier ökologische Problemlagen in Folge der möglicherweise kommenden Liberalisierung des Wassermarktes. Auch sind Haftungsfragen völlig ungeklärt. Wer haftet im Fall von Verunreinigungen, der private Versorger oder auch die Kommune? Im Bereich der Abfallentsorgung weisen europäische Richtlinien in Richtung eines stärkeren Wettbewerbs der Abfall- und Kreislaufwirtschaft, die dem Ziel einer Entsorgung mit möglichst geringen Stoff- und Verkehrsströmen nicht immer entspricht. Vor allem aber das 1996 beschlossene Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz ermöglicht den Übergang von der alleinigen kommunalen Abfallentsorgung in Richtung teilprivatisierter Entsorgungsstrukturen. Auch hier gibt es ökologische Bedenken hinsichtlich des Ziels der Abfallvermeidung. Im Bereich des ÖPNV verpflichten europarechtliche Vorgaben die öffentlichen Aufgabenträger unmittelbar, gemeinwirtschaftliche Verkehrsleistungen im Personennahverkehr im Wettbewerb zu vergeben. De facto findet bis jetzt aber kein Genehmigungswettbewerb statt, da regelmäßig nur ein öffentlich subventioniertes Unternehmen den Genehmigungsantrag stellt und die nicht subventionierte Konkurrenz chancenlos ist. Allerdings leidet der ÖPNV, wie erwähnt, unter der geringeren Subventionierung durch die Veränderungen im Energiebereich. Tendenziell droht in liberalisierten Märkten, so die Kritiker dieser Prozesse, ein umweltpolitisches „race to the bottom“ im Bereich des Klimaschutzes, der Abfallvermeidung oder der Qualität der Wasserversorgung. Zudem bedeuten die umfassende Marktöffnung von Ver- und Entsorgungsnetzen und die Einbeziehung privater Unternehmen in die Erstellung kommunaler Daseinsvorsorge nicht automatisch den Wegfall öffentlicher Verantwortung für diese Aufgabenbereiche. Denkbar sind auch neue Formen der Regulierung, ein neues institutionelles Arrangement zwischen Staat, Markt und gesellschaftlicher Teilhabe. Die Privatisierungseffekte, die von der EU bisher ausgehen, sind quantitativ zudem bisher weniger bedeutsam als die von den Gemeinderäten selbst im Zuge der Haushaltskonsolidierung beschlossenen Privatisierungsvorhaben. Empirische Daten über das genaue Ausmaß von Privatisierungsmaßnahmen sind rar (für den Stand Mitte der 2000er Jahre vgl. vor allem Killian u. a. 2006, später Rackwitz/Raffer 2019, Reichard/Röber 2019b). Insbesondere in den Aufgabenfeldern Energieversorgung, ÖPNV, Wohnungswirtschaft, Abfallentsorgung und Krankenhäuser finden formale und materielle Privatisierungen statt. Vollständige Ausgliederungen (materielle Privatisierung) findet man bei den Alten- und Pflege-
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heimen, Rettungsdiensten und Krankenhäusern und einen hohen Anteil privater Rechtsformen im Bereich Strom, Gas, ÖPNV oder Wohnungswirtschaft. Mit zunehmender Größe der Kommune nimmt die Anzahl der formellen Ausgliederungen sowie der Anteil materieller Privatisierungen zu (Richter u. a. 2006, S. 121). Im Bereich der formellen Privatisierung zeigt eine Analyse von Beteiligungsberichten von 36 großen deutschen Städten, durchgeführt vom Deutschen Institut für Urbanistik, für den Zeitraum 2000/2001, dass es hier insgesamt 3.213 Beteiligungen gibt (vgl. hierzu Bogumil/Holtkamp 2013, S. 90ff.). Darunter befinden sich 3.034 inländische und 178 ausländische Beteiligungen. Der Umsatz der Beteiligungen liegt bereits zwischen 90 % und 180 % des Verwaltungshaushaltes der Kommunen (Trapp/Bolay 2003, S. 42). Im Durchschnitt verfügt jede Großstadt über 89,2 Beteiligungen. In den 135 Mitgliedsstädten der KGSt über 50.000 Einwohner liegt die durchschnittliche Anzahl von Beteiligungen bei 17,7 und in den Kommunen unter 50.000 Einwohner bei 7,8 (Richter u. a. 2006, S. 115). Allein durch die Anzahl wird deutlich, dass die gewählten Ratsmitglieder wohl kaum Kenntnis über alle Beteiligungen in ihrer Stadt haben. Betrachtet man die Rechtsformen, so befinden sich in den Großstädten und Mittelstädten ca. 75 % in der Rechtsform der „GmbH“, während in den kleineren Kommunen ein recht hoher Anteil von Zweckverbänden mit 25 % zu beobachten ist (ebd., S. 116). Zudem liegt der Anteil der von der Kommune direkt steuerbaren Beteiligungen in den Großstädten nur bei 20 %. Zu berücksichtigen ist zudem, dass unabhängig von den theoretischen Steuerungsmöglichkeiten oft gar nicht erst versucht wird, politischen Einfluss zu gewinnen, da man Angst hat, dass sich dann die Privatisierungsvorteile nicht einstellen. Interessante neue Erkenntnisse liefert ein Projekt zur Auslagerungstätigkeit von 30 Städten zwischen 50.000 und 500.000 Einwohnern in NRW zwischen 1998 und 2017 (vgl. Rackwitz/Raffer 2019).94 Hier wird für diesen Zeitraum eine stetig ansteigende Auslagerungstätigkeit beobachten, wobei die Anstiegsdynamik zwischen 1998 und 2008 etwas stärker war als zwischen 2008 und 2017. Nach diesen Daten kann von keiner rückläufigen Auslagerungstätigkeit bzw. von einer Rückbesinnung auf die Kernverwaltung als Dienstleistungserbringer ausgegangen werden. Gleichwohl hat sich die Zunahme seit der Finanzkrise insgesamt leicht abgeschwächt.
94 Die Daten wurden aus den jährlich veröffentlichten Beteiligungsberichten der Städte extrahiert (Rackwitz/Raffer 2019), die Auswertung der Auslagerungsintensität erfolgte über den bevölkerungsgewichteten Auslagerungsindex nach Trapp und Bolay (2003). Berücksichtigt werden nur Auslagerungen, an denen eine Stadt mehr als 10 % hält. 329
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Abb. 61 Durchschnittliche Auslagerungsintensität Quelle: Rackwitz/Raffer 2019, gewichtet nach Einwohnern im Jahr 2016
GmbHs sind nach wie vor die am häufigsten gewählte Rechtsform, wobei eine rückläufige Auslagerungstätigkeit in diese Rechtsform im Zeitverlauf zu erkennen ist (von 84 % aller Rechtsformen im Jahr 1998 auf 76 % im Jahr 2017). GmbH & Co. KGs nehmen hingegen tendenziell zu (von 3 % auf 11 %) mit einer temporären und moderaten Verringerung in den Jahren 2005 und 2006. Darüber hinaus nimmt die Rechtsform AöR zu. Die Anzahl der übrigen ermittelten Rechtsformen bleibt im Betrachtungszeitraum verhältnismäßig konstant (vgl. Rackwitz/Raffer 2019). In den meisten Sektoren der städtischen Auslagerungen ist nur eine begrenzte Veränderung zu verzeichnen ist (eine sektorale Analyse findet sich auch bei Bogumil/ Holtkamp 2013, S. 91ff.). Zu beobachten ist nach den Daten von Rackwitz/Raffer ein stetiger Anstieg von 42 % im Jahr 1998 auf 54 % im Jahr 2017 des Bereiches Versorgung, Verkehr & Entsorgung, der immer dominanter wird. Dies kann auf eine erhöhte Aktivität im Bereich der (alternativen) Energieerzeugung im Zusammenhang mit der allgemeinen deutschen Energiewende zurückgeführt werden. Auff ällig ist darüber hinaus der kontinuierliche Rückgang der Auslagerungstätigkeit im Bereich Wohnungsbau ab dem Jahr 2002 (von 11 % auf 6 %). Dies ist in Anbetracht der öffentlichen Diskussion um das rückläufige Engagement deutscher Städte im öffentlichen Wohnungsbau keineswegs verwunderlich. Eine Verringerung der Auslagerungstätigkeit zeigt sich auch in den Bereichen Forschung & Technologie (von 6 % auf 3 %) sowie Freizeit & Kultur (von ca. 14 % auf 10 %). In der gesamten
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Betrachtungsperiode bleibt die Auslagerungstätigkeit im Bereich Freizeit & Kultur relativ gesehen dennoch vergleichsweise stark.
Abb. 62 Kommunale Beteiligung nach Bereichen Quelle: Rackwitz/Raffer 2019
Neben Privatisierungstendenzen finden sich vor allem kommunaler Ebene seit Anfang der neunziger Jahre in zunehmendem Maße auch Public-Private-Partnerships (PPP bzw. ÖPP für Öffentlich-Private Partnerschaft). Unter PPP werden Kooperationen zwischen staatlichen, privat-gewerblichen und nicht-staatlichen Akteuren zur Erstellung bestimmter Leistungen verstanden, die durchaus unterschiedliche Formen annehmen können und dadurch charakterisiert sind, dass unterschiedliche Handlungslogiken in einer gemeinsamen Zielperspektive vermittelt werden (Sack 2003, S. 5). Dieser Trend hängt mit einer Vielzahl von Entwicklungen zusammen. Neben den dargestellten Gründen für die Ökonomisierungstendenzen liegt dies auch daran, dass neben der bürokratischen Hierarchie die Steuerung durch Ko331
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operation, Partizipation und Wettbewerb verstärkt als legitim und problemangemessen angesehen wird. Zwar sind öffentlich-private Partnerschaften keine neue Erscheinung, aber es wird von einer deutlichen quantitativen Zunahme derartiger Ansätze ausgegangen (vgl. Sack 2006). In den neunziger Jahren sind PPP zudem durch verschiedene öffentliche Programme und Vorgaben auf europäischer, nationalstaatlicher und regionaler Ebene gefördert worden. Erinnert sei z. B. an den Wettbewerb „Lernende Regionen“, das Bundesprogramm „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ oder die PPP-Initiative des Landes NRW. Empirische Hinweise zur faktischen Verbreitung finden sich nach wie vor nur wenige. Laut einer nicht veröffentlichten Umfrage des Deutschen Städtetages in ihren 235 Mitgliedskommunen (Rücklauf 80 %) im ersten Halbjahr 2002 führten bundesweit 53 % der Städte PPP-Projekte durch (Sack 2003, S. 9). Laut einer Umfrage des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU 2005) planten 23 % der 1.203 antwortenden Kommunen entsprechende Projekte oder führten sie bereits durch. Neben dem Schulbereich (29,5 %) sind vertragliche PPP in den Bereichen Sport und Touristik (28 %) sowie Verkehr (19 %) vertreten. In der Summe werden so ca. 5 % des Investitionsvolumens der Städte und Gemeinden durch diese PPP abgedeckt (DIFU 2005, S. 35ff.). Hatte sich die damalige Bundesregierung 2005 das Ziel gesetzt, den Anteil von vertraglichen PPP an den staatlichen Bruttoinvestitionen auf ca. 15 % zu erhöhen, so liegt 2017 der Anteil von vertraglichen PPP an allen öffentlichen Bauinvestitionen bei ca. 2 %. Auch in der wesentlichen Domäne, dem Hoch- und Tiefbau, sind PPP quantitativ kaum relevant und die Erwartungen, die Mitte der 2000er-Jahre in sie gesetzt wurden, sind nicht erfüllt worden (vgl. hierzu und im Folgenden Sack 2019, S. 279). Schwerpunkt der ÖPP-Verbreitung ist der öffentliche Hochbau, vornehmlich in den Bereichen Schulen und Kindertagesstätten, Sport und Kultur, Verwaltung und Justiz. Dazu kommen Projekte im Bereich der öffentlichen Sicherheit, der Verteidigung und im Straßenbau. Auch der Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens ist zu nennen. Verschiedene Umfragen weisen dann zusätzlich die Bereiche des ÖPNV, der Energieversorgung, der Wasserver- und der Abfallentsorgung als PPP-intensive Felder aus (Killian u. a. 2006). Anhand des Investitionsvolumens kann gezeigt werden, dass die Bundesebene für 46 % der ÖPP-Aktivitäten steht, die Länder für 32 % und die Kommunen für 22 %. Insbesondere der Bundesfernstraßenbau schlägt bei dem hohen Bundesanteil zu Buche (Partnerschaft Deutschland 2018; Sack 2018). In diesem Bereich des Bundesfernstraßenbaus sind ÖPP-Projekte insbesondere im Bereich der Sanierung und Erweiterung zu einer quantitativ relevanten Form der Leistungserbringung geworden. „Zwischen Gefängnisbetrieb und komplexen EGovernment, zwischen Kläranlage und Bundesstraßenabschnitt, zwischen Gesundheitshaus und Universitätsklinik gibt
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es kaum ein Feld der öffentlichen Leistungserbringung, in dem nicht PPP-Projekte identifiziert werden können. Gleichzeitig ist der finanzielle Anteil der Leistungserbringung scheinbar nachrangig. Derzeit ist es insbesondere der Bundesfernstraßenbau, in dem ÖPP-Projekte implementiert werden“ (Sack 2019, S. 279).
Insgesamt kommt Sack zu dem Ergebnis, dass gegenüber der Situation in den 2000er-Jahren in den 2010er-Jahren ein Stimmungswandel zu PPP eingesetzt hat. Diese werden mittlerweile deutlich skeptischer betrachtet, da es einige Beispiele mit schlechter Performanz gab, die in den Medien breit diskutiert wurden, wie etwa aufgrund der erheblichen Kostensteigerungen im Fall der Hamburger Elbphilharmonie (bis kurz vor ihrer Eröffnung) oder aberhinsichtlich der Einnahmesituation bei der Autobahn A1. Zudem hat sich in den politischen Parteien des linken (mittlerweile aber auch des rechtspopulistischen) Spektrums eine privatisierungsablehnende Haltung programmatisch verankert. Weiterhin hat die starke wirtschaftliche Konjunktur der 2010er-Jahre dazu geführt, dass weder private Unternehmen noch die öffentlichen Gebietskörperschaften PPP dringend nachfragen (Sack 2019, S. 283). Seit Beginn des neuen Jahrtausends ist also die Hochzeit der Privatisierung zu Ende. Damit beginnt auch eine partielle „Rückkehr des Öffentlichen“ durch Re-Regulierung, Re-Kommunalisierung und Vermögensrückkäufe (vgl. hierzu und im Folgende Kuhlmann/Bogumil 2019b). Die Gründe liegen in negativen Auswirkungen von Privatisierungsprogrammen (Steuerungsdefiziten, Qualitätsverlusten, Leistungseinschnitte) und einem anderen Verhältnis zum Staat (höhere Akzeptanz staatliche Regulierungen durch die Bewältigung der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise). Allerdings variieren Ausmaß und Intensität dieses „Pendelrückschwungs“ erheblich zwischen Ländern, Verwaltungsebenen und Sektoren. Für die kommunale Ebene wird zumindest die Frage aufgeworfen: Is the „Pendulum swinging back?“ (Wollmann 2016). In einigen Bereichen und Regionen haben sich die Gewichte zwischen den Trägern von Aufgaben der Daseinsvorsorge wieder zugunsten kommunaler Institutionen verschoben (Röber 2009). Die Unternehmen und Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge bieten hierfür ein anschauliches Beispiel. So konnten die kommunalen Stadtwerke in Deutschland, die im Zuge von Privatisierung und Outsourcing zunächst gegenüber den „Big Four“ der Energieunternehmen, wie EON, RWE, ENBW oder Vattenfall, an Boden verloren hatten, in den vergangenen Jahren deutlich an operativer Stärke gewinnen. Es kam verstärkt zu Netzrückkäufen, zur Beendigung von Konzessionsverträgen und zu Re-Insourcing, was sich auch in steigenden Marktanteilen der deutschen kommunalen Energieversorger zeigt (Wollmann 2016, Bönker u. a. 2016). Zwischen 2007 und 2012 wurden 60 Stadtwerke neu gegründet und über 170 Konzessionen von Kommunen oder kommunalen Unternehmen übernommen (Reichard/Röber 2019b, S. 271). 333
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Zwar sind die empirischen Belege für das Ausmaß, die Geschwindigkeit und die Dauer eines solchen „Comebacks“ öffentlicher Anbieter nach wie vor spärlich. Dennoch besteht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich bei dieser Entwicklung nicht um eine allumfassende Konvergenz über Länder und Sektoren hinweg handelt. Stattdessen sind im Hinblick auf Re-Kommunalisierung deutliche Unterschiede zwischen Ländern (u. a. in Abhängigkeit von der Reichweite zuvor durchgeführter Privatisierungen) und Aufgabenfeldern zu konstatieren (z. B. mehr Re-Kommunalisierung in den Bereichen Energie und Wasser, dagegen fortwährend mehr Privatisierung im Krankenhaussektor; vgl. Klenk/Reiter 2015). Insgesamt gesehen hat sich in den letzten 20 Jahren die Institutionenlandschaft im öffentlichen Sektor in Deutschland und in nahezu allen Ländern des OECDRaums ausdifferenziert (vgl. Reichard/Röber 2019b, S. 264). Eine zunehmende Zahl unterschiedlicher Akteure ist in die Erbringung öffentlicher Leistungen eingebunden. Die staatliche und kommunale Kernverwaltung übernimmt immer mehr die Rolle des Gewährleisters (vgl. Kap. 3.1). Bei nicht ordnungsgemäßer Erbringung der Leistung durch Dritte haben Staat und Kommunen die Pflicht, einzuspringen und tun dies auch, wie man z. B. an den Re-Kommunalisierungsbemühungen erkennt. Daraus folgt ein komplexes Geflecht von Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehungen. Angesichts der daraus resultierenden Steuerungsprobleme und des bestehenden Kontrollaufwandes wird es perspektivisch Bemühungen um wirksamere Steuerungskonzepte geben, die dazu beitragen, dem öffentlichen Gewährleister (wieder) mehr Einfluss zuzubilligen.
5.2.5 Bürgergesellschaft, Bürgerkommune und aktivierender Staat Das NSM und die geschilderten Bemühungen um einen Ausbau der Kundenorientierung von Kommunalverwaltungen in den 1990er Jahren passten gut in das Leitbild der Kommune als Dienstleistungsunternehmen oder allgemeiner formuliert in das in dieser Zeit dominierende Management-Leitbild. Mit der in Kapitel 2.5 skizzierten Wende der Debatte vom schlanken zum „aktivierenden Staat“, erweiterten sich allerdings die Vorstellungen von der Rolle der Bürger im modernen Staat. Aktuelle Schlagworte lauteten jetzt Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, Bürgeroder Zivilgesellschaft und Sozialkapital, statt vom „Unternehmen Verwaltung“ wird über den „Gewährleistungsstaat“ diskutiert (Behrens u. a. 1995, Bandemer/ Hilbert 2005), statt Dienstleistungskommune wurde jetzt die Bürgerkommune propagiert (Banner 1998). Hinter diesen neuen Begriffen verbarg sich zum einen das Bedürfnis, dem von der liberal-konservativen Regierung propagierten Leitbild
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des schlanken Staates eine erkennbare Alternative entgegenzusetzen, zum anderen aber durchaus auch eine veränderte Problemsicht. So besetzte in der politischen Debatte auf Bundesebene die Regierung Schröder mit dem Programm „Moderner Staat-Moderne Verwaltung“ vom 1. Dezember 1999 die Stichworte „Neue Verantwortungsteilung“, „Stärkung der Bürgergesellschaft“ und aktivierender Staat. In der Koalitionsvereinbarung von 1998 heißt es: „Staat und Verwaltung müssen ihre Aufgaben und ihre Verantwortung unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu definieren. Der aktivierende Staat wird die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung dort fördern, wo dies möglich ist. So wird sich die Erfüllung öffentlicher Aufgaben nach einer neuen Stufung der Verantwortung zwischen Staat und Gesellschaft richten: (…) Der Staat ist weniger Entscheider und Produzent, als vielmehr Moderator und Aktivator der gesellschaftlichen Entwicklungen, die er nicht allein bestimmen kann und soll. Aktivierender Staat bedeutet, die Selbstregulierungspotentiale der Gesellschaft zu fördern und ihnen den notwendigen Freiraum zu schaffen. Im Vordergrund muss deshalb das Zusammenwirken staatlicher, halbstaatlicher und privater Akteure zum Erreichen gemeinsamer Ziele stehen“ (BMI 1999, S. 8f.).
Unterstützt wird diese Neuorientierung durch programmatische Artikel des Bundeskanzlers zur Bedeutung einer modernen Zivilgesellschaft (vgl. Schröder 2000) und die Etablierung einer Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Bundestages, die aufgrund der systematischen Bestandsaufnahme des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, der Rahmenbedingungen und der Bedingungsfaktoren politische Handlungsempfehlungen entwickelt und im Sommer 2002 präsentiert hat (vgl. Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ 2002). Die Probleme politischer Steuerung, also die Unzulänglichkeiten des öffentlichen Sektors, politische Ziele umzusetzen und gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen, werden nun nicht mehr nur dem Staat oder der Bürokratie zugewiesen, sondern auch der Gesellschaft selbst. Die Einsichten der sozialwissenschaftlichen Steuerungstheorie sind inzwischen so weit in das politische System „eingesickert“ (vgl. Weiss 1977), dass nicht allein die Steuerungsfähigkeit des Staates, sondern auch und zunehmend die Steuerbarkeit gesellschaftlicher Subsysteme problematisiert wird. Gesellschaftliche Subsysteme, so die Erkenntnis, sind eigensinnig und staatlichen Interventionen gegenüber oft resistent, die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme ist ohne die aktive Einbeziehung der gesellschaftlichen Akteure zum Scheitern verurteilt. Damit werden auch theoretische Konzepte der Governance-Diskussion aufgegriffen und in die Reformdiskussion einbezogen (Jann 2002; Jann/Wegrich 2010). 335
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Ein zentrales Problem staatlicher Steuerung wird in der Fragmentierung des öffentlichen Sektors gesehen, die als Folge gesellschaftlicher Differenzierung interpretiert wird, und die daher nicht einfach hierarchisch überwunden werden kann. Es kommt stattdessen darauf an, gesellschaftliche Akteure in die Problembewältigung einzubinden, sie zu motivieren und zu aktivieren, um sie nicht länger von oben herab, top down, zu steuern oder zu versorgen (und damit abhängig zu halten, wie dem klassischen Wohlfahrtsstaat vorgehalten wird). Die neuen Ziele lauten also – neben Effizienz und Dienstleistungsorientierung, die durchaus weiter gelten sollen – Stärkung von sozialer, politischer und administrativer Kohäsion, von politischer und gesellschaftlicher Beteiligung, von bürgerschaftlichem und politischem Engagement. Auf lokaler Ebene wird das Modell der Dienstleistungskommune zu dem der Bürgerkommune weiterentwickelt, auf Landes- und Bundesebene wird versucht, das Konzept des „aktivierenden Staates“ mit Leben zu füllen. Dabei ist unverkennbar, dass die öffentliche Debatte wieder „politischer“ wird. Die ökonomistisch geprägten Probleme, Werte und Lösungen der neunziger Jahre sind nicht vergessen und auch nicht verdrängt, aber sie werden ergänzt und zum Teil überlagert durch eine verstärkt gesellschaftliche und politische Sicht der Probleme staatlicher Modernisierung und Steuerung. Hinter diesen Themenwechseln stehen auch Lernprozesse, nicht nur die Aufmerksamkeitszyklen öffentlicher Debatten und der Versuch der politischen Entlastung. Vor allem auf kommunaler Ebene gerät seit 1998 die Orientierung auf den Bürger in der Gesamtheit seiner Rollen als Kunde, politischer Auftraggeber und Mitgestalter zunehmend in den Blick, und als neue Zielvorstellung taucht die Bürgerkommune ins Blickfeld (z. B. als zentrale Zielvorgabe des Netzwerks „Kommunen der Zukunft“, vgl. auch Plamper 1998, Bogumil 1999, Banner 1999, Bogumil u. a. 2003, Holtkamp/Bogumil/Kißler 2006). Vor allem die Förderung bürgerschaftlichen Engagements im Sinne zivilgesellschaftlicher Mitgestaltung ist nun „in“. Beobachtbar sind zunehmende Versuche, die Bürger (wieder) in die öffentliche Dienstleistungsproduktion einzubeziehen. Hier gibt es insbesondere in kleineren und mittleren Kommunen, aber auch in einigen Großstadtkommunen innovative Praxisbeispiele in den kommunalen Politikfeldern Sport, Freizeit, Schulen, Soziales, Jugend, Kultur, Seniorenarbeit, integrative Stadtteilarbeit und Stadtmarketing. Zu nennen sind neue Formen der Selbstverwaltung durch Bürger und Vereine (Clubhäuser, Schwimmbäder, Sport- und Freizeitanlagen, Senioreneinrichtungen, Sport- und Kulturveranstaltungen), Formen der Selbstorganisation und Selbsthilfe von Vereinen und Initiativen (Selbsthilfegruppen95 in den Bereichen Gesundheit, 95 Zwischen 1985 und 1995 stieg die Zahl der Selbsthilfegruppen in Deutschland von 25.000 auf 60.000 an. Mittlerweile wird sie auf ca. 70.000 bis 100.000 geschätzt. Besonders stark
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Drogenabhängigkeit, Behinderung, Arbeitslosigkeit; Initiativen zur Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität im Bereich Spielanlagen, Sauberkeit, örtliche Sicherheit, Kultur u. a., Durchführung von Sanierungsarbeiten in Schulen und Kindergärten) sowie die Förderung individuellen Engagements (Tauschbörsen nichtmarktlicher Dienstleistungen; Freiwilligenzentren96; Spielplatzpatenschaften, Übernahme von Straßen- und Grünflächenpflegemaßnahmen, vgl. zum Gesamtkomplex und den einzelnen Daten Bogumil/Vogel 1999, Bogumil/Holtkamp 2000, Bogumil/Holtkamp/Schwarz 2003). In der Bürgerkommune soll die Ablösung der traditionellen Innensicht, der Produzentensicht, der Herstellerperspektive zu Gunsten einer Außenorientierung, einer Nutzersicht, einer Verwendungsperspektive im Vordergrund stehen. Nicht die Frage, wie die Verwaltung am einfachsten und am korrektesten verschiedene Leistungen erstellt, sondern die Frage, welchen Nutzen öffentliche Angebote und Leistungen für Kunden und Bürgerschaft haben, soll in den Mittelpunkt der Verwaltungstätigkeit rücken. Dazu gehört neben dem kundengerechten Zugang zu Leistungen und der Beschleunigung und Vereinfachung von Verfahren die stärkere Berücksichtigung von Nutzerinteressen (Bedarfsermittlung) sowie der Ausbau von Bürgerbeteiligungselementen. Letztlich beinhaltet das Leitbild der Bürgerkommune, dass zusätzlich zum erfolgten Ausbau der Kundenorientierung eine notwendige Ergänzung repräsentativer Entscheidungsformen durch Elemente direkter und kooperativer Demokratie erfolgt (vgl. Holtkamp u. a. 2006). Kooperative Demokratie zielt dabei darauf ab, unter den derzeitigen Rahmenbedingungen in Kooperation mit der Kommunalpolitik und -verwaltung die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger auszubauen. Der eigentliche Sinn der kommunalen Selbstverwaltung soll wiederbelebt werden, wenn die Bürger dazu ermutigt werden, sich stärker mit ihrem Wissen und ehrenamtlichen Potenzial einzubringen, um eine bedarfsgerechte und effiziente kommunale Aufgabenerledigung zu gewährleisten und Demokratie vor Ort produktiv mitzugestalten. Allerdings ist der generelle Ausbau bürgerschaftlichen
ist das Wachstum bei Seniorenselbsthilfegruppen, hier stieg die Zahl allein in NRW von 850 im Jahr 1992 auf 2.050 im Jahr 1998. Zudem gibt es zahlreiche Selbsthilfekontaktstellen in Deutschland, die Hilfestellung bei der Gründung von Gruppen leisten, Beratung und Vermittlung von Bürgern vornehmen und Kooperationen mit Politik, Verwaltung und professionellen Stellen aufbauen. 96 Ende der neunziger Jahre gibt es 585 Informations- und Kontaktstellen in Deutschland, also entweder Selbsthilfekontaktstellen, Seniorenbüros oder Freiwilligenzentren. 383 Kommunen haben eine oder mehrere solcher Stellen, das entspricht 25 % der Kommunen über 10.000 Einwohnern und 85 % der Kommunen über 100.000 Einwohner (Braun u. a. 2003, S. 28). 337
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Engagements kein Patentrezept, da dieser bei unzureichender Beteiligungsgestaltung mehr Probleme hervorbringen kann als er löst. Beim Ausbau bürgerschaftlichen Engagements sind daher vor allem drei Empfehlungen zu berücksichtigen (vgl. ausführlich Bogumil/Holtkamp 2002): • Die Beteiligungsangebote müssen an den im Zuge des Wertewandels veränderten Bedürfnissen und Interessen der Bürger ansetzen. Der Hinweis darauf, dass durch die mehr Bürgerengagement die Stadt in einigen Bereichen Haushaltsmittel sparen oder bedarfsgerechter einsetzen kann, motiviert die Bürger allein selten zur Beteiligung. Diese häufig aus Sicht der kommunalen Entscheidungsträger zentralen Argumente müssen durch eine Perspektive „von unten“ ergänzt werden, damit die Beteiligungsangebote von den Bürgern tatsächlich angenommen werden bzw. zu einem nachhaltigen Umgang mit Beteiligungsressourcen führen. Ziel eines nachhaltigen Umgangs ist, dass die Bereitschaft der Bürger, nach der Teilnahme an Beteiligungsangeboten auch zukünftig zu partizipieren, gestärkt werden soll. Dafür muss das Engagement Spaß bzw. subjektiv „Sinn“ machen und Beteiligungsergebnisse müssen hinterher (zumindest zum Teil) auch umgesetzt werden. • Die Beteiligungsangebote sollten darauf abzielen, dass möglichst viele Bevölkerungsgruppen vertreten sind. Werden lediglich die Bürger erreicht, die sich bereits in verschiedenen Institutionen engagieren, bietet man lediglich den bereits weitgehend sozial integrierten und durchsetzungsfähigen Bürgern – also den „üblichen Verdächtigen“ ein zusätzliches Sprachrohr. Will man hingegen die Legitimität des politischen Systems erhöhen, muss man gerade die Bevölkerungsgruppen erreichen, die sich nur wenig am politischen System beteiligen (z. B. durch Planungszellen oder Bürgerpanels, vgl. Klages/Daramus/ Masser 2008). • Zur Gestaltung dieses Prozesses bedarf es eines vorausschauenden Partizipationsmanagements, in dem die kommunalen Entscheidungsträger die Beteiligungsangebote dementsprechend zuschneiden und aktiv unterstützen. Die Umsetzung der Beteiligungsergebnisse wird zu der zentralen Aufgabe der kommunalen Entscheidungsträger. Darüber hinaus sollen die Beteiligungsthemen so zugeschnitten werden, dass die Bürger nicht überfordert werden. Die Beteiligung bezieht sich somit eher auf die kleinräumige Planung, konkrete Projekte oder Mitwirkung in öffentlichen Einrichtungen in den Stadteilen. Grundlegende Konflikte, wie z. B. Standortkonflikte sind dagegen durch kooperative Beteiligungsprozesse nicht lösbar und sollten deshalb möglichst bewusst ausgeklammert werden (dies erklärt auch viele Problemlagen der Beteiligung beim Ausbau der Stromtrassen). Es sollte um das kurzfristig im Konsens auch mit dem Stadtrat Machbare gehen, für das die Mitarbeit interessierter Bürger
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und anderer wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure eingeworben werden kann. Mittlerweile sind einzelne Elemente einer Bürgerkommune in vielen Kommunen realisiert worden, auch wenn dies nicht immer unter dem Label der „Bürgerkommune“ erfolgt ist und auch wenn nicht immer alle Elemente gleichmäßig oder erfolgreich umgesetzt wurden. Der Kern des Reformmodells, dass neben den Bürgern als Kunden des Dienstleistungsunternehmens Stadt, der Bürger als Mitgestalter und als Auftraggeber stärker beteiligt werden sollte, ist weitgehend akzeptiert. Ein exakter empirischer Überblick ist jedoch aufgrund der großen Anzahl an Kommunen nicht verfügbar (zu einzelnen Beteiligungsformen vgl. Holtkamp 2017, S. 167ff, zu den Leistungen, Grenzen und Probleme der Bürgerkommune vgl. Bogumil/Holtkamp 2013, 2019; Klages 2017, Vetter/Remer-Bollow 2017, Roß/Roth 2018). Als neuere Entwicklung kann beobachtet werden, dass viele Kommunen mittlerweile dazu übergehen, dialogorientierte Beteiligungsangebote zu institutionalisieren. Sie entwickeln gemeinsam mit den Bürgern Leitlinien der Bürgerbeteiligung, die die Qualitätsstandards bei den Verfahren festlegen. Über 50 Kommunen haben bereits solche Leitlinien entwickelt, sodass man schon von einem Innovationsschub sprechen kann (Klages 2017). In den meisten dieser Leitlinien oder Satzungen wird geregelt, wie mit Beteiligungsergebnissen umzugehen ist. Die Entscheidungsträger müssen so offenlegen, welche Beteiligungsergebnisse umgesetzt werden und warum andere nicht realisiert wurden (Vetter/Remer-Bollow 2017, S. 120). Dadurch dürfte der Anreiz für die Entscheidungsträger erhöht werden, zumindest einige Beteiligungsergebnisse umzusetzen, um nicht vor den Bürgern mit leeren Händen da zu stehen. Zu häufig war Bürgerbeteiligung zuvor als symbolische Politik angelegt. Die Institutionalisierung durch Leitlinien und Satzungen ist eine plausible Antwort und wird zu Recht als Weiterentwicklung der Bürgerkommune eingeordnet (Roß/ Roth 2018, S. 255). Die ersten Berichte zur Umsetzung der Leitlinien für Bürgerbeteiligung zeigen, dass diese durchaus zu einer verbindlicheren Umsetzung der Bürgerkommune beitragen können. Allerdings sollte man die Beteiligungsbereitschaft der Bürger und die Bekanntheit der Leitlinien nicht überschätzen (Hornig/Baumann 2017). Zudem wird gerade für größere Kommunalverwaltungen auf den Ressortegoismus der Fachverwaltungen hingewiesen, die die Kontrolle über Beteiligungsverfahren nicht abgeben wollen (Klages 2017, S. 195). Als weiteres Problem stellt sich die starke Parteipolitisierung in der großstädtischen Kommunalpolitik dar, die abschreckend auf engagierte Bürger wirken kann und einen gemeinsamen Konsens über die Umsetzung der Leitlinien erheblich erschwert (Hornig/ Baumann 2017, S. 48ff.). Inwieweit die Selbstbindung der kommunalen Entscheidungsträger über Leitlinien 339
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tatsächlich auch bei konfliktreichen Entscheidungen greift, oder ob in diesen Fällen Mehrheitsfraktionen und Amtsleiter nicht eher auf Beteiligung oder die Umsetzung der Beteiligungsergebnisse verzichten, wird sich erst zukünftig erweisen müssen. Resümiert man die Reformbemühungen in diesem Bereich, so zeigt, sich dass sich Bürger- und Kundenorientierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland in den letzten 30 Jahren deutlich verbessert hat. Gleichzeitig sind die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger vor allem auf kommunaler Ebene gestiegen. Allerdings sind die kommunalen Handlungsspielräume in dieser Zeit z. T. gesunken, so dass mitunter von einer „Demokratisierung von Machtlosigkeit“ gesprochen wird.
5.2.6 Bürokratieabbau und bessere Rechtssetzung Schon von der rot-grünen Koalition wurden nach 2002 die Aktivitäten im Bereich Bürokratieabbau neu aufgegriffen und aufgestellt. Hintergrund war dabei sicherlich auch, dass die verschiedenen staatlichen Modernisierungsbemühungen, insbesondere in Verbindung mit Outsourcing und Privatisierung, zumindest in den Augen einiger Beobachter einen Bedarf an Re-Regulierungen mit sich bringen und daher in die Richtung eines neuen „regulatory state“ weisen (Majone 1997). Gerade die OECD und die EU beschäftigen sich daher seit dieser Zeit intensiv mit dem Bereich „better regulation“. Die EU hatte dazu eine Kommission eingesetzt, die einen umfangreichen Bericht herausgegeben hat (nach dem Vorsitzenden „Mandelkern Bericht“ genannt, BMI 2002), und auch die OECD propagiert diesen Ansatz seit Jahren (OECD 2003). Zunächst wurden die Bemühungen um „Gesetzesfolgenabschätzung“ noch einmal verstärkt (Böhret/Konzendorf 2002), und die Große Koalition nach 2005 machte sich dann genau diese allgemeinen Aspekte der besseren Regulierung zu eigen. 2006 etablierte sie nach niederländischem Vorbild die Institutionalisierung eines unabhängigen Gremiums zur Bürokratiekostenmessung und -reduktion (Nationaler Normenkontrollrat, NKR) sowie die Übernahme des auch in den Niederlanden entwickelten Standardkosten-Modells (SKM)97 zur Messung der administrativen Belastungen (vgl. Jann/Jantz 2008, NKR 2016a, 2019a, Jantz/Veit 97 Bürokratiekosten werden im SKM definiert als diejenigen Kosten, welche Unternehmen durch auf staatliche Regulierungen zurückzuführende Informationspflichten (z. B. das Ausfüllen von Anträgen oder das Führen von Statistiken) entstehen. Um diese Kosten zu errechnen, befragt man Unternehmen zum mit der Erfüllung staatlicher Informationsanforderungen verbundenen Zeit- und Kostenaufwand. Die Daten werden anschließend mit den Personalkosten, der Häufigkeit der Erfüllung und der Anzahl der betroffenen Unternehmen multipliziert. Am Ende steht eine monetäre Angabe zu den mit einer Rechtsvorschrift verbundenen Bürokratiekosten (vgl. Jantz/Veit 2019, S. 515).
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2019, Schurig 2020, Kuhlmann/Veit 2020). Mit der Gründung des NKR wurden Maßnahmen der besseren Rechtssetzung stärker institutionalisiert. Zwar wurde eine integrierte GFA schon im Jahr 2000 erstmalig in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) formal verankert, aber die wesentlichen Maßnahmen im Bereich der besseren Rechtssetzung hängen eng mit dem NKR und seiner Entwicklung zusammen (Bürokratiekostenabschätzung 2006, Messung des Erfüllungsaufwandes 2011, „One in – one out“ Regelung 2015). Mit der Einführung des NKR als ein beim Bundeskanzleramt angesiedeltes unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung im Jahr 2006 wurde zunächst die Ex-ante Bürokratiekostenmessung etabliert. Die zu erwartenden Bürokratiekosten neuer Bundesgesetze für Unternehmen, Bürger und die Verwaltung müssen seitdem im Rahmen der GFA abgeschätzt und auf dem Gesetzesvorblatt dokumentiert werden. Ziel war die Reduktion von 25 % der Bürokratiekosten bis 2012, welches erreicht werden konnte. Seitdem sind die Bürokratiekosten nach Angaben des Bürokratiekosten-Indexes (BKI) des Statistischen Bundesamtes nur minimal (um weniger als 1 %) verringert worden (Jantz/Veit 2019, S. 517). Seit 2011 müssen nicht nur die Kosten aus Informationspflichten ermittelt werden, sondern auch die Kosten für inhaltliche Pflichten und Veränderungen als so genannter Erfüllungsaufwand eines Gesetzes. Zudem werden nicht nur die Kosten für Unternehmen, sondern auch für Bürger und Verwaltungen erfasst. Der Erfüllungsaufwand umfasst den messbaren Zeitaufwand und die Kosten, die durch die Befolgung einer bundesrechtlichen Vorschrift bei Bürgern, Unternehmen sowie der öffentlichen Verwaltung entstehen. Sowohl die Darstellung der Informationskosten wie des Erfüllungsaufwands werden von den Ressorts vorgenommen und werden vom NKR nur auf Plausibilität geprüft.98 Die informelle Beratungspraxis des NKR im Bereich der Gesetzgebung umfasst die Arbeits- und die politische Ebene und erstreckt sich über drei Eskalationsstufen: Wenn das Ratssekretariat nach eigener Einschätzung die übermittelten Daten anzweifelt oder eine aufwandsärmere Lösungsalternative erkennen kann, bemüht 98 Die Ermittlung des Erfüllungsaufwands erfolgt nach demselben Prinzip wie die Ermittlung der Bürokratiekosten: Es werden zunächst die Vorgaben identifiziert, die mit einem Regelungsvorhaben neu eingeführt, geändert oder abgeschafft werden. Dann wird für jede Verpflichtung ermittelt, wie hoch die Änderung des Aufwands im Einzelfall ist und wie häufig diese Verpflichtung pro Jahr erfüllt werden muss. Dabei wird zwischen einmaligem Umstellungsaufwand und jährlichem Aufwand unterschieden. Die Kostenfolgen des Einzelfalls werden mit der zu erwartenden jährlichen Fallzahl hochgerechnet. Bundesregierung, NKR und Statistisches Bundesamt haben einen Leitfaden erarbeitet, der die Ermittlung des Erfüllungsaufwands anhand von Praxisbeispielen erläutert und festlegt (vgl. NKR 2016a). 341
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es sich zunächst, den Rechtsetzungsreferenten und seinen Referatsleiter von einer Änderung am Regelungsentwurf zu überzeugen. Bleibt der Erfolg aus, beteiligt das Sekretariat den Berichterstatter oder den Vorsitzenden des NKR, die dann mit dem zuständigen Abteilungsleiter oder Staatssekretär ins Gespräch eintreten. In seltenen Fällen, wo auch hier keine Einigung erzielt wird, bezieht der Ratsvorsitzende den Minister in die Verhandlung ein (vgl. Schurig 2020, S. 56). Schließlich kann der NKR eine eigene Stellungnahme zur Kabinettsvorlage vorlegen. In seinem jährlichen Bericht führt der NKR den von der gesamten Bundesregierung erzeugten jährlichen Erfüllungsaufwand auf und geht dabei auf die Entwicklung im Berichtszeitraum und seit Beginn der Schätzung des Erfüllungsaufwands im Jahr 2011 ein. Insgesamt setzt der NKR auf eine kooperative Zusammenarbeit mit den Ressorts. Es wird versucht Kabinettsbefassungen mit unterschiedlichen Ansichten über eine Gesetzesfolgenabschätzung möglichst zu vermeiden. Stattdessen wird versucht auf Arbeitsebene bereits im Rohentwurfsstadium in die Gesetzvorhaben eingebunden zu werden und Einfluss auf die Gesetzesfolgenabschätzung oder den Regelungsentwurf selbst zu nehmen. Im Prinzip ist der NKR daher ähnlich wie die Ressorts in die Vorabstimmung der Gesetzesvorhaben eingebunden. So werden im Gespräch mit dem NKR die verantwortlichen Referenten und letztendlich die Kabinettsmitglieder in die Lage versetzt, eine bevorstehende negative Stellungnahme des NKR zu verhindern. Dies stärkt die Arbeit des NKR, denn nur so können die Ressorts kabinettsinterne, parlamentarische oder öffentliche Kritik abwenden. Sehr problematisch an den jetzigen Regelungen zum Erfüllungsauswand ist aber, dass das Praxiswissen von Ländern und Kommunen zu wenig in die Gestaltung gesetzlicher Regelungen auf Bundesebene einbezogen wird, obwohl dort – und nicht auf der Bundesebene – Gesetze den Praxistest bestehen müssen. Der NKR hat ein Verfahren entwickelt, um diese Lücke zu schließen, allerdings wird dies vom Bund bisher nicht genutzt (NKR 2019a, S. 6). Mit Sachsen (2016) und Baden-Württemberg (2018) haben zwei Bundesländer einen eigenen NKR für die Landesebene gegründet, welche sich allerdings nur mit Landesgesetzen befassen, wodurch das Problem der Praxisferne mancher Bundesgesetzgebung nicht gelindert wird. 2015 wurde ergänzend zu den bisherigen Regelungen als weiterer Schritt das Prinzip „One-in – one-out“ etabliert. Es soll dafür sorgen, dass Belastungen durch neue Gesetzesvorhaben durch Entlastungen in gleicher Höhe kompensiert werden müssen. Durch den „One-in-one-out“-Monitor soll versucht werden, dass ein Mehr an jährlichem Erfüllungsaufwand transparent und spätestens bis zum Ende einer Legislaturperiode durch eine Entlastung in gleicher Höhe ausgeglichen wird. Trotz positiver „One in – one out“- Bilanz sind nach Ansicht des NKR die Unternehmen unzufrieden, da fast die Hälfte des Erfüllungsaufwands aus Umsetzung von EU-
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Recht resultiert (NKR 2019a, S. 7). Der NKR fordert daher die Einführung einer europäischen „One in – one out“-Regelung. 2013 wurde zudem per Kabinettsbeschluss eine systematische Ex-Post-Evaluation für Bundesgesetze mit Folgekosten ab einer Million Euro nach spätestens fünf Jahren beschlossen. Bis 2022 wären danach mehr als 200 Evaluationsberichte zu erwarten. Allerdings mangelt es nach Einschätzung des NKR dabei an verbindlichen Standards und einer wirksamen Qualitätssicherung und auch an Schlussfolgerungen, wie die Wirksamkeit der Gesetze verbessert werden kann. Sollte die Bundesregierung hier nicht schnell verbindliche Standards einführen, könnte dieses wichtige Überprüfungsverfahren ins Leere laufen (NKR 2019a, S. 7, vgl. auch Grohs/Piesker 2019). Insgesamt kann die Etablierung des NKR und ihre zunehmende Aufgabenanreicherung durchaus als „Erfolgsgeschichte“ gewertet werden.99 Zweifellos ist das Bewusstsein über Normensetzung und seine Folgen in der Bundesverwaltung durch den Zwang, diesen Aufwand zu ermitteln und zumindest gegenüber dem NKR zu rechtfertigen, deutlich verstärkt worden. Dennoch hat der NKR kein Vetorecht. Wenn Gesetzesvorlagen politisch erwünscht sind und zudem häufig nach Kompromissen in Koalitionsrunden oder im Vermittlungsausschuss entstehen (wie zuletzt die Klimaschutzgesetze), werden Fristen so stark verkürzt, dass komplexe Regelungen nicht mehr geprüft werden können (vgl. hierzu NKR 2019a, S. 6). Politische Verhandlungspakete haben zudem die Besonderheit, dass sie im Nachhinein kaum noch verändert werden, auch wenn die bürokratischen Kosten hoch sind. Während auf dem Feld der Ex-Ante-Erfassung des Erfüllungsaufwandes und durch die „One-in-one-out“ Regelung deutliche Fortschritte erzielt wurden, verläuft die Identifizierung von Bürokratieabbaumaßnahmen in bereits bestehenden Rechtsvorschriften nach wie vor schleppend (Jantz/Veit 2019, S. 517). Konkrete Abbaumaßnahmen stoßen immer auf den Widerstand derjenigen Akteure, die von den betreffenden Regulierungen profitieren, so dass nur wenig neue Abbaumaßnahmen tatsächlich durchgesetzt werden. Um dies zu erklären, kommen wir wieder auf einen Grundkonflikt zurück, die Konkurrenz zwischen sektor-spezifischen Interessen und Befürwortern bestimmter Regulierungen, und den eher allgemeinen, generellen Interessen und Befürwortern von weniger Staat und weniger Regulierung (ausführlich Jann/Wegrich 2008, dies. 2019). Dieser Gegensatz zwischen „Spezialisten“ 99 Hinzu kommt, dass der NKR seine Beratungskapazitäten auch in anderen Bereichen der besseren Rechtssetzung nutzt. So widmet er sich seit 2015 vor allem dem Bürokratieabbau durch ein wirksames E-Government. Seine Untersuchung zum Stand der Digitalisierung in der deutschen Verwaltung erzeugen regelmäßig ein breites Medieninteresse und dienen auch innerhalb der Bundesregierung als Orientierungsgrundlage zur Bewertung des Status Quo. Seit 2018 veröffentlicht der Rat einen halbjährlichen Monitor Digitale Verwaltung (NKR 2019b). 343
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und „Generalisten“ ist bekannt aus der Debatte über Haushaltskonsolidierung und Subventionsabbau (weniger Staat), wo bekanntlich Haushalts- und Subventionskürzungen sich generell großer Beliebtheit erfreuen, allerdings erbittert bekämpft werden, wenn konkrete Besitzstände angegriffen werden. Spezialisten Vertreter spezieller • Interessen • Sektoren • Regionen
Generalisten Vertreter • „allgemeiner Interessen“ • „Beraterinteressen“ (z. B. Forschungsinstitute, Beratungsfirmen, Wissenschaft)
Administrative Akteure: • Regulatoren, • Kontrolleure, • Implementeure
• Fachbehörden • Agencies
• Querschnittsbehörden (Regierungszentralen, Finanz ministerien)
Politische Akteure: • Promotoren • Interessenvertreter • politische Entrepreneure
• Fachpolitiker • Fachausschüsse
• Querschnittspolitiker • Haushaltsausschuss
Unterstützung durch Interessen • -artikulation, • -mobilisierung und • -vertretung
• • • •
konzentriert organisiert mobilisiert geringe Transaktionskosten • geringe Kollektivgut probleme
• • • • •
Expertise
• hoch • detailliert • politikfeldspezifisch
• breit • allgemein • politikfeldübergreifend
Gesellschaftliche Akteure: • Produzenten • Konsumenten • Klienten, • Adressaten
diffus kaum organisiert schwer zu mobilisieren hohe Transaktionskosten Kollektivgutproblematik
Abb. 63 Spezialisten-Generalisten Quelle: Jann/Wegrich 2008
Die Annahme ist, dass einfache und beliebte „mono-kausale“ Erklärungen für Bürokratisierung und Regulierung, also etwa der Rückgriff auf die Eigeninteressen der Bürokraten (Regulierungsmaximierer im Sinne der Budgetmaximierer) oder der Politiker (kurzfristige Stimmenmaximierer und damit Regulierungsmaximierer) die Probleme des Bürokratieabbaus nicht hinreichend erklären. Stattdessen ist davon auszugehen, dass sich bestehende Regulierungen in politischen Entscheidungsprozess
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durchgesetzt haben, weil Handlungsdruck auf das politisch-administrative Entscheidungssystem ausgeübt wurde, insbesondere durch Akteure mit spezifischen und substantiellen Interessen im jeweiligen Bereich (die „Spezialisten“). Entsprechende Akteure finden sich auf gesellschaftlicher Ebene (Interessengruppen), aber auch auf administrativer (Fachbehörden) und politischer Ebene (Fachpolitiker). Diese Fachkoalitionen lassen sich im Fall eines drohendes „Verlustes“ von Regulierungen, Aufgaben oder Organisationen relativ leicht zu „Anti-Terminierungskoalitionen“ mobilisieren (Wegrich u. a. 2005). Demgegenüber ist Unterstützung für generelle Anliegen wie Bürokratieabbau oder Haushaltskonsolidierung diffus, kaum organisiert und schwer zu mobilisieren. Bürokratiekritische „Generalisten“ (etwa im Finanzministerium oder der Regierungszentrale) sind den sektorspezifischen „Spezialisten“ (in den Fachressorts, Fachausschüssen und Interessengruppen) in der Definition und Veränderung staatlicher Policies und Regulierungen daher systematisch unterlegen. Die Hoffnung und Erwartung, dass Instrumente einer „besseren Rechtsetzung“, wie beispielsweise umfangreiche Gesetzesfolgenabschätzungen, Evaluationen, abstrakte Qualitätskriterien „guter Regulierung“ etc., vor oder jenseits der politischen Auseinandersetzung wirken (also dort, wo angeblich „vernünftige Sachexperten“ mit der Angelegenheit befasst sind und nicht interessengeleitete Politiker), ist eine gefährliche technokratische Illusion, die die Realitäten des demokratischen politischen Prozesses missachtet. Über die Notwendigkeit und den Umfang staatlicher Regulierung wird politisch entschieden, wie denn sonst? Dabei relevante Instrumente müssen daher dahingehend durchdacht und eingesetzt werden, wie sie den politischen Prozess beeinflussen und wie sie in der Interaktion zwischen politischen Akteuren wirken. Genau dies kann als eine Stärke des NKR angesehen werden. Die bestehenden Verfahren bieten Generalisten und Regulierungsskeptikern eine Chance einer argumentativen und politischen Aufrüstung gegenüber den Spezialisten und Regulierungsbefürwortern. Anstatt sich über den immer unsicheren und schwer zu quantifizierenden Nutzen einer Regulierung zu streiten (hier sind die Spezialisten regelmäßig überlegen), wird eine entsprechende Auseinandersetzung an den administrativen Lasten aufgehängt und somit eine Abwägung zwischen politischer Notwendigkeit der Regulierung und den damit verbundenen direkten Belastungen ermöglicht. Dass man sich damit nicht immer im Sinne der besseren Rechtssetzung durchsetzt, ist offensichtlich, aber zumindest gibt es eine institutionalisierte Möglichkeit, diese Aspekte mehr und mehr ins Bewusstsein des Gesetzgebers zu rücken.
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5.2.7 Neue Verwaltungsstrukturreformen 5.2.7.1 Reformmodelle Die Diskussion um die Reform der Verwaltungsstrukturen und -verfahren in den Bundesländern hat eine lange Tradition (siehe Kap. 5.2.2). Seit der Nachkriegszeit gab es immer wieder Ansätze und Vorstöße, den hergebrachten Verwaltungsaufbau zu ändern, zu optimieren und effizienter zu gestalten, allerdings, mit Ausnahme der kommunalen Gebietsreform in den sechziger und siebziger Jahren so gut wie nie mit durchgreifendem Erfolg (vgl. Ellwein 1994). Deshalb überraschen die seit Anfang des 21. Jahrhunderts tatsächlich realisierten Reformmaßnahmen mit ihrem Ausmaß und der Intensität der Veränderungen. Alle Länder bemühen sich – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Instrumenten – zu einer Konzentration und Straffung der unmittelbaren staatlichen Verwaltung zu kommen. Ansätze sind der Abbau von Doppelstrukturen aus Sonderbehörden und Mittelinstanz, Kommunalisierungen, Privatisierungen und der Abbau bürokratischer Normen. Die Reformwelle erreichte 2005 mit den Reformen in Baden-Württemberg (vgl. Bogumil/Ebinger 2005) und Niedersachsen (Bogumil/Kottmann 2006) ihren ersten Höhepunkt und zog danach in Form von Territorialreformen, Verwaltungsstrukturreformen und Funktionalreformen ihre Kreise in der Mehrheit der bundesdeutschen Flächenstaaten (vgl. Bogumil/Reichard/Siebart 2004, Hesse/Götz 2003, 2004, zur Umweltverwaltung Bauer u. a. 2007, Benz/Suck 2007, SRU 2007, Bogumil 2016, Ebinger/Bogumil 2016, Bogumil/Ebinger 2019, Kuhlmann u. a. 2018). All diese Bemühungen werden häufig unter dem Sammelbegriff Verwaltungsstrukturreformen in einem weiten Sinne subsumiert. Analytisch muss zwischen drei Reformansätzen unterschieden werden: Der Funktionalreform, der eigentlichen Verwaltungsstrukturreform und der Territorialreform. Als Funktionalreform (Zuständigkeitsreform) wird die Neuzuordnung von Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen den bestehenden Verwaltungseinheiten bezeichnet. Findet hierbei eine vertikale Aufgabenübertragung auf eine andere Verwaltungsebene, d. h. zwischen Bund, Ländern und Kommunen statt, spricht man von einer Zentralisierung respektive Dezentralisierung. Werden Zuständigkeiten innerhalb einer Verwaltungsebene, d. h. horizontal, verschoben, so liegt eine Konzentration oder Dekonzentration vor. Unter einer Verwaltungsstrukturreform im engeren Sinne versteht man Reformansätze, die eine Neuordnung des Verwaltungsaufbaus selbst, d. h. die physische Auflösung, Zusammenlegung oder Neuschaffung von Verwaltungseinheiten vorsehen. Als Territorialreform (Gebietsreform) wird schließlich eine Veränderung des territorialen Zuschnitts von gebietsbezogenen Verwaltungseinheiten wie Gebietskörperschaften (Gemeinden und Kreise) oder staatlichen Regierungsbezirken bezeichnet.
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Der Grund für diese intensive Reformtätigkeit liegt zumindest den Verlautbarungen der Regierungen nach in der prekären Situation der Länderhaushalte. Der hohe Druck durch explodierende Pensionslasten, demographische Entwicklung, Schuldenbremse und Auslaufen des Solidarpakts II (in Ostdeutschland) eröffnet den Regierungen ein Möglichkeitsfenster, um Reformen ihrer Apparate durchzusetzen. Weitere Gründe sind ideologischer oder politischer Natur und zielen auf die Schwächung oder Auflösung als schlecht zu steuernd angesehener Verwaltungseinheiten oder Ebenen, insb. nach Regierungswechseln. Darüber hinaus erwiesen sich Verwaltungsreformen als verhältnismäßig dankbares Feld, um dem Wahlvolk Tatkraft und Durchsetzungsfähigkeit zu demonstrieren (vgl. Ebinger/ Bogumil 2016). In dieser Fokussierung liegt ein gravierender Unterschied zu den früheren Reformprojekten: Es wird nicht mehr die Optimierung in funktionaler, sondern vor allem jene in fiskalischer oder machtpolitischer Hinsicht angestrebt. Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland ein Mischsystem aus Gebiets- und Aufgabenorganisationsmodell existiert, ursprünglich mit dem Vorrang der Gebietsorganisation, in dem Sinne, dass „nach Möglichkeit der größere Teil der öffentlichen Aufgaben vor Ort und auch noch auf der mittleren Ebene gebündelt (wird d. V.), es aber für bestimmte Aufgaben eine spezielle Organisation (gibt)“ (Ellwein 1994, S. 166, (vgl. Kap. 3.2.5), greift die neue inhaltliche Debatte um die Ausrichtung der Verwaltungsstrukturreformen alte verwaltungspolitische Diskussionen wieder auf: Sollen Fachaufgaben in Sonderbehörden oder in der allgemeinen Verwaltung vollzogen werden? Benötigt man staatliche Mittelinstanzen? Wie weit kann die Kommunalisierung von Aufgaben gehen und welche Gebietsgrößen empfehlen sich auf kommunaler Ebene? Im Zentrum der Reformbemühungen stehen häufig die allgemeinen Mittelinstanzen, d. h. die Regierungspräsidien und Bezirksregierungen, sowie in Ostdeutschland die dortigen Gebietsstrukturen auf der Ebene der Kreise und der Gemeinden (vgl. hierzu und im Folgenden Bogumil/Ebinger 2019). Bei aller föderaler Unübersichtlichkeit lassen sich in den 13 Flächenländern zwei Reformmodelle unterscheiden, die Konsequente Zweistufigkeit und die Konzentrierte Dreistufigkeit (vgl. auch Abb. 22). Die Bundesländer unterscheiden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer Ausgangslage, insb. bezüglich des Konsolidierungsgrades der Gemeinde- und Kreisebene, sondern orientieren sich auch in unterschiedlich starkem Ausmaß an den Modellen. • Die Länder mit einer zweistufigen Verwaltung ohne allgemeine Mittelinstanz versuchen die durch das Fehlen der Mittelinstanzen in stärkerem Ausmaß vorhandenen Sonderbehörden durch Zusammenführung (Konzentration) oder Umwandlung in Landesbetriebe zu reduzieren. Zudem wird eine Rückführung des Umfangs der unteren Landesverwaltung angestrebt. Dies geschieht durch 347
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ihre Integration in obere Landesbehörden oder indem Aufgaben auf Kommunen und Kreise verlagert werden. Im Bereich der Gebietsstrukturen hat Mecklenburg-Vorpommern zudem ein Modell von großflächigen Kreisen eingeführt. • In den Bundesländern mit einer dreistufigen Verwaltung. wird versucht eine weitgehende Konzentration staatlicher Aufgabenwahrnehmung auf der Mittelebene (staatliche Bündelung) vorzunehmen, indem insbesondere die Aufgaben der unteren Landesbehörden hierhin verlagert – oder (auch in Abhängigkeit von den Gebietsstrukturen) kommunalisiert werden. Durch diese Integration ist häufig sogar ein Aufgabenzuwachs auf der Mittelebene zu beobachten (z. B. in Baden-Württemberg). Trotz auf den ersten Blick sehr ähnlicher Umsetzungsstrategien lassen sich faktisch nur wenige Überschneidungen bei der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der Reformkonzepte, d. h. der Anlagerung von Aufgaben im Verwaltungsgefüge, beobachten. Selbst Regierungskoalitionen mit identischer Parteienkonstellation wie Baden-Württemberg und Niedersachsen folgten keiner einheitlichen Linie und führten oft sich widersprechende Argumente für die Anlagerung von Zuständigkeiten ins Feld. Ob bestimmte Aufgaben von der Landesverwaltung oder den Kommunen erledigt werden, ob sie in den Aufgabenbereich einer Landesoberbehörde, der Mittelinstanz, von staatlichen unteren Sonderbehörden, eines Landesbetriebs oder gar Dritten fallen, erscheint fast willkürlich. Es gibt wenig Einigkeit über optimale funktionale Lösungen. Stattdessen ist offensichtlich, dass landesspezifische Eigenheiten wie die politische Positionierung der jeweils amtierenden Regierungen, die Reputation einzelner Verwaltungsebenen, Akteurskonstellationen und Pfadabhängigkeiten in der Verwaltungsorganisation eine wesentliche Rolle spielen (vgl. ausführlich Ebinger/Bogumil 2016). Bei der Umsetzung der Reformmaßnahmen gehen die Länder sehr unterschiedlich vor. So können Bayern, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, das Saarland und Thüringen aufgrund des geringen Umfangs oder der behutsamen Entwicklung und Umsetzung der Reformschritte eher als „inkrementalistische Reformer“ bezeichnet werden. Baden-Württemberg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, NRW, Sachsen und Sachsen-Anhalt hingegen verfolgen tendenziell die Strategie eines „großen Wurfes“, versuchen also (mit unterschiedlichem Erfolg) gegen starken Widerstand in wenigen Schritten große Reformpakete durchzusetzen.100 100 So wurde z. B. in Baden-Württemberg noch während der Regierungszeit von Ministerpräsident Erwin Teufel beschlossen, zum 1.1.2005 350 Sonderbehörden abzubauen, zusammenzulegen oder in die allgemeine Verwaltung einzugliedern. Von den Maßnahmen waren ca. 20.000 Beschäftigte betroffen. In der Regel wurden die oberen Sonderbehörden
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Betrachtet man die letztgenannte Gruppe der Länder, welche die Strategie eines großen Wurfes verfolgten, so zeigen sich trotz unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung große Ähnlichkeiten in der Umsetzungsstrategie. Sie kann als „Verwaltungspolitik mit unechter Aufgabenkritik“ bezeichnet werden und setzt auf eine Verbindung von politischen Strukturentscheidungen mit massiver (Personal-)Kostenreduktion ohne echte Aufgabenkritik. Dabei eignet sich die Politik die Entscheidung über die Grobkonzeption der Reformen wieder an und überlässt diese nicht mehr wie jahrzehntelang üblich der Ministerialbürokratie selbst. Die außerhalb der Verwaltung in politischen Gremien erstellte Blaupause der Reform wird mit festen Einsparzielen verbunden und dann unter hohem Druck umgesetzt. Die politisch vorgegebenen Eckpunkte der Reform werden als monolithische, nicht zu diskutierende Reformpakete dargestellt und entsprechend vermarktet. Mit dem Argument, dass die Reform nur als ganze umgesetzt und Ausnahmen nicht gemacht werden können, entziehen sich die Regierungen der bei inkrementalistischen Reformen üblichen, aufreibenden Kompromisssuche auf fachlicher Ebene. Die früher verfolgte und intuitiv „richtige“ Reihenfolge einer Verwaltungsreform wird auf den Kopf gestellt: Statt zuerst mit der Verwaltung eine Aufgabenkritik durchzuführen, dann eine entsprechende Funktionalreform, d. h. die Neuverteilung von Zuständigkeiten zu entwickeln und schließlich eine differenzierte und an die neuen Aufgaben optimal angepasste Strukturreform durchzuführen wird nun das grundlegende Strukturkonzept dogmatisch als Wert an sich durchgesetzt. Die Funktionalität der Strukturen ist dabei nachrangig. Nach den politischen Grundsatzentscheidungen werden die betroffenen Verwaltungseinrichtungen jeweils selbst beauftragt, zeitnah Vorschläge für die Umsetzung dieser Maßnahmen vorzulegen. Dies beinhaltet, dass die Ressorts dann eine Aufgabenkritik vornehmen und ein Konzept zur Implementierung der politischen Leitlinien entwickeln müssen. Hierbei muss die Verwaltung dafür sorgen, dass in den neuen, oft wenig adäquaten Strukturen ein zumindest halbwegs funktionaler Vollzug möglich wird. Dieses politische Vor-
in die allgemeinen Mittelinstanzen und die unteren Sonderbehörden in die Kommunen verlagert, so dass man sich hier eindeutig am Prinzip der konzentrierten Dreistufigkeit orientierte. In Niedersachen ist mit dem Regierungsantritt von Ministerpräsident Wulff der genau entgegengesetzte Weg gegangen worden, indem die Auflösung der fünf Bezirksregierungen und die Verteilung ihrer Aufgaben auf Ministerien, Sonderbehörden und Kommunen beschlossen wurde, eine klare und für ein Flächenland völlig neue Ausrichtung an der Zweistufigkeit. In Nordrhein-Westfalen ließen sich die weitreichenden Pläne zur Umwandlung von Bezirksregierungen und Landschaftsverbänden in Regionalverwaltungen bzw. zur Reduzierung der Zahl der Bezirksregierungen nicht durchsetzen. In Mecklenburg-Vorpommern scheiterte der erste Reformanlauf 2007 am Landesverfassungsgericht. 349
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gehen wird als „unechte Aufgabenkritik“ bezeichnet, da der Prozess nicht offen, sondern bereits vorab sowohl die zukünftigen Verwaltungsstrukturen als auch die zu erwirtschaftenden Einsparungen vorgibt (vgl. Bogumil/Ebinger 2008a).101 Entscheidend für die Ausrichtung einer solchen Strategie sind landesspezifische strategische Bündnisse, wobei Parteipolitik diese nicht erklärt. So folgten die jeweils CDU-geführten Regierungen in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen zwischen 2005 und 2008 keiner einheitlichen Linie, sondern realisierten stark abweichende inhaltliche Konzepte (Stärkung der Mittelebene in Baden-Württemberg, ihre weitgehende Ausklammerung in Nordrhein-Westfalen, ihre langfristige Zusammenfassung in Sachsen, ihre Abschaffung in Niedersachen).
5.2.7.2 Wirkungen der Reformmaßnamen Im Folgenden werden vorliegende empirische Erkenntnisse bezüglich der Abschaffung der staatlichen Mittelinstanzen, der Kommunalisierung staatlicher Aufgaben und der Auswirkungen von Gebietsreformen zusammengefasst. Die Abschaffung der staatlichen Mittelinstanzen in einem Flächenland wie Niedersachsen führt zumindest bei Beibehaltung der bestehenden kleingliedrigen Kreisstruktur zu beträchtlichen Problemlagen (vgl. bspw. Bogumil/Kottmann 2006, S. 19ff; Bogumil/Grohs/Seuberlich 2018). Prinzipiell gibt es zwar immer mehrere Möglichkeiten der Organisation von Verwaltungsstrukturen. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen gab es in Wissenschaft und Praxis eine große Übereinstimmung, dass sich für die großen Flächenländer das Prinzip der konzentrierten Dreistufigkeit als die angemessene Organisationsform bewährt habe. Im Rahmen der konzentrierten Dreistufigkeit wird mehr Wert auf Bündelung von Fachsträngen und Zuständigkeiten sowie auf die Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung gelegt (horizontale Konzentration). Die ebenfalls notwendige Verrin-
101 Normalerweise erarbeiten die einzelnen Verwaltungen aus Eigeninteresse in einer solchen Situation Hinweise, warum fachliche Belange die geplanten Reformmaßnahmen nicht zulassen. Dies wird hier durch gezieltes und institutionell abgesichertes Prozessmanagement (klare Aufgabenzuteilung und Verflechtung von Controllinginstanzen) verhindert. So werden prinzipiell nur Vorschläge akzeptiert, die auf der Linie des Gesamtpaketes liegen, egal ob sie inhaltlich angemessen sind oder nicht. Indem den Verwaltungen innerhalb der generellen Leitlinien keine weiteren inhaltlichen Details vorgegeben werden, wird die Aufgabe der Entwicklung des Feinkonzepts den Ressorts selbst übertragen. Dies sichert eine fachgerechtere Implementation und verlagert schwierige Aushandlungsprozesse wie auch die Verantwortung für die Funktionalität der gefundenen Lösungen von der Politik auf die Verwaltung.
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gerung von Instanzen und Verflechtungen (vertikale Konzentration) steht etwas hinter diesen Zielen zurück. Die bisherigen Erfahrungen in Niedersachsen seit der Abschaffung der Bezirksregierungen bestätigen diese Erkenntnis. Zwar konnten vertikale „Doppelstrukturen“ mit der Auflösung der Mittelinstanz abgebaut werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nun weniger Behörden an einem einzelnen Verfahren beteiligt wären. So zeigt das Beispiel der Gewässerverwaltung, dass eine fast identische Zahl an Behörden und Verwaltungseinheiten mit den Verfahren befasst sind und faktisch die Dreistufigkeit weiterhin besteht. Für Bürger und Unternehmen ist mit der Fragmentierung der Zuständigkeiten auf zahlreiche Institutionen (Sonderbehörden, Landesbetriebe, Kommunen bzw. kommunale Spitzenverbände, Banken, Kammern, Private) die Nachvollziehbarkeit der Zuständigkeiten jedoch eher gesunken. Durch die fehlende Bündelungs- und Koordinationsfunktion der Mittelbehörden wird eine deutliche Fragmentierung des Verwaltungshandelns nach Ressortegoismen und in staatliche und kommunale Verwaltung sichtbar. Mit Wegfall der Bezirksregierungen wuchs die Bedeutung staatlicher Sonderverwaltungen. Für das Funktionieren der Verwaltung war der weitgehende Verzicht auf eine Bündelungs- und Koordinierungsinstanz sicherlich abträglich. Die Ressorts haben nun über die ‚Fachschiene‘ zwar unmittelbaren Zugriff auf ihre Sonderverwaltungen, die ‚Gesamtschau‘ über alle Ressorts hinweg und regionales Denken wurden jedoch nicht mehr gefordert, womit die Kompromissfähigkeit stark litt. In Planungsund Genehmigungsverfahren sehen sich kommunale Entscheider nach eigener Aussage zahlreichen, wenig koordinierten Landesbehörden gegenüber. Aktuelle Problemlagen im Bereich regionaler Infrastrukturvorhaben in Niedersachsen verdeutlichen anschaulich, welche Lücke die Bezirksregierungen hinterlassen haben und was passiert, wenn es zu einer unzureichenden Abstimmung z. B. zwischen der Straßenbauverwaltung, der Bauaufsicht und der Umweltverwaltung kommt (ausführlicher Bogumil/Grohs/Seuberlich 2018, S. 54ff.). Die neue, ab 2013 regierende rot-grüne Landesregierung unternahm Schritte, um die diagnostizierten Defizite der fragmentierten zweistufigen Strukturen zu beheben: So wurden ab dem Jahr 2014 vier Ämter für regionale Landesentwicklung gegründet (Bogumil/Grohs/Seuberlich 2018). Der in dieser Lösung inhärente Bündelungsaspekt ist unübersehbar. Die Verknüpfung staatlicher Aufgaben mit regionalentwicklerischen Bezügen in den Ämtern für regionale Landesentwicklung soll dazu beitragen, die Kommunen bei der Aufgabenwahrnehmung gezielt zu unterstützen und die Ministerien zugunsten der Wahrnehmung ihrer strategischen Aufgaben zu entlasten. Letztlich ging es jedoch auch insbesondere darum, die Handlungsfähigkeit der Landesregierung in der Fläche zu stärken. 351
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Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die anderen großen Bundesländer sich bisher nicht vom niedersächsischen Weg in die Zweistufigkeit haben inspirieren lassen. Zwar hatte die neue grün-rote Regierung in Baden-Württemberg wie schon die 2005 ins Amt gekommene schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (Reiners 2008, S. 182) angedacht, die Mittelinstanz abzuschaffen. Diese Idee kann jedoch als typisches „Oppositionsmodell“ betrachtet werden, dass sich beim Hineinwachsen in die Regierungsverantwortung schnell als (zu) riskanter Eingriff am Herzen der Landesverwaltung herausstellt. Entsprechend sind diese Diskussionen um die Reform der Bezirksregierungen zum Erliegen gekommen. Ein weiteres wesentliches Merkmal der jüngsten Funktionalreformen ist die Übertragung von staatlichen Aufgaben auf die Kommunen, die sog. Kommunalisierung von Landesaufgaben. Aufgabenübertragungen auf die kommunalen Gebietskörperschaften können rechtlich unterschiedlich ausgestaltet werden: als pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben, als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung, als Auftragsangelegenheit oder als staatliche Aufgabe in Form der Organleihe. Die Kommunalisierung von Zuständigkeiten wird aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes grundsätzlich positiv bewertet. Allerdings ist immer die Leistungsfähigkeit der Kommunen, die Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerledigung und das auf der kommunalen Ebene besonders ausgeprägte Spannungsverhältnis zwischen fachlichen und politischen Zielsetzungen zu beachten (vgl. Ebinger/ Bogumil 2008; Ebinger 2013). Die Uneinheitlichkeit sowohl der Territorial- als auch der Funktionalreformen hat insgesamt zu einer starken Varianz hinsichtlich der Strukturen, der Einwohnerzahlen und auch der Aufgabenportfolien in den Kommunen geführt. Vor diesem Hintergrund sind einheitliche Aussagen zu den Problemlagen und Chancen von Kommunalisierungen nicht einfach. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Auswirkungen der Kommunalisierungen stark sowohl zwischen einzelnen Kommunen als auch zwischen Aufgabenfeldern variieren. So scheinen regulative und technische Aufgaben wie der gesamte Umweltbereich eher schlecht für eine Kommunalisierung geeignet, während distributive und stark auf lokale Vernetzungen angewiesene Aufgaben insb. im sozialen Bereich unter den richtigen Rahmenbedingungen von der höheren Ortsnähe profitieren können (Kuhlmann et al. 2011). Als Ursache für diese sehr heterogene Entwicklung kann die unterschiedliche Verbreitung von drei Problemlagen identifiziert werden: ungelöste Schnittstellenproblematiken, die größen- und ressourcenabhängige Leistungsfähigkeit der kommunalen Ebene und eine unterschiedlich stark praktizierte Politisierung von Verwaltungshandeln durch die fachfremde Einflussnahme von politischen Entscheidern. Die Schnittstellenproblematik entsteht dadurch, dass durch die Verlagerung von Aufgaben auf die kommunale Ebene zwar durchaus Verfahrensabläufe durch
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eine Zusammenfassung ähnlicher Aufgaben optimiert werden können, gleichzeitig jedoch wiederum neue Schnittstellen und Koordinierungsbedarfe entstehen. Wenn aufgrund des Fehlens einer echten Aufgabenkritik die weiterhin oder verstärkt notwendigen vertikalen und horizontalen Koordinierungsnotwendigkeiten beim Design der Reformen ebenso wenig berücksichtigt wurden wie die Erträge der bisherigen Aufgabenbündelung, kann entgegen der Erwartungen der Politik ein administrativer Mehraufwand anfallen. Die Problematik der Leistungsfähigkeit der kommunalen Ebene – insbesondere der Kreisebene, welche den stärksten Aufgabenzuwachs durch den derzeitigen Kommunalisierungstrend erlebt – ist offensichtlich: Für eine effiziente und effektive Aufgabenwahrnehmung ist eine möglichst optimale Ausschöpfung von Skalen- und Verbunderträgen notwendig. Dies geschieht durch die Senkung der „Stückkosten“ eines Verwaltungsvorgangs durch Routinen, Spezialisierung der Mitarbeiter und die kontinuierliche Nutzung der Sachmittelausstattung sowie durch die Möglichkeit zur mehrfachen Nutzung der vorhandenen Ressourcen für verschiedene Aufgaben. Das für viele der neuen Aufgaben notwendige Expertenwissen wie auch die notwendigen teuren Arbeitsmittel (bspw. Software, Datenbanken und Messinstrumente) können nur bei einer entsprechend großen Fallzahl wirtschaftlich vorgehalten werden. Diese Voraussetzung ist bei vielen, gerade kleineren kommunalen Gebietskörperschaften nicht gegeben, sie erfüllen die Voraussetzungen für einen effizienten Vollzug nicht. Die wenigen Mitarbeiter stoßen bei einem zu breit gefächerten Aufgabenspektrum und zu geringer Ausstattung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, die Qualität der Verwaltungsleistung droht zu sinken. Die notwendige Konzentration der Mitarbeiter auf die – zumindest für die politische Führung ihrer Behörde – drängendsten Probleme kann den empirischen Erkenntnissen zufolge leicht zu einem sog. „kalten Aufgabenabbau“ führen. Wenig sichtbare und konfliktbehaftete Aufgaben werden nicht mehr fachlich zufriedenstellend erledigt (Ebinger 2013). Die Problematisierung der Politisierung von Verwaltungsentscheidungen zielt auf politische Eingriffe in solche Verwaltungsentscheidungen, die auf fachlicher Rechtsanwendung basieren sollten. Am Beispiel der Umweltverwaltung lässt sich diese Problematik besonders gut darstellen. Hier stellen sich Maßnahmen der Kommunalisierung aus der Sicht des Umweltschutzes vielfach als problematisch dar. Die Konzentration der Kompetenzen für übergreifende Umweltbelange einerseits und lokale Wirtschaftsförderung andererseits beinhaltet zwangsläufig Konfliktpotential. So können sich die Kommunalverwaltungen einem starken Druck von Seiten der lokalen Wirtschaft und Öffentlichkeit bei Genehmigungen und Überwachungen im Rahmen der Gewerbeaufsicht, bei der Ausweisung von Überschwemmungs- oder Naturschutzgebieten ausgesetzt sehen (vgl. Kuhlmann u. a. 2011). 353
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Territorialreformen sind tiefgreifende und fast immer umstrittene Umstrukturierungen subnationaler Verwaltungen. Während es in Westdeutschland seit den großen Reformen der 1970er Jahre nur noch sehr vereinzelt und praktisch nur auf freiwilliger Basis zu Territorialreformen auf der kommunalen Ebene kam (vgl. Kap. 5.2.1), war in einigen der ostdeutschen Bundesländer seit den frühen neunziger Jahren eine Kaskade von Gebietsreformen zu beobachten. Nach einer ersten Konsolidierungswelle Mitte der 1990er Jahre verschärfte die anhaltende Strukturschwäche und die EU-induzierte Schuldenbremse die schwierige Lage vieler öffentlicher Haushalte. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern führte dies ab 2007 zu einer zweiten Welle von Gebietsreformen (vgl. auch Kap. 3.4.2). Diese hohe Reformdynamik hat sich mit den Reformversuchen in Brandenburg und Thüringen in den Jahren 2014 bis 2017 gehalten. Allerdings deutet das Scheitern der beiden letztgenannten Reformen eine Veränderung des Reformklimas an. Waren die frühen Reformen oft von sog. Reformkoalitionen getragen, die sich um Zukunftssicherung für ihre Regionen bemühten und zudem immer von großen Koalitionen durchgeführt wurden, werden die neueren Reformen vor allem zum Spielball der parteipolitischen Auseinandersetzung. Dabei war, wie bereits angedeutet, der Hintergrund für die neueren Verwaltungsreformen in den deutschen Bundesländern ursprünglich rein funktional motiviert, getrieben von einem aktuellen und für die Zukunft als stark zunehmend prognostizierten Problemdruck. Beispielhaft sei hier die Situation des Landes Brandenburg vorgestellt, wo die zur Vorbereitung der Verwaltungsstrukturreform eingesetzte Enquete-Kommission (EK 5/2 „Kommunal- und Landesverwaltung – bürgernah, effektiv und zukunftsfest – Brandenburg 2020“; vgl. auch Bogumil/ Ebinger 2012) zu der Erkenntnis kam, dass eine Kreisgebietsreform aufgrund der sich abzeichnenden demografischen Veränderungen, fiskalischer Probleme sowie unzureichender Leistungskraft der Verwaltung in einigen Regionen des Landes, unumgänglich sei. So wurde für Brandenburg prognostiziert, dass sich die Einwohnerzahl des Landes bis 2030 um etwa 10 % reduzieren, dass sich die Siedlungsdichte innerhalb des Landes in diesem Zeitraum noch ungleichmäßiger entwickeln und der Altersdurchschnitt der Bevölkerung weiter ansteigen werde. Darüber hinaus wird es in bevölkerungsmäßig schrumpfenden Regionen immer schwieriger, bestehende Infrastrukturangebote aufrechtzuerhalten und Verwaltungsleistungen effizient anzubieten, was durch das Problem, qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen, noch verstärkt wird. Auf der Basis dieser und ähnlicher Problemdiagnosen wurden in Ostdeutschland die erwähnten Gebietsreformen ab 2007 in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern jeweils von CDU/SPD Koalitionen auf den Weg gebracht (vgl. Bogumil/Ebinger 2012; Bogumil 2016, Kuhlmann/Seyfried/Siegel 2018). Trotz
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gleicher Zielstellungen wurde dabei unterschiedlich vorgegangen, was den Umfang der Reform (nur Kreisebene oder – immer mit zeitlichem Versatz – auch Gemeindeebene), die zugrunde gelegten Zielgrößen wie auch die tatsächlich realisierten Gebietsveränderungen und daran anknüpfende Aufgabenverlagerungen angeht. • In Sachsen-Anhalt wurde 2007 von einer großen Koalition sowohl auf Gemeindeebene (218 statt 1300 Gemeinden, Einführung von Verbandsgemeinden) als auch auf Kreisebene (11 statt 21 Kreise) eine Gebietsreform durchgeführt. • In Sachsen wurden von einer großen Koalition ebenfalls sowohl auf Gemeindeebene (426 statt 540 Gemeinden, freiwillig) als auch auf Kreisebene (10 Kreise + 3 kreisfreie Städte anstatt 22+7) Gebietsreformen und umfassende Funktionalreformen durchgeführt. • In Mecklenburg-Vorpommern wurde von einer großen Koalition 2011 beschlossen, die zwölf Kreise und sechs kreisfreien Städte auf sechs Kreise und zwei kreisfreie Städte zu reduzieren, mit der Folge relativ großer Flächenumfänge (2.100 bis zu 5.400 km²); auf eine Gemeindegebietsreform wurde dagegen verzichtet. • Der Versuch in Brandenburg, initiiert durch SPD und Linke, nach einer dreijährigen Vorbereitungszeit, die ursprüngliche Zahl von 14 Kreisen und vier kreisfreien Städten zu elf Landkreisen und einer kreisfreien Stadt (Potsdam) zusammenzuführen, wurde vom Ministerpräsidenten jedoch nach der Anhörung des Neuordnungsgesetzes aufgrund des großen Widerstands durch die Oppositionsparteien und Landräte aller Parteien im November 2017 abgebrochen. • Auch in Thüringen konnte die Regierung von Linken, SPD und GRÜNEN ihre Vorstellungen einer Gebietsreform (Reduzierung der Zahl der Gemeinden von 850 auf 200 und der Kreise von 17+6 auf 8+2) letztlich nicht durchsetzen und nahm die Reformpläne im Sommer 2017 zurück. In Brandenburg und Thüringen zeigt sich, dass die Koalitionsbündnisse zu knapp waren, und dass letztlich aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen eine eigentlich inhaltlich von vielen als sinnvoll erachtete Gebietsreform scheiterte. Die Strategie der Fundamentalopposition durch CDU, FDP und AfD war letztlich „erfolgreich“. Dabei spielte es letztlich keine entscheidende Rolle, dass die Analyse aller wesentlichen Studien zu den Effekten von Gebietsreformen zeigt, dass es einen deutlich positiven Zusammenhang zwischen Gemeindegröße und Leistungsfähigkeit der Gemeinden und der Kreise gibt (vgl. Bogumil 2016, Kuhlmann/Seyfried/Siegel 2018).102 102 Diese Effekte treten allerdings erst mittelfristig in größerem Ausmaß ein. Ab einer bestimmten Größe nehmen die Effekte wieder ab. Wie hoch die Effekte im Einzelnen sind, ist nicht immer exakt im Nachhinein zu erfassen, da sich die Rahmenbedingungen 355
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Zusammenfassend hat sich die Verwaltungslandschaft in einigen Ländern 15 Jahre nach dem Inkrafttreten der großen Reformvorhaben auf Landesebene grundlegend verändert. Inhaltlich zeigt sich, dass die Bündelung von Zuständigkeiten, der Abbau von Doppelverwaltungen, Kommunalisierungen und Gebietsreformen Schritte in die richtige Richtung zur Modernisierung und Leistungssteigerung der öffentlichen Verwaltung sind. Damit diese Maßnahmen ihre Ziele erreichen können, muss jedoch sichergestellt sein, dass sie mit Bedacht und Aufgabenbezug und nicht lediglich aus machtpolitischen Kalkülen oder zur Flankierung von Sparvorgaben eingesetzt werden. Die verwaltungswissenschaftliche Beobachtung der aktuellen Reformen macht deutlich, dass bei der Verlagerung von Zuständigkeiten verschiedene Faktoren zu beachten sind: Die Fähigkeit der Kommunen zur Erbringung selten anfallender, aber eine hohe Spezialisierung erfordernder Leistungen, die Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerledigung, die Einheitlichkeit des Verwaltungsvollzugs und das auf dieser Ebene durch Ortsnähe und demokratische Legitimation der Entscheider besonders ausgeprägte Spannungsverhältnis zwischen fachlichen und politischen Zielsetzungen. Auch gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Möglichkeit von Funktionalreformen und den vorhandenen Gebietsstrukturen. Das praktische Problem besteht darin, dass es im Bereich der Verwaltungsstrukturreformen nicht immer gelingt, fachliche Argumente, politischen Willen und Durchsetzbarkeit miteinander zu vereinen. Dass dies in Reformen nie vollständig gelingt, ist nicht verwunderlich. So gab es sowohl bei der großen Verwaltungsstrukturreform in Baden-Württemberg als auch bei der in Sachsen politische Entscheidungen, die fachlich kaum zu begründen waren. Allerdings war es bis 2011 zumindest in großen Koalitionen möglich, (notwendige) Gebietsreformen durchzusetzen. Hier muss man nach den Erfahrungen aus Thüringen und Brandenburg skeptischer sein, auch wenn es sich jeweils um knappe Mehrheiten handelte, was die Reformen sicherlich erschwert hat. Auch frühere (Reform-)Bündnisse zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und den Landesregierungen, wie z. B. in Sachsen, waren dort nicht mehr möglich, ging es doch nur noch um die Machtfrage. Wie es kommunalen Handelns ständig ändern. Die Einschätzungen zu Effektivitätsvorteilen schwanken für die Kreisebene je nach Ausmaß der Reform zwischen 10 % und 25 %. Ob die Effekte erreicht werden, hängt zudem davon ab, wie in den neuen Gebietsstrukturen agiert wird (Anzahl der Außenstellen, Verbesserung der Leistungsqualität etc.). Gebietsvergrößerungen können zwar durchaus zu einem höheren Aufwand der ehrenamtlichen Mandatsträger führen und die Wege zur Verwaltung vergrößern, allerdings gibt es keine stichhaltigen Hinweise dafür, dass sich die Legitimität und Bürgernähe kommunalen Handelns nennenswert verschlechtern, wenn bestimmte Gebietsflächen nicht überschritten werden (ca. 4.500 km2). In der Summe gewinnt die Kreisebene durch Territorial- und Funktionalreformen an Substanz- und Gestaltungsfähigkeit.
5.2 Verwaltungsreformen
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gelingen kann, positiven Modernisierungswillen der Landesregierungen mit den das Wissen der Verwaltung integrierenden Funktional- und Gebietsreformen zu verbinden, ist immer noch eine offene Frage und auch abhängig von politischen Rahmenbedingungen. Inhaltlich ist es durch die Welle von Verwaltungsstrukturreformen trotz weitgehend identischer Reformziele zu einer Heterogenisierung der Verwaltungsstrukturen in den Bundesländern gekommen (vgl. Bogumil 2015). So haben sich mittlerweile verschiedenste Typen von Regierungspräsidien und Sonderbehörden, unterschiedlichste Zuschnitte von Verwaltungseinheiten in substanziell ähnlichen Aufgabenfeldern und variierende Trägerformen von Verwaltungsfunktionen herausgebildet. Die institutionellen Formen, in denen die deutschen Bundesländer und Kommunen öffentliche Aufgaben erbringen und Recht vollziehen, driften zunehmend auseinander (Bogumil/Ebinger 2008a, Kuhlmann/Wollmann 2013, S. 136 ff.). Eine auch nur halbwegs konsistente Vorstellung über funktionale Organisationslösungen ist nicht in Sicht. Allerdings bringen Strukturveränderungen in der öffentlichen Verwaltung – im Zusammenspiel mit weiteren Kontextfaktoren – Verschiebungen in der Leistungsfähigkeit und Vollzugsqualität mit sich (vgl. Bogumil 2010). Es sollte also, abhängig von den Anforderungen der Aufgabe, bessere und schlechtere Verwaltungskonfigurationen geben. Lange konnte die Wissenschaft jedoch den politischen Entscheidern keine entsprechenden, belastbaren Handreichungen über Gestaltungsoptionen und Konsequenzen liefern (vgl. Ebinger 2013, S. 29f.). Hier fehlt es an empirischen Untersuchungen, die die Wirkung von Verwaltungsstrukturen systematisch und vergleichend über die Bundesländer hinweg analysieren. Vorarbeiten zur theoretischen Erklärung des Zusammenhanges von Umweltfaktoren, äußeren Strukturen und dem Verhalten der Führungskräfte mit der Performanz einer Verwaltungseinheit liegen vor (vgl. Ebinger 2013, S. 104ff.). Viel spricht dafür, dass es keine „omnipotente Schlüsselvariable“ und damit kein ‚ideales‘ Organisationsmodell gibt, welches auf allen Performanzdimensionen eine bessere Leistung aufweist. Vielmehr sind je nach der Priorisierung der Legalität, Effizienz, Legitimität und Effektivität des Vollzugs andere Modelle zu bevorzugen. Verwaltungsorganisation bleibt also trotz allem eine politische Entscheidung. Eine Evidenzbasierung würde ihr jedoch angesichts ihrer Tragweite gut zu Gesicht stehen.
5.2.8 Digitalisierung der Verwaltung Ab Mitte der 2000er Jahre gewinnt die Digitalisierung der Verwaltung nach und nach an Bedeutung (vgl. auch Kap. 2.3.5, Veit 2018, Hammerschmid/Oprisor 2016, Schuppan 2019, Klenk u. a. 2020) und wird ab Mitte der 2010er Jahre zu einem neuen 357
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Verwaltungsreformstrang in Deutschland. Damit wird auch in diesem Bereich eine internationale Reformdebatte nachvollzogen („New public management is dead – long live digital-era governance“, Dunleavy et al. 2006). Erste Initiativen sind die Initiative „Bund Online 2005“ unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und ein eigenes Programm der Bundesregierung (E-Government 2.0) im ersten Kabinett von Angela Merkel. Dieses beschäftigte sich primär mit Fragen der Nutzung IT-gestützter Verfahren in der Verwaltung und dem Ebenen übergreifenden Aufbau der einheitlichen Behördenrufnummer D115. In der Legislaturperiode zwischen 2009 und 2013 wurden E-Government-Themen in das allgemeine Verwaltungsreformprogramm der Regierung („Vernetzte und transparente Verwaltung“) integriert. Dabei wurden im Wesentlichen bestehende Projekte fortgeschrieben und man begann mit ersten Pilotprojekten (vgl. Veit 2018, S. 139ff.). Mit dem Regierungsprogramm „Digitale Verwaltung 2020“ in der Legislaturperiode ab 2013 geriet dann Digitalisierung ins Zentrum der Verwaltungsreform. Das Programm „Digitale Verwaltung 2020“ sah 33 Maßnahmen zur Modernisierung der Verwaltung und zur Umsetzung des E-Government-Gesetzes vor, darunter die flächendeckende Einführung der elektronischen Aktenführung, ein elektronisches Gesetzgebungsverfahren, die elektronische Beschaffung, elektronische Rechnungen, ein Normenscreening, in welchen Fällen die eigenhändige Unterschrift und das persönliche Erscheinen bei Behördengängen entbehrlich sein könnten, sowie einige Aktivitäten, die sich dem Stichwort Open Government zuordnen lassen (Wewer 2019a, S. 216). Um die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen zu verbessern, war bereits im Jahr 2009 Art. 91c in das Grundgesetz aufgenommen. Dieser besagt insbesondere, dass Bund und Länder bei der Planung, Errichtung und dem Betrieb der für ihre Aufgabenerfüllung benötigten informationstechnischen Systeme zusammenwirken können und der Bund ein Verbindungsnetz errichtet. Eine zentrale organisatorische Maßnahme zur Umsetzung von Art. 91c war zudem die Gründung des IT-Planungsrates (ITPLR) als Bund-Länder-Gremium im Jahr 2010. Nachdem die IT-Koordinierung im deutschen Föderalismus lange Zeit auf informellem Wege erfolgte, soll mit dem IT-Planungsrat eine klare Kooperations-, Gremien- und Verantwortungsstruktur errichtet werden (vgl. Lühr 2020, S. 3). Zentrale Aufgabe ist die Entwicklung einer nationalen IT-Strategie sowie die Etablierung einer föderalen IT-Infrastruktur. Vor allem geht es darum durch Verwaltungsebenen übergreifende Planung und Koordinierung technische Standards für die Digitalisierung der Verwaltungen im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden zu entwickeln und das Onlinezugangsgesetz (OZG) umzusetzen. Der IT-Planungsrat berichtet an die Konferenz des Chefs des
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Bundeskanzleramtes mit den Chefs der Staats- und Senatskanzleien.103 Ab 2020 wird der IT-Planungsrat von der FITKO (Föderale IT-Kooperation) sowohl als Geschäftsstelle als auch in der inhaltlichen Arbeit unterstützt werden.104 Als weiterer wichtiger Meilenstein gilt das im Jahr 2013 verabschiedete E-Government-Gesetz (EGovG). Das Gesetz zielt auf die Beseitigung unterschiedlicher (rechtlicher) Hindernisse für E-Government ab und legt u. a. die Grundlage für die Verpflichtung zur elektronischen Aktenführung in Behörden. Nach der Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen im Jahr 2009 erhielt der Bund mit dem neuen Artikel 91c Absatz 5 GG zudem eine an die Zustimmung des Bundesrates gebundene ausschließliche Gesetzgebungskompetenz, den übergreifenden informationstechnischen Zugang zu den Verwaltungsleistungen von Bund und Ländern einschließlich der Kommunen zu regeln. Auf dieser Grundlage war es möglich im Jahr 2017 das OZG zu beschließen. Geplant ist hier die Digitalisierung der 575 wichtigsten Verwaltungsleistungen für die Bürger bis zum Jahre 2022 durch zwei miteinander zusammenhängende Handlungsstränge: Zum einen der Aufbau des Portalverbundes zwischen Bund, Ländern und Kommunen mit Nutzerkonto und zum anderen das Digitalisierungsprogramm des IT Planungsrates, welches auf vom BMI identifizieren Themenfeldern beruht (vgl. KGSt 2019, S. 13ff., Schwab u. a. 2019, S. 71f.). Insbesondere in das OZG wird nun eine große Hoffnung gesetzt, dass auch in Deutschland „eine neue Dynamik in den scheinbar seit Jahren eher mühevollen und nur mäßig erfolgreichen Bemühungen um die Digitalisierung 103 Dem IT-Planungsrat gehören der Beauftragte der Bundesregierung für Informationstechnik an sowie die entsprechenden Beauftragten der einzelnen Länder. Außer diesen 17 ordentlichen Mitgliedern können an den Sitzungen Vertreter der drei kommunalen Spitzenverbände, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, ein Vertreter aus dem Kreis der Landesdatenschutzbeauftragten, Vertreter des Arbeitsgremiums, das für die Verbindung der informationstechnischen Netze des Bundes und der Länder verantwortlich ist und weitere Personen auf Einladung des Vorsitzenden, insbesondere Ansprechpartner aus Fachministerkonferenzen teilnehmen. Der Vorsitz des Gremiums wechselt jährlich zwischen dem Bund und einem Land. Die Beauftragten für Informationstechnik im Bund und in den Ländern haben meist den Rang eines Staatssekretärs, manchmal auch den eines Ministerialdirektors. Die Geschäftsstelle des IT-Planungsrates ist im Bundesministerium des Innern angesiedelt, wird aber von Bund und Ländern gemeinsam finanziert und personell besetzt (vgl. Lühr 2020). 104 Die FITKO ist als Anstalt des öffentlichen Rechts mit Sitz in Frankfurt durch Staatsvertrag eingerichtet worden. Sie wird mit insgesamt 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeit aufnehmen. Zu den Aufgaben der FITKO gehören u. a. Erarbeitung und Umsetzung der föderalen IT-Strategie, die Konzeption und Weiterentwicklung der föderalen IT-Architektur, die Bewirtschaftung des geplanten Digitalisierungsbudgets, die Koordination und der Dialog mit allen relevanten Stakeholdern sowie administrative Aufgaben (vgl. ebd.). 359
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des Verwaltungsservices“ (Henning Lühr, zitiert nach KGSt 2019, S. 3) entsteht. Durch das OZG wird der Implementationsdruck auf Bund und Länder deutlich erhöht, indem es beide Ebenen dazu verpflichtet, alle Verwaltungsleistungen bis zum 31.12.2022 elektronisch im Portalverbund des Bundes anzubieten.105 Erhebliche Unklarheiten bestehen allerdings nach wie vor in Bezug auf die praktische Umsetzung des Portalverbunds und den damit einhergehenden Konsequenzen für die kommunale Verwaltungsdigitalisierung (vgl. Schwab u. a. 2019). Der aktuelle OZG-Umsetzungskatalog identifiziert ca. 575 Leistungen, die durch die öffentliche Verwaltung bis Ende 2022 online angeboten werden müssen. Weiterhin wurden 14 Themenbereiche definiert, für welche in Federführung einzelner Länder elektronische Umsetzungslösungen entwickelt werden sollen. Der Vollzug der im OZG-Umsetzungskatalog gelisteten Leistungen liegt ganz überwiegend (ca. 76 %) bei Ländern und Kommunen, wobei eine Vielzahl kommunaler Angebote (z. B. Geburtsurkunde/-bescheinigung, Kfz-Zulassung/-um-/abmeldung, Meldebestätigung, Registerauskunft, Personalausweis, Wohnsitzmeldungen, Aufenthaltserlaubnis/-karte, Bauvorbescheid/-genehmigung, Elterngeld, Führerschein etc.) zu den prioritären OZG-Leistungen gehört. Der Nationale Normenkontrollrat, der den Digitalisierungsprozess kritisch begleitet, weist darauf hin, dass sich nicht alle Bundesländer in gleichen Maße an der OZG-Umsetzung beteiligen und mahnt an, die OZG-Umsetzung als prioritäre politische Aufgabe zu sehen. Von den identifizierten Leistungen waren Ende 2018 erst 29 bundesweit verfügbar, wie beispielsweise die Einkommensteuer (ELSTER), die Ausbildungsförderung (BAföG) und der Rundfunkbeitrag. 119 weitere Leistungen konnten teilweise online beantragt werden, d. h. einzelne Schritte konnten elektronisch abgewickelt werden, aber nicht der ganze Prozess, oder die Lösung war zwar in einigen Ländern und Kommunen verfügbar, aber nicht flächendeckend (Lühr 2020, S. 5). Die Dimension der anstehenden Aufgabe wird auch an folgendem Zitat deutlich: „Um sich vor Augen zu führen, welche Mammutaufgabe mit der flächendeckenden Bereitstellung der 460 landes- und kommunalbezogenen OZG-Leistungen verbunden ist, hilft eine grobe Überschlagsrechnung: Nimmt man an, dass die 460 Leistungen mehr oder weniger einzeln implementiert werden müssen und rechnet man lediglich mit 400 Kreisen und kreisfreien Städten anstatt mit 11.000 Kommunen, ergibt sich dennoch eine Gesamtzahl von gut 180.000 Implementierungen. Ausgehend von den
105 Die Kommunen sind im OZG nicht erwähnt, man geht davon aus, dass die Länder die Digitalisierungspflicht mit eigenen Ausführungsgesetzen an die Kommunen weiterreichen. Insofern gilt das OZG für die Kommunen zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar, ebenso wie für die sonstige mittelbare Staatsverwaltung wie Universitäten (vgl. Martini/ Wiesner 2019, S. 645).
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verbleibenden drei Jahren der planmäßigen OZG-Umsetzung sind das ca. 60.000 Implementierungen pro Jahr oder 5.000 pro Monat“ (NKR 2019c, S. 6)“.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Einbindung der kommunalen Praxis in Konzeption und Implementation dieser Online-Verwaltungsleistungen zwingend, um sicherzustellen, dass Praxistauglichkeit und Nutzerfreundlichkeit gewährleistet werden. Die Kommunen selbst sehen in einigen OZG-Leistungsfeldern, wie Führerscheinwesen, Ausländer- bzw. Staatsangehörigkeitswesen und Einbürgerung die größten Potenziale für künftige Digitalisierungsvorhaben. Hier bietet es sich besonders an, über eine stärkere Vernetzung, Modularisierung und Registerbildung die Integration von E-Government voranzubringen, da es sich bei diesen Leistungen vorwiegend um Pflichtaufgaben des übertragenen Wirkungskreises handelt. Dabei muss dies nicht zwangsweise über Gesetzesänderungen geschehen, sondern kann auch in einer gemeinsamen Nutzung der Infrastruktur, der Definition von Standards oder der Entwicklung von (übertragbaren) Prozessmodulen erfolgen (vgl. Köhl u. a. 2014, S. 188). Ob und in welchem Ausmaß dabei die Harmonisierung und Bündelung der 575 OZG-Leistungen und die Einhaltung von Mindeststandards tatsächlich angestrebt wird und realisierbar ist, muss bislang offenbleiben. Ebenfalls 2017 formulierte die Bundesregierung „Grundsätze unserer Digitalpolitik“, zu denen eine Ausrichtung des IT-Gipfels auf die Digitale Agenda und die Einrichtung eines Steuerungskreises von Staatssekretären innerhalb der Regierung gehörten. Inzwischen gibt es eine Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt mit einer entsprechenden neuen Abteilung. Die intensiv diskutierte Frage „Digitalministerium oder Querschnittsaufgabe?“ ist damit vorerst entschieden: Es gibt kein spezielles Ministerium für dieses Politikfeld, aber die Kanzlerin hat das Thema zur „Chefsache“ gemacht.106 Die Bundesregierung hat außerdem die Einrichtung eines Kabinettsausschusses Digitalisierung beschlossen, der sich unter Leitung des Chefs des Kanzleramtes ständig mit diesem Thema befassen soll. Zu seinen ersten Aufträgen gehört, Strategien für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz, Blockchain und ähnlichen Themen zu entwickeln. Bei öffentlichen Aufträgen ist eine elektronische Rechnungsstellung ab November 2020 für alle Auftragnehmer verpflichtend. Außerdem ist der Bund dabei, aufgrund einer Vorgabe des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages seine Rechenzentren zu konsolidieren (vgl. Wewer 2019, S. 217). Insgesamt gesehen hat sich die Digitalisierungsstrategie in Deutschland verändert. Die früher sehr einseitige Orientierung des Bundes an der Online-Abwicklung 106 In Bayern und Hessen gibt es auf Landesebene mittlerweile eigene Digitalisierungsressorts. 361
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brachte zunächst das Problem, dass zu wenig Ebenen übergreifend gedacht wurde, obwohl der Bund in Deutschland nicht die hauptsächliche Vollzugseinheit ist, sondern die Länder und die Kommunen. Spätere Vorhaben berücksichtigen daher stärker die Einbeziehung der Länder und (wenn auch noch nicht ausreichend) der Kommunen (vgl. Schuppan 2019, S. 527). Zudem wurde deutlich, dass es nicht sinnvoll ist, Leistungen online bereitstellen zu wollen, die beispielsweise nur wenige Nutzer hatten. Auch hier gibt es im OZG jetzt Fokussierungen auf mehr genutzte Verwaltungsleistungen. Weiterhin haben sich die Ausgangsbedingungen der Zusammenarbeit durch die Grundgesetzänderung, durch die Konstituierung des IT-Planungsrates und durch die Verabschiedung des OZG verbessert. Problematisch ist allerdings nach wie vor die überaus vielfältige Zuständigkeitslandschaft im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung. Sowohl auf der Ebene des Bundes als auch auf der Ebene der Länder (und der Kommunen) gibt es unterschiedlichste Zuständigkeiten, die wie man auf dem Schaubild erkennt, kaum transparent sind. Angesichts der Vielzahl von Akteuren sind Koordinationsprobleme nicht zu vermeiden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es erhebliche Probleme mit Pass-/Anschlussfähigkeit der dezentralen Systeme und Lösungen an zentrale/standardisierte digitale Komponenten gibt, insbesondere, da Prozesse der Standardisierung und Zentralisierung erst spät angestoßen wurden. Deutlich wird, dass die digitale Gesamtarchitektur im föderalen System sehr schwierig ist (vgl. Kuhlmann/Danken/Kühn 2020). Digitalisierung ist ein als multidimensionales „Gemeinschaftswerk“, das nicht von einer Ebene bearbeitet werden kann, so dass die Umsetzung in verwaltungsverflochtenen Strukturen erfolgen muss. Es sind also vertikale und intergouvernementale Abstimmungsprozesse über alle Ebenen nötig. Insgesamt verstärken sich daher die Versuche, durch intergouvernementale Gremien (z. B. der IT-Planungsrat und das neue Gremium der FITKO) die Koordinationsprobleme besser zu bearbeiten (Kuhlmann/Danken/ Kühn 2020). Zudem ist Digitalisierungspolitik auch horizontal ein Querschnittsthema und benötigt fachübergreifende Abstimmung. Deutlich wird dies zunächst an der Zuständigkeit von fünf Ministerien, die im Digitalkabinett auf Bundesebene vertreten sind. Notwendig sind in solchen Fällen Federführungen. Allerdings ist etwas unklar, wer die übernehmen soll. Traditionell ist das BMI für die Digitalisierung der Verwaltung zuständig, welches auch über die Abteilung Digitale Gesellschaft und einen zuständigen Staatssekretär (Klaus Vitt bis Anfang 2020, Nachfolger wird Markus Richter) verfügt. Es gibt aber auch noch eine Staatsministerin für Digitalisierung (Dorothea Bär) ohne Kabinettsrang und für ein nicht näher definiertes Aufgabenspektrum mit einer eigenen Abteilung im Kanzleramt. Für die Digitalisierung der Wirtschaft ist wiederum das BMWi und für die Digitalisierung der
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Abb. 64 Zuständigkeiten im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung Quelle: Nationaler Normenkontrollrat 2019b 363
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Bundesverwaltung der Chef des Kanzleramtes (Helge Braun) zuständig. Jenseits der (ungeklärten) Frage der Federführung, die wahrscheinlich je nach Themenbereich variiert, wird es angesichts der Vielzahl von Beteiligten eher zu einer meist „negative Koordination“ der Maßnahmen kommen (vgl. Kap. 4.1). Im IT-Rat der Bundesregierung treffen sich zudem die jeweils zuständigen parlamentarischen Staatssekretäre für Verwaltungsdigitalisierung der einzelnen Bundesministerien dreimal im Jahr mit dem Chef des Bundeskanzleramtes, dem zuständigen Staatssekretär aus dem BMI und und weiteren Akteuren aus der Bundesverwaltung. Dieser ist nicht zu verwechseln mit dem Digitalrat, ein Gremium aus beratenden Experten. Seit 2016 hat das Informationstechnikzentrum Bund (ITZ Bund) als IT-Dienstleister zudem die Aufgabe, die Ministerien ressortübergreifend und nach einheitlichen Standards in der Umsetzung ihrer IT-Strategien zu beraten. Das ITZ liegt im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen (BMF). Insgesamt erscheint angesichts dieser Vielzahl an Gremien die Organisation der Digitalpolitik auf Bundesebene (bei allen Problemen einer fachübergreifenden Abstimmung) als optimierungsbedürftig. Da die meisten nennenswerten Umsetzungsaktivitäten erst vor kurzem eingesetzt haben (ganz im Gegensatz zur schon längeren konzeptionellen Debatte um E-Government), sind praktische Auswirkungen bisher noch kaum zu spüren. Bisherige Erfahrungen mit den Maßnahmen der letzten Jahre waren eher gemischt. Nach der Begründung des De-Mail-Gesetzes 2011 sollte es binnen fünf Jahren sechzig Provider geben, die dieses Produkt anbieten. Dieses Ziel konnte bei weitem nicht erreicht werden. Das ist nur eines von vielen Beispielen, wo sich der Staat mit seinen digitalen Angeboten verschätzt hat. Das gilt auch für die elektronische Gesundheitskarte, die trotz erheblicher Investitionen bis heute kaum mehr als einen Mitgliedsausweis darstellt, oder den neuen Personalausweis, dessen elektronische Funktionen nur sehr wenige Bürger nutzen, um sich über das Internet zu identifizieren (vgl. hierzu Seckelmann 2019). Auch das Deutschland-Online-Projekt „Kfz-Zulassung“, in dem geplant war, dass Kfz-Anmeldung, -Abmeldung oder -Wiederanmeldung durchgängig online möglich sein sollten, endete damit, dass lediglich eine Abmeldung des Kfz über ein vom Bund bereitgestelltes Portal möglich wurde (vgl. Schuppan 2019). Die elektronische Steuererklärung ELSTER, die sehr gut genutzt wird, ist hier insgesamt gesehen eine positive Ausnahme. Bestätigt wird dieses Bild eines unzureichenden Umsetzungszustandes durch schlechte Platzierungen in internationalen Rankings, bei denen Deutschland schon länger hintere Plätze belegt (NKR 2019c). Im aktuellen Digital Economy and Society Index (DESI) der EU ist Deutschland im Vergleich zum Vorjahr sogar noch weiter abgerutscht – von Platz 19 auf Platz 24 (von 26). Andere Rankings zeigen ein ähnliches Bild. In dem gerade erschienen Handbuch Digitalisierung in Staat und
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Verwaltung (vgl. Klenk/Nullmeier/Wewer 2020) wird daher auch zusammenfassend zum Bereich Verwaltungsdigitalisierung formuliert: „Die Beiträge zeigen in ihrer übergroßen Mehrheit, dass in Deutschland die Digitalisierung der Verwaltung selbst im Sinne einer ersten Stufe basaler Digitalisierung, der Umstellung von analogen Verwaltungsprozessen auf die Bereitstellung zusätzlicher oder ausschließlich digitaler Zugangsmöglichkeiten noch nicht vollzogen ist. Wo Online-Portale vorhanden sind, scheitert eine durchgehend digitale Bearbeitung daran, dass doch wieder die Papierform oder der persönliche Gang zum Amt erforderlich sind. Medienbrüche und nicht digital umgesetzte Sicherheitsanforderungen lassen eine Insellandschaft an Digitallösungen im Verkehr zwischen Verwaltung und Bürgerinnen entstehen, nicht anders als Jahre vorher bereits bei den verwaltungsinternen Softwarelösungen (Klenk u. a. 2019, S. 17).“
Eine wirklich große Baustelle aus Nutzersicht besteht zudem im Bereich der Digitalisierung von Bürgeramtsleistungen. Wo, wenn nicht im Bürgeramt, wäre ein Ausbau digitaler Angebote gerechtfertigt und notwendig? Der hier dargestellte Digitalisierungsstand hinkt jedoch den Erwartungen der Bürger deutlich hinterher (vgl. Bogumil/Kuhlmann u. a. 2019; Schwab u. a. 2019, S. 66ff.). Die aktuellen Befragungsergebnisse der schon weiter oben zitierte Studie zur Situation von Bürgerämtern in Deutschland zeigen, dass die Informationsfunktion in den Bürgerämtern noch vergleichsweise gut ausgebaut ist, da Informationen fast flächendeckend, meist auf der städtischen Homepage oder über ein eigenes Verwaltungsportal, für die zehn am meisten nachgefragten Verwaltungsdienstleistungen angeboten werden. Dagegen fallen die Werte für die Kommunikations- und Transaktionsfunktion deutlich moderater aus. Bei der Kommunikationsfunktion erreicht keine einzige abgefragte Dienstleistung Werte von über 50 %; die Höchstwerte liegen bei 44 % für Urkunden, 39 % für An-/Um- und Abmeldungen, gefolgt von der Hundesteueranmeldung (33 %) und Beantragung eines Führungszeugnisses (26 %). Noch schlechter schneidet die finale Online-Abschließbarkeit von Verwaltungsleistungen (Transaktionsfunktion) ab, bei der nur die Beantragung eines Führungszeugnisses in mehr als 20 % der Kommunen final online abgeschlossen werden kann; bei allen weiteren Leistungen liegen die Werte zwischen 0 % und 10 % (Bogumil/Kuhlmann u. a. 2019, S. 61). Deutschlandweit gibt es aber keine einzige Verwaltungsleistung, die flächendeckend in allen Bürgerämtern online abgeschlossen werden kann. Zwar sind in den deutschen Bürgerämtern inzwischen Fortschritte bei der Digitalisierung erzielt worden und Verbesserungen werden auch von Bürgern und Mitarbeitern wahrgenommen. Allerdings sind signifikante Entlastungen, Effizienzgewinne und Vereinfachungen bislang kaum im Arbeitsalltag der Beschäftigten angekommen. Ganz im Gegenteil konstatieren diese vielfach sogar steigenden Belastungen, Arbeitsverdichtung und Aufwandserhöhungen bei der Fallbearbei365
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tung als Folge von Digitalisierungsansätzen. Zudem weist das digitale Angebot der Bürgerämter aus Sicht der Bürger, Beschäftigten und Verwaltungsleitungen in vielen Bereichen noch Lücken und Schwachstellen auf, die seine Nutzbarkeit beeinträchtigen. Wesentliche Engpässe der Digitalisierung liegen in den Authentifizierungs-, Anwesenheits- und Schriftformerfordernissen, Dokumentationspflichten, Datenschutzbestimmungen (z. B. Zweckbindungsgebot), Aufbewahrungspflichten, Dysfunktionalitäten bei Basisdiensten (z. B. elektronische Bezahlfunktion) und in generellen technischen Problemen (z. B. Interoperabilität). Hier gibt es einiges zu tun. Wichtig wären vor allem weitere Reformanstrengungen in Richtung einer größeren Nutzerfreundlichkeit von Online-Angeboten, was teilweise gesetzliche Änderungen erfordert. Dies gilt insbesondere für die Bürgeramtsdienste, die am meisten nachgefragt werden (Passangelegenheiten, An-, Um- und Abmeldungen der Wohnung), da die Verwaltungsdigitalisierung dort die deutlichsten Verbesserungen für die Bürger erwarten lässt. Darüber hinaus muss den Verwaltungsbeschäftigten und ihren Arbeitsbedingungen bei zukünftigen Digitalisierungsprojekten mehr Aufmerksamkeit zugewandt werden, da die Digitalisierung aus ihrer Sicht bislang nur sehr begrenzt (etwa durch das Online-Terminmanagement) zu Verbesserungen und Entlastungen geführt hat. Dabei erscheint nicht nur die verstärkte Einbindung der Beschäftigten und ihrer Vertretungen in die organisationsinternen Veränderungsprozesse geboten, sondern es müssen auch die Verwaltungsprozesse und -strukturen so umgestaltet werden, dass digitale Innovationen für die Beschäftigten mit spürbaren Arbeitsentlastungen und Vereinfachungen sowie für die Bürger mit deutlichen Serviceverbesserungen und Zeiteinsparungen einhergehen (vgl. Schwab u. a. 2019). Die Vorzüge der Digitalisierung für Bürger und Verwaltung werden nur dann spürbar zur Geltung kommen, wenn es einheitliche Standards gibt, auf die sich Bund, Länder und Kommunen einigen müssen und die auch in anderen europäischen Ländern üblich sind. Andernfalls besteht die Gefahr der Fragmentierung, Unübersichtlichkeit und Inkompatibilität von zahlreichen Einzellösungen, die dann eher einem Flickenteppich als einem nutzerfreundlichen digitalen Serviceangebot aus einem Guss entsprechen (vgl. NKR 2017a, S. 35). Von einer medienbruchfreien Digitalisierung der Top-100-Verwaltungsleistungen für Bürger und Unternehmen ist man in Deutschland nach wie vor weit entfernt. Als weiteres Zukunftsthema der Verwaltungsdigitalisierung ist die Registermodernisierung zu nennen, die laut Nationalem Normenkontrollrat stärker in den Mittelpunkt der Digitalisierungspolitik auf Bundes- und Länderebene rücken sollte (vgl. NKR 2017b, Schwab u. a. 2019). Viele Verwaltungsleistungen basieren auf öffentlichen Registern, wie z. B. den Melde- oder den Gewerberegistern. Diese
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sind aber bislang kaum auf digitale Prozesse ausgelegt und zudem, den fachlichen und territorialen Zuständigkeiten folgend, oft genauso dezentral und heterogen organisiert wie andere öffentliche IT-Komponenten. Die Bürger sind gezwungen, sich z. B. eine Geburtsurkunde als papiergebundenen Auszug aus dem Geburtenregister zu besorgen, um sie danach bei einer anderen Stelle für die Beantragung von Kinder- und Elterngeld wieder einzureichen. Würden diese Daten mit Zustimmung der Bürger und unter Wahrung datenschutzrechtlicher Standards zwischen den betroffenen Verwaltungsstellen ausgetauscht (wie dies beispielsweise in Österreich möglich ist), könnten die betreffenden Verwaltungsleistungen digital angeboten und Verwaltungsprozesse erheblich vereinfacht werden. Die zielkonforme Umsetzung des OZG scheint erst auf dieser Grundlage möglich. Letztlich wäre es für die weitere nahe Zukunft wünschenswert, dass Modernisierungstempo im Bereich der elektronischen Verwaltungsmodernisierung im Sinne konkreter Umsetzungsschritte zu erhöhen. Um zu erreichen, dass der angestrebte Portalverbund nicht ein bloßer „Verlinkungsverbund“ wird, ist eine Verwaltungskultur erforderlich, die Innovationen fördert, dabei Fach und Ebenen übergreifend orientiert ist, die kommunale Ebene stärker einbezieht und die Nutzersicht in den Vordergrund stellt (Schwab u. a. 2019, S. 68). Denkbar ist zudem, dass die Digitalisierung der Verwaltung durch die Corona-Krise einen deutlichen Aufschub erhalten wird, werden hier doch Verwaltungen und Bürger „gezwungen“ stärker online miteinander zu kommunizieren. Auf einmal sind Onlinesprechstunden von Ärzten und Psychotherapeuten möglich, während dies vor kurzen noch nicht abrechnungsfähig war. Ausländerämter erlauben Verlängerungen von Aufenthaltstitel ohne persönliche Vorsprache anzunehmen und auch die Jobcenter sind auf einmal in vielen Bereichen digitaler aufgestellt.
5.2.9 Erfolgsfaktoren von Verwaltungsreformen Bei der Betrachtung wesentlicher Verwaltungsreformen in Deutschland dürfte deutlich geworden sein, dass bei Weitem nicht jeder Reformversuch umgesetzt wird und auch nicht jede umgesetzte Reform zu den gewünschten Wirkungen führt. Betrachtet man zusammenfassend die bisherigen Erfahrungen mit gelungenen oder gescheiterten Verwaltungsreformen und die damit verbundenen Erfolgsfaktoren, so lassen sich daraus stichpunktartig folgende Lehren ziehen (vgl. Scharpf 1987, Seibel 1998, Naschold/Bogumil 2000, Bogumil/Schmid 2001, Klenk/Nullmeier 2002,
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Bogumil 2007a, Bogumil/Ebinger 2008a, Holtkamp 2012, Kuhlmann/Wollmann 2013, S. 250ff.; Reichard u. a. 2019) 107: • Verwaltungsreformen werden immer nicht unerheblich durch die relative Autonomie der Durchsetzungsinstanzen beeinflusst (vgl. weiter unten). Neben der Festlegung der Ziele einer Verwaltungsreform ist daher die Festlegung der Umsetzungsprozesse von gleicher Bedeutung. Institutionelle Reformen beginnen erst nach der politischen Durchsetzung und benötigen daher einen langen Atem. • Aufgaben- und institutionenspezifische Differenzierungen erscheinen erfolgreicher durchsetzbar als Globalkonzepte. Dies liegt vor allem an der Vielgestaltigkeit öffentlicher Verwaltung, die sich eines generellen Zugriffs weitgehend versperrt. Es macht einen Unterschied, ob man eine Ordnungsverwaltung, eine Dienstleistungsverwaltung oder eine politische Verwaltung verändern will. Besonders deutlich wurde diese Problemlage beim Versuch, das NSM als Globalkonzept in der Kommunalverwaltung zu implementieren. Auch die Digitalisierung der Verwaltung leidet an diesem Problem. • Bei umfassenden Veränderungsprozessen in Organisationen muss immer ein vorübergehender Funktionsverlust in Kauf genommen werden, eine wesentliche Reformsperre für solche Veränderungskonzepte gerade in öffentlichen Verwaltungen. Umfassende Reformprozesse (große Entwürfe) tendieren dazu, die Organisation zu überfordern, mit dem Ergebnis, dass sie selten die gewünschten Ergebnisse zeitigen. • Am reformfähigsten ist generell die kommunale Ebene, da sie am stärksten unter Öffentlichkeitsdruck steht und am wenigsten autonom ist. Je autonomer eine Verwaltung, desto reformresistenter ist sie, wie sich am Beispiel der Ministerialverwaltungen zeigt. • Verwaltungsreformen scheitern nicht so sehr an fehlenden Konzepten, sondern vor allem an starken Beharrungskräften in den Organisationen. Ohne externen Druck reicht die Innovationsfähigkeit der Verwaltung nicht aus, zu strukturellen Veränderungen zu kommen. Dabei steigen die Erfolgschancen, wenn es einen breiten politischen Grundkonsens gibt, wenn es gelingt, die wichtigsten Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung auf gemeinsame Ziele zu verpflichten. Gelingt dies nicht oder unzureichend, ist ein Scheitern wahrscheinlich. 107 Ausführungen zu den Zielen und den divergierenden Ausgangsbedingungen von Verwaltungsreformen sowie den Erklärungsfaktoren für Divergenz und Konvergenz finden sich in den angegebenen Literaturhinweisen. Hier geht es nur um die Erklärung des Erfolgs der Verwaltungsreformen, gemessen an den mit der Reform beabsichtigten Zielvorstellungen. Damit ist keine normative Bewertung der Verwaltungsreformen verbunden.
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Allerdings muss der Reformprozess auch in der Organisation selbst stattfinden. Er muss zwar von außen unterstützt werden, lässt sich aber kaum von außen erzwingen oder steuern. Dazu ist der Aufbau einer Führungskoalition, die den Veränderungsprozess anleitet und unterstützt, wichtig. • Es bedarf immer der Schaffung eines institutionellen und auch individuellen Eigennutzes und einer aktiven Gestaltung von Konfigurationsprozessen in umzugestaltenden Organisationen. Nur so ist es möglich, die zum Organisationsalltag gehörenden, aber oftmals wenig thematisierten mikropolitischen Prozesse so zu „steuern“, dass sie im Sinne der Reformmaßnahmen eingesetzt werden können. Immer dann, wenn ein Reformprozess Gewinner und Verlierer innerhalb einer Organisation produziert, was die Regel und nicht die Ausnahme ist, verschärfen sich die mikropolitischen Auseinandersetzungen. Angesichts der institutionellen Rahmenbedingungen im öffentlichen Dienst, die vielen Akteuren erhebliche Machtpotenziale zuweisen, ist gerade hier die Beachtung der Machtspiele in Reformprozessen unerlässlich. Die mikropolitische Analyse hilft, die Funktionsweise von Organisation besser zu verstehen und zu erklären. Mitunter wird dies von den Akteuren genutzt, wie z. B. bei der Verwaltungsstrukturreform in Baden-Württemberg (vgl. Bogumil/Schmid 2001). Allerdings hat dies nicht flächendeckend zu nachhaltigen Veränderungen in der Organisationspraxis geführt. • Die Erfolgsaussichten einer Reform sind auch von deren Passfähigkeit zur Rechtstradition und zur Verwaltungskultur abhängig. Insofern könnten Verwaltungsreform auch am ungeeigneten Reformkonzept scheitern, wie man dies beim NSM hinsichtlich der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Politik und Verwaltung gesehen hat. Diese über Jahrzehnte gesammelten Erkenntnisse kamen mit den oben beschriebenen Verwaltungsstrukturreformen der Länder teilweise ins Wanken. Mit den großen Verwaltungsreformen in Baden-Württemberg und Niedersachsen waren einige oben genannte Thesen in Frage gestellt, da einige kritische Faktoren von Reformvorhaben überwunden schienen. Die Politik entwarf umfassende ressortübergreifende Reformkonzepte ohne Einbeziehung der zu Blockaden neigenden (Ministerial-) Verwaltungen, aber unter Ausnutzung der vorhandenen Machtkonstellationen im Land. Mittels stark strukturierter und kontrollierter Umsetzungsprozesse und externem Druck über Einsparvorgaben wird die Erreichung der formalen Reformziele sichergestellt. Da man gelernt hatte, dass durchgreifende Reformen mit der Verwaltung kaum zu machen sind, macht man diese gegen Teile der Verwaltung (vgl. Bogumil/Ebinger 2008a). 369
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Diese Stimmung des everything goes währte allerdings nur kurz (Ebinger/Bogumil 2016). Grund für ihr Ende waren nicht die vielfältigen funktionalen Probleme der im Eiltempo entwickelt und umgesetzten Reformen. So machte das Urteil des Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern von 2007, welches das Gesetz über die Funktional- und Kreisstrukturreform des Landes Mecklenburg-Vorpommern als verfassungswidrig erklärte, deutlich, dass nicht lediglich ökonomische Kriterien, sondern auch die Sicherstellung demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger in den Abwägungsprozess einer Verwaltungsreform einfließen müssen (vgl. BVerfGE 79, 127, 153; Bull 2008). Dies gilt nicht nur für Territorialreformen, sondern auch für alle sonstigen Reformmaßnahmen, die einen Eingriff in die kommunalen Selbstverwaltungsrechte darstellen könnten. Damit wurde die Reformstrategie, politische Zielsetzungen handstreichartig und notfalls auch ohne Rücksicht auf die Interessen wichtiger – insb. der kommunalen – Akteure durchzusetzen, faktisch verunmöglicht, da letzteren immer der Klagewege mit guten Erfolgschancen offensteht. Der letzte ‚große Wurf‘ war entsprechend die zum 1. August 2008 in Kraft getretene Verwaltungs- und Funktionalreform in Sachsen. Diese Veränderung der Rahmenbedingungen führte dazu, dass die Landesregierungen ihre Strategie an die neuen Gegebenheiten anpassten. Um verfassungsrechtliche Gefahren zu minimieren, sind die Länder gut beraten, sich streng an eine schrittweise Vorgehensweise zu halten, die auch sichtbar und gerichtlich nachvollziehbar für alternative Modelle offen ist. Entsprechend werden Reformpläne nicht mehr in kleinen Hinterzimmerkreisen entwickelt oder in Wahlprogrammen festgeschrieben. Die jüngere Reforminitiativen zeichnen sich durch offenere, strukturierte Verfahren aus, die von einem fraktionsübergreifenden Konsens getragen sind und teils auch frühzeitig Elemente der Bürgerbeteiligung integrieren (z. B. in Rheinland-Pfalz 2008, Mecklenburg-Vorpommern 2011, Brandenburg 2011). Dies kann als Versuch gewertet werden, angesichts der verfassungsrechtlichen Risiken zurück zu einem integrativen Ansatz zu finden, ohne jedoch in die Falle früherer Tage zu tappen und nach langwierigen Aushandlungsprozessen ohne nennenswertes Ergebnis abzuschließen. Die Erfolgsquote ist allerdings überschaubar. Während die Landkreisreform in Mecklenburg-Vorpommern im zweiten Anlauf durchgesetzt werden konnte, scheiterten in Rheinland-Pfalz und Brandenburg die stärker partizipativ ausgerichteten Strategien.
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5.3.1 Institutionenübertragung und -abwicklung
Mit der deutschen Vereinigung stand auch die öffentliche Verwaltung vor großen Herausforderungen. Insgesamt ist der deutsche Vereinigungsprozess im Vergleich zu den übrigen Systemtransformationen in Mittel- und Osteuropa ein Sonderfall (Wiesenthal 1990; Wollmann 2020), der durch drei Faktoren und Transfers gekennzeichnet ist: • „Institutionentransfer“ durch Ausdehnung der Verfassungs-, Rechts- und Institutionenordnung der „alten“ Bundesrepublik auf Ostdeutschland, • „Personaltransfer“, durch Zehntausende westdeutsche Beamte und Experten, die vorübergehend oder dauerhaft nach Ostdeutschland gingen, um den Transformationsprozess zu unterstützen, und • „Finanztransfers“ im erheblichen Ausmaß aus den öffentlichen Haushalten und Sozialversicherungskassen Westdeutschlands nach Ostdeutschland (seit Anfang der neunziger Jahre jährlich ca. 75 Milliarden Euro). Gerade der Bereich der politisch-administrativen Organisationen im engeren Sinne ist durch den Institutionentransfer gekennzeichnet. Anders als in allen anderen Staaten des ehemaligen realen Sozialismus mussten die Institutionen einer pluralistischen Gesellschaft, einer sozialen Marktwirtschaft und einer föderalen Demokratie in der DDR nicht quasi aus dem Nichts neu geschaffen werden, oder es musste auch nicht, wie in anderen Ländern, an halbvergessene und verschüttete Traditionen angeknüpft werden, sondern die in der Bundesrepublik vorhandenen und „bewährten“ Institutionen wurden durch den Beitritt der DDR auf das „Beitrittsgebiet“ ausgedehnt: Sie wurden sozusagen exportiert. Durch den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion und insbesondere durch den Einigungsvertrag wurde in einer „logischen Sekunde“ das gesamte Verfassungs- und Rechtssystem der alten Bundesrepublik auf die neuen Länder übertragen. Dabei ist zu beachten, dass dieser Prozess nicht als westdeutsche Übernahme oder gar Kolonisierung diskreditiert werden sollte. Die schnelle, wenn nicht überhastete Vereinigung war Ergebnis der freien Volkskammerwahl. Im Westen gab es viele Stimmen, die einen langsameren Prozess bevorzugt hätten (z. B. der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Lafontaine). Während der Verhandlungen zum Einigungsvertrag waren die Beamten im Bundesinnen- und Justizministerium gegen die sofortige Übernahme des gesamten Rechtssystems, weil sie erhebliche Verwerfungen vorhersahen. Eine 371
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mögliche Übergangszeit wurde allerdings von Seiten der DDR abgelehnt, weil man nicht auf absehbare Zeit im Rechtssystem als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt werden wollte (Schäuble 1991). Diese Übertragung westdeutscher Institutionen begann allerdings nicht erst mit dem Einigungsvertrag, sondern setzte sofort nach der friedlichen Revolution im Herbst 1989 ein. Dabei handelte es sich im Ergebnis keineswegs um ein sklavisches Kopieren der westdeutschen Institutionen, sondern der Prozess ist durch eine Fülle eigenständiger Entscheidungen mit folgenreichen Auswirkungen für die weitere Entwicklung der neuen Bundesländer gekennzeichnet. Institutionentransfer bedeutet also nicht nur Export der Institutionen der alten Bundesrepublik in die ehemalige DDR, sondern auch schöpferische Zerstörung und Umbau überkommener DDR-Institutionen, ein Prozess, der durch eine Fülle von Eigenentwicklungen, Folgeproblemen und unintendierten Wirkungen und Auswirkungen gekennzeichnet ist (vgl. zum Konzept des Institutionentransfers Lehmbruch 1993, zur Institutionenbildung in Ostdeutschland vor allem Wollmann 1996b, 2020, Derlien 2001). Als Institutionen, die in diesem Sinne transferiert und transformiert wurden, kann man Institutionen der Marktwirtschaft (Eigentumsordnung, Bankensystem, Währung etc.), des Sozialstaats (Sozial-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Gesundheits- und Bildungssystem, Dritter Sektor, z. B. Caritas, Diakonie, AWO), der Interessenvermittlung (Pluralismus, Korporatismus, Pressefreiheit) sowie politische Institutionen im engeren Sinne (etwa Wahlen, Parteien, parlamentarisches Regierungssystem, Föderalismus, kommunale Selbstverwaltung) und schließlich die administrativen Institutionen des engeren Regierungs- und Verwaltungssystems unterscheiden. Insgesamt sind dabei drei Phasen der Transformation eines real-sozialistischen in ein demokratisch-kapitalistisches Regierungssystem zu beobachten: • Übertragung: Diese erste Phase war durch die Einigungsgesetzgebung und eine Fülle westlicher Berater („Verwaltungsmissionare“) gekennzeichnet. Zentrales Ziel war, möglichst schnell vergleichbare Strukturen und Ansprechpartner zu schaffen; diese Phase war in den neuen Bundesländern weitgehend 1991 abgeschlossen. • Konsolidierung: In der zweiten Phase wurden die wichtigsten eigenen institutionellen Grundlagen geschaffen, insbesondere durch Landesverfassungen, Kommunalverfassungen, durch eigenes Landesrecht und den Aufbau eigenständiger Landesverwaltungen. Diese Phase war weitgehend nach der ersten Legislaturperiode der Landtage 1994 beendet. • Entwicklung: In der dritten Phase geht es schließlich darum, die etablierten Rahmenbedingungen mit eigenständigem Leben zu erfüllen, sie an die vor-
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handenen Umweltbedingungen und nicht-institutionellen Voraussetzungen anzupassen und aus den inzwischen gemachten Erfahrungen eigene Lehren zu ziehen. Da es hier auch um die kulturellen Grundlagen institutionellen Wandels geht (politische Kultur, Verwaltungskultur), die sich erheblich langsamer ändern als einfache Organisationsformen, ist schwer abzuschätzen, wann dieser Prozess endgültig als abgeschlossen betrachtet werden kann. Noch heute, über 30 Jahre nach der Vereinigung, sind die Diskussionen über die Besonderheiten der Neuen Länder nicht abgeschlossen, sondern flackern teilweise verschärft wieder auf, z. B. in der Frage der vermeintlichen Dominanz „westlicher Eliten“. Chronologisch kann man in der ersten Phase folgende Transformationsfelder unterscheiden: • die Übertragung des westlichen Wahl- und Parteiensystems beginnend mit der letzten Volkskammerwahl am 18. März 1990, • die Wiederbelebung einer kommunalen Selbstverwaltung beginnend mit der DDR-Kommunalverfassung vom 17. Mai 1990, • die Wiedereinführung der Länder in der Folge des Ländereinführungsgesetzes vom 15. Juli 1990 • und schließlich der gesamte Aufbau eines liberal-demokratischen Verwaltungssystems in der Folge der Vereinigung vom 3. Oktober 1990. Wir wollen im Folgenden die Transformation der Verwaltung anhand dieser Transformationsfelder darstellen, wobei das erste, die Übertragung des westdeutschen Parteien- und Wahlsystems, ausgespart bleibt.
5.3.2 Die Wiederbelebung der kommunalen Selbstverwaltung Die zweite Institution, die direkt nach der Wende noch von der DDR wieder ins Leben gerufen wurde, war nach den Parteien die kommunale Selbstverwaltung, die es in der DDR aufgrund der Doktrin des demokratischen Zentralismus im eigentlichen Sinne nicht gab. Gemeinden und Kreise waren lokale Organe des Staates und wurden im Rahmen der Doppelhierarchie von zentralistischem Staatsaufbau und Staatspartei SED zentral gesteuert, während von lokaler Demokratie ohnehin nicht geredet werden konnte. Die Ausgangssituation, aus der heraus die öffentliche Verwaltung und insbesondere die kommunale Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern aufgebaut werden musste, war daher sehr problematisch. Zum einen gab es keine demokratischen Fundamente der Selbstverwaltung, keine funktionierenden Parteien 373
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und Wählervereinigungen, kein Umfeld intermediärer Institutionen wie Vereine und Interessengruppen, keine Erfahrungen in demokratischer Interessenvertretung. Diese Defizite demokratischer Leistungsfähigkeit wurden überlagert und verschärft durch erhebliche Defizite räumlicher und ressourcenmäßiger Leistungsfähigkeit. Während die Kreise in der DDR verwaltungsmäßig umfangreich ausgebaut waren, waren die Gemeinden weitgehend funktionslos und konnten daher mit sehr geringem Personalbesatz auskommen. Aus diesem Grund gab es in der DDR sehr viele Kleinstgemeinden, nämlich 1989 bei einer Einwohnerzahl von 16,6 Millionen 227 Landkreise und kreisfreie Städte und 7.627 Gemeinden. In der Bundesrepublik Deutschland, die mit 61,7 Mio. beinahe viermal so viele Einwohner aufwies, waren es zur gleichen Zeit 328 Stadt- und Landkreise und 8.513 Gemeinden. Die Mehrzahl der Gemeinden der DDR war aus diesem Grund zu klein, um leistungsfähig zu sein. Fast 95 % hatten weniger als 5.000 Einwohner, zwei Drittel sogar weniger als 500. In den alten Bundesländern geht man dagegen seit den kommunalen Gebietsreformen der sechziger und siebziger Jahre von einer Mindestzahl von 5.000 Einwohnern aus, um eine einigermaßen leistungsfähige Kommunalverwaltung zu gewährleisten. Der erste Schritt der Wiederbegründung der kommunalen Selbstverwaltung waren die demokratischen Kommunalwahlen am 6. Mai 1990, denen am 17. Mai 1990 die Verabschiedung des „Gesetzes über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise der DDR (Kommunalverfassung)“ durch die demokratische Volkskammer folgte. Das Ergebnis der Kommunalwahlen bestätigte das der vorausgehenden Volkskammerwahl, allerdings mit einem erheblichen Anteil lokaler Gruppierungen und Bürgerbewegungen, und leitete gleichzeitig den auf allen politischen Ebenen zu beobachtenden Elitenaustausch ein (vgl. zum Folgenden ausführlich Wollmann 1996b). Rund ¾ der gewählten Kommunalpolitiker hatten vor der Wende keinerlei politisches Amt inne, aber immerhin ¼ waren sog. Altpolitiker, die vor der Wende in der SED oder in den Blockparteien aktiv waren. Die Elitenzirkulation wurde mit der 2. Kommunalwahl in den Jahren 1993/94 fortgesetzt, nach der – in den kreisfreien Städten und Landkreisen – über die Hälfte der Mandate auf neue Kommunalpolitiker entfielen. Vergleicht man die Kommunalpolitiker in den neuen Ländern mit denen der alten Bundesrepublik, fällt auf, dass in den neuen Ländern ca. ¾ über ein technisch-naturwissenschaftlich-medizinisches Ausbildungsprofil verfügen und nur ca. 10 % über ein juristisch-verwaltungsbezogenes. In den alten Bundesländern ist das Profil beinahe genau umgekehrt. Die Mehrzahl der Kommunalpolitiker der ersten Stunde, auch und gerade auf der Ebene der dann von den Kommunalparlamenten gewählten hauptamtlichen Verwaltungschefs (Bürgermeister und Beigeordnete), waren also Politikneulinge und Seiteneinsteiger, die sich in der
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DDR oft in der Nische naturwissenschaftlich-technischer Berufe vom öffentlichen Leben ferngehalten hatten. Praktisch parallel mit der ersten demokratischen Kommunalwahl wurde eine neue, zunächst für die gesamte DDR geltende Kommunalverfassung eingeführt (die neuen Bundesländer gab es ja noch nicht), die den rechtlichen Rahmen für die Gründungsphase der kommunalen Selbstverwaltung lieferte. Diese orientierte sich in ihren Grundzügen an dem Kommunalmodell der alten Bundesrepublik, knüpfte allerdings auch explizit durch ausgeprägte basisdemokratische und partizipative Elemente (z. B. Bürgerantrag, Bürgerentscheid, Bürgerbegehren) an die „friedliche Revolution“ des Oktober 1989 an. Diese direkt-demokratischen Elemente wurden in den meisten alten Bundesländern erst in den folgenden Jahren eingeführt, die DDR-Kommunalverfassung war also in diesem Punkt der westdeutschen Entwicklung voraus. Knapp ein Jahr später, ab Frühsommer 1991, nachdem die neuen Bundesländer gegründet und die Landtage ihre Arbeit aufgenommen hatten, wurde in allen neuen Bundesländern mit der Erarbeitung eigener Kommunalverfassungen begonnen. Im Ergebnis weisen die mit der 2. Kommunalwahl in Kraft getretenen eigenen Kommunalverfassungen der neuen Länder erhebliche Unterschiede auf, bestätigen und verfestigen damit also das etablierte bundesdeutsche Modell keinesfalls einheitlicher, sondern in aller Regel unterschiedlicher institutioneller Lösungen. Trotz aller Verschiedenheiten und als auffallendste Veränderung gegenüber der Kommunalverfassung aus dem Jahre 1990 entschieden sich alle neuen Länder für die Direktwahl der Bürgermeister. Dieses Modell war ursprünglich nur in Süddeutschland vertreten, hat sich in den neunziger-Jahren allerdings mittlerweile in der gesamten Bundesrepublik durchgesetzt. Die neuen Bundesländer haben auch in diesem Fall die Entwicklung in der gesamten Bundesrepublik vorweggenommen und in Teilen vielleicht sogar beschleunigt, allerdings unterstützt durch westdeutsche Reformer, die dieses Modell in den alten Bundesländern seit einiger Zeit propagierten. Kommunen und Kreise waren in der Übergangsphase die einzigen funktionierenden öffentlichen Institutionen, die den Untergang der DDR organisatorisch überlebten. Die zentralstaatlichen Institutionen wurden nach dem Beitritt auf den Bund und die Länder übergeleitet, die sie entweder auflösten oder in neue Organisationsformen überführten, nur die Kommunen blieben bestehen. Auf der kommunalen Ebene gab es daher zu keiner Zeit einen institutionellen Bruch und ein ähnliches Machtvakuum wie auf der staatlichen Ebene, die im Jahre 1990 durch das langsame Absterben der DDR und danach durch den schwierigen Aufbau der neuen Bundesländer gekennzeichnet war. Die ostdeutschen Kommunen agierten 375
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daher, wie bemerkt wurde, „fast ein Jahr lang praktisch ohne staatliche Aufsicht und Anleitung“ (Hoesch zitiert nach Wollmann 1996b). In diesem Zeitraum bewältigen die Kommunen einen erheblichen Neu- und Umbau der kommunalen Strukturen. Auf der einen Seite verloren sie umfangreiche Zuständigkeiten und Verwaltungsteile, die sich aus der Einbindung in die zentralistische Kommandowirtschaft der DDR ergeben hatten (insbesondere im Bereich der Produktion und Versorgung), auf der anderen Seite kamen umfangreiche neue Aufgaben hinzu (z. B. im Bereich der Sozial-, Liegenschafts- oder Bauverwaltung), nicht selten auch enorme Personalkörper (z. B. wenn bisher von den Betrieben vorgehaltene Kindergärten und Betreuungseinrichtungen übernommen wurden). Die Organisationsstruktur der Kommunen und Kreise wurde vom überkommenen zentralistischen Modell der DDR auf die Gepflogenheiten der Bundesrepublik umgestellt, i. d. R. indem die Musterorganisationspläne der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) übernommen und mit Hilfe westdeutscher Verwaltungshelfer an die jeweiligen lokalen Bedürfnisse angepasst wurden. Im Verlauf dieser Entwicklung, d. h. der Übernahme neuer und verzögerte Aufgabe überkommener Aufgaben, wurde deutlich, dass die ostdeutschen Kommunen (auch durch die Übernahme bisher von den Betrieben vorgehaltener Betreuungsangebote) über unverhältnismäßig viel Personal verfügten. Mitte 1991 waren das insgesamt 661.000 Beschäftigte, entsprechend 41,6 Beschäftigten pro 1000 Einwohner und damit genau doppelt so viele wie in den alten Bundesländern. Dieser Beschäftigtenstand musste in den nächsten Jahren erheblich zurückgefahren werden, was offenkundig nur mit großen Problemen möglich war und weiter zu den arbeitsmarktpolitischen Problemen Ostdeutschlands beitrug. Anfang 1995 betrug der Personalstand noch 476.000 Mitarbeiter, das entspricht einer Quote von 30,7 pro 1.000 Einwohner; seitdem hat sich der Abbau allerdings verlangsamt (Jann 2001b, S. 114, Tab.1). Wie erwähnt war die alte DDR durch eine viel zu kleinteilige Kreis- und Gemeindegebietsstruktur gekennzeichnet, die die Leistungs- und Verwaltungskraft der Gebietskörperschaften erheblich einschränkte. Wenn Gemeinden und Kreise wenig zu entscheiden und durchzuführen haben, ist es kein Problem, wenn sie klein und ineffektiv sind, aber im Rahmen wirklicher kommunaler Selbstverwaltung wird die administrative Leistungsfähigkeit zu einer Kernfrage. Ab 1991 stand daher in allen neuen Bundesländern eine Gebietsreform auf der Tagesordnung, die zu einer Stärkung der Leistungsfähigkeit durch Zusammenlegung und Vergrößerung der Einheiten führen sollte. Die Zahl der Kreise wurde in den Neuen Ländern zunächst von 189 auf 87, die der kreisfreien Städte von 38 auf 25 reduziert. Die durchschnittliche Bevölkerungszahl wurde in den Kreisen auf über 122.000 mehr als verdoppelt.
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Auf der Gemeindeebene entschloss man sich in allen neuen Bundesländern zum Verzicht einer durch Gesetze vorgegebenen Neuordnung durch Zusammenlegungen und Eingemeindungen, sondern ging den Weg freiwilliger Zusammenschlüsse und der Zusammenarbeit weiter bestehender Kleinstgemeinden in Verwaltungsgemeinschaften (z. B. Ämter). Ein wichtiger Grund war, dass man die gerade neu etablierte kommunale und demokratische Identität und Selbstständigkeit nicht umgehend wieder durch sog. „Zwangseingemeindungen“ beschädigen wollte. Aus diesem Grund gab es in Ostdeutschland zunächst noch immer über 6.000 Gemeinden, zum Teil mit weniger als 500 Einwohnern. In allen neuen Bundesländern wurde dann versucht, diese Struktur der westdeutschen anzupassen, in der Gemeinden und Gemeindeverbände i. d. R. über mindestens 5.000 Einwohner verfügen. Aber dieser Prozess ist immer noch nicht abgeschlossen, denn die gerade erst etablierten Gemeinden weigern sich i. d. R. in größeren Einheiten aufzugehen. Als weiterer Schritt der Kommunalreform wurden in allen Bundesländern Elemente einer Funktionalreform angestoßen, die in erster Linie zu einer Verlagerung von staatlichen Aufgaben auf die Gemeinden und Kreise, zum Teil auch zu einer Aufgabenverlagerung von Kreisen auf kreisangehörige Gemeinden führen soll. Die Ausgangsbedingungen für diese auch in den alten Bundesländern seit Jahren kontroverse Frage sind in den neuen Bundesländern besonders problematisch, denn aufgrund der unbestreitbaren Verwaltungsschwäche der viel zu kleinen und unerfahrenen Gemeinden und Kreise – und nicht zuletzt auch der zentralistischen Verwaltungstradition der alten DDR – wurde in den ersten Jahren ein Übermaß an Aufgaben in staatlicher Regie wahrgenommen. Die sich schnell entwickelnde Gewohnheit, Angelegenheiten in staatlichen Ober- oder sogar Oberstbehörden erledigen zu lassen anstatt von den Kommunen, ist nur schwer zurückzudrängen. Auf Unabhängigkeit und Abschottung gerichtete Ressortpolitik hat sich zügig auch in den neuen Ländern durchgesetzt, nicht nur auf Ministerialebene, sondern auch durch die Etablierung eigener Verwaltungsbehörden. Dieser aus den alten Bundesländern wohlbekannte „Ressortegoismus“ muss mühsam wieder eingedämmt werden. Der Prozess der Funktionalreform erwies sich daher bisher als äußerst zäh. Genau wie in Westdeutschland fällt es der staatlichen Verwaltung offenbar sehr schwer, angestammte Aufgaben abzugeben (siehe zu den weitgehend gescheiterten Versuchen der letzten Jahre Kap. 5.2.7). Schließlich ist auch in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren ein Prozess der Modernisierung der Kommunalverwaltung angelaufen, der sich seit Anfang der neunziger Jahre in den alten Bundesländern unter dem Schlagwort „Neues Steuerungsmodell“ mit rasanter Geschwindigkeit ausgebreitet hatte (vgl. Kap. 5.2.4). Während zunächst über 90 % der westdeutschen Städte angegeben hatten, sich mit Reformen im Sinne dieser deutschen Variante des „New Public 377
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Management“ zu befassen, war die Zahl in den neuen Bundesländern immer erheblich geringer. Der Grund für dieses Zögern, sich auf Managementreformen und Experimente einzulassen, lag zum einen darin, dass Verwaltungsstrukturen noch nicht hinlänglich gefestigt waren und man daher nicht mit Reformen beginnen wollte, so lange der Aufbau noch nicht abgeschlossen war, zum anderen aber auch in der erheblich kleinteiligeren Gebietsstruktur. Gegner dieser ostdeutschen Zurückhaltung hatten argumentiert, dass gerade dort, wo überkommene bürokratische Strukturen noch nicht verfestigt sind, die Bedingungen für grundlegende Reformen besonders günstig sein sollten. Während der Aufbauphase Anfang der neunziger Jahre spielte die KGSt daher eine merkwürdige Doppelrolle. Während in den alten Bundesländern das neue Steuerungsmodell propagiert wurde, half die KGSt im Osten bei der Etablierung des überkommenen Organisationsmodells.
5.3.3 Der Aufbau der neuen Bundesländer Auch die Länder als Basisstruktur des bundesdeutschen föderalen Regierungssys tems wurden noch von der DDR-Volkskammer wieder eingerichtet, und zwar mit dem Ländereinführungsgesetz vom 15. Juli 1990. Die Wiedereinführung der Länder war bereits seit 1989 politische Forderung eines Teils der Opposition. Mit dem Beitritt am 3. Oktober 1990 wurden die neuen Länder dann Gliedstaaten der Bundesrepublik Deutschland. Die Grenzen dieser fünf „neuen Bundesländer“ (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen) orientieren sich an den 1945 von der sowjetischen Besatzungszone eingerichteten Ländern (die wiederum auf die Länder der Weimarer Republik zurückgehen), die allerdings bereits 1952 wieder aufgelöst und durch 17 Bezirke ersetzt worden waren. Innerhalb der Bundesrepublik gehören die neuen Länder mit Ausnahme von Sachsen nach ihrer Bevölkerungszahl zu den kleineren Bundesländern (sämtlich im unteren Drittel). Entsprechend ihrer Einwohnerzahl kontrollieren sie im Bundesrat 19 von 69 Stimmen. Im gesamtdeutschen Gefüge sind sie nicht nur besonders klein, sondern aufgrund der Ausgangssituation nach 40jährigem „realen Sozialismus“ außerordentlich finanzschwach und durch außergewöhnliche wirtschaftliche und infrastrukturelle Strukturprobleme belastet (aktuelle Daten jeweils im „Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit“ der Bundesregierung). Die zu Beginn der Vereinigung vielfach diskutierte Länderneugliederung, die in Ostdeutschland nach einem Vorschlag nur ein Bundesland, nach anderen aber auch zwei oder drei Bundesländer vorsah, ist nur zwischen Brandenburg und Berlin ernsthaft betrieben worden. Der von den Regierungen ausgehandelte und von den Landtagen verabschiedete Fusionsvertrag ist in einer Volksabstimmung
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am 5. Mai 1996 an der in Brandenburg fehlenden Mehrheit gescheitert. Auch in der alten Bundesrepublik wurde und wird seit Jahren über eine Neugliederung und Zusammenlegung von Bundesländern diskutiert. Durch das Scheitern der Fusion von Berlin und Brandenburg sind auch diese Pläne für absehbare Zeit wieder von der politischen Tagesordnung verschwunden. Das Ländereinführungsgesetz hatte die am 14. Oktober neu gewählten ersten Landtage als verfassungsgebende Versammlungen bestimmt. Sämtliche Landtage waren daher in der ersten Zeit neben dem Aufbau von Gesetzgebung und Regierung auch mit der Formulierung eigener Landesverfassungen beschäftigt. Dies gelang in bemerkenswert kurzer Zeit, so dass zwischen Mai 1992 und Oktober 1993 in allen neuen Bundesländern Verfassungen verabschiedet wurden, die in drei Ländern zusätzlich durch Volksabstimmungen gebilligt wurden. Mit den Vorarbeiten zu den neuen Landesverfassungen war allerdings teilweise schon lange vor Verabschiedung des Ländereinführungsgesetzes in den so genannten „runden Tischen“ begonnen worden. Die neuen Verfassungen ähneln denen der alten Bundesländer, indem sie überall ein parlamentarisches Regierungssystem kodifizieren (Wahl des Regierungschefs durch das Parlament). Sie unterscheiden sich von den alten Verfassungen i. d. R. durch besondere Minderheitenrechte (z. B. Sorben), durch umfangreichere und detailliertere Grundrechtskataloge und Staatsziele (z. B. Datenschutz, Schutz der natürlichen Umwelt, Gleichstellung) und durch eine stärkere Betonung der Elemente direkter Demokratie (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid). Damit wird, zum Teil ganz explizit in den Präambeln, an die Erfahrungen der 40jährigen DDR-Diktatur und der friedlichen Revolution des Herbstes 1989 angeknüpft. Die neuen Landtage setzten sich ähnlich wie die Kommunalparlamente zunächst zu 77 % aus Neupolitikern zusammen, die erst nach der Wende politisch aktiv geworden waren (vgl. wiederum Wollmann 1996b). Weniger als 1 % der insgesamt 509 gewählten neuen Landtagsabgeordneten hatte der alten, sozialistischen Volkskammer angehört, nur ca. 2 % kamen nicht aus den neuen Bundesländern. „Altpolitiker“ hatten in der DDR i. d. R. den Räten der Kreise und Gemeinden angehört. Sie waren, abgesehen von der PDS/Linke, fast ausschließlich in den Fraktionen der CDU und F.D.P vertreten, da diese ja aus den alten Blockparteien hervorgegangen waren. Die sich daraus ergebenden Spannungen zwischen alten „Blockflöten“ (so der Spitzname der Mitglieder der alten Blockparteien) und neuen Parteimitgliedern, die z. B. aus der Bürgerbewegung kamen, sind in diesen Fraktionen zum Teil bis heute nicht endgültig überwunden. Die Landtage bewältigten in ihrer ersten Legislaturperiode ein immenses Pensum. Zum einen wurde ein Bestand an Landesgesetzen geschaffen, der weitgehend dem der westdeutschen Bundesländer entspricht, die dafür ja 40 Jahre gebraucht hatten. 379
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Gleichzeitig musste jeweils eine Landesverwaltung völlig neu aufgebaut werden, für die es insbesondere auf Ebene der Ministerien keinerlei Anknüpfungspunkte gab, und zeitgleich musste der aufgeblasene staatliche Verwaltungsapparat der DDR in die neue Landesverwaltung übernommen oder abgebaut werden. Dies war nur mit Hilfe intensiver Unterstützung durch Aufbauhelfer aus den alten Bundesländern möglich. Von Anfang an war klar, dass der Einigungsvertrag die Auflösung der bisherigen Strukturen der DDR zwar formell hergestellt hatte, aber im Prinzip den größten Teil der Probleme nur vor der Tür der neuen Länder ablud, die zudem gerade erst gebildet wurden. Die Verwaltungshilfe der alten Bundesländer und des Bundes, die über eine gemeinsame Clearingstelle koordiniert wurde, erlangte daher eine zentrale Bedeutung. Eingeleitet wurde die Zusammenarbeit noch von der letzten DDR-Regierung. Dabei ging es zum einen um vorbereitende Maßnahmen zum Aufbau der Fachverwaltungen (z. B. Justiz, Finanzen und Umwelt), bei der sich schon früh die zuständigen Bundesressorts und die jeweiligen „Partnerländer“ engagierten. Die alten Bundesländer waren z. T. schon 1989 informelle Partnerschaften mit den zukünftigen neuen Bundesländern eingegangen, und zwar Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen mit Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen mit Brandenburg, Niedersachsen mit Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Hessen mit Thüringen sowie Bayern und Baden-Württemberg mit Sachsen. Gleichzeitig erfolgten auch Hilfen für den Auf- und Ausbau der Kommunalverwaltungen, vorrangig im Rahmen von Städte- und Kreispartnerschaften, die z. T. schon in den letzten Jahren der DDR etabliert worden waren. Die gemeinsame Clearingstelle hatte u. a. Aufgaben im Bereich der Entwicklung von Musterstellenplänen und Personalabbauplänen, bei der Unterstützung der neuen Länder bei der Umsetzung dieser Pläne und bei der Abstimmung der Verwaltungshilfe des Bundes und der Länder einschließlich der Bereitstellung von Personal. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1990 und 1994 insgesamt ca. 35.000 Mitarbeiter des Bundes, der westdeutschen Länder und der Kommunen für kürzere oder längere Zeit in Ostdeutschland aktiv waren (Wollmann 1996b). Dabei wird weiter geschätzt, dass zwischen 1990 und 1993 jederzeit rund 10.000 westdeutsche Fachleute in den ostdeutschen Institutionen beratend tätig waren (vgl. König/Messmann 1995). Dieser Einsatz der westdeutschen Verwaltungshelfer („Verwaltungsmissionare“) wurde durch großzügige finanzielle Hilfen des Bundes und der Länder unterstützt. Aber auch nachdem die finanziellen Anreize, sich für eine begrenzte Zeit nach Ostdeutschland abordnen zu lassen (die sog. „Buschzulage“), nicht mehr gewährt werden, blieb die Zahl der Verwaltungshelfer noch immer erheblich, wobei kurzfristige Abordnungen kaum mehr stattfanden und stattdessen der Arbeitsplatz endgültig in die neuen Bundesländer verlagert wurde.
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Flankiert wurde diese Verwaltungshilfe durch eine „gigantische wie historisch einmalige Fortbildungswelle“ (Wollmann 1996b). Auch hier ist man wieder auf Schätzungen angewiesen, aber es ist davon auszugehen, dass insgesamt über 250.000 Bedienstete der neuen Länder und Kommunen in der Aufbauphase durch Seminare und Schulungen sowie durch die Entsendung von Dozenten, durch Hospitationen und Praktika mit westdeutscher Hilfe aus- und fortgebildet wurden. Der besondere Einsatz der Mitarbeiter, die zum einen umfassende Qualifizierungsaktivitäten über Jahre neben der extrem schwierigen Aufbauarbeit auf sich genommen haben, zum anderen unter extrem schwierigen Bedingungen kurzfristig von West nach Ost gewechselt sind, darf nicht unterschätzt werden. Überhaupt hat in dieser Umbruchphase die öffentliche Verwaltung sowohl mit der Vorbereitung des Einigungsvertrages wie mit dessen kurzfristiger Umsetzung eine Leistungsfähigkeit bewiesen, die weit entfernt ist von dem stereotypen Image der langsamen und behäbigen öffentlichen Verwaltung in Deutschland. Der Aufbau der Ministerialverwaltung, der praktisch „bei Null“ anfing, orientierte sich an den Organisationsmustern der alten Bundesländer, d. h. es wurden zunächst Staatskanzleien als Behörden des Ministerpräsidenten und zwischen acht und elf Fachressorts geschaffen, die sich auch in ihrem internen Aufbau an den westdeutschen Vorbildern ausrichteten. Das größte Problem war von Beginn an ein Defizit an qualifiziertem Personal sowohl bezüglich der Besetzung der Spitzenpositionen als auch hinsichtlich der juristischen und verwaltungsmäßigen Eignung und Erfahrung der Mitarbeiter. Das alte Führungspersonal der DDR wollte man i. d. R. aus politischen – und zum Teil auch fachlichen – Gründen nicht übernehmen, eine geeignete alternative Funktionselite stand aber nicht zur Verfügung. Bewältigt wurde diese Problematik – neben der erwähnten Aus- und Fortbildung – durch einen massiven Personal- und Elitentransfer aus Westdeutschland und durch die Neueinstellung von Mitarbeitern, die bisher außerhalb des Staatsapparats gearbeitet hatten, z. B. in Betrieben oder der Wissenschaft. In den ersten Landesregierungen waren ca. 1/3 der Führungspositionen (Ministerpräsidenten und Minister) mit sog. „Westimporten“ besetzt, i. d. R. Politiker, die im Westen ähnliche Positionen oder Abgeordnetenmandate innehatten. Diese Westdominanz, die in einigen Ministerien wie Finanzen und Justiz aus einsichtigen Gründen besonders ausgeprägt war, setzte sich über die Ebene der Staatssekretäre und Abteilungsleiter bis in die Referate fort. Je höher die Position in den neu aufgebauten Landesministerien, desto größer der Anteil der Westdeutschen. In einigen neuen Bundesländern kamen zu Anfang fast sämtliche Staatssekretäre und 2/3 der Abteilungsleiter aus dem Westen. Ostdeutsches Leitungspersonal war am ehesten in eher „technischen“ Ressorts wie Umwelt und Verkehr zu finden (Derlien 1993, Wollmann 1996b, 2020). 381
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Inzwischen ist dieser Anteil der Westimporte überall zurückgegangen, aber noch immer sind auf den höchsten Verwaltungsebenen Mitarbeiter aus dem Wes ten überproportional stark vertreten. Neuere Studien zeigen weiter eine deutliche Unterrepräsentation Ostdeutscher in vielen Teileliten der neuen Bundesländer, Ausnahmen sind vor allem Teile der Justiz, der Wirtschaft, die Bundeswehr und einige Medien (Bluhm /Jacobs 2016). Auch in den gesamten bundesdeutschen Eliten sind Ostdeutsche unterrepräsentiert (Kollmorgen 2016). In der Verwaltung der neuen Bundesländer hat diese Unterrepräsentation kontinuierlich abgenommen, ist aber immer noch deutlich. Laut den neuesten Zahlen einer derzeit durchgeführten Studie von Sylvia Veit (2020) betrug der Anteil von Spitzenbeamten (Staatssekretäre und Abteilungsleiter) mit einer ostdeutschen Sozialisation in den neuen Bundesländern 2010 etwa 17 %, stieg dann bis 2014 auf beinahe 40 % und ist bis 2018 auf gut 36 % zurückgefallen. Insgesamt war der Anteil in Brandenburg am höchsten, in Sachsen am niedrigsten. Über den Anteil an der Gesamtverwaltung gibt es keine verlässlichen Zahlen, aber es ist davon auszugehen, dass hier der „Ostanteil“ erheblich höher ist. Auffällig ist eine geringere Politisierung der Spitzenbeamten (vgl. Kap. 4.5), die mit einer stärker konsensdemokratisch geprägten politischen Kultur der neuen Bundesländer begründet wird (Vedder/Veit 2017). Insgesamt wurden alle Landesverwaltungen aus den Resten der alten DDRVerwaltung errichtet, so dass „die Ruinen der alten Dienststellen mit ihrem Personalbestand und ihrer sächlichen Ausstattung zum Steinbruch für die neuen Behörden“ (Ruckriegel zitiert nach Wollmann 1996b) wurden. So entstand ein ziemlich „bunter Teppich“ von Sonderbehörden und allgemeiner Verwaltung, der insbesondere durch die „Verwaltungshelfer“ aus den jeweiligen Partnerländern geprägt wurde. Wie insgesamt im bundesdeutschen Föderalismus zeigt sich auch hier eine große Varianz zwischen den neuen Bundesländern. Besonders problematisch war in diesem Zusammenhang zum einen der Umfang des personell aufgeblähten Staatsapparats der DDR, der laut Einigungsvertrag auf die neuen Länder überging, zum anderen die politische Belastung eines Teils des Personals, insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit („Stasi“). Der gesamte Staatssektor der DDR zählte rund 1.100 Verwaltungseinheiten mit insgesamt etwa 2,1 Millionen Funktionären und Angestellten, der allgegenwärtige Staatssicherheitsdienst Stasi beschäftigte etwa 85.000 offizielle und 180.000 „inoffizielle“ Mitarbeiter (Derlien 1993, S. 325).1991 beschäftigten die neuen Bundesländer, nachdem Ende 1990 bereits eine große Anzahl von DDR-Institutionen „abgewickelt“ worden war, insgesamt noch 634.000 Mitarbeiter. Das waren 39,9 Landesbedienstete pro 1000 Einwohnern und damit ca. 1/3 mehr als in den alten Bundesländern (30,2). Inzwischen ist dieser Quotient auf unter 34 gesunken, in den alten Bundesländern allerdings auch auf unter 30. Damit war in
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den neuen Bundesländern, ähnlich wie in den Kommunen, ein bemerkenswerter Personalabbau durchgeführt worden, dennoch beschäftigen die neuen Bundesländer immer noch mehr Personal als die alten. Bezüglich der „Stasi-Verstrickungen“, also der Zusammenarbeit mit der gefürchteten Staatssicherheit des DDR-Regimes, gibt es in den neuen Ländern kein einheitliches Vorgehen. In einigen Ländern wurden fast 90 % der Mitarbeiter überprüft, in anderen, etwa Brandenburg, erheblich weniger. Aus einer Untersuchung aus Mecklenburg-Vorpommern geht hervor, dass bei beinahe 7 % der Mitarbeiter Erkenntnisse über eine Zusammenarbeit vorlagen (4.236), von denen wiederum ca. 1/3 aus dem Landesdienst entlassen wurden (1.609). Ein besonderes Problem war die Einrichtung bzw. Kontinuität von Regierungsbezirken. In den alten westdeutschen Bundesländern gibt es, mit Ausnahmen, zwischen der Ebene der Landes- und der Kommunalverwaltung eine staatliche Bündelungsbehörde, die sog. Mittelinstanz (Bezirksregierung, Regierungspräsident u. ä.; siehe Kap. 3.4.2). Ob diese auch in den neuen Bundesländern eingerichtet werden sollte, war von Beginn an umstritten. Dagegen sprach zum einen die geringe Bevölkerungszahl der neuen Bundesländer, denn auch im Westen haben die kleinsten Bundesländer (z. B. Schleswig-Holstein) auf diese zusätzliche Instanz verzichtet. Dagegen sprach insbesondere aber auch, dass mit der Einrichtung von Bezirken die alte DDR-Bezirksstruktur perpetuiert wurde, und man daher befürchtete, in der Mittelinstanz könnten etablierte DDR-Seilschaften überleben und sich gegenseitig stützen. Im Ergebnis verzichteten Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ganz auf die Regierungsbezirke, in Sachsen-Anhalt und Thüringen wurde jeweils ein Landesverwaltungsamt und in Sachsen eine Landesdirektion gegründet (vgl. Abb. 24).
5.3.4 Umbau des Verwaltungssystems 5.3.4.1 Ausgangslage In der alten Bundesrepublik hatte 1989 vor der Vereinigung der gesamte öffentliche Sektor ca. 3,8 Mio. Vollbeschäftigte umfasst. Bei weitem die meisten öffentlich Beschäftigten arbeiteten in den Bereichen Bildungswesen und öffentliche Sicherheit (Lehrer und Polizisten auf Länderebene) sowie Versorgung, Gesundheit und Sozialverwaltung (auf kommunaler Ebene). In der DDR war es wegen der legendären Geheimniskrämerei, aber auch aufgrund systematischer Unterschiede schwer, einen ähnlichen Überblick über die öffentliche Verwaltung bzw. den Staatsapparat zu erlangen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Ende 1989 ca. 2,1 Millionen Personen im Staatsapparat der DDR beschäftigt waren, davon ca. 1 Mio. auf der Ebene der Kommunen und Kreise (Angaben zu den Verwaltungsstrukturen der DDR nach König 1991, S. 147ff.). Realistische Vergleichszahlen zum Westen sind 383
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allerdings nicht vorhanden, denn in der alten DDR gab es bekanntlich nur einen sehr kleinen nicht-öffentlichen Sektor. Im Prinzip war die gesamte Volkswirtschaft in öffentlicher Hand, also auch der Bereich der Produktion und Distribution geleitet durch ein umfangreiches System von Industrieministerien und deren nachgeordneten Institutionen. Die Restrukturierung und Privatisierung dieses Sektors war daher von Anfang an ein zentrales Problem des Institutionentransfers. Bereits am 1. März 1990 beschloss die letzte (reform-)kommunistische DDR-Regierung die Gründung einer Treuhandanstalt, mit dem Ziel, die Staatswirtschaft zu reformieren, im Wesentlichen aber weiterhin öffentlichen Besitz zu halten. Kurze Zeit später, am 17. Juni 1990, verabschiedete die erste demokratisch gewählte Volkskammer ein Treuhandgesetz, mit dem Auftrag, die Staatswirtschaft der DDR zu privatisieren. Da die Treuhandanstalt, die nach der Vereinigung in eine Anstalt des öffentlichen Rechts umgewandelt wurde, nur dem Bund gegenüber rechenschaftspflichtig war und weitgehend unabhängig von den Regierungen der neuen Bundesländer agierte, wurde sie als „mächtige zweite nationale Regierung“ bezeichnet (Helmut Schmidt, zitiert nach Czada 1996, S. 94; zur Treuhandanstalt insgesamt Seibel 1992, 2011, Wiesenthal 1995, Wollmann 2020). Die Arbeit der Treuhandanstalt kann hier nicht gewürdigt werden, sie gehört bis heute zu den umstrittensten Elementen der deutschen Einigung (z. B. Behling 2015, Pötzl 2019, Schröder 2014). Aber auch im engeren staatlichen Bereich hätten die Ausgangsbedingungen nicht unterschiedlicher sein können. Systematisch handelt es sich bei der Verwaltung der alten Bundesrepublik um eine klassische, kontinentaleuropäische Verwaltung, gekennzeichnet durch die von Max Weber benannten idealtypischen Merkmale einer Bürokratie, also rechtlich festgelegte behördliche Kompetenzen, Amtshierarchie, aktenmäßige Verwaltung, regelgebundene Amtsführung und Berufsbeamtentum. Demgegenüber war der Staatsapparat der alten DDR gekennzeichnet durch Etatismus, Kaderverwaltung und Nomenklatur, demokratischen Zentralismus und Doppelunterstellung unter Partei und Staatsapparat. Im Prozess der Vereinigung waren daher umfangreiche und unvorhergesehene Probleme der Transformation einer real-sozialistischen Verwaltung in eine klassisch-europäische Verwaltung zu bewältigen (König/Messmann 1991). Im Gegensatz zum liberalen Rechts- und Sozialstaat kannten Staaten des realen Sozialismus keine eindeutigen Differenzierungen zwischen gesellschaftlicher Eigenverantwortung und Selbstorganisation sowie staatlicher Zuständigkeit. In der Bundesrepublik ist durch die politische Identifikation eines Problems als öffentliche Aufgabe noch nicht über die Art und Weise der Wahrnehmung entschieden. Gewährleistung, Finanzierung und Durchführung öffentlicher Leistungen werden getrennt betrachtet, z. B. ist Kindergartenbetreuung eine öffentliche Aufgabe, die politisch
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geregelt, aber weitgehend Trägern des Dritten Sektors überlassen und zumindest zum Teil privat finanziert wird. In der DDR gab es diese Unterscheidungen nicht, dort war der Staat entsprechend der marxistisch-leninistischen Doktrin Hauptinstrument der Realisierung des Sozialismus. Gesellschaftliche Selbstorganisation fand außerhalb des staatlichen Bereichs und insbesondere außerhalb staatlicher Kontrolle nicht statt. Besonders offenkundig wird dies im Bereich der Wirtschaftsverwaltung. Auch in der alten Bundesrepublik ist die Verwaltung über die Eigenproduktion öffentlicher Leistungen, die Regulierung von Unternehmen und Märkten bis zur Erstellung von Infrastruktur vielfältig mit der Wirtschaft verflochten. Aber in der DDR gab es etwas prinzipiell anderes, nämlich eine Verwaltungswirtschaft, in der die Wirtschaft nicht ein sich weitgehend selbst steuerndes Teilsystem der Gesellschaft war, sondern im Rahmen einer umfangreichen Verwaltung, ausgehend von Industrieministerien und staatlicher Plankommission, hierarchisch über verschiedene staatliche Ebenen politisch-administrativ gesteuert wurde. Konkret bedeutet dies, dass in der DDR alle denkbaren Funktionen, vom Lohn über Produktion, Konsumption, Distribution bis zu Erholung, Wohnungsbau und Freizeiteinrichtungen verwaltungsmäßig hierarchisch durch Anweisung und Befehl gesteuert wurden oder dies zumindest versucht wurde. Die einem modernen Rechtsund Sozialstaat zur Verfügung stehenden differenzierten Steuerungsinstrumente, von der rechtlichen Regulierung über Ge- und Verbote, die Gewährung finanzieller Anreize oder Disincentives durch Subventionen und Steuern, die informationelle Steuerung durch Aufklärung, die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur bis hin zur strukturellen Steuerung von Entscheidungsprozessen in ausdifferenzierten Politiknetzwerken stand der öffentlichen Verwaltung in der DDR nur sehr begrenzt zur Verfügung. Die öffentliche Verwaltung der DDR war weiter gekennzeichnet durch das Prinzip der Gewalteneinheit, d. h. dem Grundsatz der Einheit von Beschlussfassung und Durchführung, sowie durch „bürokratischen Zentralismus“ als Ausfluss des demokratietheoretischen Ideals des „demokratischen Zentralismus“. Im Gegensatz zur Bundesrepublik gab es in der DDR keinen Föderalismus und keine kommunale Selbstverwaltung, sondern nur „örtliche Organe der Staatsmacht“. Es gab zwar Bezirke, Stadtkreise und Landkreise sowie in diesen ca. 7.600 kreisangehörige Städte und Gemeinden, aber keine Selbstverwaltung und praktisch nur sehr geringe Entscheidungsspielräume. Demgegenüber steht das extrem vertikal und vor allem horizontal differenzierte Verwaltungssystem der Bundesrepublik, das nicht nur durch das Prinzip der Gewaltenteilung und der kommunalen Selbstverwaltung, sondern auch durch eine starke professionelle und sektorale Differenzierung gekennzeichnet ist. 385
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Die Verwaltung der DDR war weiter gekennzeichnet durch die Begriffe Kader und Nomenklatur. Kader waren nach DDR-Definition Personen, die „aufgrund ihrer politischen und fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten geeignet und beauftragt waren, Kollektive von Werktätigen zur Realisierung gesellschaftlicher Prozesse und Aufgaben zu leiten oder als wissenschaftlich ausgebildete Spezialisten an der Realisierung mitzuwirken“.
An der Spitze der Kader stand die Nomenklatur, benannt nach den Verzeichnissen von Positionen und Funktionen auf allen gesellschaftlichen Gebieten, über deren Besetzung die Partei entweder direkt entschied oder für die sie verbindliche Festlegungen traf und sich eine Kontrolle vorbehielt. Grundqualifikation der Verwaltungskader war ihre politisch-ideologische Eignung. Zwar spielte auch die fachliche Qualifikation eine Rolle, aber sie war nachrangig. Eine Folge dieser Besetzung insbesondere von Führungspositionen war, dass die fachliche, horizontale Differenzierung eher geringer und die vertikale, hierarchische Unterstellung sehr deutlich ausgeprägt war. Auch hier also eher autoritäre, hierarchische und zentralistische als professionelle dezentrale Strukturen. Während die Verwaltung in der DDR schließlich zum einen dem Herrschaftsanspruch der Staatspartei, zum anderen dem umfassenden Planungssystem untergeordnet war, waren andere Entscheidungskriterien, etwa eigenständige rechtliche, ökologische oder ökonomische Kriterien außerhalb der hierarchischen Befehlsstruktur von Plan und Befehl, eher nachrangig und schwer durchsetzbar. Das Verwaltungssystem konnte zugespitzt durch die Begriffe „Rechtsnihilismus“ und „Ignorierung wirtschaftlicher Gegebenheiten“ gekennzeichnet werden. Demgegenüber ist die öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik durch ihre umfassende rechtliche Durchnormierung, durch eine außerordentlich entwickelte verwaltungsrechtliche Dogmatik und durch den universellen Rechtsschutz gegen staatliche Maßnahmen gekennzeichnet. Öffentliche Verwaltung zeichnet sich aus durch Gesetzmäßigkeit, d. h. strenge Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) durch Gesetzesvorrang (Vereinbarkeit jeder staatlichen Maßnahme mit dem Gesetz) und Gesetzesvorbehalt (Erlass von verpflichtenden Rechtsvorschriften sowie von Verwaltungsakten bedürfen der Ermächtigung durch ein Gesetz). Diese grundlegende Legalität der Verwaltung ergibt sich und wird z. T. ergänzt durch demokratische Legitimität (demokratische Festlegung der Normen und Führung der Verwaltung).
5.3.4.2 Vorgehensweise Insgesamt wurde die real-sozialistische Verwaltung der DDR innerhalb kürzester Zeit zumindest in ihren formalen Strukturen in eine „klassisch-europäische Verwal-
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tung“ überführt (König 1991). Ausgangspunkt für den Umbau der grundlegenden Prinzipien des DDR-Verwaltungssystems war der Einigungsvertrag, der vorsah, dass das gesamte Bundesrecht einschließlich des Verwaltungsrechts mit dem Beitritt in den fünf neuen Ländern in Kraft trat. Weiter dehnte der Einigungsvertrag das Modell des Berufsbeamtentums mit seinen hergebrachten Grundsätzen auf die neuen Länder aus und legte fest, dass die Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben so bald wie möglich Beamten übertragen werden solle. Auch andere im Westen seit langem umstrittene Strukturmerkmale wie die zu kleinen Bundesländer, die Mittelinstanzen oder der durch Sonderbehörden verfestigte Ressortegoismus wurden so in den neuen Bundesländern etabliert (Jann 1995). Schlüsselbegriffe der Neuorganisation waren „Überführung“ und „Abwicklung“, über die spätestens drei Monate nach dem Beitritt, also bereits Ende 1990 zu entscheiden war. Die sog. Abwicklung – insbesondere dort, wo der Staat und seine Bediensteten im planwirtschaftlichen System der DDR Aufgaben wahrnahmen, die in der Bundesrepublik außerhalb des öffentlichen Sektors wahrgenommen werden – führte zum Ruhen des Arbeitsverhältnisses, der grundsätzliche Anspruch auf Weiterbeschäftigung erlosch. Diese Möglichkeit bestand allerdings nicht auf der Ebene der Kommunen. Weiter war im Einigungsvertrag eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses für zulässig erklärt worden, wenn der Arbeitnehmer wegen mangelnder fachlicher Qualifikation den Anforderungen nicht entsprach, wegen mangelnden Bedarfs nicht mehr verwendbar war oder die bisherige Beschäftigungsstelle aufgelöst wurde. Eine außerordentliche Kündigung war insbesondere dann vorgesehen, wenn gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen worden war oder eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit vorgelegen hatte. Auf diese Weise sollten die durch die Kaderpolitik der SED geschaffenen Probleme sowohl bezüglich der qualitativen Mängel als auch der quantitativen Überbesetzung der Verwaltung beseitigt werden. Im Bereich der Überführung orientierte sich der Aufbau dieser neuen, demokratischen Verwaltung notgedrungen – mangels realistischer Alternativen – an den Organisationsmustern der alten Bundesländer, die vor allem von den jeweiligen westdeutschen Partnerländern und -kommunen übernommen wurden. Das westdeutsche Verwaltungssystem wurde einschließlich aller bekannten Schwächen (Überregelung, Bürokratisierung, Kameralistik, Haushaltsrecht, Dienstrecht) innerhalb kürzester Zeit auf die neuen Länder übertragen, verkündet und umgesetzt von der großen Schar westlicher Verwaltungshelfer. Diese Vorgehensweise ist gelegentlich als ein unterkomplexer „Blaupausenansatz“ kritisiert worden. Die Institutionen der alten Bundesrepublik wurden, so wird behauptet, ohne Berücksichtigung bekannter Defizite, ohne Beachtung der Umweltbedingungen und nicht-institutioneller Vor387
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aussetzungen, ohne zeitliche Flexibilität, ohne Offenhalten für neue Lösungen und ohne an sich mögliche Innovationen auf die neuen Länder übertragen. Der Befund einer Kopie des westdeutschen Systems gilt uneingeschränkt allenfalls nur für die erste Phase der Transformation, in der das zentrale Ziel war, möglichst schnell vergleichbare Strukturen und Ansprechpartner zu schaffen. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass selbst die Übertragungsphase und auf jeden Fall die nachfolgende Konsolidierungsphase keineswegs durch sklavisches Kopieren der westlichen Vorbilder und Partnerländer gekennzeichnet ist. Vielmehr hat der Institutionentransfer zu einer erheblichen Differenzierung zwischen den neuen Ländern geführt. Dabei haben sie aus Erfahrungen der alten Länder gelernt, wie z. B. im Bereich der kommunalen Gebietsreform und der Einrichtung von Mittelinstanzen deutlich wird. Sie haben von der Vielfalt des bundesdeutschen Verwaltungsföderalismus profitiert, der keineswegs überall einheitliche Lösungen hervorgebracht hat, und haben in Ansätzen durchaus so etwas wie „best practice“ praktiziert. Sie haben sich umgesehen und versucht, die für sie „beste“ Alternative zu etablieren, gelegentlich auch, indem sie Lösungen aus verschiedenen Alt-Bundesländern kombiniert haben. Wenn dies nicht häufiger geschehen ist, liegt dies nicht notwendigerweise am fehlenden guten Willen der Akteure in den neuen Bundesländern, sondern eher daran, dass systematisches Wissen hierzu rar ist. Die Wissenschaft hat die vergleichende Untersuchung der erheblichen Varianzen der bundesrepublikanischen Verwaltungssysteme und ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile sträflich vernachlässigt. Beratung war von dieser Seite nur spärlich zu erhalten, stattdessen dominierten Praktiker. Das von diesen oft nicht ganz jungen Beratern kaum große Innovationen zu erwarten waren, ist wenig verwunderlich. Seitdem ist der Reformprozess weiter gegangen und fast überall ist eine Phase der eigenständigen Entwicklung zu beobachten.
5.3.4.3 Probleme der Verwaltungstransformation Die immensen Probleme und Verwerfungen des Verwaltungsum- und aufbaus in den neuen Bundesländern können hier nur skizziert werden (vgl. ausführlicher König/ Messmann 1995, Wollmann 1996b). Innerhalb kürzester Zeit wurden aus „lokalen Organen der Staatsorganisation“ Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung, gleichzeitig mussten fünf Landesverwaltungen völlig neu aufgebaut werden, für die es insbesondere auf der Ebene der Ministerien keinerlei Anknüpfungspunkte gab, und es wurde eine Vielzahl von Behörden der DDR „abgewickelt“ sowie der aufgeblähte Personalbestand der übrigen übernommenen Behörden drastisch reduziert. Ohne Zweifel hat diese überstürzte und umfassende Übertragung des westlichen Verwaltungsmodells zu erheblichen Verwerfungen und Aufbauschwierigkeiten geführt (Jann 1995):
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• Auf der Ebene der Programme kämpfte die Verwaltung im Osten noch mehr wie die im Westen mit Überregelung und Verwirrung – sie hatte oft nur noch nicht so gut gelernt, wie eine „pragmatische Vorschriftenreduzierung im Vollzug“ (Frido Wagener) gehandhabt wird. Der abrupte und vollständige Transfer des westlichen Rechtsstaats hatte allerdings in bestimmten Bereichen in der Anfangsphase zu einem „rechtsfreien Raum“ geführt, in dem die bekannten Aufbausünden begangen wurden (Bau- und Planungsrecht, Wirtschaftsförderung). • Bezüglich der Organisation orientierte man sich an der im Westen entwickelten hochgradigen Arbeitsteilung und horizontaler wie vertikaler Differenzierung – mit allen bekannten Auswüchsen und Problemen. Hier lag die Gefahr darin, dass übertriebene und veraltete Zuständigkeits- und Kontrollregelungen übernommen wurden, die auch im Westen längst revisionsbedürftig waren. • Auch bei den Verfahren hatte man zunächst die westlichen bürokratischen Steuerungsinstrumente übernommen. Im Westen wurde in den neunziger Jahren zwar intensiv über neue Steuerungsinstrumente diskutiert, aber übertragbare belastbare Erfahrungen gab es zumindest nicht. Hier ist zu beobachten, dass in manchen Bereichen noch immer ein staatszentriertes Verständnis öffentlicher Aufgaben vorherrscht, d. h. der möglichst präzise Vollzug zentraler Handlungsanweisungen ist das zu wenig hinterfragte Leitbild. Aber auch im Westen sind bürokratische Merkmale im Rahmen des „Neo-Weberianischen Staates“ wieder stärker Teil der aktuellen Diskussion (vgl. Kap. 5.2.4). • Das entscheidende Problem, darin sind sich alle Beobachter einig, lag allerdings auf der Ebene des Personals. Die Erwartung, Mitarbeiter in der ostdeutschen Verwaltung würden sich sofort „wie im Westen“ verhalten, war unrealistisch, wenn nicht naiv. Es bestanden erhebliche Divergenzen in den grundlegenden Wertmustern und Einstellungen, in der „Verwaltungskultur“. Diese kulturellen Orientierungen ändern sich viel langsamer als Organisationsstrukturen. Unterschiede im Rollen- und Einstellungsprofil wurden durch Untersuchungen der jeweiligen Fremdbilder deutlich: Während westliche Mitarbeiter Mangel an Eigeninitiative, Entscheidungsfreudigkeit, Konfliktfähigkeit und Risikobereitschaft sowie vorgaben- und autoritätsorientierte Verhaltensmuster beklagten, sahen ostdeutsche Mitarbeiter bei ihren westlichen Kollegen überhebliches und arrogantes Auftreten, fehlende Kooperationsbereitschaft und Kollegialität sowie eine strikte Orientierung an formal-rechtlichen Prozeduren, eine mangelnde Sensibilität für die besonderen ostdeutschen Probleme und fühlten sich insgesamt nicht hinreichend als gleichberechtigte Partner akzeptiert. Auch wenn diese klischeehaften Schuldzuweisungen zwischen Besserwessis und Jammerossis inzwischen weitgehend überwunden scheinen, ist gerade zum 30 jährigen Jahrestag des Mauerfalls die Debatte über eine besondere Ost-Mentalität 389
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und deren nicht hinreichende Berücksichtigung in Gesamtdeutschland wieder aufgeflammt, nicht zuletzt auch bedingt durch die Erfolge der AfD im Osten. Insgesamt stellt sich die Frage, ob Reformen des öffentlichen Sektors durch die Vereinigung eher befördert oder verhindert wurden. Während einige befürchteten, der Export eigentlich schon überholter Institutionen würde diese festigen, gehen andere davon aus, dass obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – die Mehrzahl der bundesrepublikanischen Institutionen exportiert wurde, Ostdeutschland nicht in dem Maße durch Besitzstände zugestellt wurde wie Westdeutschland und daher Strukturen dort eher zur Disposition gestellt werden konnten. In der Verwaltungspolitik, wie in vielen Politikbereichen, kumulierte eine Anpassungskrise der „importierten Institutionen“ in den neuen Bundesländern mit einer verschleppten Modernisierungskrise der politischen Institutionen der alten Bundesrepublik. Transformation, verstanden als Prozess der Modernisierung überkommener Institutionen einschließlich damit verbundener kultureller Umorientierungen (z. B. innerhalb des öffentlichen Sektors), stand und steht im Osten wie im Westen auf der Tagesordnung. Es spricht vieles dafür, dass das Zusammentreffen beider Transformationsprozesse sich auf Dauer eher als Chance denn als Belastung erweisen wird.
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5.4.1 Neue Herausforderungen an den modernen Staat In der politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur ist man sich weitgehend einig, dass der moderne Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor neuen Herausforderungen steht, deren Ursache in veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu suchen sind. Als wesentliche Herausforderungen werden Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse angesehen (vgl. Benz 2008, Held u. a. 1999, Zürn 1998). Gemeint ist damit die Ausdehnung von Kommunikations- und Interaktionsprozessen über den Nationalstaat hinaus sowie die Auflösung räumlicher Organisation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Auch Individualisierungsprozesse, gemeint sind damit Anzeichen der Auflösung sozialer Gemeinschaften und der Bindung an bestimmte Organisationen sowie die Erweiterung persönlicher Freiheiten und die Vermehrung von Werten, Lebensstilen und Meinungen (Pluralisierung) werden als neue Herausforderung für staatliche Tätigkeiten begriffen. Bezogen auf die zentralen Elemente des modernen Staates ergeben sich daraus folgende Problemlagen (vgl. Benz 2008, S. 255ff.).
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• Das Territorialprinzip, also die ausschließliche Zuständigkeit des Staates für ein bestimmtes Gebiet, wird durch die Globalisierung von Wirtschaftsbeziehungen, die Globalisierung von ökologischen und sozialen Problemen sowie durch neue gebietsunabhängige Organisationsstrukturen immer mehr untergraben. Standorte verlieren nicht nur in der Wirtschaft an Bedeutung. Diese Deterritorialisierung ist eine Folge davon, dass viele gesellschaftliche Aktivitäten und Beziehungen nicht mehr an bestimmte Räume gebunden sind oder jedenfalls in Räumen stattfinden, die sich nicht mit den durch die Staatsorganisation festgelegten Grenzen decken. Das heißt nicht, dass Grenzen generell wegfallen, sondern nur, dass territoriale Grenzen an Bedeutung verlieren. • Das Nationalprinzip, also die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, gerät durch weltweite Wanderungsprozesse und wachsende Anteile von Einwohnern mit fremder Staatsangehörigkeit im Staatsgebiet ebenfalls ins Wanken. Die Folge ist, dass immer mehr Menschen als „Ausländer“ in einem für sie „fremden“ Staat leben. Sie besitzen zwar meistens die Staatsangehörigkeit in einem Staat, leben aber über eine längere Zeit oder auf Dauer in einem anderen Staat. Das heißt nicht, dass ein zu hoher Anteil von Menschen aus anderen Kulturen zu einer Belastung wird, sondern dass immer mehr Menschen in einem Staatsgebiet leben, in dem sie nicht richtig mitbestimmen können und ihnen die in einem demokratischen Staat notwendigen Rechte und Pflichten eines politisch verantwortlichen Bürgers nicht zustehen. • Die Institutionen demokratischer Entscheidungsfindung wie z. B. nationale Parlamente verlieren durch wichtige – kaum oder nicht beinflussbare – Entscheidungen auf anderen Ebenen (z. B. in der EU-Kommission) an Legitimationskraft. Es entsteht ein Bereich von Politik, der nicht den Regeln des Verfassungsrechts unterliegt, so dass die Ausübung von Staatsgewalt sich damit aus dem Geltungsbereich der Verfassung von Staaten in nicht-verfasste Formen von Herrschaftsausübung verlagert. All dies, so Arthur Benz, läuft darauf hinaus, dass „sich jenseits des modernen Staates internationale bzw. transnationale Politik in einer Intensität und Qualität verdichtet haben, die in der Geschichte so bisher nicht festzustellen waren. Als „internationale Politik“ soll dabei die Zusammenarbeit zwischen Staaten bezeichnet werden, während der Begriff „transnationale Politik“ für die Tätigkeit von Institutionen und Organisationen steht, die eigenständig existieren und agieren, auch wenn sie überwiegend durch Verträge zwischen Staaten entstanden sind. Internationale und transnationale Politiken lösen innerhalb des Staates Folgen aus, die es erforderlich machen, die Modalitäten der Staatstätigkeit anzupassen. Akteure im Staat unterstützen die Internationalisierung von Staatstätigkeit oder sie passen sich mehr oder weniger freiwillig an diese Prozesse an. Viele nationale Akteure sind in 391
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grenzüberschreitende oder transnationale Interaktionsstrukturen eingebunden, welche immer wichtiger zur Erfüllung von Staatsaufgaben werden. Innerstaatliche Institutionen und Verfahren müssen an die Bedingungen wachsender grenzüberschreitender Politikverflechtung angepasst werden“ (Benz 2008, S. 254)
Diese Institutionen und Verfahren einer Politik jenseits des Nationalstaats bringen eine Form von Herrschaftsausübung mit sich, die sich vom modernen Staat grundsätzlich unterscheidet. Zudem scheinen die Probleme der Internationalisierung und der Globalisierung nicht in der bestehenden Form des modernen Staates bewältigbar zu sein. Beides spricht dafür, dass es zu einem Strukturwandel von Staatlichkeit kommt. Der Staat kann auf neue Herausforderungen nicht mehr mit Expansion reagieren, da er sein Gebiet nicht ausdehnen kann, gegen die Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft kann keine nationalstaatlichen Strategien der Massenintegration helfen und auch die Ausdehnung seiner finanziellen Mittel stößt auf Grenzen. Das heißt aber nicht, dass es zu einem Niedergang des Staates kommt, sondern er stabilisiert sich durch die Veränderung seiner Strukturen. Am deutlichsten wird dieser Prozess in Europa. Hier ist über die Schaffung einer Wirtschaftsunion hinaus im Rahmen der Europäischen Union (EU) eine neue politische Struktur entstanden, ein neuartiges „staatliches Mehrebenensystem“. Die EU ist zu einem wesentlichen Bestandteil des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens Europas geworden (vgl. Wessels/Wolters 2018, S. 677, zu den Verwaltungsstrukturen vgl. Hustedt/Wonka u. a. 2014). Etwa die Hälfte der gültigen Gesetze geht auf Initiativen aus „Brüssel“ zurück, wenngleich der Einfluss nach Politikfeldern variiert (zum Europäisierungsgrad von Politikfeldern vgl. Töller 2008, Schmidt 2016, S. 410f.) und gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist die EU der größte Wirtschaftsraum der Welt mit etwas mehr als 500 Mio. Menschen. Im Folgenden soll das neue Mehrebenensystem in seiner historischen Entwicklung und seinem institutionellen Aufbau (5.4.2) vorgestellt und anschließend nach der Europäisierung der Verwaltung gefragt werden (5.4.3):
5.4.2 Das neue Mehrebenensystem der Europäischen Union 5.4.2.1 Historische Entwicklung Die Europäische Union (EU) existiert formal seit dem 1.11.1993. Sie ist aus der Europäischen Gemeinschaft (EG) hervorgegangen, die seit ihrer Gründung in den 50er-Jahren zum Kern der europäischen Einigungsbewegung wurde. Zunächst wurde mit der im April 1951 in Paris vereinbarten Europäischen Gemeinschaft
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für Kohle und Stahl (EGKS) ein gemeinsamer Markt und eine supranationale Organisation zur Regulierung des Kohle- und Stahlmarktes geschaffen. Die sechs Gründungsmitglieder waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Die Gemeinschaft werde in dem Bewusstsein gegründet, „(…) dass Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden kann“ (Präambel des EGKS Vertrages).
Allgemein werden als Zielsetzung der europäischen Einigungsbestrebungen der 50er-Jahre die politische Aussöhnung, die Förderung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und die Stärkung Europas angesehen. Für Kohler-Koch war die Gründung der EGKS aber nicht nur eine sachnotwendige Reaktion der Europäer auf die besondere Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern ein politischer Prozess, in dem die Leitideen des Wirtschaftsliberalismus Lösungen für konkrete politische Probleme aufzeigten (ebd. u. a. 2002, S. 49). Der nächste Schritt nach der EGKS war die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) durch die so genannten Römischen Verträge vom 25.3.57. Mit diesen Gemeinschaften wurde die Zusammenarbeit der oben erwähnten Staaten im Bereich von Kohle und Stahl auf weitere Gebiete ausgedehnt. Insbesondere die EWG bildete dabei den Kern des europäischen Integrationsprozesses, der das Ziel hatte, zunächst eine Zollunion und dann einen gemeinsamen Markt für alle Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen zu schaffen. Die Zollunion sollte durch die Abschaffung sämtlicher Zölle zwischen den beteiligten Ländern (was einer Freihandelszone entspricht) und die Errichtung eines gemeinsamen Außenzolls geschaffen werden.108 Dies gelang zwei Jahre früher als ursprünglich vorgesehen, nämlich im Jahr 1968 (ebd. 2002, S. 54). 1967 waren die EWG, die EGKS und die Euratom zur EG zusammengeschlossen worden. Nach der Herstellung der Zollunion kam es in den 1970er Jahren zu einer Art Erstarrung (vgl. Kohler-Koch u. a. 2002, S. 58ff.). So wurde der Versuch der Mitgliedstaaten, eine Währungs- und Wirtschaftsunion und eine Politische Union noch in den 1970er-Jahren zu schaffen, stillschweigend beerdigt. Einerseits traten zwar immer mehr Länder der Europäischen Gemeinschaft bei, Großbritannien,
108 Ein Gemeinsamer Markt beinhaltet über die Zollunion hinaus die Herstellung der vollen Freizügigkeit für Personen, Kapital, Güter und Dienstleistungen. In einer Wirtschafts- und Währungsunion kommt es zudem zu Absprachen über die nationalen Wirtschaftspolitiken und Vereinbarungen über eine gemeinsame Währung. 393
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Dänemark und Irland 1973, Griechenland 1981, Portugal und Spanien 1986.109 Andererseits führte aber insbesondere der Beitritt Großbritanniens zu einem Dauerkonflikt um die Höhe des britischen Beitrags zum Gemeinschaftshaushalt, der erhebliche politische Kräfte band und erst 1984 beigelegt werden konnte. Vor allem aber stagnierte die Umsetzung des Gemeinsamen Marktes, weil mit der Aufhebung der Zölle und Abgaben im Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten die sogenannten „nicht-tarifären Handelshemmnisse“ immer spürbarer wurden. „Unter nicht-tarifären Handelshemmnissen werden alle Faktoren verstanden, die den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen den Mitgliedstaaten erschweren oder verhindern, jedoch keine Zölle sind. Beispiele hierfür sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen (Kontingente), nicht kompatible Industrienormen und Standards (z. B. für Elektrostecker oder Papierformate), oder nationale Gesundheitsschutz- und Umweltschutzvorschriften“ (ebd., S. 57).
Vor diesem Hintergrund wurde das Binnenmarktprogramm lanciert, das die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes für das Jahr 1992 vorsah. Eine wichtige Rolle spielte hier der Cecchini-Bericht (Cecchini 1988), weil er verbesserte Exportchancen, ein schnelleres Wachstum und mehr Arbeitsplätze durch eine stärkere Integration der Volkswirtschaften versprach. Der Kern des sogenannten „Neuen Ansatzes“ war das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung. „Vereinfacht gesprochen besagt das Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat seinen Markt für Produkte anderer Mitgliedstaaten öffnen muss, solange sie im Einklang mit den entsprechenden Vorschriften des Erzeugerstaates in den Verkehr gebracht worden waren. Die wechselseitige Anerkennung nationaler Vorschriften war eine revolutionäre Neuorientierung, weil sie die langwierigen Verhandlungen um die Harmonisierung einzelstaatlicher Vorschriften überflüssig machte. Solange ein Produkt den Vorschriften des erzeugenden Mitgliedstaates entsprach, konnten sich die anderen Mitgliedstaaten nicht mehr darauf berufen, dass das betreffende Produkt mit ihren nationalen Vorschriften nicht vereinbar und somit nicht verkehrsfähig war. Die durch innerstaatliche Rechtsvorschriften entstehenden Handelshemmnisse mussten nur noch dann akzeptiert werden, wenn es hierfür ein „zwingendes Erfordernis“ gab (z. B. den Schutz der Verbraucher oder der öffentlichen Gesundheit). Gleiches gilt für die Berufsqualifikationen bei der Niederlassungsfreiheit. (…) Der Nachteil dieses Verfahrens liegt offen auf der Hand: Es existiert nicht mehr eine einzige, für alle europäischen Produzenten verbindliche, Vorschrift, sondern eine Vielzahl national unterschiedlicher Regeln. Dies kann zu einem Problem werden, wenn einzelne Mitgliedstaaten über besonders laxe Regeln ihrer heimischen Industrie Wettbewerbsvorteile verschaffen wollen. Aus diesem Grund sah der „neue Ansatz“ 109 In Norwegen entschieden sich die Bürger sowohl 1973 als auch 1994 gegen eine Aufnahme in die EG bzw. EU, zuletzt mit 52,2 % der Stimmen.
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auch vor, dass europäische Mindeststandards erlassen werden konnten, sofern dies zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen oder zum Schutz von Verbrauchern und Umwelt notwendig war. Eine weitere Sicherheit gegenüber zu niedrigen Standards ist dadurch gegeben, dass die Mitgliedstaaten nationale Regelungen beibehalten können, wenn sie bestimmten Schutzzielen dienen (etwa dem Schutz der öffentlichen Sittlichkeit und Ordnung, der Verbraucher oder der Umwelt) und keine willkürlichen Diskriminierungen oder verschleierten Handelsbeschränkungen darstellen (Art. 30 EG-V)“ (Kohler-Koch u. a. 2002, S. 59f.).
Das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung wurde zu einem Kernstück des Binnenmarktprogramms, welches 1985 von den Mitgliedstaaten verabschiedet wurde. Zudem einigten sich die Mitgliedstaaten darauf, in allen Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung des Binnenmarktes künftig mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat abzustimmen. Dies bedeutete, dass ein Mitgliedstaat in Binnenmarktfragen von den anderen Mitgliedstaaten überstimmt und gleichwohl verpflichtet werden konnte, die beschlossenen Maßnahmen umzusetzen. Diese grundlegenden Veränderungen der Gründungsverträge sind in der sogenannten Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) festgehalten worden, die 1986 förmlich von den Mitgliedstaaten verabschiedet und 1987 in Kraft gesetzt wurde (ebd., S. 60f.). Ein weiterer Punkt für die Erklärung des beschleunigten Europäisierungsprozesses liegt in dem Prinzip der differenzierten Integration, welches es Gruppen von Mitgliedstaaten gestattet, bestimmte Politiken zu verfolgen, während andere Mitgliedstaaten dieser neuen Politik zunächst noch fernbleiben, wie z. B. beim Zeitpunkt der Einführung des Euro (vgl. Deubner 2003, Leuffen u. a. 2012). Diese Rücksichtnahme auf für einzelne Staaten wichtige Punkte führt nun nicht mehr zur Blockierung der EU-Politik insgesamt. Der gemeinsame Binnenmarkt und damit die Europäische Union wurde durch die Maastrichter Verträge vom 7.2.92 mit Wirkung zum 1.1.93 geschaffen. In ihnen ist die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie einer Politischen Union als Dach vorgesehen. Die EU basiert nun auf drei Säulen: • als erste Säule die bestehenden Verträge aus der Europäischen Gemeinschaft, das betrifft vor allem die Zollunion, den Binnenmarkt, die Gemeinsame Agrarpolitik, die Umweltpolitik, den Verbraucherschutz, die Zusammenarbeit im Bereich der Kernenergie und die Wirtschafts- und Währungsunion; • als zweite Säule die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie • als dritte Säule die Pfeiler Inneres und Justiz (Asylpolitik, organisiertes Verbrechen, Rauschgift).
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In Dänemark, Irland und Frankreich musste die Bevölkerung in Referenden über das Vertragswerk abstimmen, in Dänemark nach dem knappen Scheitern 1992 ein Jahr darauf noch einmal. In den anderen Ländern wurde das Vertragswerk von den jeweiligen Parlamenten ratifiziert, im Deutschen Bundestag im Dezember 1992 mit 543 Ja Stimmen bei nur 17 Nein Stimmen und acht Enthaltungen, im Bundesrat mit einstimmigem Beschluss. Im Grundgesetz wurden drei wesentliche Änderungen vorgenommen: die Einräumung des kommunalen Wahlrechtes für Staatsbürger aus der EU (Art. 28 GG), die Übertragung der Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Bundesbank auf die Europäische Zentralbank (Art. 88 GG) sowie die Regelung der Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 23 GG neu, vormals der Artikel, der Grundlage für den Beitritt der DDR war und 1990 aufgehoben wurde). Verschiedene Verfassungsklagen gegen den Maastrichter Vertrag wurden vom Bundesverfassungsgericht im Oktober 1993 abgelehnt. 1995 treten Schweden, Österreich und Finnland der EU bei, so dass sie nun aus 15 Staaten besteht. Die EU wird 1997 weiterentwickelt durch den Vertrag von Amsterdam, der die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion zum 1.1.1999 vorsieht, mit der zugleich der Euro eingeführt und eine Konkretisierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit vorgenommen wird. Die Aufgabenverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten erfolgt nach föderativen Grundsätzen, allerdings wird hierzu der Begriff der Subsidiarität in den Verträgen benutzt. Das Prinzip der Subsidiarität besagt, dass die Union nur tätig werden darf, wenn eine Aufgabe nicht hinreichend von den Mitgliedstaaten wahrgenommen werden kann (Notwendigkeitsklausel) und wenn die Union die Aufgabe besser erfüllen kann (Besserklausel). Zudem müssen die Maßnahmen nicht über das zur Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgehen, also der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll berücksichtigt werden (Thiel 1999, S. 55). Im Jahr 2000 verabschiedete die EU die sogenannte Lissabon-Strategie, mit welcher für die Europäische Union das ökonomische und soziale Ziel angestrebt wird, „bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu werden, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. In Deutschland achten insbesondere die Länder auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Sie haben zudem schon im Vertrag von Maastricht durchgesetzt, dass die Union in den Bereichen Gesundheitswesen, allgemeine und berufliche Bildung und auf dem Gebiet der Kultur nur ergänzend und koordinierend tätig werden darf. Eine Harmonisierung der nationalen Bestimmung ist ausgeschlossen. Überhaupt ist die Stellung der Länder über den Bundesrat durch den neuen Europaartikel im
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GG gestärkt worden, da der Bundesrat bei allen Maßnahmen, die die Länderkompetenzen betreffen, zu beteiligen ist und bei allen Maßnahmen, die Länderinteressen berühren, die Stellungnahme des Bundesrates zu berücksichtigen ist. Zudem wurde im Bundesrat eine Europakammer eingerichtet und im Bundestag ein Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union. Auch gibt es seit 1992 als ständige Einrichtung eine Europaministerkonferenz der Bundesländer. Mit der Änderung des Grundgesetzes im Rahmen der Föderalismuskommission I wird zudem die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik als Mitgliedstaat der EU im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur und des Rundfunks vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen (§23 GG, vorher Soll-, jetzt Muss-Vorschrift). Ab 1998 führte die EU Verhandlungen mit insgesamt 12 weiteren Beitrittskandidaten. Im Prinzip steht die Mitgliedschaft in der EU allen europäischen Staaten offen. Voraussetzung ist jedoch eine demokratische Verfassung, eine marktwirtschaftliche Ordnung, die Achtung der Grundsätze der Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Neue Mitgliedsstaaten müssen zudem in der Lage sein, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu übernehmen, d. h. das Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß anzuwenden. Auf dem Erweiterungsgipfel im Dezember 2002 in Kopenhagen wurde die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedsländern zum 1.5.2004 beschlossen, aus der EU-15 wird die EU-25. Es handelt sich um Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. Im Kern ist diese Osterweiterung der EU stabilitätspolitisch begründet und weniger wirtschaftspolitisch motiviert (vgl. Lippert 2003, S. 9). Bulgarien und Rumänien werden dann zum 1.1.2007 aufgenommen (EU-27) und am 1. Juli 2013 wurde Kroatien der 28. Mitgliedstaat (EU 28). Die institutionellen Anpassungen, die durch den Beitritt weiterer Ländern notwendig werden, sind vielfältig diskutiert worden, zunächst auf der Konferenz von Nizza im Jahre 2000, in der Beschlüsse zur Veränderung der Größe und der Zusammensetzung der Europäischen Kommission und des Europaparlamentes, zur Stimmengewichtung im Rat und zur Frage der Ausweitung von Abstimmungen mit qualifizierender Mehrheit gefasst wurden. Im Oktober 2004 wurde dann der vom Europäischen Konvent erarbeitete Vertrag über eine Verfassung für Europa in Rom unterzeichnet. Dieser Vertrag hätte von allen damals 25 Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen, um im normalen Verfahren in Kraft treten zu können. Da er jedoch im Mai und Juni 2005 von den Franzosen und den Niederländern in Volksabstimmungen abgelehnt wurde, einigte man sich auf eine Unterbrechung des Prozesses der Verfassungsratifizierung. Als Ersatz für den gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa erarbeitete der Europäische Rat unter deutscher und portugiesischer Ratspräsidentschaft stattdessen im Jahr 2007 den Vertrag von 397
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Lissabon, der ebenfalls auf eine institutionelle Stärkung der Gemeinschaft zielt und am 13. Dezember unterzeichnet wurde. Nach z. T. schwierigen Diskussionsprozessen wurde der Vertag von Lissabon von allen Staaten ratifiziert und trat am 1.12.2009 in Kraft. Institutionelle Schwächen in der Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb der Finanzkrise ab 2008 führten dann zu weiteren vertraglichen Ergänzungen (Wessels/ Wolters 2018, S. 681): ein völkerrechtlicher Fiskalvertrag, die Einrichtung von „Rettungsschirmen“ zur Vermeidung einer Staatsinsolvenz in der Eurozone und die Gründung der Eurogipfel zur Koordinierung der Staats- und Regierungschefs in der Eurozone. Seit Mitte der 2000er Jahre geht der Prozess der Europäischen Integration mit zunehmender Integrationsskepsis in Teilen der Bevölkerung einher. Nach der Osterweiterung und später infolge der Finanzkrise ab 2007 und durch die Flüchtlingskrise ab 2015 wuchs in verschiedenen Mitgliedsstaaten die EU-Skepsis. So erzielten euroskeptische Parteien sowohl bei der Europawahl 2014 als auch 2019 deutliche Stimmenzuwächse. Nachdem die britischen Bürger 2016 bei einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit für den Brexit gestimmt haben ist Großbritannien nach langwierigen Auseinandersetzungen zum 1.2.2020 aus der EU ausgetreten. Damit trat erstmals ein Mitglied aus der Europäischen Union aus, so dass die Union nunmehr wieder aus 27 Mitgliedern besteht.
5.4.2.2 Institutioneller Aufbau Die EU unterscheidet sich durch ihre Institutionen von allen anderen internationalen und europäischen Organisationen und auch von den politischen Systemen der Mitgliedstaaten. Nach Kohler-Koch liegt die Besonderheit der europäischen Zusammenarbeit gerade in ihren Institutionen. Sie verleihen ihr Dauer und sollen ein reibungsloses Funktionieren verbürgen (Kohler-Koch u. a. 2002, S. 93). Die EU-Institutionen sind durch ihren Mehrebenencharakter geprägt, d. h. die europäischen und nationalen politischen Institutionen sind in hohem Maße miteinander verflochten, ohne dass sich eine Ebene einseitig aus diesen Bindungen lösen kann. Im Prinzip lebt die EU stets in einem Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Rücksichtnahme auf die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten und dem Wunsch zur Kooperation, um auf diesem Wege gemeinsame Interessen verfolgen zu können. Folglich müssen institutionell zwei sich widersprechende Handlungsprinzipien mit einander versöhnt werden: Politische Entscheidungen sollten sowohl autonomieschonend als auch gemeinschaftsförderlich sein. „Die zugrunde liegende Überlegung ist, dass die Kompromissbereitschaft der Mitgliedstaaten schnell an ihre Grenzen stoßen wird, wenn keine Rücksicht auf ihre
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spezifischen Gegebenheiten genommen wird. Auch wenn sich die Mitgliedstaaten der EU in vielen Fällen in einer ähnlichen Situation befinden – als Beispiel sei nur verwiesen auf die Umweltbelastung durch Verkehr, die illegale Einwanderung, die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs, die Überalterung der Gesellschaften –, so werden die damit verbundenen Probleme doch häufig jeweils anders beurteilt. Und selbst wenn man zu einer gleichen Problemdefinition kommt, gibt es immer noch Unterschiede in der Art und Weise, wie ein Problem angegangen wird. Folglich ist es unter dem Gesichtspunkt der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Art. 6 EU-V) und dem der Effizienz politischen Handelns häufig geboten, dass eine Gemeinschaftspolitik Spielräume für autonome Gestaltung offen lässt. Beharren aber die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf ihrer Autonomie, kommt eine Gemeinschaftspolitik erst gar nicht zustande. Daher müssen institutionelle Vorkehrungen getroffen werden, damit gleichzeitig auch gemeinschaftsförderlich gehandelt wird. Mit gemeinschaftsförderlich ist gemeint, dass jeder bei der Verfolgung seiner eigenen Interessen mit bedenkt, welche Rückwirkungen dies auf die Partner hat, wo die Grenzen des Zumutbaren für die anderen Partner liegen und ob das eigene Verhalten die Zukunft der Integration gefährden könnte. Auch wenn die Akteure beide Prinzipien als grundsätzlich gleichberechtigt und vernünftig betrachten, so genügt es nicht, sie in die Formulierung der Verträge aufzunehmen. Man muss ihnen Geltung dadurch verschaffen, dass die Entscheidungsfindung entsprechend organisiert ist. Die Umsetzung wird unter dem Stichwort der „institutionellen Balance“ diskutiert“ (Kohler-Koch u. a. 2002, S. 97).
Die institutionelle Balance wird dadurch aufrechterhalten, dass alle wesentlichen politischen Entscheidungen nur durch das Zusammenspiel der Europäischen Kommission (als Verkörperung des Gemeinschaftsinteresses) und des Rates, der sich aus den Vertretern der Mitgliedsregierungen zusammensetzt und an der Wahrung einzelstaatlicher Autonomie interessiert ist, zustande kommen. Beide Organe sind im Entscheidungsprozess so untrennbar miteinander verbunden, dass man von ihnen als „Tandem“ sprach. Mittlerweile muss jedoch durch den Bedeutungszuwachs des Europäischen Parlamentes von einem „legislativen Dreieck“ oder wenn man den europäischen Rat mit einbezieht von einer Raute gesprochen werden (Wessels/Wolters 2018, S. 684, vgl. weiter unten). Insgesamt stellt die EU eine institutionelle Struktur dar, in der Organe der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit in einer gewaltenteiligen Struktur zusammenwirken. Sie zeichnet sich insbesondere durch vielfältige Verhandlungssysteme aus (Benz 2008, S. 278), so dass ihre Entscheidungsstrukturen eher einer Konkordanzdemokratie ähneln. Im Einzelnen können nach dem Vertrag von Lissabon sieben Institutionen bzw. Organe unterschieden werden. Die oberste Entscheidungsinstanz ist der Europäische Rat. Er legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für die Entwicklung der Union fest. An der Gemeinschaftspolitik beteiligt sind vor allem die Kommission, der Rat der EU (Ministerrat) und das Europäische Parlament (EP). Zuständig für die Auslegung des Gemeinschaftsrechtes ist der Gerichtshof der Europäischen 399
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Union (GEU, vormals als Europäisches Gerichtshof bezeichnet), die Kontrolle des EU-Haushaltes obliegt dem Europäischen Rechnungshof. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Verantwortung für die Geldpolitik in den Eurostaaten. Wichtige beratende Ausschüsse der EU sind der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen. Im Folgenden werden überblicksartig die wesentlichen Kompetenzen dieser Organe skizziert. Der Europäische Rat ist das Gremium der Staats- und Regierungschefs und seit dem Vertrag von Lissabon ein Organ der EU. Der Europäische Rat ist die oberste Instanz der EU und für die allgemeinen Zielvorstellungen und die Grundsatzentscheidungen zuständig. Als Vorsitzender wird auf jeweils zweieinhalb Jahre ein hauptamtlicher Präsident gewählt, der ansonsten kein nationales politisches Amt innehaben darf. Er soll die Kontinuität in der Arbeit des Europäischen Rates gewährleisten, bei Konflikten vermitteln und Kompromissvorschläge ausarbeiten, hat jedoch kein eigenes Stimmrecht. Zudem vertritt er die Union gemeinsam mit der Kommissionspräsidentin nach außen. Amtsinhaber ist seit dem 1. Dezember 2019 der Belgier Charles Michel, vorher hatte der Pole Donald Tusk diese Funktion inne. Auf den Gipfeltreffen nehmen neben den Staats- und Regierungschefs der Präsident des europäischen Rates, die Kommissionspräsidentin und der Hohe Vertreter der EU für Außen und Sicherheitspolitik beratend teil. Zu Beginn der Gipfel legt in der Regel der Präsident des EP die Position des Parlaments zu den anstehenden Fragen dar. In den Römischen Verträgen war der Europäische Rat noch nicht vorgesehen, aber seit 1974 ist er zu einer ständigen Einrichtung geworden, die durch die EEA und die EU-Verträge zudem in das Institutionengefüge der EU eingepasst wurde. Insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kam ihm dann zunehmend eine Schlüsselstellung zu. Seine Bedeutung als Entscheidungsproduzent wuchs dann in Krisenzeiten. Das Gremium für die Vertreter der einzelnen Regierungen war nach den Gründungsverträgen der Ministerrat oder, wie er heute bezeichnet wird, der Rat der EU. Jeder Mitgliedstaat hat hier einen Sitz. Er setzt sich – je nach Politikfeld – aus den jeweiligen Fachministern der nationalen Regierungen zusammen. Der Rat war lange Zeit das alleinige Gesetzgebungsorgan der EU, in dem die Ressortminister der Mitgliedstaaten die zentralen Entscheidungen fällten, ein wichtiger Unterschied zu den einzelnen Nationalstaaten, in denen das jeweilige Parlament über die Gesetzgebungsfunktion verfügt. Wurden früher alle Entscheidungen einstimmig gefällt, ist seit der EEA auch die Abstimmung mit einfachen oder qualifizierenden Mehrheiten möglich. „Soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist, beschließt der Rat mit der Mehrheit seiner Mitglieder“ (Art. 205 EG-V). Diese Abstimmung mit einfacher Mehrheit, bei der jeder Staat eine Stimme hat, ist allerdings die Ausnahme. Nach den Vertragsrevisionen von Amsterdam, Nizza und Lissabon ist
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für Entscheidungen die doppelte qualifizierte Mehrheit notwendig.110 Das Mehrheitsprinzip gilt für viele zentrale Politikfelder wie die Gemeinsame Handels- und Agrarpolitik und mit einigen Ausnahmen auch im Bereich der Justiz- und Innenpolitik. Nach Möglichkeit wird im Rat aber versucht Mehrheitsentscheidungen zu vermeiden. Der Rat der EU ist damit Teil der Legislative und repräsentiert darin die Mitgliedstaaten. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament beschließt er die entscheidenden Rechtsakte. Mittlerweile hat das Europäische Parlament (EP) in vielen Fällen ein Mitentscheidungsrecht, so dass neben dem Ministerrat hier nun auch das EP zu den Gesetzgebungsorganen zu zählen ist. Die Europäische Kommission ist die Exekutive im Institutionengefüge der EU (vgl. Hustedt/Wonka u. a. 2014, S. 49ff.). Sie besteht in der EU-27 aus 27 unabhängigen Kommissaren und ihr sind ca. 32.000 europäische Beamte in 33 Generaldirektionen unterstellt.111 Die Kommission ist ein von den Mitgliedstaaten unabhängiges und somit supranationales Organ der EU. Ihr Auftrag besteht darin „(…) das ordnungsgemäße Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten“ (Art. 211 EG-V), d. h. die allgemeinen Vertragsziele mit Leben zu füllen. Zu diesem Zweck wurde ihr (1) eine aktive Rolle im Entscheidungsprozess durch die Übertragung des Initiativrechtes, (2) die Sorge für die Anwendung und Umsetzung des Gemeinschaftsrechts und (3) gewisse Verwaltungsvollmachten zugesprochen. Insbesondere das Initiativrecht verleiht der Kommission die Macht, die notwendigen Gesetzgebungsmaßnahmen in Gang zu setzen. Weil in der Mehrzahl der Fälle der Rat nur auf Vorschlag der Kommission entscheiden kann, das Initiativrecht hier also ein Initiativmonopol ist, kann die Kommission den Zeitpunkt, den Inhalt, die Form und Reichweite einer europäischen Politikinitiative vorgeben. Dies gilt jedoch nur für die erste Säule. Im Bereich der zweiten und dritten Säule haben auch die Mitgliedsländer ein Initiativrecht. Die Europäische Kommission ist bei ihren Vorschlägen darauf angewiesen, eine Mehrheit im Rat – und bei Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens auch im EP – zu finden. Folglich sucht sie bereits in der Phase der Entscheidungsvorbereitung die Voraussetzung für eine breite Koalition zu schaffen. Dazu gehört die Lancierung der ersten Ideen in Grün- und Weißbüchern und die enge Abstimmung mit den Mitgliedstaaten auf der Arbeitsebene, die Einbindung relevanter Interessengruppen und regelmäßige Absprachen mit dem Parlament (Kohler-Koch u. a. 2002). Insgesamt ist die Kommission damit die zentrale Vermittlerin im Institutionengefüge 110 Doppelt qualifizierte Mehrheit heißt, dass mindestens 55 % der Mitglieder des Rates und zugleich 65 % der EU-Bevölkerung für eine Mehrheitsentscheidung notwendig sind. 111 Generaldirektionen sind als Verwaltungseinheiten der EU zuständig für bestimmte Politikfelder und im Prinzip vergleichbar mit Ministerien auf nationaler Ebene. 401
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der EU. Die Kommission wird geleitet von der Präsidentin, seit 2019 Ursula von der Leyen, die eine Art Richtlinienkompetenz ausfüllt und bei der Bestellung der Mitglieder ihrer Kommission durch die Mitgliedstaaten ein Mitspracherecht hat. Seit 2014 hat das EP ein Zustimmungsrecht zur Wahl der Kommissionspräsidentin. Die Amtszeit der Kommission ist an die Wahlperiode des EP angepasst. Seit 2004 ist es innerhalb der Kommission zu einer stärkeren Zentralisierung und Kontrolle, besonders zu einem Machtzugewinn des Generalsekretariats gegenüber den einzelnen Generaldirektionen, gekommen. Um die politische Rolle der Kommission zu stärken, führte Präsident Juncker überdies ein System von Vize-Präsidenten ein, welche die einzelnen Fachkommissare entlang größerer politischer Prioritäten politisch leiten (Heidbreder 2019, 82). Die Europäische Kommission ist die Hüterin der Verträge, d. h. sie hat über die Einhaltung des Gemeinschaftsrechtes zu wachen. Hat sie den Verdacht, dass ein Mitgliedstaat das Gemeinschaftsrecht verletzt, kann sie eine Stellungnahme anfordern und Fristen setzen. Kommt der Mitgliedstaat dem nicht nach, kann sie vor dem GEU gegen ihn klagen. Der Vollzug des Gemeinschaftsrechtes findet dagegen in der Regel in den Mitgliedstaaten statt und wird von den jeweiligen nationalen Verwaltungen gewährleistet, da die Kommission keinen eigenen Verwaltungsunterbau hat. Das EP ist der zweite Teil der Legislative der EU. Es wird seit 1979 alle fünf Jahre direkt von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählt und repräsentiert innerhalb der Legislative direkt die Bevölkerung. Insgesamt hat das EP erheblich an vertraglichen Beteiligungsrechten gewonnen zwischen 1979 bis 2014, so dass es heute mit der Kommission und dem Rat ein Dreieck für Gesetzgebung und EU Budget bildet und auf vielen Politikfeldern mit dem Rat gleichberechtigt ist (Wessels/Wolters 2018, S. 683). Bei Uneinigkeit müssen sich Rat und Parlament in dritter Lesung in einem Vermittlungsausschuss einigen. Das EP wählt den Präsidenten der Kommission und seine Zustimmung ist für den Beitritt neuer Mitglieder, den Modalitäten der Europawahl und internationalen Abkommen des EP erforderlich. Mit 2/3 Mehrheit kann das EP der Kommission das Misstrauen aussprechen und sie zum Rücktritt zwingen. Allerdings fehlt dem EP nach wie vor das klassische Parlamentsrecht, Gesetzgebungsinitiativen einzubringen. Das Europäische Parlament hat zwei Tagungsstätten, eine in Brüssel und eine zweite in Straßburg. Im EP gilt nicht der Gleichheitsgrundsatz „ein Bürger, eine Stimme“, sondern auch hier wird den kleinen Staaten eine Überrepräsentation zugestanden, um „eine angemessene Vertretung“ (Art. 190, Abs. 2 EG-V) zu gewährleisten (Kohler-Koch u. a. 2002, S. 108). Jedes Land soll eine Mindestzahl an Abgeordneten ins EP entsenden können, damit die politischen Grundströmungen repräsentiert sind. In der EU-27 nach dem Austritt Großbritanniens besteht es aus 705 Abgeordneten (vorher 751), wobei Deutschland mit 96 Abgeordneten die meisten entsendet und Luxemburg,
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Zypern, Estland und Malta mit jeweils 6 Abgeordneten die wenigsten. Das EP ist im Kern ein Arbeitsparlament, d. h. es gibt ein ausdifferenziertes Ausschusswesen mit 20 ständigen Ausschüssen. Den Ausschussvorsitzenden und Berichterstattern kommt eine erhebliche Bedeutung im Willensbildungsprozess zu. Für den Verlauf der innerparlamentarischen Willensbildungsprozesse ist die Fraktionsbildung nach parteipolitischer Zugehörigkeit ausschlaggebend. Allerdings ist der Parteienwettbewerb im EP nicht so stark ausgeprägt, denn er wird durch nationale Interessen überlagert. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat das Monopol für die Auslegung des EU-Rechtes. 27 Richter und 9 Generalstaatsanwälte werden auf sechs Jahre von den Regierungen ernannt, alle drei Jahre werden drei Richter neu bestellt. Im Unterschied zum ausdifferenzierten Rechtssystem der Staaten ist der EuGH allzuständig: Er entscheidet in Verfassungsfragen, in Verwaltungsangelegenheiten, in Zivilstreitigkeiten und ist nicht zuletzt Schiedsgericht und Gutachterinstanz. Die Vertragsverletzungsverfahren richten sich in der Mehrzahl der Fälle gegen säumige oder nachlässige Mitgliedstaaten, die das EU-Recht nicht fristgerecht oder entgegen den Intentionen der Gemeinschaft umgesetzt haben. EU-Recht ist dem nationalen Recht übergeordnet und bei Streitfragen entscheidet der EuGH. Dies gilt nicht nur für Konflikte zwischen den Organen der EU, sondern auch in Streitfällen zwischen der Kommission und Mitgliedstaaten bzw. zwischen Mitgliedstaaten und bezogen auf die Rechte individueller Bürger oder Unternehmen. Im Jahr 1989 wurde zur Entlastung des Gerichtshofs das Europäische Gericht erster Instanz (EuGI) geschaffen. Seit dem Jahr 2005 besteht darüber hinaus als sog. Gerichtliche Kammer das Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (EuGD), das vom EuG die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten zwischen der Gemeinschaft und ihren Beamten oder sonstigen Bediensteten übernommen hat. Der Europäische Rechnungshof (EuRH) ist für die Prüfung der Haushaltsführung zuständig. Er besteht aus 27 Mitgliedern, die für sechs Jahre ernannt werden und legt jährlich einen Jahresbericht vor. Die Mitarbeiter des EuRH (derzeit rund 800) bilden Prüfungsgruppen für spezifische Prüfvorhaben. Sie können jederzeit Prüfbesuche bei anderen Organen, in den Mitgliedstaaten sowie in weiteren Ländern durchführen, die EU-Hilfen erhalten. Rechtliche Schritte kann der EuRH jedoch nicht unternehmen. Verstöße werden den anderen Organen mitgeteilt, damit entsprechende Maßnahmen ergriffen werden können. Zudem gibt es mit der Europäischen Zentralbank (EZB, Sitz in Frankfurt am Main) seit dem 1.1.1999 eine neue Behörde, die die Geldpolitik in den Euro-Ländern bestimmt. Die Bank ist von der nationalen Politik unabhängig. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Wahrung der Preisstabilität. Im Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB/Zentralbankrat) legt sie die Leitzinsen fest. Zu ihren grundlegenden Aufgaben gehören die Festlegung und Durchführung der Geld403
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politik, die Durchführung von Devisengeschäften, die Verwaltung der offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten und die Versorgung der Volkswirtschaft mit Geld, insbesondere die Förderung eines reibungslosen Zahlungsverkehrs. Die EZB verfügt mit dem Rat und dem Erweiterten Rat über zwei Beschlussorgane und mit dem Direktorium über ein ausführendes Organ. Deutlich wird, dass es eine hohe Anzahl von potentiellen Vetospielern im komplexen EU-Institutionengefüge gibt. Hier dominiert vor allem der Verhandlungsmodus. Wessels und Wolters sehen hier ein Entscheidungsmuster, das durch eine dreifache „K-Formel“ beschrieben werden kann: „Das Erzielen eines Konsenses setzt Kompromisse voraus, welche oft nur durch eine Steigerung der Komplexität erreicht werden können. Das System wird dadurch zwangsläufig intransparenter, auch wenn es gerade dadurch einen Teil der Stabilität Bezieht“ (Wessels/Wolters 2018, S. 685)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die EU zwar kein Staat im traditionellen Sinne ist (Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt), denn sie hat keine Gebietshoheit, keine eigene Verwaltung zur Umsetzung von Entscheidungen und kein Parlament als einziges Gesetzgebungsorgan, aber sie erfüllt spätestens seit Maastricht unstrittig Staatsaufgaben. In einigen Bereichen haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Hoheitsrechte übertragen. Diese Maßnahmen schränken die Souveränität der Mitgliedsstaaten der Union ein. Die EU kann Recht setzen, das entweder die Parlamente und Regierungen der Mitgliedstaaten bindet und sie zur Umsetzung verpflichtet (Richtlinien) oder das unmittelbar gegenüber allen Bürgern der Mitgliedstaaten gilt (Verordnungen). Diese Konstruktion der EU, dass hier ein politisches Gebilde entsteht, welches kein Staat ist, aber auf der intensiven Zusammenarbeit zwischen Staaten beruht, hat dazu geführt, dass sich hierfür zunehmend der Begriff eines „staatlichen Mehrebenensystems“ oder wie Benz vorschlägt, eines „Mehrebenenstaates“ durchzusetzen scheint (Benz 2008, S. 284, vgl. auch Tömmel 2007).
5.4.3 Europäisierung öffentlichen Verwaltungshandelns Wie verändert sich durch die Europäisierung das Verwaltungshandeln in den Mitgliedstaaten? Kommt es zu so etwas wie einem europäischen Verwaltungsraum (vgl. Siedentopf/Speer 2002, Goetz 2001, Knill 2001; Olsen 2003) oder einer Mehrebenenverwaltung (Bauer/Trondal 2015, Heidbreder 2019)? Diese Fragen nach dem Zusammenhang zwischen europäischer Integration und der Entwicklung der Verwaltungssysteme der Mitgliedstaaten sind während des vergangenen Jahrzehnts zu einem zentralen Gegenstand der vergleichenden verwaltungswissenschaftlichen
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Forschung und Reflektion geworden, nicht zuletzt durch die Erweiterung in Mittelund Osteuropa (vgl. Goetz 2006). Insgesamt ist diese Diskussion eingebunden in das umfassendere politikwissenschaftliche Interesse, wie durch den Integrationsprozess die politischen Systeme der Mitgliedstaaten und von Beitrittskandidaten beeinflusst werden. Europäisierung der öffentlichen Verwaltung wird in diesem Zusammenhang so verstanden, dass es um „Effekte auf der mitgliedschaftlichen Ebene (geht), die sich unmittelbar oder mit einiger Plausibilität mittelbar auf den EU-Integrationsprozess zurückführen lassen. Solche Effekte finden sich auch in Staaten, die der EU (noch) nicht angehören“ (Goetz 2006, S. 473).
Hinter den oben genannten Fragen steht die Annahme, dass die Zunahme von Entscheidungen mit supranationaler Mitwirkung zu einer nachweisbaren Veränderung der betroffenen Verwaltungssysteme führen muss. Nun ist diese Annahme nicht von vornherein selbstverständlich, weist doch das Gemeinschaftsrecht der EU keine besonderen Befugnisse bezüglich der öffentlichen Verwaltungen zu, die im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten verbleiben. Die EU ist jenseits ihrer Koordinierungs- und Kontrollfunktionen im Kern kaum mit dem eigentlichen verwaltungsmäßigen Vollzug von Gemeinschaftsrechten befasst. Erste Untersuchungen zu den Auswirkungen der Europäischen Integration auf die öffentliche Verwaltung haben daher die Organisationsstrukturen, Verfahrensregeln und Koordinierungsmechanismen in den einzelnen Mitgliedstaaten (vgl. z. B. Kassim/Peters/Wrigth 2000), die wechselseitige Beeinflussung zwischen europäischem und nationalem Verwaltungsrecht (vgl. Schwarze 1995) oder die Entwicklung im öffentlichen Dienst in den Mitgliedsstaaten analysiert (vgl. Bossaert u. a. 2001). Auf der einen Seite wird argumentiert, dass es eine wachsende Konvergenz zwischen den Rechts- und Verwaltungssystemen in der EU gibt und ein Europäischer Verwaltungsraum durch akteurszentrierte Einflüsse entsteht. Zu nennen wären hier die Forderung europäischer Wirtschaftskonkurrenten nach einheitlichen Wettbewerbsbedingungen, die administrative Kooperation von Beamten-Netzwerken und die vereinheitlichende Rechtsprechung des GEU. Auf der anderen Seite wird bezweifelt, dass europäisierende Einflüsse stark genug sind, um ein einheitliches Modell öffentlicher Verwaltung hervorzubringen. Angeführt wird hier, dass es sehr unterschiedliche nationale Traditionen gibt und innerstaatliche Gründe nach wie vor die wesentlichen Erklärungsfaktoren für Verwaltungshandeln sind. Zwar werden Konvergenzen zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungssystemen nicht geleugnet (z. B. Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Annäherung öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Beschäftigungsverhältnisse), aber Europäisierung als Erklärungsfaktor negiert, da es sich hier um allgemeine Modernisierungstendenzen 405
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handle (vgl. Page/Wouters 1995, S. 202). So machen auch Héritier und Knill (Héritier u. a. 2001) darauf aufmerksam, dass selbst eindeutig auf europäischen Regelungen basierende Veränderungsprozesse der nationalen Verwaltungen entscheidend durch die nationalen Kontextbedingungen geprägt sind. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen hat sich im Zusammenhang mit der Osterweiterung intensiviert. Waren in den vorhergehenden Beitrittsrunden Fragen der Verwaltungskapazitäten kein besonderer Gegenstand von Verhandlungen, da man offenbar davon ausging, dass es hinreichende Übereinstimmungen bezüglich des Typs einer westlichen modernen Verwaltung gab, änderte sich dies jetzt vor dem Hintergrund, dass Staaten in die EU aufgenommen wurden, deren Verwaltungen vormals zum Typ der Kaderverwaltungen zu zählen waren (vgl. König 1992). Ein Kriterium bei den Beitrittsverhandlungen im Rahmen der Osterweiterung war daher die Gewähr, dass die „aus der Mitgliedschaft erwachsenen Verpflichtungen“ übernommen werden. Dabei geht es aber nicht nur um die formale Übernahme des Gemeinschaftsrechtes in die nationale Rechtsordnung, sondern die EU überprüft nun auch die Fähigkeiten der öffentlichen Verwaltung und des Justizapparates, das Gemeinschaftsrecht in der Praxis effektiv anwenden zu können (Siedentopf/Speer 2002, S. 309). So enthielten die Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen, die 1997 für jedes Land die Fähigkeiten der Verwaltungsstrukturen zur Umsetzung des EU-Rechtes überprüften, neben der Bewertung des Istzustandes auch Reformvorschläge und Maßnahmenkataloge (vgl. im Detail ebd., S. 310). Allerdings wird das „EU-Modell öffentlicher Verwaltung“ jenseits allgemeiner Prinzipien – wie eines im Sinne der Gewaltenteilung unabhängigen professionellen öffentlichen Dienstes bzw. dem Vorhandensein spezifischer Regulierungs- und Zertifizierungsbehörden im Bereich des Warenverkehrs und des Wettbewerbes bzw. sektoralen Verwaltungsorganisationen in den Bereichen Landwirtschaft, Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz sowie Finanz-, Grenz- und Zollbehörden – als Prüfungsmaßstab nicht hinreichend deutlich. Die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen machen in allen Mitgliedstaaten Anpassungen erforderlich. Seit den Verträgen von Amsterdam müssen Beitrittskandidaten über eine verfassungsmäßige Ordnung verfügen, demokratische Freiheiten, politischen Pluralismus, freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und eine funktionierende Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz garantieren. Neben diesen allgemeinen Merkmalen des Modells westlicher Staatlichkeit wird der Alltag der Verwaltungen in den EU Staaten durch zahlreiche gemeinschaftsrechtliche Anforderungen im Besonderen Verwaltungsrecht geprägt, die z. B. Umweltverträglichkeitsprüfungen und Informationsverpflichtungen gegenüber der Kommission vorschreiben. Auch können seit 1993 alle EU-Inländer nunmehr den Beamtenstatus erlangen. Am spektakulärsten ist indes die oben schon dar-
5.4 Europäisierung der öffentlichen Verwaltung
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gestellte Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechtes auf den öffentlichen Dienst im Bereich der Dienstleistungsmonopole und der öffentlichen Daseinsvorsorge, die in einzelnen Bereichen mit einer Umwandlung öffentlich-rechtlicher in privatrechtliche Organisationsformen verbunden war. Nach der Osterweiterung etablierte sich als indirekte Einflussnahme die konditionelle EU-Unterstützung staatlicher Verwaltungskapazitäten z. B. als Bedingung für die Mittelnutzung aus der EU-Strukturpolitik (ab 2004) oder seit der Banken- und Fiskalkrise 2008 als Förderlinie in der Regionalpolitik, um Staaten mit schwacher Abrufquote von EU-Mitteln administrativ zu stärken (Heidbreder 2019, S. 81). Unter funktionellen Anforderungen einer EU-Mitgliedschaft sind solche Voraussetzungen zu verstehen, die ein Verwaltungssystem beachten muss, um im europäischen Mehrebenensystem erfolgreich agieren zu können (ebd., S. 320). Diese sind nicht normiert und unterliegen ganz der Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten. Zu nennen ist hier zunächst eine Verwaltungsorganisation, die eine effiziente Behandlung europäischer Angelegenheiten gewährleistet. Hier deutet sich an, dass man von der Einrichtung eines allgemeinen Europaministeriums absieht und stattdessen in den Ministerien spezielle Europaabteilungen einrichtet. In bestimmten Ländern ist es zudem europainduziert zur Einrichtung von Umweltministerien gekommen. Die innerstaatlichen Koordinierungsverfahren setzen in der Regel auf den bestehenden Traditionen auf, wobei die deutschen Länder ihre innerstaatlichen Beteiligungsrechte durch die Neufassung des Art. 23 GG deutlich verbessert haben. Die Erkenntnisse der Europäisierungsforschung ergeben nun kein eindeutiges Fazit im Hinblick auf die materiellen Folgen des EU-Integrationsprozesses für die institutionelle Verfassung der nationalen Verwaltungssysteme (Goetz 2006, S. 478). Zwar gibt es einige für die sogenannte Konzentrationsthese – also die horizontale und vertikale Machtverlagerung auf die zentralstaatliche Exekutive und auf eine privilegierte administrative ‘Kernexekutive’, aber diese sind weniger eindeutig als ihre Verfechter glauben machen wollen (vgl. im Detail ebd., S. 475–477). Vieles spricht also nach wie vor für eine Persistenz nationaler Verwaltungstraditionen und eine Zurückweisung allzu weitreichender Konvergenzannahmen. Die Frage, nach welcher Logik sich Europäisierung vollzieht, ist in der Literatur ebenfalls umstritten (vgl. Börzel/Risse 2003). Nach der „Anpassungslogik“ führen Unvereinbarkeiten zwischen EU und nationalen Politiken oder institutionellen Arrangements zu Anpassungsdruck auf der Ebene der Mitgliedstaaten, nach der Gebrauchslogik machen nationale Akteure strategischen, kognitiven und legitimierenden „Gebrauch“ von Elementen der Integration. Am Beispiel von Ost- und Mitteleuropa zeigt sich nun, dass zwar ein großer materieller Anpassungsdruck besteht, dass aber in den Fällen, wo sich keine nationalen Akteure finden, die wil407
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lens und in der Lage sind, Gebrauch von Europa zu machen, den Effekten einer top-down Anpassung an Tiefe und Nachhaltigkeit fehlt (ebd., S. 482). Insgesamt zeigt sich damit, dass es zwar Konvergenzen durch die Europäische Union gegeben hat, es den (alten) Mitgliedstaaten in der Regel aber gelungen ist, ihre spezifischen Verwaltungstraditionen zu bewahren. Ein neuer Forschungsstrang beschäftigt sich nicht mehr so sehr mit der Frage, wie sich die (sub)staatliche Verwaltung durch die europäische Integration verändert, sondern mehr mit der Erforschung der Funktionsweise europäischer Mehrebenenverwaltung (vgl. Heidbreder 2011, Bauer/Trondal 2015, Benz u. a. 2016). Die EU-Mehrebenenverwaltung ist ein vielseitiger und nicht klar hierarchisch strukturierter Funktionsapparat, in dem der Vollzug dezentral durch die spezifischen mitgliedsstaatlichen Verwaltungen stattfindet und die Aufsicht bei der Kommission liegt (Heidbreder 2019, S. 84). Eine wichtige Forschungsfrage bleibt wie dabei der dezentrale Vollzug durch die EU-Ebene unterstützt und wie grenzüberschreitenden Amtshilfe gewährleistet werden kann. Wichtige Gebilde neben der Kommission sind ca. 270 Komitologie-Ausschüsse, mehr als 40 europäische Agenturen sowie eine schwer zu beziffernde Zahl an formellen und informellen Verwaltungsnetzwerken (vgl. hierzu im Detail Hustedt/ Wonka u. a. 2014, S. 18). Unter Komitologie wird die Tätigkeit der ca. 270 Durchführungsausschüsse der EU beschrieben, in denen Mitarbeiter der Kommission und mitgliedstaatliche Delegierte bei der Implementation europäischer Programme kooperieren (Töller 2002, S. 15, Hustedt/Wonka u. a. 2014, S. 105ff.). Spezifische Verwaltungsaufgaben werden zudem an Agenturen delegiert, die geografisch über fast alle Mitgliedsstaaten verteilt sind, wie z. B. die Europäische Chemikalienagentur in Helsinki oder die Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit auf Kreta (Töller 2002, S. 19). Zudem spielen insbesondere bei der Liberalisierung ehemals staatlicher Sektoren europäische Verwaltungsnetzwerke eine wichtige Rolle.
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Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
Lernziele am Ende dieses Kapitels sollten Sie • einen Überblick über aktuelle Debatten in der Verwaltungswissenschaft haben, • insbesondere zu den Diskussionen über das Selbstverständnis als eigenständige Disziplin oder als inter-disziplinäres Fach, • zu den Beziehungen zu anderen Disziplinen, insbesondere zur Politikwissenschaft, aber auch zur Policy-Forschung, Managementlehre und Governance-Forschung, • zu den wichtigen Praxisfeldern der Verwaltungspolitik und der verwaltungswissenschaftlichen Politikberatung • und zur Zukunft der Verwaltungswissenschaft im Spannungsfeld von Organisationen, Institutionen, politischer Steuerung und Politikinhalten.
6.1
Selbstverständnis der Verwaltungswissenschaft
6.1
Selbstverständnis der Verwaltungswissenschaft
In Kapitel 2 haben wir bereits die nicht ganz einfache Position der Verwaltungswissenschaft im Kanon der verschiedenen etablierten wissenschaftlichen Disziplinen kurz diskutiert. Wir haben versucht deutlich zu machen, dass Verwaltungswissenschaft notwendigerweise auf die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen angewiesen ist. Deutlich wurde hoffentlich auch die seit Jahren wachsende Leistungsfähigkeit und Relevanz verwaltungswissenschaftlicher Fragestellungen und Ansätze. Aber wie sieht es tatsächlich mit dieser interdisziplinären Zusammenarbeit und generell mit dem Selbstverständnis und der Zukunft der Verwaltungswissenschaft aus? Wenn man den aktuellen Diskussionen glauben soll, nicht so gut. Was Verwaltungswissenschaft ist, wie sie zu organisieren sei und welchem Zweck sie © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Bogumil und W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Grundwissen Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4_6
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
dienen soll, wird seit Jahren kontrovers diskutiert, und nicht nur in Deutschland. Gerade in den letzten Jahren hat diese Diskussion wieder an Intensität zugenommen.
6.1.1
Internationale Debatten
Schon seit dem Generalangriff auf die etablierte amerikanische Verwaltungswissenschaft von Herbert Simon (Simon 1946), mit dem Vorwurf sie sei „lacking in rigor and overburdened with normative concerns“ (s. o. 2.2.4.1), und deren Verteidigung durch Dwight Waldo (Waldo 1948) tobt die Debatte über den wissenschaftlichen Status, Sinn und Zweck der Verwaltungswissenschaft. Christopher Pollitt bemerkte spöttisch über diese Debatte: “If the academic public administration community were a patient undergoing a mental health assessment, the diagnosis would probably turn out to be ‘suffers from multiple personality disorder.’ The case notes might read, ‘Long-term chronic condition – appears to be getting slightly worse recently’. Paradoxically, it might also note, Condition usually does not appear to have serious effects on ability to function in real-world contexts’” (Pollitt 2010, S. 292).
Worum geht es in diesen Debatten? Zentrale Kontroversen drehen sich immer wieder um das Verhältnis von Grundlagen- zu angewandter Forschung, um Methoden und Validität der Ergebnisse, um die Rolle von Normen und Werten in Forschung und Beratung und um die praktische und theoretische Relevanz der Ergebnisse. Besonders berühmt geworden sind in diesem Zusammenhang die sogenannten Minnowbrook Konferenzen in den USA, in denen seit 1968 alle 20 Jahre eine kritische Bilanz des Faches gezogen wird (grundlegend Marini 1971; zuletzt Nabatchi/Carboni 2019; zusammenfassend Bouckaert/Jann 2020, S. 26ff). Inspiriert durch diese amerikanische Tradition wurde 2014 das Projekt „European Perspectives for Public Administration“ (EPPA) aus der Taufe gehoben, mit dem Ziel, auch in Europa eine kontinuierliche und intensive Debatte über die Zukunft des Fachs anzustoßen (Bouckaert/Jann 2018, dies. 2020). In diesem Zusammenhang wurde u. a. eine Befragung europäischer Verwaltungswissenschaftler zu den aktuellen Problemen und den wichtigsten Herausforderungen der nächsten 20 Jahre durchgeführt (vgl. ausführlich Bertels/Bouckaert/Jann 2020). Gefragt und geantwortet wurde u. a. zu folgenden Aspekten: • wissenschaftlicher Status: die Verwaltungswissenschaft braucht „better and more data and scientific rigor“, sie sollte sich nicht von aktuellen Moden abhängig
6.1 Selbstverständnis der Verwaltungswissenschaft
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machen, notwendig sei „balancing rigor and relevance“ – damit unterscheidet sie sich allerdings nicht groß von den Debatten in anderen Sozialwissenschaften; • praktische Relevanz: hier war das Ergebnis überraschend positiv, „we can always do better, but (…) the knowledge transfer has been improved a lot during the last years“ – auch in Deutschland ist, wie oben (2.3) argumentiert, der Kontakt immer sehr eng gewesen (siehe ausführlich unten Kap. 6.3); • Attraktivität für Studierende und Arbeitgeber: Sie ist in vielen Ländern nicht hinreichend gegeben, denn wenn der öffentliche Sektor Absolventen nicht systematisch rekrutiert, wie z. B. in Skandinavien, schwindet die Attraktivität für Studierende – dies gilt u. a. auch für Deutschland, wo öffentliche Arbeitgeber Absolventen der Verwaltungswissenschaft bisher kaum systematisch rekrutiert haben; • Kohärenz der Disziplinen: auch hier ist das Ergebnis eher positiv, „the barriers between the different disciplines are shrinking – much of the field has developed positively by incorporating many relevant theories from economics, management, organization theory, sociology etc. in recent years“ – als zentrale Disziplinen werden Politikwissenschaft, Management, Recht und Soziologie angesehen, wobei angenommen wird, dass die Bedeutung der Rechtswissenschaft in Zukunft eher abnehmen wird. Das Projekt hatte Verwaltungswissenschaftler aus ganz Europa versammelt und liefert u. a. einen Überblick über den Stand des Fachs in verschiedenen europäischen Ländern. Es soll im Rahmen der European Group of Public Administration (EGPA), einem Zusammenschluss europäischer Verwaltungswissenschaftler und -praktiker, kontinuierlich fortgesetzt werden. Im Ergebnis wird der Stand der europäischen Verwaltungswissenschaft vorsichtig positiv bewertet, auch im Vergleich zu den bisher dominierenden USA. Allerdings werden vier zentrale Herausforderungen der Verwaltungswissenschaft in den nächsten Jahren identifiziert: • Futures: wie können längerfristige Orientierungen und Projekte, die sich auch für alternative Zukünfte öffnen, gestärkt werden? • Disciplines: wie kann die Zusammenarbeit und das gegenseitige Lernen zwischen verschiedenen etablierten Disziplinen weiter gestärkt und entwickelt werden? • Cultures: wie kann die zunehmende Diversität unserer Gesellschaften besser beachtet und produktiv genutzt werden, um voneinander zu lernen? • Practice: Wie kann die praktische Relevanz der Verwaltungswissenschaft gestärkt werden, sowohl in Forschung, Beratung und nicht zuletzt auch in der Lehre?
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
6.1.2 Die Debatte in Deutschland Auch in Deutschland wird diese Debatte derzeit intensiv geführt, mit allein drei einschlägigen Konferenzen in den letzten Jahren (aktueller Überblick Bauer/ Grande 2018, siehe auch Ziekow 2018, Bull 2015). Wichtige Hinweise zum Stand der Verwaltungswissenschaft in Deutschland liefert dabei eine umfangreiche aktuelle Befragung (Bauer/Becker 2017 und 2018). Befragt wurden Verwaltungswissenschaftler aller Disziplinen und Praktiker, die zu verwaltungswissenschaftlichen Fragen lehren, publizieren oder an einschlägigen Tagungen teilgenommen haben. Von 1400 angeschriebenen Personen haben 419 die Befragung vollständig beantwortet. Hierbei handelte es sich bei 326 Personen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Offenbar ist die Zahl der Verwaltungswissenschaftler in Deutschland gar nicht so gering. Überraschend ist allerdings der generelle Tenor der Befragung, nämlich ein erstaunlich schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein der deutschen Verwaltungswissenschaftler. So verneinen 63 % die Aussage, die Leistungen der Verwaltungswissenschaft in Forschung und Lehre haben in Deutschland „einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert“, 48 % sind der Meinung, das öffentliche Interesse an diesen Themen sei derzeit gering, 61 % schätzen die Attraktivität verwaltungswissenschaftlicher Themen für Studierende als gering ein (Bauer/Becker 2018, S. 49). Die Autoren beklagen insbesondere ein äußerst heterogenes Selbstverständnis der deutschen Verwaltungswissenschaft. Das heißt, dass es weder eine einheitliche Einschätzung zur Rolle und zentralen Aufgaben noch zu grundlegenden Theorien und Methoden gibt. Allenfalls bei den aktuellen und zukünftigen Arbeitsgebieten zeichnen sich gemeinsame Schwerpunkte ab. Aber sind die Befunde wirklich so negativ, wie sie von den Autoren interpretiert werden? Immerhin nahmen über 300 Verwaltungswissenschaftler an der Befragung teil, die „verwaltungswissenschaftliche Gemeinschaft in Deutschland“ ist also größer, als dies in den einzelnen Disziplinen vermutlich wahrgenommen wird. 34 % bezeichnen sich dabei als Politikwissenschaftler, 30 % als Rechtswissenschaftler und 12 % als genuine Verwaltungswissenschaftler (die meisten haben vermutlich in Konstanz und Potsdam studiert). Die übrigen Disziplinen (BWL, Soziologie, VWL etc.) kommen jeweils nur auf 7–5 %. Aber immerhin interessiert sich diese Gemeinschaft für Fragen der gemeinsamen interdisziplinären Entwicklung.
6.2 Differenzierung und Integration
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Differenzierung und Integration
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Differenzierung und Integration
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Besonders hadern die Verwaltungswissenschaftler offenbar mit dem, was Bauer/ Grande (2018) als das doppelte Integrationsproblem bezeichnen. Zum einen sind die Verwaltungswissenschaftler zumindest nach eigener Einschätzung nicht besonders gut in ihre Heimatdisziplinen integriert und dort auch nicht besonders angesehen. Die Verwaltungswissenschaft „fristet hierzulande ein Schattendasein in juristischen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten“ (Bohne 2014: 159). Zum anderen fehlt es an Schwerpunkten verwaltungswissenschaftlicher Forschung und Lehre, einer kritischen Masse, in der der Dialog unterschiedlicher Disziplinen organisiert und angeregt werden könnte. Für die geringe Relevanz in den etablierten Disziplinen gibt es einige Hinweise: • In der öffentlichen Betriebswirtschaftslehre (ÖBWL) ist das Konzept des Public Management zwar sehr populär und es gibt auch einige angesehene Lehrbücher (u. a. Schedler/Proeller 2011), aber trotzdem nimmt die Zahl der in diesem Bereich aktiven Professuren an den Universitäten ab (während sie an den Fachhochschulen eher zu steigen scheint). Allerdings ist die Identifikation von Public Management mit BWL eine typisch deutsche Verengung des Konzepts, international werden Public Management und Public Administration weitgehend als identisch angesehen (Pollitt 2016). Als deutschsprachige Zeitschrift wäre „Verwaltung und Management“ zu nennen. • In der Soziologie hat die Organisationssoziologie in den letzten Jahren zwar an Bedeutung gewonnen, aber eine spezielle Verwaltungssoziologie ist an den Universitäten äußerst dünn gesät. Seit dem einflussreichen Lehrbuch von Renate Mayntz (zuerst 1978) hat es auch kein entsprechendes neues Lehrbuch gegeben. Eine eigenständige Zeitschrift gibt es nicht. • Was die Finanzwissenschaft als speziell auf den öffentlichen Sektor ausgerichteter Teil der VWL angeht, gibt es hierzu zwar eine Reihe angesehener Einführungen (u. a. Zimmermann u. a. 2017) und der Bereich ist in der VWL durchaus etabliert, aber leider gibt es kaum Zusammenarbeit mit der Verwaltungswissenschaft. Finanzwissenschaftler sehen sich eindeutig als Ökonomen, mit ihren eigenen spezialisierten Zeitschriften (etwa „Finanzarchiv“) und Reputationsritualen. • In der Rechtswissenschaft ist das Staats- und Verwaltungsrecht offenkundig ein sehr angesehener und etablierter Teil der Disziplin mit angesehenen Lehrbüchern (etwa Bull/Mehde 2015) und Zeitschriften (etwa „Die Verwaltung“, „Verwaltungsarchiv“, „DÖV- Die öffentliche Verwaltung“), die zum Teil auch durchaus den Kontakt zur empirischen Verwaltungswissenschaft suchen, aber auch hier ist eine enge Zusammenarbeit mit sozialwissenschaftlicher Verwal413
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
tungsforschung eher selten. Allerdings gibt es in letzter Zeit den ernsthaften Versuch, diesen Dialog neu zu beleben, vor allem unter der Überschrift „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ (Voßkuhle 2016, Burgi 2017, 2020). • Bleibt die Politikwissenschaft. Hier hat es seit dem Aufruf, Verwaltungswissenschaft als Teil der Politikwissenschaft zu etablieren (Scharpf 1973a), erhebliche Fortschritte gegeben (siehe nächster Abschnitt), aber dennoch ist es nicht gelungen, Verwaltungswissenschaft, wie etwa in den skandinavischen Ländern, Belgien und den Niederlanden, als anerkannten Teilbereich in den politikwissenschaftlichen Curricula neben Politischer Theorie, Innenpolitik und Vergleichender Politikwissenschaft zu verankern. Immer noch gibt es nur in Konstanz und Potsdam grundständige BAs mit verwaltungswissenschaftlichem Schwerpunkt, und dazu eigenständige MAs. Hier zeigt sich das zweite Integrationsproblem, die geringe Zahl etablierter Zentren verwaltungswissenschaftlicher Lehre und Forschung, in denen ein kontinuierlicher Dialog und eine zumindest punktuelle Zusammenarbeit der verschiedenen relevanten Disziplinen verhältnismäßig einfach und kontinuierlich zu organisieren wäre. Neben den schon erwähnten Universitäten in Konstanz und Potsdam sind in erster Linie die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer und seit neuestem einige private (Hertie School of Governance, Berlin; Zeppelin Universität, Friedrichshafen) und öffentliche „Professional Schools“ (NRW School of Governance, Duisburg; Willy-Brandt-School of Public Policy, Erfurt) zu nennen. Allerdings konzentrieren sich diese, wie die Namen schon nahelegen, oft weniger auf den Kernbereich der öffentlichen Verwaltung, sondern mehr auf Politikinhalte und Public Policies und eher auf die Lehre als auf die Forschung. Bleibt die Frage, ob und wie solche interdisziplinären Zentren der Verwaltungswissenschaft zu organisieren wären? Wenn man akzeptiert, dass es in Deutschland eine kohärente Disziplin „Verwaltungswissenschaft“ im wissenschaftssoziologischen Sinn, also mit eigenen wohl-definierten Theorien, Methoden und Erkenntnisinteressen nicht gibt, dass dies auch nicht erstrebenswert ist und dass daher ein Pluralismus der Theorien, Methoden und Themen auch künftig ein herausragendes und notwendiges Merkmal der Verwaltungswissenschaft sein wird und sein sollte (Bauer/Grande 2018), bleibt immer noch zu klären, wer denn die Initiative ergreifen, wer Verantwortung übernehmen könnte und sollte.
6.2 Differenzierung und Integration
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6.2.1 Verwaltungswissenschaft und Politikwissenschaft Im Prinzip könnte jede der zentralen Disziplinen und Ansätze, also Managementlehre, Rechtswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft den Kern eines inter-disziplinären Zentrums der verwaltungswissenschaftlichen Lehre und Forschung bilden, und die Rechtswissenschaft hat dies mit der ursprünglich „Hochschule für Verwaltungswissenschaften“ benannten Institution in Speyer ja auch schon seit dem Zweiten Weltkrieg versucht. Wichtig wäre nur, dass tatsächlich ein Interesse an interdisziplinärem Austausch besteht und dass die verschiedenen Disziplinen in die Lehre integriert werden. Aber tatsächlich ist in Deutschland, anders als etwa in den USA, ein ernsthaftes Interesse der Business Schools oder auch der Organisationssoziologie nicht zu erkennen. Hier kommt wiederum die Politikwissenschaft ins Spiel, vor allem aufgrund ihrer Bedeutung für die empirische verwaltungswissenschaftliche Forschung und auch hierzu gibt die oben erwähnte Umfrage einige Hinweise. Zwar lehnt die weit überwiegende Mehrzahl der Befragten die Idee einer Leitdisziplin ab (zumindest, wenn es nicht die eigene Disziplin ist), aber es wurde u. a. auch gefragt, welche anderen Disziplinen neben der eigenen für die eigene Arbeit von Bedeutung seien. Dabei wurde deutlich, dass die Politikwissenschaft bei den Vertretern aller anderen Disziplinen das wichtigste Fachgebiet neben dem eigenen ist (Bauer/Becker 2018, S. 62). Gleichzeitig war allgemein nach den derzeit angesehensten und einflussreichsten deutschen Verwaltungswissenschaftlern gefragt worden, und von den zehn am meisten genannten Vertretern des Fachs sind acht zumindest von der Herkunft Politikwissenschaftler (Bauer/Becker 2017, S. 8ff). Selbst die Juristen und Betriebswirte nannten jeweils fünf Politikwissenschaftler unter den aus ihrer Sicht zehn wichtigsten. Tatsächlich ist die verwaltungswissenschaftliche Forschung in den letzten 50 Jahren entscheidend von der Politikwissenschaft inspiriert und vorangetrieben worden (ausführlich Jann 2009), und gerade auch die Politikwissenschaft hat immer wieder versucht, sich über den Stand und die Perspektiven der Verwaltungswissenschaft zu verständigen. Einen ersten Überblick lieferte vor bald 40 Jahren ein PVS-Sonderheft (vgl. Hesse 1982) und es ist daher erhellend zu fragen, welche Veränderungen seitdem zu erkennen sind. 1982 ging es vorrangig um Selbstvergewisserung, daher auch der programmatische Titel „Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft“. Ausgangspunkt war die Planungsdiskussion der sechziger und siebziger Jahre, und gemeinsamer Nenner der meisten Beiträge war daher die theoretische wie empirische Aufarbeitung der, je nach Standpunkt, möglichen oder unmöglichen „Problemverarbeitung durch das politisch-administrative System“ (Mayntz). Verwaltungswissenschaft wurde, dem Zeitgeist entsprechend, als weitgehend identisch 415
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mit Policy-Forschung wahrgenommen, und folgerichtig beschäftigten sich auch über ein Drittel der Beiträge mit spezifischen Politikbereichs-Analysen, von der Arbeitsmarkt- über die Gesundheits-, Medien- bis hin zur Sozialpolitik. Alles auch heute noch immer gute alte Bekannte, in deren Analyse die öffentliche Verwaltung allerdings oft nur peripher vorkam. Aber auch sonst trifft man bereits 1982 viele inzwischen liebgewordene Themen, von der Bürokratiekritik über die Bürgernähe, die Föderalismusreform bis hin zur politischen Kontrolle, Effizienz und Reformfähigkeit der öffentlichen Verwaltung und den Erklärungswert „binnenstruktureller“ Faktoren (Scharpf). Auch über die Möglichkeiten und Grenzen verwaltungswissenschaftlicher Ausbildung wurde debattiert. Es gibt offenbar einen Grundstock von praktischen und theoretischen Problemen, der weitgehend konstant bleibt. Auffällig ist aber auch, was 1982 praktisch keine Rolle spielte: Der Modebegriff Governance taucht nicht ein einziges Mal auf und es gab, außer zwei Beiträgen zur „Entwicklungsverwaltung“, kaum internationale Bezüge und praktisch keinerlei internationale Vergleiche, und auch die EU oder etwa eine mögliche oder denkbare Europäisierung der Verwaltung lag weit außerhalb des Interesses der Autoren und des damaligen Herausgebers. Die DDR oder die real-sozialistische Welt wurde mit keinem Wort erwähnt. Und eine Reflexion der Bedeutung von Institutionen wie auch die gesamte moderne Organisationstheorie sucht man vergebens. Vielleicht am überraschendsten ist, dass es 1982 keinen Beitrag gab, der sich mit einer etwa bevorstehenden managerialistischen Wende oder einer zu befürchtenden Ökonomisierung der Verwaltung auseinandersetzt, wenn man von allgemeinen Erläuterungen der Bedeutung von Effizienz und Effektivität absieht. Auch der 2006 erschienene Sammelband zu „Politik und Verwaltung“ (Bogumil/ Jann/Nullmeier 2006b) wird sich in 40 Jahren vorhalten lassen müssen, was er alles übersehen und nicht erkannt hat. Aber interessant ist, welche Entwicklungen zu erkennen waren. Grob zusammengefasst wurden identifiziert: • eine zunehmende Konzentration auf den engeren Gegenstand „öffentliche Verwaltung“, und vor allem auf dessen Veränderung und Transformation, • eine bemerkenswerte Breite empirischer Untersuchungen, insbesondere auch zu den Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung, • verbunden mit der Etablierung einer ansehnlichen international vergleichenden Verwaltungsforschung sowie Forschungen zur Europäisierung und Internationalisierung von Verwaltung, • generell eine Öffnung in Richtung sämtlicher methodischer und theoretischer Ansätze der modernen Sozialwissenschaften, d. h. eine „Normalisierung“ der Verwaltungswissenschaft, und nicht zuletzt
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• eine Konsolidierung theoretischer Erklärungen, insbesondere durch die Einbeziehung und Entwicklung organisations- und institutionentheoretischer Ansätze. Die aktuelle Bestandsaufnahme von Michael Bauer und Edgar Grande (2018) bestätigt weitgehend diese Tendenzen. Zwar wird noch immer die Heterogenität der thematischen Schwerpunkte und methodischen Orientierungen beklagt, aber gleichzeitig werden ausdrücklich die Bemühungen zur stärkeren Integration des Faches anerkannt und das nach wie vor große Innovationspotential der Forschung hervorgehoben. Gerade die handlungs-, organisations- und institutionenbasierte politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung ist offenkundig auch für die anderen klassischen Disziplinen, also Recht, BWL und Soziologie gut anschlussfähig. In der erwähnten Umfrage hat sich gezeigt, dass die moderne Entscheidungs- und Handlungstheorie, und etwas abgeschwächt auch der Neo-Institutionalismus in nahezu allen Disziplinen eine hohe Relevanz besitzt, insbesondere auch in der Rechtswissenschaft (Bauer/ Becker 2018, S. 64). Die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung schafft zwar keinen gemeinsamen Theoriekanon, aber sie ermöglicht den gegenseitigen Austausch und das gegenseitige Lernen voneinander. Tatsächlich bemühen sich zumindest Teile der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung auch bereits seit Jahren um diesen Austausch. Sowohl die einzige Zeitschrift, die sich dieser Interdisziplinarität verpflichtet fühlt, „dms – der moderne staat“, mit dem programmatischen Untertitel „Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management“ und auch eines der zentralen Handbücher „Handwörterbuch zur Verwaltungsreform“„ (seit 1998, 5. Auflage Veit u. a. 2019) werden entscheidend durch die Zusammenarbeit von Politikwissenschaftlern mit den anderen Disziplinen geprägt. In den letzten Jahren hat sich die politikwissenschaftlich ausgerichtete Verwaltungswissenschaft zudem verstärkt internationalen Verwaltungen angenommen (vgl. Enkler/Grohs 2016, Bauer u. a. 2017, Knill u. a. 2018).112 Vor dem Hintergrund von
112 So fördert die DFG von 2014 bis 2020 eine Forschergruppe unter der Leitung von Christoph Knill, in der Teilprojekte u. a. die spezifischen Verwaltungskulturen und -stile, deren Autonomie und Expertise, ihre Haushalts- und Personalpolitik und ihre Interaktion mit nationalen Verwaltungen untersuchen (Bauer u. a. 2017). Zentrale Fragestellungen sind dabei, ob es sich bei diesen Verwaltungen um einen eigenständigen Bürokratietypus handelt und ob sich auch allgemeine Aussagen zu Verwaltungsorganisationen treffen lassen, die einen Beitrag zur vergleichenden Verwaltungswissenschaft darstellen. In der zweiten Phase 2017–2020 steht im Mittelpunkt, welchen Einfluss beobachtbare Verhaltensmuster internationaler Bürokratien für den politikgestaltenden Einfluss von Verwaltungen jenseits des Nationalstaates bedeuten und wie sie sich auf die Wandlungsund Anpassungsfähigkeit dieser Organisationen auswirken (Knill u. a. 2018). 417
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internationalen Großkrisen, man denke an die Finanz- und Schuldenkrise 2007/8, die Flüchtlingskrise 2015/16 oder aktuell die Corona-Pandemie 2020, ist deutlich geworden, dass Problemlagen vor den Grenzen von Nationalstaaten und ihren Verwaltungszuständigkeiten keinen Halt machen. Aus diesem Grunde gewinnen Strukturen der transnationalen Verwaltungskooperation und internationale Verwaltungen immer stärker an Bedeutung. Der Internationale Währungsfonds (IWF), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Europäische Union und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS) waren maßgeblich an der Neuregulierung des Finanz- und Bankensektors und der Bewältigung der Schuldenkrise beteiligt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und die internationale Migrationsorganisation (IMO) sind operativ an der Bereitstellung von Flüchtlingslagern beteiligt und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist entscheidend für internationalen Informationsaustausch zur Entwicklung von Infektionszahlen und dem Aufbau von Test- und Behandlungskapazitäten insbesondere in Staaten mit unterentwickelten Gesundheitssystemen. Gemeinsam ist allen genannten Organisationen, dass sie sog. internationale Organisationen, also vertraglich von mehreren Staaten begründete Organisationen darstellen, die neben eigenen Entscheidungsstrukturen auch über ausgeprägte Verwaltungsapparate mit jeweils mindestens vierstelligen Mitarbeiterzahlen verfügen (Rittberger u. a. 2013). Bauer und Becker betonen aber auch die Spannungslinien, die die Verwaltungsforschung seit einiger Zeit charakterisieren, sowohl bezüglich des Gegenstandsbereichs wie auch der Zielsetzung. Idealtypisch unterscheiden sie vier Schwerpunkte (ausführlich m. w. A. Bauer/Becker 2018, S. 18f) • auf der einen Seite die theoriebasierte Analyse der Organisation des Staatsapparats und seiner Umwelt, seit einigen Jahren stark durch die moderne Organisationsund Institutionentheorie beeinflusst (Beispiele wären die „skandinavische Schule der Verwaltungswissenschaft“, Jann 2006a, als Lehrbuch Christensen u. a. 2020 und Kuhlmann/Wollmann 2019, siehe auch Seibel 2016 oder Schröter 2018), • und als deren praxisorientierte Variante Analysen in Verbindung mit Verwaltungsreformen (Naschold/Bogumil 2000, Bogumil/Grohs u. a. 2007, Bogumil 2016, Bogumil/Burgi u. a. 2018, Pollitt/Bouckaert 2017 und insgesamt die Schriftenreihe „Modernisierung des öffentlichen Sektors“„), sowie • die Analyse von Prozessen und Strukturen der Politikformulierung, Implementation und Evaluation im Sinne einer interaktionsorientierten Policy-Forschung (klassisches Beispiel der „akteurzentrierte Institutionalismus“, Mayntz/Scharpf 1995, Scharpf 2000, als Lehrbuch Schubert/Bandelow 2014, Schneider/Janning 2006),
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• und wiederum als deren praktische Variante eine vorrangig präskriptiv und methoden-orientierte angewandte Policy-Analyse (als Lehrbuch Weimer/Vining 2017, als deutsches Beispiel insbesondere die Evaluationsforschung, Stockmann/ Meier 2014, Wollmann 2003).
6.2.2 Verwaltungswissenschaft und Policy-Forschung Im Prinzip sind dies die in den letzten Jahren immer wieder beschworenen Gegensätze zwischen organisations- und policy-orientierter Verwaltungswissenschaft (Janning 2006, Töller 2018, siehe aber auch Döhler 2014) und zwischen theorie-getriebener und angewandter Forschung. Aber die Frage ist, wie stark und eindeutig diese Gegensätze wirklich sind? Aus unserer Sicht ist es unbedingt sinnvoll und notwendig, die Perspektiven der internen und externen Steuerungsprobleme des öffentlichen Sektors, also Public Administration und Public Policies, wieder zusammenzufügen (vgl. Jann 1998a, S. 56, ders. 2001, 2009). Der offensichtlich gemeinsame Bezugspunkt liegt in Fragen der intra- und gleichzeitig der interorganisatorischen Steuerung sowie deren Grenzen und Voraussetzungen. Ein, wenn nicht das wesentliche Merkmal öffentlicher Verwaltungen liegt in der demokratisch legitimierten politischen Steuerung. Sowohl zu den Problemen und Möglichkeiten politischer Steuerung als auch zu den Problemen und Möglichkeiten demokratischer Legitimation liegen zahlreiche Erkenntnisse im Bereich der Policy-Forschung und Politikwissenschaft vor. Von der Policy-Forschung ist zu fordern, dass sie sich wieder stärker auf den staatlichen Sektor als Untersuchungsobjekt konzentriert und sich nicht nur mit den Problemen der Steuerbarkeit von gesellschaftlichen Sektoren, sondern auch wieder mehr mit der Steuerungsfähigkeit des Staates beschäftigen sollte. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass sich die Policy-Analyse in Deutschland weiter ausdifferenziert hat. Idealtypisch gesprochen in die aus der Verwaltungswissenschaft entstandene Politikfeldanalyse, in die vergleichende Staatstätigkeitsforschung und in die interpretative Policyanalyse (vgl. hierzu Töller 2018, S. 185). Von ihrem Theoriearsenal lassen sich nun eher prozessorientierte Theorien, die aus der traditionellen Politikfeldanalyse stammen und eher ergebnisorientierte Theorien, die aus der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung stammen und sich für den Zusammenhang von Policy-Outputs und bestimmen Aspekten des politischen Systems und weiteren Rahmenbedingungen interessieren, unterscheiden. Nach Ansicht von Töller ist insbesondere mit den ergebnisorientierten Theorien das Risiko verbunden, die Rolle von Verwaltungen nicht angemessen zu erfassen (Töller 2018, S. 203). Verwaltungen fungieren hier meist nur als Hintergrundvariablen. 419
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Zudem wird die Rolle von Verwaltungen natürlich eher entdeckt, wenn man sich mit politischen Prozessen und den dort stattfindenden Interessenkonflikten z. B. zwischen Politik, Ministerialbürokratien und Vollzugsbehörden befasst. Bei den ergebnistheoretischen Ansätzen gibt es einen deutlichen Bias zugunsten von Policy-Entscheidungen, während die praktische Politik und die Frage, was aus den verabschiedeten Policies wird, kaum beleuchtet wird. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen bleibt dennoch die Forderung bestehen, dass die politikwissenschaftliche Policy-Forschung und Steuerungstheorie ihre vorrangig inter-organisatorische Perspektive, die sich letztendlich nicht für das Binnenleben von Organisationen und „corporate actors“ interessiert, wieder durch eine intra-organisatorische Sichtweise ergänzen sollte. Nur eine solche integrierte Sichtweise kann zu einem besseren Verständnis der Voraussetzungen beitragen, unter denen wirkungsvolle Politikinhalte und politische Programme formuliert, produziert und umgesetzt werden können. Als Organisationsanalyse geht es der Verwaltungswissenschaft um den „gut organisierten Staat“ (Döhler/Franzke/Wegrich 2015), aber selbstverständlich geht es auch hier immer um die Problemlösungsfähigkeit des „arbeitenden Staates“. Umgekehrt werden in Lehrbüchern der Policy-Forschung die gleichen Organisationsund Entscheidungstheorien abgehandelt, wie in der Verwaltungswissenschaft (vgl. Schubert/Bandelow 2014, Schneider/Janning 2006). Auch in der internationalen Diskussion gibt es diese Gegensätze (z. B. im Nebeneinander von Vereinigungen und Konferenzen für Public Policy und Public Administration), aber es sollte schon zu denken geben, dass zwei der angesehensten internationalen Handbücher zu Public Policy und Public Administration dieselben Herausgeber haben (Peters/Pierre 2006, 2012). Auch ein neues Oxford-Handbook umfasst die Klassiker in beiden Bereichen (Balla u. a. 2015). Dass diese Kooperation, die ja den ursprünglichen Impetus für die sozialwissenschaftliche Verwaltungsforschung in Deutschland gegeben hat (vgl. Kap. 2.2.4), auch heute durchaus noch möglich erscheint, konzedieren selbst so kritische Beobachter wie Bauer und Grande (2018, S. 20): „Dieser Ansatz, theorieorientierte Organisations- und Policy-Forschung mit praktischer Relevanz zu betreiben, ist auch noch für die Potsdamer Verwaltungswissenschaft grundlegend (vgl. Döhler/Franzke/Wegrich 2015)“.
6.2.3 Verwaltungswissenschaft und Managementlehre Das Gleiche gilt für die Beziehungen der Verwaltungswissenschaft zur modernen Managementlehre (vgl. zum Folgenden Jann 2019, S. 33). Auch für die Management-
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lehre gilt, dass weder ihr Gebiet eindeutig umrissen ist noch Einigkeit über den Begriff des Managements besteht. Gleichzeitig ist unverkennbar, dass Management ein extrem beliebter Allerweltsbegriff ist, der oft mehr wegen seiner „modernen“ Konnotation und seiner Signalkraft als wegen seines Begriffsgehalts verwendet wird. Allgemein ist Management im angelsächsischen „the organization and direction of resources to achieve a desired result“. Genau dies versteht man im Deutschen unter Steuerung. In Deutschland ist Management die Domäne der Betriebswirtschaftslehre, und auch dort meint Management den Komplex von Aufgaben, die zur Steuerung eines Systems erfüllt werden müssen oder genauer, Steuerungsaufgaben, die zur Leistungserstellung und -sicherung in arbeitsteiligen Systemen notwendig sind (funktionaler Begriff). Management kann daher als zielorientierte Steuerung aufgefasst werden, als die Gestaltung und Lenkung von Organisationen, um diese und ihre Mitglieder auf bestimmte Ziele auszurichten. Im Deutschen spricht man in diesem Zusammenhang traditionell von Führung und Lenkung, und Manager sind daher zunächst nichts anderes als Führungskräfte. International vollzog sich der Siegeszug der Managementlehre im öffentlichen Sektor unter der Überschrift des New Public Management, in Deutschland unter der des Neuen Steuerungsmodells (vgl. Kap. 5.2.4). Beide konzentrierten sich wie die klassische Managementlehre auf die interne Steuerung komplexer Organisationen oder Organisationsnetzwerke. Dabei gibt es durchaus Unterschiede zwischen Managementlehre und Verwaltungswissenschaft. Da auch ihr Ausgangspunkt in praktischen Problemen liegt, weiß die Managementlehre, wie alle „Lehren“ (Staatslehre, Regierungslehre, Verwaltungslehre und insbesondere Betriebswirtschaftslehre) einen starken normativen und präskriptiven Bezug auf. Damit ist die Managementlehre eine problembezogene Wissenschaft, wie etwa auch die Ingenieurwissenschaften oder die Medizin. Dies impliziert keineswegs, dass sie unwissenschaftlich ist. Sie muss allerdings ihre normativen Empfehlungen so formulieren, dass deren theoretische Begründungen und/oder empirische Auswirkungen intersubjektiv nachprüfbar werden. Dies ist, zumindest in den Augen ihrer Kritiker, nicht immer der Fall. Die moderne Managementlehre schärft zwar den Blick für wichtige Probleme (Steuerung komplexer öffentlicher Organisationen, Dezentralisierung und Integration, Change Management, Lernen in öffentlichen Verwaltungen), aber sie beantwortet diese Fragen nicht befriedigend, da ihr häufig das Verständnis für oder die Kenntnis der Besonderheiten politisch-administrativer Prozesse und Institutionen fehlt. Dies gilt insbesondere für die deutsche Version, die Management immer noch fest in der BWL verortet. Hierzu einige kurze Beispiele:
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
• So werden z. B. Parteienwettbewerb und Verhandlungszwänge oft nur als Störfaktoren bei der Effizienzsteigerung der Verwaltung angesehen, aber weder ihre innere Logik noch ihr Steuerungspotential werden angemessen verstanden. • Bezüglich des Zusammenwirkens von Politik und Verwaltung werden alte, wenig realistische Leitbilder der exekutiven oder legislatorischen Programmsteuerung wieder aus dem Hut gezaubert oder sogar eine strikte Trennung gefordert. Dabei wird die empirische Forschung weitgehend ignoriert, die schon lange die enge Verflechtung von Politik und Verwaltung nachgewiesen hat, und auch, dass es funktional gute Begründungen für diese Vermischung gibt (vgl. Kap. 5.2.4, auch Bogumil 1997, 2002b, 2006). • Es wird allzu vorschnell der Abschied von Bürokratie und Hierarchie eingeläutet, ohne sich die nach wie vor vorhandenen Möglichkeiten und Notwendigkeiten hierarchischer Steuerung zu vergegenwärtigen (die ja auch in privaten Organisationen ihren Platz hat) und zur Kenntnis zu nehmen, dass Bürokratie und Hierarchie ein wesentliches Konstruktionselement unseres demokratischen Regierungs- und Verwaltungssystems sind (vgl. Kap. 4.1, Olsen 2006, Jann 2006a). • Bei der Einführung von Managementelementen werden die Besonderheiten öffentlicher Güter nicht hinreichend reflektiert. Öffentliche Dienstleistungsproduktion zeichnet sich gerade nicht durch die Produktion marktgängiger und marktfähiger Dienstleistungen aus. Öffentliche Güter sind Güter, die allen Bürgern zugänglich sein sollen und von deren Konsum niemand ausgeschlossen werden kann oder sollte. Dadurch sinkt natürlich die Bereitschaft, sich an den Produktionskosten zu beteiligen. Welches Gut als öffentliches gilt, ist eine Frage der politischen Grundsatzentscheidung. Die Gewährleistung des Zugangs zu öffentlichen Gütern erfordert zudem gerechte Verfahren. • Bei dem Versuch, Lernprozesse anzuregen, wird schließlich zu wenig der Blick geöffnet auf die Macht- und Entscheidungsprozesse in öffentlichen Organisationen, die erhebliche Auswirkungen für die Implementierung und Verteilungswirkungen von Politiken haben. Dennoch kann es keinen Zweifel geben, dass die Konzepte und Theorien der Management-Forschung für die Verwaltungswissenschaft unverzichtbar sind. Auch hier gilt, dass eine enge Zusammenarbeit und eine Integration der Ansätze weiter vorangetrieben werden sollte. Dies ist in der internationalen Diskussion inzwischen weitgehend der Fall, in der die Begriffe Public Administration und Public Management weitgehend synonym verwendet werden (Pollitt 2016; Bouckaert/ Jann 2020, S. 22ff).
6.2 Differenzierung und Integration
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6.2.4 Verwaltungswissenschaft und Governance-Forschung Schließlich ist noch die Verbindung der Verwaltungswissenschaft zur seit der Jahrtausendwende boomenden Governance-Forschung zu diskutieren (vgl. Kap. 2.3.4; Jann 2009; ders. 2019, vgl. auch Behnke 2018), um die es in letzter Zeit aber ruhiger geworden ist. Die Karriere des Governance-Konzepts hat gelegentlich den Eindruck erweckt, es handle sich eher um eine semantische als eine konzeptionelle oder gar theoretische Revolution, aber dennoch ist kaum zu bestreiten, dass hinter der überbordenden Verwendung des Begriffs sowohl reale Entwicklungen und Veränderungen wie auch eine veränderte Interpretation der Wirklichkeit stehen (Benz/Dose 2010; Schuppert 2007). Klassische Mechanismen staatlicher, d. h. hierarchischer Steuerung werden, so die Diagnose, zunehmend durch co-arrangements oder hybride Strukturen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft abgelöst, was zu einer Verwischung der überkommenen Grenzen führten soll. Verwiesen wird auf die zunehmende Bedeutung von Netzwerken und Verhandlungen. Koordination und Zusammenarbeit öffentlicher und gesellschaftlicher Akteure, die Kombination unterschiedlicher Steuerungsformen, eine neuartige Aufgabenteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Koproduktion kollektiver Güter und die Zunahme gesellschaftlicher und ökonomischer Selbstkoordination ohne direkte staatliche Intervention gewinnen an Bedeutung. Diese Entwicklungen sind keineswegs neu und wurden bereits seit den siebziger Jahren in der Verwaltungswissenschaft, in der Neokorporatismusforschung, in der Netzwerkanalyse und in der akteurtheoretischen Steuerungstheorie thematisiert und mit Konzepten wie kooperativer Staat und kooperative Verwaltung charakterisiert, aber dennoch setzt die Governance-Forschung neue Akzente. In der klassischen Steuerungstheorie, die seit den sechziger Jahren die deutsche Politik- und Verwaltungswissenschaft aber auch die Managementlehre dominiert hatte, steht das handelnde Steuerungssubjekt im Vordergrund, d. h. letztendlich die Regierung (zumindest in der klassischen top-down Perspektive). Die Governance-Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit auf die Regelungsstrukturen, also auf die institutionelle Einbettung sämtlicher Akteure, sie ist damit Teil der mehrfach erwähnten institutionellen Wende (March/Olsen 1993). Allerdings wird daher auch hier „der arbeitende Staat“ eher vernachlässigt (Wegrich 2017). Wegrich argumentiert, dass die sich seit den späten sechziger Jahren etablierende Verwaltungswissenschaft zwar eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Governance-Perspektive gespielt hat, vor allem durch das Entmystifizieren überkommener Vorstellungen hierarchischer Steuerung und in der Durchsetzung eines Verständnisses von politischer Steuerung als tendenziell horizontale Interaktion von institutionellen Akteuren („kooperativer Staat“, „kooperative Verwal423
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
tung“). Dabei hat die Rolle der Verwaltung in der Governance-Debatte allerdings an Bedeutung verloren, und damit auch die Verwaltungswissenschaft. Auch hier geht es aus unserer Sicht vor allem darum, die künstliche Trennung von Governance-Forschung und Verwaltungswissenschaft zu überwinden (viele Beiträge der Governance-Forschung stammen ohnehin von Verwaltungswissenschaftlern, vgl. Benz u. a. 2007). Moderne Governance-Arrangements sind wichtig, aber auch sie sind ohne staatliche Strukturen und vor allem einen leistungsfähigen staatlichen Apparat nicht handlungsfähig, das hat zuletzt eindrucksvoll die Corona-Krise gezeigt.
6.3 Praxisfelder 6.3 Praxisfelder
Aus unserer Sicht machen die immer wieder beschworenen Unterschiede und Abgrenzungen zwischen Verwaltungswissenschaft, Politikwissenschaft, Policy-Forschung, Managementlehre und Governance-Forschung keinen Sinn. Natürlich gibt es Spezialisierungen und Differenzierungen, aber nur die Synthese unterschiedlicher Zugänge wird die notwendigen Erkenntnisfortschritte und damit auch wissenschaftliche und praktische Relevanz ermöglichen. In diesem Zusammenhang gibt es zwei Praxisfelder, die dabei besonders relevant sind.
6.3.1 Verwaltungspolitik als Politikfeld Ein wichtiger Ansatz der Verwaltungsforschung besteht darin, Verwaltungsmodernisierung wie einen ganz gewöhnlichen Politikbereich zu betrachten und zu analysieren, eben als „Verwaltungspolitik“ (vgl. Jann 2001a). Eine klassische Definition der Verwaltungspolitik von Carl Böhret besagt, dass darunter die von der legitimierten politischen Führung mittels Entwicklung, Durchsetzung und Kontrolle von Prinzipien administrativen Handelns ausgeübte (oder zumindest versuchte) Steuerung der Inhalte, Verfahren und Stile sowie der Organisationsund Personalstrukturen der Verwaltung verstanden werden soll. Merkmal von Verwaltungspolitik ist damit die Veränderung von Entscheidungsprämissen, organisationsinternen Relevanzkriterien und des vorhandenen Verhaltens-Repertoires, kurz: die Veränderung (oder Bewahrung) institutioneller und organisatorischer Strukturen und Prozesse als Voraussetzung veränderten administrativen Handelns (Institutionen- und Organisationspolitik). Verwaltungspolitik ist Politik zur Steuerung der Verwaltung durch Veränderungen ihrer Strukturen und Prozesse und
6.3 Praxisfelder
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darf nicht mit dem politischen Handeln der Verwaltung (Politik der Verwaltung, „Vorbereitungsherrschaft“ der Verwaltung) verwechselt werden. Indem Verwaltungspolitik als (versuchte) Steuerung der Verwaltung betrachtet wird, kann sie im Prinzip wie jeder andere Politikbereich analysiert werden. Damit können die klassischen Elemente des politik- und verwaltungswissenschaftlichen Steuerungsbegriffs identifiziert werden, nämlich als Subjekt der Verwaltungspolitik die legitimierte politische Führung, als Objekt der gesamte Apparat der öffentlichen Verwaltung, als Intention oder Steuerungsziel z. B. Effizienz und Effektivität, aber auch Legitimität und politische Verantwortlichkeit bis hin zu Sekundärzielen wie Bürgerfreundlichkeit, Lern- und Innovationsfähigkeit etc., und schließlich als unerlässliche Voraussetzung der Maßnahmenwahl eine Vorstellung der Wirkungsbeziehungen zwischen Steuerungsaktivitäten und -ergebnissen, d. h. eine Vorstellung darüber, mit welchen Maßnahmen und Aktivitäten, also Instrumenten, die angestrebten Ziele erreicht werden sollen. Schon diese schematische Betrachtung verdeutlicht grundsätzliche Probleme jeglicher Verwaltungspolitik: Zum einen die weitgehende Identität von Subjekt und Objekt der Verwaltungspolitik, zum anderen die prekären Ziele und Handlungsmodelle bzw. die lose Kopplung zwischen veränderten Strukturen, Verhalten und Ergebnissen. Fortentwicklung der Verwaltung wird weitgehend von ihr selbst betrieben. Das verweist auf Grenzen der Verwaltungspolitik bezüglich ihrer Formulierung wie ihrer Umsetzung. Verwaltungspolitik ist eine Politik, welche die Verwaltung weitgehend selbst betreibt, weil sich zum einen die politische Führung diesem Thema ungern annimmt, weil aber zum anderen auch die Eigeninteressen der Verwaltung und ihrer Mitglieder unmittelbar berührt sind (Ellwein 1995). Die Gründe für diese Zurückhaltung der legitimierten politischen Führung sind vielschichtig. Sicherlich spielt eine Rolle, dass Belohnungen und Anreize politischer Karrieren eher auf kurzfristige denn auf langfristige und eher auf externe als auf interne Erfolge angelegt sind. Die negativen Auswirkungen verwaltungspolitischer Maßnahmen in einer Behörde sind i. d. R. kurzfristig und manifest (Widerstand etablierter Interessen und Strukturen, zumindest kurzfristige Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit), die – vermutlichen und erhofften – Erfolge demgegenüber längerfristig und unsicher. In diesem Sinne ist es sogar eher erklärungsbedürftig, dass sich Politiker überhaupt auf den unsicheren und konflikthaften Weg der Verwaltungsmodernisierung qua expliziter Verwaltungspolitik begeben, als dass dies zu wenig stattfindet. Dass sich die Verwaltung selbst grundlegend verändert und infrage stellt, ist bei Abwesenheit manifesten äußeren Drucks unwahrscheinlich. Es gibt in der Verwaltung keine entwickelte und fundierte Selbstkritik. Die Verwaltung stellt sich nicht selbst in Frage. Damit fehlt es an einer entscheidenden Voraussetzung für die Bildung und Durchsetzung eines Reformwillens (Böhret/Siedentopf 1983, vgl. Kap. 5.2.7). 425
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
Gerade die Ziele von Verwaltungspolitik bilden ein besonderes Problem. Hier kann nach den klassischen Kategorien der Policy-Forschung unterschieden werden zwischen den internen Veränderungszielen von verwaltungspolitischen Maßnahmen (Outputs im Jargon der Policy-Forschung, z. B. Organisationsänderungen, Auslagerungen, veränderte Entscheidungsprozesse und Prozessketten), ihren intendierten Ergebnissen und Wirkungen (Impacts, z. B. schnellere Entscheidungen, Kosteneinsparungen) und den damit schließlich in der Gesellschaft, außerhalb der Verwaltung erwünschten Auswirkungen (Outcomes, z. B. innovative Konfliktregelungen, Wirtschaftswachstum, zufriedenere Bürger). Verwaltungspolitik ist also der Versuch, durch intentionale Modifikationen der Strukturen des öffentlichen Sektors (z. B. Personal, Organisation und Verfahren), Verwaltungshandeln und damit im Endergebnis andere Politikinhalte und deren Wirkungen und Ergebnisse zu verändern. Verwaltungspolitik beschäftigt sich mit der Infrastruktur des öffentlichen Sektors, sie ist daher grundsätzlich eine sehr indirekte Form der politischen Steuerung, d. h. sie beruht auf einem Dreischritt, deren erster Schritt als Institutionenpolitik gekennzeichnet werden kann. Zunächst ist sie unmittelbar auf die Veränderung organisatorischer, personeller, instrumenteller und prozeduraler Strukturen gerichtet, oder m. a. W. auf das institutionelle Gehäuse, auf die Polity, in der und durch die „Politik gemacht“ wird. Erst im zweiten Schritt und mittelbar strebt sie an, vermittels dieser institutionellen Änderungen die Leistungsfähigkeit (Effektivität), Wirtschaftlichkeit (Effizienz) usw. des Verwaltungshandelns zu beeinflussen und zu steigern. Schließlich und letztlich sollen diese institutionellen und Performanz-Veränderungen weiterreichende (gesamtwirtschaftliche, sozialpolitische usw.) Effekte bewirken. Diese Unterscheidungen werden in aller Regel im Rahmen der Formulierung und Umsetzung verwaltungspolitischer Zielsetzungen und Intentionen nicht explizit getroffen, weil sie die Informationsverarbeitungs- und vor allem Konfliktregelungskapazität der verwaltungspolitischen Akteure i. d. R. überfordern. Ziele sind, wie fast immer in der Politik, vage, zumindest nicht operationalisiert: „a government that works better and costs less“, also Formulierungen, hinter denen sich ganz unterschiedliche Vorstellungen verstecken können. Hier zeigt sich das letzte Dilemma verwaltungspolitischer Steuerung: Es gibt keine eindeutigen, einfachen und robusten Erkenntnisse über Wirkungsbeziehungen zwischen Steuerungsaktivitäten (Instrumenten) und -ergebnissen. Stattdessen sind Strukturen, Verhalten und Ergebnisse allenfalls „lose gekoppelt“. Aktive Verwaltungspolitik beruht auf mehr oder weniger impliziten Annahmen, dass institutionelle Strukturen intentional gewählt und verändert werden können, dass es einigermaßen eindeutige Ziele und eine deutliche Verbindung zwischen strukturellen Veränderungen und inhaltlichen Zielen gibt, dass unterschiedliche Strukturmerkmale erkennbare Effekte haben und dass diese erwünschten Effekte zur Auswahl der jeweiligen Strukturmerkmale herangezogen
6.3 Praxisfelder
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werden können. Alles dies sind sehr anspruchsvolle Voraussetzungen. Tatsächlich zeichnet sich Verwaltungspolitik aber dadurch aus, dass zwar Einigkeit über generelle Ziele besteht (Effizienz, Effektivität, Legalität, Legitimität), die Instrumente zur Erreichung dieser Ziele aber überaus kontrovers diskutiert werden und diese Ziel-Mittel-Unsicherheiten auch kaum durch einschlägige empirische Studien entschärft werden. Verwaltungspolitik zeichnet sich daher durch die Kombination klarer Ziele/unsicherer Instrumente aus, was professionelle (durch akzeptierte Expertise dominierte) und kollegiale Problemlösungen nahe legt (siehe oben 4.3.1.3). Genau so wird sie in Deutschland in aller Regel beschrieben. Verwaltungspolitik ist im allgemeinen Verwaltungsreformpolitik. In der Bundesrepublik Deutschland – aber auch schon im Deutschen Reich und selbstverständlich auch in anderen Ländern – hat es unzählige Versuche einer solchen Verwaltungspolitik als Verwaltungsreform oder auch Verwaltungsmodernisierung gegeben. Allerdings ist intentionale Verwaltungspolitik nicht nur als Verwaltungsreform denkbar. Eine Veränderung und Kontrolle der Verwaltung kann z. B. auch durch Ämterpatronage oder finanzielle Steuerung versucht werden und Ziel der Politik muss durchaus auch nicht unbedingt eine Veränderung oder Reform sein. Gerade die deutsche Verwaltungspolitik zeichnet sich durch erhebliche Merkmale der Bewahrung und „Verwaltungspflege“ aus. Schließlich wird Verwaltungspolitik auch durch sog. non-decisions betrieben, in dem mehr oder weniger bewusst gerade nicht entschieden wird, wie die Geschichte der Dienstrechtsreform in Deutschland besonders deutlich erkennen lässt.
Veränderung
Bewahrung
intendierte Gestaltung Verwaltungsreform, Verwaltungsmodernisierung, z. B. • Reformkommissionen • Gesetze etc., • aber auch Ämterpatronage
eigendynamische Entwicklung umfassender Wandel, z. B. • Aufgaben • Umfang • Differenzierung • Professionalisierung • Qualifikation • Technik etc.
Verwaltungspflege, z. B. • hergebrachte Grundsätze • Einigungsvertrag • non-decisions
grundlegende Kontinuität und „Pfadabhängigkeit“), z. B. • Berufsbeamtentum • Dreistufigkeit • Rechtsförmigkeit • Kameralistik
Abb. 65 Dimensionen der Verwaltungspolitik als Politikbereich Quelle: Jann 2001a 427
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
Verwaltungspolitik ist also nicht nur intentionale Gestaltung, sondern kann auch als diffuser Politikbereich – oder umfassender als Politik„sektor“ – aufgefasst werden. Sie besteht, wie jeder Politikbereich, nicht nur aus politischen Intentionen, Aktivitäten und deren Resultaten, sondern weist auch erhebliche Eigendynamiken auf, denn jeder Versuch, Institutionen bewusst zu gestalten, wird von zeitgleichen Prozessen spontaner Ordnungsbildung überlagert. Ebenso wie Umweltpolitik oder Gesundheitspolitik nicht ohne Beachtung vielfältiger spontaner und nicht intendierter Entwicklungen verstanden und schon gar nicht erklärt werden können, gilt dies auch für Verwaltungspolitik. Veränderungsprozesse können nur als Zusammenspiel von mehr oder weniger strategischer Reformpolitik „von oben“ einerseits und individuellen Anpassungsprozessen sowie funktionalen oder dysfunktionalen Impulsen „von unten“, „von der Seite“ oder „von innen“ verstanden werden, also etwa durch die Einflüsse von Kunden, Klienten, Interessengruppen oder auch Mitarbeitern der Verwaltung. Genau diese Fragen der Voraussetzungen und Folgen einer möglichen (oder unmöglichen) intendierten Gestaltung der Strukturen, Funktionen und Ergebnisse der öffentlichen Verwaltung müssen als Kernbereich einer modernen Verwaltungswissenschaft erkannt werden. Es macht ja wenig Sinn, immer wieder neue Vorschläge für Verwaltungsreformen zu präsentieren und ggf. sogar zu implementieren, wenn über die Voraussetzungen erfolgreicher Strukturveränderungen, ihrer Formulierung und Implementierung und ihrer nicht intendierten Folgen wenig bekannt ist. Und genau hier ist wiederum die Verwaltungswissenschaft gefordert, denn mit genau diesen Problemen beschäftigt sie sich traditionell, sowohl in der Politikfeldforschung wie in der Organisations- und Institutionentheorie.
6.3.2 Verwaltungswissenschaft und Politikberatung Verwaltungswissenschaft in Deutschland steht in einem engen Bezug zur politischen und administrativen Praxis. Sie war und ist immer mit politischen Themenkonjunkturen verkoppelt (vgl. Kap. 2.3, Mayntz 1978, Ellwein 1982, Jann 2009). So können im historischen Rückblick Staatsidee, Verwaltungspraxis und Ausbildungsinteressen als maßgebliche Einflussgrößen betrachtet werden. Wurden zu Zeiten des Merkantilismus Lehrstühle für Kameralistik gebildet und war im 18. Jahrhundert eine kameralistische Ausbildung Voraussetzung für die Übernahme in höhere Verwaltungsämter, fiel die Verwaltungsausbildung ab Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Zeiten des Liberalismus und der Ordnungsverwaltung, den Juristen zu. Das Vordringen auch sozialwissenschaftlich ausgebildeter Personen ab Anfang der siebziger Jahre ging einher mit den praktischen Problemen politischer Planung und Steuerung des sich entwickelnden
6.3 Praxisfelder
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Wohlfahrtstaates. Später dann dominierten Skepsis und Desillusionierung, wurden Vollzug und Wirkung von Politik problematisiert und richtete sich das Interesse auf Fragen der Verwaltungsvereinfachung oder schließlich der Entstaatlichung und Privatisierung. Grob vereinfacht ging es zunächst um die Rolle der Verwaltung im keynesianischen Interventionsstaat, während später zunehmend ihre Rolle im vermeintlichen Staatsversagen problematisiert wurde. Hier wurde schließlich die privatwirtschaftlich inspirierte Managementlehre Hauptinspirator. Die wichtigsten Forschungsfragen ergaben sich also meist nicht aus einem theoretischen Forschungsprogramm, sondern kamen aus der politischen und administrativen Praxis. Nicht zuletzt angeregt (und oft finanziert) wurden sie durch wichtige Regierungskommissionen und -gutachten, wie z. B. die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform 1968, die Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts 1970, die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel 1970, der Sachverständigenrat für Umweltfragen 1974, die Entbürokratisierungskommissionen der Länder seit 1978 usw. Zu nennen sind darüber hinaus die Programme der Volkswagenstiftung (Schwerpunkt Verwaltungswissenschaft von 1969 bis 1976), des BMFT (z. B. der Bielefelder Forschungsverbund „Bürgernahe Gestaltung der Sozialen Umwelt“ in den siebziger Jahren) und die DFG-Schwerpunktprogramme (Implementationsforschung Ende der siebziger Jahre, Sonderforschungsbereich Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz in den achtziger Jahren). Verwaltungsforschung war und ist in erster Linie Verwaltungsreformforschung, und diese Funktion bestimmt daher auch in weiten Teilen die theoretischen Bemühungen. Zentrale Themen waren und sind die Anpassung der Organisation, Verfahren, Personen und Instrumente der Verwaltung an veränderte Anforderungen, oder – in kritischer Absicht – das Aufzeigen der Schwierigkeiten oder Vergeblichkeit dieser Bemühungen. Die Verwaltungswissenschaft hat auf diese Herausforderungen kontinuierlich mit „theoretischen Antworten auf praktische Fragen“ reagiert (Jann 2009). Aktuelle Tendenzen deuten darauf hin, dass diese sozial- und politikwissenschaftlich inspirierte Verwaltungsforschung nicht nur inhaltlich erforderlich ist, wie oben ausgeführt, sondern auch wieder stärker politisch nachgefragt werden könnte. So wird in der politischen Praxis nach dem Jahrzehnt des Managerialismus inzwischen offensichtlich erkannt, dass der ursprüngliche Fokus auf das Effizienzziel ergänzt werden muss um Fragen politischer Steuerung und demokratischer Legitimation. Z. B. unterscheidet sich die Diskussion um die Bürgerkommune unabhängig vom Stand der realen Umsetzung schon dadurch positiv vom Neuen Steuerungsmodell, dass in ihr der Bürger nicht mehr nur noch in der Kundenrolle, sondern auch als Mitgestalter und Auftraggeber des öffentlichen Gemeinwesens angesehen wird. Damit geraten zum Beispiel auch die kommunalpolitischen 429
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
Vertretungskörperschaften wieder stärker ins Blickfeld der Aufmerksamkeit. Parallel dazu haben sich auf Bundesebene die Diskussionen um Bürger- und Zivilgesellschaft verstärkt. So wurde wie oben erwähnt die Enquetekommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ eingerichtet, deren Zielvorgaben in der systematischen Bestandsaufnahme des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, der Rahmenbedingungen und Bedingungsfaktoren, der Einbeziehung internationaler Erfahrungen und daraus folgend der Entwicklung politischer Handlungsempfehlungen lag. In Auftrag gegeben wurden 41 wissenschaftliche Gutachten, von denen ein nicht geringer Anteil an sozialwissenschaftliche Verwaltungsforscher ging. Der Endbericht der Enquetekommission wurde im Sommer 2002 im Deutschen Bundestag diskutiert (vgl. Enquetekommission 2002). Auch in den Ländern gibt es ähnliche Enquetekommissionen und Modernisierungsausschüsse, die verstärkt sozialwissenschaftliche Beratung nachfragen (z. B. Enquetekommission „Zukunft der Städte“ in NRW). In dem Maße, in dem es nicht mehr nur um die managerialistische Eroberung oder Rekonstruktion des öffentlichen Sektors geht, sondern die Kombination von formellen und informellen Regelsystemen und Steuerungsmechanismen, d. h. von Institutionen wieder in den Blick kommt, wird der sozial- und politikwissenschaftliche Blick für die Praxis wichtiger. Ein Problem ist damit aber möglicherweise nicht gelöst. Um die Anerkennung und Relevanz zu verbessern, ist eine stärkere theoretische und übrigens auch empirische Fundierung der Ergebnisse notwendig (Bouckeart/Jann 2020). Dies darf aber nicht dazu führen, dass mehr oder weniger modische wissenschaftsinterne Diskurse und Relevanzkriterien Forschungsfragen und Schwerpunkte bestimmen, etwa die derzeit populären, praxisfernen Public-Choice-Diskurse. Genau dies würde die interdisziplinäre Kommunikation und damit die Anerkennung im Fächerspektrum der Verwaltungswissenschaft und vor allem die erworbene Anerkennung in der Praxis gefährden. Letzteres hat auch damit zu tun, dass die Praxis nachvollziehbare Analysen, Erklärungen und Handlungsempfehlungen erwartet und nicht theoretische Konstrukte mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Zudem sind die Maßstäbe, die den normativen Urteilen von Politikwissenschaftlern zu Grunde liegen, nicht so eindeutig wie die von Juristen und Ökonomen. Wenn Verwaltungsforschung vor allem auch Verwaltungsreformforschung ist, kann und sollte sie sich der Praxisnachfrage nicht entziehen. Allerdings sollte bewusster über die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Beratung nachgedacht werden, und dies auf beiden Seiten, um unnötige Frustrationen zu vermeiden. Gerade weil die Verwaltungsforschung in der Regel keine einfachen Antworten geben kann, sondern organisatorische, institutionelle, gesellschaftliche und ökonomische Restriktionen von Veränderungen zum Thema macht, die erfahrene Verwaltungs-
6.4 Wie weiter?
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praktiker natürlich kennen, aber nur schwer analytisch durchdringen können, ist sie problem- und praxisangemessen zugleich. Die Konsequenz aus dem Scheitern des naiven Managerialismus und der verbrannten Erde von Unternehmensberatungen besteht nicht darin, sich deren Niveau anzunähern, sondern zwar weniger grandiose, aber problemangemessenere Antworten zu geben bzw. Optionen für politische Entscheidungen zu erarbeiten, und zwar gemäß dem pragmatistischen Beratungsmodell (vgl. Kap. 4.4.), in einem kontinuierlichen Diskussionsprozess und Dialog mit der Praxis.
6.4
Wie weiter? Organisationen, Institutionen, Politikinhalte und Steuerung
6.4
Wie weiter?
Insgesamt ist die Bilanz der verwaltungswissenschaftlichen Forschung und Lehre in Deutschland, trotz aller institutionellen Probleme, aus unserer Sicht positiv. Wir wissen heute viel mehr über die Rolle von Politik und Verwaltung in den unterschiedlichsten Politikfeldern und in den verschiedenen Phasen des politischen Prozesses als vor 50 oder auch nur vor 20 Jahren. Verwaltungswissenschaft, Politikwissenschaft, Policy-Forschung und Managementlehre haben diese Fortschritte gemacht, weil sie sich immer wieder auf aktuelle und praktische Fragestellungen eingelassen haben. Offenkundig setzten die verschiedenen Ansätze dabei unterschiedliche Schwerpunkte, aber sie gehören zusammen (vgl. zum Folgenden Jann 2019). Wenn man Public Policies, Politikinhalte verstehen, erklären und verbessern will, braucht man ein realistisches Verständnis von Verwaltung, von den Organisationen und Institutionen, die Politikinhalte entscheidend formulieren, implementieren und evaluieren. Wirksame politische Steuerung setzt nicht nur adäquates Wissen über das Steuerungsobjekt, sondern auch über die Binnenstruktur des Steuerungssubjekts voraus. Und wenn man Verwaltungen verstehen will, genügt es nicht, sich auf die internen Strukturen und Prozesse zu konzentrieren, auf Effizienz und Management, denn dann bekommt man den zentralen Kontext der Verwaltung nicht in den Blick. Allerdings kann und sollte der Dialog und der Austausch zwischen unterschiedlichen Methoden, Theorien und Konzepten weiter verstärkt werden. Dafür, und auch für eine noch sichtbarere praktische Relevanz der Verwaltungswissenschaft und der Verwaltungswissenschaftler, bedarf es aber institutioneller Voraussetzungen, die in Deutschland zu wenig gegeben sind. Um das vorhandene Potential auszuschöpfen und insbesondere zu erweitern, braucht es sichtbare und leistungsfähige Zentren der verwaltungswissenschaftlichen Forschung und Lehre, in denen die 431
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6 Perspektiven von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsforschung
relevanten Ansätze und Disziplinen in einen kontinuierlichen Dialog gezwungen werden. Anders als bei unseren skandinavischen und niederländischen Nachbarn reichen die bisher in Deutschland vorhandenen Zentren, etwa in Speyer, Konstanz und Potsdam, dafür nicht aus. Wie geht es weiter? Dabei ist nicht gemeint, welche „neuen“ Konzepte die Diskussionen der nächsten Jahre bestimmen werden, also „open, digital, co-operative government or governance“, oder was auch immer derzeit von interessierter Seite oder auch im Gefolge der Corona-Krise propagiert werden wird, sondern ob und wie sich seriöse verwaltungswissenschaftliche Forschung und Lehre weiter profilieren und etablieren können. Offenkundig ist dies eine Frage, die aktuell sowohl in Deutschland, aber auch in Europa und darüber hinaus die Verwaltungswissenschaftler umtreibt (zusammenfassend Bauer/Grande 2018, Bouckaert und Jann 2020). Auch wenn ein umfassender Konsens nicht in Sicht ist, gibt es doch einige bemerkenswerte Erkenntnisse. Zum einen ist klar, dass Verwaltungswissenschaft nicht auf die etablierten Disziplinen, deren Theorien, Konzepte und Methoden verzichten kann, und dass auch gerade traditionelle Disziplinen wir Jura und Soziologie, aber etwa auch Psychologie und Anthropologie wieder stärker in den Dialog einbezogen werden sollten. Zum anderen sollte die ewige Suche nach einer einheitlichen, eigenständigen Disziplin ‚Verwaltungswissenschaft‘ aufgegeben werden. Die disziplinäre Vielfalt ist eine Stärke der Verwaltungswissenschaft, nicht ihre Schwäche. In Zukunft wird es darauf ankommen, die Perspektiven der internen und externen Steuerungsprobleme des öffentlichen Sektors, Public Management und Public Policies, und deren institutionelle und auch rechtliche Bedingungen wieder stärker zusammenzufügen. Der gemeinsame Bezug sind dabei Fragen der intra- und inter-organisatorischen Steuerung, deren Grenzen und Voraussetzungen. Organisations-, Management- und Politikwissenschaft, aber auch Jura und Soziologie haben weit größere Bereiche gemeinsamer Fragestellungen und Konzepte, als lange Zeit wahrgenommen und akzeptiert wurde. Insgesamt ist daher Eckhard Schröter zuzustimmen, wenn er schreibt „Verwaltungswissenschaft ist eine sozialwissenschaftliche Fachrichtung, die sich weniger durch den Bezug auf eine formale Institution, sondern auf die Funktion der Erfüllung öffentlicher Aufgaben sinnvoll profilieren lässt. Ihr Selbstverständnis changiert zwischen multi- und interdisziplinären Perspektiven, die sich jedoch idealtypisch auf einen Wesenskern einer politikwissenschaftlich inspirierten Organisationforschung fokussieren lassen“ (Schröter 2018, S. 153).
In diesem Sinne haben die alten disziplinären Fragen ihre Brisanz verloren: Öffentliche Verwaltung ist ein etablierter und wichtiger Gegenstand der sozial- und
6.4 Wie weiter?
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politikwissenschaftlichen Forschung. Auch wenn es unterschiedliche Auffassungen über Umfang, methodische und theoretische Zugänge gibt, besteht doch Einigkeit darüber, dass es keine spezifische, disziplinäre Verwaltungswissenschaft mit eigenen Methoden, Konzepten oder Theorien gibt und diese auch nicht anzustreben ist. Die Stärke der Verwaltungswissenschaft besteht im Gegenteil gerade darin, dass sie auf alle möglichen relevanten Methoden und Theorien der Sozialwissenschaften zurückgreift. Diese Normalisierung der Verwaltungswissenschaft ist sicherlich zu begrüßen. Sie kann hoffentlich auch dazu beitragen, öffentliche Verwaltung nicht weiter als einen gesonderten, eher nachrangigen Bereich zu betrachten, der am Rande der Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaften sein Dasein fristet, sondern als einen zentralen, wichtigen Gegenstand von Forschung und Lehre. Genau dies ist jedenfalls das Ziel der beiden Autoren dieses Bandes.
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Grundlegende Literatur Grundlegende Literatur Grundlegende Literatur
Grundlagen und Übersichten Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von grundlegenden verwaltungswissenschaftlichen Einführungen und Übersichten. Hier unsere Auswahl derjenigen, die wir immer wieder konsultieren und die einen guten Überblick bieten: Bauer, Michael/Grande, Edgar (Hrsg.) 2018: Perspektiven der Verwaltungswissenschaft. Baden-Baden: Nomos, 337 S. Aktuellste Übersicht über den Stand der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung, die aus einer Tagung in München hervorgegangen ist. Nach einer zusammenfassenden Darstellung der Herausgeber werden verschiedene derzeit diskutierte Themen vorgestellt, vom Selbstverständnis des Fachs über Legitimation, Politisierung, Verwaltungsreformen, verwaltungswissenschaftliche Politikberatung, Verhältnis zur Policy-Forschung, Implementationsforschung, Koordination, Theoriebildung und Verwaltung im globalen Wandel – was die Kollegen jeweils gerade besonders beschäftigt. Bogumil, Jörg/Jann, Werner/Nullmeier, Frank (Hrsg.) 2006: Politik und Verwaltung. PVS-Sonderheft 37. Wiesbaden: VS Verlag, 585 S. In dem inzwischen beinahe 15 Jahre alten PVS-Sonderband geht es um den Wandel von politischen Strukturen und Prozessen im Kernbereich des „Staatsapparats“. Nach dem Einleitungsbeitrag der Herausgeber werden im ersten Abschnitt theoretische Zugänge der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung skizziert. Zwei empirische Abschnitte, unterteilt in nationale Analysen und internationale Perspektiven, reflektieren aktuelle Veränderungstendenzen, bevor abschließend im vierten Abschnitt neue Ausbildungsvoraussetzungen und Studiengänge im Bereich Politik und Verwaltung thematisiert werden. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Bogumil und W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Grundwissen Politik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28408-4_7
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Grundlegende Literatur
Bouckaert, Geert/Jann, Werner (Hrsg.) 2020: European Perspectives for Public Administration. The Way Forward. Leuven: Leuven University Press, 465 S. Sammelband, der ein mehrjähriges Projekt zu den aktuellen Problemen, zukünftigen Anforderungen und notwendigen Veränderungen der Verwaltungswissenschaft in Europa dokumentiert, inspiriert durch die klassischen Minnowbrook-Konferenzen in den USA. Behandelt werden von über 30 Autoren aus allen europäischen Ländern die Herausforderungen in Bezug auf mögliche Zukünfte, relevante Disziplinen, kulturelle Diversität und die Praxisrelevanz der Verwaltungswissenschaft, sowohl in Forschung, Lehre und Beratung. Im zweiten Teil gibt es eine Übersicht über den Stand der Verwaltungswissenschaft in verschiedenen europäischen Ländern. Christensen, Tom/Lægreid, Per/Roevik, Kjell Arne 2020: Organization theory and the public sector: Instrument, culture and myth. London: Routledge, 220 S. Hervorragende, sehr gut lesbare Einführung in die moderne Organisations- und Institutionentheorie und deren Anwendung auf den öffentlichen Sektor aus der „skandinavischen Schule“ der Verwaltungwissenschaft. Vorgestellt werden instrumentelle, kulturelle und mythen-basierte Ansätze, und diskutiert wird dann, mit vielen Beispielen, deren Relevanz für u. a. Ziele, Werte, Führung, Reformen und Design öffentlicher Verwaltungen. Unverzichtbar für jeden, der sich für die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Organisationstheorie und Verwaltung und die theoretische Basis der modernen Verwaltungswissenschaft interessiert. Inwischen in der 2. Auflage. Ellwein, Thomas 1994: Das Dilemma der Verwaltung. Verwaltungsstruktur und Verwaltungsreform in Deutschland. Mannheim: Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus, 128 S. Dieses inzwischen klassische Büchlein behandelt die Probleme der politischen Administration in Deutschland ausgehend von dem Grunddilemma, dass die notwendigen Verwaltungsreformen nur mit und über die Verwaltung geschehen können, diese aber zugleich in ihren eigenen Traditionen und Wahrnehmungs- und Handlungsmustern zutiefst befangen ist. Die gut verständliche Darstellungsweise des Autors lässt die eigentlich recht trockene Materie schnell anschaulich und lebendig werden. Sowohl im Sinne einer Einführung in die Verwaltungswissenschaft als auch im Sinne eines fundierten, kurzweilig dargebotenen Problemaufrisses ist die Lektüre eigentlich in allen Studienphasen sehr empfehlenswert.
Grundlegende Literatur
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Ellwein, Thomas: Der Staat als Zufall und Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd. 1: Die öffentliche Verwaltung in der Monarchie 1815 bis 1918. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, 485 S.; Bd. 2: Die öffentliche Verwaltung im gesellschaftlichen und politischen Wandel 1919–1990. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, 598 S. 1993 erschien der erste Band der deutschen Verwaltungsgeschichte von Thomas Ellwein, 1997 der zweite und abschließende Teil. Beide Bände können auch separat gelesen werden. Am Beispiel von Ostwestfalen-Lippe wird der Wandel der öffentlichen Verwaltung im Zeitraum 1815–1990 nachvollzogen. Die historischen Erträge des Fallbeispiels werden mit Grundzügen einer allgemeinen deutschen Verwaltungsgeschichte verbunden und im Lichte der Verwaltungstheorie diskutiert. Band 1 behandelt den Zeitraum von 1815 bis 1918, Band 2 den Zeitraum 1919–1990. Wichtig für jeden, der sich für die historische Entwicklung der deutschen Verwaltung interessiert. König, Klaus 2002: Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos, 636 S. Der umfangreiche Sammelband versammelt die Erträge eines interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitskreises, der sich von 1999 bis 2001 regelmäßig getroffen hat, um in zwei Teilprojekten Entwicklungen der Verwaltung und Verwaltungswissenschaft zu Beginn des neuen Jahrtausends gemeinsam zu diskutieren und zu bilanzieren. Der erste Teil des Buches „Verwaltung im Wandel“ behandelt in 14 Beiträgen die wichtigsten aktuellen Veränderungen und Herausforderungen der öffentlichen Verwaltung, ausgehend vom Verwaltungsaufbau nach 1945 über die Verwaltung in der deutschen Vereinigung, im Rechtsstaat, in der Informationsgesellschaft, Marktwirtschaft, Dienstleistungsgesellschaft etc. bis hin zum europäischen Verwaltungsraum und der Verwaltung in globaler Sicht. Der zweite Teil „Stand der Verwaltungsforschung“ bilanziert in elf Beiträgen die Erträge und Lücken der aktuellen Forschung, und zwar aus der Sicht unterschiedlicher Ansätze und Disziplinen, etwa Verwaltungskultur, Wertwandel, Reformdiskurse, Sozialpsychologie, Institutionenökonomie und New Public Management. Der Band versammelt viele renommierte deutsche Verwaltungsforscher und liefert einen anspruchsvollen, aber anregenden Überblick über die grundlegenden Diskussionen des Fachs.
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Grundlegende Literatur
Kuhlmann, Sabine/Wollmann, Hellmut 2013: Verwaltung und Verwaltungsreformen in Europa: Einführung in die vergleichende Verwaltungswissenschaft. Wiesbaden: Springer, 323 S. Kuhlmann, Sabine/Wollmann, Hellmut 2019: Introduction to Comparative Public Administration. Administrative Systems and Reforms in Europe. Second Edition. Cheltenham, UK; Northampton, MA, USA: Edward Elgar Publishing. Paperback, 431 S. Umfassende Einführung in unterschiedliche Verwaltungssysteme und Verwaltungsreformen in Europa. Behandelt werden sowohl grundlegende Theorien und Ansätze, exemplarischeVerwaltungsprofile und -traditionen (kontinentaleuropäisch, skandinavisch, angelsächsisch, mittel-osteuropäisch) und die verschiedensten Verwaltungsreformen in vergleichender Perspektive (Dezentralisierung, Territorialreformen, Privatisierung und Re-Kommunalisierung, Binnenmodernisierung). Das Buch ist eine wichtige Ergänzung zum vorliegenden Lehrbuch Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland. Zu empfehlen ist die aktuellere englische Fassung aus dem Jahr 2019. Mayntz, Renate 1997: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 4., durchges. Aufl.; Heidelberg: UTB, 264 S. Seit der ersten Auflage 1978 das Standardwerk der deutschen Verwaltungssoziologie, das zuverlässig, systematisch und mit dem theoretischen Anspruch, die Fragestellungen der Verwaltungssoziologie systematisch zu entwickeln, über Entwicklung, Aufgaben, Organisation und Personal der öffentlichen Verwaltung sowie über Strukturen, Prozesse und Probleme der Ministerialverwaltung und der Vollzugsverwaltung informiert. Trotz des Titels weist das Buch erhebliche interdisziplinäre Bezüge vor allem aus dem Bereich der Politikwissenschaft auf, z. B. auch durch ein eigenes Kapitel zum Thema Politik und Verwaltung. Obwohl das Buch inzwischen nicht immer ganz auf dem neuesten Stand ist, immer noch ein Standardwerk. Leider gibt es kein neueres deutsches Lehrbuch der Verwaltungssoziologie. Pollitt, Christopher/Bouckaert, Geert 2017: Public management reform: A comparative analysis – into the age of austerity. Oxford: University Press, 408 S. Standardwerk zu den Verwaltungsreformen der letzten Jahrzehnte, inzwischen in der vierten Auflage, von den wohl bekanntesten europäischen Verwaltungswissenschaftlern. Ausgehend von den aktuellen Debatten und einem Prozessmodell der Reform der öffentlichen Verwaltung informiert das Buch zuverlässig und in einer sehr klaren Systematik und Sprache über unterschiedliche politisch-administrative Regime, unterschiedliche Reformpfade und diskutiert vor allem auch den schwierigen Nachweis von Erfolgen und die Zielkonflikte, Grenzen, Dilemmata,
Grundlegende Literatur
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Widersprüche und Paradoxien von Verwaltungsreformen. Wenn man sich über den Stand der internationalen Diskussion informieren will, gibt es kein besseres Buch. Schneider, Volker/ Janning, Frank 2006: Politikfeldanalyse. Akteure, Diskurse und Netzwerke in der Politik. Wiesbaden: VS Verlag, 242 S. Die Politikfeldanalyse als deutsche Version der Policy-Forschung und theoriegeleitete und anwendungsorientierte Teildisziplin der Politikwissenschaften bietet einen wichtigen Zugang zum empirischen Verständnis verwaltungspolitischer Prozesse und Akteure. Nach einer grundlegenden Einführung in Geschichte und analytische Perspektiven der Politikfeldanalyse werden ausführlich neuere theoretische Ansätze behandelt und anhand von Beispielstudien illustriert. Hervorzuheben ist das breite Spektrum an behandelten Ansätzen, das von der Staatstätigkeitsforschung über den akteurzentrierten Institutionalismus hin zu neueren diskurstheoretischen, partizipativen und kognitionstheoretischen Zugängen reicht. Ein guter Einstieg in eine theoriegeleitete Betrachtungsweise politischer und administrativer Prozesse. Schubert, Klaus/ Bandelow, Nils C. (Hrsg.) 2014: Lehrbuch der Politikfeldanalyse. München: Oldenbourg, 536 S. Eine weitere Einführung in die Politikfeldforschung/Policy-Forschung, diesmal als Sammelband mit 20 Beiträgen von Experten der jeweiligen Konzepte. Behandelt werden die Entstehung und Positionierung des Feldes, Basiskategorien (Policy Cycle, Politikfelder, Entscheidungsfindung, Instrumente), Methoden und Akteure, aktuelle Theorien sowie Anwendungen. Eine gute Einführung in die jeweiligen Aspekte, inzwischen in der 3. Auflage.
Nachschlagewerke und Handbücher Für einen ersten vertieften Einstieg in Teilbereiche der Verwaltungswissenschaft bietet es sich an, die inzwischen für die verschiedensten Bereiche vorhandenen Handbücher und Nachschlagewerke zu konsultieren. Hier die aus unserer Sicht wichtigsten: Balla, Steven J./Lodge, Martin/Page, Edward C. (Hrsg.) 2015: The Oxford Handbook of Classics in Public Policy and Administration. Oxford: Oxford University Press, 645 S. Dieses außergewöhnliche Handbuch liefert in insgesamt 40 Beiträgen einen Überblick über die wichtigsten Konzepte und Autoren, die die Verwaltungswissenschaft 439
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Grundlegende Literatur
und Policy-Forschung in den letzten 100 Jahren entscheidend geprägt haben, von Herbert Simon über Charles Lindblom, Aaron Wildavsky, Fritz W. Scharpf bis zu Christopher Hood und Frank R. Baumgartner und Bryan D. Jones. Ein guter Einstieg, wenn man sich über die Grundlagen des Fachs informieren will. Benz, Arthur/Lütz, Susanne/Schimank, Uwe/Simonis, Georg (Hrsg.) 2007: Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden: VS Verlag, 490 S. Das Handbuch vermittelt theoretische und analytische Grundlagen des Governance-Konzepts und gibt einen Überblick über wichtige Anwendungsbereiche. Dargestellt werden Formen und Mechanismen sowie Varianten der Dynamik von Governance. Darüber hinaus werden verschiedene disziplinäre und theoretische Perspektiven behandelt. Eine dritte Gruppe von Beiträgen befasst sich mit Governance auf lokaler, regionaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene und in wichtigen Funktionsbereichen von Politik und Gesellschaft sowie mit Fragen der Demokratie und Mehrebenenkoordination. Bevir, Mark (Hrsg.) 2010: The SAGE Handbook of Governance. London: Sage. Ferlie, Ewan/Lynn Jr, Laurence E./ Pollitt, Christopher (Hrsg.) 2007: The Oxford Handbook of Public Management. Oxford: Oxford University Press. Fischer, Frank/Miller, Gerald J./Sidney, Mara S. (Hrsg.) 2007: Handbook of Public Policy Analysis. Theory, Politics, and Methods. New York: Routledge. Moran, Michael/Rein, Martin/Goodin, Robert E. (Hrsg.) 2008: The Oxford Handbook of Public Policy. Oxford: Oxford University Press. Peters, B. Guy/Pierre, Jon (Hrsg.) 2003: Handbook of Public Administration. Sage. Peters, B. Guy/Pierre, Jon (Hrsg.) 2006: Handbook of Public Policy. London: Sage. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe angesehener internationaler Handbücher zu Public Administration, Public Policy, Public Management und Governance, wobei die Grenzen zwischen diesen Bereichen sehr unklar sind, falls es überhaupt eindeutige Grenzen geben sollte. Dies sind die aus unserer Sicht besten, die jeweils einen guten Überblick über den Stand der internationalen Forschung in den einzelnen Teilbereichen geben. Eichhorn, Peter u. a. (Hrsg.) 2003: Verwaltungslexikon, 3., neu bearb. Aufl.; Baden-Baden: Nomos, 1293 S. Umfassendes, inzwischen nicht mehr ganz aktuelles aber immer noch hilfreiches Lexikon mit über 6400 Stichworten zu allen Aspekten der bundesdeutschen Verwaltung. Hier kann man alles nachschlagen, was man nicht zu fragen wagt, z. B.
Grundlegende Literatur
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verwaltungsinterne Begriffe (etwa Behörde, Amt, Deckungsfähigkeit bis hin zu Realkonzession und Frischwassermaßstab), allgemeinere Fachausdrücke (etwa Indexierung, Kreditermächtigung, Transfer) und neuere Konzepte (etwa Neue Institutionenökonomie, kooperative Verwaltung, Non-Governmental Organisations, Electronic Government etc). Wichtigere Konzepte und Stichworte sind in längeren, namentlich gezeichneten Beiträgen erläutert, die auch weiterführende Literatur enthalten. Die Autoren kommen aus den Bereichen Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungswissenschaft, Betriebswirtschaftslehre, Verwaltungssoziologie, Verwaltungsinformatik und Politikwissenschaft, der gesamte Bereich der modernen Verwaltung und Verwaltungswissenschaft wird daher abgedeckt. Hilfreiches Nachschlagewerk für die schnelle Information. Klenk, Tanja/Nullmeier, Frank/Wewer, Göttrik (Hrsg.) 2020: Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, Wiesbaden: Springer VS. Das Handbuch liefert einen Überblick zum Stand der Digitalisierung in Staat und Verwaltung. Die über 50 Beiträge erläutern Leitprinzipien einer digitalen Staatsentwicklung, Instrumente einer digitalisierten Verwaltung und Anwendungen digitaler Steuerung in einzelnen Politikfeldern. Das Handbuch liefert zudem den aktuellen Diskussionsstand zu Grundfragen der Sicherung von Freiheit und Privatheit, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie unter Bedingungen der Digitalisierung. Schuppert, Gunnar Folke 2000: Verwaltungswissenschaft: Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre. Baden-Baden: Nomos Verlag, 1023 S. Eine auf rechtswissenschaftlicher Sicht basierende Darstellung der öffentlichen Verwaltung, die für eine interdisziplinäre Sicht sehr hilfreich ist. Das Buch behandelt Aufgaben, Funktionen und Handlungsformen der Verwaltung, ihre staatstheoretische Begründung und ihren Wandel. Zudem widmet sich der Autor, für einen Juristen nicht selbstverständlich, Fragen der politischen Steuerung und der Kooperation in der Verwaltung. Veit, Sylvia/Reichard, Christoph/Wewer, Göttrik (Hrsg.) 2019: Handbuch zur Verwaltungsreform 5., vollständig überarbeitete Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, 747 S. Unverzichtbares Handbuch für jeden, der sich über den aktuellen Stand der Verwaltungsreform- und -modernisierungsdiskussion der letzten Jahrzehnte in Deutschland informieren will, inzwischen in der 5. Auflage. In beinahe 50 jeweils etwa acht bis zehn Seiten langen Artikeln wird man zuverlässig und praxisnah über Hintergrund, Entstehungszusammenhang, Anwendungsfelder und Umsetzung der wichtigsten Reformkonzepte informiert. Jeder Beitrag enthält Hinweise auf 441
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Grundlegende Literatur
weiterführende Literatur. Obwohl dies ein Handbuch ist, eignet es sich aufgrund seines systematischen Aufbaus durchaus auch als Lehrbuch. Voigt, Rüdiger (Hrsg.) 2018: Handbuch Staat, 2 Bände. Wiesbaden: VS Verlag, 1988 S. Ein neues Handbuch über das besondere deutsche Konzept des „Staates“. Es informiert in fast 180 Kapiteln von jeweils etwa elf Seiten Länge über die grundlegenden Disziplinen, Theorien, Strukturen, Konzepte, Institutionen, Instrumente, Politiken und internationalen Dimensionen des modernen Staates. Fast alle Autoren sind Deutsche, und die verschiedenen Beiträge sind in der Regel aus einem spezifisch deutschen Blickwinkel geschrieben, auch wenn sie sich mit internationalen Bezügen befassen. Das Handbuch zielt explizit darauf ab, mögliche Reformen und die Zukunft des modernen Staates zu behandeln und eine sozialwissenschaftliche Perspektive hervorzuheben, aber in Übereinstimmung mit der deutschen Tradition spielen rechtswissenschaftliche Beiträge eine wichtige Rolle. Es werden zwar nicht alle aktuellen Debatten und Konzepte explizit behandelt (z. B. fehlen Kapitel über Regulierung, Governance, Rechenschaftspflicht oder Legitimität), aber insgesamt gibt das Handbuch einen informativen und verlässlichen Überblick über aktuelle deutsche Interpretationen des modernen Staates.
Verwaltungswissenschaftliche Zeitschriften Wer sich über neuere Entwicklungen und Diskussionen in der Verwaltungswissenschaft informieren will, sollte diese Zeitschriften konsultieren: • • • • • • • • • • • •
Der moderne Staat (dms) – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management Die innovative Verwaltung Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) Die Verwaltung Governance International Review of Administrative Sciences (IRAS) Journal of Public Administration Research and Theory (J-PART) Public Administration Review (PAR) Public Administration Verwaltungsarchiv Verwaltung & Management (VM) Verwaltungsrundschau (VR)
Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis
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