Vertriebene Eliten: Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1999 [Reprint 2014 ed.] 9783486832709, 9783486565775

Vertreibung und Verfolgung haben das 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt. Die Forschung hat sie meist als räumlich und ge

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German Pages 292 Year 2001

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Table of contents :
Zur Einführung
Vertreibung und Verfolgung in der jüngeren deutschen Geschichte
Elitenwechsel. Die Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien 1920-1922 und die regionalen Führungsschichten
Vertriebene intellektuelle Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland
Die Konkurrenz um „die wahre deutsche Kultur“. Vertriebene kulturelle Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland
Die Rückkehr einer vertriebenen Elite. Remigranten in Deutschland nach 1945
Vertreibung als Exklusion gesellschaftlicher Führungsgruppen. Die Verdrängung der „Großbauern“ in der SBZ/DDR und die Vernichtung der „Kulaken“ in der UdSSR im Vergleich
„Verantwortliche Arbeit beim Wiederaufbau“. Die Vertriebenen und die Formation neuer administrativer Eliten in der SBZ/DDR
Die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa und die politisch- administrative Elite der Bundesrepublik. Ein Problemaufriss
Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ/DDR am Beispiel der wissenschaftlichen Intelligenz
Die Vertreibung aus dem deutschen Osten und die kulturelle Elite
Die Autorinnen und Autoren des Bandes
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Vertriebene Eliten: Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1999 [Reprint 2014 ed.]
 9783486832709, 9783486565775

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Vertriebene Eliten

DEUTSCHE FÜHRUNGSSCHICHTEN IN DER NEUZEIT

Band 24

Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben Herausgegeben von Günther Schulz

Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag

Vertriebene Eliten Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert

Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1999

Herausgegeben von Günther Schulz

Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag München 2001

Gedruckt mit Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich

© 2001 R. Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D - 81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Gesamtherstellung: WB-Druck, 87669 Rieden am Forggensee ISBN 3-486-56577-X

Vorwort des Herausgebers

Die Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte umfassen Vorträge und Gespräche, die seit 1963 alljährlich unter der Schirmherrschaft der RankeGesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V., und des Instituts für personengeschichtliche Forschung (Bensheim) im Schloß zu Büdingen (Oberhessen) stattfinden. Der Ertrag wird in der Reihe Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit publiziert. Die Beiträge des vorliegenden Bandes 24 sind aus der 37. Tagung 1999 hervorgegangen. Diese brachte Interessierte aus der Geschichtswissenschaft, der Germanistik, der Slawistik, der Politikwissenschaft sowie weiteren Gebieten zusammen und führte zu angeregten Diskussionen über die Grenzen der Wissenschaftsdisziplinen hinweg. Daß die Tagung erfolgreich verlief, ist vor allem den Referent(inn)en und den Diskutanten zu danken. Der Ranke-Gesellschaft, namentlich Herrn Professor Dr. Michael Salewski und Herrn Professor Dr. Jürgen Elvert, sowie Herrn Lupoid von Lehsten vom Institut für personengeschichtliche Forschung bin ich für organisatorische und finanzielle Unterstützung verbunden, ferner Herrn Dr. Klaus-Peter Decker und Frau Bettina Hinterthür für ihre Hilfe bei der Organisation der Tagung. Mein besonderer Dank gilt S.D. Fürst Wolfgang-Ernst zu Ysenburg und Büdingen für seine Gastfreundschaft im Büdinger Schloß, dessen Bibliothek den sehr angenehmen Rahmen für die Gespräche bot. Der Beauftragte der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien hat die Drucklegung des Bandes durch einen Zuschuß ermöglicht. Dafür bin ich ihm sehr zu Dank verpflichtet. Für Unterstützung bei der redaktionellen Betreuung der Beiträge und bei der Herstellung der Druckvorlage danke ich schließlich, doch nicht zum wenigsten, Frau Bettina Hinterthür und Herrn Thilo Nowack.

Bonn, im Dezember 2000

Günther Schulz

Inhalt

GÜNTHER SCHULZ

Zur Einführung

9

HANS HECKER

Vertreibung und Verfolgung in der jüngeren deutschen Geschichte

17

WOLFGANG KESSLER

Elitenwechsel. Die Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien 1920-1922 und die regionalen Führungsschichten

41

CLAUS-DIETER KROHN

Vertriebene intellektuelle Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland

61

HILTRUD HÄNTZSCHEL

Die Konkurrenz um „die wahre deutsche Kultur". Vertriebene kulturelle Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland

83

MARITA KRAUSS

Die Rückkehr einer vertriebenen Elite. Remigranten in Deutschland nach 1945

103

ARND BAUERKÄMPER

Vertreibung als Exklusion gesellschaftlicher Führungsgruppen. Die Verdrängung der „Großbauern" in der SBZ/DDR und die Vernichtung der „Kulaken" in der UdSSR im Vergleich

125

MICHAEL SCHWARTZ

„Verantwortliche Arbeit beim Wiederaufbau". Die Vertriebenen und die Formation neuer administrativer Eliten in der SBZ/DDR

165

MATHIAS BEER

Die Vertreibimg der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa und die politischadministrative Elite der Bundesrepublik. Ein Problemaufriss

199

8

Inhalt

REINHARD BUTHMANN

Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ/DDR am Beispiel der wissenschaftlichen Intelligenz

229

HANS-WERNER RAUTENBERG

Die Vertreibung aus dem deutschen Osten und die kulturelle Elite

267

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

289

Zur Einführung VON GÜNTHER SCHULZ

An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert leben mehr Deutsche als je zuvor im Wohlstand, besser als je sozial gesichert, unter stabilen politischgesellschaftlichen Verhältnissen und auf hohem zivilisatorisch-technischem Niveau. Ähnlich ist es in den meisten hoch- und postindustriellen Ländern. Doch ist das 20. Jahrhundert auch durch Krieg und Verfolgung, Unterdrückung, Flucht und Vertreibung geprägt. Verfolgung aus politischen, rassistischen, religiösen und anderen Gründen, ethnische „Säuberungen", Zwangsumsiedlungen - „Bevölkerungsverschiebungen" - brachten zahllosen Menschen Leid und Elend, existentielle Gefahren und Tod, und sie tun es noch, wie die jüngsten Vorgänge im Kosovo zeigen. Beim Rückblick darf nicht vergessen werden, dass das 20. Jahrhundert auch ein Jahrhundert der Vertreibungen war.1 „Die Lösung der Nationalitäten- und Grenzfragen durch zwangsweise vollzogene Umsiedlungen und Vertreibungen" gehört zu den Hauptkennzeichen der europäischen Geschichte im vergangenen Jahrhundert.2 Wohl niemals zuvor haben in Europa so viele Menschen darunter gelitten. Die 37. Büdinger Gespräche 1999 sollten - auch - dazu beitragen, dies in Erinnerung zu halten. Die Beiträge der Tagung behandeln freilich nicht die Vertreibungen im 20. Jahrhundert im allgemeinen, sondern unter der spezifischen Themenstellung der Büdinger Vorträge: der Frage nach Herkunft, Kennzeichen und Wandel „deutscher Führungsschichten", wie der Titel der Reihe seit den sechziger Jahren lautet. Die Aufsätze behandeln also eine „Schnittmenge" von Elitenund Vertriebenenforschung. Der Zusammenhang von Vertreibimg und Führungsschichten liegt auf den ersten Blick nicht auf der Hand. Die Vertreibungen waren meist raumgreifend Siehe dazu die Literatur bei Gertrud Krallert-Sattler: Kommentierte Bibliographie zum Flüchtlings- und Vertriebenenproblem in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz (Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen 20). Wien 1989. Gotthold Rhode: Die Staaten Südosteuropas vom Berliner Kongress bis zum Ausgang des Ersten Weltkrieges (1878-1918), in: Theodor Schieder (Hg.): Handbuch der Europäischen Geschichte, Band 6: Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und Europäischen Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1968, S. 547-609, hier 549.

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Günther Schulz

und betrafen in der Regel nicht allein bzw. nicht speziell gesellschaftliche Eliten, sondern mehr oder weniger vollständig die Bevölkerung ganzer Gebiete oder die Anhänger einer Weltanschauung. Deshalb hat die Forschung Vertriebene und Flüchtlinge meist in ihrer Gesamtheit betrachtet und die Ursachen, Formen und Folgen von Vertreibung und Flucht sowie - mehr noch - der Integration in die aufnehmende Gesellschaft thematisiert. Bei den Büdinger Gesprächen hingegen wurden Eliten als Teil der Vertriebenen und Flüchtlinge untersucht, und es wurde nach der Umstrukturierung von Eliten durch Vertreibung und Flucht gefragt, nach den Folgen der Umbrüche für Führungsgruppen. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat die Erforschung von Vertreibimg und Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg lange vernachlässigt. Dies gilt für die Vertreibung von Deutschen ebenso wie für die anderer Völker und Gruppen. So widmet der einschlägige, 1968 erschienene Band des fuhrenden „Handbuchs der Europäischen Geschichte" der Vertreibung und dem Tod von mehr als einer Million Armenier seit April 1915 lediglich einen einzigen Satz, und dieser ist in seiner Unangemessenheit skandalös.3 Die Vernachlässigung des Themas mag mit der besonderen historisch-politischen Situation in Deutschland zusammenhängen: Man befürchtete offenbar, bei der Beschäftigung mit diesem Thema in den Verdacht zu geraten, die Vertreibimg der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die NS-Verbrechen aufrechnen zu wollen. Dass die Geschichtswissenschaft die Vertreibung von Eliten bislang kaum thematisiert hat, mag schließlich auch damit zusammenhängen, dass mit Flucht und Vertreibung im allgemeinen Not und sozialer Abstieg assoziiert werden, nicht aber Fragen gesellschaftlicher Führungsgruppen. Überblickt man die Forschungen in der Bundesrepublik zur Geschichte von Vertreibung und Vertriebenen, so kristallisieren sich folgende Phasen heraus: (1) Die ersten großen, wichtigen Impulse zur Erforschung von Vertreibung und Flucht gab es in den fünfziger Jahren. Dabei handelte es sich nur zum Teil um geschichtswissenschaftliche Untersuchungen. Meist waren es Bestandsaufnahmen der Vertreibungen mit Hilfe von statistischem Material im Kontext von politischen und verbandlichen Interessen. Das bedeutendste Forschungsprojekt war die mehrbändige „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa".4 Das Werk wurde von Theodor Schieder 3

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„Ein trübes Kapitel bildet die Behandlung der Armenier (1915-16), die aber von diesen nicht unverschuldet war"; Gotthard Jäschke: Das Osmanische Reich vom Berliner Kongress bis zu seinem Ende (1878-1920/22), in: Schieder (Hg.): Handbuch, Band 6 (wie Anm. 2), S. 539-546, hier 543. - Siehe hingegen Gérard Chaliand/Yves Ternon: Le génocide des Arméniens (La mémoire du siècle 1, 84). Brüssel 1984. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bearb. von Theodor Schieder u.a. Hrsg. vom Bundesministerium fur Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 5 Bände, 3 Beihefte. Bonn 1953-1962. - Auch in der DDR gab es

Zur Einführung

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und anderen bearbeitet und vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte herausgegeben. Die Dokumentation war „den Grundsätzen der Wissenschaft verpflichtet" (Mathias Beer). Sie war innovativ, auch methodisch, indem die Bearbeiter sich unter anderem - um den Mangel an zugänglicher Aktenüberlieferung zu überwinden - in großem Umfang auf Überlieferung durch Zeitzeugen stützten und ein Instrumentarium zur quellenkritischen Prüfung der Zeitzeugenberichte entwickelten und indem sie typologisierend arbeiteten. Das Projekt stand freilich von Beginn an im Kreuzfeuer der politisch-publizistischen Kritik: Von der Bundesregierung war es offenbar als Instrument gedacht, um die deutsche Position bei künftigen Friedensverhandlungen zu stärken. Kritiker, vor allem im Ausland, qualifizierten es als „Propagandaunternehmen" zugunsten der deutschen Interessen ab. Bei den Vertriebenenverbänden hingegen stieß es auf Widerspruch, weil diese die eigene Sicht nicht hinreichend berücksichtigt fanden. Doch zweifellos hat die Dokumentation als Quellenedition und als erste wissenschaftliche Bilanz der Vertreibungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg bleibenden Wert.5 Einen guten Überblick über die Fragestellung, Methoden und Erträge der Arbeiten in dieser ersten Phase der Vertriebenenforschung gibt ein dreibändiges, von Eugen Lemberg und Friedrich Edding herausgegebenes Werk über die Eingliederung der Vertriebenen. Arbeiten über vertriebene Eliten enthält es nicht.6 Während der sechziger und siebziger Jahre ging das Interesse an der Vertriebenenforschung stark zurück; es erschienen nur noch wenige Veröffentlichungen. Dazu trugen offenbar die Erfolge der gesellschaftlichen Integration und die wirtschaftliche Prosperität dieser Jahre bei, in denen sich auch die Lebenssituation der Vertriebenen und Flüchtlinge erheblich besserte. Man sprach in Deutschland - ähnlich wie vom „Wirtschaftswunder" - vom „Eingliederungswunder". Insgesamt widmete sich die Geschichtswissenschaft stets stärker Fragen der Integration als der Vertreibimg. Allerdings ebbte das Interesse

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Bestrebungen, eine amtliche Dokumentation der Vertriebenen-(„Umsiedler"-)Politik zu erarbeiten, doch die SED-Führung unterband dies; Dierk Hoffinann/Michael Schwartz: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR. München 1999, S. 7-20, hier 9; siehe dazu auch ebd. die Beiträge von Manfred Wille, Michael Schwartz und anderen. Siehe dazu Mathias Beer: Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa. Hintergründe - Entstehung - Ergebnis - Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 99-117, insbes. 112, 115 (Zitat), 116; ders.: Im Spannimgsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 345-389, insbes. 385 f. Eugen Lemberg/Friedrich Edding (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben. 3 Bände. Kiel 1959.

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Günther Schulz

der Forschung in dem Maße ab, in dem die Integration zu einer „Erfolgsgeschichte" wurde.7 (2) Von einer zweiten Welle von Forschungen kann man erst während der 80er Jahre sprechen. In diesem Jahrzehnt ging es meist nicht mehr vornehmlich - wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg - um die Dokumentation der Vertreibung8 und um die Erfolgsgeschichte der Integration, sondern nun setzten breitgefacherte Untersuchungen mit neuen Fragestellungen und weiter ausdifferenzierten thematischen Ansätzen ein. Zudem öffnete sich die Vertriebenenforschung nun zur Kulturgeschichte. Das Hauptinteresse galt den Bedingungen und Formen, dem Ausmaß und den Ergebnissen der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge nach 1945 in die westliche Gesellschaft. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Helga Grebing zu nennen, die erheblich dazu beitrugen, das „Integrationswunder" zu entmystifizieren.9 Auch zahlreiche andere Forscherinnen) untersuchten in diesem Jahrzehnt die Integration der Vertriebenen, zumeist in regionalen Fallstudien. Beispiele sind die Arbeiten von Siegfried Bethlehem, Marion Frantzioch und Uwe Kleinert.10 Bei diesen Forschungen wurde der Integrationserfolg unverändert deutlich.11 Zugleich aber zeigte sich, dass eine Anzahl von Vertriebenen im Schatten der Integration geblieben war. Zu den Verlierern gehörten vornehmlich viele Ältere, ferner nichterwerbstätige Frauen sowie Angehörige von früher besitzenden Schichten.12 (3) Mit der deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1990 wurden zum einen viele Quellen in den neuen Bundesländern zugänglich und konnten nun erst7 8

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Hoffinann/Schwartz: Einleitung (wie Anm. 4), S. 8. Ausnahmen sind die nützlichen quantitativen Übersichten von Gerhard Reichling: Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Teil I: Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940-1985; Teil II: 40 Jahre Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1986 und 1989. Rainer Schulze/Doris von der Brelie-Lewien/Helga Grebing (Hg.): Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die zukünftige Forschungsarbeit (Veröffentlichung der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 38; 4). Hildesheim 1987. Siegfried Bethlehem: Heimatvertreibung, DDR-Flucht, Gastarbeiteizuwanderung. Wanderungsströme und Wanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland (Geschichte und Gesellschaft 26). Stuttgart 1982; Marion Frantzioch: Die Vertriebenen. Hemmnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland (Schriften zur Kultursoziologie 9). Berlin 1987; Uwe Kleinert: Flüchtlinge und Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen 1945-1961. Arbeitsmarkt - Gewerbe Staat (Flüchtlinge und Vertriebene in Nordrhein-Westfalen. Forschungen und Quellen 2). Düsseldorf 1988. Siehe zuletzt Rudolf Endres (Hg.): Bayerns vierter Stamm. Die Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945 (Bayreuther Historische Kolloquien 12). Köln/Weimar 1998. Dies betonen insbesondere Hoffinann/Schwartz: Einleitung (wie Anm. 4), S. 9. Siehe auch Krallert-Sattler: Bibliographie (wie Anm. 1).

Zur Einführung

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mals ausgewertet werden, so dass es zu einer wahren Flut von Veröffentlichungen kam und man von einer regelrecht nachholenden Forschung sprechen kann. Zum andern fielen in den alten Bundesländern mit wachsendem zeitlichem Abstand von der Vertreibung Barrieren gegenüber dem Quellenzugang, die der personenbezogene Datenschutz lange aufrecht erhalten hatte. Beide Faktoren ermöglichten es, die Auswirkungen der Vertreibung auf mehr und mehr Regionen und Lebensbereiche zu erhellen.13 Die Forschungen in der jüngsten Zeit sind durch drei Hauptentwicklungen gekennzeichnet: Zum einen tritt nun, die Chancen der deutschen Einigung nutzend, die Erforschung der „Beziehungsgeschichte" der beiden deutschen Staaten in den Vordergrund: Historiker versuchen die beiden getrennten deutschen „Zeitgeschichten" zu vergleichen und zueinander in Beziehung zu setzen, auch hinsichtlich der Frage, wie die Folgen von Flucht und Vertreibimg bewältigt wurden.14 Zum zweiten wird die Thematik zunehmend von der Vertreibung zur Migrations- und zur Schichtungsforschung ausgeweitet. Hier sind etwa die Arbeiten von Emilia Hrabovec über die Massenaussiedlung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei von Frühjahr 1945 bis 1947 und von Philipp Ther über deutsche und polnische Vertriebene zu nennen.15 Drittens differenziert sich die individual- und kollektiv-biographische Einzelforschung gegenwärtig stark aus. Beispiele sind Arbeiten über vertriebene

Als Beispiel siehe Mathias Beer (Hg.): Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945. Ergebnisse der Tagung vom 11. und 12.11.1993 in Tübingen (Schriftenreihe des Instituts für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 3). Sigmaringen 1994; Sylvia Schraut/Thomas Grosser: Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft (Mannheimer historische Forschungen 11). Mannheim 1996; Thomas Grosser/Sylvia Schraut (Hrsg.): Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Württemberg-Baden nach dem Zweiten Weltkrieg. Dokumente und Materialien zu ihrer Aufnahme und Eingliederung. Band 1: Besatzungspolitische, administrative und rechtliche Rahmenbedingungen 1945-1949 (Südwestdeutsche Schriften 26). Mannheim 1998. Siehe zu den Möglichkeiten und Grenzen des deutsch-deutschen Vergleichs die grundlegenden Überlegungen von Hans Günter Hockerts in seiner Einfuhrung zu dem von ihm hrsg. Band: Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 76). München 1998, S. 7-25. Emilia Hrabovec: Vertreibung und Abschub. Deutsche in Mähren 1945-1947 (Wiener Osteuropastudien 2). Frankfurt am Main 21996; Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 127). Göttingen 1998. Die Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen im Rahmen der Migrationsgeschichte ist das Thema mehrerer Beiträge in dem Sammelband von Jan Motte/Rainer Ohliger/Anne von Oswald (Hg.): 50 Jahre Bundesrepublik - 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt am Main/New York 1999.

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Günther Schulz

Mathematiker16, eine „biographische Gesamtübersicht" über die Emigration von Wirtschaftswissenschaftlern17, ferner Arbeiten über Chemiker, Biochemiker und Biologen sowie über Erziehungswissenschaftler und über den „Umgang" mit den vertriebenen Fachkollegen in den jeweiligen Disziplinen.18 Die Autoren nicht weniger dieser Arbeiten sind nicht Fachhistoriker, sondern Vertreter der jeweiligen Fächer selbst. Sie erhellen auf diese Weise die Geschichte der eigenen - im doppelten Sinn „betroffenen" - wissenschaftlichen Disziplin. Die zahlreichen Aspekte der deutschsprachigen Emigration, die Umstände, die Zufluchtsländer und die Arbeits- und Lebensbedingungen, die betroffenen beruflichen und gesellschaftlichen Gruppen, die Rückkehr und schließlich auch die Exilforschung haben jüngst zahlreiche Autoren in einem voluminösen Handbuch der deutschsprachigen Emigration19 unter der Herausgeberschaft von Claus-Dieter Krohn und anderen dargestellt, der ebenso wie Hiltrud Häntzschel und Marita Krauss, die ebenfalls an dem Werk mitgearbeitet haben, bei der 37. Büdinger Tagung referierten und Beiträge zum vorliegenden Band beisteuerten. Hans-Peter Dreitzel hat als „Elite" die Inhaber von Spitzenpositionen definiert, die auf Grund bestimmter Auslesekriterien dorthin gelangt sind, und er hat als ihre wichtigsten Kennzeichen hervorgehoben, dass sie über Macht bzw. Einfluss verfugen oder eine Vorbildrolle besitzen.20 Diese Begriffsbestimmung ist praktikabel und weithin akzeptiert. Bei der Untersuchung vertriebener Eliten ist fraglich, ob ein enger Begriff von Elite - die Eingrenzung auf Top-Positionen - praktikabel ist oder ob man die Zugehörigkeit zu Führungsschichten nicht eher weit fassen muss. Bei den Vertriebenen können nicht nur die Inhaber von Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Adel, Großindustrie etc. in den Blick genommen werden, sondern Gegenstand der 16

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Reinhard Siegmund-Schultze: Mathematische Berichterstattung in Hitlerdeutschland. Der Niedergang des „Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik" (Studien zur Wissenschafts-, Sozial- und Bildungsgeschichte der Mathematik 9). Göttingen 1993. Harald Hagemann/Claus-Dieter Krohn: Die Emigration deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler nach 1933 (Diskussionsbeiträge aus dem Institut für Volkswirtschaftslehre 520). Hohenheim 21992. Ute Deichmann: Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, Forschung. Frankfurt am Main 1992; dies.: Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit. Weimar 2001; Christa Kersting: Erziehungswissenschaft in Hamburg nach 1945: Zum Umgang der Disziplin mit Emigranten, in: Zeitschrift für Pädagogik 40 (1994), S. 745-763. Siehe auch die Zusammenstellung von Angaben über geflüchtete Historiker bei Catherine Epstein: A Past Renewed. A Catalog of GermanSpeaking Refugee Historians in the United States after 1933. Cambridge 1993. Claus-Dieter Krohn/Patrik von zur Mühlen/Gerhard Paul/Lutz Winckler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945. Darmstadt 1998. Hans-Peter Dreitzel: Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse. Stuttgart 1962, S. 71.

Zur Einfuhrung

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Untersuchung müssen beispielsweise auch die unteren wirtschaftlichen Führungsschichten sein. Sind auch Meister dazu zu zählen? Die begriffliche Abgrenzung der Eliten ist schwierig. Freilich sind zwei Kriterien für die Eingrenzung des Elitenbegriffs unverzichtbar: zum einen die Zugehörigkeit zu einer Führungsgruppe oder -Schicht - sei diese nun weit oder eng abgegrenzt; zum andern die Verfügung über Macht bzw. Einfluss und damit über - im weitesten Sinne politischen - Gestaltungsspielraum, der das Interesse der Geschichtswissenschaft am Thema begründet. Es ist dabei von untergeordneter Bedeutung, in welchen Formen sich dieser Einfluss ausdrückt und ob er sich auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur oder auf anderen Feldern auswirkt. In den folgenden Aufsätzen stellen die Autoren - nach einer thematischen und begrifflichen Grundlegung durch Hans Hecker - wichtige Aspekte der Elitenforschung im Zusammenhang der Vertreibungen und Verfolgungen im 20. Jahrhundert dar, teils in der Form von Synthesen, teils anhand exemplarischer Fälle, meist mit starkem personengeschichtlichem Bezug. Die Aspekte bzw. Indikatoren, mit deren Hilfe die Veränderungsprozesse vertriebener Eliten und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umfelder untersucht werden, wählten die Autor(inn)en je nach Thematik und Fragestellung aus. Dabei waren ihnen folgende Leitfragen - jeweils bezogen auf deutsche Führungsschichten - an die Hand gegeben: Welche Führungsschichten und -gruppen waren vornehmlich betroffen? Was bedeuteten Verfolgung und Vertreibung dieser Gruppen für die „abgebende" Gesellschaft, lässt sich der „Braindrain" bestimmen? Wie nahmen die Vertriebenen und Verfolgten selbst ihre Lage wahr, welche Perspektiven, welche Konzepte entwickelten sie? Was bedeuteten Verfolgung und Vertreibung für die aufnehmende Gesellschaft, für ihre Strukturen, für einzelne Schichten und Funktionsgruppen,21 bewirkte der Zustrom von Eliten Prozesse der Abstoßung, der Akkulturation, der Assimilation? Die Beiträge des Bandes sollen zum einen Forschungsergebnisse vorstellen und zum andern auf Desiderata aufmerksam machen,22 weitere Forschungen anregen und dazu beitragen, elitenbezogene Fragen für die weitere Erforschung der Vertreibungen - im 20. Jahrhundert wie in anderen Zeiten - fruchtbar zu machen. Zur Wirkung auf politische Spitzenämter siehe jetzt die Skizze von Helmut Neubach: Heimatvertriebene in den politischen Parteien. In: Christof Dahm/Hans-Jakob Tebarth (Bearb.): Die Bundesrepublik Deutschland und die Vertriebenen. Fünfzig Jahre Eingliederung, Aufbau und Verständigung mit den Staaten des östlichen Europa. Bonn 2000, S. 37-65. Zu den zahlreichen Desideraten der Forschung in diesem Themenbereich gehört die Remigration von Eliten nach 1990 in die neuen Bundesländer. Eine Sammlung von Miniaturen zu diesem Thema hat dazu Karl Feldmeyer vorgelegt: Schwierige Heimkehr. Neusiedler auf altem Boden. Berlin 1997.

Vertreibung und Verfolgung in der jüngeren deutschen Geschichte VON HANS HECKER

Es gehört zu den Wirkungen der Zerfallskatastrophe des früheren Jugoslawien, dass den in der Mitte und im Westen desselben europäischen Kontinentes lebenden Menschen Verfolgungen, Vertreibungen und Krieg schlagartig ins Bewusstsein rückten. Viele, insbesondere die Jüngeren, standen - und stehen unter dem Eindruck einer neuartigen, geradezu einmaligen Situation. Dabei braucht man nicht einmal in die Geschichte zurückzublicken, um eine erschütternd hohe Anzahl derartiger Vorgänge in aller Welt festzustellen. Obwohl die elektronische Beschleunigung der Informationstechnik inzwischen die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Nachricht rund um den Globus erreicht hat, hängen Wahrnehmung und Interesse der Menschen doch offensichtlich von der geographischen Nähe des jeweiligen Schauplatzes oder dem Grad der Einbindung in die Geschehnisse ab. So bewegen die schrecklichen Vertreibungen und Verfolgungen, die Massenmorde und Kriege in etlichen Ländern Afrikas oder Asiens die europäischen Gesellschaften erkennbar weniger als vergleichbare Vorgänge in Südosteuropa oder im Kaukasusgebiet oder vor einigen Jahren der Golfkrieg. Der offene Blick in die Gegenwart und in die Geschichte zeigt in unübersehbarer Deutlichkeit die Menschheitsgeschichte als ein nicht abreißendes Geflecht von Kriegen und Krankheiten, Vertreibungen und Verfolgungen. Dies ist jedoch nur die eine Seite. Die andere zeigt ebenso vielfaltige Formen von Verständigung und Zusammenarbeit, Bemühen um Frieden und höchste kulturelle Leistungen. Zu den zahlreichen Aspekten von Vertreibung und Verfolgung gibt es eine in ihrer Fülle und Vielfalt kaum noch überschaubare Literatur. Gleichwohl zeigt sich bei der Beschäftigung mit diesem Thema, dass es in einem Land wie Polen, wo das Thema „Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges" als äußerst heikel umgangen oder nur in sanktionierten Formeln angesprochen wurde, seit der demokratischen Wende unbefangen behandelt

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Hans Hecker

werden kann.1 Es fällt aber auch auf, wie viele Defizite sowie vor allem Unklarheiten und schwierige Probleme im Bereich der einschlägigen Terminologie die deutschen Veröffentlichungen zu diesem Thema aufweisen. Die Elite ist erst seit wenigen Jahren als Begriff und Thema wieder in den Blick der Öffentlichkeit geraten. Es verdient vielleicht den Hinweis, dass die „Stichworte zur ,Geistigen Situation der Zeit'", zu denen Jürgen Habermas in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre 32 damals vierzig- bis fünfzigjährige Intellektuelle eingeladen hatte und die das geistige Klima in der damaligen Bundesrepublik - die beiden Bände erschienen 1979 - in hohem Maße repräsentierten, sich weder mit der Elite noch mit Vertreibung und Verfolgung befassten. Das waren keine relevanten Themen in einer Zeit, in der Elite auf Grund der jüngeren deutschen Vergangenheit noch verpönt, zumindest ideologisch befrachtet und daher außerordentlich problematisch war. Der Streit um das Versagen der „Eliten" des Kaiserreiches und des nationalsozialistischen Deutschland sowie um ihre Kontinuität in die frühe Bundesrepublik hinein führte nicht zu einer selbstverständlichen Anerkennung und konsensfähigen Neudefinition von Elite, zumal das Ideal der gesellschaftlichen Gleichheit und der Glaube an die Allmacht einer auf alle, insbesondere auf die unteren sozialen Schichten zielenden Bildungspolitik den Eliten ihre Berechtigung als relevante historischsoziologische Größe abgesprochen zu haben schienen. Das Thema „Elite", von den Wissenschaftlern nie wirklich aufgegeben,2 ist nun wieder im öffentlichen Diskurs aufgetreten, und zwar nicht nur in bildungspolitischen Zusammenhängen.3 Dabei ist jedoch offen geblieben, was man mit „Elite" meint, was man von ihr erwartet und was man ihr zubilligt, welche Rolle und Bedeutung innerhalb unseres Gemeinwesens man ihr zuschreibt. Einen gesellschaftlichen Konsens scheint es dazu - anders als in den USA oder Frankreich nicht zu geben, eine klärende Debatte hat bisher in Deutschland auch nicht stattgefunden.4

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So z.B. in der Habilitationsschrift der polnischen Historikerin Bernadetta Nitschke: Wysiedlenie ludnosci niemieckiej z Polski w latach 1945-1949. Zielona Göra 1999; ein großes Habilitationsprojekt zu diesem Thema bearbeitet zur Zeit Herr Dr. Witold Stankowski, Bydgoszcz/Bromberg und Gdansk/Danzig. Siehe auch die einschlägigen Kapitel in Wlodzimierz Borodziej/Klaus Ziemer (Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Eine Einführung (Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau 5). Osnabrück 2000. So z.B. Urs Jaeggi: Die gesellschaftliche Elite. Bern/Stuttgart21967; Dietrich Herzog: Politische Führungsgruppen. Probleme und Ergebnisse der modernen Eliteforschung. Darmstadt 1982. Wilfried Röhrich: Eliten und das Ethos der Demokratie. München 1991; Thomas Leif u.a. (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand. Bonn/Berlin 1992; erst jüngst dazu in seiner Art exemplarisch: Kursbuch 139: Die neuen Eliten. März 2000. So war es zum Beispiel möglich, dass in dem renommierten Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1995/2, das den Bandtitel „Elitenwandel und Modemisie-

Vertreibung und Verfolgung in der jüngeren deutschen Geschichte

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N o c h erstaunlicher scheint es zu sein, dass in dem Bereich der Literatur zum Thema Flucht und Vertreibung bis heute eine - fast möchte man sagen: signifikante - Unklarheit und Vermischung der Begriffe herrscht. In einem jüngst erschienenen, den Stand der Forschung ausgezeichnet repräsentierenden Handbuch zur deutschsprachigen Emigration während der Zeit des Nationalsozialismus gehen die Herausgeber nur knapp auf die Fragen der Definition und Unterscheidung der Begriffe ein. 5 Allerdings haben die Beiträge dieses gesamten Bandes in hohem Maße zu den folgenden Überlegungen beigetragen, wozu auch die Anerkennung des wohl kaum behebbaren Problems verbleibender Unscharfen, Zweideutigkeiten und Überschneidungen gehört. Auch in dem sehr verdienstvollen Sammelband über die gewaltsame Entfernung von Bevölkerungsgruppen, die nicht der Titularnation angehörten, aus der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und Jugoslawien in den Jahren 1938— 1947, der 1999 erschienen ist, 6 findet sich kein Versuch, die verschiedenen Arten dieser Vorgänge begrifflich zu unterscheiden und zu definieren. In einem Beitrag 7 wird auf eine Veröffentlichung aus dem Jahre 1987 verwiesen, die viel wertvolles Material und Ansätze zu einer Systematisierung enthält. 8 Allerdings beschränkt sich der Autor darauf, die Definition und die Regelungen des Bundesvertriebenengesetzes vom Mai 1953 zu erläutern, was in unse-

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rung in Osteuropa" trägt, an keiner Stelle der Versuch gemacht wird, die zahlreichen verschiedenen Formen und Vorstellungen von „Elite" wenn nicht zu einer Definition, so doch wenigstens in einen Zusammenhang zu bringen. Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, hg. von Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen, Gerhard Paul und Lutz Winckler unter redaktioneller Mitarbeit von Elisabeth Kohlhaas in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Exilforschung. Darmstadt 1998, S. XII. In ähnlicher Weise wird in einem neuen Sammelband zur Vertreibung der Deutschen aus den heute zu Polen gehörenden Gebieten Vertreibung als Synonym für „Flucht, Deportation, Vertreibung und Umsiedlung" gebraucht: Hans-Jürgen Bömelburg/Renate Stössinger/Robert Traba (Hg.): Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich. Olsztyn 2000, S. 9. Detlef Brandes/Edita Ivanciková/Jirí Peäek (Hg.): Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 8). Essen 1999. Rüdiger Overmans: „Amtlich und wissenschaftlich erarbeitet". Zur Diskussion über die Verluste während Flucht und Vertreibung der Deutschen aus der ÖSR, in: Ebd., S. 153-181, hier 155 Anm. 4. Gerhard Reichling: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Statistische Grundlagen und terminologische Probleme, in: Rainer Schulze/Doris von der Brelie-Lewin/Helga Grebing (Hg.): Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVIII. Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens nach 1945, 4). Hildesheim 1987, S. 46-56; auch die anderen Beiträge dieses Bandes leisten Erhebliches, für unser Thema ist noch eigens zu nennen Arnold Sywottek: .Umsiedlung' und .Räumung', .Flucht' und ,Ausweisung' - Bemerkungen zur deutschen Flüchtlingsgeschichte, in: Ebd., S. 69-80.

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rer allgemeinen Themenstellung nicht viel weiterhilft. Bereits das große Grundlagenwerk zur Geschichte der Vertreibungen der Deutschen aus Ostmittel- und Südosteuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges, das von einer Kommission renommierter deutscher Historiker in den 1950er Jahren erarbeitet wurde,9 unterscheidet an keiner Stelle zwischen Flucht, Vertreibung, Austreibung, Ausweisung, Aussiedlung, Zwangsaussiedlung und ähnlichen Begriffen. Die in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges angestellten Erhebungen und Untersuchungen fragten, was damals zweifellos nahe lag, nach den Herkunftsgebieten der Menschenströme und ihrer Verteilung in den (west)deutschen Besatzungszonen sowie nach den Verlusten an Menschen und Besitz. Die Ergebnisse fielen meistens unzulänglich aus, weil die Fragebögen viel zu umfangreich und kompliziert waren, als dass sich Menschen, die mit dem Aufbau einer neuen Existenz beschäftigt waren, damit hätten befassen können. Die neueren Forschungen laufen nun darauf hinaus, in die gleichwohl aufgelaufenen Datenmassen Licht und Ordnung zu bringen. Wie schwierig hier Definitionsfragen sind, macht Volker Ackermann exemplarisch an dem Problem klar, wer in der Nachkriegszeit als „echter" Flüchtling galt und Anspruch auf entsprechende Aufnahme in den Westzonen bzw. in der Bundesrepublik hatte.10 Insbesondere demonstriert Ackermann einen Aspekt, der, so wichtig er ist, lange unberücksichtigt geblieben ist und dem auch in diesem Beitrag nicht weiter nachgegangen werden kann, nämlich die politische Instrumentalisierung des Begriffes „Flüchtling" in der politischen Auseinandersetzung während der ersten anderthalb Nachkriegsjahrzehnte. Die allzu pauschale oder gezielt polemische Verwendung hat die Unklarheit und Vermischung der Begriffe nur noch weiter gesteigert. In Anbetracht dieser Ausgangssituation werden in dem folgenden Beitrag zunächst einige Überlegungen allgemeinerer Art vorgetragen, die als Einleitung zu dem äußerst komplexen Thema dieses Tagungsbandes „Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert" dienen können. Die Grenzen, die der Titel des Beitrages setzt, werden dabei wiederholt überschritten, und es werden mehr Fragen gestellt als Versuche unternommen, zu - womöglich abschließenden - Antworten zu kommen. Zum Schluss folgt ein historischer Überblick zur Emigration und Vertreibung von Eliten, soweit Deutschland während des 19. und 20. Jahrhunderts davon betroffen war.

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Bundesministerium für Vertriebene (Hg.): Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. 5 Bände. München 1984 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1954-1961). Volker Ackermann: Der „echte" Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945-1961 (Studien zur Historischen Migrationsforschung 1). Osnabrück 1995.

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Zuerst gilt es, die im Gesamtthema wie im Titel dieses Beitrages enthaltenen Begriffe zur Diskussion zu stellen. Dort steht die Vertreibung vor der Verfolgung. Wenn man die Dinge systematisch angeht, müsste es in umgekehrter Reihenfolge heißen: Verfolgung und Vertreibung. Denn betrachtet man den Vorgang selbst, so fuhrt erst die Verfolgung Einzelner oder bestimmter Gruppen zu deren Vertreibung. Die Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland wie in der gesamten Europäischen Union und die immer wieder auflebende Debatte darüber haben für jedermann erkennbar gemacht, dass Verfolgung ein weit interpretierbarer Begriff ist. Den Herausgebern des oben genannten Handbuches zu Folge bestimmen die Motive der Verfolgung die Kategorien der Verfolgten.11 Sicherlich haben sie insofern Recht, als damit der Verfolger mit seinen Motiven, Interessen und weithin wahnhaften ideologischen Vorstellungen in das scharfe Licht der Untersuchung gerückt wird. So berechtigt dieser Ansatz auf der einen Seite ist, so überträgt er andererseits die Kategorien der Verfolger auf die Verfolgten, und zwar gegen ihren Willen, und transportiert sie in den Bereich der wissenschaftlichen Untersuchung, wo sie der Einfachheit halber benutzt werden. Das Fatale an diesem in vielerlei Hinsicht durchaus berechtigten und praktikablen Verfahren tritt zu Tage, wenn man weniger die Verfolger als vielmehr die Verfolgten beleuchtet. Zum einen wendet man auf die Verfolgten Kategorien an, die diese für sich mit Recht nicht anerkennen: Wie viele Menschen, die als Juden verfolgt und deswegen zur Emigration aus Deutschland gezwungen waren, sahen sich in erster Linie oder gar ausschließlich als Deutsche und nicht als Juden? Victor Klemperer hat in seinen Tagebüchern aus den Jahren 1933 - 1945 wiederholt die Frage gestellt, ob er nicht Hitlers Werk vollende, wenn er sich auf die Einordnung als Jude einlasse. Zum andern: Haben die Nationalsozialisten nicht oft genug Menschen, die ihnen aus anderen als rassenideologischen Gründen missliebig waren, zu Juden erklärt, ihnen eine jüdische Abkunft angedichtet, um sie damit zu diffamieren und ihr „Fehlverhalten" zu erklären? Haben sie also nicht immer wieder ihre eigenen Kategorien der Verfolgung vermischt? Und schließlich: Ist es für den Verfolgten von entscheidendem Belang, aus welchen Gründen er verfolgt wird, wenn er sich selbst mit Recht unschuldig fühlen kann? Hätte es einem aus politischen Gründen Verfolgten wie Carl von Ossietzky schlechter gehen können, wenn er nicht nur Pazifist, sondern auch Jude gewesen wäre? Im Folgenden sollen die Verfolgten und ihre Situation in den Blick genommen werden. Nimmt man die Verfolgung mit der Gefahr für Leib und Leben als gegeben an, so knüpft sich eine ganze Reihe von Fragen daran: Von welHandbuch (wie Anm. 5), S. XII.

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chem Grad an Gefährdung von Leib und Leben ist ein Mensch verfolgt'? Welchen Grad an Gefahrdung in seinem Heimatland kann eine Behörde oder ein Gericht für einen Asylsuchenden in Kauf nehmen, um ihn wieder abzuschieben? Es hat in deutschen Asylverfahren Entscheidungen gegeben, in denen beispielsweise die Vergewaltigung von Frauen durch Bürgerkriegssoldaten oder Polizisten nicht als ausreichende Gefahrdung am Leibe betrachtet wurden. Oder ist ein in Magdeburg lebender Afrikaner bereits verfolgt, wenn er von jugendlichen Neonazis mit Baseballschlägern zusammengeschlagen wird? Genügt ein einmaliges Vorkommnis oder muss er mehrfach verprügelt werden? Hat es eine Bedeutung, ob ein Mensch von Staats wegen, durch Behörden an Leib und Leben gefährdet wird, oder ob er unter der Ablehnung und womöglich physischen Bedrohung durch seine soziale Umgebung leidet? So war zum Beispiel Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion offiziell verboten und abgeschafft, er wurde aber von den Behörden vielfaltig als Diskriminierung von Juden praktiziert. Im heutigen Russland ist diese Art von antisemitischer Praxis von Staats wegen zwar zurückgedrängt, aber in der Bevölkerung, in der Presse und Publizistik äußert sich oftmals eine unverblümte, ja aggressive Form von Antisemitismus. Die Betroffenen fühlen sich verfolgt, zumindest latent gefährdet - an welcher Stelle setzt die Verfolgung ein? Viel drastischer haben Juden im nationalsozialistischen Deutschland diese Erfahrung gemacht. Wo schlug für jeden Einzelnen von ihnen die fortschreitende Entrechtung und Drangsalierung in Verfolgung um? Noch schwieriger ist dieser entscheidende Punkt bei den Eliten - womit hier zunächst die gesellschaftlichen Führungsschichten gemeint sein sollen - auszumachen. Nehmen wir als Beispiel einen Schriftsteller: Unterliegt er bereits der Verfolgung, wenn er in seiner „geistigen" Entfaltung behindert wird, wenn er zensiert wird und fallweise - vielleicht mit der Begründung, es bestehe Papiermangel - Probleme mit der Publikation seiner Werke bekommt? Oder ist der Fall der Verfolgung erst eingetreten, wenn er ohne Papier und Bleistift im Gefängnis sitzt? Oder unterliegt der jüdische Schauspieler der Verfolgung, der zwar nicht entlassen wird, aber wegen angeblichen Mangels an Begabung keine nennenswerte Rolle mehr bekommt? Hier macht sich ein weiteres Problem bemerkbar, mit dem viele, die wegen Verfolgung um Asyl oder sonstigen Schutz nachsuchen, zu tun haben: die Nachweisbarkeit der Verfolgung. Gesetzgeber und Behörden bestehen auf einem Höchstmaß an Objektivierbarkeit, vielleicht müssen sie so handeln, aber der „objektive" Nachweis von Verfolgung lässt sich oft nicht führen. Andererseits: Wie stark darf ein Gemeinwesen mit der Fürsorge für Menschen, die sich allein aus subjektivem Empfinden heraus verfolgt fühlen, in Anspruch genommen werden?

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Auch beim Problem der Vertreibung ist die definitorische Abgrenzung äußerst schwierig. Handelt es sich bei der Vertreibung nur um den Vorgang, der uns aus vielen Gegenden der Welt, unlängst aus dem Kosovo, im Fernsehen gezeigt wird, wenn jemand vor der Haustür steht, der die Bewohner mit vorgehaltener Waffe zwingt, das Haus Hals über Kopf zu verlassen und das Weite zu suchen? Ganz ähnlich liefen die Vertreibungen polnischer Bevölkerung bei der deutschen Besetzung ihres Landes oder der deutschen Bevölkerung aus ihren Wohngebieten im Osten ab. Oder ist Vertreibung nicht schon gegeben, wenn jemandem die Lebensbedingungen unerträglich gemacht werden, so dass er sich gezwungen sieht, das Land, in dem er lebt (es muss ja nicht unbedingt seine Heimat im engeren Sinne sein), zu verlassen? Wo liegt da der Unterschied zur Flucht? Ist der Unterschied zwischen Vertreibung und Flucht nicht nur der Unterschied zwischen zwei Sichtweisen ein und desselben Vorgangs? Zuerst tritt das aggressive Handeln des Vertreibenden in Erscheinung, danach die Flucht als aktive Reaktion des von der Vertreibung im weitesten Sinne Betroffenen. Damit sind wir bei der Unterscheidung zwischen Vertreibung und Flucht. Zunächst einmal geht der Sprachgebrauch davon aus, dass von Vertreibung mehrere Menschen, größere Bevölkerungsgruppen mit gemeinsamen sozialen, ethnischen, religiösen oder etlichen anderen Merkmalen betroffen sind. Auf Einzelfalle wird dieser Begriff in der Regel nicht angewendet. Fliehen können hingegen sowohl Einzelne als auch mehr oder minder große Gruppen, die wiederum ein oder mehrere Merkmale von Gemeinsamkeit tragen, in denen der Grund für ihre Flucht liegt. Weiterhin ist bei der Flucht das Zielland oder Zielgebiet nicht vorgegeben. Wohin jemand flieht, sucht er sich nach Maßgabe der Möglichkeiten - ob und welche Fluchtwege zur Verfugung stehen oder von den Vertreibern offen gehalten werden - selbst aus. Vertreibung treibt die Menschen in der Regel in ein bestimmtes Zielland oder Zielgebiet. So werden ethnische Minderheiten oft in das Land abgedrängt, in dem sie ethnisch in der Mehrheit sind. Gegebenenfalls wird aber auch das Zielland nach Aspekten ausgesucht, die den Zwecken der Vertreiber entsprechen. So wurden beispielsweise die vertriebenen albanischen Kosovaren in bestimmte Nachbarländer gelenkt, womit man eine doppelte Zielsetzung verfolgte: die Entfernung der albanischen Bewohner aus dem Kosovo und die Destabilisierung der aufnehmenden Nachbarländer durch die mit der Aufnahme verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Belastungen. Nahe bei der Flucht ist die Emigration anzusiedeln, wenn sie aus anderen als ganz persönlichen Gründen - beruflichen Gründen, Eheschließung - frei-

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willig erfolgt.12 Eine nicht freiwillige Emigration, wie sie wohl - wir werden darauf noch eingehen - meistens der Fall ist, ist eigentlich nur die verlangsamte Form der Flucht. Flucht geschieht, da der Flüchtling sich seinen Verfolgern entzieht, unter Zeitdruck, meistens illegal, oft unter Gefahr für Leib und Leben, häufig heimlich, während Emigration meistens vorbereitet werden kann und mit Auswanderungspapieren, d.h. mit Genehmigung oder wenigstens Duldung der Behörden der beteiligten Staaten, vonstatten geht. Schließlich ergibt sich zwischen den diversen Formen erzwungener Wanderung, der Zwangsmigration, ein Unterschied bei den Ursachen. Zur Emigration kann auch gesellschaftlicher Druck, Diskriminierung fuhren, ein Beispiel dafür sind die Juden, die aus Russland bzw. verschiedenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion emigrieren. Sie weichen nicht einem quasi offiziellen, staatlichen Antisemitismus, sondern einer verbreiteten Stimmung in der Gesellschaft, deren Folgen ihnen unkalkulierbar erscheinen. Vertreibung hingegen ist eine von Staats wegen, von der Politik in Gang gesetzte Aktion. Die Abgrenzungen zwischen den bisher erwähnten Formen der Migration, denen wir die Auswanderung hinzufügen, sind fließend, und in bestimmten Bereichen liegen die Begriffe sehr nahe beieinander. Emigration hat eher einen Beigeschmack der Unfreiwilligkeit, während im Falle von Flucht und Vertreibung der Zwangscharakter offen auf der Hand liegt. Die Zwangslage tritt auch im Hinblick auf das Zielland zutage. Wer vertrieben oder geflohen ist, befindet sich im Exil, und das bedeutet, dass weiterhin ein enger Bezug zur Heimat besteht. Der Wille zur Rückkehr in die Heimat ist für das Exil konstitutiv, und beides bleibt in einem unauflösbaren, spannungsvollen Zusammenhang. Der Inbegriff des Intellektuellen und Künstlers, der sich im Exil befindet, ist Heinrich Heine in Paris. Er lebte dort, wohin ihn die Verhältnisse in Deutschland vertrieben hatten, wo er seine Freiheit und seine Liebe gefunden hatte, und dennoch kam er von seiner Heimat Deutschland so wenig los, dass er sich des nachts, wenn er an sie dachte, um seinen Schlaf gebracht sah. Wer auswandert, tut dies in aller Regel freiwillig. Sein Motiv liegt weniger darin, dass ihm ein weiteres Verbleiben in der Heimat unerträglich gemacht worden wäre, als in der Suche nach besseren Lebensbedingungen in einem Land seiner Wahl. Wiewohl Auswanderung nur die deutsche Entsprechung zu Emigration ist, differieren beide Begriffe mit ihren jeweiligen Bedeutungsfeldern hinsichtlich des Ausmaßes und der Bedingungen der Freiwilligkeit in der Motivation. Besonders deutlich kann man das an einem Vergleich des Wortsinns von Auswanderer und Emigrant erkennen, wie er sich in der den beiden

Die „innere Emigration" wird hier nicht besprochen, weil es sich dabei um den Rückzug aus der Öffentlichkeit, aber nicht um ein Verlassen des Landes handelt. Nur dieses soll hier diskutiert werden.

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Begriffen zuzuordnenden Literatur ausdrückt. Auswanderergeschichten und romane zeigen Motivfelder, die von wirtschaftlicher Not bis Abenteuerlust reichen, während Emigrantenerzählungen eher von im weitesten Sinne politischen Gründen berichten. Die Deportation gehört mit in dieses Begriffsfeld, sie ist nahe bei der Vertreibung angesiedelt. Allerdings handelt es sich bei der Deportation um eine geplante, zielgerichtete Aktion im Hinblick auf die Betroffenen, auf ihr weiteres Schicksal sowie auf das Zielgebiet, in das deportiert wird. Dieses liegt meistens nicht, wie bei der Vertreibung, außerhalb des Staats- oder politischen Einflußgebietes, sondern innerhalb, allerdings weit von den mehrheitlichen zivilen Siedlungsgebieten. Als klassisches Deportationsgebiet dienten innerhalb Russlands bzw. der Sowjetunion große, vor allem die weit im Osten und Norden liegenden Regionen Sibiriens, für Frankreich und Großbritannien waren es bestimmte Kolonien wie die Teufelsinseln oder Australien. In kleineren Ländern ist die Deportation zwangsläufig schwierig und daher nicht üblich. Innerhalb Deutschlands hat es keine Deportation gegeben, wohl aber während des Zweiten Weltkrieges, und zwar in die im Osten angrenzenden besetzten Gebiete, vor allem nach Polen, also über die eigentlichen Reichsgrenzen hinaus. Aus dem besetzten Ausland wurden vor allem Zwangsarbeiter ins Reichsgebiet deportiert. Die Deportation der Juden aus dem gesamten besetzten Europa nach Deutschland und ins östliche Europa, um sie in Lagern zu vernichten oder zugrunde gehen zu lassen, stellt einen Sonderfall dar, der auch durch die Deportationen im Macht- und Einflußbereich der Sowjetunion oder Rotchinas nicht relativiert wird. Die Deportation haben wir, obwohl sie nicht zum eigentlichen Thema gehört, in einem Exkurs erwähnt, um das Themenfeld auch nach dieser Seite hin abzugrenzen. Auch sie gehört zum Oberbegriff der Migration. Die Migrationsforschung fragt zunächst und ohne Wertung nach der Wanderungsftewegwng: Woher? Wohin? Wer? In einem zweiten Schritt stellt sie die Frage nach dem Warum? und Mit welcher Wirkung? Wenn der Titel dieses Bandes die vertriebenen Eliten nennt, so ist das nicht wertend gemeint. Vielmehr ist hier im soziologischen Sinne von Eliten die Rede, von den sozialen Oberschichten mit Führungsaufgaben im weitesten Sinne. Hier geht es um den Personenkreis, der innerhalb des Landes oder der Gesellschaft seiner Herkunft und seines Lebens eine politische, soziale, wirtschaftliche, wissenschaftliche, geistig-moralische (z.B. religiöse) Position einnimmt, von der aus er tatsächlich oder potentiell eine leitende oder Orientierung gebende Funktion gegenüber der Masse der Bevölkerung bzw. einem maßgeblichen Teil der Gesellschaft ausübt. Wenn von „vertriebenen Eliten" die Rede ist, handelt es sich also nicht um große Bevölkerungsmassen, sondern um einen zahlenmäßig vergleichsweise kleinen Teil der Bevölkerung.

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Von hier aus ergibt sich die Frage: Wo ordnen wir die Vertriebenen oder Migranten ein, die erst im Zielland Elite werden? Die zur Zeit der Vertreibung zu jung waren, um sich selbst einen Platz in der Elite erarbeitet haben zu können? Die noch zur Unterschicht gehörten und erst im Zielland ihren sozialen Aufstieg nahmen? Beispiele dafür finden wir etwa bei etlichen russischen Juden, die im frühen 20. Jahrhundert nach den USA ausgewandert sind und dort Karriere gemacht haben? Dazu gehören etwa Filmmagnaten, die Hollywood zu dem Weltzentrum des Kinos gemacht haben, das es heute noch - oder mehr denn je - ist. Oder eine Frau wie Helena Rubinstein, die ein weltweites Imperium der Kosmetik aufbaute und damit womöglich tiefer auf das Selbst- und Glücksgefühl eines riesigen Teils der Menschheit einwirkte als es Politiker oder Propheten vermocht haben. Die Beispiele ließen sich nahezu beliebig vermehren. Es sei nur noch darauf verwiesen, dass sich an diese Überlegungen wieder die Frage nach den vertriebenen Begabungen oder potentiellen Eliten knüpft, das heißt, nach denjenigen Menschen, die vertrieben wurden, bevor sie ihre Begabung entfalten und damit zur Elite werden konnten, als die man sie möglicherweise nicht vertrieben hätte. Dabei ist anzumerken, dass Facharbeiter häufig nicht vertrieben werden, oft sogar im Zuge ethnischer Säuberungen nicht, ebenso sonstige Fachleute. Man benötigt sie, um bestimmte Produktionsweisen, Verwaltungsbereiche oder Sektoren öffentlicher Versorgung aufrecht zu erhalten. Es handelt sich hier um Funktionseliten. Ein Beispiel sind etwa die deutschen Bergleute in Oberschlesien, die von den Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkrieges ausgenommen blieben. Anders können sich ideologisch gebundene Vertreibungsmächte verhalten, denen es auf die Beseitigung aller Eliten ankommt, um den Zugriff auf die betroffenen Gebiete zu verstärken. Allerdings greifen diese dann eher zur Deportation oder physischen Vernichtung. Wenn Eliten vertrieben werden, geht es darum, deren Einfluss auf die Bevölkerung auszuschalten. Die damit verbundenen Absichten sind deutlich von denen zu unterscheiden, die zu Massenvertreibungen fuhren. Bei den Massenvertreibungen geht es um ethnische Säuberung, das bedeutet: um die Entfernung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, in der Regel einer ethnischen, nationalen, religiös-kulturellen Minderheit, aus einem Land, aus einer Region. Dieses Gebiet wird ethnisch gesäubert, weil es von einem Staat erobert oder auf irgendeine gewaltsame Weise gewonnen und einverleibt bzw. in seiner Zugehörigkeit zu diesem Staat verstärkt gesichert werden soll. Es liegt dann Annexion oder wenigstens Bestandssicherung im Streit um Besitzrechte vor. Welche Motive führen also demgegenüber zur Vertreibung von - in der Regel ja nicht sehr zahlreichen - Eliten? Wenn es richtig ist, dass damit der Einfluss der Eliten auf die breite Bevölkerung ausgeschaltet werden soll, dann kommt die Machtfrage ins Spiel. Einfluss bedeutet Macht, und mit der Besei-

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tigung der Einfluss ausübenden Eliten und ihrer Autorität wird Raum für neue Einflüsse, neue Autoritäten, ausgeübt von neuen Eliten, und damit für eine Verschiebung der Machtverhältnisse geschaffen. Innerhalb der Machtfrage stößt man auf zwei Motivgruppen, die für unsere Fragestellung Bedeutung haben: In dem einen Fall stehen Werteordnungen gegeneinander. Am bekanntesten und womöglich am wirksamsten sind religiöse Gegensätze gewesen, mit denen in zahllosen Fällen Kriege oder sonstige gewaltsame Auseinandersetzungen begründet worden sind. Es kommen aber auch nicht religiös fundierte weltanschauliche Gegensätze in Frage, wie etwa zwischen Demokraten und demokratiefeindlichen, womöglich totalitären Strömungen. Damit sind wir - die Grenzen sind auch hier fließend - bei der zweiten Motivgruppe. Dort stehen primär politische Machtverhältnisse gegeneinander: Ein neues politisches System löst das bisher existierende System ab. Die Eliten als Träger des alten Systems müssen nicht nur in ihren bisherigen Funktionen abgelöst oder aus ihnen verdrängt werden, weil diese Positionen neu besetzt werden, sondern sie müssen völlig verschwinden, damit sie der Bevölkerung nicht mehr als Orientierung im Sinne des alten Systems dienen können. Ihnen soll auch die Möglichkeit genommen werden, als Sprachrohr der breiten Bevölkerung, zumindest großer Teile, aufzutreten, deren Wünsche und Vorstellungen zu artikulieren. Gerade dies könnte gefahrlich werden, wenn das neue Regime andere Vorstellungen von dem hat, was für die Bevölkerung gut sei, als diese selbst. Solche Diskrepanzen provozieren die neuen Machthaber zur Ermordung oder Vertreibung der alten Eliten, deren Einfluss es auszuschalten gilt. An dieser Stelle zeigt sich die unmittelbare Verflechtung der beiden Motivgruppen, denn entweder steht hinter den im weitesten Sinne ideologischen Gegensätzen ein fundamentales Machtinteresse, oder die rivalisierenden Machtgruppierungen bedienen sich ideologisch begründeter Argumente, um ihre Interessen durchzusetzen. Zu unserem Thema gehört auch das spannungsreiche und unauflösbare Begriffspaar Heimat - Exil oder Fremde, um dieses altmodische Wort zu gebrauchen. Die Heimat, wie immer man diesen Ort oder diese Region sehen mag, wo man zu Hause ist, wo man geboren ist, wo man wohnt, wo man sich auskennt oder von wo aus man die Welt betrachtet, rückt sofort in eine intensivere Dimension der Bindung, wenn sie mit dem Exil in Verbindung gebracht wird. Finden wir bereits eine Fülle von Beispielen, in denen Menschen, die ihre Heimat freiwillig, womöglich aus Fernweh oder im Zorn verließen, von der Fremde oder Ferne aus ihre Beziehung zur Heimat bis zur krank machenden Sehnsucht steigerten, so bringt das Exil als unfreiwilliger Aufenthalt außerhalb der Heimat in das Verhältnis zu dieser noch eine andere Qualität: Hier geht es

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immer um die Veränderung der Verhältnisse in der Heimat, die die Voraussetzung für die ersehnte Rückkehr dorthin ist.13 Dabei muss das Exil nicht unbedingt weit von der Heimat entfernt sein, die im Exil Lebenden brauchen nicht einmal in einem anderen Land, unter fremden Völkern und Staatsgewalten zu leben. Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges sind beispielsweise in die mittleren und westlichen Gebiete des damaligen Deutschland gelangt, sie waren also nicht unter Völkern anderer Nationalität, sondern beim eigenen Volk und fühlten sich doch wenn nicht gerade im Exil, so doch in der Fremde. Und dieses Gefühl wurde ihnen von den ansässigen deutschen Landsleuten auch nicht unbedingt genommen. Wichtig sind eben das Gefühl des Exils und der Fremde sowie die Unfreiwilligkeit der Migration, die Tatsache, dass diese mehr oder minder erzwungen wurde. Das Leben der Vertriebenen ist von dieser Dichotomie geprägt gewesen, sehr häufig, vielleicht sogar in der Regel, lebenslang; oft wird sie - wenn auch in sich wandelnder Form - weiter vererbt, zumindest an die unmittelbar nachfolgende Generation. Im Rahmen unseres Themas haben wir es mit zweierlei Zielrichtung der Migration zu tun: zum einen mit der Vertreibung von Eliten aus Deutschland hinaus, zum andern mit Deutschland als Zielland von Eliten, die aus anderen Ländern vertrieben wurden. Hinzu kommt ein Sonderfall, der aus der für Deutschland charakteristischen Tendenz zur Mehrstaatigkeit, deren mildeste Form der bundesstaatliche Föderalismus ist, resultiert. Noch im 18. Jahrhundert wichen verfolgte Bevölkerungsgruppen, darunter auch Angehörige sozialer Eliten, von einem deutschen Staat in den anderen aus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu der erzwungenen Migration von der SBZ bzw. DDR in die damaligen Westzonen bzw. Bundesrepublik. In der deutschdeutschen Zwangsmigration liegt insofern ein Sonderfall vor, als die Migranten kein Land fremder Nationalität aufgesucht haben, sondern innerhalb ihres nationalen, kulturellen und sprachlichen (wenn auch dialektal differenzierten) Milieus verblieben sind. Und doch haben sich ihre sozialen, ökonomischen und politischen Lebensverhältnisse in einschneidender Weise geändert, so dass sie innerhalb desselben deutschen Volkes in ein eigenartig vertraut-fremdes Land gekommen sind. Es gehört auch in diesen Zusammenhang, zwischen Exil und Emigration genauer zu unterscheiden. Emigration ist eher auf Dauer angelegt, da sie einen Eindrucksvolle literarische Zeugnisse für die mannigfachen Bindungen und gleichzeitigen Spaltungen und Verwerfungen innerhalb im Exil befindlicher Eliten sind Lion Feuchtwangers Roman „Exil", den er 1935-1939 im französischen Exil schrieb, und die Anthologie Krzysztof Dybciak (Hg.): Polen im Exil (Polnische Bibliothek). Frankfurt am Main 1988. Die hier vorgetragenen Überlegungen wurden von diesen und ähnlichen Werken erheblich beeinflusst.

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höheren Grad an Freiwilligkeit und Möglichkeiten, das Zielland auszuwählen, konnotiert als Vertreibung oder Flucht. Die langfristige Dauer ist hinsichtlich der Emigration, der Auswanderung, vor allem bei Menschen gegeben, die aus wirtschaftlich-sozialen Gründen ihr Heimatland verlassen und ein Land mit günstigeren Lebensbedingungen aufsuchen. Exil legt hingegen die Intention der Zeitweiligkeit nahe, und zwar für die Frist bis zur Beseitigung der Verhältnisse, die zum Verlassen des Landes Anlass gegeben beziehungsweise zur Vertreibung gefuhrt haben. Gerade diese Bedingung ist es aber, die die Dauer des Exils ungewiss macht. Wegen der intendierten Zeitweiligkeit stellt sich grundsätzlich in Verbindung mit dem Exil die Frage nach der Rückkehr. Die Rückkehr beendet das Exil auf Grund der Einschätzung der Lage im verlassenen Land. Für die Zwangsmigration innerhalb Deutschlands müssen besondere Maßstäbe gelten. Was die Ostgebiete des ehemaligen Deutschen Reiches betraf, so gab es wohl nur sehr wenige unter den von dort Geflohenen und Vertriebenen, die eine Rückkehr wirklich für möglich hielten. Denn eine Änderung der Verhältnisse, durch die sie zum Verlassen der Heimat gezwungen worden waren, hätte die Rückgabe eroberter und bereits faktisch in andere Staaten inkorporierter Gebiete durch die Siegermächte bedeutet. Dass die damit verbundenen internationalen Verwicklungen in Kauf genommen und zu einem verträglichen Ergebnis gebracht werden könnten, hat damals kaum jemand ernsthaft geglaubt. Angehörige der intellektuellen Elite - die Journalistin und Publizistin Marion Gräfin Dönhoff mag hier als Beispiel genannt sein - haben die Lage bereits zu der Zeit realistisch eingeschätzt, als sie den Weg nach Westen antreten mussten. Hier sind schmerzliche Einsicht und Realitätssinn von der Argumentation Verbands- und interessengebundener Politiker zu unterscheiden. So lange es zwei deutsche Staaten gab, lag auch in dieser Hinsicht ein Sonderfall vor. Die aus der DDR vertriebenen Eliten blieben in der Bundesrepublik. Selbst Wolf Biermann, der nach seiner Vertreibung, man könnte auch sagen: seit seiner Verbannung aus der DDR immer davon gesprochen hatte, dass er in die DDR zurückkehren wolle, lebt inzwischen wieder in Berlin, aber mit deutlicher Orientierung nach Westen. Die intellektuelle und künstlerische Elite neigt in besonders intensiver Weise dazu, ihre Auseinandersetzung mit der Vertreibung, ihren Motiven und Folgen zu reflektieren und zu formulieren. Diese Auseinandersetzung kann zu einer grundsätzlichen Richtungsentscheidung werden, so dass sie in eine endgültige Hinwendung zum Zufluchtsland und ein definitives Bekenntnis zu dessen politisch-geistiger Welt mündet. Eine Äußerung Klaus Manns von 1942 mag diesen Vorgang beispielhaft erläutern: „Werden wir - werde ich jemals wieder in Deutschland leben? Wohl kaum [...] Ich bin weit gegangen, zu weit, als daß an Rückkehr noch zu denken wäre [...] Heimkehr oder Exil? Falsche Problemstellung! Überholte Alternative! Die

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einzig aktuelle, die einzig relevante Frage ist: Wird aus diesem Krieg eine Welt entstellen, in der Menschen meiner Art leben und wirken können?" 4 Klaus Mann formuliert hier in einer persönlichen und daher unmittelbar glaubhaften Art und Weise das Verhalten vertriebener Intelligenz, die sich vorrangig an Ideen, Idealen und Lebensformen orientiert und die sich in ihrem Selbstverständnis eher auf die Menschheit bezieht als auf ein bestimmtes Land. Das heißt nicht, dass es keine bedeutenden Künstler und Intellektuelle gegeben hätte, die nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind. (Bei vielen Künstlern wäre auch genauer nachzufragen, ob es Deutschland an sich war, das sie wieder zurückzog, oder, etwa bei Schauspielern oder Schriftstellern, das Land der Sprache, in der sie ihre Kunst auszuüben vermochten. Aber auch ein Theodor W. Adorno ging nach Deutschland zurück, um in der deutschen Sprache als demjenigen Idiom, in dem er sich am angemessensten und genauesten ausdrücken konnte, lehren zu können.) Die auch nach der Rückkehr fortwährende Auseinandersetzung mit dem Heimatland war von der Prägung durch das Exil und dessen Sichtweise bestimmend geblieben. Ein Thomas Mann etwa, ein Richard Löwenthal oder ein Ernst Frankel, große Geister und Wissenschaftler, zum Teil jüdischer Herkunft, waren auf Einladung und Drängen hin und nicht ohne innere Kämpfe zurückgekehrt. Sie erhielten sich stets den Bezug „nach draußen", und die frühere Heimat Deutschland wurde ihnen nicht mehr wieder zur absolut sicheren neuen Heimat, eine innere Beschränkung auf diese kam schon gar nicht in Frage. Die Akkulturation an die weitere Welt, die sie im Exil erlebt hatten, blieb erhalten, sie fand oft auch ihren reellen Niederschlag: Richard Löwenthal zum Beispiel behielt seine britische Staatsbürgerschaft bei. Eine weitere Variante im Verhältnis der vertriebenen intellektuellen Eliten zu ihrem Herkunftsland finden wir bei denjenigen, die ihre „wahre Heimat" gewissermaßen ins Exil mitgenommen haben. Sie betrachteten sich als Bewahrer der echten, traditionellen Werte, die sie durch die neuen Machthaber verfälscht oder zerstört sahen. So schrieb Heinrich Mann bereits 1933 über die Aufgaben der Emigration: „Die Emigration wird darauf bestehen, dass mit ihr die größten und besten Deutschen waren und sind, und das heißt zugleich: das beste Deutschland."15 Sein Bruder Thomas bemerkte im gleichen Sinne, wenn auch noch schärfer pointiert: „Wo ich bin, ist Deutschland."16 Eingehender erläuterte er diese Haltung in seinen vielen politischen Reden und Schriften aus der Zeit seines Exils, so zum Beispiel in seinem berühmten Brief von Neu-

Zit. nach Handbuch (wie Anm. 5), S. IX. Heinrich Mann: Aufgaben der Emigration, 1933, zit. nach Handbuch (wie Anm. 5), Sp. 30. Zit. nach Ebd.

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jähr 1937, mit dem er dem Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn auf die Aberkennung der Ehrendoktorwürde antwortete. Alfred Kantorowicz, der kommunistische Schriftsteller und Literaturhistoriker, der das Exil mehrfach und vielfach erlebte, im Spanischen Bürgerkrieg als Offizier der Internationalen Brigade, nach dem Zweiten Weltkrieg erst in OstBerlin an der Humboldt-Universität, als Herausgeber der Zeitschrift „Ost und West" sowie als Leiter des Heinrich-Mann-Archivs tätig, mit seinem Überwechseln in die Bundesrepublik 1957 sozusagen ins politisch-ideologische Exil gegangen, schrieb 1947: In dem von den Nationalsozialisten erzwungenen Exil seien „die in der Welt geachtetsten und bekanntesten Namen der zeitgenössischen Literatur" gewesen. „Ihr Kampf und ihre Werke trugen dazu bei, die Kulturbestände des alten Europa zu bewahren und in das neue Europa, das nun auf den Trümmern entstehen soll, hinüberzuretten."17 Im Unterschied zu den Brüdern Mann bezog sich der Kommunist Kantorowicz weniger auf die nationale Heimat Deutschland als auf die weitere Heimat Europa. Im Grundsatz war aber das Gleiche gemeint. Die intellektuelle, geistig-künstlerische Elite betrachtete sich selbst als Trägerin des kulturellen Milieus, in dem sie bis zu ihrer Vertreibung gelebt, das sie bis dahin verkörpert hatte. Zugespitzt könnte man sagen: Diese Elite wechselte das Land ihres Aufenthaltes und machte gleichzeitig dadurch, dass sie ihre bis dahin allgemein gültige Werteordnung mit sich nahm, sich selbst zur gesellschaftlichen Heimat des echten und „eigentlichen" Deutschland oder Europa erklärte, ihr Herkunftsland zum geistig-kulturellen „Ausland". Eine ähnliche Einstellung legten zum Beispiel auch Intellektuelle und Künstler an den Tag, die das sowjetische Regime unter Breshnew zwangsweise ins Exil schickte, wie A. Solshenizyn, L. Kopelew oder J. Brodsky. Wie ihre zahlreichen Vorgänger, die es im zaristischen oder bolschewistischen Rußland nicht mehr aushielten, nahmen sie ihrem Selbstverständnis zufolge das „wahre" Rußland mit sich. Diese Haltung bedeutet nicht, dass die exilierten Eliten ihr Zufluchtsland nicht zunächst als Fremde empfunden hätten. Im Laufe der Zeit vermochten die einen sich zu akkulturieren und zu integrieren; sie ließen sich häufig im Land ihres Exils nieder und verwandelten es in das Land ihrer Auswanderung, sie bekannten sich also definitiv zu ihrem Zufluchtsland als ihrer neuen Heimat. Wahrscheinlich richtet sich das Verhalten der Exilierten nach dem Grad der sozialen, geistigen und emotionalen Verletzung, die ihnen vom Land ihrer Herkunft zugefugt wurde. Denn die bewusste Hinwendung zur neuen Heimat finden wir vor allem bei Menschen, die im nationalsozialistischen Deutschland aus rassischen Gründen verfolgt worden waren und ihre Angehörigen Zit. nach Ebd.

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durch Deportation in die Vernichtungslager verloren hatten. Ein weltberühmtes Beispiel dafür ist der Geiger Isaac Stern. Die intellektuelle, geistig-künstlerische Elite kann also gewissermaßen ihre „wahre" Heimat mit sich nehmen, in ihr weiterleben und sogar den Anspruch erheben, sie eigentlich zu repräsentieren. Den Angehörigen von Unterschichten, die ins Exil getrieben wurden, ist dies nicht in gleicher Weise möglich. Sie nehmen die Erinnerung an die Heimat mit, was dazu fuhren kann, dass sie in ihrem Exilland eine Enklave heimatlicher Lebensweise bilden. Bestimmte Sitten und Lebensformen, oft auch die Sprache, werden hier eher konserviert. Die Heimatbindung auf dieser gesellschaftlichen Ebene reicht in den Bereich der Folklore und des Museums hinein, und sie äußert sich oft auch in persönlichen Kontakten zu den späteren Bewohnern der früheren Heimat, wie man am Beispiel der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten feststellen kann. Bei ihnen zeigt sich zugleich die Notwendigkeit, diese Ebene von der der intellektuell-künstlerischen Elite deutlich zu unterscheiden, die hier nur durch die beiden Schriftstellemamen Siegfried Lenz und Horst Bienek gekennzeichnet werden soll. Sie haben mit ihrem Werk die Erinnerung an die Heimat lebendig und kreativ weiterentwickelt. Den Intellektuellen, die die Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland zu Vertriebenen gemacht hatte, bereitete die Frage nach der Rückkehr und die daraus resultierende weitere Frage „Rückkehr - wohin?" einige Schwierigkeiten. Viele von ihnen schwankten zwischen dem politischen Osten und Westen, in die die Weltpolitik ihre Heimat Deutschland gespalten hatte. Welches war für sie nun das „wahre" Deutschland? Beide Seiten, ab 1949 beide deutsche Staaten nahmen für sich in Anspruch, die besten Werte und Traditionen deutscher Kultur zu vertreten. Aus der Sicht vieler kritischer Intellektueller erhob zumindest in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die SBZ/DDR diesen Anspruch auf die glaubwürdigere Weise. Etliche von ihnen wanderten von der einen Seite zur anderen, und auch das taten sie durchaus nicht freiwillig: so zum Beispiel der erwähnte Alfred Kantorowicz oder der Germanist Hans Mayer oder der Philosoph Ernst Bloch. Unter dem Druck des Regimes entschlossen sie sich, in die Bundesrepublik zu gehen. Nahmen sie nun das „wahre" Deutschland vom Ostufer der Elbe mit auf das Westufer? Ein anderes, komplizierteres, dabei ebenfalls nicht untypisches Beispiel für einen Angehörigen der intellektuellen Elite, der sich akkulturierte und integrierte, zugleich aber auch der Heimat verbunden blieb, ist der Schriftsteller Vladimir Nabokov. Ihn hier zu nennen, ist legitim, denn er lebte und arbeitete als exilierter russischer Schriftsteller längere Zeit in Berlin, bis er von dort durch das nationalsozialistische Regime erneut vertrieben wurde und sich in den USA niederließ. Nabokov, der seine Romane und Erzählungen erst

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russisch, dann englisch schrieb, stellt einen der seltenen Fälle des Sprachwechsels bei einem produzierenden Autor dar. Vollzog er damit einen Wechsel seines Heimatbezuges, seiner Identität? Offensichtlich tat er das nicht, denn sein Bezug zu Rußland blieb durch seine Arbeit als Universitätsprofessor für russische Literatur erhalten. Es scheint sich bei ihm eher um eine kreative Verbindimg zwischen der Kultur seines Herkunftslandes - oder genauer: seiner Herkunftsländer - und seiner neuen Lebenssphäre zu handeln. Mit Nabokov berühren wir einen weiteren Problemkreis, den der mehrfach vertriebenen Eliten. Bertolt Brecht hat dazu bemerkt, die Exilanten wechselten die Länder ihres Aufenthaltes häufiger als ihre Schuhe. Das mag vor allem damit zusammenhängen, dass gerade die Intellektuellen unruhige Geister sind und daher nur selten wirklich willkommen. Sie denken nicht nur auf ihren eigenen Wegen, sondern äußern sich öffentlich, sie setzen das fort, weswegen sie bereits vertrieben wurden: Sie greifen Probleme auf, sie erregen Aufmerksamkeit, wenn nicht gar Anstoß und machen Schwierigkeiten. Oft ereilt sie die Verfolgung über die Ländergrenzen hinweg. Etliche Beispiele lassen sich, wie am Fall Nabokovs gezeigt, etwa unter denjenigen finden, die als Vertriebene oder Flüchtlinge, auf jeden Fall als Zwangsmigranten aus Russland nach Deutschland gekommen sind, teils unter dem zaristischen, teils unter dem bolschewistischen Regime. Sie entfalteten in Deutschland ein reges kulturelles Leben, bis das nationalsozialistische Regime sie zum Weiterwandern zwang, sie erneut vertrieb. Ein anderes Beispiel bieten die deutschen Intellektuellen, die, vom nationalsozialistischen Regime ins Exil getrieben, in eines der unmittelbaren Nachbarländer auswichen und später unter dem Eindruck des sich ausweitenden Krieges und der deutschen Besetzung Europas weiterfliehen mußten. So ging etwa Heinrich Mann zunächst über Prag nach Frankreich, das er wegen der deutschen Besetzung wieder verlassen mußte, und dann über Spanien in die USA. Es erhebt sich die Frage: Welche Bindungen und Prägungen nehmen solche mehrfach Vertriebenen von wo nach wo? Wovon hängt es ab, ob und wo sich jemand akkulturiert oder an den mitgebrachten Werten und Formen festhält? Zunächst gibt es ganz praktische Motive, vor allem materielle Gründe, die Möglichkeiten zum Lebensunterhalt. Thomas Mann zum Beispiel gehörte zu den wenigen deutschen Schriftstellern im amerikanischen Exil, die von ihren Büchern leben konnten. Für Schauspieler, die sich in der Regel nur in ihrer Muttersprache künstlerisch auszudrücken vermochten, stellte sich das Problem anders als für Musiker oder Maler. Aber welche weiteren Gründe gibt es, die über diesen Aspekt der Lebensnotwendigkeiten hinaus reichen? Was wirkt hier bestimmend? Sicherlich spielen das Lebensalter und die Offenheit für Neues, die jeweilige persönliche Flexibilität eine wesentliche Rolle.

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Dieses Problem sah bei den innerdeutschen Vertreibungen von Eliten aus der DDR in die Bundesrepublik, wie oben angedeutet, wiederum anders aus. Der Kulturkreis, die Sprache und zum guten Teil auch das Publikum blieben weitgehend erhalten. So war die Autoren- und Künstlerelite der DDR oft auch in der Bundesrepublik bekannt, insbesondere wenn sie als Regimekritiker „Dissidenten" - galten. Häufig genug waren Bücher von DDR-Autoren nur in der Bundesrepublik verlegt worden und dann im Westen besser bekannt als im Osten. Eine Frage schließt sich an alle Arten der Flucht und Vertreibung von Eliten an: Welche Defizite hinterlassen sie in ihren Herkunftsländern, und welche Wirkungen erzielen sie in ihren Zielländern? Vor allem die Verluste und Rückschläge, die Deutschland sich mit der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Eliten, insbesondere der Intellektuellen, Künstler und Wissenschaftler, selbst zufugte, sind schon seit längerem Gegenstand intensiver Forschung.18 In anderen Ländern, die ihre jüdischen Eliten durch Vernichtung oder Vertreibung verloren haben, etwa die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten, Polen oder Ungarn, sind derartige Forschungen bis vor wenigen Jahren auf Grund der politischen Verhältnisse und ideologischen Vorgaben eher verhindert worden. Aber auch dort haben sich die Dinge zu ändern begonnen. Eine weitere Frage, die erst dank der Entwicklung der Geschlechtergeschichte aufgeworfen werden konnte, betrifft die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der gemeinsamen Situation des Vertriebenseins. Forschungen zur vertriebenen deutschen Elite während der Zeit des Nationalsozialismus haben einen Befund erbracht, der in der Banalität, mit der letztlich die traditionelle Rollenverteilung fortgeschrieben wurde, schon wieder bemerkenswert ist. Im Falle eine Ehepaares, in dem beide Partner Akademiker waren, bekam demnach üblicherweise die Frau ziemlich rasch eine bezahlte Arbeit, mit der sie zunächst die Rolle der Ernährerin der Familie übernahm. Dabei handelte es sich um einen Job im Haushalt als Putzfrau, Köchin oder Haushälterin. Der Mann hingegen blieb länger arbeitslos, und zwar mit der Begründung, eine einfachere als die früher ausgeübte Tätigkeit sei ihm nicht zuzumuten. Später erhielt er dann ein Stipendium, das ihm die Eingliederung in die Wissenschaftslandschaft des Zufluchtslandes ermöglichen sollte. Andererseits veränderten sich für die Frauen die Aussichten auf eine Änderung ihrer traditionellen geschlechtsspezifischen Rolle in weitem Umfang, zumal ihnen die Umstellung auf die andersgearteten Lebensverhältnisse offensichtlich eher

So zum Beispiel Kurt Düwell/Angela Genger/Kerstin Griese/Falk Wiesemann (Hg.): Vertreibung jüdischer Künstler und Wissenschaftler aus Düsseldorf 1933-1945. Düsseldorf 1998.

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und in einer praktischeren Weise gelang als den Männern.19 Diese auf wissenschaftlichem Wege gewonnene Beobachtung finden wir, wenn auch in etwas anderer Form, bereits in Lion Feuchtwangers zeitgenössischem Roman „Exil". Deutschland ist ein Land, das in seiner Geschichte alle Varianten der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung erlebt und realisiert hat. Das nationalsozialistische Regime hat „ethnische Säuberungen" ins Werk gesetzt, wie sie in diesen Formen und Dimensionen nicht vorstellbar gewesen waren: innerhalb Deutschlands und im besetzten Europa gegen die jüdische Bevölkerung, gegen Sinti und Roma, in Polen und in der Sowjetunion auch gegen die slawische Bevölkerung. Am raschesten und brutalsten ging das Regime bei der Vertreibung beziehungsweise Vernichtung der nationalen Eliten vor, und zwar mit dem Ziel einer geistig-sozialen „Enthauptung" der Gesellschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Vertreibung großer Teile der Eliten aus dem früheren Ostdeutschland und aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland zu einer Verschiebung gesellschaftlichen und geistigen Potentials innerhalb der gespaltenen Nation gefuhrt, die in Geschichte und Gegenwart ihresgleichen sucht. Verfolgung und Vertreibung hat es überall in der Welt und während der gesamten Menschheitsgeschichte gegeben, schon das Alte Testament berichtet häufig und ausfuhrlich davon. Die Geschichte der Juden ist eine Geschichte vielfältiger Verfolgungen und Vertreibungen. Wenn die Deutschen in der europäischen Geschichte von Verfolgungen und Vertreibungen eine gewisse Sonderstellung einnehmen, dann hängt dies wohl hauptsächlich mit den Wirkungen ihrer Geschichte in der Mitte Europas zusammen. Es ist schon vielfach darauf hingewiesen worden, dass die Deutschen das Volk mit den meisten Nachbarn in Europa und darüber hinaus sind. Das bedeutet, unterschiedlichen Einflüssen, Ansprüchen, Interessen und Beziehungen ausgesetzt zu sein und auf diese zu reagieren. Eine strukturelle Form der Reaktion darauf ist der ausgeprägte Hang zum Föderalismus, zeitweise sogar zur Vielstaatigkeit, der in einem eigenartigen Wechselverhältnis zu den Bemühungen um eine zentral orientierte Zusammenfassung steht. Eine andere Form mag in bestimmten Eigenschaften bestehen, die ausländische Beobachter den Deutschen insgesamt zuschreiben, wobei sie, zur Überraschung der Deutschen, die klaftertiefen Unterschiede zwischen den Regionen Deutschlands, ihrer Bevölkerung, ihrer Sprache und ihres Selbstverständnisses übergehen. Es soll hier mitnichten eine der nazistischen und fruchtlosen Diskussionen über den deutschen Nationalcharakter, wenn es dergleichen überhaupt gibt, gefuhrt werden. Diese Bemerkungen sollen lediglich zu der Frage hinführen,

Dazu ausführlicher und deutlich differenzierend der Beitrag von Hiltrud Häntzschel: Geschlechtsspezifische Aspekte, in: Handbuch (wie Anm. 5), Sp. 101-117.

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wo die Gründe für die wiederkehrenden Aufwallungen liegen, aus denen heraus Menschen, insbesondere Eliten im oben besprochenen Sinne, in Deutschland verfolgt und vertrieben worden sind. Diese Frage kann hier nicht wirklich beantwortet werden. Es scheint aber ein möglicher Grund in dem Bestreben zu liegen, Staat und Gesellschaft zusammenzufassen, sie neu zu organisieren, eindeutig zu orientieren und auf diese Weise nicht nur von außen einwirkende Einflüsse abzuwehren, sondern auch Kräfte, die nicht in die neu etablierte Ordnung passen, nach außen abzulenken, mit anderen Worten: Mißliebige aus dem angestrebten Ordnungssystem auszuschließen und womöglich noch für alle Mängel und Schwierigkeiten verantwortlich zu machen. Als Beispiel können die Religionskämpfe der Frühen Neuzeit dienen. Der Grundsatz „cuius regio, eius religio", mit dem die Einheit von fürstlichem Territorialstaat und konfessioneller Orientierung angestrebt wurde, lief auf die Absicherung einer geschlossenen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung nach innen und nach außen hinaus. Konsequenterweise zog diese Politik der Abgrenzung der Territorien und ihrer inneren Vereinheitlichung Vertreibungen ganzer Bevölkerungsgruppen nach sich. Innerhalb Deutschlands, wo sich die Territorialgliederung zur konfessionsverschiedenen Vielstaatigkeit entwickelte, führten die Vertreibungen meistens dazu, dass die betroffenen Menschen in einen deutschen Staat der eigenen Konfession ausweichen konnten. Hatte ein Staat wie Brandenburg-Preußen die religiöse Toleranz zu seinem Grundsatz erhoben, so entschied über die Aufnahme nicht die Konfession der Vertriebenen, sondern eher ihre Nützlichkeit für das menschenarme und entwicklungsbedürftige Land. Noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts siedelte König Friedrich Wilhelm I. die meisten der 20.000 Protestanten in Ostpreußen an, die der Salzburger Fürstbischof aus seinem Erzbistum vertrieben hatte (1731/32). Von dieser Haltung profitierten auch aus religiösen Gründen Vertriebene wie die Hugenotten. Sie kamen aus dem Nachbarland Frankreich, das, im Gegensatz zu Deutschland straff zentralistisch organisiert, den Katholizismus als Staatsreligion durchsetzte. Damit sind wir bei dem zweiten Aspekt der Mittellage Deutschlands: Es wurde Aufnahme- und Durchzugsland für Flüchtlinge und Vertriebene aus den Nachbarländern. Die Globalisierung, die sich nicht allein auf wirtschaftliche Aktivitäten und Informationstechnik beschränkt, hat in jüngster Zeit auch in dieser Hinsicht eine Veränderung bewirkt: Vertriebene, Flüchtlinge, Asylsuchende aus aller Welt machen sich auf den Weg nach Deutschland und zu den anderen Ländern der Europäischen Union. Häufig erkennt man in Europa nicht, dass sich unter diesen Menschen auch Angehörige der Eliten fremder Gesellschaften befinden. Schon im Falle der Iraner, insbesondere der iranischen Studenten, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die Bundesrepublik kamen und zum großen Teil in Opposition zu dem

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Schahregime standen, dessen Verfolgungen sie häufig ausgesetzt waren, verhielt sich das oft so. Hier wirkt sich die ambivalente, oft sehr restriktive und daher mitunter auch recht kurzsichtige Haltung der hiesigen Regierungen und Behörden aus. Anders sahen die Dinge aus, wenn Angehörige der intellektuellen und künstlerischen Elite aus der Sowjetunion vertrieben wurden und in der Bundesrepublik Aufnahme fanden. Abgesehen davon, dass es zahlenmäßig nicht viele waren, die zu Zeiten der Breshnew-Führung zwangsweise exiliert wurden, spielte der politische und propagandistische Aspekt einer solchen Aktion zu Zeiten der Rivalität zwischen den beiden weltpolitischen Lagern eine nicht zu unterschätzende Rolle. So fand die Ausweisung Alexander Solschenizyns (1974) und Lew Kopelews (1981) internationale Beachtung, zumal Heinrich Boll als erster Gastgeber der beiden Schriftsteller involviert war. Wie viel wohl von dem, was sie über die Verhältnisse in der Sowjetunion und über ihren Eindruck von den „westlichen" Gesellschaften zu sagen hatten, im „Westen" aufgenommen und verstanden wurde? Es mag bei der zweifelnden Frage bleiben. Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte des „langen" 19. und des 20. Jahrhunderts: Wann und aus welchen Gründen kamen vertriebene Eliten nach Deutschland? Wann und aus welchen Gründen wurden Eliten aus Deutschland vertrieben? Bei dem folgenden Versuch einer vorsichtigen, grob systematisierten Übersicht ist stets im Auge zu behalten, dass mit den Angehörigen der Eliten in der Regel auch Gruppen von Emigranten kamen, die nicht als Elite einzustufen sind, weiterhin, dass für die Emigranten Deutschland nicht das einzige, häufig auch nicht das hauptsächliche Zufluchtsland war. Ein Hauptgrund für Angehörige von Eliten, nach Deutschland zu emigrieren, war eine Revolution, die in ihrem Heimatland stattgefunden hatte. So wichen während der Französischen Revolution die adeligen Parteigänger der Royalisten nach Deutschland - und in andere Länder - aus, um der Verfolgung zu entgehen und im übrigen auch Stimmung gegen die Revolution zu machen. Sie kehrten nach Beendigung des Terrors, spätestens im Zuge der Wiederherstellung der Monarchie wieder nach Frankreich zurück. Die zweite Revolution, die Eliten nach Deutschland vertrieb, war die Revolution der Bolschewiki im Oktober 1917. Dazu gehörten in erster Linie der Angehörigen des Adels, weiterhin wirtschaftliche Unternehmer sowie führende Politiker, die als Gegner der Partei Lenins hervorgetreten waren. Hinzu kamen im Laufe des Bürgerkrieges Militärs der „Weißen Armeen" sowie in dem Maße, in dem die Bolschewiki ihre Position festigten und das Land in den Griff bekamen, nichtkommunistische Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller. Von dieser russischen Emigration blieb ein erheblicher Teil in Deutschland, wo die

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Intellektuellen und Künstler ein reges kulturelles Leben entfalteten,20 andere gingen in die Tschechoslowakei, nach Frankreich oder in die USA.21 Ein zweiter Hauptgrund fiir das Auftreten vertriebener Eliten in Deutschland war das Scheitern von Aufständen und Revolutionen. Hier ist an erster Stelle der Novemberaufstand 1830/1831 in Polen zu nennen. Für die geschlagenen Aufständischen war zwar Frankreich das Ziel, aber der Weg dorthin führte durch deutsche Staaten, deren Regierungen sie nicht so willkommen waren wie den liberal und national gesinnten Bürgern. Als Höhepunkt der Begeisterung, mit der die polnischen Insurgenten als Vorkämpfer eines freien Europa gefeiert wurden, ist das Hambacher Fest (1832) in die Geschichte eingegangen. Der polnische Januaraufstand 1863 traf auf eine veränderte politische Situation und Stimmung in Deutschland und Europa, Preußen und Russland waren zu enge Verbündete, als dass eine Wiederholung des Triumphzuges wie dreißig Jahre vorher möglich gewesen wäre. Zwei weitere Ereignisse fallen ins 20. Jahrhundert: In dem einen Fall handelt es sich um den Ungarnaufstand von 1956, nach dessen Niederschlagung durch sowjetische Truppen viele Emigranten, darunter viele Intellektuelle und Künstler, in der Bundesrepublik blieben. Der nächste Fall liegt etwas anders: In dem von tschechoslowakischen Kommunisten unternommenen Versuch, das oktroyierte Sowjetsystem in einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verwandeln, kann man wohl eine Art sozialistisch-demokratischer Revolution sehen. Nachdem dieser tapfere Versuch durch den Einmarsch der Verbände des Warschauer Paktes im August 1968 erstickt worden war, gingen viele, denen Verfolgung drohte, ins westdeutsche Exil. Schließlich können, drittens, im weitesten Sinne politische Gründe angeführt werden. Es muss nicht immer direkte Verfolgung vorliegen, vielmehr kann auch die Tatsache, dass die Verhältnisse im Heimatland aus politischen, sittlichen, religiösen Gründen abgelehnt und als unerträglich empfunden werden, also die persönliche Überzeugung, zur - unfreiwilligen - Emigration fuhren. Hier wäre vor allem auf russische Emigranten im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu verweisen. Zu den Verfolgten zählten Revolutionäre wie Michail Bakunin oder Wladimir I. Lenin. Zu denjenigen, die vor dem Druck des zaristischen Regimes nach Deutschland auswichen, gehörten Wissenschaftler und Künstler, zum Teil dieselben, die von den Bolschewiki später noch einmal vertrieben wurden. Welche Gründe führten zur Vertreibung von Eliten aus Deutschland beziehungsweise, in Anbetracht der erwähnten Vielstaatigkeit Deutschlands, aus 20 21

Karl Schlögel/Katharina Kucher/Bernhard Suchy/Gregor Thum (Hg.): Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918-1941. Berlin 1999. Karl Schlögel (Hg.): Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917-1941. München 1994.

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deutschen Staaten? Die gescheiterte Revolution 1848/1849 zwang etliche revolutionäre Kämpfer ins ausländische Exil, zum Beispiel Richard Wagner und Gottfried Semper. In diesem Zusammenhang wären auch noch revolutionäre Geister des Vormärz anzuführen, die sich zumindest zeitweise im Exil befanden und in die revolutionären Vorgänge persönlich oder mit ihren Schriften eingriffen; für sie können Namen wie Karl Marx, Heinrich Heine oder Georg Herwegh stehen. Ausdrückliche Erwähnung verdienen die „Göttinger Sieben", hochbedeutende Professoren der Göttinger Universität, unter ihnen die Gebrüder Grimm, Friedrich Christoph Dahlmann oder Georg Gottfried Gervinus. Zur Strafe für ihren von einer liberalen Grundhaltung getragenen Protest gegen die Ungesetzlichkeiten des Königs von Hannover wurden sie im Dezember 1837 aus ihrem Professorenamt entlassen und des Königreiches verwiesen. Einen wichtigen, wesentlich früheren Einzelfall stellte, hier auch zu benennen, der Freiherr vom Stein dar, der wegen seiner aufgeklärt nationalen Gesinnung, seiner preußischen Modernisierungspolitik und seiner Pläne zu einem Aufstand gegen die napoleonische Herrschaft bei Napoleon missliebig geworden, erst als Flüchtling in Böhmen leben musste und ab 1812 im russischen Exil als Berater Alexanders I. wirken konnte. Die späteren Revolutionen in Deutschland, 1918 und - nur im östlichen Teilstaat - 1989, führten nicht, wenn man vom Ehepaar Honecker absieht, zur Vertreibung irgendeiner Art von Eliten. Der Arbeiteraufstand von 1953 in der DDR war weder eine Revolution noch, nach dem Sprachgebrauch des Regimes, eine Konterrevolution. Gleichwohl sahen sich nach der Niederschlagung dieser Erhebimg viele zur Abwanderung in die Bundesrepublik veranlasst. Die deutsch-deutsche Fluchtbewegung, zeitweise auch die gezielte Verdrängung von Eliten aus der DDR, riss niemals ab, sie hatte aber ihre Konjunkturen, je nach dem politischen Kurs des Regimes sowie nach den Stimmungen und Befürchtungen in der Bevölkerung. Im Ganzen zeigt sich, dass Revolution, Aufstand und Opposition gegen unerträgliche Verhältnisse als Motive für die Vertreibung bzw. das unfreiwillige Exil von Eliten kaum voneinander zu trennen sind. Auf die Verschiebung des intellektuellen und künstlerischen Potentials von der DDR zur Bundesrepublik wurde bereits oben hingewiesen, ebenso auf die vielfaltigen Gründe und Formen der Vertreibung von Eliten durch das nationalsozialistische Deutschland. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass sich erhebliche Teile der russischen Emigration, die Deutschland als Zufluchtsland gewählt hatten, vom nationalsozialistischen Regime nicht mehr hinreichend akzeptiert und daher zur erneuten Emigration gezwungen sahen. Die großen, zum erheblichen Teil jüdischen Migrationsbewegungen aus Russland und Polen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Deutschland erreichten, zielten nur zum Teil auf Deutschland, zum größeren Teil gingen sie durch

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Deutschland hindurch nach Westeuropa und in die USA. Die in diesem Kontext problematische Zuordnung zur Elite wurde ebenfalls angesprochen. Längere Zeit hat man geglaubt, in der massenhaften Vertreibung deutscher Bevölkerung aus ihren alten Heimatgebieten im östlichen Europa, zum Teil aus den eroberten und in fremdes Staatsgebiet eingegliederten Ostgebieten des früheren Deutschen Reiches, die mit Billigung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges vorgenommen wurde, einen speziellen Fall in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sehen zu sollen. In der Endphase dieses unglückseligen Jahrhunderts hat sich herausgestellt, dass dies ein Irrtum ist und die Geschichte der Verfolgung und Vertreibung von Eliten und ganzen Bevölkerungsgruppen weder in Europa noch auf den anderen Kontinenten der Erde beendet ist. Kann man aus den hier vorgetragenen Überlegungen ein Fazit ziehen? Der Hinweis, noch viele Forschungen und Diskussionen seien erforderlich, ist sicherlich nicht falsch, erscheint aber nahezu als banal. Vielleicht eignet sich als Schluss und Übergang zu den weiteren Beiträgen wiederum eine Frage, die über das wissenschaftliche Interesse hinausreicht: Was fangen wir Deutsche mit diesen Kenntnissen und Erkenntnissen an?

Elitenwechsel. Die Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien 1920-1922 und die regionalen Führungsschichten VON WOLFGANG KESSLER

Durch die territorialen Regelungen des Versailler Vertrags erwarb der wiederentstandene Staat Polen vom Deutschen Reich bzw. vom Freistaat Preußen wesentlich zu Lasten der preußischen Provinzen Westpreußen und Posen sowie des Regierungsbezirks Oppeln der Provinz Schlesien 1 ein Gebiet im Umfang von 46.143 km 2 mit - nach dem Stand von 1910 - mehr als 3,8 Millionen Einwohnern, davon nach offiziellem Eingeständnis der deutschen Seite mehr als 60 Prozent mit polnischer Muttersprache.2 Als Teil Polens bildete der bis 1920 westpreußische Gebietsteil bis zur Verwaltungsreform des Jahres 1938 die Wojewodschaft Pommerellen (Pomorze), der größere zentrale und östliche Teil der Provinz Posen die Wojewodschaft Posen (Poznanskie) und der östliche Teil des Regierungsbezirks Oppeln zusammen mit den an Polen gefallenen Teilen des österreichischen Kronlands Schlesien (Slezsko) die Wojewodschaft Schlesien (Sl3.sk).

Die Gebietsverluste der Provinzen Brandenburg und Pommern durch Grenzkorrekturen waren unwesentlich: die Gebietsabtretungen der Provinz Ostpreußen (wesentlich das Gebiet von Soldau) und der niederschlesischen Grenzkreise betrug jeweils wenig mehr als 500 km2. Gottfried Fittbogen: Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslanddeutschtum wissen muß. München/Berlin 61919, S. 35. - Die Statistik selbst wurde während des Ersten Weltkriegs, spätestens aber im Vorfeld der Friedensverhandlungen zum Element der Propaganda, vgl. Jerzy Tomaszewski: Rzczeczpospolita wielu narodöw [Eine Republik vieler Völker], Warszawa 1985, S. 25-37. Eine zuverlässige Zusammenstellung für die Abtretungsgebiete fehlt, die wesentlichen Daten nach dem Stand vor dem Ersten Weltkrieg enthält jetzt Leszek Belzyt: Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815-1914. Die preußische Sprachenstatistik in Bearbeitung und Kommentar (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas 3). Marburg 1998.

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1. Forschungsstand Die Beschäftigung mit den Regionen im preußischen Osten mit deutscher und polnischer Bevölkerung und mit den aus der Grenzziehung von 1919 resultierenden Fragen stand auf polnischer wie auf deutscher Seite lange unter politischem Legitimationsdruck. Der seit den drei Teilungen Polens 1772-1795 bestehende, spätestens seit 1848 nationale, nach der Reichsgründung von 1871 sich entscheidend verschärfende Konflikt in den preußischen „Ostmarken", den Provinzen Posen und Westpreußen, und - mit zeitlicher Verschiebung - in Oberschlesien ließ beiden Seiten wenig Raum zu nüchternen Analysen.3 Nach dem Ersten Weltkrieg geriet der deutsche Diskurs über den „verlorenen" Osten in den Sog der Revisionspropaganda gegen „Versailles", während die polnische Seite in ähnlicher Weise um die historische und nationale Begründung ihrer Ansprüche bemüht war. Die in den vom Deutschen Reich abgetretenen Gebieten im Westen wie im Osten verbliebene deutsche Bevölkerung wurde bewußt mit dem Hintergrund des Ziels der Grenzrevision im Unterschied zum „Auslanddeutschtum" als „Grenzdeutschtum" deklariert. Der durchaus als politischer Anspruchsraum gedachte „Volksboden" bestimmte den geographischen Rahmen der deutschtumszentrierten „Volksforschung".4 Die polnische „Westforschung" stand der deutschen „Ostforschung" an politisch-nationalen politischen Prioritätensetzungen in nichts nach.5

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Eine der wenigen Ausnahmen, in der der polnischen Seite - wenn auch knapp - Raum für ihre Argumente gegeben wurde, ist: Ludwig Bernhard (Hg.): Preußische Städte im Gebiet des Nationalitätenkampfes (Schriften des Vereins für Socialpolitik 119,1). Leipzig 1909. Michael Fahlbusch: „Wo der deutsche ... ist, ist Deutschland!" Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920-1933 (Abhandlungen zur Geschichte der GeoWissenschaften und Religion/Umwelt-Forschung 6). Bochum 1994; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143). Göttingen 2000, S. 25-69. Vgl. Wolfgang Kessler: Die deutsche Bevölkerung Pommerellens und Großpolens nach dem Ersten Weltkrieg (1919-1929), in: Hermann Rauschning: Die Abwanderung der Deutschen aus Westpreußen und Posen nach dem Ersten Weltkrieg [Nachdruck von Rauschning, Die Entdeutschung Westpreußens und Posens. Berlin 1939], Essen 1988, S. VII-LXIII, hier XIII; Przemyslaw Hauser: Die deutsche Minderheit in Polen 1918-1933, in: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1919-1932 (Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung 22/VIII). Braunschweig 1985, S. 67-88, hier 67; Ders.: Die deutsche Minderheit in Polen 1918-1939 und der Stand der Historiographie, in: Hans van der Meulen (Hg.): Anerkannt als Minderheit. Vergangenheit und Zukunft der Deutschen in Polen. Baden-Baden 1994, S. 21-38, hier 21-23.

Elitenwechsel - die Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien

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Sehen wir von wenigen Arbeiten zur politischen Ideengeschichte ab,6 orientiert sich die deutsche und die polnische historische Forschungsliteratur wesentlich am Epochenbruch von 1918/1922. Epochenjahrübergreifende Untersuchungen, wie sie jetzt, Vor- und Nachkriegszeit einbegreifend, für das deutsch-polnische Verhältnis der Zeit des Zweiten Weltkriegs vorliegen,7 fehlten bis in die jüngere Zeit ebenso wie die gesamte Gesellschaft, also den deutschen und den polnischen Bevölkerungsteil einbeziehende sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Untersuchungen. Kritische zeitgenössische Analysen wie Hellmut von Gerlachs Bestandsaufnahme der preußischen Polenpolitik bei deren Ende im Jahre 19198 sind, wenn nicht ignoriert, nur offensiv bekämpft und abgelehnt worden. Erst 1983 hat Werner Conze9 einen vom traditionellen Antagonismus in Wahrnehmung und Darstellung abgehenden, weiterführenden Ansatz entwikkelt. Rudolf Jawörski zeigte 1986 in seinen „Studien zur Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen" in der wilhelminischen Zeit die Zusammenhänge zwischen der deutschen und der polnischen Seite im „Nationalitätenkampf' auf.10 Am Beispiel des 1920 geteilten westpreußischen Kreises Flatow hat jetzt Mathias Niendorf wesentliche Einblicke in die lokale Gesellschaft ermöglicht und den Wert der Langzeitanalyse demonstriert.11 Auf der polnischen Seite hat Przemystaw Hauser mehrfach, zuletzt in seiner Arbeit über die deutsche Minderheit in der Wojewodschaft Pommerellen, eindrücklich demonstriert, wie man eine solche Geschichte im Kontext der Gesamtgesellschaft der Region ohne national-politischen Imperativ und ohne

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Hier ist vor allem zu nennen Marian Mroczko: Ziemie dzielnicy pruskiej w polskich koncepcjach i dzialalnoäci politycznej 1864-1939 [Die preußischen Teilgebiete in den polnischen politischen Konzeptionen und der praktischen Politik 1864-1939], Gdansk 1994. Wlodzimierz Borodziej/Klaus Ziemer (Hg.): Deutsch-polnische Beziehungen 1939— 1945-1949. Eine Einfuhrung (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 5). Osnabrück 2000. Hellmut von Gerlach: Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik (Flugschriften des Bundes Neues Vaterland 14). Berlin 1919. - Zusammenfassend zur preußischen Polenpolitik immer noch Martin Broszat: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. Frankfurt am Main 21972. Werner Conze: Nationsbildung durch Trennung. Deutsche und Polen im preußischen Osten, in: Otto Pflanze (Hg.): Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 2). München 1983, S. 95-119, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Werner Conze: Gesellschaft - Staat - Nation. Gesammelte Aufsätze (Industrielle Welt 52). Stuttgart 1992, S. 374-400. Rudolf Jaworski: Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen 1871-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 70). Göttingen 1986. Mathias Niendorf: Minderheiten an der Grenze. Deutsche und Polen in den Kreisen Flatow (Zlotöw) und Zempelburg (Sgjolno Krajenskie) 1900-1939 (Quellen und Studien/Deutsches Historisches Institut Warschau 6). Wiesbaden 1997.

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minderheitsimmanente Martyrologie schreiben kann. 12 Witold Molik hat, in Deutschland noch gar nicht rezipiert, den Forschungsstand und die Forschungsprobleme zum traditionell auf deutscher wie polnischer Seite wissenschaftlich marginalisierten bis ignorierten Phänomen von nationaler Assimilation und Akkulturation - und damit den Prozeßcharakter interethnischer Beziehungen im deutsch-polnischen Verhältnis - herausgearbeitet.13 Was die Erforschung deutsch-polnischer historischer Probleme im Raum Posen-Westpreußen bzw. Pommerellen-Großpolen betrifft, ist insgesamt die Tendenz zur gemeinsamen Erforschung gemeinsamer Fragestellungen unübersehbar, auch wenn der jeweilige historiographische und erinnerungskulturelle Kontext weiterwirkt. 14 Für Oberschlesien fehlen bislang für die vergleichbaren nationalitätenpolitischen Nahtstellen ähnliche Ansätze, was auf die Belastung des historiographischen Klimas durch die Folgen der Abstimmungs- und Revisionspropaganda in den 1920er Jahren zurückzuführen ist, sicherlich aber auch in Deutschland wie in Polen auf wissenschaftsorganisatorische Gründe.15

Przemyslaw Hauser: Mniejszosc niemiecka na Pomorzu w okresie miçdzywojennym [Die deutsche Minderheit in Pommerellen in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen] (Seria Historia/Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 193). Poznan 1998. - Grundsätzlich zur Minderheitenhistoriographie Wolfgang Kessler: Die gescheiterte Integration. Die Minderheitenfrage in Ostmitteleuropa 1919-1939, in: Hans Lemberg (Hg.): Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918-1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 3). Marburg 1997, S. 161-188, hier 163. Witold Molik: Procesy asymilacyjne i akulturacyjne w stosunkach polsko-niemieckich w XIX i na pocz^tku XX wieku. Stan i postulaty badan [Die Assimilations- und Akkulturationsprozesse in den polnisch-deutschen Beziehungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Forschungsstand und Forschungspostulate], in: Witold Molik/Robert Traba (Hg.): Procesy asymilacyjne i akulturacyjne na pograniczu polskoniemieckim w XIX i na poczqtku XX wieku. Poznan 1999, S. 65-96. Wolfgang Kessler: Zwischen Deutschland und Polen. Zu Geschichte und Geschichtsschreibung des preußischen Ostens und des polnischen Westens, in: Matthias Weber (Hg.): Deutschlands Osten - Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde (Mitteleuropa - Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas 2). Frankfurt am Main 2001, S. 31-81, hier 79; zur historiographischen Entwicklung vgl. Wolfgang Kessler: Die Geschichte der Deutschen in Großpolen im Spiegel der deutschen Historiographie nach 1945, in: Jerey Kioczkowski u.a. (Hg.): Doswiadczenia przeszlosci. Niemcy w Europie SrodkowoWschodniej w historiografü po 1945 roku [Erfahrungen der Vergangenheit: Deutsche in Ostmitteleuropa in der Historiographie nach 1945] (Tagungen zur OstmitteleuropaForschung 9). Lublin/Marburg 2000, S. 118; zur polnischen Forschung Jerzy Koztowski: Niemcy w Wiekopolsce w historiografü polskiej po 1945 roku [Die Deutschen in Großpolen in der polnischen Historiographie nach 1945], in: Ebd., S. 87-100. - Ein Beispiel für Zusammenarbeit ist der Beitrag von Krzysztof A. Makowski: Deutsche in Posen (1815-1870), in: Joachim Rogall (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land der großen Ströme. Berlin 1996, S. 234-262. Zur deutschen Forschungslandschaft Matthias Weber: Zur deutschen Historiographie über Schlesien nach 1945, in: Jerzy Kloczkowski u.a. (Hg.): Doswiadczenia przeszlosci (wie Anm. 14), S. 133-146, hier 139-140. Die polnischen Forschungszentren in

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Der speziellen Fragestellung nach den Eliten ist die polnische Forschung unter nationalem A s p e k t mehrfach nachgegangen. Szczepan Wierzchosiawski hat in diesem Sinne im Jahre 1992 die „Eliten der polnischen Nationalbewegung in den Provinzen Posen und Westpreußen in den Jahren 1 8 5 0 - 1 9 1 4 " untersucht, Jozef Borzyszkowski die polnische Intelligenz in Westpreußen im selben Untersuchungszeitraum. 1 6 Für den Raum der Provinz P o s e n hat Witold M o l i k wesentliche Arbeiten über die polnische Intelligenz und den Großgrundbesitz vorgelegt. 1 7 Von deutscher Seite enthält die Dissertation Joachim Rogalls die wesentlichen Daten über die evangelisch-unierte Geistlichkeit im deutschen Kaiserreich. 1 8 Was Oberschlesien betrifft, ist die Elitenforschung über erste A n f a n g e nicht herausgekommen. Konrad Fuchs hat, auf Vorarbeiten A l f o n s Perlicks aufbauend, biographische Materialien über die wirtschaftlichen Führungskräfte vor 1914 zusammengetragen, Marek Czaplinski hat die Rolle der preußischen Landräte in Oberschlesien untersucht. 19 Mit dem Groß-

Wroclaw (Breslau), Opole (Oppeln) und Katowice (Kattowitz) kooperieren untereinander offensichtlich kaum. Ein deutsch-polnischer Dialog besteht hier wohl am ehesten im Bereich der Wirtschaftsgeschichte, vgl. Toni Pierenkemper (Hrsg.): Industriegeschichte Oberschlesiens im 19. Jahrhundert. Rahmenbedingungen, gestaltende Kräfte, infrastrukturelle Voraussetzungen, regionale Diffusion (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 8). Wiesbaden 1992. Szczepan Wierzchosiawski: Elity polskiego ruchu narodowego w Poznanskiem i w Prusach Zachodnich w latach 1850-1914 [Die Eliten der polnischen Nationalbewegung in der Provinz Posen und in Westpreußen 1850-1914] (Roczniki Towarzystwa Naukowego w Toruniu 85, 3). Torun 1992; Jözef Borzyszkowski: Inteligencja polska w Prusach Zachodnich 1848-1920 [Die polnische Intelligenz in Westpreußen 18481920], Gdansk 1986. Witold Molik: Ksztalowanie si? inteligencji polskiej w Wielkim Ksi^stwie Poznanskim (1841-1870) [Die Herausbildung der Intelligenz im Großherzogtum Posen 1841-1870]. Warszawa 1979; Ders.: Polskie peregrynacje uniwersyteckie do Niemiec 1871-1914 [Das Studium polnischer Studenten an deutschen Universitäten 1871— 1914] (Seria Historia/Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 150). Poznan 1989; Ders.: Zycie ziemianstwa w Wielkopolsce w XIX i na poczqtku XX wieku [Das Leben der Großgrundbesitzer in Großpolen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts]. Poznan 1999. Joachim Rogall: Die Geistlichkeit der Evangelisch-Unierten Kirche in der Provinz Posen 1871-1914 und ihr Verhältnis zur preußischen Polenpolitik (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 6). Marburg 1990. Alfons Perlick: Oberschlesische Berg- und Hüttenleute. Lebensbilder aus dem oberschlesischen Industrierevier (Veröffentlichung der „Oberschlesischen Studienhilfe" 3). Kitzingen 1953; Konrad Fuchs: Wirtschaftliche Führungskräfte in Schlesien 18501914, in: Zeitschrift für Ostforschung 21 (1972), S. 264-288, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Konrad Fuchs: Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens 1871-1945. Aufsätze (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa, Reihe A 36). Dortmund 1981, S. 81-117; Marek Czaplinski: Die preußischen Landräte in Oberschlesien (1873-1918). Versuch einer Analyse, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 32 (1991), S. 221-237. Weiterfuhrend ist jetzt auch ders.: Der Oberschlesier - Staatsbürger oder Untertan? Zur preußischen Politik der Jahre 1807-1914, in: Hans Henning Hahn/Peter Kunze (Hg.): Nationale Minder-

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grundbesitz in Oberschlesien hat sich Wiesiawa Korionowska befaßt.20 Für die Schwerindustrie in der polnischen Wojewodschaft Schlesien analysiert nur Mieczysiaw Grzyb die nationalitätenpolitischen Aspekte der Veränderungen in der Eigentums- und in der Führungsstruktur zwischen 1922 und 1939.21 In „Volkspolen" war bis in die 1980er Jahre die Beschäftigung der 1939 bzw. 1945 entmachteten Eliten politisch unerwünscht.22 Auf der deutschen Seite wurde eher das „Volksganze" als die Elite betont, schon um im polnischdeutschen Konflikt vermeintlich bessere Argumente zu haben.

2. Ausgangslagen: Die Eliten vor 1914 Seit sich seit Ende des 18. Jahrhunderts „ein bedeutender Teil der polnischen Gebiete unter preußischer Herrschaft befand, war die Geschichte Polens unlösbar mit der Geschichte des preußischen Staates und seiner territorialen Expansion verbunden".23 Der Staat Preußen erwarb mit seinen östlichen Provinzen einen erheblichen Anteil polnischer Bevölkerung. Die Territorien der 1815 eingerichteten preußischen Provinzen Westpreußen und Posen waren bis zu den Teilungen Polens in den Jahren 1772 bzw. 1793 als königliches Preußen bzw. Großpolen24 Teil der polnischen Adelsrepublik. Im Unterschied dazu war Oberschlesien seit dem Mittelalter nicht mehr Teil eines polnischen Staatsverbandes gewesen, sondern gehörte zur böhmischen Krone und seit 1740 zum Königreich Preußen. Eine entwickelte polnische Gesellschaft oder gar ein polnischer Adel bestand hier nicht. Großpolen war das historische Zentrum des polnischen Staats mit einer entwickelten adelsnationalen Agrargesellschaft ohne Kleinadel, in der auch unter der preußischen Regierung der Adel Träger der polnischen Nationalidee blieb.25 Beginnend mit der Bauernbefreiung im Großherzogtum Posen 1823

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heiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert. Berlin 1999, S. 81-91. Wieslawa Korzeniowska: Ziemianstwo na Görnym Sl^sku w XIX i XX wieku [Der Großgrundbesitz in Oberschlesien im 19. und 20. Jahrhundert]. Opole 1997. Mieczysiaw Grzyb: Narodowosciowo-polityczne aspekty przemian stosunköw wlasnosciowych i kadrowych w gömoslqskim przemysle w latach 1922-1939 [Die nationalitätenpolitischen Aspekte der Veränderungenin den Eigentums- und Kaderstrukturen in der oberschlesischen Industrie 1922-1939]. Katowice 1978. Korzeniowska: Ziemianstwo (wie Anm. 20), S. 7-8. Stanislaw Salmonowicz: Preußen. Geschichte von Staat und Gesellschaft. Herne 1995, S. 19. Die preußische Provinz Posen wurde 1815 aus dem Netzedistrikt (mit dem Zentrum Bromberg) und dem größeren westlichen und mittleren Teil Großpolens gebildet. Das östliche Großpolen u.a. mit den Städten Kalisz und Konin wurde Teil des Königreichs Polen („Kongreßpolen"). Conze: Nationsbildung durch Trennung (wie Anm. 9), S. 385.

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und beschleunigt seit der Revolution von 1848 erweiterte sich hier und in Westpreußen - anders als in den Gebieten, die nicht zur Adelsrepublik gehört hatten - die polnische Adelsnation zur modernen Nation mit eigener Intelligenz und eigener Führungsstruktur.26 Auffallig ist die Auseinanderentwicklung der deutschen und der polnischen Gesellschaft vor allem in der Provinz Posen. Hier hatten die preußischen Behörden zunächst auf die „Anziehungskraft der preußisch Zivilisation auf die polnischen sprechenden Untertanen" gesetzt und versucht, den Grundbesitz über die Landstände in den preußischen Staat einzubinden. Kommunale Angelegenheiten waren lange Jahre noch nicht nationale Prestigefragen zwischen Polen, Deutschen und Juden.27 Der Großgrundbesitz verlor in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Führung der polnischen Gesellschaft an die katholische Kirche, die Intelligenz und das aufsteigende Bürgertum. Zugleich schloß die preußische Politik den polnischen Bevölkerungsteil von allen öffentlichen Ämtern aus. Die polnische Gesellschaft distanzierte sich nach 1871, befordert noch vom Kulturkampf, immer mehr vom preußischen Staat und bildete eine Parallelgesellschaft aus mit eigenen Organisationsstrukturen, eigenen Wirtschaftsorganisationen und eigenen Vertretern in den Parlamenten. Vor allem durch die Vermittlung der katholischen Kirche erhielt die polnische Nationalbewegung eine Basis in der Landbevölkerung, die durch den Kulturkampf endgültig dem preußisch-deutschen Staat entfremdet wurde. Die wirtschaftliche Führungsschicht in Handel und Industrie war nach der vom Staat geforderten Akkulturation der jüdischen bürgerlichen Bevölkerung an das deutsche Bürgertum überwiegend deutsch-jüdisch und tendierte seit der Reichsgründung von 1871, verstärkt aber seit dem Jahrhundertende zur Abwanderung vor allem nach Berlin.28

Ebd., S. 380 f. - Zum Forschungsstand vgl. Witold Molik: Die preußische Polenpolitik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Überlegungen zu Forschungsstand und -Perspektiven, in: Hans Henning Hahn/Peter Kunze (Hg.): Nationale Minderheiten (wie Anm. 19), S. 29-39. Jaworski: Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf (wie Anm. 10), S. 20, 22. Stefi Jersch-Wenzel: Zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Provinz Posen im 19. Jahrhundert, in: Gotthold Rhode (Hg.): Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3). Marburg 1989, S. 73-85, hier 80-82; zuletzt Krzysztof Makowski: Polen, Deutsche und Juden und die preußische Politik im Großherzogtum Posen. Versuch einer neuen Sicht, in: Hans Henning Hahn/Peter Kunze (Hg.): Nationale Minderheiten (wie Anm. 19), S. 51-60; zur jüdischen Abwanderung Ludwig Bernhard: Die Städtepolitik im Gebiet des deutsch-polnischen Nationalitätenkampfes, in: Ders. (Hg.): Preußische Städte im Nationalitätenkampf (wie Anm. 3), S. I-XXXIII, hier XIV-XIX; vgl. auch Witold Molik: Sozialer Aufstieg durch Bildung. Jüdische Abiturienten von Gymnasien im Großherzogtum Posen und die Richtung ihrer Berufskarrieren in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des Jahrhunderts, in: Nordost-Archiv N.F. 1 (1992), S. 4 6 1 ^ 8 5 .

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In der Provinz Westpreußen bildeten die protestantisch-deutschen Städte, insbesondere die Provinzalhauptstadt Danzig und Elbing, ein Gegengewicht gegen den im Vergleich zur Provinz Posen schwächeren polnischen Adel, der nichtsdestoweniger bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts der entscheidende Faktor innerhalb der polnischen Gesellschaft Westpreußens blieb.29 Anders als im Zentrum und im Osten der Provinz Posen fehlte hier noch weitgehend das polnische bürgerliche Element. Die Arbeiterschaft in den sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Industriezentren Elbing und Danzig war zu zwei Dritteln deutschsprachig, Handel und Verkehr sowie die Freien Berufe wurden eindeutig vom deutschen Bevölkerungsteil dominiert, während in der Landwirtschaft der polnischsprachige Bevölkerungsteil vorherrschte. Die Städte und Gutsbezirke waren hier mehrheitlich deutsch-protestantisch, während immerhin knapp 30 Prozent der katholischen Bevölkerung in den Landgemeinden deutschsprachig waren.30 Der konfessionelle Unterschied verstärkte die Abgrenzung zwischen Deutschen und Polen. Zusammenarbeit entwickelte sich eigentlich nur bei gemeinsamen ökonomischen Interessen zum Beispiel von polnischen und deutschen Arbeitern, während sich der deutsche und der polnische Bevölkerungsteil auf den Ebenen von Kultur und Politik immer stärker abgrenzte und auseinanderentwickelte.31 Entscheidende Auswirkungen auf das polnisch-deutsche Verhältnis hatte die Reichsgründung des Jahres 1871. Anders als das Königreich Preußen war das neue deutsche Kaiserreich seinem Selbstverständnis nach ein deutscher Nationalstaat.32 Die Bismarcksche Sprachenpolitik verdrängte die polnische Sprache seit 1873 aus dem staatlichen Leben, der Kulturkampf verschärfte die Distanz zwischen den katholischen Polen und dem protestantischen preußischdeutschen Staat. In der Provinz Posen hatte die Gleichsetzung von ,protestan-

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Peter Böhning: Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen 1815-1871. Ein Beitrag zum Integrationsprozeß der polnischen Nation (Marburger Ostforschungen 33). Marburg/Lahn 1993, S. 187. Stefan Hartmann: Zu den Nationalitätenverhältnissen in Westpreußen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Zeitschrift für Ostforschung 42 (1993), S. 391-^05, hier 395-397; vgl. Stefan Kowal: Spoleczenstwo Wielkopolski i Pomorza Nadwislanskiego w latach 1871-1914. Przemiany demograficzne i spoleczno-zawodowe [Die Gesellschaft Großpolens und Pommerellens 1871-1914. Die Veränderungen im Bereich der Demographie und der sozialen und Berufsstruktur] (Seria Historia/Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 105). Poznan 1982. Kazimierz Wajda: Polacy i Niemcy w Prusach Zachodnich w XIX i pocz^tkach XX wieku [Polen und Deutsche in Westpreußen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts], in: Mieczyslaw Wojciechowski (Hg.): Mniejszosci narodowe i wyznaniowe na Pomorze w XIX i XX wieku (Stosunki narodowosciowe i wyznaniowe na Pomorzu w XIX i XX wieku 6). Torun 1998, S. 7-22, hier 21. Theodor Schieder: Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 20). Köln/Opladen 1961.

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tisch' mit ,deutsch' und von ,katholisch' mit ,polnisch' ihre Berechtigung, war doch die Zahl katholischer Deutscher wie protestantischer Polen gering. In den 1870er und 1880er Jahren blühte die „organische Arbeit", die Sammlung und Selbstorganisation der polnischen Nationalgesellschaft über den Kreis der alten Eliten hinaus auf allen sozialen Ebenen. Vor allem bei den Reichstagswahlen mit ihrem allgemeinen und gleichen Wahlrecht zeigte sie politische Erfolge, während im preußischen Landtag und vor allem auf der kommunalen Ebene das Dreiklassenwahlrecht und willkürliche Entscheidungen der Administration eine sozialen und ökonomischen Verhältnissen adäquate Repräsentation einschränkten oder verhinderten.33 Nach dem Ende des Kulturkampfes kam es unter Reichskanzler Leo von Caprivi zu einer kurzfristigen Entspannung im deutsch-polnischen Verhältnis. Die Gründung des „Ostmarkenvereins" war 1894 eine Reaktion auf die Stärkung der Position der polnischen Teilgesellschaft.34 Der Ostmarkenverein wachte aber eifrig darüber, daß kein Pole in den Ostmarken im Staatsdienst, bei Bahn oder Post eine Anstellung fand.35 Die Einflußnahme des Ostmarkenvereins verstärkte die Bruchstelle zwischen der deutschen und der polnischen Gesellschaft und die bestehenden Parallelentwicklungen. Werner Conze hat diesen Prozeß treffend als „Nationsbildung durch Trennung" beschrieben.36 Der Selbstorganisation der polnischen Gesellschaft stand eine staatlich subventionierte deutsche Gesellschaft mit staatlich geforderten Kultureinrichtungen wie dem Kaiser-Friedrich Museum (1903) und der Kaiser-WilhelmBibliothek (1904) in Posen und subventionierter Ostmarken-Literatur37 gegenüber. Öffentliche Bauten wie das Posener Schloß, die bis heute in Posen stadtbildprägend geblieben sind, manifestierten den preußisch-deutschen Herrschaftsanspruch.38 Die „Ansiedlungskommission" forderte seit 1886 die

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Bernhard: Die Städtepolitik (wie Anm. 28), S. XX-XXII; Karpinski: Gnesen, in: Bernhard (Hg.): Preußische Städte im Nationalitätenkampf (wie Anm. 3), S. 183-202, hier 185-191. Sabine Grabowski: Deutscher und polnischer Nationalismus. Der deutsche Ostmarken-Verein und die polnische Straz 1894-1914 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 3). Marburg 1998, S. 27 ff. Ebd., S. 128 ff. Conze: Nationsbildung durch Trennung (wie Anm. 9). Maria Wojtczak: Literatur der Ostmark. Posener Heimatliteratur (1890-1918) (Seria Filologia Germanska/Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 43). Poznan 1998. Wolfgang Hofmann: Reichshauptstadt und Hauptstadt der „Ostmarken". Staatlicher Städtebau in Berlin und Posen im deutschen Kaiserreich (1871-1914), in: Jerzy Topolski/Witold Molik/Krzsztof Makowski (Hg.): Ideologie, pogl£(dy, mity w dziejach Polski i Europy XIX i XX wieku. Studia historyczne (Seria Historia / Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 170). Poznan 1991, S. 25-37.

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Ansiedlung deutscher Bauern auf „Rentengütern".39 Die wirtschaftliche Position des deutschen Bevölkerungsteils war in Handel, Gewerbe und Industrie stärker als der des polnischen, während im Handwerk ein Gleichgewicht herrschte.40 Um die Jahrhundertwende begann die polnische Seite ihre Abgrenzungspropaganda: „Swoj do swojega", „Jeder zu den Seinen", lautete die Parole, nur bei Polen zu kaufen. Die Reaktion von deutscher Seite war wenig erfolgreich. Die polnische Nationaldemokratie forcierte den „ökonomischen Abwehrkampf', der sich in vielleicht noch stärkerem Maße als gegen die deutschen gegen die jüdischen Kaufleute richtete.41.Während sich die kleine Gruppe ökonomisch starker jüdischer Großbürger behaupten und weiter eine wesentliche Rolle im Wirtschafts- und im deutschen Gesellschaftsleben spielen konnte, wurden die jüdischen Kleinhändler von deutscher und polnischer Seite verdrängt. Neben der polnischen Arbeitsmigration vor allem nach Berlin und ins rheinisch-westfälische Industriegebiet war damals eine starke Abwanderung der jüdischen Bevölkerung zu beobachten, ebenso der Wechsel zum Christentum. In der deutschen Gesellschaft dominierte immer mehr das provinzfremde Element, für das der Aufenthalt in der wenig geliebten Provinz einen Karrieresprung darstellte: Beamte, evangelische Pastoren und andere Funktionsträger kamen aus dem übrigen Deutschen Reich. Nach einer polnischen Propagandaschrift im Umfeld der Pariser Friedensverhandlungen 1919 war , jeder vierte Deutsche im großpolnischen Gebiet Beamter oder Angehöriger einer Beamtenfamilie bzw. Militärangehöriger", und für Westpreußen beziffert derselbe Autor den Anteil auf 20 Prozent.42 Diese staatlichen Funktionsträger hatten zumeist kein eigentliches Interesse an der Region, kannten in der Regel nicht die polnische Sprache und hielten Distanz auch zur deutschen einheimischen Bevölkerung. Wo einheimische Bevölkerung traditionell zusammenlebte, funktionierte dagegen die Nachbarschaft offensichtlich über die nationalen Grenzen hinaus.43 Gerade für ländliche und kleinstädtische Milieus gibt es BeBroszat: Zweihundert Jahre (wie Anm. 8), S. 148 f.; Witold Jaköbczyk: Kolonizatorzy i HakatySci [Kolonisatoren und Hakatisten], Poznan 1989. Jerzy Koztowski: Niemcy w Poznanskiem do 1918 roku [Die Deutschen in der Provinz Posen bis 1918], in: Andrzej Sakson (Hg.): Polska - Niemcy - mniejszoäc niemiecka w Wielkopolsce. Przeszlosö i terainiejszosd (Studium Niemcoznawcze Instytutu Zachodniego 67). PoznaA 1994, S. 7-31, hier 28. Jaworski: Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf (wie Anm. 10), S. 133. Czeslaw Andrzejewski: Zywiol niemiecki w Zachodniej Polsce. Pogl^d statystyczny [Der deutsche Bevölkerungsteil in Westpolen. Statistische Übersicht]. Poznan 1919, S. 32; nach Rogall: Die Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 14, stammten nur 44,8 Prozent der evangelischen Pastoren aus der Provinz Posen, immerhin aber 71,2 Prozent aus den preußischen Ostprovinzen. Dazu Niendorf: Minderheiten an der Grenze (wie Anm. 11).

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lege, daß die konfessionelle Organisation der Gesellschaft lange gewirkt hat und der nationale Konflikt mit seinem Abgrenzungszwang von außen in die lokale Gesellschaft hineingetragen worden ist.44 Die preußische Polizei verfolgte den polnischen Aktivismus mit geheimdienstlichen Methoden. Sie ging schikanös gegen polnische Geschäftsleute vor. Die Einstellung des muttersprachlichen Religionsunterrichts zugunsten des deutschsprachigen führte 1907-1908 zu erbitterten Schulstreiks. Das „Enteignungsgesetz" ging 1908 erstmals vom Prinzip der Rechtsgleichheit ab und diskriminierte offen den polnischen Bevölkerungsteil.45 Bezeichnenderweise war das Datum des Inkrafttretens ausschlaggebend für die Regelungen des Versailler Friedensvertrags von 1919 bezüglich der Option für die deutsche bzw. die polnische Staatsbürgerschaft. Oberschlesien war wie Posen-Westpreußen nach der Reichsgründung von 1871 dem Germanisierungsdruck und dem Kulturkampf ausgesetzt. Hier dominierte die polnische Sprache,46 es fehlte aber, anders als im Posenschen, eine funktionierende polnische Gesellschaft oder überhaupt eine polnischnationale Führungsschicht. Das Bekenntnis zur katholischen Kirche hatte hier keine national unterscheidende Funktion, waren doch etwa 90 Prozent der Bevölkerung des Regierungsbezirks Oppeln katholisch, davon ca. 35 Prozent deutsch und 65 Prozent polnischsprachig.47 Die industrielle Entwicklung im Industriegebiet um Beuthen, Gleiwitz und Kattowitz setzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Eine Besonderheit war die enge Verknüpfung der Schwerindustrie mit dem feudalen Grundeigentum, so daß ein spezifischer Typ des Unternehmers, der oberschlesische Magnat, entstand.48 Erst später folgten Kapitalgesellschaften. Die Führungskräfte der Wirtschaft und der Beamtenschaft kamen überwiegend aus anderen Regionen Preußens und Deutschlands bzw. wurden nach Oberschlesien versetzt. Dasselbe gilt für das qualifi44 45

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Niendorf: Minderheiten an der Grenze (wie Anm. 11), S. 400. Kessler: Die deutsche Bevölkerung (wie Anm. 5), S. XX; John J. Kulczycki: School Strikes in Prussian Poland 1901-1907. The Struggle over Bilingual Education (East European Monographs 132). Boulder 1981. Vgl. dazu Herbert Matuschek: Das Polnisch der Oberschlesier. Zu den Kontroversen um ein Idiom, in: Oberschlesisches Jahrbuch 13 (1997), S. 93-120, und 14/15 (1998/1999), S. 193-214. Detlev Puls: Rochaden zwischen Unterwerfung und Widerstand. Oberschlesische Bergarbeiter 1871-1914 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Reihe B 49). Dortmund 1994, S. 167-168. Toni Pierenkemper: Grundzüge der Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens in der Neuzeit, in: Ders. (Hg.): Industriegeschichte (wie Anm. 15), S. 1-28, hier 24; Jürgen Laubner: „Adliger Stand mit bürgerlichem Sinn". Die oberschlesischen Magnaten im deutschen Kaiserreich, in: Wlodzimierz St^pinski (Hg.): Szlachta i ziemianstwo polskie oraz niemieckie w Prusach i Niemczech w XVlfi-XX w. [Der polnische und der deutsche Adel und Großgrundbesitz in Preußen und Deutschland vom 18. bis 20. Jahrhundert], Szczecin 1996, S. 141-157, hier 145-147.

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zierte technische Personal: „Wie auf den Walz- und Hüttenwerken war das Aufsichtspersonal [im Bergbau] bis hinunter zum Steiger deutsch".49 Die Masse zu 90 Prozent polnischsprachiger Berg- und Hüttenarbeiter stammte aus der arm und dürftig lebenden Landbevölkerung der weiterhin überwiegend agrarischen Region: „Die Autoritäten dieser Welt waren die Beamten des Staates, die Eigner und leitenden Angestellten („Beamten") der Betriebe und, dem Volk am nächsten stehend, die katholischen Pfarrer".50 Diese waren, bis 1922 unter dem Bistum Breslau, nur in wenigen Fällen aktiv polnisch national orientiert. Erschüttert durch Sprachgesetze und Kulturkampf, fanden die polnischsprachigen Oberschlesier für lange Jahre ihre politische Orientierung beim Zentrum, obwohl dessen Abgeordnete und Repräsentanten fast durchweg Deutsche waren. Erst in den 1890er Jahren, als die deutschen Katholiken nach dem Ende des Kulturkampfes ihren Patriotismus beweisen wollten,51 kam es zur „nationalen Trennungskrise [...]. Das Fehlen polnisch-nationaler Tradition und die daraus folgende Immunität der Oberschlesier gegenüber polnischer Propaganda" erklären die späte, von Posen und Galizien aus von außen her initiierte Nationalisierung der polnischsprachigen Oberschlesier.52 Bis dahin setzte sozialer Aufstieg die sprachlich-kulturelle Assimilation an das in den Städten dominierende deutsche Milieu voraus. Die Führungsgruppe der sich um den „Görnos^zak" organisierenden jungen polnischen Nationalisten kam vor allem aus der Provinz Posen. Die Furcht vor einer polnischen Irredenta beherrschte seit der Jahrhundertwende die preußische Politik.53 In den Provinzen Westpreußen und Posen und - mit zeitlicher Verzögerung in Oberschlesien - entwickelten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, verstärkt seit der Reichsgründung, zwei national definierte Eliten: eine preußischdeutsche staatsnahe, protestantische, die, durch staatliche Subventionen unterstützt, die lokale und die Provinzialverwaltung beherrschte, und eine polnischkatholische, die sich als Parallelgesellschaft mit dem langfristigen Ziel des Zusammenschlusses zu einem polnischen Nationalstaat über die Teilungsgrenzen hinweg außerhalb der staatlichen und der kommunalen Verwaltung selbst organisierte, sich - insbesondere in der Provinz Posen in produktiver Konkurrenz zur deutschen Kultursphäre - ihre eigenen polnischen kulturellen und politischen Institutionen und Organisationen schuf. Formal politisch gleichberechtigt, war diese polnische Führungsschicht aus (Oberschlesien ausgenommen) Grundbesitzern, Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten, Lehrern

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Puls: Rochaden (wie Anm. 47), S. 168. Conze: Nationsbildung durch Trennung (wie Anm. 9), S. 395. Czaplinski: Der Oberschlesier (wie Anm. 19), S. 86. Conze: Nationsbildung durch Trennung (wie Anm. 9), S. 396. Czaplinski: Der Oberschlesier (wie Anm. 19), S. 88-90.

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und katholischen Geistlichen54 in den Parlamenten Preußens und des Deutschen Reichs vertreten, aber ohne politischen Einfluß.55 Wer durch Bildung aufstieg, hatte nur außerhalb des polnischen Sprachgebiets Chancen auf Anstellung im staatlichen Bereich.56 Die Führungsschicht des „polnischen Gemeinwesens im preußischen Staat"57 war in den polnischsprachigen Gebieten Preußens de facto von der Partizipation an der staatlichen und der nachgeordneten kommunalen Verwaltung ausgeschlossen. In den historisch polnischen Gebieten Westpreußens und Posens waren sie - zumindest in der Langzeitperspektive des 19. Jahrhunderts - eine ausgegrenzte, „verdrängte Elite".

3. Der Herrschaftswechsel: Im neuen Polen Das von deutscher und österreichischer Seite am 15. November 1916 proklamierte „Königreich Polen" blieb auf das russische Teilungsgebiet beschränkt. Spätestens seit den „14 Punkten" des US-amerikanischen Präsidenten Wilson war klar, daß es nach dem Ende dieses europäischen Krieges einen polnischen Staat geben würde. Nach dem Ende der Kampfhandlungen am 9. November 1918 brach am 27. Dezember 1918 in der Stadt Posen der „Großpolnische Aufstand" aus, der sehr schnell durch die Teilung der Provinz Fakten schuf. Die im Friedensvertrag von den siegreichen Alliierten dekretierte Grenzziehung orientierte sich weitgehend an den Sprachgrenzen, ist von deutscher Seite zwar beklagt, aber für den Raum der Provinz Posen nie so intensiv bezweifelt worden wie im „polnischen Korridor" oder in Oberschlesien. Schon während des Großpolnischen Aufstands, d.h. seit dem 27. Dezember 1918, begann der Exodus der preußischen Beamten und der Reste der jüdischen Bevölkerung. In Westpreußen mit seiner im Unterschied zur Provinz Posen deutschen Bevölkerungsmehrheit wurden bis Mai 1919 Hoffnungen gehegt, die Provinz könne ungeteilt beim Deutschen Reich verbleiben.58 Am

Vgl. die Zusammenstellung für Posen-Westpreußen bei Wierzchoslawski: Elity (wie Anm. 16), S. 163. Zur Rolle der katholischen Geistlichkeit vgl. Ryszard Michalski: Polskie duchowienstwo katolickie pod panowaniem pruskim wobec sprawy narodowej w latach 1870-1920 [Die Haltung der katholischen Geistlichkeit unter der preußischen Herrschaft zur nationalen Frage 1870-1920]. Torun 1998. Zygmunt Hemmerling: Poslowie Polsce w parlamencie Rzeszy Niemieckiej i Sejmie Pruskim 1907-1914 [Die polnischen Abgeordneten im Deutschen Reichstag und im preußischen Landtag 1907-1914], Warszawa 1968, schließt Oberschlesien ein. Witold Molik: Assimilation der polnischen Intelligenz im preußischen Teilungsgebiet durch Bildung, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 81-94. Ludwig Bernhard: Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat. Leipzig 1907. Przemyslaw Häuser: Niemieckie wladze i spoleczenstwo Prus Zachodnich wobec polskich dqzen Rewindykacyjnych w okresie pazdziemik 1918 - czerwiec 1919 r. [Die deutschen Behörden und die Gesellschaft Westpreußens angesichts der polni-

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4. Januar 1919 forderte die preußische Regierung zum ersten Mal ihre Beamten in den „bedrohten Ostgebieten" auf, in ihren Dienststellen zu verbleiben, und sagte ihnen dafür die Existenzsicherung zu. Die polnischen Stellen waren einerseits bemüht, die deutsche Verwaltung so schnell wie möglich durch eine polnische zu ersetzen, andererseits waren sie an einem geordneten Übergang interessiert und wollten deshalb die deutschen Beamten so lange wie nötig auf ihren Stellen halten. Ein deutsch-polnisches Beamtenabkommen regelte am 9. November 1919 den Verbleib der Beamten im polnischen Dienst. Die deutsche Seite versuchte, die Existenz dieser Beamten in den laufenden Verhandlungen als Druckmittel gegen Polen einzusetzen, und berief schließlich diese insgesamt etwa 20.000 Beamten zum 1. April 1920 ab.59 Die Abwanderung der Beamten zog die Abwanderung des sozialen Umfelds im Bereich von Handel, Gewerbe und Kultur nach, das keine Existenzgrundlage mehr sah. Fast vollständig verließ die deutsche Bevölkerung jüdischer Konfession die Provinz Posen. Bis Ende 1921 hatten nach offiziellen deutschen Zahlen 592.000 Menschen, etwa die Hälfte der deutschsprachigen Bevölkerung, mit dem Abwanderungshöhepunkt unmittelbar zur Zeit der Gebietsübergabe im April 1920 die polnisch gewordenen Teile Posen-Westpreußens verlassen.60 Die im Friedensvertrag von Versailles durchgesetzte Verbindung der Option für die polnische Staatsangehörigkeit mit der Vermeidung der Liquidation des Grundbesitzes führte dazu, daß vor allem im ländlichen Bereich die deutsche Bevölkerung sich für den Verbleib im neuen polnischen Staat entschied.61 Die Abwanderung erfaßte vor allem die Städte und die städtischen Berufsgruppen. So sank der deutsche Bevölkerungsanteil in der Provinzialhauptstadt Posen (jetzt Poznan) von 42 Prozent im Jahre 1910 auf 2 Prozent im Jahre 1931, in Bromberg (Bydgoszcz) im selben Zeitraum von 77,5 auf 8,5 Prozent, in Thorn (Torun) von 66 auf 4 und und Graudenz (Grudzi^dz) von 85 auf 7,5 Prozent.62

sehen Revindikationsbestrebungen von Oktober 1918 bis Mai 1919], in: Mieczystaw Wojciechowski (Hg.): Spoleczenstwo polskie na ziemiach pod panowaniem pruskim w okresie I wojny swiatowej (1914-1918). Torun 1996, S. 85-108. Marek Stazewski: Problem pozostania urz?dniköw niemieckich w Wielkopolsce i na Pomorzu w latach 1919-1920, in: Studia Historica Slavo-Germanica 21 (1996), S. 5979; Andrej Gulczynski: Ministerstwo bytej Dzielnicy Pruskiej (1919-1922) [Das Ministerium für die ehemals preußischen Teilgebiete] (Prace Komisji Historycznej/Poznanskie Towarzystwo Przyjaciöl Nauk 50). Poznan 1995, S. 115-122. Richard Blanke: Orphans of Versailles. The Germans in Western Poland 1918-1939. Lexington 1993, S. 32-33. Kessler: Die deutsche Bevölkerung (wie Anm. 5), S. XXVI. Gotthold Rhode: Das Deutschtum in Posen und Pommerellen in der Zeit der Weimarer Republik, in: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik (Studien zum Deutschtum im Osten 3). Köln/Graz 1966, S. 88-132, hier 100; Otto Heike: Die deutsche Minderheit in Polen bis 1939. Leverkusen 1985, S. 170-171.

Elitenwechsel - die Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien

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Der von den Alliierten dekretierte, der Aufsicht des Völkerbundes unterstellte Minderheitenschutzvertrag sicherte den Angehörigen der nationalen, sprachlichen und religiösen Minderheiten individuelle politische Gleichberechtigung und kulturelle Schutzrechte zu, forderte allerdings von ihnen zugleich die Annahme der neuen Staatsangehörigkeit und die staatsbürgerliche Loyalität gegenüber dem neuen Staat. Schon aus den politischen und militärischen Entwicklungen des „Grenzkampfes" der Jahre 1918/19 heraus mußten diese Minderheiten den „neuen Staaten" gegenüber als Gefährdungspotential erscheinen.63 Die Forderungen aller politischen Gruppierungen des Deutschen Reiches nach Grenzrevision verstärkten das Bedrohungsgefuhl in der polnischen Gesellschaft des westlichen Polen und damit die gesellschaftliche Abgrenzung von der deutschen Minderheit.64 An die Stelle der preußisch-deutschen Verwaltung trat die polnische. Nicht nur die polnische Gesellschaft der ehemals preußischen Gebiete drängte in öffentliche Funktionen, auch aus den anderen Teilgebieten drängte die Beamtenschaft in öffentliche Ämter, so daß eine Konkurrenz zwischen den Führungsschichten aus den drei Teilungsgebieten entstand. Als Widerstand dagegen entwickelten die eingesessenen polnischen Eliten einen spezifischen Regionalismus.65 Zwischen 1920 und 1922 wurden alle deutschen Arbeiter, Angestellten und Beamten aus staatlichen und kommunalen Einrichtungen und Betrieben entlassen, die in polnischem Besitz befindlichen Privatbetriebe zogen nach.66 Die polnische Gesellschaft übernahm den Staat, die deutsche wurde, wenn sie blieb, ohne eine Tradition der Selbstorganisation zu haben,67 in den sozialen und politischen Minderheitenstatus abgedrängt. Wäre sie nicht vom Deutschen Reich nach der ersten Abwanderungswelle an der Auswanderung gehindert und - mit einer ausgesprochenen Subventionsmentalität oft

Wolfgang Kessler: Grenzkampf und nationale Minderheiten in Polen 1919-1921, in: Hans Lemberg/Peter Heumos (Hg.): Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa. München 1993, S. 177-188. Dazu Zbigniew Dworecki: Problem niemiecki w swiadomosci narodowo-politycznej spoleczenstwa polskiego wojewödztw zachodnich Rzeczypospoliej 1922-1939 [Das deutsche Problem im national-politischen Bewußtsein der polnischen Gesellschaft in den westlichen Wojewodschaften der Republik Polen 1922-1939] (Seria Historia/Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 92). Poznan 1981. Barbara Wysocka: Regionalizm wielkopolski w II Rzeczypospolitej 1919-1939 [Der großpolnische Regionalismus in der Zweiten Republik 1919-1939] (Seria Filologia polska/Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 23). Poznan 1981; Kessler: Die deutsche Bevölkerung (wie Anm 5), S. XXXI. Rauschning: Abwanderung (wie Anm. 5), S. 149-153; dazu jetzt detailliert Maria Wanda Wanatowicz: Die Deutschen im staatlichen Sektor des öffentlichen Lebens in Großpolen, Westpreußen und Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 48 (1999), S. 555-582. Vgl. Broszat: Zweihundert Jahre (wie Anm. 8), S. 212.

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mehr fordernd als das Deutsche Reich zu geben bereit war68 - intensiv subventioniert worden, wäre sie wahrscheinlich völlig marginalisiert worden. Sie blieb aber im deutsch-polnischen Konflikt ein politischer Faktor, der immer wieder gegen den polnischen Staat instrumentalisiert werden konnte. Die polnische Verwaltung wandte preußisches Recht wie die Rentengutverordnung konsequent gegen die deutschen Kolonisten an. In der Sprachenfrage ersetzte sie in der entsprechenden Verordnung nur „deutsch" durch „polnisch", so daß verbleibende deutsche Bevölkerung sich diskriminiert fühlte.69 Die polnische Verwaltung war so antideutsch wie die preußisch-deutsche antipolnisch. „Odniemczenie", „Entdeutschung" war das Ziel der nationalistischen Nationaldemokratie und des „Verbandes zur Verteidigimg der Westmarken", der Weg dahin war Verdrängung und politische und kulturelle Assimilation.70 Statuswechsel von der „herrschenden Nation" zur nationalen Minderheit wurde von der deutschen Minderheit im aus den ehemals preußischen Gebieten entstandenen Westpolen in den zwei Jahrzehnten bis zum Zweiten Weltkrieg nie wirklich akzeptiert. Die Wojewodschaft Posen wurde zum organisatorischen Zentrum der deutschen Minderheit. Die zentralen Stellen und Organisationen hatten ihren Sitz in Bromberg und Posen.71 Innerhalb der Minderheit bildete sich eine neue Elite, die Minderheitenfiihrung, zum großen Teil aus den Kreisen der deutschen Großgrundbesitzer. Diese allerdings geriet durch die polnische Agrarreform mehr und mehr in wirtschaftliche Bedrängnis.72 Die politische Führung wurde wie die gesamte kulturelle Führungsschicht, beginnend bei Lehrerinnen und Lehrern, finanziert bzw. durch einen Gehaltszuschuß wie die Landwirtschaft durch Kredite davon abgehalten, in das „Reich" abzuwandern.73

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Norbert Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der Weimarer Republik. Die Subventionierung der deutschen Minderheit in Polen (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 27). Stuttgart 1973, S. 109-113; Bastiaan Schot: Nation oder Staat? Deutschland und der Minderheitenschutz (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 4). Marburg 1988, S. 108. Kessler: Die deutsche Bevölkerung (wie Anm 5), S. XXI. Ebd., S. XII, XXXII, mit Dokumentation. Hauser: Mniejszosc niemiecka na Pomorzu (wie Anm. 12); Dariusz Matelski: Mniejszosc niemiecka w Wielkopolsce w latach 1919-1939 [Die deutsche Minderheit in Großpolen in den Jahren 1919-1939] (Seria Historia/Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu 187). Poznan 1997, S. 72-194. Rauschning: Abwanderung (wie Anm. 5), S. 248-277. Die Akten der Deutschen Stiftung im Bundesarchiv Berlin zeigen weit über das hinaus, was Krekeler: Revisionsanspruch (wie Anm. 58) auf der Grundlage der damaligen Archivlage darstellen konnte, die Finanzierung - und damit die Kontrolle - der gesamten deutschen Minderheit durch das Deutsche Reich.

Elitenwechsel - die Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien

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In Oberschlesien verzögerte sich die Entscheidung über die staatliche Zugehörigkeit bis zum Plebiszit am 20. März 1921.74 Die drei polnischen Aufstände und der insbesondere um die national eher indifferenten einheimischen Oberschlesier erbittert geführte Propagandakampf vor der Abstimmung75 verschärften das politisch-soziale Klima. Die am 15. Mai 1922 in Genf unterzeichnete deutsch-polnische Konvention über Oberschlesien sicherte für fünfzehn Jahre dem Kreis der Abstimmungsberechtigten Minderheitenschutz und relative Freizügigkeit für das Abstimmungsgebiet zu. Bis zur Teilung im Jahre 1922 verblieb das Abstimmungsgebiet unter interalliierter Kontrolle. Erst danach konnte die polnische Verwaltung von den im Versailler Friedensschluß zugestandenen oberschlesischen Gebietsteilen auf den östlichen Teil des Abstimmungsgebiets erweitert und die Wojewodschaft Schlesien mit der Hauptstadt Kattowitz (Katowice) gebildet werden. Die polnische Intelligenzschicht war in Oberschlesien zahlenmäßig zu schwach, um die qualifizierten Positionen im staatlichen Bereich zu übernehmen. Eine einheimische polnische gesellschaftliche Führungsschicht fehlte in der Region ebenso wie eine polnische wirtschaftliche und technische Funktionselite. In Kursen in Teschen (Cieszyn), Posen und Krakau wurden Zollbeamte und Polizisten ausgebildet, aus dem übrigen Polen wurden Beamte, Eisenbahner, Postbeamte und Lehrer für das polnische Oberschlesien angeworben, die sehr schnell die deutschen Beamten und Staatsangestellten ersetzten.76 Bis 1925 wanderten mehr als 110.000 Deutsche wegen des Verlust der Beschäftigung im staatlichen und im kommunalen Bereich und der wachsenden nationalen Repression in das Deutsche Reich ab. Im Gegenzug wechselte etwa im selben Umfang polnische Bevölkerung aus dem westlichen Oberschlesien in den polnischen Teil.77 74

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Vgl. den deutschen Forschungsstand resümierend Helmut Neubach: Die Abstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921, in: Richard Breyer (Hg.): Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg. Probleme der Volksabstimmungen im Osten (1918-1922). Bonn 1985, S. 92-129; zusammenfassend Joachim Bahlcke: Die Geschichte der schlesischen Territorien von den Anfangen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in: Ders. (Hg.): Schlesien und die Schlesier (Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche 7). München 1996, S. 125-133. Dazu sehr instruktiv Leonard Smolka: Mi^dzy „zacofaniem" a „modernizacj^". Polsko-niemiecki obraz wroga w okresie powstan I plebiscytu na Görnym Sl^sku [Zwischen „Rückständigkeit" und Modernisierung". Das polnisch-deutsche Feindbild zur Zeit der Aufstände und der Abstimmung in Oberschlesien]. Wroclaw 1992. Zbigniew Hojka: Administracja rz^dowa [Die Staatsverwaltung], in: Franciszek Serafin (Hg.): Wojewödztwo sl^skie (1922-1939). Zarys monograficzny (Prace Uniwersytetu Slstskiego w Katowicach 1555), S. 15-33. Helmut Neubach: In der Weimarer Republik (1919-1933), in: Winfried Irgang/Werner Bein/Helmut Neubach: Schlesien. Geschichte, Kultur und Wirtschaft (Historische Landeskunde. Deutsche Geschichte im Osten 4). Köln 1995, S. 207-239, hier 216; Andrzej Brozek: Ostflucht na Sl^sku [Die Ostflucht in Schlesien]. Katowice 1966, S. 62; zu den unterschiedlichen Schätzungen vgl. Grzyb: Narodowosciowo-polityczne aspekte (wie Anm. 21), S. 19.

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Schwieriger war das Ziel der Polonisierung in der Großindustrie zu erreichen. Die Genfer Konvention beinhaltete für die Übergangsphase von 15 Jahren eine Eigentumsgarantie.78 Kohlenbergwerke, Stahl- und Metallindustrie waren überwiegend in deutschem, aber auch in ausländischem, zum Beispiel französischem Besitz. Der kleinere, im Besitz des preußischen Staates befindliche Teil ging in das Eigentum des polnischen Staates über.79 Die Mehrzahl der Generaldirektoren verließ sofort nach dem Staatswechsel die polnische Wojewodschaft und leitete die Unternehmen von Deutschland aus. In die Führungsebenen der privaten Betriebe, in die Direktorien und Aufsichtsräte wurden in steigender Zahl polnische Ingenieure und Juristen aufgenommen, doch fehlte noch längere Zeit entsprechendes Personal, so daß noch in der Jahresmitte 1925 zwanzig vom preußischen Staat beurlaubte höhere Bergbeamte in der Wojewodschaft Schlesien ihren Dienst versahen.80 Mit Ausnahme der in polnischen Staatsbesitz übergegangenen Betriebe war die technische Leitungsebene zunächst ausschließlich, bis in die Mitte der zwanziger Jahre mit wenigen Ausnahmen von deutschen Ingenieuren und Technikern besetzt, darunter ein großer Teil mit deutscher Staatsangehörigkeit, der nicht unter die Bestimmungen der Genfer Konvention fiel.81 Die Zahl der deutschen Arbeiter sank bis 1923 von 28 auf etwa 10 Prozent. Qualifiziertes Fachpersonal konnte dagegen erst nach und nach ersetzt werden. Eine konsequente Polonisierungspolitik setzte in der Großindustrie erst ein, als nach dem Staatsstreich Piisudskis 1926 das Sanacja-Regime den Wojewoden Micha} Grazynski einsetzte.82 Soweit der agrarische Großgrundbesitz nach den Bestimmungen der Genfer Konvention in deutscher Hand bleiben konnte, blieben die Führungsstrukturen erhalten. Als der Besitz Hans Heinrichs XV., Fürsten von Pleß, im Sommer 1925 in schwerste Finanzprobleme geriet, verhinderte das Deutsche Reich auf den eingespielten geheimen Subventionswegen mit einem Kredit in Höhe von 3.000.000 Reichsmark den Bankrott, weil sonst „wirtschaftlich und kulturell der Kreis Pleß unwiederbringlich verloren gehen" würde.83 Nach dem Übergang der Gebiete an Polen hatten die deutschen Führungsschichten dort, wo nicht deutsches Eigentum oder Kapital vorlag, keine Chance, in ihren Führungspositionen zu verbleiben. Am konsequentesten und mit derselben Intensität, mit der der preußische Staat die polnischen Führungsschichten in den Ostprovinzen ausgegrenzt hatte, wurde der Elitenaustausch

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Grzyb: Narodowosciowo-polityczne aspekte (wie Anm. 21), S. 15. Ebd., S. 22-23. Ebd., S. 83. Ebd., S. 31-35. Ebd., S. 95. Krekeler: Revisionsanspruch (wie Anm. 58), S. 88.

Elitenwechsel - die Gebietsabtretungen in Posen-Westpreußen und Oberschlesien 59 im gesamten vom Staat kontrollierten Bereich (einschließlich Post und Eisenbahn) vollzogen. Die Notwendigkeiten der teilgebietsübergreifenden gesamtstaatlichen Integration, die nur mit einem nationalstaatlichen Programm möglich war, und die Bedrohung durch den deutschen Revisionismus ließen der polnischen politischen Führung auf Staats- und Wojewodschaftsebene kaum eine andere Möglichkeit. Die Führungsschichten der durch die Staatsbildung entstandenen nationalen Minderheiten wurden, abgesehen von der politischen Vertretung in den Parlamenten, von der aktiven Partizipation am polnischen Nationalstaat ausgeschlossen. Ihr Aktionsraum blieb die nationalkulturell definierte, bei formaler staatsbürgerlicher Gleichheit politisch benachteiligte Minderheitsgesellschaft.

4. Nach der Abwanderung Für die 1918/20 und dann aus Oberschlesien noch einmal 1921/22 massiv in das Deutsche Reich abgewanderten Flüchtlinge wurde nach der unmittelbaren Flüchtlingsfursorge ein staatliches System von Hilfsmaßnahmen für die „Verdrängungsgeschädigten" geschaffen, das bis 1923, danach eingeschränkt, Entschädigungen für Erwerbs- und Existenzverlust, für Umzugskosten und anderes sicherstellte.84 Diese Entschädigung betraf im wesentlichen Landwirte, Handwerker und Gewerbetreibende. Viele der Abgewanderten blieben in den beim Deutschen Reich verbliebenen Teilen der jeweiligen Provinz, so in den Provinzen Schlesien und Oberschlesien oder im Regierungsbezirk Westpreußen (Marienwerder), der Provinz Ostpreußen und in der Freien Stadt Danzig, eine große Zahl zog aber auch weiter in die deutschen Industriegebiete.85 Die Staatsbeamten wurden vom preußischen Staat übernommen. Für den Bereich Posen-Westpreußen nutzte der Bromberger Regierungspräsident Friedrich von Bülow die zwischen dem Abschluß des Versailler Vertrages im Juni 1919 und der Ratifizierung im Januar 1920 verbleibende Zeit, um eine Nebenstelle der Bromberger Regierung in Schneidemühl einzurichten, und ließ Akten und Archivalien der bei Deutschland verbleibenden Restkreise dorthin transportieren. Am 21. November 1919 konnte von Bülow die notdürftig eingerichtete Regierung in Schneidemühl feierlich eröffnen, die 1922 im

Deutscher Ostbund: Zehn Jahre Kampf für Ostheimat, deutsches Volkstum und Vaterland. Berlin 1929, S. 28-35. Vgl. den Hinweis bei Neubach: In der Weimarer Republik (wie Anm. 77), S. 217; am konkreten Beispiel der Stadt Herne (Westf.) zeigt Susanne Peters-Schildgen: „Schmelztiegel Ruhrgebiet". Die Geschichte der Zuwanderung am Beispiel Hernes bis 1945. Essen 1997, S. 241-249, die „Flüchtlings- und Vertriebenenfiirsorge" gegen Ende und nach dem Ersten Weltkrieg.

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Umfang der beim Deutschen Reich verbliebenen westlichen Gebieten der Provinzen Westpreußen und Posen zum Oberpräsidium der selbständigen „Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen" wurde.86 Die Mehrzahl der Staatsbeamten wurde jedoch nicht solchen Auffanginstitutionen, sondern einer ihrer Qualifikation entsprechenden Verwendung im gesamten staatlichen Bereich zugewiesen, sofern sie nicht zur Pensionierung anstanden. Die eng mit dem preußischen Staat verbundenen Führungsschichten, für die die Tätigkeit im preußischen Osten sowieso nur eine - oft ungeliebte - Karrierestation gewesen war, wurden nach ihrer Flucht oder Abberufung offensichtlich ohne Probleme in die entsprechenden staatlichen Strukturen integriert. Die Pensionsansprüche waren geregelt, die Schwierigkeiten lagen eher in der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation des Deutschen Reiches nach 1919. Probleme hatten dagegen die Kommunalbeamten, die häufig nicht reibungslos untergebracht werden konnten.87 Bei den Führungskräften der Großwirtschaft, wie sie nur in Oberschlesien bestand, scheint es keine Probleme gegeben zu haben, in entsprechenden Funktionen im Deutschen Reich weiterzuarbeiten. Die „verdrängten Eliten" aus den im preußischen Osten 1920 bzw. 1922 abgetretenen Gebieten wurden, wie durch entsprechende Kollektivbiographien zu untermauern wäre, anders als die Masse der geflohenen und verdrängten deutschen Bevölkerung, in ihrer Mehrheit ohne größere Probleme von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen Reiches aufgenommen und integriert.88

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Gerhard Ohlhoff: Bülow, Friedrich August Otto Karl von, in: Der Kulturwart 37 (1989), Nr. 2 (175), S. 26 f., mit weiterführender Literatur. Deutscher Ostbund: Zehn Jahre Kampf (wie Anm. 34), S. 41 f. Dafür sprechen z.B. die Biographien der Mitglieder der „Vereinigung der reichsdeutschen Mitglieder" der Historischen Gesellschaft für Posen, wie sie einzelne Mitteilungen belegen, vgl. Historische Gesellschaft für Posen: Mitteilungen. Hg. von der Vereinigung der reichsdeutschen Mitglieder 3 (1935), S. 87-94. Inwieweit sich diese Gruppe in den „heimattreuen" Vereinigungen engagiert hat, bedürfte einer besonderen Untersuchung.

Vertriebene intellektuelle Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland VON CLAUS-DIETER KROHN

I. Wenn von der Vertreibung intellektueller Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach 1933 gesprochen wird, so ist damit das Ende der aus der Rückschau einzigartigen Kultur der Weimarer Republik gemeint. Durch die Emigration der meisten ihrer Repräsentanten war sie jedoch nicht untergegangen, in den USA ist sie heute geradezu zu einem Mythos geworden. Nicht von ungefähr ist der Terminus Weimarer Kultur von dem amerikanischen Historiker Peter Gay in seiner Studie von 1969 Weimar Culture. The Outsider as Insider geprägt worden1, von einem Autor, der 1923 als Peter Fröhlich in Berlin geboren und aufgewachsen war und 1939 mit seinen Eltern aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen ist; eindrucksvoll hat er erst kürzlich die letzten Jahre in Deutschland in seiner Autobiographie My German Question. Growing Up in Nazi Berlin publiziert.2 Dieser Hintergrund erhellt, dass die Vorstellung von der Weimarer Kultur vor allem auch eine Schöpfung des intellektuellen Exils selbst ist. Man mag einwenden, dass sich die aus Deutschland Vertriebenen damit so etwas wie eine kompensatorische kollektive Identität zu schaffen gesucht haben, so ist doch unübersehbar, in welchem Ausmaß dieser Schlüsselbegriff auf eine in Deutschland zerstörte Tradition verweist, deren Anregungen außerhalb der deutschen Grenzen fortgewirkt haben. Bei der Weimarer Kultur denkt man heute an moderne aktivistische Strömungen in der Kunst und der Literatur, an Großstadtleben, den Film, Amerikanisierung, Verwestlichung und Massenkultur, aber auch an die sozialwissenschaftliche Analyse der Moderne, die durch die Zäsur des Ersten Weltkrieges in Deutschland endgültig zum Durchbruch gekommen war. Die mythische Verdichtung dieser Kultur hat ihre Wurzeln in der Auseinanderset-

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Peter Gay: Weimar Culture. The Outsider as Insider, in: Donald Fleming/Bernard Bailyn (Eds.): The Intellectual Migration. Europe and America, 1930-1960. Cambridge, Mass. 1969, S. 11-93. Ders.: My German Question. Growing up in Nazi Berlin. New Häven/London 1998.

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zung um geistige und soziale Fragen, die auch in der Gegenwart nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Und deren Tendenz ist umso deutlicher, als sie einen auffallenden Kontrast zum kläglichen politischen Scheitern der ersten deutschen Demokratie darstellen. Die Zahl der aus dem deutschen Herrschaftsbereich nach 1933 Vertriebenen ist - vor dem Hintergrund der heutigen Migrationsbewegungen - mit rund 500.000 Personen zwar nicht sehr groß. Darunter befand sich jedoch nahezu die gesamte intellektuelle und kulturelle Avantgarde aus den 1920er Jahren. Dabei verloren auch die deutschen Hochschulen etwa ein Drittel ihres Lehrkörpers, das sind etwa 3.000 Personen. Vor allem traf das die modernen Disziplinen oder Teildisziplinen, die in den zwanziger Jahren gerade ihre Professionalisierungsphase durchmachten, so etwa die Sozialwissenschaften (Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft) oder in den Naturwissenschaften die Biochemie und Atomphysik; über die letzteren möchte ich mich mangels Kompetenz nicht weiter auslassen. Sicher nicht übertrieben ist, wenn Gay die Emigranten als die größte Ansammlung von umgesiedelter Intelligenz, Begabung und Gelehrsamkeit dargestellt hat, die die Welt jemals gesehen hat.3 Auffallend ist, dass die neuen sozialwissenschaftlichen Disziplinen in starkem Masse von einer Generation jüngerer Gelehrter geprägt wurden, die häufig aus assimilierten jüdischen Familien kamen. Vor dem Hintergrund der traditionellen Marginalisierung, dann der brüchigen Emanzipation und Assimilation im 19. Jahrhundert hatten augenscheinlich sie den gesellschaftskritischen Blick par excellence entwickelt. Die jüdische Existenz - d.h. von einem der am meisten mit Vorurteilen belegten Teil der Gesellschaft herzukommen, der trotz sozialer, politischer und kultureller Integration immer wieder ausgegrenzt und verfolgt zu werden drohte - war für sie untrennbar verbunden mit der Frage nach Verteilung von Herrschaft im Staat und in der Gesellschaft sowie nach den Voraussetzungen, die gleichberechtigte Partizipation und Vorurteilslosigkeit behinderten. Wirksam werden konnten diese intellektuellen Potentiale erst, als ihnen die Weimarer Republik den Zugang zu universitären Karrieren in nennenswertem Umfang erlaubte. Viele verstanden ihre theoretische Arbeit deshalb zugleich als politischen Beitrag zur Unterstützung der dauernd krisengeschüttelten ersten deutschen Demokratie. Das gilt zum Beispiel für zahlreiche jüngere Ökonomen, die nach 1918 zunächst in den Demobilmachungsbehörden gearbeitet hatten. Die dort hautnah erlebten Probleme des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft bestimmten dann ihre künftigen Forschungen in wirtschaftspraktischer Absicht, als sie anschließend ihre universitären Karrieren begannen. Ja, man wird sagen können, dass der intellektuelle deutsch-jüdische Dialog, die modernen Sozialwissenschaften, Ders.: Weimar Culture (wie Anm. 1), S. 12.

Vertriebene intellektuelle Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland

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Literatur und Kunstrichtungen und das demokratische Engagement der zwanziger Jahre komplementäre Erscheinungen der Weimarer Kultur sind. Es wäre jedoch falsch, diese Kultur als jüdische Kultur zu bezeichnen; das waren Zuschreibungen der Antisemiten und Nationalsozialisten. Nicht alle ihrer Repräsentanten waren Juden, zahlreiche Juden zählten nicht zu ihren Repräsentanten und viele ihrer Repräsentanten waren das nicht, weil sie Juden waren.4 Zum konstitutionell-demokratischen Anspruch der Weimarer Republik gehörte gerade die Überwindung solcher Unterscheidungen, in denen sich jene brüchige Integration tradierte. So lehnten die Wortführer der Weimarer Kultur auch die vor 1914 übliche Vorstellung von einer verbindlichen deutschen Nationalkultur und davon zu trennenden Randkulturen der Minderheiten ab. Nicht zuletzt das Schockerlebnis des Ersten Weltkriegs und seine erlebten gesellschaftlichen Folgen waren der Anlass, nach neuen Wahrnehmungen und Orientierungen zu suchen. Als deren analytischer Kern ist ein multikulturelles, „ko-konstitutionelles" Selbstverständnis auszumachen, das zugleich die alten trennenden nationalen, ethnischen, politischen oder kulturellen Raster überwinden wollte.5 Die Mehrheit ihrer Repräsentanten mit jüdischer Herkunft verstand sich längst nicht mehr als Juden, sondern hatte ganz andere weltanschauliche Einbindungen. So sarkastisch das auch gemeint gewesen sein mochte, nicht wenige der nach dem sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 Entlassenen waren später stolz, wenn das aus politischen Gründen (§ 4) und nicht wegen ihrer „nichtarischen" Herkunft (§ 3) geschehen war, sahen sie darin doch auch eine Anerkennung ihres Engagements für die erste deutsche Demokratie.6 Wenn Peter Gay in seinen Erinnerungen erwähnt, dass es drei Arten gibt Jude zu sein, durch Geburt, durch Konversion und durch Dekret, und darauf verweist, dass er durch die NS-Gesetzgebung in die dritte Gruppe gezwungen wurde, so gilt das ebenso für die meisten anderen der vertriebenen Intellektuellen. Aber auch das provozierte die Reaktionäre unterschiedlicher Couleur. Hämisch zog beispielsweise Ernst Jünger 1930 über diese von ihm so bezeichneten „Zivilisationsjuden" her, um ihnen dann das Ultimatum zu stellen, „entweder Jude zu sein oder nicht zu sein."7 Juden mussten nicht nur als Sündenböcke für diejenigen herhalten, die die Kriegsniederlage und den Zusammenbruch des Kaiserreichs nicht verwunden hatten, Vgl. Ders.: Freud, Germans, and Jews. Masters and Victims in Modemist Culture. New York 1978, S.21. Steven E. Aschheim: German History and German Jewry: Boundaries, Junctions and Interdependence, in: Leo Baeck Year Book 43 (1998), S. 315-322. Dazu Claus-Dieter Krohn: Der philosophische Ökonom. Zur intellektuellen Biographie Adolph Lowes. Marburg 1996, S. 65. Ernst Jünger: Über Nationalismus und Judenfrage, in: Süddeutsche Monatshefte 27 (1929/30), S. 845.

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auf sie projizierte sich auch deren Angst vor dem Neuen, der Demokratie, kurz: den Ideen der Aufklärung und der Moderne. Ohne Zweifel sind die hier vorzustellenden vertriebenen Intellektuellen als Elite zu bezeichnen. Allerdings ist das eine rückschauende Sicht, die sich ihren bis heute so originellen geistigen Anregungen verdankt. Sie selbst haben sich, wie das Buch von Gay andeutet, als Außenseiter verstanden. Und sie waren tatsächlich auch Außenseiter in der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft gewesen, marginalisiert von den traditionellen akademischen Zirkeln mit ihrem Anspruch auf Meinungsführerschaft, die sich in den zwanziger Jahren durch Kooptation von Gleichgesinnten, weniger durch intellektuelle Originalität, demokratisches Bewusstsein oder wenigstens politische Verantwortung auszeichneten. Als sie nach 1933 zu den ersten gehörten, denen die Existenzgrundlage entzogen wurde, geschah das ohne erkennbare Reaktion oder gar den Protest der Kollegen. Im Gegenteil, bereits im April 1933 hatte der deutsche Hochschulverband in einer servilen Unterwerfungsgeste sein „Bekenntnis" zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat abgegeben.8 Selbst Albert Einstein, Nobel-Preisträger für Physik von 1921 und international als bedeutendster Repräsentant der deutschen Wissenschaften angesehen, der bereits 1922 nach dem Rathenau-Mord Deutschland verlassen hatte, war schockiert über die Vorgänge. An seinen Göttinger Freund und Kollegen Max Born, der wenige Wochen später Deutschland verlassen musste, schrieb er: „Ich glaube, Du weißt, dass ich nie besonders günstig über die Deutschen dachte (in moralischer und politischer Beziehung). Ich muss aber gestehen, dass sie mich doch einigermaßen überrascht haben durch den Grad ihrer Brutalität und - Feigheit."9 Außerhalb Deutschlands, insbesondere in den USA - wohin rund zwei Drittel der vertriebenen Intellektuellen geflohen sind konnten die Impulse der zwanziger Jahre fortentwickelt werden und weitreichende Wirkung entfalten, so dass es legitim ist, sich hier auf dieses Zufluchtsland zu beschränken. Bei der traditionellen Wertschätzung in den USA für das deutsche Bildungssystem - viele amerikanische Universitäten waren im 19. Jahrhundert nach deutschem Vorbild gegründet worden und die führenden Vertreter in den meisten Disziplinen hatten noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Deutschland studiert, die deutsche Sprache war in dieser Zeit ohnehin die internationale Wissenschaftssprache gewesen - hatte man sich dort nach 1933 weitblickender als in den meisten anderen Ländern um diese intellektuellen

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Vgl. Erklärung des Vorstandes des deutschen Hochschulverbandes vom 22.4.1933 sowie das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat". Dresden 1933. Albert Einstein an Max Born, 30.5.1933, in: Albert Einstein. Max Born. Briefwechsel 1916-1955. München 1991, S. 157.

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Potentiale auch direkt bemüht. Dieses Meinungsklima herrschte nicht allein an den großen Universitäten, sondern ebenso an vielen Colleges der Provinz, bedeutete die Aufnahme eines „emigré scholar" doch einen beträchtlichen Ansehensgewinn. Nicht von ungefähr machte alsbald der Slogan eines Universitätspräsidenten die Runde „Hitler is my best friend. He shakes the tree and I collect the apples."10 II. Die in den 20er Jahren interdisziplinär diskutierte Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft, Politik und Kultur war allerdings noch nicht so originell, sie ist in allen modernen Gesellschaften auszumachen. Ihre Einzigartigkeit in Deutschland bekam sie vielmehr durch die demokratiegeleitete Suche nach etwas Neuem und Anderem. Das wird schon an den zahlreichen neuen experimentellen Formen deutlich. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer zum Beispiel haben eine neue Qualität des kleinen Essays und Feuilletons entwickelt, die subtile Beobachtungen des Alltags mit der Reflexion über ihre tieferliegenden sozialen Zusammenhänge verbanden. Obwohl diese Texte heute zu den vielfach kanonisierten Zeugnissen der Gesellschaftsanalyse zählen, gehörten die beiden nicht zur universitären Gelehrtenzunft. Benjamin war bekanntlich die Habilitation an der Universität Frankfurt verweigert worden, und Kracauer konnte wegen eines schweren Sprachfehlers nie eine akademische Lehrtätigkeit ausüben. Auf Kracauers Arbeiten soll hier etwas näher eingegangen werden, weil sie erstens die Außenseiterqualität der intellektuellen Kultur in der Weimarer Republik deutlich machen, zweitens in ihrem problemsensitiven fragmentarischen Charakter den Verlust theoretischer Gewissheiten nach dem Ersten Weltkrieg dokumentieren, drittens eine testweise Annäherung an die disparaten Phänomene der Moderne versuchen und damit viertens auch als Wahrnehmungs- und Reflexionsschule für das zeitgenössische Publikum anzusehen sind. Seine Arbeiten stehen exemplarisch für jene Modernisierungsoptimisten, die im wesentlichen den kleinen Kreis von Repräsentanten der Weimarer Kultur bildeten. Anders als die konservative Kulturkritik, die in den sozialen und politischen Strukturwandlungen nach 1918 eine Bedrohung der traditionellen Werte und Überzeugungen sah, wurden von ihnen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, in der neuen deutschen Republik die emanzipatorischen und demokratischen Chancen diskutiert und ausgelotet, die die Moderne mit ihren

Laura Fermi: Illustrious Immigrants. The Intellectual Migration from Europe 1930/41. Chicago/London 1968, S. 78.

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massenkulturellen Ausformungen - trotz aller Trivialitäten und Gefahren bot. Die praktisch politischen Absichten ihrer Arbeiten zeigen die Sensorien für das, was von den institutionalisierten Wissenschaften so nicht gesehen wurde. Nicht von ungefähr knüpften diese Arbeiten an die unkonventionellen Analysen Georg Simmels zu Beginn des Jahrhunderts an, der damit ebenfalls ein absoluter Aussenseiter der Wissenschaft geblieben war. Kracauers „soziologische Expeditionen" bieten ein bis heute faszinierendes und nicht übertroffenes Mosaik der Gesellschaft in den 1920er Jahren mit ihrer wirtschaftlichen Dynamik und den daraus folgenden sozialen Verwerfungen. Unschwer ist der Einfluss der neuen informationsindustriellen Techniken von Fotographie und Film auf diese Darstellungen erkennbar. Sie zerstörten den alltäglichen Blick auf die vertrauten Gegenstände, indem sie neue Möglichkeiten der Wahrnehmungen der modernen Gesellschaft und ihrer Massenkultur anbieten. Ihre Originalität liegt vor allem darin, dass sie die zunächst photographisch beschriebenen Oberflächenzusammenhänge der Alltagswelt in Kracauers Worten: das „Ornament der Masse" - aufbrachen, die darunter liegenden strukturellen Wirkungsmechanismen der modernen Industriegesellschaft entzifferten und damit zeigten, wie deren Rationalität und Leistungseffizienz das menschliche Verhalten bis in die unscheinbaren privaten Äusserungen determinieren. Diese Analysen waren Erprobungs- und Experimentierfeld neuer modernitätsoffener Denkweisen und zukunftsgerichteter Deutungsmuster. Ihre neue Sicht auf die Gesellschaft verfolgte dabei auch die politische Absicht, der Sozialdemokratie - die nach 1918 unvorbereitet in die Verantwortung gedrängt worden war und fortan für die parlamentarische Ordnung stand - aus ihrer im historisch-materialistischen Determinismus verkrusteten Programmatik herauszuhelfen. Die Untersuchung der durch die rasante Expansion der Technik und Warenzirkulation bzw. der neuen Medien, Rundfunk, Kino, Boulevardpresse vermittelten Massenkultur sowie ihrer Zielgruppen aus der neuen Mittelschicht der Angestellten wies auf sozialstrukturelle Entwicklungen, die von der sozialistischen Theorie mit ihrer simplen Dichotomie von Kapital und industrieller Arbeit nur unzulänglich erfasst werden konnten. Beispielhaft dokumentieren die neuartigen Analysen den fundamentalen Unterschied zu den überkommenen Denkmustern, sowohl der ökonomisch determinierten sozialistischen Gesellschaftskritik wie auch der pessimistischen konservativen Modernitätskritik. Ihr Thema waren zwar auch die Gefahren der Entfremdung und Identitätsverluste des Menschen in der modernen Welt mit ihren Zwängen und anonymen gesellschaftlichen Institutionen, aber sie suchten nach neuen Antworten jenseits der traditionellen theoretischen und weltanschaulichen Gewissheiten. Sie begrüßten die moderne Massengesellschaft, denn erstens bot ihre Anonymität Schutz vor Kontrolle und einen Zuwachs an

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Bewegungsspielräumen, zweitens enthielt ihre Tendenz zur Entfremdung und Entwurzelung die Chancen zu größerer Mobilität, durch die drittens traditionelle Hierarchien unterlaufen werden konnten, und sie standen viertens positiv zur Kulturindustrie, die das Monopol der elitären hohen Kultur einebnete und dem Massenbedürfnis nach Unterhaltung entgegenkam, während nach dem Kulturverständnis der Sozialdemokratie die Massen an jene bürgerliche Hochkultur herangeführt werden sollten. Doch dieses Einverständnis war keineswegs unkritisch. Niemand hat die „konstruierte Wirklichkeit" der Massenkultur und die ihr innewohnenden Verdrängungstendenzen als „Hauptmittel der Entpolitisierung" ebenfalls so schonungslos offengelegt wie Kracauer. Auf der einen Seite faszinierten ihn die demokratischen Möglichkeiten dieser Massenkultur; in den Kinos, Varietés und Revuen entstehe das „homogene Weltstadt-Publikum, das vom Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur Stenotypistin eines Sinnes ist." Larmoyante Klagen über die Wendung zum Massengeschmack kämen zu spät, weil das traditionelle Bildungsgut durch die rasante Änderung der gesellschaftlichen Realität längst fragwürdig geworden sei. Die Produkte der hohen Kultur seien „überlebte Gebilde, die vorbeischielen an den aktuellen Nöten der Zeit." Auf der anderen Seite seien die „Pläsierkasernen" jedoch nicht mehr als „Asyle" der geistig und emotional Obdachlosen. Nur hier „im reinen Außen" sei die Masse bei sich selbst, wie überhaupt die Massenkultur nicht mehr sei als der „ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität."11 Von hier aus suchte Kracauer auch nach Wegen zu einer nicht entfremdeten, befreiten Gesellschaft, die nicht durch Rückzug in individuelle oder vormoderne Nischen an der Peripherie, sondern nur nach vom, „mitten durch das System hindurch" erreicht werden könne. Die Aufgabe der Intellektuellen dabei sei sowohl Entlarvung des von der Massenkultur erzeugten falschen Bewusstseins, als auch - und das zielte auf die Zukunftsverheißungen der sozialistischen Theorie - die Destruktion fragwürdiger Utopien. Anstatt über solche messianisch unterlegten Erlösungsversprechen in ferner Zukunft nachzudenken, forderte er von den Intellektuellen, auf die Realisierung der „augenblicklichen Möglichkeiten" hinzuwirken.12 Hier deutet sich an, was auch im industriellen Design der Neuen Sachlichkeit, in der Bauhaus-Architektur

Siegfried Kracauer: Kult der Zerstreuung (Frankfurter Zeitung, 4.3.1926), in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main 1963, S. 313 f. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse (Frankfurter Zeitung 9./10.6.1927), in: ebd., S. 50 ff.; ders.: Minimalforderungen an die Intellektuellen (Die Neue Rundschau 42 (1931), Band 2, Heft 7, S. 71 ff.), in: ders.: Schriften 5.2. Frankfurt am Main 1990, S. 352 ff.; vgl. auch ders.: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Berlin 1930.

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und anderswo erkennbar ist. Man sah die Trivialitäten der Massenkultur als genuinen Beitrag zur Emanzipation und Demokratisierung, dem allerdings noch das entsprechende politische Bewusstsein folgen musste. In der Überlagerung von Modernitätsanalyse, soziologischer Aufklärung und politischer Standortbestimmung nach dem erlebten gesellschaftlichen Strukturbruch von 1918 dürfte die Einzigartigkeit, Originalität und Intensität dieser Analysen zu sehen sein. Sie gaben die entscheidenden Anstöße für die Kritik der Kulturindustrie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, mit der es erst in den Exiljahren sein spezifisches intellektuelles Profil gewann. Ihr Blick auf die Angestellten im expandierenden Dienstleistungssektor und die auf sie ausgerichtete Unterhaltungs- und Zerstreuungsindustrie gab Impulse für die Analyse der modernen Mittelschichten, wie sie in abstrakterer „soziographischer" Weise Anfang der dreißiger Jahre auch von Theodor Geiger begonnen wurde.13 Und sie antizipierten das, was die heutigen Konzepte der Cultural Studies mit ihrer Skepsis gegenüber großen Theorien und schnellen Generalisierungen auf ihre Fahnen geschrieben haben, ohne aber über jene Deutungsangebote aus den zwanziger Jahren analytisch hinausgelangt zu sein.14 Die Arbeiten stellten sich offensiv der modernen gesellschaftlichen Dynamik, sie integrierten die modernen technischen Möglichkeiten bei gleichzeitiger kritischer Reflexion ihrer Chancen wie ihrer Gefahren. Die Technik bzw. die Maschine, mit der in der konservativen deutschen Modernitätskritik Zerstörung und Verlust von Lebensqualität verbunden wurde, erscheint hier nach amerikanischem Vorbild als schöpferische Möglichkeit. Mit beeindruckender Problemsensitivität bereiteten jene Autoren damit das Feld für eine moderne, transdisziplinär angelegte Gesellschaftsanalyse vor und schufen die Grundeinsichten in die moderne Kulturindustrie. Entgegen der von Max Weber postulierten Werturteilsfreiheit der Wissenschaft gaben sie darüber hinaus Hinweise, wie eine kritische Gesellschaftswissenschaft vorgehen kann, die analytische Distanz bewahrt, ohne politisches Engagement aufzugeben. Der Intellektuelle müsse quasi im Spagat in der Gesellschaft wie draußen in der „Exterritorialität" stehen, so ebenfalls eine Denkfigur Kracauers, um gegen Affirmation des Bestehenden gefeit zu sein und um in handlungspraktischer Absicht die komplexen Zusammenhänge der Welt erkennen zu können. Ähnlich hatte solchen Anspruch auch die von Karl Mannheim seit Mitte der zwanziger Jahre konzipierte Soziologie des Wissens im Bild der „freischwebenden Intelligenz" gefasst, die zur kritischen Gesellschaftsanalyse nur dann fähig sei, wenn sie jederzeit bereit ist, die herrschenden Theorien und Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1932. Vgl. Douglas Kellner: Critical Theory and Cultural Studies. The Missed Articulation, in: Jim McGuigan (Ed.): Cultural Methodologies. London u.a. 1997, S. 12 ff.

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Paradigmen auf den Prüfstand der Plausibilität und Angemessenheit zu stellen. Den weitreichendsten Versuch vor 1933 in dieser Richtung hatte das Institut für Sozialforschung gemacht, das seit 1930 unter der Leitung Max Horkheimers und mit den jungen Mitarbeitern Herbert Marcuse, T.W. Adorno, Erich Fromm und anderen gerade angetreten war, die herrschenden wissenschaftlichen Anschauungen (Metaphysik, Positivismus, Szientismus) auf ihren ideologischen Charakter hin zu analysieren und ihnen in enger Verbindung mit empirischer Forschung eine interdisziplinäre Sozialwissenschaft entgegenzustellen.15 Flankiert und ergänzt wurden diese Analysen von Vertretern anderer Disziplinen. So leisteten jüngere Gelehrte vor dem Hintergrund der weltweit ungelösten ökonomischen und sozialen Folgeprobleme des Ersten Weltkriegs bahnbrechende Arbeiten gerade auf den Feldern der Wirtschaftswissenschaften. Zu diesen Leistungen zählten u.a. die Einsicht in die Dynamik des modernen Wirtschaftsablaufs durch den „technischen Fortschritt", wie es damals hieß, und die sie hegleitenden Freisetzungseffekte auf dem Arbeitsmarkt. Empirische Bestätigung fand das in den hektischen Rationalisierungen nach amerikanischem Vorbild (Fordismus, Taylorismus) während der Stabilisierungsphase nach Ende der Hyperinflation 1923/24. Die moderne Konjunktur- und Wachstumstheorie sind Ergebnisse dieser Einsichten. Darüber wurde zu jener Zeit zwar auch in anderen Ländern nachgedacht, in Deutschland hatte das jedoch eine eigene Qualität, weil solche Analysen hierzulande mit expliziten politischen Absichten, ja Überlebensstrategien verbunden waren. Von ihnen wurden unter dem Stichwort „aktive Konjunkturpolitik" nämlich umfassende wirtschaftspolitische Eingriffe abgeleitet, um die wirtschaftliche Dynamik im ausgewogenen Gleichgewicht von Kapitalinvestitionen bzw. technologischer Innovationen und möglichst hoher Beschäftigung zu halten und damit der permanent krisengefahrdeten Republik ein solides soziales Fundament zu schaffen. Auch die 1920 gegründete Deutsche Hochschule für Politik in Berlin sollte der wissenschaftlich unterlegten Sicherung der Republik dienen. Sie bildete die Keimzelle der modernen Politikwissenschaft in Deutschland, die für ihre Zeit etwas radikal Neues darstellte. Bedeutsam ist nicht nur der Adressatenkreis, der als künftige Funktionselite der Republik ausgebildet wurde, sondern auch der Lehrkörper, der sich heute wie ein Who's Who der nach 1933 vertriebenen Gelehrten liest, von denen die meisten an renommierte Universitäten

Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Bonn 1929, bes. S. 123 ff.; Max Horkheimer: Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), S. 1 ff.

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der USA berufen wurden. Genannt seien nur Hajo Holborn und Arnold Wolfers, die nach Yale gingen.16 Alle diese innovativen Milieus wurden von den Nationalsozialisten vertrieben. Für die Gesellschaftswissenschaften gilt, dass die modernen Forschungsansätze oder Teildisziplinen in Deutschland ein abruptes Ende fanden, während in den konservativen, nationalstaatlich orientierten Fächern wie der Germanistik, den Geschichtswissenschaften oder den alten sog. Staatswissenschaften in der Tradition der Historischen Schule der Nationalökonomie, zu denen jüngere Wissenschaftler jüdischer Herkunft oder mit sozialdemokratischen Überzeugungen in den 1920er Jahren nur selten Zugang gefunden hatten, nur wenige gehen mussten. So sind in den Wirtschaftswissenschaften 180 Gelehrte, davon 62 Professoren (45 ordentliche und 17 außerordentliche) entlassen worden, in den Geschichtswissenschaften dagegen nur 41, davon zwölf Professoren (sieben ordentliche und fünf außerordentliche), wobei es sich bei diesen überwiegend um Althistoriker und Mediävisten handelte; nur zwei waren Neuzeithistoriker, so der Königsberger Ordinarius Hans Rothfels und der nichtbeamtete a.o. Professor Gustav Mayer aus Berlin. In der nahezu geschlossenen Gesellschaft der Neuzeithistoriker sind lediglich einige Nachwuchskräfte jüdischer Herkunft zu finden, die gerade ihre Habilitation abgeschlossen hatten oder kurz davor standen. Die meisten von ihnen waren Schüler des ,,Vernunftrepublikaners" Friedrich Meinecke in Berlin, bei dem jüdische Studenten zwar promovieren konnten, ihre Habilitation unterstützte er jedoch nur, wenn sie getauft waren.17 Während die deutschen Hochschulen nach 1933 rund 30 Prozent ihres Lehrkörpers verloren, waren es in jenen modernen Fächern bis zu 60 Prozent. Von diesem Aderlass sollte sich die deutsche Wissenschaft nie wieder erholen, während jene Moderlnisierungselite andererseits der intellektuellen Kultur insbesondere in den USA zur einzigartigen, bis heute nachwirkenden Blüte verhalf. Zu den Zentren der modernen ökonomischen Analyse beispielsweise zählten die Universitäten Frankfurt, Heidelberg und Kiel. In letzterer hatten sich die an das dortige Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr aus den Reichsbehörden berufenen jüngeren Wissenschaftler, unter anderem Adolf Löwe, Gerhard Colm und Hans Neisser, mit ihren Arbeiten zur Konjunkturund Wachstumstheorie alsbald zu einer prominenten Gruppe entwickelt, die

Antonio Missiroli: Die Deutsche Hochschule für Politik. Sankt Augustin 1988; Rainer Eisfeld: Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920-1945. Baden-Baden 1991. Felix Gilbert: Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945. Berlin 1989, S. 84 f.

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heute als Kieler Schule bezeichnet wird.18 An der Universität Berlin dagegen, eine Hochburg der alten Historischen Schule der Nationalökonomie, sind nur wenige Wirtschaftswissenschaftler entlassen worden; und die wenigen davon Betroffenen waren im übrigen häufig schon Emeriti, die aufgrund ihres Alters nicht emigrierten. Als Faustformel gilt, dass etwa zwei Drittel der von den Hochschulen Entlassenen ins Exil gingen, wobei das Alter der Betroffenen entscheidend für diesen Schritt gewesen ist. III. Wie einleitend schon angedeutet, wurden die vertriebenen Gelehrten in den USA mit offenen Armen empfangen. Für Wissenschaftler galten zum Beispiel nicht die rigiden Länderquoten, die seit dem Ersten Weltkrieg die Einreise begrenzten und Ende der dreißiger Jahre mit zu dem Flüchtlingsdrama in Europa beitrugen. Die finanziellen Mittel für eine geräuschlose Aufnahme wurden von den großen, für die USA typischen philanthropischen Stiftungen wie z.B. der Rockefeiler Foundation oder dem Carnegie Endowment bereitgestellt. Mit eigenen Hilfsprogrammen oder durch Unterstützung der zahlreichen nach 1933 entstandenen Hilfskomitees sorgten sie für die zügige Platzierung der Flüchtlinge.19 Das war weniger Philanthropie oder Protest gegen den Totalitarismus in Europa, sondern entsprach ganz pragmatisch eigenen nationalen Interessen. Nicht von ungefähr wurde dieser kostenlose intellektuelle Transfer in den USA immer wieder mit dem Exodus der Gelehrten aus Byzanz nach dem Fall des oströmischen Reiches 1453 verglichen, die wesentlich zur Blüte der Renaissance in Italien und Westeuropa beigetragen haben. In New York wurden von dem Direktor der kleinen New School for Social Research, einer nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Abendhochschule für Erwachsene, gar die Mittel gesammelt, um schon im Sommer 1933 eine einzigartige „University in Exile" zu gründen, an der bis 1945 mehr als 170 „refugee scholars" auf Dauer oder vorübergehend tätig wurden. Als Sozialwissenschaftler kannte er die intellektuellen Potentiale in Deutschland und Europa, und als engagierter New Dealer erhoffte er sich von den gezielt ausgewählten Flüchtlingen einen Beitrag zur theoretischen Fundierung des zu Genauer dazu Claus-Dieter Krohn: Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research. Frankfurt am Main/New York 1987, S. 62 ff.; Harald Hagemann: Zerstörung eines innovativen Forschungszentrums und Emigrationsgewinn. Zur Rolle der „Kieler Schule" 1926— 1933 und ihrer Wirkung im Exil, in: ders. (Hg.): Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933. Marburg 1997, S. 293 ff. Stephen Duggan/Betty Drury: The Rescue of Science and Learning. The Story of the Emergency Committee In Aid of Displaced Foreign Scholars. New York 1948.

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dieser Zeit gerade von Präsident Roosevelt bei seinem Amtsantritt aufgelegten Wirtschaftsprogramms zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise. An der benachbarten Columbia University kam das Frankfurter Institut für Sozialforschung als geschlossene Organisation unter; aufgrund seines privaten, auch in den USA angelegten Stiftungsvermögens konnten hier ebenfalls zahllose Flüchtlinge angestellt werden und ihre wissenschaftliche Arbeit in einem homogenen Gruppenklima fortsetzen.20 Die bereitwillige Aufnahme kleinerer Zirkel oder von Einzelwissenschaftlem auch an diversen anderen Universitäten und Forschungseinrichtungen ist damit zu erklären, dass vor dem Hintergrund des amerikanischen Isolationismus nach dem Ersten Weltkrieg ein großer Bedarf an Experten für international ausgerichtete Forschungen bestand, der mit Beginn des Zweiten Weltkrieges und dem Kriegseintritt der USA 1941 noch zunahm. Die deutschen Experten avancierten in jenen Jahren zu vielfach konsultierten Ansprechpartnern für die Washingtoner Administration; einige von ihnen wurden als neue amerikanische Bürger auch direkt am „war effort" in zahlreichen neuen Kriegsbehörden beteiligt, so etwa in der Forschungsabteilung des 1942 gegründeten Office of Strategie Services, dem Vorläufer der CIA, wo u.a. in Teamarbeit die Nachkriegsplanungen für das von den alliierten Armeen zu besetzende Deutschland konzipiert wurden.21 Durch diese günstigen Rahmenbedingungen, erstens die Hilfsbereitschaft der amerikanischen Wissenschaftsgemeinschaft, zweitens die Flucht zu einem Zeitpunkt, als die Weltwirtschaftskrise und die Diktaturen in Europa gerade zu einem Umdenken in den Sozialwissenschaften in den westlichen Ländern führte, drittens die originellen und erfahrungswissenschaftlich geprägten Ideenpotentiale, die die Vertriebenen in ihrem geistigen Gepäck mitführten, und viertens durch den Bedarf der USA an international ausgerichteten Forschem konnten die meisten deutschen Flüchtlinge trotz des Schicksalsschlags, den die Vertreibung im Einzelfall bedeutete, ihre Karriere in den USA nicht nur bruchlos fortsetzen, für viele brachte die Vertreibung sogar einen bemerkenswerten Karrieresprung. Insbesondere gilt das für Wissenschaftlerinnen, die in Deutschland nur in Ausnahmen die unteren Segmente der Karriereleiter verlassen hatten und jetzt an den zahlreichen Mädchen-Colleges als Professorinnen Aufnahme fanden. Darüber hinaus ergab die Verbindung der von den Deutschen mitgebrachten, in starkem Masse theoriegeleiteten Erkenntnisinteressen mit dem pragmatisch und empirisch orientierten amerikanischen WisKrohn: Wissenschaft im Exil (wie Anm. 11); Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung. München 1986. Alfons Söllner (Hg.): Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst. 2 Bände. Frankfurt am Main 1982/86.

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senschaftsverständnis eine fruchtbare Symbiose, deren Ideenpotentiale nachhaltige Wirkungen zeigen sollten. Sehr schnell wurde von den Betroffenen selbst wahrgenommen, dass sie zu den Privilegierten unter den Flüchtlingen gehörten. Die übergroße Mehrzahl verstand sich alsbald auch nicht mehr als Exilanten oder Asylanten, die auf eine Rückkehr warteten, sondern als Emigranten, die sich auf Dauer in den USA integrieren wollten. Insgesamt kehrten von ihnen nach 1945 nur knapp zehn Prozent zurück. Schon aus der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gibt es zahlreiche Zeugnisse von Betroffenen, die von ihrer erfolgreichen Akkulturation berichten. Die erzwungene Flucht und der Neuanfang habe zu neuen Lernprozessen geführt, man sei gezwungen gewesen, die mitgebrachten sozialen und kulturellen Leitbilder und die „teutonischen" Denk- und Verhaltensmuster zu überprüfen. Kurz, man empfand sich als „ubiquitäre Existenz", als neue Weltbürger, die überall zu Hause sind.22 Solche verklärenden Urteile wurden sicher auch von dem Erstaunen, ja der Faszination über die neu erlebten zivilen, nicht von hierarchischem oder ständischem Denken bestimmten Umgangsformen mitgeprägt, so dass man die realen Widersprüche im dortigen öffentlichen Leben, die verbreitete Fremdenfeindlichkeit und den offenen oder latenten Antisemitismus auch in den USA übersah oder verdrängte; an den konservativen Universitäten der Ivy League hatten Juden z.B. bis 1945 keine Chance berufen zu werden. Dem bereits erwähnten Arnold Wolfers gelang beispielsweise der Ruf nach Yale nur, weil er seine familiäre Herkunft verschwiegen hatte. In der summarischen Rückschau können einige Beispiele skizziert werden, die zeigen, welche intellektuellen und disziplinaren Impulse die Flüchtlinge aus Deutschland zu geben vermochten: 1. Politikwissenschaft Emigrierte Juristen waren angesichts der in den USA anderen Rechtsverhältnisse gezwungen, entweder das amerikanische „case law system" neu zu studieren oder sich nach neuen Tätigkeitsfeldern umzusehen. Viele der Jüngeren wählten den zweiten Weg, unter ihnen die Kerngruppe der Berliner Hochschule für Politik, und erschlossen dadurch neue Forschungsgebiete wie die internationale Rechtsvergleichung und vor allem die in den dreißiger Jahren noch in den Anfängen der professionellen Ausdifferenzierung stehende Politikwissenschaft. Schon in den zwanziger Jahren hatten sie gegen das in Deutschland Vgl. dazu das Symposium an der „University in Exile" 1937, insbesondere Hans Speier: The Social Conditions of the Intellectual Exile, in: Social Research 4 (1937), S. 316-328; ferner W. Rex Crawford (Ed.): The Cultural Migration. The European Scholar in America. Philadelphia 1953.

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herrschende rechtspositivistische, allein dem Gesetz als Erkenntnisgrundlage verpflichtete Staatsrecht mit seiner strengen Trennung von Recht und Politik die ersten Ansätze dafür entwickelt, die vor allem nach den soziologischen Grundlagen des Rechts und des politischen Handelns fragten. Vor dem Hintergrund der gescheiterten ersten deutschen Republik wurde die Demokratietheorie, der Selbstschutz einer „militant democracy" dann zu ihrem zentralen Forschungsfeld, wohingegen die Gefährdungen der Demokratie kaum zum Gegenstand der amerikanischen Kollegen zählte. Exemplarisch genannt seien nur Karl Loewensteins Arbeiten zur demokratischen Machtausübung und Machtkontrolle oder die Pluralismustheorie Ernst Fraenkels, die den Blick auf die moderne Massengesellschaft mit ihren unterschiedlichen Interessengruppen lenkte.23 Mit diesem Ansatz sollte Fraenkel nach seiner Remigration nach Deutschland zu einem der wirkungsreichsten Fachvertreter auch hierzulande werden. Die Bedeutung seines Pluralismusansatzes ist darin zu sehen, dass er nicht aus dem Individualprinzip der liberalen Theorie entwickelt wurde, sondern aus den sozialstaatlichen Vorstellungen unterschiedlicher Interessengruppen mit ihren jeweiligen Machtansprüchen. Für Franz Neumann - wie Fraenkel ehedem neben seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule für Politik ebenfalls Rechtsvertreter einer deutschen Gewerkschaft und in den USA später einflussreicher Wissenschaftler zunächst im OSS und dann an der Columbia University - markierten die Konflikte zwischen der politischen Demokratie und der zunehmend monopolisierten Wirtschaftsstruktur in den Industrieländern den Ausgangspunkt seiner Forderung nach Kodifizierung eines sozialstaatlichen Legalitätsgerüstes für funktionsfähige demokratische Verfassungsordnungen. Erwähnt sei ferner Sigmund Neumann an der Wesleyan University, dessen Totalitarismusanalysen repräsentativ für entsprechende Forschungen auch zahlreicher anderer Emigranten sind, man denke nur an Hannah Arendts berühmte Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aus den fünfziger Jahren. Überhaupt ist die Totalitarismustheorie eine erfahrungswissenschaftliche Schöpfung der deutschen Emigranten, deren Einsichten jedoch zusehends in den Hintergrund traten, als jene zum ideologischen Kampfinstrument während des Kalten Krieges wurde. Dieses Themenfeld zeigt, dass von Sozialwissenschaftlern und nicht von den wenigen Historikern, die emigriert waren, schon früh auch die ersten Analysen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems vorgelegt wurden. Erwähnt seien neben Hannah Arendt nur Franz Neumanns Studie Behemoth mit Karl Loewenstein: Militant Democracy und Fundamental Rights, in: American Political Science Review 31 (1937), S. 417-432, 638-658; Emst Fraenkel: Das amerikanische Regierungssystem. Köln/Opladen 1960. Dazu Hubertus Buchstein: Ernst Fraenkel als Klassiker, in: Leviathan. Zeitschrift fflr Sozialwissenschaft 26 (1998), S. 458 ff.

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ihrer Definition des Nationalsozialismus als totalitärer Monopoldiktatur und Ernst Fraenkels Buch über den Doppelstaat, in dem das Nebeneinander von rechtsförmigem Normenstaat im Interesse eines reibungslosen privatwirtschaftlichen Wirtschaftsablaufs und dem willkürlichen, auf Gewalt beruhenden Maßnahmestaat als Strukturprinzip der NS-Herrschaft herausgestellt wird. Bis heute zählen diese 1941 und 1942 erschienenen Werke24 zu den bedeutendsten Analysen, die in ihrer Systematik wie Problemsicht im denkbar größten Kontrast stehen zur frühen nachkriegsdeutschen NS-Forschung mit ihrer Dämonisierung Hitlers oder ihrer hilflosen Klage über den Einbruch des ,3ösen" in die deutsche Geschichte.25 2. Soziologie Auch die Beiträge von Emigranten zur Soziologie zeichnen sich dadurch aus, dass sie häufig von Gelehrten kamen, die in den zwanziger Jahren in anderen Disziplinen tätig gewesen waren, und dass ihnen die gleichen erfahrungswissenschaftlichen Engagements zugrunde lagen. Vor allem haben sie den Blick auf die Entwicklung der modernen Massengesellschaft gerichtet, für die die USA unbegrenztes Anschauungsmaterial boten. Der am Beispiel Kracauers in den 1920er Jahren dargestellte Optimismus war nach dem Schock der Vertreibung jedoch verflogen. Thematisiert wurden jetzt vor allem die Gefahrenpotentiale der modernen Massengesellschaft. Zu nennen wären beispielsweise die Arbeiten des Wirtschaftswissenschaftlers Emil Lederer von der „University in Exile" über den modernen Massenstaat26, insbesondere aber die bahnbrechenden Untersuchungen des früheren Frankfurter Instituts für Sozialforschung über den Zusammenhang von autoritärer Charakterstruktur und politischem Verhalten, über die verwaltete Welt und über die moderne Kulturindustrie mit den darin eingeschlossenen Warnungen vor dem Zerfall des Fortschritts und der Moderne in Regression und Irrationalismus. Durch diese Schriften in der Emigration gewann das Institut überhaupt erst sein spezifisches, bis heute nachwirkendes Profil als „Frankfurter Schule" oder „Kritische Theorie". In Kooperation mit amerikanischen Kollegen erwarben die Institutsvertreter bei verschiedenen Untersuchungen über das Bewusstsein unterschiedlicher sozialer Gruppen in den USA jedoch auch die vertieften Franz Neumann: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism. New York u.a. 1942; Ernst Fraenkel: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship. New York u.a. 1941; vgl. auch Sigmund Neumann: Permanent Revolution. The Total State in a World at War. New York u.a. 1942. Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989; Walter H. Pehle/Peter Sillem (Hg.): Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945? Frankfurt am Main 1992. Emil Lederer: State of the Masses. The Threat of the Classless Society. New York 1940.

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Kenntnisse in den empirischen Forschungsmethoden, die später von den remigrierten Institutsangehörigen der jüngeren Generation im Nachkriegsdeutschland vermittelt wurden.27 In diesen Kontext gehören ebenfalls die Arbeiten Siegfried Kracauers in New York über die Massenbeeinflussung und -propaganda. Als Mitarbeiter der Film Library im Museum of Modern Art hatte er regelmäßig den „Nazi War Film" beobachtet, und auf diesen Analysen aufbauend wurde er dann mit seiner berühmten Studie Front Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film28 von 1947 zum Mitbegründer der modernen Filmsoziologie. Alle diese Arbeiten sind weitgehend bekannt, seit langem zählen sie zu den klassischen Werken der Gesellschaftsanalyse und sollen deshalb nicht weiter betrachtet werden. 3. Wirtschaftswissenschaften Zu den bedeutenden Botschaften emigrierter Ökonomen gehörten die Analyse der modernen Wachstums- und Konjunkturbewegung, die öffentliche Finanzwirtschaft, die Planungstheorie und die Sozialpolitik; die letzten dieser Forschungsfelder waren in den USA und anderen Zufluchtsländern bis dahin kaum entwickelt. Damit trugen Emigranten nicht nur zur theoretischen Fundierung des Rooseveltschen New Deal, sondern ebenso zur Modifikation und Ausdifferenzierung des keynesianischen Krisenbekämpfungsmodells bei, das den Paradigmenwechsel der theoretischen Diskussion in den dreißiger Jahren einleitete. In den westlichen Industrieländern führte er zu einem neuen Verständnis des Staates als aktivem Teil des Wirtschaftsprozesses. Vor allem konnten die deutschen Ökonomen an der „University in Exile", genannt seien nur die bereits erwähnten Emil Lederer, Adolf Löwe, Hans Neisser und Alfred Kähler, mit ihrer Analyse des modernen Technologieproblems den nur konjunkturell argumentierenden keynesianischen Ansatz um strukturtheoretische Variablen erweitern. Kontrastierend zu diesen Interventionsoptimisten könnte man die Emigration der streng marktradikalen österreichischen Schule nach dem „Anschluss" 1938 nennen, die zum einen mit ihrem orthodoxen Flügel um Ludwig Mises in den USA und Friedrich A. Hayek in Großbritannien zu den vehementen Dazu jüngst Clemens Albrecht/Günter Behrmann/Michael Bock/Harald Hohmann/ Friedrich H. Tenbrock: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main/New York 1999. Siegfried Kracauer: Propaganda and The Nazi War Film. New York: The Museum of Modern Art Film Library 1942 (Mimeo); ders.: The Conquest of Europe on the Screen. The Nazi Newsreel 1939-1940. Washington, D.C.: The Library of Congress. Experimental Division for the Study of War Time Communication 1943 (Mimeo); ders.: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Princeton 1947.

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Gegnern der Keynesianer und New Dealer zählte, zum anderen aber auch, wie etwa die von Oskar Morgenstern mit dem Mathematiker John von Neumann entwickelte Spieltheorie zeigt, bahnbrechende interdisziplinäre Analysen zur Bestimmung des Marktverhaltens unter Ungewissheit vorgelegt hat. Langfristig sollten deutsche Ökonomen im Bereich der modernen Finanzplanungstheorie die wichtigsten Akzente setzen. Dafür stehen beispielsweise Gelehrte wie Gerhard Cohn, ebenfalls von der „University in Exile", und der junge Richard A. Musgrave, der nach dem Diplom in Heidelberg schon in Harvard promoviert hatte. Mit ihrer multiplen Theorie des öffentlichen Haushalts, der im modernen Wirtschaftsprozess allokative, verteilungspolitische und kreislaufstabilisierende Aufgaben zu erfüllen habe, konnten sie die Finanzwissenschaft zu einer eigenen Teildisziplin ausbauen. Musgrave zählt heute zu den international bedeutendsten Vertretern der Finanzwissenschaft. Ihre Forschungen umfassten zugleich das in den dreißiger Jahren neu erschlossene Forschungsgebiet der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, das die gesamtwirtschaftliche Struktur und ihre strategischen Daten zu bestimmen sucht, um daraus die geeigneten Zielkorridore für gleichmäßiges Wachstum, Vollbeschäftigung und Währungsstabilität zu ermitteln. Colm, der bereits in den dreißiger Jahren in die Washingtoner Administration gewechselt und dort in einer Blitzkarriere bis in den Stab der Präsidentenberater aufgestiegen war, zählt nicht nur zu den Schöpfern des sog. „Füll Employment Act" von 1946, mit dessen Hilfe in den USA der Übergang von der Kriegs- in die Friedenswirtschaft politisch gesteuert wurde, sondern auch zu den geistigen Vätern der deutschen Währungsreform. Der von ihm zusammen mit den Bankiers Joseph Dodge und Raymond Goldsmith - dieser ein Schicksalsgenosse aus Berlin - im April 1946 für die amerikanische Besatzungsmacht in Deutschland erarbeitete und später unter ihren Anfangsinitialen berühmt gewordene CDG-Plan wollte die Geldkontraktion zur Beseitigung des Zahlungsmittelüberhangs aus der deutschen Kriegsfinanzierung mit einem rigorosen Lastenausgleich verbinden, um die Begünstigung der Sachwertbesitzer auf Kosten der Sparer wie in der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern. Diese wirtschaftliche Flankierung des demokratischen Aufbaus in Deutschland durch ausgeglichenere Startchancen hielt man in Washington jedoch für eine nicht zu akzeptierende Umverteilungspolitik. Sein Engagement für den deutschen Wiederaufbau bezahlte Colm mit dem Verlust der Stellung als Präsidentenberater.29 Wie man weiß, ist die Währungsreform vom Juni 1948 dann ohne solchen Lastenausgleich durchgeführt worden; und

Krohn: Wissenschaft im Exil (wie Anm. 18), S. 190 ff.; Wolfram Hoppenstedt: Gerhard Colm. Leben und Werk (1897-1968). Stuttgart 1997, S. 157 ff.

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als dieser Anfang der 1950er Jahre von der Regierung Adenauer nachgeholt wurde, waren die sozialstrukturellen Weichen längst gestellt. 4. Historiker Im Vergleich zu diesen Gesellschaftswissenschaften, in denen bestimmte intellektuelle Netzwerke mit relativ homogenen und originellen Forschungsprofilen auszumachen sind, blieb der Einfluss der wenigen emigrierten Historiker begrenzt. Sie stellten keine kohärente Schule dar, die mit spezifischen neuen Fragen, Methoden und intellektuellen Botschaften im Gepäck kamen. Es hat vielmehr den Anschein, dass die Integration der Historiker in den USA gegenläufig zu der der Sozialwissenschaftler verlief. Die Älteren waren gezwungen, ihre konservativen Anschauungen zu revidieren: Der Mediävist, Stefan George-Freund und ehemalige Freikorps-Kämpfer Ernst Kantorowicz distanzierte sich vom Elitismus seiner 1927 erschienenen Staufer-Biographie Kaiser Friedrich der Zweite, die den Genius deutscher Größe als Gegenbild zur Weimarer Demokratie beschworen hatte, der Meinecke-Schüler Gerhard Masur vermerkte, wie tiefgreifend für ihn die Anerkennung der demokratischen Gesellschaft wurde, und Hans Rothfels löste sich von seinen alten machtstaatlichen Fixierungen in der Tradition der borussischen Schule zugunsten des rechtsstaatlichen Primats, ohne allerdings seine Präferenzen für die preussisch-konservativen Eliten aufzugeben.30 Die Jüngeren, schon von der Weimarer Republik geprägten Historiker fanden demgegenüber erst in den USA Anregungen und Verständnis für Fragen, die sie in Deutschland erst angedacht und die sie als Außenseiter stigmatisiert hatten. Künftig gingen sie Themen nach, die auf die verschütteten zivilen Traditionen in Deutschland aufmerksam machten, oder sie untersuchten den deutschen „Sonderweg", der in der Barbarei des Nationalsozialismus mündete, so etwa Arthur Rosenberg mit seiner Schrift Demokratie und Sozialismus-, Alfted Vagts arbeitete über den deutschen Militarismus, Hans Rosenberg über die preußischen Rittergutsbesitzer, George F. Hallgarten über den Imperialismus oder Erich Eyck in England über Bismarck. Über all das ist das letzte Wort allerdings noch nicht gesagt, noch fehlen genauere Untersuchungen zur Akkulturation und Wirkung dieser Historiker. Lediglich über die sog. „zweite Generation", die erst in der Emigration zu Historikern wurden, neben Peter Gay auch George Mosse oder Fritz Stern, um nur einige zu nennen, liegen detailliertere Analysen vor.31

Peter Th. Walther: Emigrierte Historiker in den USA, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 7 (1984), S. 41 ff. Heinz Wolf: Deutsch-jüdische Emigrationshistoriker in den USA und der Nationalsozialismus. Bern u.a. 1988.

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In ihren Zufluchtsländern wirkten die Immigranten vor allem als Vermittler der europäischen Geschichte, und das durchaus mit nachhaltigen innovativen Impulsen. Die Mediävisten Hans Baron, Felix Gilbert und Paul Otto Kristeller wurden zu führenden Renaissanceforschern in den USA. Hajo Holborn gilt als Wegbereiter der „intellectual history", einer Sozialgeschichte der Ideen, die sich fundamental von der Meinecke-Tradition vinterschied. In Holborns Seminar in Yale sammelte sich überdies ein großer Teil jüngerer Immigranten der zweiten Generation, die später zu den prominenten Deutschland- und EuropaHistorikern in den USA zählen sollten. Herausragend sind weiterhin die Wirkungen von Archivaren gewesen. Ernst Posner, der von 1939 bis 1961 an der American University in Washington lehrte, schuf die Grundlagen für eine professionelle Archivausbildung in den USA. Ähnliche Bedeutung hatten Georg Herlitz und Alexander Bein in Palästina. Herlitz war bereits seit 1911 Direktor des Gesamtarchivs der deutschen Juden in Berlin gewesen, das 1933 nach der Überführung nach Jerusalem den Grundstock der künftigen Central Zionist Archives bildete. Herlitz' Stellvertreter und späterer Nachfolger Bein, 1933 aus dem Reichsarchiv entlassen, baute nach der Gründung Israels als „Erster Staatsarchivar" das staatliche Archivwesen auf und gehörte zu den Initiatoren der Forschungsstätte Yad Vashem. Man könnte noch andere Disziplinen erwähnen, in denen deutsche Emigranten nachhaltige Impulse gegeben haben, so etwa die Kunstgeschichte, die von Emigranten überhaupt erst als Fach in die amerikanische Wissenschaft eingeführt wurde, oder die Architektur, die durch ehemalige Bauhaus-Vertreter wie insbesondere Ludwig Mies van der Rohe bleibende Anstöße erhalten hat; die Glas- und Stahlkonstruktionen der amerikanischen Wolkenkratzer sind dafür ein täglich sichtbarer Beleg. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der geistige Transfer der kleinen Elite emigrierter Intellektueller so erfolgreich und wirkungsvoll gewesen ist, dass nur eine Minderheit nach 1945 nach Deutschland zurückkehrte. Eine Bestätigung dafür mag weiterhin der spektakuläre Erfolg des 1987 erschienenen Bestsellers The Closing of the American Mind aus der Feder des Philosophen Allan Bloom sein. In dieser Kampfschrift des seit den sechziger Jahren - vor dem Hintergrund der Bürgerrechtsbewegung und der Proteste gegen den Vietnam-Krieg - erstarkten nativistischen Bewusstseins, das in der geistigmoralischen Wende während der Reagan-Ära dann zum Durchbruch kam, wird mit dem angeblich unheilvollen Einfluss jener intellektuellen „German connection" ehemaliger Emigranten abgerechnet. Vor dem Hintergrund jenes in den 1960er Jahren aufflammenden Nativismus ist auch die Publikation Peter Gays über die „Weimar Culture" zu sehen, die im Rahmen einer umfassenden Studie über die deutsche Intellectual Migration der dreißiger Jahre und

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ihre Bedeutung für die USA entstanden ist.32 Nach Bloom dagegen, seltsamerweise selbst Schüler des emigrierten konservativen Philosophen Leo Strauss, habe diese mit ihren ideologie- und gesellschaftskritischen Methoden die jüngere Generation verdorben und damit das Verständnis für die großen liberalen und christlichen Werte Amerikas zerstört, wodurch die amerikanische Kultur zu einer Art,Disneyland version of the Weimar Republic" geworden sei.33 Andere Stimmen meinen, dass die USA auch ohne die Emigranten allein aufgrund ihrer materiellen Ressourcen zur führenden Wissenschaftsmacht aufgestiegen wären.34 Das mag so sein, widerlegt aber die Tatsache nicht, dass die deutschen Wissenschaftler genau zur richtigen Zeit kamen und für jenen intellektuellen „brain drain" sorgten, als die USA erst auf dem Weg zur intellektuellen Großmacht waren. In der Bundesrepublik ist das Erbe der Weimarer Kultur demgegenüber lange ein Tabu geblieben. Wie nach dem Ersten Weltkrieg beherrschten hierzulande auch nach 1945 die alten Eliten die Schaltstellen der politischen Macht und der öffentlichen Meinung. Während es in der Weimarer Republik aber noch jene demokratische, kritisch-dissidente Gegenöffentlichkeit gegeben hatte, waren solche Traditionen in der Bundesrepublik durch die Vernichtungsund Vertreibungspolitik der Nazis nahezu ausgelöscht worden. Daran konnten auch die wenigen zurückgekehrten Emigranten nichts ändern. Zwar war mit der Kerngruppe des Instituts für Sozialforschung um Max Horkheimer eine ganze repräsentative Institution der ehemaligen Weimarer Kultur nach Frankfurt zurückgekehrt, und auch an der wiedergegründeten Hochschule für Politik in Berlin, die später in der Freien Universität aufging, versammelten sich zahlreiche Rückkehrer. Sie alle taten aber gut daran, zurückhaltend im Hintergrund zu bleiben, denn lange Zeit konnten in der Öffentlichkeit Ressentiments gegen die vermeintlichen Vaterlandsverräter dieses „anderen Deutschland" mobilisiert werden, wie beispielhaft die maßlosen Attacken auf den SPDKanzlerkandidaten Willy Brandt noch weit in den sechziger Jahren zeigen. Die zurückgekehrten Vertreter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, insbesondere Max Horkheimer, verstanden es meisterhaft, die Rolle der erfolgreichen amerikanischen Wissenschaftler zu spielen, für die die Rückkehr in erster Linie ein Opfer war. Diese Attitüde setzten sie als Druckmittel bei der Wiedererrichtung des Instituts sowohl gegenüber amerikanischen Geldgebern

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Gay: Weimar Culture (wie Anm. 1). Allan Bloom: The Closing of the American Mind. How Higher Education has failed Democracy and impoverished the Souls of today's Students. New York 1987, S. 141 ff. Earlene Craver and Axel Leijonhufvud: Economics in America: The Continental Influence, in: History of Political Economy 19 (1987), S. 173 ff.

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wie auch gegenüber dem hessischen Kultusministerium ein.35 Gleichwohl verbarg sich dahinter vor allem die selbstzweifelnde Doppelexistenz der Remigranten, die mit tiefsitzender Skepsis über die deutsche Nachkriegsentwicklung lange zwischen Bleiben in Deutschland und Rückkehr in die USA schwankten. Keiner dieser Gelehrten hat jemals im Lehrbetrieb sein Emigrantenschicksal erwähnt, und die meisten haben, wie man heute weiß, aus Ungewissheit über die Entwicklung in der Bundesrepublik die zuvor erworbene Staatsangehörigkeit ihres Zufluchtslandes beibehalten. Nicht erstaunlich ist daher auch, dass die üblichen wissenschaftstheoretischen und methodischen Kontroversen beim Wiederaufbau der modernen Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre nach amerikanischem Vorbild, insbesondere der Soziologie als neuer Deutungswissenschaft der Gesellschaft, weniger zwischen Remigranten und Dagebliebenen ausgetragen wurden. Die Konfliktlinien verliefen vielmehr zwischen den unterschiedlichen Remigrantengruppen, wofür exemplarisch der wachsende Gegensatz zwischen dem aus der Schweiz zurückgekehrten, in Köln schulebildenden René König und dem Horkheimer-Kreis in Frankfurt, also zwischen „empirischer" und „kritischer" Sozialforschung, genannt werden kann, der dann im sogenannten Positivismusstreit der sechziger Jahre seinen Höhepunkt fand.36 Erst mit der Bewusstseinsdämmerung einer jüngeren Generation, die in den Wirtschaftswundeijahren herangewachsen und die Konformität des Verschweigens in der Adenauerzeit nicht mehr widerspruchslos hinzunehmen bereit war, änderte sich das Blatt. Die Studentenbewegung der sechziger Jahre entdeckte auf der Suche nach eigener intellektueller Orientierung die verschollene Weimarer Gegenkultur. Sie erschloss und verbreitete dann jene kritischen Gesellschaftsanalysen aus den 1920er Jahren und dem Exil - häufig genug in konfliktreichen und verletzenden Auseinandersetzungen mit ihren akademischen Lehrern - und sorgte somit dafür, dass sie heute längst zu Standardwerken der Gesellschafts- und Kulturanalyse geworden sind.37 Wenn sie heute auch nicht mehr solche fundamentale Sprengkraft haben wie bei ihrer Wiederentdeckung in den sechziger Jahren, so ist immerhin deutlich, dass ihre Anregungen längst fester Bestandteil des kritischen Diskurses geworden sind.

Albrecht u.a.: Intellektuelle Gründung der Bundesrepublik (wie Anm. 27), S. 137 passim. Johannes Weyer: Der „Bürgerkrieg in der Soziologie". Die westdeutsche Soziologie zwischen Amerikanisierung und Restauration, in: Sven Papcke (Hg.): Ordnung und Theorie. Darmstadt 1986, S. 280 ff. Claus-Dieter Krohn: Die westdeutsche Studentenbewegung und das „andere Deutschland", in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, S. 695718.

Die Konkurrenz um „die wahre deutsche Kultur". Vertriebene kulturelle Eliten aus dem nationalsozialistischen Deutschland VON HILTRUD HÄNTZSCHEL

„Practically everybody who in world opinion had stood for what was currently called German culture prior to 1933 is now a refiigee." Mit diesem Statement der amerikanischen Journalistin Dorothee Thompson auf dem Titelblatt erschien im April 1939 in Boston Erika und Klaus Manns Gemeinschaftsarbeit Escape to Life\ ihr „Who's who" der vertriebenen deutschen Kultur. Seit ihrer eigenen Flucht aus Deutschland widmeten sie ihre ganze Energie, ihre Beziehungen, ihre Rhetorik dem Kampf gegen das NS-Regime. Und Aufklärung tut not, hält sich Amerika doch bedeckt, unterschätzt die Gefahr, setzt nach wie vor auf Neutralität, betrachtet den Zustrom der Emigranten auch mit Argwohn, fürchtet in ihnen, wo es sich nicht um ausgewiesene Gelehrte handelt, unzuverlässige Patrioten, Geschäftskonkurrenten oder Sozialfälle. Dagegen müssen sie anschreiben, müssen Amerika erzählen, was das für ein Menschenstrom ist, der sich da aus Deutschland in die Nachbarländer und nun, da Europa eng wird, nach Nord- und Südamerika und sonstwohin ergießt: „Die wahre deutsche Kultur, die immer ein schöpferischer Teil der europäischen Kultur und der Welt-Kultur war."2 Wer in Literatur und Publizistik, in Kunst und Architektur, bei Film und Theater, besonders in der Musik, in der Philosophie und in den Naturwissenschaften, in der politischen Opposition einen Namen hat, bekommt in Escape to Life sein Porträt. Viele freilich der in diesem Band Porträtierten konnten die Autoren 1939 noch für glücklich gerettet halten, aber sie sind am Ende der Shoa nicht entkommen. Zur selben Zeit begann der Maler Arthur Kaufmann mit der Arbeit an seinem Triptychon Die geistige Emigration, das dann erst in den sechziger Jahren vollendet wurde. Es lässt sich heute betrachten wie eine Illustration zu Escape to Life mit seinen Autoren im Zentrum. Erika und Klaus Mann: Escape to Life. Boston 1939; deutsch: München 1991. Ebd., S.10.

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Seit etwa zwei Jahrzehnten ist im Umfeld der kulturellen Emigration intensiv geforscht worden.3 Am verlässlichsten haben wir Auskunft über die Vertreibung der Wissenschaftler, mit Einschränkungen auch der Wissenschaftlerinnen, weil sie durch ihre Anbindung an die Institutionen immer archivalische Spuren hinterlassen. Was Literatur, Publizistik, Kunst, Photographie und Film angeht, hat sich die Forschung allmählich von den Prominenten zu den personae minores vorgearbeitet, und immer neue Namen, Biographien, auch Werke werden noch entdeckt. So sind noch 1999 zwei bislang imbekannte Exilromane erstmals erschienen: von Veza Canetti Die Schildkröten4, geschrieben 1939 und handelnd von der Entrechtung und Vertreibung der Juden - auch der Canettis - 1938 in Wien und von Konrad Merz, dem Autor jenes berühmten Romans Ein Mensch föllt aus Deutschland (Amsterdam 1936), ein mehrfach verloren gegangener Roman mit dem Titel Generation ohne Väter5, geschrieben 1937/38 im holländischen Exil. Der Hinweis auf einen grundsätzlichen Unterschied im Gesamtkomplex unseres Forschungsgegenstandes muss allen weiteren Überlegungen voranstehen: der zwischen der Vertreibung durch die Nationalsozialisten seit ihrer Machtergreifung und den Vertreibungen infolge von Kriegsniederlagen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Im ersten Fall haben Deutsche Deutsche entrechtet, verfolgt und vertrieben, ohne dass eine Bürgerkriegssituation vorgelegen hätte. Sie haben ihren Mitbürgern, Kollegen, Nachbarn selbst das Heimatrecht abgesprochen, haben sie zu „Undeutschen" deklariert. Niemals hat man seit ihrer Vertreibung von diesem Personenkreis als von „Heimatvertriebenen" gesprochen. Das Wort „Emigranten" hat sich, auch in der Exilforschung, durchgesetzt, obgleich es schon in den frühen dreißiger Jahren als Schimpfwort diente für die angeblich „vaterlandslosen Gesellen", die Deutschland den Rücken kehrten. Über die Bezeichnung Emigranten Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab, Emigranten. Das heißt doch Auswandrer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.

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Zu Überblicks- wie Spezialbibliographien sei verwiesen auf: Claus-Dieter Krohn/ Patrik von zur Mühlen/Gerhard Paul/Lutz Winckler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945. Dannstadt 1998. Veza Canetti: Die Schildkröten, München 1999. Konrad Merz: Generation ohne Väter, Berlin 1999.

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Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm.6 Schließlich ein weiterer fundamentaler Unterschied: Die aus dem nationalsozialistischen Deutschland Fliehenden wurden allermeist in die Fremde vertrieben, in der sie keine Bürgerrechte besaßen, sondern allenfalls geduldet waren, in eine fremde Kultur, in eine fremde Sprache. Die aus den deutschen Ostgebieten und aus Osteuropa Vertriebenen wurden (wenn auch gewiss nicht immer nur freundlich) im „Mutterland" aufgenommen, und sie konnten ihre kulturelle Tradition mitnehmen. Die Mitbeteiligung der deutschen Bevölkerung (in welchem Umfang auch immer) an der nationalsozialistischen Vertreibung der „Unerwünschten" war Grund für die beklemmende Konkurrenz der Vertriebenen nach 1945. Wirkliche Opfer waren in den Augen der meisten Daheimgebliebenen nur die durch den gehassten Kriegsgegner und Sieger aus ihrer Heimat Vertriebenen. Hätte man beide Personenkreise auf eine Stufe gestellt, wäre die Anerkennung der eigenen Mitschuld unumgänglich gewesen. Die Überlegungen zu meiner Frage nach der vertriebenen kulturellen Elite aus dem nationalsozialistischen Deutschland richten sich auf vier Aspekte: 1. Zunächst soll die Vertreibung der Kultur als letzte Phase eines lange schwelenden Kampfes konkurrierender Gruppen, sollen Personenkreis und Institutionen an einigen Beispielen in den Blick rücken. 2. Im zweiten zentralen Teil muss dieser betroffene Personenkreis mit dem Kriterium „Elite" konfrontiert werden. Ich werde den Begriff differenzieren im Hinblick auf sein zeitgenössisches Verständnis auf der einen Seite und seine retrospektiv-historische Besetzung heute. 3. Am Beispiel einer Elitefamilie, den Manns, soll die Komplexität der Kategorie „Elite" exemplarisch vorgeführt werden. 4. Der nach Geschlechtem differenzierende Blick auf die vertriebenen kulturellen Eliten schließlich gibt Aufschluss über unterschiedliche Folgen der Vertreibung sowohl für die Individuen wie für das Kollektiv „weibliche Elite".

Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten. Erstdruck: Die neue Weltbühne. Prag/Zürich/Paris, 30.12.1937.

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1. Die Vertreibung der Kultur Während sich für die Vertreibung aus den wissenschaftlichen Positionen relativ exakte Zahlen ermitteln lassen und damit auch Prozentanteile der gesamten Gruppe von deutschsprachigen Wissenschaftlern - und nur diese Zahlen sagen über das Ausmaß der Vertreibung wirklich etwas aus - sind die Statistiken für Literaten, Künstler, Publizisten, Theaterleute naturgemäß erheblich unschärfer. Die für viele Emigrationsstatistiken zugrundegelegten Zahlen des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration1 müssen mittlerweile erheblich nach oben korrigiert werden. Grob gerundet lassen sich von den etwa 500.000 Emigranten (darunter fallen nicht die Ermordeten!) zwischen 12.000 und 15.000 der kulturellen und intellektuellen Emigration zurechnen. Davon zählt etwa ein knappes Viertel zu den wissenschaftlichen Berufen, ebenso viele zur Literatur und Publizistik, die andere Hälfte arbeitete als bildende Künstler, ferner in den Sparten Film, Theater, Photographie und Tanz. Horst Müller - um historische Objektivität bemüht - versucht in seiner Darstellung des Exodus der Kultur8 diese Zahlen in Relation zu setzen zu den in der Weimarer Republik in diesen Berufen Tätigen, um damit das Ausmaß der vertriebenen Kultur zu relativieren, mit Zahlen freilich, die inkommensurabel sind: „Im Bereich Bildung und Unterricht waren während der Weimarer Republik im Schnitt - ich wähle hier das Jahr 1925 - rund 770.000 Personen tätig, als Künstler waren während dieses Jahres 39.122 Personen erfasst, im Bereich von Theater und Musik arbeiteten 142.310 Menschen (Statistisches Jahrbuch fiir das Deutsche Reich 1929). Diese Zahlen vermitteln einen Eindruck vom Personalstand im Kulturleben der Weimarer Republik, können aber nicht für einen unmittelbaren Vergleich mit der Kulturemigration herangezogen werden, da sie zum Beispiel in bezug auf das Theater nicht nur Künstler, sondern auch Bühnenarbeiter enthalten." Wozu führt sie der Autor aber an, wenn nicht, um einen Vergleich doch zu suggerieren. In der großen Zahl von 770.000 in Bildung und Unterricht Beschäftigten sind auch sämtliche Lehrer und Lehrerinnen von der Dorfschule bis zur Universität erfasst. Aber Anwärter jüdischer Herkunft wurden nur in ganz geringer Zahl in den Schuldienst übernommen; auch politisch missliebige Linksaußen-Positionen haben beam-

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Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München und von der Research Foundation for Jewish Immigration New York, unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss. 3 Bände. München u.a. 1980-1983. Horst Möller: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933. München 1986. Ebd., S. 40 f.

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tete Lehrer eher selten vertreten. Warum sollten sie also massenhaft emigrieren? Wo der Staat oder die Institutionen durch Vergabe von Funktionen ihre Eliten selbst berufen, treffen die Maßnahmen der Vertreibimg aus politischen oder rassischen Gründen einen kleineren Personenkreis. Denn antisemitische und antirepublikanische Berufungspraktiken sorgten hier schon jahrzehntelang für die Ausgrenzung unerwünschter Personen. Die Mehrheit der betroffenen Kulturschaffenden außerhalb der Wissenschaft waren freiarbeitende Künstler und Literaten, es waren Journalisten und Redakteure, Buchhändler und Verleger, Schauspieler und Musiker. Und nur in diesen Sparten kultureller Arbeit macht ein statistischer Vergleich zwischen Vertriebenen und Nichtvertriebenen Sinn, um das Ausmaß des Aderlasses für Kunst und Kultur in Deutschland zu demonstrieren. Ganz knapp seien die wichtigsten Ereignisse in Erinnerung gerufen, die nach der Machtergreifung, besonders in den ersten Wochen der Konsolidierung der Diktatur Schriftsteller und Künstler eilig das nötigste zusammenpacken und den Weg über die Grenze suchen ließen, um der drohenden Verhaftung zu entfliehen: • Am 30. Januar 1933 wird Hitler zum Reichskanzler ernannt. • Am 15. Februar wird Heinrich Mann praktisch gezwungen, von sich aus aus der Preußischen Akademie der Künste, deren Präsident er ist, auszutreten. Am 21. Februar notiert er in seinen Taschenkalender: „abgereist". • Ebenfalls am 15. Februar geht Alfred Kerr, der Präsident des deutschen PEN-Zentrums, ins Exil. • Am 17. Februar bricht Oskar Maria Graf zu einer Vortragsreise nach Wien auf, von der er nicht mehr nach Deutschland zurückkehrt. Ebenso kehren Lion und Marta Feuchtwanger von einer Urlaubsreise in Österreich nicht mehr zurück. • Am 27. Februar brennt der Reichstag und die erste große Verhaftungswelle gilt vor allem den kritischen Intellektuellen und der linken Presse: In der Nacht wird Carl von Ossietzky, Herausgeber der Weltbühne, verhaftet. Am folgenden Tag flieht Bertolt Brecht mit seiner Familie und Freunden aus Berlin und kann nach Stationen in Prag, Wien und Zürich in Dänemark Fuß fassen; Siegfried Kracauer, Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, flieht mit seiner Frau nach Paris, ebenso Bruno Frank, Arnold Zweig nach Südfrankreich, die Döblins fliehen in die Schweiz, Bruno und Lisi Frank mit ihrer Mutter, der Chansonnière Fritzi Massary, zunächst nach Wien. • Am 13. März wird Joseph Goebbels Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda. Die Kriminalpolizei dringt in Frankfurt in die Räume des Instituts für Sozialforschung ein, beschlagnahmt Material und versiegelt

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es. Erika Mann reist nach einer ersten erfolgreichen Spielzeit ihres Kabaretts Die Pfeffermühle aus München nach Arosa ab, der Bruder Klaus besteigt den Schlafwagen nach Paris. In sein Tagebuch notiert er: „Jetzt leider halt packen. Fahre nicht gerne weg."10 Carl Zuckmayer tritt „the journey of no retourn" an, wie er sie in seinen Erinnerungen nennt: „Ich wollte kein Emigrant werden. Ich wurde es, weil mir nichts anderes übrigblieb."11 Zwei angekündigte Konzerte unter dem Dirigenten Bruno Walter in der Berliner Philharmonie und im Leipziger Gewandhausorchester werden abgesagt, ihm und seiner Familie bleibt nur die Emigration. Joseph Roth, der nur noch in einem habsburgischen Ständestaat die Rettung vor dem Faschismus sieht, der Marxist Walter Benjamin, der junge bürgerliche Journalist Hans Sahl, um drei ganz unterschiedliche Gegnerschaften zu den neuen Machthabern aufzuzählen, sehen sich aus ihrer eigenen Kultur vertrieben, sie finden sich alle wieder in Paris. Der Rundfunk beschäftigt keine Juden mehr. • Am 24. März 1933 tritt das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich", das Ermächtigungsgesetz in Kraft. Damit ist das Ende jeder freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit gekommen. Die Literaturzeitschrift Das Tage-Buch emigriert mit seinem Herausgeber Leopold Schwarzschild nach Paris und erscheint dort als Das neue Tage-Buch. Die Weltbühne wird verboten, in Prag taucht sie wieder auf als Die neue Weltbühne. Der Chefredakteur der Vossischen Zeitung, Georg Bernhard, gründet nach seiner Vertreibung das Pariser Tageblatt. Die Literarische Welt ist bis März vollständig gleichgeschaltet, ihr Herausgeber Willy Haas nach Prag exiliert. • Am 7. April wird mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" das Instrumentarium geschaffen, das „legal" auf Grund einer rassistischen Kategorie sämtliche Juden und Personen jüdischer Herkunft aus öffentlichen Stellungen vertreibt. Jüdische Mitglieder der Theaterensembles, der öffentlichen Orchester werden entlassen, Stücke und Kompositionen jüdischer Künstler abgesetzt und aus dem Repertoire gestrichen. • Am 11. April veranstalten Polizei und SA eine Razzia im Bauhaus, jener „vermutlich wichtigsten deutschen Kunst- und Designschule des 20. Jahrhunderts", das 1932 von Dessau nach Berlin übergesiedelt war. Im Juli löst es sich unter seinem Leiter Ludwig Mies van der Rohe selbst auf. Dass die

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Klaus Mann: Tagebücher 1931-1933. Hg. von Joachim Heimannsberg/Peter Laemmle/Wilfried F. Schoeller. München 1989, S. 123. Carl Zuckmayer: Als wär's ein Stück von mir. Hören der Freundschaft. Frankfurt am Main 1969, S. 388.

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Vertreibung auch zu einer Erfolgsgeschichte werden kann, ist an der Geschichte der Bauhauskünstler im amerikanischen Exil abzulesen.12 Am 19. April flieht Else Lasker-Schüler vor den täglichen Anpöbeleien auf den Berliner Strassen in die Schweiz. Am 10. Mai ist Bücherverbrennung an den deutschen Universitäten. In ihrer Folge werden 1933 und 1934 über 4000 Titel belletristischer und wissenschaftlicher Literatur verboten, aus dem Verkauf gezogen und aus den Bibliotheken entfernt.13 Für die Auswahl und die Durchsetzung dieser für viele Autoren vernichtenden Zensur- und Vertreibungsmaßnahmen sind deutsche Literaten, Redakteure, Hochschulgermanisten, Bibliothekare, Buchhändler und Verleger, wo sie in Entscheidungsfunktionen aufgerückt sind, verantwortlich. Das Verbot trifft jüdische Autoren ebenso wie oppositionelle, kritische, unerwünschte und sogenannte „entartete" Literatur. Im November nimmt die Reichskulturkammer ihre Arbeit auf. Sie untersteht Goebbels' Ministerium. Jeder Kulturschaffende ist von nun an verpflichtet, einer ihrer sieben Einzelkammern anzugehören und seine Publikationen bzw. Auftritte genehmigen zu lassen. Am 8. November schließt das Internationale Exekutiv-Komitee des PENClub in London gegen die Stimme des deutschen Delegierten das deutsche PEN-Zentrum aus. Im März 1934 gründen emigrierte Schriftsteller in London den deutschen Exil-PEN.14 Noch einmal einen neuen beschämenden Höhepunkt der kulturellen Vertreibung bildet 1937 die Münchner Ausstellung „Entartete Kunst", in deren Folge sämtliche missbilligten Kunstwerke, in summa die Werke der klassischen Moderne, aus den Museen verschwinden, teils vernichtet teils ins Ausland verscherbelt werden.

Seismograph für das quantitative und vor allem das qualitative Ausmaß der Vertreibung missliebiger Kultur sind die personellen Veränderungen in den fuhrenden kulturellen Institutionen. Als Beispiel wähle ich die Sektion Dichtung an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin, auch deshalb, weil dieses Beispiel sofort mitten in die Fragebedürftigkeit, in die Historizität des Begriffs „Elite" fuhrt, wo er sich nicht auf gesellschaftlich festgelegte Funkti-

Peter Hahn: Bauhaus und Exil. Bauhaus-Architekten und -Designer zwischen Alter und Neuer Welt, in: Stefanie Barron (Hg.): Exil. Flucht und Emigration europäischer Künstler 1933-1945. München, New York 1997, S. 211-223, Zitat S. 211. Volker Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik nach dem 10. Mai 1933, in: Ulrich Walberer (Hg.): 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen. Frankfurt am Main 1983, S. 36-83. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933-1948. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek. Frankfurt am Main 1980.

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onseliten beschränkt, sondern sich auf ein selbst zugeschriebenes kulturelles Prestige bezieht. Am 19. März 1926 wurde der ehrwürdigen, über 200 Jahre alten Berliner Akademie der Künste durch Erlass des preußischen Kultusministers eine Sektion für Dichtung angegliedert, um eine „repräsentative Gesamtvertretung der schöpferischen Kräfte und führenden Köpfe aller Künste" zu schaffen.1 Sowohl die Vorgeschichte wie die Konstituierung, die Auswahl der Aufzunehmenden, die Kontroversen Preußen/Berlin vs. Deutschland zeugen von den grundlegenden Divergenzen darüber, welche Personen, welche Literatur, welche Ideologie repräsentativ sei und sich damit als zur Elite gehörend verstehen dürfe. Im Ganzen bestätigt die Liste der zunächst 21 Aufgenommenen, aber auch die Komplikationen etwa bei der verzögerten Zuwahl Alfred Döblins („einzig Bedenken gegen seine gesellschaftliche Person haben uns veranlasst ihn zurückzustellen"16) oder das Fehlen etwa junger Kleistpreisträger wie Bertolt Brecht oder Anna Seghers den Eindruck, den die kritische Presse oft genug satirisch kommentiert hat: Die Sektion für Dichtkunst repräsentiert einseitig eine bürgerlich-konservative literarische Elite, die sich stärker als die literarische Szene der Zeit der Tradition, der Nation verpflichtet weiß. Als zwei Wochen nach Hitlers Machtübernahme, am 14. Februar 1933, die Akademiemitglieder Käthe Kollwitz und Heinrich Mann, zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der Sektion für Dichtkunst, einen plakatierten Wahlaufruf mitunterzeichnen für eine einheitliche Arbeiterfront von SPD und KPD als letzte Chance der Abwehr des Faschismus, wirkt das wie der Dammbruch einer längst angestauten Flut. Hanns Johst, bis dato neidisches Nichtmitglied, aber schon bald Präsident sowohl der Deutschen Akademie der Dichtung, als auch der „Union nationaler Schriftsteller" (einer Art nationalsozialistischer Nachfolgeorganisation der deutschen PEN-Sektion), als auch der Reichsschrifttumskammer, schreibt am folgenden Tag in der Deutschen Kultur-Wacht: „Europa sah sich 1918 gemüßigt, in Berlin eine Filiale unter der Chiffre ,Dichterakademie'zu etablieren. Der KfDK (Kampfbund für deutsche Kultur) hält es mm an der Zeit, nach dieser verschwiegenen Einrichtung Ausschau zu halten. Thomas Mann, Heinrich Mann, Werfel, Kellermann, Fulda, Döblin, Unruh usw. sind liberal-reaktionäre Schriftsteller, die mit dem deutschen Begriff Dichtung in amtlicher Eignung keineswegs mehr in Berührung zu kommen haben.

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Inge Jens: Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste, dargestellt nach den Dokumenten. 2. Auflage. Leipzig 1994, S. 9. Ich stütze mich im folgenden auf diese Darstellung. Thomas Mann an Wilhelm von Scholz, ebd., S. 75

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Wir schlagen vor, diese restlos überalterte Gruppe aufzulösen und nach nationalen, wahrhaft dichterischen Gesichtspunkten neu einzuberufen."17 Stellungnahmen, Sondersitzungen, ministerielle Konsultationen folgen. Die Unabhängigkeit des Geistes und der Meinungsfreiheit werden beschworen, aber schon auch gegen ein Meinungsdiktat Heinrich Manns. Döblins Vorschlag einer Gesamtdemission der Akademie wird selbstverständlich abgelehnt. Unter Druck verlässt Heinrich Mann, von der Mehrheit der Mitglieder im Stich gelassen, am 15. Februar die Akademie. Am 13. März verschickt die Akademie an ihre Mitglieder eine von Gottfried Benn18 vorgeschlagene und formulierte Umfrage: „Sind Sie bereit, unter Anerkennimg der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage."19 Im Mai ist die Dichterakademie „umgestaltet": Die Mitglieder Ludwig Fulda, Franz Werfel, Bernhard Kellermann, Georg Kaiser, Alfred Mombert, Fritz von Unruh, Leonhard Frank, René Schickele und Rudolf Pannwitz erhalten gleichlautende Briefe des dürren Inhalts, dass sie „künftig nicht mehr zu den Mit-

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Deutsche Kultur-Wacht, Heft 4, 15.2.1933, S. 13, zitiert nach Joseph Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main/Berlin 1966, S. 15. Gottfried Benns nachträgliche Darstellung der Vorgänge in seinem autobiographischen Text Doppelleben von 1950 bzw. 1955 sind Retuschierungen der wirfiichen Vorgänge und von der Forschung widerlegt. Den Ball - wenn die Metapher erlaubt ist - den Emigranten nach 1945 zurückzuwerfen, wie Benn es mit folgender Passage tat, ist fast zynisch zu nennen: .Aber noch einen Gedanken muss ich aussprechen, er ist mir zu oft gekommen, wenn ich an 1933 zurückdachte: Wenn die, die dann Deutschland verließen und noch heute so sehr auf uns herabsehen, so klug und weitsichtig waren, wie es Klaus Mann ja ohne Zweifel war und wie es viele von den anderen vielleicht auch waren - warum haben sie das Unheil nicht von sich und von uns abgewendet? Ihnen gehörte die Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit hörte ihnen zu [...] warum haben sie, wenn sie Bescheid wussten, das Unheil nicht abgewendet von sich, von uns, von Europa, von der ganzen Welt [...]." (Gottfried Benn: Doppelleben, in: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. von Dieter Wellershoff. Wiesbaden 1961, hier Band 4: Autobiographische und vermischte Schriften, S. 90. Jens, Dichter (wie Anm. 15), S. 240 f.

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gliedern der Abteilung für Dichtung gezählt werden können".20 Neben Heinrich Mann hat auch der Bruder Thomas seinen Austritt erklärt, indem er die Gefolgschaftserklärung zu unterschreiben sich weigerte, am couragiertesten tat dies Ricarda Huch. Neuberufen wurden Hans Grimm, Paul Ernst, Wilhelm Schäfer, Agnes Miegel, Börnes von Münchausen, Hans Friedrich Blunck, Emil Strauss, Hans Carossa, Werner Beumelburg, Peter Dörfler, Erwin Guido Kolbenheyer, Friedrich Griese, Hanns Johst, Will Vesper."21

2. Wer ist die kulturelle Elite? Ist der Begriff „Elite" für diese Personenkreise, den vertriebenen oder den durch den Nationalsozialismus bestätigten (zum Teil an der Diskriminierung und damit der Vertreibimg aktiv beteiligten), zutreffend und wenn ja, in welchem Verständnis? Wofür taugt der Begriff an der Bruchstelle von der Demokratie zur Diktatur? Anders gefragt: Wer stellt die literarische, die kulturelle Elite? Welche Gruppe versteht sich selbst als solche und welche wird von wem dafür gehalten? Sind es die bürgerlich konservativen Nationalautoren, die den wahren deutschen Geist durch die Republik von ihrem Anfang an verraten sahen? Ist es der sich betont elitär gebärdende George-Kreis (der sich von der Akademie distanziert hält), sind es Autoren wie Ernst Jünger, die das Elitäre im Soldatischen verwirklicht sehen, mit niemandem paktieren, sind es die literarische Avantgarde, die Bürgerschrecks um den Malik-Verlag, die Linksintellektuellen der Metropole Berlin? An der Frontlinie Metropole vs. Landschaft (um den pejorativen Ausdruck „Provinz" zu vermeiden) verlief seit Jahren schon der Konkurrenzkampf um die wahre deutsche Dichtung, womit immer die Oppositionen Internationalität vs. Nation = Juden vs. Deutsche mitgemeint war.22 Das Schimpfwort „Asphaltliteratur" ist weit älter als die Bücherverbrennung. Die neuen und verbliebenen Akademiemitglieder jedenfalls verstanden sich nunmehr als eine von allem der wahren deutschen Kultur Abträglichen oder gar Unwürdigen gereinigte Elite, vermeintlich ausgestattet mit dem Mandat eines deutschen Geistes. Wie in der Universität sorgt in einer solchen Institution die Praxis der Selbstrekrutierung für die Herausbildung eines elitären Selbstverständnisses und macht sie besonders anfällig einerseits für die Ausgrenzung von Neuerungen, andererseits für die Anlehnung an die Macht oder für deren Missbrauch. Freilich macht man es sich auch zu einfach, die Konkurrenz der kulturellen Eliten ohne Umstand 20 21 22

Ebd., S. 255. Ebd., S. 258. Vgl. Berlin - Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Bearb. von Jochen Meyer. Marbacher Magazin 35/1985.

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nach pro und contra zu beurteilen, wie man es Thomas Mann so verübelt hat, als er am 7. September 1945 an Walter von Molo, den alten Kollegen aus gemeinsamer Akademie-Zeit schrieb: „Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden."23 Auch zwischen pro und contra, zwischen drinnen und draussen gab es eine nichtkontaminierte Kultur, die, wo sie wirklich resistent blieb, durchaus den Anspruch auf die Zuschreibung Elite verdient: Zu sprechen ist von der künstlerischen inneren Emigration. Allerdings ist diese Zuschreibung besonders sensibel zu handhaben, denn allzu viele haben im nachhinein diese Haltung für sich reklamiert. Und die Vertriebenen? Heinrich Mann formuliert das Selbstverständnis der Emigranten in seinem Appell Die Aufgaben der Emigration in der Neuen Weltbühne im Herbst 1933: „Die Emigration wird drauf bestehen, dass mit ihr die größten Deutschen waren und sind, und das heißt zugleich: das beste Deutschland."24 Die kulturelle Emigration war künstlerisch, vor allem aber der Herkunft nach, höchst heterogen. Der Teil von ihr, der aus politischen Gründen vertrieben worden war, blieb sich einig in der Hauptsache: im Hass auf die Nationalsozialisten, im Engagement für den Kampf gegen den Faschismus, im Selbstverständnis, das andere, das bessere, das eigentliche Deutschland zu vertreten, ob es der kleine Schauspieler, die Erfolgsautorin oder der Nobelpreisträger war. Insofern verschiebt sich der Begriff „Elite" zu einem moralischen. Wer sich zu ihr rechnet, gehorcht seinem Gewissen, der moralischen Verpflichtung, sich gegen das im Nationalsozialismus erkannte Inhumanum, gegen den Ungeist, als „Vox humana"25, mit den Möglichkeiten der Publizistik, der Literatur, der Kunst also zu wehren. Und er tut es als Wortführer im Namen der Hunderttausenden von Verfolgten. Dennoch erscheint mir der Vorschlag, alle kulturell Tätigen und aus politischen Gründen Vertriebenen aus eben diesem Grund einer Elite zuzurechnen, als nicht konsensfahig. Das wird überdeutlich sicht23 24 25

Thomas Mann: Briefe 1937-1947. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1963, S. 443. Heinrich Mann: Aufgaben der Emigration, in: ders.: Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays. Berlin (Ost) 1971, S. 16. So überschreibt Heinrich Mann ein Kapitel seiner gegen den faschistischen Ungeist gerichteten Essay Sammlung Mut von 1939.

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bar an den Bewertungs- und Rezeptionsdifferenzen zwischen DDR und BRD über das, was Antifaschismus bedeutet. Wenn es heute Bestrebungen gibt, den kommunistischen Anteil am deutschen Widerstand gegen Hitler etwa in der Präsentation der „Gedenkstätte deutscher Widerstand" in Berlin zum Verschwinden zu bringen, wird die Historizität in der Bewertung historischer Leistungen und damit die Problematik der Zuordnung zu einer politischen Elite unübersehbar. Nun steht die politische zur Jüdischen" Emigration etwa im Verhältnis eins zu zehn.26 Speziell für die Vertriebenen aus dem kulturellen Leben sind die Relationen gewiss angenäherter, da sich die politische Opposition ja gerade über Schriftsteller und Publizisten artikuliert. Zunächst einmal gehörten die aus rassischen Gründen Vertriebenen durchaus dem ganzen breiten ideologischen Spektrum an, wie es die Weimarer Republik gekennzeichnet hatte, von kommunistisch bis deutschnational. Die Familientradition der Mehrheit ihrer Gebildeten war allerdings geprägt von jenem kurzen Traum eines idealen, fruchtbaren Zusammenlebens zwischen Juden und Christen in Deutschland. Als an der Wende zum 19. Jahrhundert mit dem Emanzipationsversprechen die Hoffnung auf eine gelingende Assimilation wuchs und als in einem Säkularisationsprozess viele deutsche Juden ihre Glaubensinhalte in ein aufklärerisch-idealistisches Bildungsideal transformierten, als viele quasi vom Judentum zum „Bildungstum" konvertierten, bekam deutsche Kultur, die deutsche klassische Literatur und Philosophie, die Humboldtsche Bildung eine ungeheure Wertschätzung unter ihnen. Und sie wurden in vielen Bereichen (etwa der Goethephilologie, der Fontane-Wertschätzung) rasch sozusagen die Klassenbesten. Stefan Zweig mag hier als Repräsentant der Schönen Literatur stehen. Parallel dazu verliefen andere jüdische Identitäten, der erstarkende Zionismus etwa als bewusste Gegenströmung zur Identitätsaufgabe durch Assimilation. Denselben aufklärerischen Wurzeln und der langen Geschichte der Entrechtung der Juden verdankt sich aber das Festhalten, das Bestehen auf der Forderung nach der Verwirklichung der Menschenrechte, auf dem Egalitätsdenken. Und das widersteht nun gerade der Herausbildung eines EliteSelbstverständnisse. Letzeres war den nichtjüdischen, (erst jetzt kommt der Begriff auf) den arischen Deutschen und den exponierteren Bildungsbürgern unter ihnen insbesondere vorbehalten, ja es bildete sich um so stärker heraus, je mehr es sich von der auffällig niveauvollen, im eigenen Revier wildernden deutsch-jüdischen Kultur bedroht fühlte. Die Juden wurden zur Negation des Deutschen, eine Form des Antisemitismus, die dieser Nation vorbehalten blieb. Der Ort, der Juden in der deutschen Gesellschaft zugewiesen war, defiWolfgang Benz: Die jüdische Emigration, in: Krohn/von zur Mühlen/Paul/Winckler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration (wie Anm. 3), Sp. 5.

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nierte sich nachgerade durch die Nichtzugehörigkeit zur Elite. Es blieb den assimilationswilligen Juden, in der Terminologie Hannah Arendts, nur die Rolle des Paria oder des Parvenü. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich dann unter den Intellektuellen jüdischer Herkunft eine deutliche Neigung zum linken politischen Spektrum vollzogen, versprach sich doch eine immer größere Zahl von Juden mit dem Sozialismus die Konkretisierung eines Humanitätsideals, wie es in der deutschen Aufklärung und Klassik gerade zu dem Zeitpunkt am Himmel erschien, da den Juden die Hoffnung auf bürgerliche Gleichstellung versprochen worden war. „Der Endsieg der Arbeiterklasse und die Abschaffung bestehender Eigentumsverhältnisse sollten zum Triumph der Humanität fuhren."27 Diese jüdischen Intellektuellen verstanden sich als Marxisten - Ernst Bloch und Walter Benjamin, Max Horkheimer oder (später) Theodor W. Adorno etwa - , in ihrer essayistischen Produktion nährten sie revolutionäres Potential, sie rechneten sich der künstlerischen Avantgarde zu und standen eindeutig auf der Seite der Moderne, jenem verhassten „Übel", das konservative Gesellschaften wie das wilhelminische Deutschland ihnen gar nicht ganz zu Unrecht - in die Schuhe schoben.28 Insofern waren sie immer Oppositionelle. Waren sie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend unter sich, so nahmen sie sich in der Weimarer Demokratie das Recht und den Raum, nützten die florierende Pressekultur, ja schufen sie zum Teil erst, um sich als intellektuelle Gegenkraft zu artikulieren und auf die kulturellen Diskurse ihrer Zeit erheblichen Einfluss auszuüben. Den etablierten Bildungseliten waren sie als bedrohliche Eindringlinge von Anfang an ein Dorn im Auge. Es ist an dieser Stelle höchste Zeit, den Begriff der „Gegenelite" ins Spiel zu bringen.29 Die Bezeichnung Elite zu verwenden für eine Gruppe, die jahrhundertelang gesellschaftlich ausgegrenzt war und nun, nach Phasen scheinbarer Toleranz mehr denn je diskriminiert wird, wäre vom Zeitpunkt der Vertreibung her, nachgerade zynisch. Und sofern wir unser Verständnis von Elite mit Macht und Einfluss verbinden, würden wir uns mit einem solchen Elite-Etikett für die später vertriebenen jüdischen Intellektuellen am Ende jener völkischen Propaganda bedienen, die unaufhörlich das Gespenst von der

George L. Mosse, Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Frankfurt am Main/New York 1992, S. 91. Ausfuhrlich dazu Victor Karady: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Frankfurt am Main 1999. Dazu ein kurzer Dialog aus Klaus Manns erstem Exilroman Flucht in den Norden (Amsterdam 1934): In einem heftig kontroversen Familiengespräch der finnischen Gastgeber mit der deutschen Protagonistin wütet Ragnar gegen seinen vom faschistischen Deutschland faszinierten Bruder Jens: „Tatsache ist, dass kein Land so wenig von seinen Eliten repräsentiert wird wie Deutschland. Die deutschen Eliten haben ja wohl immer gegen Deutschland gelebt, nie mit ihm; sie haben niemals Einfluss auf ihr Land gehabt, und wahrscheinlich haben sie es immer eher gehasst." (S.172)

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Verschwörung des internationalen Judentums und der Deutschland zerstörenden Macht der jüdischen Presse phantasierte. Ein drittes Verständnis von Elite im Sinne eines Qualitätskriteriums, eines Leistungsbegriffs, erlaubt uns heute, also rückblickend aus der historischen Distanz, nach allgemeinen ästhetischen und intellektuellen Übereinkünften, die kulturelle Elite um 1933, die besten also, auszumachen. Und auf welche Seite sich die Waagschale neigt, unterliegt wohl keinem Zweifel. Die Kunstproduktion der NS-Zeit, sowohl in der Literatur wie in den bildenden Künsten und in der Architektur, gab die Position der freien unabhängigen Kunst auf, sie bediente die Macht, stellte sich in den Dienst der Ideologie, sei's Blut und Scholle, Sakralisierung des Führers, Heroisierung des Kämpfers usw. Exilkunst - das wäre ein prekäres Missverständnis - ist nicht weil Exil-Kunst große Kunst. -Auch hier finden wir Beispiele, wo die Kunst durch Ideologie beschädigt ist. Aber in den Meisterwerken der vertriebenen Künstler schätzen wir jenes Weltkultur-Niveau, auf das Klaus und Erika Mann mit ihrem Buch auftnerksam machen wollten. Aber auch diese Wertschätzung unterliegt historischem Wandel, wie an der Einschätzung der Leistung von Heinrich Mann seit 1945 deutlich genug wird. 3. Zum Exempel: „An amazing family"30 - die Manns Die Familie Mann repräsentiert nach Herkunft, Status und Einfluss eine deutsche bürgerliche Elite-Familie. Zugleich spielen einzelne ihrer Mitglieder exponierte Rollen bei der Herausbildung einer kulturellen Elite, in der Auseinandersetzung einerseits mit den NS-Machthabern, andererseits mit der Emigration und nach dem Krieg mit den Daheimgebliebenen. Die beiden ältesten Söhne der protestantischen Lübecker Kaufmannsfamilie, Heinrich und Thomas Mann, verfeinden sich als bereits prominente Schriftsteller in den ideologischen Schlachten des Ersten Weltkriegs. Der öffentlich ausgetragene Bruderzwist repräsentiert die beiden gegensätzlichen Positionen in der Konkurrenz um das Verständnis von Kultur und die Aufgabe der Literatur. Thomas nimmt noch die konservative ein, wenn er den Künstler gegen den Zivilisationsliteraten ausspielt, Natur gegen Aufklärung und Intellektualität, Genie gegen Geist, Krieg gegen Demokratie (Gedanken im Krieg 1914). Heinrich antwortet in seinem Zola-Essay (1915) mit der leidenschaftlichen Proklamation für eine „art social", für Internationalität, gegen den Anachro30

Dieser Ausdruck wurde Ende der dreißiger Jahre von dem englischen Journalisten Harold Nicolson geprägt und in der Familie immer wieder gern zitiert.

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nismus chauvinistischer Haltungen. Während Thomas mit Grauen und militantem Hass die Räterevolution in München verfolgt und die weißen Garden erleichtert begrüßt, wird Heinrich zum führenden Kopf im „Rat der geistigen Arbeiter". In den folgenden Jahren wandelt sich Thomas Mann zum Vernunftrepublikaner, zum entschiedenen Demokraten, zum Prediger eines sozialen Humanismus und zieht als Renegat alle Häme der Rechten auf sich. Mit der Ehrung durch den Nobelpreis 1929 für Thomas, mit dem Präsidium der Dichterakademie durch Heinrich, repräsentieren sie nun beide am Ende der Weimarer Republik die kulturelle Elite an zwei noch immer unterschiedlichen politischen Positionen. Thomas Mann hat inzwischen eine große Familie. Er hatte 1905 Katja Pringsheim, eine der ersten Münchner Studentinnen geheiratet und sich dadurch mit einer großbürgerlichen, vermögenden Familie verbunden, einer Familie Erster Klasse, aber einer jüdischen. Der Schwiegervater ist Mathematikprofessor an der Münchner Universität, die Schwiegermutter ist die Tochter einer der prominentesten Frauen in der Emanzipationsbewegung im Kaiserreich, Hedwig Dohm. Kunst- und Musikpflege haben im Hause Pringsheim allerersten Rang, Richard Wagner und Franz Liszt waren zu Gast. 85 und 90 Jahre alt sind die beiden greisen Pringsheims, als sie entrechtet, beraubt und vertrieben 1939 gerade noch die sichere Schweiz erreichen, um dort mit Anstand zu sterben. 1933 haben die beiden ältesten der sechs MannKinder, Erika und Klaus, bereits laut auf sich aufmerksam gemacht: als Bohemiens, als Schriftsteller, als Schauspielerin, als politische Kabarettistin, als Sprachrohr der jungen Generation. Und sie haben allenthalben die Wut der Rechten auf sich gezogen. Mit dem Jahr 1933 und dem Exil beginnt ihre Politisierung, ihr Engagement gegen den Hitler-Geist und zwar an vorderster Stelle. Den Auftakt bildet Klaus Manns offener Schlagabtausch mit Gottfried Benn, dem er, bitter enttäuscht von seinem Bekenntnis zum Neuen Staat, Verrat an der Kunst und am Geist vorwirft. Hier kämpfen zwei Schriftsteller, die sich beide durchaus als zur Elite gehörend verstehen, um die Repräsentanz der deutschen Kultur. Und während Erika Mann quer durch Europa in über 1.000 Auftritten mit ihrer Pfeffermühle sagt, was not tut - so lange es irgend geht („Sie machen zehn Mal mehr gegen die Barbarei, als wir alle Schriftsteller zusammen", schrieb ihr Joseph Roth 193531), während sie also Kabarett macht, versucht Klaus in Amsterdam der Elite der Emigration „für die wahre, die gültige deutsche Literatur"32 in seiner Zeitschrift Die Sammlung ein intellektuelles Forum zu schaffen. Heinrich Mann unterstützt ihn dabei von AnErika Mann: Briefe und Antworten. Hg. von Anna Zanco Prestel. Band 1:1922-1950. München 1984, S. 66. Klaus Mann: Die Sammlung, in: ders.: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933-1936. Hg. von Uwe Naumann/Michael Töteberg. Reinbek 1993, S. 38.

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fang an, eröffnet mit seinem Beitrag das erste Heft; der Vater lässt ihn im Stich, distanziert sich entschieden von dem Projekt. Wenngleich Thomas durch den bösen Presse-Protest der Wagner-Stadt München vom 13. April 1933, den viele namhafte Münchner Kulturfunktionäre, Münchens neue „Kulturelite", unterschrieben haben, zutiefst gekränkt ist, solidarisiert er sich lange nicht mit den Emigranten, distanziert sich damit genau von jenen Linksintellektuellen, mit denen die Dichterakademie nie etwas gemein haben wollte. Seine Heimat, seinen Buchmarkt, seine Leser wähnt er noch immer in Deutschland. Während Heinrich Manns Name wie der von Ernst Toller bereits auf der ersten Ausbürgerungsliste vom August 1933 steht, tut sich die politische Polizei lange schwer, den Repräsentanten deutscher Kultur vor der Weltöffentlichkeit aus Deutschland auszubürgern. Die tiefe Krise mit Klaus und Erika um Thomas Manns zögerliche Haltung ist bekannt. Für unseren Zusammenhang wichtig, weil symbolisch ist die Aberkennung der Ehrendoktorwürde durch die Bonner Universität im Dezember 1936, eine Ehrung, die 1919 gerade der deutschnationalen und kriegsbeflirwortenden Haltung Thomas Manns gegolten hatte. Damit ist er nun demonstrativ aus der deutschen Geisteselite ausgestoßen. Er setzt sich an die Spitze der Elite der Vertriebenen mit der Haltung: „Wo ich bin, ist Deutschland". Er sitzt zahlreichen Komitees vor, gibt die Zeitschrift Maß und Wert heraus, spricht im Krieg stellvertretend für die Emigranten in der BBC nach Deutschland. Seine Bücher erscheinen fast gleichzeitig auf Deutsch und in englischer Übersetzung, sie gehören nun der Welt-Kultur an. Heinrich dagegen ergreift deutlicher politisch Partei, arbeitet unermüdlich an einer Vereinigung der sozialistischen Kräfte in einer Volksfront gegen Hitler, Aktionen, die mit dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Kriegsausbruch als gescheitert anzusehen sind. Als Schriftsteller kann er an die Erfolge der Weimarer Republik nicht mehr anknüpfen, er lebt verarmt, auf brüderliche Unterstützung angewiesen in Kalifornien. Dem Ruf aus der Heimat, in seinem Fall ist es die Deutsche Demokratische Republik, kann er nicht mehr Folge leisten, er stirbt 1950. In der Rezeption der DDR stand Heinrich Mann an der Spitze einer Elite antifaschistischer Kultur, in der BRD wurde er erst seit den 60er Jahren differenzierter gewürdigt und geschätzt. Klaus Mann sieht ein Versagen der Intellektuellen nach dem Krieg auf der ganzen Linie. Die abendländische Tradition ist durch Auschwitz unrettbar zerstört, die Naturwissenschaften haben ihr Ethos mit der Entwicklung der Atombombe verraten, die Gegensätze Kapitalismus und Marxismus sind unversöhnlicher denn je und haben nun zum Kalten Krieg gefuhrt. In seinem letzten erst posthum erschienenen Essay Die Heimsuchung des europäischen Geistes von 1947 ruft er als Fanal des Scheiterns zum kollektiven Selbstmord der Intellektuellen, der Elite auf. Thomas Mann wird nach dem Krieg noch einmal zum Repräsentanten,

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zum geschmähten Repräsentanten für die Emigranten, die von Deutschlands Leiden doch keine Ahnung hätten und sich nun zur moralischen Instanz aufspielen wollen. Der Anspruch der aus Deutschland Vertriebenen und Exilierten, nun die moralische Elite zu vertreten, die sich nicht schuldig, sondern an der Deutschland sich schuldig gemacht hat, wird heftig zurückgewiesen. War mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 und der Auflösung überschaubarer Gesellschaftsstrukturen der Begriff „Elite", erst recht im Hinblick auf eine kulturelle Gruppe, schon obsolet geworden, so scheint er mit der Katastrophe von 1945 endgültig untauglich. Die Gesellschaft, die eine kulturelle Elite als Elite wahrnähme und anerkennen würde, gibt es nicht mehr. 4. Der geschlechtsspezifische Blick auf die vertriebenen Eliten Der Leitfrage des Symposions: Was bedeuteten Verfolgung und Vertreibung für die vertreibende und für die aufnehmende Gesellschaft, gilt mittlerweile eine kaum noch überschaubare Detailforschung, differenziert nach Herkunft, Alter, Exilgrund und -Zeitpunkt, nach dem Status vor dem Exil, nach Aufnahmeländem, wissenschaftlichen Fächern und künstlerischen Disziplinen. Jedes Statement bliebe hier weit hinter dem Forschungsstand zurück. Ergiebiger scheint es, Fragen nach den Vertreibungsfolgen mit einer geschlechterdifferenzierenden Fragestellung zu verbinden und sie an ein etwas überschaubareres Kollektiv zu richten, an die Frauen, und nach möglichen geschlechtsspezifischen Charakteristika zu fragen, sowohl der Vertreibung als auch der möglichen Zugehörigkeit zu einer noch näher zu definierenden Elite. Der Blick richtet sich auf Schauplätze, wo sich Frauen in der Weimarer Republik auffällig exponiert hatten: Presse: Gegen Ende der zwanziger Jahren ist die erste Generation professionell ausgebildeter Frauen an die Medienöffentlichkeit getreten, speziell als Journalistinnen oder als Literatinnen, Soziologinnen, Ärztinnen, Juristinnen, um sich öffentlich für die Belange der Frauen in der eigenen Profession einzusetzen, kritisch die Arbeitswelt unter die Lupe zu nehmen, vor antirepublikanischen und nationalistischen Tendenzen zu warnen. Sie haben maßgeblich an jenem Gender Trouble mitgeschrieben, der Männer und Frauen gegen Ende der zwanziger Jahre in ihrem biologischen, sexuellen, kulturellen und sozialen Verständnis so heftig in Verwirrung brachte: an dem Phänomen Neue Frau. Als Vorbote des Kommenden trat freilich schon vor 1933 die Gegenbewegung ein. Die Leitfiguren dieser Neuen Frau, die Progressiven, politisch Linksstehenden unter ihnen und die zahlreichen Journalistinnen jüdischer Herkunft mussten emigrieren: Margarete Susman, Gabriele Tergit, Helen Hessel, Alice

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Rühle-Gerstel, Marie Leitner, Maria Osten, Gertrud Isolani, Elisabeth Castonier, Erika Mann, Ruth Landshoff-Yorck u.v.a. Sie sind alle nicht zurückgekehrt. Das Feuilleton der Nachkriegszeit hat zwar seine Qualität auch (sehr wenigen) herausragenden nichtemigrierten Journalistinnen zu verdanken (genannt seien nur Marion Gräfin Dönhoff und Margaret Boveri), der kecke, kritische Ton der zwanziger Jahre aber war bis in die späten sechziger Jahre verstummt. Die Bundesdeutschen vermissten ihn offenbar noch weniger als den ihrer ebenfalls emigrierten männlichen Kollegen. Literatur. Vergegenwärtigen wir uns die Literatur von Frauen aus der Zeit der Weimarer Republik, die - wenngleich höchst unterschiedlich - durch ästhetische Qualität, durch Innovation, durch ein neues Lebens- und Stilgefühl und ihr künstlerisches Selbstverständnis ihre Zeit geprägt und bis heute überdauert hat, so stammt sie fast ausnahmslos von Autorinnen, die verfolgt wurden und/oder emigrieren mussten. Erinnern wir nur an die Prominenten: an Else Lasker-Schüler, an Nelly Sachs und Gertrud Kolmar (die in Auschwitz ermordet wurde), an Mascha Kaleko und Annette Kolb, Ciaire Göll, Anna Gmeyner, an anspruchsvolle Bestsellerautorinnen wie Vicki Baum, Gina Kaus, Adrienne Thomas. Nach dem Krieg waren die progressiven, von den nationalsozialistischen Kulturträgern seinerzeit als „Asphaltliteratinnen" beschimpften Autorinnen, deren Arbeiten angesiedelt waren zwischen anspruchsvoller Unterhaltung, kritischem Journalismus und frechem Feuilleton, ebenso gründlich vergessen wie Lyrikerinnen, die eine neue poetische Sprache erprobt hatten, an die erst seit den 80er Jahren wieder erinnert wurde.33 Parallel zum gesellschaftlichen Diskurs über die Geschlechterrollen prägten nun Dichterinnen wie Ina Seidel und Gertrud von Le Fort vor allen anderen und bis in die siebziger Jahre die Übereinkünfte - von Männern wie von Frauen - darüber, was Frauenliteratur sei, und kehrten damit gleichsam ins 19. Jahrhundert zurück. Ina Seidel hatte der Weimarer Republik, der Demokratie überhaupt, von Anfang an kritisch gegenübergestanden, ihre Bewunderung dagegen galt dem Führer Adolf Hitler.3 Akademische Professionen: Unter den Akademikerinnen waren es die noch raren Juristinnen und die Ärztinnen, die in der Weimarer Republik weiblicher Anna Rheinsberg: Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein. Lyrikerinnen der zwanziger Jahre. Gedichte und Porträts. Darmstadt 1993. Vgl. Ina Seidels Huldigungsgedicht zum 50. Geburtstag des Führers: Der Lichtdom, in: Festgabe deutscher Dichter für Adolf Hitler. Berlin 1939, unpag.; vgl. Hiltrud Häntzschel: Deutsches Schicksal. Die Weltkriege, die Schriftstellerinnen und die Nachkriegslegenden. Der Fall Ina Seidel, in: Thomas F. Schneider (Hg.): Kriegserfahrung und Legendenbildung. Das Bild des „modernen" Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. 3 Bände. Oldenburg 1999, hier Band 2, S. 440-454.

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Professionalität allmählich Respekt verschafft hatten. Von den sieben Vorstandsmitgliedern des 1914 gegründeten Juristinnen-Vereins waren 1919 fünf

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die juristischen Berufe für Frauen überhaupt erst zu öffnen. Maria Münk und Margarete Berent, die beiden ersten Frauen, die in Berlin die Anwaltszulassung erhalten hatten, beide Spezialistinnen für Familienrecht, hatten bei den Debatten um die Novellierung des Ehe- und Familienrechts 1924/25 bereits offiziell mitreden können. Beide mussten emigrieren. Erst 1958 bei dessen Neuregelung sind Margarete Berents Überlegungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt worden.35 Ähnlich hoch wie bei den Juristinnen war der Anteil von Jüdinnen im ärztlichen Beruf. Und auch hier sind es gerade jene Frauen, die in der Standesorganisation Führungspositionen inne hatten, die sich in ihrem sozialen Engagement und auch politisch exponiert hatten, die nach 1933 zur Emigration gezwungen waren, oder durch Ermordung oder Selbstmord endeten. Ihr Anteil war unverhältnismäßig hoch. Vier von acht Vorstandsmitgliedern des Bundes deutscher Ärztinnen waren 1933 jüdischer Herkunft.36 Die heftige Debatte um den § 218 in den zwanziger Jahren war angesichts der wirtschaftlichen Not kinderreicher und mittelloser Familien, einer unzulänglichen Gesundheitsfürsorge und den verheerenden Folgen illegaler Abtreibungen von den sozial engagierten linken Ärztinnen unter ihnen angeführt, die alle emigrieren mussten: Auch hier taugt der Begriff Elite nur in seinem oppositionellen Sinne, als Gegenelite. Wissenschaft: Was die Vertreibung der Frauen von den Universitäten betrifft, so ist der Befund beklemmend. Da Frauen aus jüdischen oder vormals jüdischen Familien die Öffnung der Universitäten für Frauen in Deutschland nach der Jahrhundertwende viel früher und intensiver nutzten als protestantische und erst recht katholische Töchter, da sie Bildung und Gelehrsamkeit gegenüber weit aufgeschlossener waren, belegten sie rasch die vordersten Plätze unter den Wissenschaftlerinnen. Mit Ausnahme der Anglistik wurden sämtliche Pionierleistungen, die ersten Habilitationen in den Geisteswissenschaften von Frauen jüdischer Herkunft erbracht: in Romanistik, in den beiden germanistischen Teildisziplinen Literatur- und Sprachwissenschaft, in Geschichte,

Hiltrud Häntzschel: Justitia - eine Frau?, in: dies./Hadumod Bussmann: Bedrohlich gescheit. Ein Jahrhundert Frauen und Wissenschaft in Bayern. München 1997, S. 194-213 sowie dies.: „Eine neue Form der Bindung und der Freiheit". Die Juristin Margarete Berent (1887-1965), in: ebd., S. 231-235. Johanna Bleker: Anerkennung durch Unterordnung? Ärztinnen und Nationalsozialismus, in: Eva Brinkschulte (Hg.): Weibliche Arzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland. Berlin 1993, S. 126-139.

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Archäologie, Orientalistik und Psychologie, auch in der Mathematik. Diskriminierung und Behinderung erfuhren sie wie ihre nichtjüdischen Kommilitoninnen vor allem als Frauen, erst in zweiter Linie als Jüdinnen - vor 1933, vor der Katastrophe. Erheblich mehr als die Hälfte der 1933 habilitierten und an deutschen Hochschulen lehrenden Wissenschaftlerinnen (gegenüber 30 Prozent der gesamten Hochschullehrer) ist entlassen worden und wurde vertrieben, erst aus ihrer scientific Community, dann aus ihrer Heimat. Vier kamen im Holocaust ums Leben und keine kam nach dem Krieg zurück.37 Jahrzehntelang bleibt die westdeutsche Wissenschaftslandschaft praktisch frauenlos. Der Aderlass von 1933 ist rasch und komplett vergessen. Erst in den wenigen Jahren der Weimarer Republik hatten Frauen sich gesellschaftliche, politische Mitsprache und Teilhabe, wenn auch in bescheidenem Umfang erkämpft. Viel Energie musste erst einmal in die Durchsetzung der eigenen Professionalisierung investiert werden, in den Beweis der Kompetenz als Politikerin, in die Anerkennung der Ärztinnen, die Zulassung der Juristinnen, in den Zutritt zur Wissenschaft als Beruf. In diesem Prozess hatten sich unter ihnen Führungseliten herausgebildet, die auffallig überdurchschnittlich von der Vertreibimg betroffen waren. Die Emigration dieser Eliten ließ die Anfange abreißen, den konservativen Gegenkräften kam der Zusammenbruch nicht ungelegen. Und was die Forschung darüber betrifft: Die Isolierung der Disziplinen, ihre Nichtbeachtung der Ergebnisse der Frauenforschung und die historische Praxis, immer nur einzelne Zeiträume in den Blick zu nehmen (hier also die Zeit bis 1933, den Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit getrennt zu betrachten), hat die Zusammenhänge vollends verschüttet.

Hiltrud Häntzschel: Kritische Bemerkungen zur Erforschung der Wissenschaftsemigration unter geschlechterdifferenzierendem Blickwinkel, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 14 (1996), S. 150-163.

Die Rückkehr einer vertriebenen Elite. Remigranten in Deutschland nach 1945 VON MARITA KRAUSS

„Der Bestimmungsort meiner Marschorder hieß: Berlin. Wenn ich das Wort in meinen Papieren las, packte es mich wie ein heißkalter Schauer: ähnlich dem, mit dem wir die Radioberichte über die Bombennächte und die Zerstörung der deutschen Städte gehört hatten", heißt es bei dem Schriftsteller Carl Zuckmayer über seine Rückkehr im Auftrag der Amerikaner im Jahr 1946.1 Kaum einer von den ehemals Ausgestoßenen, der nach 1945 deutschen Boden betrat,2 erlebte nicht ein Wechselbad der Gefühle: Erstmals wieder hörten sie die deutsche Sprache rundum und trafen auf Menschen, die die NS-Zeit miterlebt hatten. Waren sie schuldig geworden? Konnte man ihnen unbedenklich die Hand geben oder nicht? Mancher Emigrant fürchtete, an sich selbst Züge deutscher Mentalität zu entdecken und strebte daher nach Distanz.3 Andere hofften auf ein Wunder, das die vergangenen Jahre der Bitternis und Verfolgung tilgen würde. Doch dies war unmöglich. Dazu Zuckmayer: „Du kannst nicht in das Land der Kindheit zurück, in dem du noch ganz zuhause warst - auch nicht in ein Land, aus dem du ausgewandert bist; denn du möchtest es so finden, wie es in dir lebt, und so ist es nicht mehr."4 Die Rückkehr aus dem Exil ist also eine komplizierte Sache.5 Sie ist stets auch eine eigenständige Entscheidung zur Migration: Kein Erleben, keine Ver-

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Carl Zuckmayer: Als wär's ein Stück von mir. Stuttgart 1966, S. 612 f. Marita Krauss: Remigration in die Bundesrepublik, in: Claus-Dieter Krohn/Patrick von zur Mühlen/Gerhard Paul/Lutz Winckler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945. Darmstadt 1998, S. 1161-1171. Vgl. dazu z.B. Stefan Heym: Nachruf. Berlin 1990, S. 362. Zuckmayer: Als wär's ein Stück (wie Anm. 1), S. 519. Zur Rückkehr aus dem Exil aus psychoanalytischer Sicht Leon und Rebeca Grinberg: Zur Psychoanalyse der Migration und des Exils. München 1991, S. 75-78. Zur Rückkehr aus dem nationalsozialistischen Exil: Exil und Remigration, in: Exilforschung 9 (1991). Marita Krauss: Das „Emigrantensyndrom". Emigranten aus Hitlerdeutschland und ihre mühsame Annäherung an die ehemalige Heimat, in: Georg Jenal (Hg.): Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. München 1993, S. 319-334. Dies.: Die Rückkehr der „Hitlerfrischler". Die

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änderung, die durch das Exil eingetreten war, ließ sich durch eine Rückkehr ungeschehen machen. Der remigrierte Kölner Soziologe René König schrieb: „Ich bin also nicht im eigentlichen Sinne heimgekehrt: dieses Erlebnis hatte ich einzig bei Begegnungen mit Menschen, die wie ich ins Exil gegangen waren und nun hoffnungsvoll nach Deutschland zurückkehrten. Klarer ist aber wohl, daß ich als ein anderer Mensch nach Deutschland gekommen bin. Ein anderer Mensch kehrt aber nicht zurück, sondern er geht voran, und er kommt voran und muß sehen, daß er akzeptiert wird. Das geschieht aber nicht ohne Belastungen. Denn die vielen jüdischen Freunde, die ermordet wurden, kann ich nicht vergessen; ich kann bestenfalls unter Vorbehalt verzeihen."6 Eine mögliche Rückkehr löste in Exilkreisen daher stets heftige Emotionen aus, bedeutete sie doch auch die Verarbeitung dessen, was zur Emigration geführt hatte und ein Resümieren des im Exil gelebten Lebensabschnittes. Persönlichkeit und Schicksal des jeweils Betroffenen entschieden darüber, wie er oder sie sich zu Deutschland und den Deutschen stellte: Vor allem die politischen Emigranten hofften, am Aufbau eines freien und demokratischen Deutschlands mitwirken zu können,7 manche forderten, wie Thomas Manns Kinder Erika und Klaus Mann, eine grundlegende politische Umerziehung des deutschen Volkes.8 Wieder andere lehnten jede Beschäftigung mit Deutschland und jeden Kontakt mit nicht-emigrierten Deutschen ganz ab. Es ist kein Zufall, daß diese Haltung vor allem bei jüdischen Emigranten oder von den NationalRezeption von Exil und Remigration in Deutschland, in: GWU 48, H.3 (1997), S. 151160. Dies.: Die Nachkriegsgesellschaft und die Remigranten. Überlegungen zu einer Wirkungsgeschichte, in: Maximilian Lanzinner (Hg.): Bayern seit 1945 - Perspektiven der historischen Forschung. München 1997, S. 13-24. René König: „Unter Vorbehalt verzeihen", in: Unter Vorbehalt. Rückkehr aus der Emigration nach 1945, hg. vom Verein El-De-E-Haus Köln. Köln 1997, S. 185. Hartmut Mehringer/Werner Röder/Dieter Marc Schneider: Zum Anteil ehemaliger Emigranten am politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Republik Österreich, in: Wolfgang Frühwald/Wolfgang Schieder (Hg.): Leben im Exil: Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933-1954. Hamburg 1981, S. 207-223. Hartmut Mehringer: Waldemar von Knoeringen: eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie. München u.a. 1989. Ders.: Sozialdemokratisches Exil und Nachkriegs-Sozialdemokratie. Lernprozesse auf dem Weg zum Godesberger Programm, in: Clemens Burrichter/Günter Schödl (Hg.): „Ohne Erinnerung keine Zukunft!" Zur Aufarbeitung von Vergangenheit in einigen europäischen Gesellschaften unserer Tage. Köln 1992, S. 109-123. Jan Foitzik: Die Malaise des Widerstandes. Im Spannungsfeld zwischen Mißtrauen, Ablehnung und Verdächtigung, in: Tribüne 24, H. 93 (1985), S. 62-80. Ders.: Die Rückkehr aus dem Exil und das politisch kulturelle Umfeld der Reintegration sozialdemokratischer Emigranten in Westdeutschland, in: Manfred Briegel/Wolfgang Frühwald (Hg.): Die Erfahrung der Fremde. Weinheim 1988, S. 255-270. Ders.: Politische Probleme der Remigration, in: Exilforschung 9 (1991), S. 104-114. Dazu z.B. Shelly Frisch: .Alien Homeland": Erika Mann and the Adenauer Era, in: German Review, Vol. LXIII, Nr. 4 (1988), S. 172-182.

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Sozialisten zu Juden erklärten Menschen festzustellen ist, die ihre Verfolgung zwangsläufig als eine „kollektive" empfinden mußten. Ganz nach Deutschland zurückkehren wollten zunächst meist nur politisch engagierte Emigranten und solche, die berufliche oder wirtschaftliche Gründe hatten - sei es die Rückkehr zur deutschen Sprache bei Schriftstellern, Journalisten oder Theaterleuten, sei es die Wiedergewinnung entzogenen Besitzes bei Geschäftsleuten oder verlorener Pensionsansprüche bei ehemaligen Beamten. Weit größer, wenn auch noch schwerer faßbar, ist der Anteil derer, die niemals ganz zurückkehrten, die jedoch mit Korrespondententätigkeit, mit Beteiligungen an Anwaltskanzleien, als Gastdozenten oder Vortragsreisende, gewissermaßen als Sojourners,9 wieder in Deutschland aktiv wurden. Auch sie bilden einen Teil der Wirkung des Exils, ohne Remigranten im eigentlichen Sinne zu sein. I. Remigration und Elite - Zahlen und Fragen Im Vergleich zur Emigration war die Remigration kein Massenphänomen. Die Forschung muß sich vielmehr stets bemühen, sie nicht zu sehr als Elitenphänomen zu beschreiben. Es gelingt kaum, die „Remigration der kleinen Leute" nachzuzeichnen.10 Quantifizierbar ist sie jedenfalls nur punktuell. Genannt werden als Rückkehrende seit 1945 - nimmt man die Berichte der jüdischen Gemeinden als Berechnungsgrundlage - etwa 12.000 Juden und Jüdinnen bis i960,11 danach noch etwa 250 Personen im Jahr; das wären rund fünf Prozent der ehemaligen jüdischen Bevölkerung Deutschlands. Werner Röder schätzt im „Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration" die Rückkeh-

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Zur Definition vgl. John W.Berry: Psychology of Acculturation. Understanding Individuals moving between Cultures, in: Richard W. Brislin (Hg.): Applied CrossCultural Psychology (Cross-Cultural Research and Methodology Series, Vol. 14), Newbury Park u.a. 1990, S. 232-253,242 f. Obwohl der Buchtitel von Wolfgang Benz (Hg.): Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrung deutscher Juden in der Emigration. München 1991, etwas anderes suggeriert, ist dies auch für das Exil selbst höchst schwierig. Michael Brenner: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945-1950. München 1995. In Berlin und Hamburg waren etwa elf Prozent der Gemeindemitglieder Rückwanderer, im Süden weniger. Die Stadt München nennt 1968 fur die vergangenen Jahre jedoch immerhin noch 50 Rückkehrer; dazu Direktorium der Stadt München, Verwaltungsamt, Vormerkung, gez. rechtk. Stadtdirektor Kohl, 29.7.1968, Betreff: Verbindungsaufiiahme mit ehemaligen jüdischen Mitbürgern; Übersiedlung in die Landeshauptstadt. Als Quelle außerdem Harry Maor: Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945. Mainz 1961. Vgl. auch Karola Fings: Rückkehr als Politikum - Remigration aus Israel, in: Unter Vorbehalt (wie Anm. 6), S. 22-32; Doris Kuschner: Die jüdische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse. Diss. phil. Köln 1997.

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rerquote der aus ,/assischen Gründen" Verfolgten auf vier Prozent.12 Für die „politischen Emigranten" vor allem aus den Gewerkschaften und den Linksparteien werden etwa 60 Prozent genannt, in absoluten Zahlen heißt dies für Sozialdemokraten und Gewerkschafter 4000 Personen.13 Für einzelne Berufsgruppen geht man von Zahlen in der Größenordnung von zehn bis 25 Prozent aus.14 Die Berechnungsgrundlage ist jedoch eine komplizierte Wahrscheinlichkeitsrechnung von noch Lebenden oder vermutlich bereits Gestorbenen, die Präzision mehr vorspiegelt als tatsächlich bietet. Das Problem liegt darin, daß in diesen Jahren so viele Migranten nach, durch und aus Deutschland unterwegs waren, daß die „einfachen" Remigranten in der großen Zahl von Flüchtlingen, Displaced Persons, Repatriierten, zurückkehrenden Kriegsgefangenen, Evakuierten statistisch verschwinden. Benennbar bleiben dann diejenigen, die vor oder nach dem Exil herausgehobene Positionen eingenommen hatten und die sich in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens (wieder) etablieren konnten. Es geht daher bei Remigrationsforschung immer wieder um die Frage, ob solche Remigranten in Schlüsselpositionen die Bundesrepublik Deutschland und die DDR in ihrer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung prägen konnten oder ob die Traditionen der NS-Zeit und ihrer weiterhin öffentlich wirkenden Nutznießer stärker waren - in der Politik, an den Universitäten, in der Presse. Hinzu kommt die Bedeutung der Emigranten und Remigranten als Mittler zur Welt, als zeitweise tabuisierte Vertreter eines „anderen Deutschlands". Gab es eine „Remigration der Ideen" oder assimilierten sich die Rückkehrer zu stark an die deutsche Nachkriegsgesellschaft? Hier soll nun gefragt werden, ob und inwiefern die Rückkehrer Mitglieder ehemaliger oder zukünftiger Führungsschichten waren, also von Eliten. Nach der Definition von Theodor Schieder15 sind Eliten herausgehobene Menschengruppen mit dem Merkmal der Überlegenheit an Intelligenz, Ge-

Werner Röder: The political Exiles: their Policies and their Contribution to Post-War Reconstruction, in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1945, hg. vom Institut fur Zeitgeschichte, München/Research Foundation for Jewish Immigration, New York, unter der Leitung von Werner Röder/Herbert A. Strauss. Band I. München 1980, Band n, 1, Band II, 2. München 1983, hier Band II, S. XXVH-XL, S. XXXXIX. Claus-Dieter Krohn: Einleitung, in: ders./Patrik von zur Mühlen (Hg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands. Maiburg 1997, S. 7-23, S. 9. Horst Möller: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933. München 1984. Theodor Schieder: Zur Theorie der Führungsschichten in der Neuzeit, in: Hanns Hubert Hofmaiin/Günther Franz (Hg.): Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 12). Boppard a. Rhein 1978, S. 13-28, S. 15

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schicklichkeit und Fähigkeiten, durch die sie - und das über eine längere Zeit leitende Funktionen monopolisieren können. Dieser Personenkreis sollte über eine „starke innere Kohäsionskraft" verfugen, beispielsweise einen gemeinsamen Moralkodex, ein Gruppenbewußtsein, eine überindividuelle Mentalität. Hans-Ulrich Wehler16 bezeichnet Eliten als strategisch postierte, repräsentative Minderheiten mit speziellen Kenntnissen und Fähigkeiten zur Wahrnehmimg wichtiger Funktionen in der Gesellschaft. Zur Elitenanalyse ist zu fragen nach dem institutionalisierten und dem informellen Respekt gegenüber dieser Elite, nach dessen Funktion und Reichweite, nach der Rekrutierung; nach dem Grad der Kohärenz, Solidarität, Spannung; nach den Zirkulationschancen und Zirkulationsraten; nach der Einbettung der Elite in die Gesellschaft, nach ihren spezifischen Schwächen. Einige dieser Analyseschritte lassen sich nachvollziehen, andere sind für Remigranten nur unter großen Schwierigkeiten zu beschreiben. Noch schwerer als bei der Vertreibung läßt sich bei der Rückkehr beantworten, welche Gruppen und Schichten betroffen waren. Die Verluste für die „abgebende" Gesellschaft, also für die Exilländer, sind kaum einschätzbar und die „aufnehmende" Gesellschaft ist keineswegs neu und unschuldig - es handelt sich vielmehr um die Vertreibungsgesellschaft. Zunächst einmal waren Rückkehrer vertriebene und damit aus ihrem Zusammenhang herausgerissene Personen, die - vor ihrer Emigration - zu Eliten gehört haben konnten. Für einen Großteil der politischen Emigranten treffen Elitenmerkmale zu, da es sich zumindest bei der sozialdemokratischen ebenso wie bei der konservativen Emigration nicht um eine Mitglieder- sondern weitgehend um eine Funktionärsemigration handelte.17 Bei der jüdischen Massenemigration war dies nicht der Fall, obwohl sich unter den Exilierten sehr viele Mitglieder künstlerischer und akademischer Führungsschichten befanden. Geht man nun zunächst von der Grundlagenforschung des Instituts für Zeitgeschichte und der Leo-Baeck-Foundation im biographischen Handbuch" aus,18 so wird dort sicherlich eine Elite erfaßt. Alle Untersuchungen, die sich auf diese Grundlage stützen, beziehen sich auf - vor ihrer Emigration oder danach - gesellschaftlich herausgehobene Personen. Doch eine Elite im Sinne einer kohärenten Gruppe bildeten diese Emigranten bereits im Exil nicht mehr, oder nur in Ausnahmefällen; dabei ist an die New School for Social Research Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band I. München 1987, S. 137 f. und 583, Anm. 21; dort auch weitere Literatur. Eine Ausnahme bildet z.B. die sozialdemokratische Emigration aus dem Sudetenland; allgemein Hartmut Mehringer: Sozialdemokraten, in: Krohn/von zur Mühlen/Paul/Winkler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration (wie Anm. 2), S. 475-493; als Beispiel eines sudetendeutschen Emigranten Hildegard Kronawitter (Hg.): Ein politisches Leben. Gespräche mit Volkmar Gabert. München 1996. Biographisches Handbuch (wie Anm. 12), Band I, II, 1 und II, 2.

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oder naturwissenschaftliche Forschergruppen zu denken.19 Bei der Rückkehr potenzierte sich dieses Phänomen: Da viele Kollegen, Bekannte, Freunde in den Exilländern blieben, verfügten die Rückkehrer zunächst nur punktuell in Deutschland über die Netzwerke, die normalerweise einer Elite zur Verfügung stehen. Dort, wo sich solche Netzwerke bildeten - z.B.im Bereich der Gewerkschaften, der SPD oder im Umfeld einiger hochkarätiger Remigranten aus Politik, Wissenschaft und Kultur - lassen sich auch Kohärenz, Zusammenhalt, überindividuelle Kodices feststellen.20 In den meisten anderen Fälle tauchten Emigranten jedoch tief in die neue alte Gesellschaft ein, verdrängten - gemeinsam mit ihrer Umgebung - ihr Emigrantenschicksal und bemühten sich nach Kräften, (wieder) integriertes Mitglied der anwesenden Eliten zu werden. Sind sie daher als „remigrierte" Elite zu beschreiben? Die „Sojourners" unter den Rückkehrern wiederum waren zwar vielfach in herausgehobenen Positionen z.B. als Gastprofessoren an den Universitäten, als Auslandskorrespondenten, als Anwälte ftir internationale Rechtsfragen - tätig, doch sie fanden oder suchten meist nicht mehr die Zugehörigkeit zur Vertreibungsgesellschaft. Viele von ihnen waren nun in mehreren Ländern und Sprachen zu Hause, kannten sich in verschiedenen Rechts- und Gesellschaftssystemen aus, wirkten in internationalen und übernationalen Vereinigungen. Sie lassen sich daher kaum als eine „deutsche", also nationale Elite bezeichnen. Eine weitere Frage schließt sich an: Für die Rückwanderung aus Amerika im 19.Jahrhundert konstatiert Karen Schniedewind eine hohe Quote von Gescheiterten,21 also von Personen, die im Auswanderungsland nicht hatten Fuß fassen können, für die nach Krankheiten oder Todesfallen, nach Arbeitslosigkeit oder unüberwindbaren Sprachproblemen nur noch die Rückkehr blieb. Auch für diese Rückkehrer war es kennzeichnend, daß sie möglichst schnell wieder in Gunzelin Schmid Noerr: Die „Kritische Theorie", in: Krohn/von zur Mühlen/Paul/Winkler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration (wie Anm. 2), S. 806-813; Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Frankfurt am Main 1976; Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. München 1986. Zu den Naturwissenschaften z.B.: Reinhard SiegmundSchultze: Mathematik, in: Krohn/von zur Mühlen/Paul/Winkler (Hg): Handbuch der deutschsprachigen Emigration (wie Anm. 2), S. 769-781; Klaus Fischer: Physik, in: ebd., S. 824-836. Zur Remigration ebd. weitere Literatur. Als Beispiel Julia Angster: Der Zehnerkreis. Remigranten in der westdeutschen Arbeiterbewegung der 1950er Jahre, in: Exil 18 (1998), S. 26-47; vgl. auch die Beiträge in dem Band Krohn/von zur Mühlen (Hg.): Rückkehr und Aufbau (wie Anm. 13); Peter Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985; Sven Papcke: Exil der Soziologie/Soziologie des Exils, in: Exilforschung 14 (1996), S. 62-74. Zur Rückkehr von der Auswanderung des 19. Jahrhunderts Karin Schniedewind: Begrenzter Aufenthalt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Bremer Rückwanderer aus Amerika 1850-1914. Stuttgart 1994.

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die Herkunftsgesellschaft einzutauchen versuchten und sich nicht mehr als ehemalige Auswanderer zu erkennen gaben. Betrachtet man etliche der Remigranten-Biographien des 20.Jahrhunderts, so wird auch hier deutlich, daß vielfach diejenigen ganz nach Deutschland zurückkehrten, denen es nicht gelungen war, im Exilland eine adäquate soziale, gesellschaftliche oder materiell abgesicherte Position zu erringen. Dies gilt mit Abstrichen sogar für die politischen Emigranten, die ursprünglich intensiv mit dem „Gesicht nach Deutschland" (Otto Wels) gelebt hatten. Es betrifft sicherlich in noch größerem Maße diejenigen, die von der deutschen Sprache und Kultur lebten: Schriftsteller, Theaterleute, vielfach auch Geisteswissenschaftler. Bei Gesprächen mit jüdischen Emigranten, die im Exilland verblieben sind, wird die Remigration von jüdischen Personen meist ohnehin mit „wirtschaftlichen Gründen" erklärt.22 Gemeint waren hiermit Rentenzahlungen oder bessere Verdienstmöglichkeiten. Sind daher, so ist im Anschluß an diese Überlegungen zu fragen, Remigranten Vertreter einer Elite - oder wurden sie dazu nach der Rückkehr? Blieben die „wichtigeren" Repräsentanten des Exil in den Emigrationsländern? Oder sind diese Überlegungen in einer sich zunehmend international und übernational organisierenden Wissensgesellschaft nicht ohnehin anachronistisch, ein Rückfall in nationale Denkmuster des 19. Jahrhunderts? War die erzwungene Auswanderung eines wichtigen Teils der europäischen Eliten möglicherweise eine - ungewollte - Voraussetzung für die Entstehimg einer „Weltelite" - mit speziellen Fähigkeiten und Kenntnissen in der Wahrnehmung wichtiger Funktionen in der (Welt)Gesellschaft, mit innerer Kohärenz und Solidarität, institutionellem und informellem Respekt - , deren Bedeutung auf dem Umweg z.B. über die internationale Wissenschaftsentwicklung ohnehin für jedes einzelne Land wirkungsmächtig wurde? Hier erhält das Thema der „vertriebenen Eliten", also der erzwungenen Elitenmigration und ihrer Folgen, eine weit über den Einzelfall hinausreichende Tragweite. II. Fallstudien Solche Überlegungen lassen sich durch Fallstudien stützen. Zunächst ein Beispiel aus dem amerikanischen Besatzungspersonal nach dem Krieg.23 1947 fragten die Amerikaner intern ab, wer von den bei der Militärregierung von Bayern (OMGBY) beschäftigten Amerikanern nach 1933 in den USA naturaliErfahrungen aus vielen Interviews der Verf.; vgl. außerdem Fings: Rückkehr als Politikum (wie Anm. 11), S. 29,31. Dazu Marita Krauss: Eroberer oder Rückkehrer? Deutsche Emigranten in der amerikanischen Armee, in: Exil 13 (1993), S. 70-85; dort auch die genauen Nachweise und Biographien.

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siert worden war und aus welchem Herkunftsland diese Militärregierungsangehören stammten. Die Umfrage ergab, daß 65 der insgesamt 1500 bei OMGBY zu diesem Zeitpunkt Beschäftigten Exilierte aus Deutschland und Österreich waren.24 In den 53 (später 57) wichtigsten Führungspositionen der Militärregierung zwischen 1946 und 1949 wirkten nur vier bis fünf dieser Emigranten. Ein Großteil (39 von 65) war im „Intelligence"- und im „Information"-Bereich eingesetzt. Viele arbeiteten wegen ihrer Sprachkenntnisse als „Investigators" an der Auswertung von Entnazifizierungsbögen, als Übersetzer oder als „Intelligence Analysts" und gehörten relativ niedrigen Besoldungsgruppen an. Über einige der höchsteingestuften Offiziere lassen sich weitere Informationen finden, aus denen deutlich wird, daß sie über gute Vorkenntnisse und eine akademische, häufig noch in Deutschland erworbene, Ausbildung verfügten. Doch diese Qualifikation ging in beiden Richtungen: Die Vorbildung ermöglichte die hocheingestufte Tätigkeit in der Besatzungsarmee, diese Tätigkeit wiederum qualifizierte für höhere Aufgaben in den USA oder in internationalen Organisationen. Über 13 der 33 aus Deutschland oder Österreich stammenden Offiziere der Information Control Division finden sich genauere Informationen.25 Elf dieser 13 ICD-Mitarbeiter wirkten die nächsten Jahre im amerikanischen öffentlichen Dienst. Sie arbeiteten meist erst bei OMGUS (Office of Military Government US), dann in der hochkommissarischen Verwaltung Deutschlands (HICOG). Sicher für acht der 13 wurde die Tätigkeit bei HICOG zum Sprungbrett in den amerikanischen auswärtigen Dienst: Einige gingen zur United States Information Agency (USIA), die seit 1953 unter der Ägide des State Department für die amerikanische, zunächst meist antikommunistische Auslandspropaganda zuständig war, die anderen kamen direkt in den diplomatischen Dienst; zwei von ihnen wirkten später für die UNO. Zwei weitere etablierten sich im internationalen Filmverleih und im Kunsthandel. Für die Frage der Rückkehr heißt dies, daß kaum einer der Militärregierungsangehörigen aus diesen Kreisen seine amerikanische Staatsangehörigkeit wieder gegen eine deutsche eintauschte. Bis auf einen trat auch keiner dieser Gruppe wieder in deutsche Dienste. Dies mag an der Zufälligkeit der gefundenen biographischen Daten liegen, aber es handelt sich immerhin um ein gutes Drittel der erfaßten ICD-Offiziere aus Bayern. Diese Besatzer wurden also

Zu OMGBY insgesamt Reinhard Heydenreuter: Office of Military Government for Bavaria In: Christoph Weisz (Hg.): OMGUS-Handbuch. Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949. München 1994, S. 143-315. Hilfreich dazu z.B. die verfilmt im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte liegenden Unterlagen, die im Rahmen des biographischen Handbuchs" (wie Anm. 12) zusammengetragen wurden; die Auswertung in Krauss: Eroberer oder Rückkehrer (wie Anm. 23), danach auch die folgenden Informationen.

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keineswegs Remigranten, sie gehören vielmehr zu eben denen, die aufgrund eines qualifizierten Angebots außerhalb Deutschlands eine internationale Karriere der Rückkehr vorzogen. Doch auch einige Sonderfälle sind zu nennen: Ernest Langendorf, Presseoffizier und Sozialdemokrat, blieb als Mitarbeiter von Radio Free Europe, also im Dienste der USIA, in München. Max Klieber, der mit dem Presseteam des Emigranten Hans Habe nach Deutschland zurückgekommen war, wurde Redakteur von Radio Liberty in München, sein Kollege aus Habes Team, Paul Moeller, Justiziar dieses Radiosenders. Habes Mitarbeiter Ernest Cramer avancierte in den sechziger Jahren zum leitenden Redakteur der Zeitung „Die Welt" und sein Kollege Hans Wallenberg, Nachfolger Habes als Chefredakteur der „Neuen Zeitung" in München, wurde in den sechziger Jahren persönlicher Berater Axel Cäsar Springers. Es waren also vor allem Presseleute, die aufgrund ihrer engen Beziehung zur deutschen Sprache in Deutschland blieben; ob dabei auch der Mangel an Alternativen auf internationaler Ebene eine entscheidende Rolle spielte, ist schwer nachzuweisen. Die Mitarbeit bei den beiden USamerikanischen Nachrichtensendern, unter Beibehaltung der amerikanischen Staatsbürgerschaft, ist jedoch nur sehr bedingt als „Rückkehr" zu bewerten. Auch diese Emigranten wahrten Distanz zur deutschen Gesellschaft. Aufgrund ihres beruflichen Status' gehörten sie eher einer internationalen als einer nationalen Elite an. Ein zweites Beispiel nimmt einen ganz anderen Bereich in den Blick: eine Fallstudie von Hochschullehrern. Aufgenommen wurden rund 160 emigrierte Hochschullehrer,26 die vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Stadt München zu tun hatten, die hier Schule oder Universität besuchten, wissenschaftliche Abschlüsse machten und Stellen inne hatten, aber auch diejenigen, die nach dem Krieg hierher als Gastdozenten, Professoren oder Emeriti zurückkehrten. Rund 125 dieser Wissenschaftler waren entweder in München geboren oder hatten vor ihrer Emigration in anderer Weise mit München in intensiverem Kontakt gestanden; nur 17 kehrten hierher zurück, rund 90, also knapp drei Viertel, blieben in den Exilländern, zehn gingen an andere deutsche oder österreichische Universitäten, und sieben wirkten zeitweilig als Gastdozenten wieder in München. Nur etwa ein Fünftel dieser Auswahlgruppe kehrte überhaupt aus dem Exil zurück. Es kamen jedoch auch 18 Wissenschaftler aus dem Exil nach München, die vorher hier nicht gelebt und gearbeitet hatten, weitere 14 wirkten als Gastdozenten an den Hochschulen der Stadt. Sicherlich wären auch ohne die Vertreibung keineswegs alle diese Wissenschaftler mit

Auszählung nach den Angaben im Biographischen Handbuch (wie Anm. 12), Band I und II; vgl. auch Krauss: Die Nachkriegsgesellschaft und die Remigranten (wie Anm.

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München in Verbindung geblieben. Doch so standen den 160 Exilierten nur 34 Exilrückkehrer und 21 zeitweilige Gastdozenten gegenüber. Auch hier ist es meist signifikant, daß viele der Exilierten im Status von Gastdozenten oft über Jahre an der Universität lehrten, ohne wieder ein Teil der deutschen Gesellschaft werden zu wollen. Die Rückkehr zur Emeritierung läßt sich wohl in den meisten Fällen mit wirtschaftlichen Erwägungen und nicht nur mit Heimweh erklären. So bleiben diejenigen übrig, die ganz nach Deutschland bzw. in diesem Falle München gingen, die deutsche Staatsbürgerschaft annahmen und im Lande blieben. Hier müßte nun in jedem einzelnen Fall gefragt werden, welche Möglichkeiten das Exilland bot und welche die alte Heimat. Angesichts der bisherigen Forschungslage ist davon auszugehen, daß eine Intemationalisierung stattfand und daß der Weg nach Deutschland mit zunehmender zeitlicher Entfernung von der Emigration immer weniger eine „Heimkehr" war. III. Die Etablierung politischer Eliten aus Remigrantenkreisen Die Haltung zu den Remigranten in Westdeutschland - auf das sich meine Forschungen bisher vorwiegend bezogen - , hing einerseits ab von den politischen Wechsellagen der Nachkriegszeit, also dem Kalten Krieg, der Wiederbewaffnung, dem Wirtschaftswunder und dem Aufbruch der 68er Jahre.27 Die Remigration besaß aber auch ihre eigene Dynamik: Bis etwa 1948 remigrierten in einer ersten Phase die meisten deijenigen Emigranten, die später aktiv das politische Leben der Bundesrepublik mitgestalten konnten; Vergleichbares gilt für die kommunistische Remigration in die SBZ/DDR. Es reisten in dieser Phase auch die Wirtschaftsleute und Geschäftsinhaber nach Deutschland, deren Betriebe „arisiert" worden waren und die nun versuchten, das Verlorene zurückzuerhalten. Sie wurden dann meist „stille Teilhaber" und kehrten nicht ganz nach Deutschland zurück.28 In einer zweiten Phase, meist in den fünfziger und sechziger Jahren, kamen Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler in die Bundesrepublik: Neben äußeren Gründen lag dies auch am abwartenden Zögern der meist jüdischen (oder von den Nationalsozialisten zu Juden erklärten) Künstler und Intellektuellen gegenüber den politischen und gesellschaftlichen

Krauss: Die Rückkehr der „Hitlerfrischler" (wie Anm. 5), S. 13-24. Ausnahmen waren z.B. Otto Bernheimer in München oder Eric Warburg in Hamburg; vgl. Marita Krauss: Jüdische Familienschicksale zwischen nationalsozialistischer Machtübernahme und Nachkriegszeit. Das Beispiel der Familien Bernheimer, Feuchtwanger und Rosenfeld, in: Exil 16 (1996), S. 31-45; Ron Chemow: Die Warburgs. Odyssee einer Familie. Berlin 1994.

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Entwicklungen in Deutschland. In einer dritten Phase, die bis heute andauert, wanderten und wandern diejenigen zurück, die in Deutschland ihren Lebensabend verbringen wollen: Teils haben sie im Alter die nachträglich erworbene Sprache verloren, teils treibt sie wirtschaftliche Not zurück. Als besonders „erfolgreich" ist im politischen Bereich die sozialdemokratische Remigration in Westdeutschland zu bezeichnen: Mit Heinz Kühn und Wilhelm Hoegner stellte sie die ersten Länderministerpräsidenten aus Exilkreisen. Max Brauer und Herbert Weichmann wurden in Hamburg, Ernst Reuter und Willy Brandt in Berlin Bürgermeister, Brandt sogar Bundeskanzler. Herbert Wehner, Erich Ollenhauer und andere waren zentrale SPDBundespolitiker. Der sozialdemokratische Bundesparteivorstand war in den vierziger und fünfziger Jahren zur Hälfte mit Remigranten besetzt, die in der Bundespolitik eine wichtige qualitative, wenn auch von ihrer Zahl her in der Gesamt-SPD keine quantitative Rolle spielten.29 Der Weg der Partei zum Godesberger Programm war stark von den Exilerfahrungen der Rückkehrer mitbestimmt.30 Die anfanglich auch im Westen politisch einflußreiche kommunistische Remigration wurde nach Einsetzen des Kalten Krieges immer stärker zurückgedrängt. In der DDR hingegen setzten sich die kommunistischen Remigranten aus Moskau mit sowjetischer Hilfe sowohl gegen die bürgerlichen Parteien, wie gegen kommunistische KZ-Überlebende und Westemigranten durch.31 Für die rund 250 aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten Emigranten treffen im Rahmen der Elitenanalyse vor allem die Kriterien zu, die auf die innere Kohärenz und Solidarität eine Elitengruppe Bezug nehmen. Die Unterstützung der mächtigen Besatzungsmacht, die ihre Rekrutierung vorgenommen hatte, verhalf ihnen auch zu großem institutionalisiertem Respekt. Da sie sich jedoch nicht durch Wahlen legitimieren mußten, läßt sich die entscheidende Frage der Einbettung in die Gesellschaft nicht beantworten. Dies war im Westen anders: Hier spielten die Wahlen eine wichtige Rolle für die Remigranten. Wer nicht in der ersten Phase zurückkehrte, hatte oft nicht mehr die Chance, sich in den schnell wieder entstandenen Parteigremien zu etablieren. Die Neuformierung der Eliten begann bereits unmittelbar nach Kriegsende, als die Besatzer relativ unbelastete Deutsche mit Funktionen betrauten. Die ersten Wahlen folgten auf kommunaler und regionaler Ebene meist bereits im Laufe des nächsten Jahres. Auch zu diesem Zeitpunkt waren viele Emigranten noch nicht wieder vor Ort. Die Gewählten fühlten sich mit

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Mehringer: Sozialdemokratisches Exil (wie Anm. 7), S. 120. Mehringer: Waldemar von Knoeringen (wie Anm. 7), S. 375-384. Peter Erler: Heeresschau und Einsatzplanung. Ein Dokument zur Kaderpolitik der KPD aus dem Jahre 1944, in: Klaus Schroeder (Hg.): Geschichte der Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen. Berlin 1994, S. 52-70.

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Recht als von den Wählern und den Besatzern akzeptierte Repräsentanten. Rückkehrer trafen bereits auf formierte Gremien, die Stühle waren besetzt. Nach 1948 konnten sich im politischen Bereich nur noch wenige deijenigen in Funktionen etablieren, die ihre Legitimation aus der Tätigkeit vor oder während der Emigration bezogen. Welche Faktoren waren nun entscheidend dafür, daß sich diese Politiker wieder etablieren konnten? Lag es an der solidarischen Haltung der sozialdemokratischen Parteigenossen gegenüber den Rückkehrern? Wie stand es im Westen um die Rolle der Besatzungsmächte? Der oft nur zögerliche Zuzug von Emigranten hatte individuelle, aber auch praktische Gründe: Der Grenzüberschreitung gingen bei vielen Emigranten ausfuhrliche und höchst ambivalente Überlegungen voraus.32 Psychisch war die Rückkehr oft ein fast ebenso schwieriger Prozeß wie die Emigration: Es schloß sich ein schwieriger Lebensabschnitt. Das Kommende war ungewiß. Die Vergangenheit blieb stets anwesend. Doch auch für Rückkehrwillige dauerte es nach Kriegsende meist noch Jahre, bis sie in Deutschland einreisen oder gar dort bleiben konnten. Es lassen sich hier vielfaltige Einflußnahmen der Besatzungsmächte auf die Etablierung neuer deutscher Eliten zeigen, vor allem in den Bereichen Politik und Presse.33 Dies gilt beispielsweise für die Rückholaktionen der unmittelbaren Nachkriegszeit: So wurde der bayerische SPD-Politiker und zeitweilige Ministerpräsident Wilhelm Hoegner zusammen mit dem Staatsrechtsprofessor Hans Nawiasky und dem konservativen bayerischen Politiker Josef Panholzer von den Amerikanern im Juni 1945 mit einem Jeep aus der Schweiz nach Deutschland geholt. Auch amerikanische und britische Presseoffiziere suchten politisch verläßliche Emigranten als Lizenzträger zu gewinnen. Die rigiden Einreisebeschränkungen und Rückkehrbedingungen weisen jedoch darauf hin, daß vor allem die Amerikaner und die Engländer stärker darauf setzten, die lokalen Eliten umzuerziehen. So nahm der ranghöchste politische Berater der amerikanischen Militärregierung in Deutschland, Robert Murphy, im Oktober 1945 zur Rückkehr des späteren Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter aus der Türkei nach Berlin Stellung.34 Murphy riet davon ab, Emigranten wieder in höheren Verwaltungspositionen einzusetzen, da die Einheimischen dem überaus skeptisch gegenüberstünden: Die von ihm befragten politischen Führer hatten erklärt, die Emigranten seien zu lange weggewesen und nicht mit den deutschen Bedingungen oder Leiden vertraut. Murphy meinte jedoch, es spräche nichts gegen die Rückkehr einzelner demokratischer Deutscher, wenn diese auf eigene Verantwortung kämen und ihre Reise selbst Marita Krauss: Grenze und Grenzwahmehmung bei Emigranten der NS-Zeit, in: Andreas Gestrich/Dies. (Hg.): Migration und Grenze. Stuttgart 1998. Krauss: Ddie Rückkehr der „Hitlerfrischler" (wie Arnn. 5), S. 152 f. Institut für Zeitgeschichte, POLAD 738/38, Schreiben Murphys vom 5.10.1945.

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bezahlten. Aus dieser Haltung erwuchsen die amerikanischen Einreisebedingungen, aufgrund derer Einreisewillige einen ganzen Katalog an Nachweisen zu erbringen hatten. Die Wartezeit betrug noch im Juni 1949 etwa fünf bis sechs Monate und manche Bemühungen scheiterten an dem Wohnungsmangel vor allem der zerstörten Großstädte. Als Folge der Einreisebestimmungen mußten rückkehrwillige politische Emigranten „Einladungen" aus Deutschland vorweisen. Darin sollten die Vertreter der neu formierten Parteien oder politischen Gremien den Emigrierten zur Rückkehr auffordern und gleich auch hinzufügen, seine Anwesenheit werde für eine bestimmte Funktion dringend gebraucht. Dies setzte ein hohes Maß an Solidarität voraus, handelte es sich bei den Einladenden doch meist um innerparteiliche Konkurrenten. Diese Absichtserklärung betonte daher die Bereitschaft der Dagebliebenen, den Rückkehrer wieder als einen der ihren aufzunehmen und ihn im Rahmen der Parteifunktionen an herausgehobener Stelle einzusetzen. Damit war die Legitimation durch die aufnehmende Gruppe gegeben, die für die Elitenanalyse eine zentrale Rolle spielt. Mit anderen Worten: Die so angeforderten Emigranten35 sind als neue politische Elite anzusehen. Es gab aber auch länderspezifische Unterschiede bei der Rückkehr. So blieben beispielsweise weit mehr Sozialdemokraten in den USA als in Großbritannien, aus dem fast ein Viertel der erfaßten SPD-Funktionäre zurückkehrte. Dies zeigt die Bedeutung der von den Emigranten selbst zu begleichenden Rückkehrkosten, die aus Übersee natürlich um ein Vielfaches höher lagen. Es wirft aber auch ein Licht auf die unterschiedliche Integrationsbereitschaft der jeweiligen Aufnahmeländer. So schätzt Axel Schildt, daß aus den USA nur rund zehn Prozent der Emigrierten zurückkehrten.36 Eine Sonderrolle kam dabei Emigrationsenklaven wie Shanghai zu, das für viele verfolgte Juden das letzte Schlupfloch aus Europa geboten hatte: Die Lebensbedingungen dort waren so katastrophal, daß die Überlebenden dringend auf eine Rückkehr hofften.37 In vielen Fällen waren es etablierte Rückkehrer wie die Politiker Wilhelm Hoegner in München, Max Brauer oder Herbert Weichmann in Hamburg, die sich um ihre Schicksalsgenossen bemühten. Solche Verbindungen erwiesen sich als zentral für die Remigranten in Politik und öffentlichem Leben, die nur so eine Chance zum Wiederanfang in Deutschland bekamen. Deshalb war es

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So z.B. Waldemar von Knoeringen oder Emst Reuter. Axel Schildt: Reise zurück aus der Zukunft. Beiträge von intellektuellen USARemigranten zur atlantischen Allianz. Zum westdeutschen Amerikabild und zur „Amerikanisierung" in den fünfziger Jahren, in: Exil und Remigration (wie Anm. 5), S. 2 5 45, S. 26. Frank Stern: Wartezimmer Shanghai, in: Benz: Exil der kleinen Leute (wie Anm. 10), S. 109-120.

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von besonderer Bedeutung, daß die erste gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz von 1947 einen Rückruf an die Emigranten verabschiedete. Für viele Emigrierte bildete ein Rückruf eine zentrale innere Ausgangsbäsis für eine Zukunft in Deutschland. Es gab dennoch Emigranten, die nach Deutschland zurückkehrten und sich mit dem deutschen Wiederaufbau identifizierten, ohne eine Anerkennung der deutschen Schuld oder Verantwortung zu verlangen. Beispiele dafür sind Max Brauer in Hamburg oder Rudolf Katz in Schleswig-Holstein.38 Sie kamen unaufgefordert, sie verlangten keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sie wollten helfen und benützten sehr schnell wieder die Formel „wir hier in Deutschland". Ihre Identifikation mit der alten Heimat wird bereits an der Geschwindigkeit deutlich, mit der sie sich ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft entledigten. Doch in Anbetracht dessen, was während der NS-Zeit alles geschehen war, kann auch dies keineswegs als „normal" betrachtet werden, es stellt sich vielmehr - so bei Rudolf Katz - 3 9 die Frage nach den persönlichen Hintergründen solchen Verhaltens. Willy Brandt schrieb,40 es sei widersinnig, „nachträglich eine Pflicht zum Hierblieben postulieren zu wollen [...]. Es gibt eine unermüdliche Bereitschaft, zu vergessen." Diese „unermüdliche Bereitschaft zu vergessen" war auch 1945 bereits ständig präsent - sowohl auf Seiten der Dagebliebenen wie bei etlichen Rückkehrern.

IV. Die Haltung der deutschen Nachkriegsgesellschaft: Projektion und Elite Doch im Gegensatz zu den Parteigenossen, die die Rückkehrer weitgehend solidarisch integrierten, traten viele der Haltung der Dagebliebenen, ihnen mit Neid und Abwehr gegenüber. Es überrascht daher nicht, daß vor allem diejenigen in Deutschland wieder Fuß fassen konnten, die jede Kollektivschuld der Daheimgebliebenen ablehnten und die keine grundlegenden Schuldeingeständnisse erwarteten. Carl Zuckmayers Theaterstück „Des Teufels General" wurde mit großer Zustimmung aufgenommen, konnte man es doch als Schilderung der eigenen Situation annehmen: Ohne Schuldzuweisung zeigte es menschliche Verstrickung in einem menschenverachtenden System. Dies hatte jeder erMarita Krauss: Die Region als erste Wirkungsstätte von Remigranten, in: Krohn/von zur Mühlen (Hg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945 (wie Anm. 13), S. 23-38; Gerhard Paul: „Herr K. ist nur Politiker und als solcher aus Amerika zurückgekommen." Die gelungene Remigration des Dr. Rudolf Katz, in: Gerhard Paul/Miriam GillesCarlebach (Hg.): Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden aus SchleswigHolstein, Lübeck und Altona. Neumünster 1998. Paul: Die gelungene Remigration (wie Anm. 38). Willy Brandt: Aus dem Bewußtsein verdrängt. Vom deutschen Umgang mit Widerstandskämpfern und Emigranten, in: Tribüne 23, H. 91 (1984), S. 130-141,139.

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lebt. Den weitergehenden moralischen Ansprüchen anderer Emigranten oder Verfolgter wollte sich kaum jemand aussetzen.41 Will man sich nun auf die Ebene der Wahrnehmung, und zwar der Fremdwahrnehmung, begeben, die eng mit der Einbettung der Rückkehrer in die aufnehmende Gesellschaft und damit mit der Frage nach ihrer Elitenposition zu tun hat, so muß man sich mit dieser Abwehr beschäftigen. Es ist überdies zu fragen, welche Schlußfolgerungen aus dieser Abwehr für die Frage nach dem institutionalisierten und informellen Respekt zu ziehen sind. Liegt hier möglicherweise die zentrale „Schwäche" dieser Gruppe? Ein klassischer Abwehrmechanismus, der gegen die Emigranten zum Tragen kam, war die Projektion: Um sich nicht an die eigene Schuld, das eigene Versagen, die eigene Gläubigkeit während der NS-Zeit erinnern zu müssen, projizierten viele Nachkriegsdeutsche ihre Ängste, ihre Selbstvorwürfe, ihre Enttäuschung auf die von Hitler vertriebenen Emigranten. Eine ähnliche Art der Abwehr betraf auch andere Gruppen, so beispielsweise die aus den Konzentrationslagern befreiten Juden, die ausländischen Zwangsarbeiter oder die deutschen Ostvertriebenen, doch diese Projektionen sollen hier nicht näher betrachtet werden. Gegen die Emigranten in herausgehobenen Positionen, beispielsweise gegen Willy Brandt, wurde dieser Abwehrmechanismus jedenfalls noch Jahrzehnte nach Kriegsende in Gang gesetzt.42 Warum nun wurden die deutschen Emigranten zu Projektionsobjekten? Projektion, so der emigrierte Psychoanalytiker Otto Fenichel 1944,4 richte sich auf Gruppen, die als unheimlich empfunden werden, auf Schwächere, die man verachtet, aber zugleich furchtet. Aus Alexander und Margarete Mitscherlichs zentralem Buch über die „Unfähigkeit zu trauern" läßt sich ergänzen, daß es sich dabei meist um Haß- und Neidobjekte handelt, die außerhalb einer Gruppe stehen; die Abgrenzung dient dem Schulterschluß und dem Zusammenhalt der projizierenden Gruppe.44

Marita Krauss: Projektion statt Erinnerung. Der Umgang mit Emigranten und die deutsche Gesellschaft nach 1945, in: Exil 18 (1998), S. 5-16; Martin Mantzke: Emigration und Emigranten als Politikum in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Exil 3 (1983), S. 24-31. Sven Papcke: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis. Zur Soziologie eines Tabus, in: Exilforschung 9 (1991), S. 9-24. Papcke: Exil und Emigration (wie Anm. 41). Erich Simmel: Antisemitismus. Frankfurt am Main 1993. Vgl. auch Horst-Eberhard Richter: Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik. Hamburg 1995, S. 54-64 das Kapitel über das Antisemitismus-Symposium. Vgl. auch Anita Eckstaedt: Nationalsozialismus in der zweiten Generation. Zur Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen . Frankfurt am Main 1989, z.B. S. 301-307 oder 496. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967. Tilmann Moser: Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie. Frankfurt am Main 1996, S. 150 f.

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Dies traf auf die Emigranten zu: Sie standen außerhalb der durch die NS-Zeit geformten deutschen „Volksgemeinschaft". Sie hatten nicht die „deutsche Größe" geteilt, sie teilten nun auch nicht die deutsche Schuld. Hinzu kamen die unbewußten Rachephantasien.45 Die ehemals Verachteten, Geächteten und Ausgestoßenen standen nun auf der Seite der Sieger. Deshalb fürchtete und beneidete man sie. Mit der Niederlage der Allmachtsphantasien entstand vielfach in Deutschland eine tiefe Wut gegen geheime und hinterhältige Feinde, die für all das verantwortlich zu machen waren.46 Und wer war dafür geeigneter als die Emigranten, denen man so viel Anlaß gegeben hatte, zu hassen? So kam es immer wieder zu der Unterstellung, die Emigranten hätten die Welt gegen Deutschland „aufgehetzt".47 Der „Morgenthau-Plan" schien diese Auffassung zu bestätigen. Mit den westalliierten Siegern, vor allem mit den Amerikanern, kam es im Gegenzug bald zu umfassenden Identifikationsprozessen.48 Nun wollten die Westdeutschen demokratische Musterschüler sein. Die verlorene entwertete Autorität wurde durch eine gute neue ersetzt, eine Hörigkeit gegen eine neue ausgetauscht. Als Ersatzfeind dienten darum die Emigrierten. Ganz im Sinne des projektiven „nicht ich, sondern du" lud man ihnen die eigenen Schuldgefühle und gleich noch den unterdrückten Haß auf die Sieger auf.49 Eine klassische Beschuldigung richtete sich daher gegen die politischen Eliten von Weimar: Sie hätten Hitler verhindern müssen, durch ihr Versagen sei es überhaupt zum Zweiten Weltkrieg gekommen. Diese Entwertung diente auch als Schutzschild gegen die mögliche Rückkehr dieser Führungsschicht, über deren Abwesenheit ein Großteil der Deutschen offenbar nicht unglücklich gewesen war.50 Damit in engem Zusammenhang stand die Umkehrung der Opfersituation. Um mögliche Schuldgefühle zu verkleinern, wurde aufgerechnet. Mit Blick auf Zerstörungen und Bombenkrieg, auf Vertreibung und Nachkriegsnot sahen

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Mitscherlich/Mitscherlich: Unfähigkeit (wie Anm. 44), S. 61. Ebd., S. 173. Alfons Söllner (Hg.): Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst. Frankfurt am Main 1982; Herbert Marcuse: Feindanalysen. Über die Deutschen, hg. von Peter Erwin Jansen. Lüneburg 1998; Edmund Spevack: Ein Emigrant in amerikanischen Diensten. Zur Rolle des Politikwissenschaftlers Hans Simons in Deutschland nach 194S, in: Krohn/von zur Mühlen (Hg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945 (wie Anm. 13), S. 321-338. Richter: Bedenken (wie Anm. 43), S. 182-183. Vgl. zu solchen Prozessen Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker (1912-13), in: Studienausgabe, Band IX, S. 287-444, 340: Latente Feindseligkeit wird in Verehrung umgewandelt. Sichtbar wird dies z.B. an der Ablehnung der Remigrationsversuche von Heinrich Brüning; vgl. Klaus Naumann: „Er hat uns noch gefehlt" - Die gescheiterte Remigration des Reichskanzlers a. D. Heinrich Brüning, in: Unter Vorbehalt (wie Anm. 6), S. 51-60.

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viele die deutsche Bevölkerung als das eigentliche Opfer an. Das von Deutschen den anderen Völkern Zugefugte, so es denn überhaupt geschehen sei, sei damit gesühnt. Die Schuldumkehr war ein probates Mittel, das auch gegenüber den Vorwürfen der Emigranten zum Einsatz kam, denen man unterstellte, sie hätten den weitaus bequemeren Weg gewählt, als sie „von den Logen und Parterreplätzen des Auslandes aus dem deutschen Unglück zuschauten"; so Walter von Molo in seiner Antwort an Thomas Mann.51 Hinzu kam dann noch die Opferkonkurrenz: Als „verdrängt" galten die Flüchtlingsprofessoren und bald auch die „Opfer" der Entnazifizierung, nicht die Emigranten. Hinter der Solidarität mit den Tätern und der Ablehnung der Emigrierten stand auch ein seit 1945 öffentlich tabuisiertes Phänomen: der Antisemitismus. Mit der Rückkehr der Emigranten lehnte man auch die Rückkehr der Juden ab. Der Antisemitismus war überdies an den Antikommunismus gekoppelt; dies betraf vor allem die linken Remigranten.52 Nach der Wende zum Kalten Krieg konnte dies auch wieder öffentlich vertreten werden. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, Reaktionen der Bevölkerung in SBZ / DDR gegenüber den von der Besatzungsmacht etablierten kommunistischen Remigranten aus Moskau auf diese Fragen hin zu untersuchen. Die projektive Abwehr gegen die Emigranten erfüllte also viele Zwecke: Sie diente der Schuldabwehr und Schuldumkehr, sie bot aber auch ein Schutzschild gegen die Rückkehr einer von der Mehrheit nicht geliebten Führungsschicht. Diese umfaßte vor alle die linken und avantgardistischen Eliten der Weimarer Zeit. V. Die Umfrage Damit sind einige der Gründe genannt, warum die Nachkriegsdeutschen sich der Emigranten als Projektionsobjekte bedienten. Eine Umfrage, „Concerning Thomas Mann and other emigrees", für die im Sommer 1947 rund achtzig Nachkriegsdeutsche der verschiedensten Berufe befragt wurden, gibt weiteren Aufschluß über die Art der Vorwürfe.53 Wichtig ist sie hier auch insofern, als sie von der Fragerichtung her auf die emigrierte Elite zielte. Ihre Resultate geben also Auskunft über die Haltung der Dagebliebenen gegenüber der emigrierten Elite und deren möglicher Remigration. In der Umfrage selbst wurde zentral Thomas Mann als einer der möglichen Rückkehrer erwähnt, Thomas Mann, der erst kürzlich Äußerungen gemacht habe, die für die Deutschen keiJohannes F. Grosser (Hg.): Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hamburg 1963. Krauss: Die Rückkehr der „Hitlerfrischler" (wie Anm. 5), S. 151-160, S. 155 f. Institut für Zeitgeschichte, OMGUS 10/110-3/27 (zit. als: Umfrage).

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neswegs schmeichelhaft gewesen seien und der daher möglicherweise ein gewisses Maß an Ressentiment auf sich gezogen habe. Man fragte nach einer möglichen Rolle der Emigranten in der Reeducation, nach Privilegien für Rückkehrer, nach ihrer Position innerhalb der Gesellschaft.54 Die Antworten zeigen, daß es meist bei der Frage nach einer Tätigkeit im Bereich der Reeducation und Rehabilitation zu knistern begann, daß jedoch spätestens bei der Frage nach möglichen Privilegien für Emigranten bei den Dagebliebenen die tiefer sitzenden Vorurteile, Neidgefühle sowie die ganze Bitternis der Kriegs- und Hungeijahre durchbrachen. Selbst vordergründig zustimmende Zeitgenossen enthüllten hier ihre innere Befindlichkeit. Eine Elite aus Emigranten/ Remigranten lehnte man ab. Schuld und Sühne wurden in der Umfrage nicht angesprochen, ebensowenig Recht und Unrecht, die Gründe für die Emigration oder die Verbrechen der NS-Zeit. Dies erleichterte die Verleugnung und Abwehr. Antisemitismus oder Antikommunismus kamen weder in den Fragen, noch in den Antworten vor. An Thomas Mann entzündeten sich die meisten Widerstände. Die Debatte um Thomas Mann war längst keine innerliterarische mehr; seine Reden über BBC während des Krieges hatten ihn einem viel größeren Kreis bekannt gemacht und ihn in Deutschland zum wichtigsten Vertreter des Exils werden lassen. Er war dann zur Symbolfigur eines anderen Deutschlands geworden, das nicht leise und bescheiden zurückkehrte, um mitzuarbeiten; Thomas Mann hielt allgemein zur Kenntnis genommene Rundfunkansprachen, schrieb verletzende Offene Briefe, wurde von den Medien international immer wieder zu deutschen Fragen gehört und verbarg seine Meinung dabei nicht. In den Stellungnahmen der Umfrage wird Thomas Mann meist erst einmal entwertet. Er solle im Ausland bleiben, er sei „ohnehin schon alt".55 Seine Haltung sei „fragwürdig",56 er habe bewiesen, daß man ein „ großer Schriftsteller und dennoch ein sehr zweifelhafter Mensch" sein könne.57 Mann habe sich „schlecht benommen",58 nun müsse er gut über Deutschland schreiben, um „seinen ehemals guten Ruf bei den Deutschen zurückzuerobern".59 In einem zweiten Schritt betonten viele der Befragten, Thomas Mann habe mit seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen" und anderen Schriften vor 1933 „das deutsche Volk mit virulenten geistigen Bazillen infiziert"60 und „an der Unterhöhlung der bürgerlichen Intelligenz mitgearbeitet". Er habe „Instinkt und Tat

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Umfrage, S. 54. Umfrage, S. 25 (Cuno). Umfrage, S. 28 (Wilms). Umfrage, S. 48 (Falckenroth). Umfrage, S. 34 (Martin). Umfrage, S. 76 ( Sennefelder). Umfrage, S. 9 (Kiaulehn).

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gepredigt" und sei „durch diese Stellungnahme mitschuldig geworden an der geistigen Vorbereitung des deutschen Volkes für den Nationalsozialismus". Doch heute erkläre er, „amerikanischer Staatsbürger zu sein, anstatt seine Mission als Dichter dem deutschen Volk gegenüber zu erfüllen". So Walter Kiaulehn, immerhin Mitarbeiter der „Neuen Zeitung". Thomas Mann war damit sicherlich nicht das einzige, wohl aber das exponierteste Projektionsobjekt unter den Emigranten. Die Emigrierten fühlten sich von den Vorwürfen getroffen und suchten sich zu verteidigen. Dies zeigt z.B. Hans Habes ausführliche Auseinandersetzung mit den Vorwürfen, er hege Ressentiments, er habe einen Verfolgungswahn, da er überall Nazis sehe, er sei ein „Morgenthau-Boy", der die Kollektivschuldthese miterfunden habe, und er hasse die Deutschen.61 Habe versuchte mit Verweis auf sein Verhalten und seine öffentlichen Stellungnahmen all dies Punkt für Punkt zu widerlegen. Doch weder er noch andere erkannten die eigentliche Natur des ganzen Vorgangs. Damit trugen die Projektionen massiv zur äußeren wie inneren Situation der Emigranten und Remigranten nach 1945 bei, wurde doch die öffentliche Debatte und damit auch die öffentliche Meinung von solchen Vorwürfen geprägt. Die Umfrage zeigt, daß die spezielle Abwehr gegen Mann, aber auch gegen andere Emigranten Mitte 1947 bereits feste Formen angenommen hatte. Dazu nun einige Beispiele. Der Nürnberger Stadtrat Dr. Marx lehnte Privilegien für Remigranten ab:62 „Es ist weder demokratisch noch menschlich richtig, jemandem besondere Vorrechte zu gewähren. Ich bedaure dies schon bei den sogenannten politisch Verfolgten. Wenn solche Personen nicht zu ihrem Volke um des Volkes willen zurückkehren, dann sind sie es auch nicht wert, daß man ihre Anwesenheit mit irgendeinem besonderen Preis bezahlt." Der Mitherausgeber der Süddeutschen Zeitung, Werner Friedmann, sah das ähnlich:63 „Sie müßten auf Privilegien verzichten können. Sie dürften z.B. keine bessere Verpflegung erhalten. Sie müßten in Wahrheit so in Deutschland leben, wie es heute der Durchschnittsdeutsche muß. Diese zurückkehrenden Deutschen müßten sich auch der Tatsache gewiß sein, daß sie bei Überschreitung der deutschen Grenze die Pflicht aufgebürdet erhalten, Sühne mit dem deutschen Volk abzuleisten. Nur so werden sie dann hier verstanden werden [...]. Wenn die deutschen Emigranten zurückkehren, so müssen sie wissen, daß ihnen nicht eine offizielle Volkserziehung zufallt, sondern daß sie nichts anderes zu sein haben als Angehörige des deutschen Volkes, dem sie zu dienen hätten."

Hans Habe: Ich stelle mich. Erinnerungen. München 1965, S. 470-474. Umfrage, S. 44 (Marx). Umfrage, S. 22 (Friedmann).

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Ein entscheidender Grund für Projektion ist der Neid: Neid auf größere Schuldlosigkeit,64 auf ehrenhafteres Verhalten, auf besseres Leben, manchmal auch auf vermutete größere Freiheiten. Das Neidgefiihl verband sich in den Antworten meist untrennbar mit dem Nationalen, das heißt, das eigene Neidgefühl wurde durch nationale Argumente gegenüber dem Bewußtsein des Projizierenden legitimiert. Die Volksgemeinschaft nahm nach wie vor einen sehr hohen Rang ein. Stellvertretend für diese Volksgemeinschaft wehrten sich die Befragten gegen eine Elitenposition für rückkehrende Emigranten.

VI. Schluß Ich fasse zusammen und führe auf Fragen der Elitenanalyse zurück: Es gelang sowohl der Moskauer KPD-Exilgruppe für die DDR, wie den SPDRemigranten, „über längere Zeit leitende Funktionen zu monopolisieren" (Schieder). Diese Personenenkreise waren jeweils auch stark von ihren Exilerfahrungen geprägt. Durch die Haltung der Westalliierten konnte die projektive Abwehr der Dagebliebenen gegen die Emigranten / Remigranten in der Bundesrepublik im Gegensatz zur DDR offen weiterbestehen. Sie richtete sich gegen emigrierte Eliten aus Kultur und Politik und zeigte, daß diese in ihrer Rolle als Emigranten nicht auf institutionalisierten oder informellen Respekt rechnen konnten. Dies heißt nicht, daß sich diese Rückkehrer nicht wieder einen herausgehobenen Platz in der Gesellschaft hätten schaffen können. Es gelang ihnen dies jedoch eher obwohl sie Emigranten, nicht weil sie Emigranten waren. Um nun zu untersuchen, wie die (Wieder-)Etablierung remigrierter Eliten in Deutschland stattfand, müßte ein regionaler mit einem gruppenspezifischen Ansatz verbunden werden. Auf regionaler oder lokaler Ebene lassen sich die Geflechte besser rekonstruieren, die eine erfolgreiche Neuetablierung ermöglichten oder verhinderten: Es geht dabei vor allem um die Frage, welche ansässigen Gruppen oder Netzwerke einen Rückkehrer zur Wahl in ein Gremium oder ein Parlament, für eine Position im Kulturbereich oder in der Universität, für einen Korrespondentenposten oder eine Redakteursstelle vorschlugen und ihn dann auch stützten. So lassen sich seine Einbettung in die Gesellschaft, der informelle Respekt und seine Reichweite besser bestimmen. Regionale Untersuchungen ermöglichen überdies die Frage nach dem Vorher-Nachher, die für die Rückkehr zentral ist: Wie viele wurden vertrieben, wer kam zurück? Zieht man die vorhandenen gruppenspezifischen Teiluntersuchungen zu Wissenschaftszweigen, zum Theater, zur Literatur zu Rate, so kann Vgl. z.B. Mitscherlich/Mitscherlich: Unfähigkeit (wie Anm. 44), S. 68 zum Neid auf Emigranten.

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dies dann letztlich auch zu genaueren Quantifizierungen fuhren, als sie bisher möglich sind. Der Elitenansatz bietet sich für die Remigrationsforschung durchaus zwingend an. Remigrationsforschung fragt nach den Wirkungen und dies hängt ebenfalls eng mit Eliten zusammen. Hinzu kommt ein Weiteres. Die Frage nach Integration oder Assimilierung in einer nationalen Gesellschaft wirkt vor dem Hintergrund der Massenmigrationen und der daraus erwachsenen modernen Mischgesellschaften etwas anachronistisch. Darauf weisen auch die Forschungen zu „hybriden", also gemischten Gesellschaften hin. Hier bietet die Frage nach der Elitenpositionierung eine wichtige Alternative, lassen sich doch Anpassungsleistungen und Anpassungszwänge auf diese Weise auch als Teil eines gesellschaftlichen Formierungsprozesses begreifen.

Vertreibung als Exklusion gesellschaftlicher Führungsgruppen. Die Verdrängung der „Großbauern" in der SBZ/DDR und die Vernichtung der „Kulaken" in der UdSSR im Vergleich VON ARND BAUERKÄMPER

1. Elitenflucht und kommunistische Zukunftsgesellschaft. Die Vertreibung gesellschaftlicher Führungsgruppen als Herrschaftsmittel stalinistischer Diktaturen Mit der Diktatur kam die Elitenvertreibung. Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert wird deutlich, wie eng die Auflösung parlamentarischer Regierungen, die Durchsetzung der Einparteienherrschaft und die Beseitigung des gesellschaftlichen Pluralismus jeweils mit einem tiefgreifenden Wechsel der gesellschaftlichen Führungsgruppen verbunden waren. Im „Zeitalter der Extreme"1 gingen mit der Durchsetzung moderner Diktaturen, die von plebiszitärer Akklamation getragen wurden, pseudodemokratisch-populistische Mobilisierungsstrategien entfalteten und auf (vorgetäuschte) Massenpartizipation zielten, umfassende gesellschaftliche Verwerfungen einher. Diese Diktaturen, die demokratische Herrschaftsformen nicht mehr umstandslos ausblenden konnten, sondern für ihre Machtansprüche vereinnahmen mußten, führten gezielt einen weitreichenden Umbruch der Sozialstruktur herbei. Der Elitenwechsel spiegelte diese Politik gesellschaftlicher Destruktion und Konstruktion nicht nur wider, sondern verlieh dem Transformationsprozeß auch seine spezifische Dynamik. Die kumulative Entmachtung und Verdrängung traditionaler sowie die Installierung und Privilegierung neuer gesellschaftlicher Führungsgruppen bilden damit das Substrat der Gesellschaftspolitik in modernen Diktaturen.

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Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. Zur DDR: Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994,

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Amd Bauerkamper

Während die Machteliten - diejenigen Personen, „die den größten Einfluß auf wichtige Entscheidungen ausüben, Menschen, die [...] die größten Chancen haben, ,andermenschliches Verhalten steuern zu können'"3 - mit der Durchsetzung der Diktaturen unmittelbar wechselten, wurden die gesellschaftlichen Funktionseliten erst sukzessive ausgewechselt.4 Getragen von dem Impetus des soziokulturellen Neubeginns und der damit verbundenen Aufbruchseuphorie, setzten die propagandistische Inszenierung und Legitimation sowohl der nationalsozialistischen Machthaber als auch der kommunistischen Spitzenfunktionäre in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die politische Pazifizierung und soziale Integration - z.B. auf der Basis traditionaler Honoratiorennetzwerke - ebenso voraus wie die Demonstration funktionaler Leistungsfähigkeit, für die das Spezialwissen hochqualifizierter Berufsgruppen unabdingbar war. Da die nationalsozialistische Ideologie zudem nicht auf einen radikalen Wandel der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur zielte, konservierte das NS-Regime - trotz der Eingriffe der 1936 eingerichteten „Vieijahresplan'VBehörden und des von Albert Speer geleiteten „Amtes für zentrale Planung" seit 1942 - die bestehenden Eigentumsund Produktionsverhältnisse im „Dritten Reich" weitgehend. Obgleich traditionale gesellschaftliche Führungsgruppen wie Unternehmer und Großagrarier besonders im Zweiten Weltkrieg - zunehmend der Vorherrschaft der Funktionärskaste in NSDAP und SS unterworfen war, beeinflußten sie weiterhin poli-

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1994, S. 547-553, hier 548 f.; ders.: Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APZ), B 40/94, 7.10.1994, S. 34-45, hier 41; Alf Lüdtke: Die DDR als Geschichte. Zur Geschichtsschreibung über die DDR, in: APZ, B 36/98, 28.8.1998, S. 3-16, hier 4. Zum Stellenwert vorindustrieller Führungsgruppen im NS-Herrschaftssystem unterschiedliche Interpretationen in: Fritz Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945. Düsseldorf 21985, bes. S. 93-95; Andreas Hillgruber: Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871-1945. Düsseldorf 1984, bes. S. 111. Zum Konzept der „modernen Diktatur": Richard Löwenthal: Widerstand im totalen Staat, in: ders./Patrick von zur Mühlen (Hg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945. Berlin 1984, S. 11-24, hier 11 f.; Jürgen Kocka: Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem. Einleitung, in: ders. (Hg.): Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien. Berlin 1993, S. 9 26, hier 23 f. Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung. Opladen21996, S, 90. „Funktionseliten" bezeichnet „Sozialaggregate, die in den nach konfligierenden oder kooperierenden Gruppen, Organisationen und Interessen sowohl vertikal als auch horizontal differenzierten Gesellschaft besonderen Einfluß haben, unter je spezifischen Verantwortlichkeiten stehen und bestimmte Aufgaben der Leitung, Koordination, Planung usw. haben". Vgl. Dietrich Herzog: Politische Führungsgruppen. Probleme und Erkenntnisse der modernen Elitenforschung. Darmstadt 1982, S. 3. Für demokratische Regierungssysteme begrifflich-konzeptionell richtungweisend: Otto Stammer: Das Elitenproblem in der Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 71 (1951), H. 5, S. 1-28, hier 9,15,19,27.

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tische Entscheidungen der Machthaber und verfügten darüber hinaus über beträchtliches Sozialprestige. Demgegenüber nahm in der SBZ bzw. D D R ein radikaler Austausch der gesellschaftlichen Funktionseliten einen wichtigen Stellenwert in dem ehrgeizigen Projekt gesellschaftlicher Transformation ein, das die sowjetische Besatzungsmacht in enger Abstimmung mit der von ihr protegierten Führung der deutschen Kommunisten unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Angriff nahm und in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren forcierte. Die Verdrängung traditionaler Eliten ging hier in die gezielte Rekrutierung gesellschaftlicher Führungsgruppen über, die zunächst in Schnellkursen, in den fünfziger Jahren zunehmend auch in neuen Bildungseinrichtungen fachlich geschult und politisch indoktriniert worden waren. Als „Korsettstangen" 5 der sich herausbildenden kommunistischen Diktatur sollten diese „Kader" den Herrschaftsanspruch der SED-Führung in Ostdeutschland durchsetzen und den anvisierten, programmatisch determinierten Aufbau der „sozialistischen Gesellschaft" vorantreiben. 6 Da die beiden deutschen Diktaturen im Hinblick auf ihren Zugriff auf die gesellschaftlichen Funktionseliten demnach deutliche Unterschiede aufweisen, wird im folgenden exemplarisch die Repression traditionaler gesellschaftlicher Führungspersonen in den kommunistischen Regimes in der D D R und in der

Otto Stammer: Der kleine Mann als Objekt der manipulierten Meinungsbildung in der Sowjetzone. Vortrag, gehalten am 6. Mai 1952 im Ferienkurs der Deutschen Hochschule für Politik. Berlin 1953, S. 10. Zur Entwicklung der Macht- und Funktionseliten als richtungweisende frühe Studie: Wolfgang Zapf: Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919-1961. München 1965, bes. S. 168-184. Zum Elitenaustausch im „Dritten Reich" besonders die Beiträge in: Martin Broszat/Klaus Schwabe (Hg.): Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg. München 1989. Überblick über die Forschung in: Ursula Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik. Opladen 1992, S. 67-72. Zu dem unterschiedlichen sozioökonomischen Gestaltungsanspruch des NS-Regimes und der SED-Diktatur: Frank Waltmann: Wirtschaftssysteme, ökonomische Grundstrukturen des Nationalsozialismus und der DDR im Vergleich, in: Ludger Kühnhardt/Gerd Leutenecker/Martin Rupps/Frank Waltmann (Hg.): Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR - ein historisch-politikwissenschaftlicher Vergleich. Frankfurt/M. 1994, S. 125-144, hier 127-129, 133-136; Günther Heydemann/Christopher Beckmann: Zwei Diktaturen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs, in: Deutschland Archiv (DA) 30 (1997), S. 12-40, hier 26 f.; Jürgen Kocka: Nationalsozialismus und SED-Diktatur im Vergleich, in: ders. (Hg.): Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart. Göttingen 1995, S. 91-101, hier 97 f. Zu „Kader" als Begriff und Konzept: Dieter Voigt/Lothar Mertens: Kader und Kaderpolitik, in: Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günter Nooke/Dorothee Wilms (Hg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik. Paderborn 1996, S. 322-324, hier 323; Hartmut Zimmermann: Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/DDR, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte (wie Anm. 2), S. 322-356, hier 323 f.

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Sowjetunion verglichen. Die bolschewistischen Machthaber, die am 25. Oktober 1917 das bürgerliche Interregnum des Ministerpräsidenten Alexander K6renski gewaltsam beendet hatten, teilten mit den SED-Machthabern das Ziel einer weitreichenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzung, die als den kapitalistisch-bürgerlichen Staaten überlegener Pfad in die Moderne idealisiert wurde. Die sozioökonomische Transformation, die beide kommunistische Diktaturen erzwangen, kennzeichnete besonders im Hochstalinismus ein Syndrom utopisch-eschatologischer Zukunftseuphorie und voluntaristisch-idealistischer Fortschrittsillusionen, die eine ungebremste ideologisch-politische Radikalisierung herbeiführten und technizistische Entwicklungskonzeptionen förderten. Das manichäische Weltbild verlieh diesem dynamischen Konzept, das tief im Marxismus-Leninismus verwurzelt war, seine spezifische Sprengkraft. Der Herrschaftsanspruch der kommunistischen Führungen in der Sowjetunion und DDR richtete sich gegen alle - inneren und äußeren - „Klassenfeinde", die aus der Sicht der Machthaber unterdrückt, entmachtet und verdrängt werden mußten. Deshalb setzte die soziale Exklusion traditionaler gesellschaftlicher Funktionseliten in beiden Staaten schon mit der Herrschaftskonsolidierung ein, bevor anschließend schrittweise ein umfassender Elitenwechsel herbeigeführt wurde. Das destruktive Potential des teleologischen Radikalismus entlud sich dabei in der Sowjetunion in den dreißiger und vierziger Jahren in der physischen Vernichtung traditionaler Führungsgruppen und in Ostdeutschland in der Vertreibung, Repression und Entmachtung von Funktionseliten, die den Weg zur kommunistischen Zukunftsgesellschaft blockierten. Der „destruktive Bewegungscharakter" der stalinistischen Diktaturen ergab sich mithin aus den komplementären Herrschaftsstrategien von messianischer Zukunftsgewißheit und Terror.7

Zit. nach: Friedrich Pohlmann: Der „Keim des Verbrechens" totalitärer Herrschaft. Die Einheit der politischen Philosophie Hannah Arendts, in: Achim Siegel (Hg.): Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus. Köln 1998, S. 201-234, hier 229. Zu dem - durchaus ambivalenten - ideologischen Fundament vgl. Dieter Langewiesche: Fortschritt als sozialistische Hoffnung, in: Klaus Schönhoven/Dietrich Staritz (Hg.): Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag. Köln 1993, S. 39-55. Zu dem visionären Fortschrittsoptimismus der SEDFührung: Joachim Radkau: Revoltierten die Produktivkräfte gegen den real existierenden Sozialismus?, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4 (1990), H. 4, S. 13-42, hier 35. Daneben: Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 19451989. Frankfurt/M. 1992, S. 117, 132-134, 179-210, 215 f. Zur Sowjetunion: Achim Siegel: Ideological Learning Under Conditions of Social Enslavement: the Case of the Soviet Union in the 1930s and 1940s, in: Studies in East European Thought 59 (1998), S. 19-58, hier 28-34, 46; Wolfgang Eichwede: Stalinismus und Modernisierung, in: Bernd Faulenbach/Martin Stadelmaier (Hg.): Diktatur und Emanzipation. Zur russischen und deutschen Entwicklung 1917-1991. Essen 1993, S. 40-40, hier 43. Zum „Stalinismus" der Forschungsüberblick und die theoretisch-methodologischen Überle-

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Nach der „Bündnis"-Doktrin, die Lenin - im Anschluß an den von Engels verfaßten Aufsatz über „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland" (1894/95) - in seinem Programmentwurf für die anvisierte Sozialdemokratische Partei Rußlands 1895/96 entwarf, sollte das revolutionäre Potential der Bauernschaft zunächst gegen die Gutsbesitzer gerichtet werden, diese vorkapitalistisch-feudale Herrschaftsgruppe entmachten und damit eine politische Allianz mit den Industriearbeitern begründen. In seinem 1907 geschriebenen Buch über „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905-1907" erweiterte Lenin sein Revolutionskonzept, indem er zwischen den Landarbeitern, die über keinen Boden verfugten, den Kleinbauern, den Mittelbauern, den „wohlhabenden Bauern, die sich zur ländlichen Bourgeoisie entwickeln", und den Großgrundbesitzern unterschied.8 Im Hinblick auf die Nutzung des zu enteignenden Gutslandes schwankte Lenin jedoch zwischen der 1906 von ihm erstmals geforderten Aufteilung und Vergabe an die Bauern und dem - noch in das Agrarprogramm vom Frühjahr 1917 aufgenommenen - Konzept, den Großgrundbesitz in staatliche Musterbetriebe zu überfuhren. Erst unmittelbar vor der Oktoberrevolution bekannten sich die Bolschewiki offen zu der Forderung der Bauern, Gutsland als Eigentum zu übernehmen. Nachdem die Gutsbesitzer schon Ende 1917 enteignet worden waren, systematisierte Lenin die Agrarprogrammatik der neuen Machthaber in seinem „Ursprünglichen Entwurf der Thesen zur Agrarfrage", bevor die „Bündnis-Doktrin" auf dem II. Weltkongreß der Komintern (19. Juli bis 7. August 1920) kanonisiert wurde. Lenin skizzierte das Stufenkonzept einer Agrarrevolution, nach dem der Großgrundbesitz unverzüglich und entschädigungslos zu konfiszieren und überwiegend als „Sowjetwirtschaften" weiterzufuhren war. Auch wenn „die Expropriation sogar der Großbauern" als „unmittelbare Aufgabe des siegreichen Proletariats" explizit zurückgewiesen wurde, proklamierte Lenin in seinem Entwurf perspektivisch den Kampf gegen diese Gruppe, die er als „Ausbeuter" und „direkte und entschiedene Feinde des revolutionären Proletariats" stigmatisierte. Leitbild der Agrarpolitik wurde endgültig eine großbetriebliche, mechanisierte Landwirtschaft - ein Konzept, das die Fortschrittseuphorie der Bolschewiki ebenso widerspiegelte wie ihren voluntaristischen Gestaltungsoptimismus und eine unreflektierte Gigantomanie. Nachdem die staatliche Intervention in die Agrarwirtschaft - besonders die Zwangserfassung von Getreide - im Rahmen der „Neuen

gungen in: Hans-Henning Schröder: Der „Stalinismus" - ein totalitäres System? Zur Erklärungskraft eines politischen Begriffs, in: Osteuropa 46 (1996), S. 150-163. Zit. nach: Karl-Eugen Wädekin: Sozialistische Agrarpolitik in Osteuropa, Band 1: Von Marx bis zur Vollkollektivierung. Berlin 1974, S. 28. Vgl. auch Friedrich Engels, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, in: Marx/Engels, Werke, Band 22. Berlin (Ost) 1963, S. 484-505, hier 499-505.

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Ökonomischen Politik" (NEP) von 1922 bis 1927 zurückgenommen worden war, radikalisierte Stalin in den späten zwanziger Jahren Lenins Agrarprogramm, indem er zur Zwangskollektivierung und Verdrängung der „Kulaken" überging. Die deutschen Kommunisten, die vor dem nationalsozialistischen Terror nach Moskau geflohen waren, hatten die Abfolge von Enteignung der Gutsbesitzer und Repression der „Kulaken" so weitgehend internalisiert, daß sie das Vorbild der leninistischen und stalinistischen Agrarpolitik in der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg - wenn auch nicht bruchlos - in der SBZ und DDR durchsetzten.9 Obgleich sich ein historisch-systematischer Vergleich der Repression von „Kulaken" in der Sowjetunion und der Verdrängung der „Großbauern" in der DDR damit auf grundlegende Affinitäten stützen kann, weisen die Diktaturen auch deutlich differente Rahmenbedingungen auf, die in der folgenden komparativen Darstellung zu berücksichtigen sind. So konnten in der DDR verfolgte „Großbauern" in den fünfziger Jahren noch über die offene Grenze in die Bundesrepublik fliehen, und auch die propagandistische Auseinandersetzung im Kalten Krieg, in dem die SED-Führung einen gesamtdeutschen Repräsentations- und Führungsanspruch für die ostdeutsche „Diktatur des Proletariats" reklamierte, legte ein flexibleres Vorgehen als in der UdSSR nahe. Diese Konstellation schloß in Ostdeutschland eine uneingeschränkte, nur dem revolutionären Dogma verhaftete Repressionspolitik aus. Zudem hatten Marktbeziehungen und das Privateigentum in Rußland einen viel geringeren Stellenwert in der bäuerlichen Ökonomie und Mentalität eingenommen als in Deutschland, wo die wirtschaftsstarken Landwirte spätestens seit den Agrarreformen im 19. Jahrhundert nicht nur über das Privateigentum an Land verfugten, sondern auch in einflußreichen Interessenverbänden und Wirtschaftsorganisationen zusammengeschlossen waren, aus denen die Raiffeisengenossenschaften herausragten. Insofern schließt der hier durchgeführte Vergleich von zwei Nationen implizit einen Zivilisationsvergleich ein. Schließlich ist in Rechnung zu stellen, daß der Verfolgung der „Großbauern" Zit. nach: Wladimir I. Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur Agrarfrage, in: ders.: Werke, Band 31: April - Dezember 1920. Berlin (Ost) 1959, S. 140-152, hier 145 f. Dazu auch: Josef Reinhold: Die Bedeutung des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale für die Weiterentwicklung der Agrar- und Bauempolitik der KPD, in: Probleme der Agrargeschichte des Feudalismus und des Kapitalismus, Teil 17. Rostock 1987, S. 79-91, hier 81-83. Zur Agrarprogrammatik der Bolschewiki zusammenfassend: James C. Scott: Seeing Like a State. How certain schemes to improve the human condition have failed. New Haven 1998, S. 164,167, 194 f., 209-211,218; Carmen Siriani: Workers Control and Socialist Democracy, l i e Soviet Experience. London 1982, S. 165-175; Stephan Merl (Hg.): Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des Kriegskommunismus und der Neuen Ökonomischen Politik. Berlin 1993, S. 23; Wädekin: Agrarpolitik (wie Anm. 8), S. 24-32.

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in Ostdeutschland die Vernichtung der „Kulaken" in der UdSSR vorausgegangen war. Die Auswirkungen dieser Politik waren deshalb sowohl den beteiligten Politikern als auch den betroffenen Landwirten in Ostdeutschland bekannt. Zudem war deutlich, daß die Sowjetunion auch nach der Gründung der DDR die Politik der SED maßgeblich beeinflußte. Dennoch ermöglicht der Vergleich der Repressionspolitik gegenüber den „Kulaken" und den „Großbauern" eine empirische Generalisierung und Klassifikation der Elitenverdrängung in modernen Diktaturen. Die dargelegte Problemstellung rechtfertigt die komparative Untersuchung der Vertreibimg gegenüber den „Kulaken" und der „Großbauern" als im Hinblick auf die kommunistische Agrarpolitik funktional äquivalente Vergleichsobjekte. Da besonders die spezifischen Merkmale der Verfolgungspraxis hervorgehoben werden sollen und die Chronologie zu beachten ist, wird der Vergleich als kontrastierende, diachrone Querschnittsanalyse angelegt.10

2. Vertreibung als Vernichtung. Die Repression der „Kulaken" von 1929 bis 1933 Im zaristischen Rußland basierte die landwirtschaftliche Erzeugung institutionell weitgehend auf der traditionellen Umverteilungsgemeinde („obsina"), die durch die Bauernbefreiung nach dem Gesetz vom 19. Februar 1861 gestärkt und auf das ganze Russische Reich ausgedehnt worden war. Obgleich die Parzellen in den „obsiny" individuell bewirtschaftet wurden, war das Eigentümerbewußtsein der russischen Bauern nur schwach ausgeprägt. Die Flächenrotation verhinderte auch eine dauerhafte Bindung an den Boden; „gerechte", nicht vom Land entfremdete Arbeit und das Ideal ganzheitlicher Wirtschaft waren aber fest im Werthorizont der Kleinbauern verankert, die sich nicht nur vom Adel, sondern auch gegenüber den „Kulaken" abgrenzten.

Hierzu die methodologisch-theoretischen Überlegungen in: Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka: Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies (Hg.): Geschichte und Vergleich. Aufsätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt/M. 1996, S. 9-45; Jürgen Kocka: Historische Komparatistik in Deutschland, in: ebd., S. 47-60, hier 52, 55 f.; Thomas Adolph: Einleitende Anmerkungen zur historisch-politikwissenschaftlichen Methode des Vergleichs, in: Kühnhardt/Leutenecker/Rupps/Waltmann (Hg.): Diktaturerfahrung (wie Anm. 5), S. 19-30, hier 23-30; Andreas Müller: Zur Methodik des historisch-politischen Vergleichs, in: ebd., S. 31-42, hier 31, 35-37. Ergänzend: Hartmut Kaelble: Der historische Zivilisationsvergleich, in: ders./Jürgen Schriewer (Hg.): Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften. Frankfurt/M. 1999, S. 29-52; Hiltrud Naßmacher: Vergleichende Politikforschung. Eine Einfuhrung in Probleme und Methoden. Opladen 1991, S. 17-31.

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Eigentumstitel blieben dabei weitgehend irrelevant. Auch die Reformen, die nach der Niederlage Rußlands im Krieg mit Japan 1905 und den dadurch ausgelösten Unruhen 1906 von Ministerpräsident Peter Stolypin im Zarenreich angeordnet und 1910/11 von der III. Duma verabschiedet wurden, konstituierten deshalb nur begrenzt bäuerliches Privateigentum. Bis 1916 hatten von 9,5 Millionen Bauern, die 1905 in Umverteilungsgemeinden zusammengeschlossen waren, lediglich rund 2,5 Millionen private Besitztitel erhalten. Obgleich besonders in den südlichen und westlichen Regionen Rußlands Einzelhöfe („chutor") gebildet wurden, blieb die Umverteilungsgemeinde als Grundlage der traditionalen Agrarverfassung vorherrschend. In den „obSiny" nahmen wirtschaftsstarke Landwirte, die ihren Einfluß auch in Bauernversammlungen („schody") zur Geltung brachten, vielerorts Führungspositionen ein. Obgleich die traditionalen dörflichen Institutionen auch die egalisierende Wirkung einer paternalistischen Solidargemeinschaft entfalteten, die notleidende Kleinbauern wirtschaftlich unterstützte, richteten sich die Ressentiments der Kleinbauern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmend gegen die „Kulaken", die überdies die nach 1861 eingerichteten dörflichen und regionalen Gerichte dominierten.11 Die Wirtschaftsabläufe und -beziehungen der bäuerlichen Betriebe waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert überwiegend noch von vorkapitalistischen Strukturen und einer traditionalen Mentalität bestimmt, die auf einen Ausgleich zwischen der Land- und Viehausstattung und den Arbeitskräften Stefan Plaggenborg: Bauemwelt und Modernisierung in der ausgehenden Zarenzeit, in: Heiko Haumann/Stefan Plaggenborg (Hg.): Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreichs. Frankfurt/M. 1994, S. 138164. Daneben: Heiko Haumann: Geschichte Rußlands. München 1996, S. 352-358, 366, 368; Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Lives in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York 1999, S. 122; Robert William Davies: The Socialist Offensive. The Collectivization of Soviet Agriculture 1929-30. Cambridge' 1980, S. 409; Mark Harrison: The Peasantry and Industrialization, in: Robert W. Davies (Hg.): From Tsarism to the New Economic Policy. Continuity and Change in the Economy of the USSR. London 1990, S. 104-120, hier 104. Zur Eigentumsstruktur und zum Eigentümerbewußtsein in Rußland bzw. in der Sowjetunion und Deutschland im Vergleich die Beiträge von Stephan Merl u. Arnd Bauerkämper in: Hannes Siegrist/David Sugarman (Hg.): Eigentumskulturen im Vergleich. Eigentums-, Persönlichkeits- und Bürgerrechte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 109-134, 135-159. Zur den Funktionen der „obäina" und zum Stellenwert der Bauemversammlungen bis zu den zwanziger Jahren: Helmut Altrichter: Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung. München 1984, S. 90 f.; Merl (Hg.): Sowjetmacht (wie Anm. 9), S. 20 f. Zu den Stolypinschen Reformen: Georg von Rauch: Rußland vom Krimkrieg bis zur Oktoberrevolution (1856-1917), in: Theodor Schieder (Hg.): Handbuch der Europäischen Geschichte, Band 6. Stuttgart 1973, S. 309-362, hier 338; Siriani: Workers Control (wie Anm. 9), S. 163-165. Überblick in: Heiko Haumann: Von der Leibeigenschaft zur Kollektivierung. Bauern im Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Journal für Geschichte 11 (1989), H. 4, S. 35-43, hier 36-^0.

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zielte. In der vorherrschenden, nur langsam zugunsten einer Marktorientierung zurückgedrängten bäuerlichen Subsistenzwirtschaft waren Lohnkosten, Kapital(zins) und kapitalistische Grundrente marginale Produktionsfaktoren. Mit den staatlichen Behörden waren die Bauern überwiegend nur bei der - oft erzwungenen - Ablieferung ihrer Produkte konfrontiert. Verstärkt durch die geographische Entfernung zwischen den staatlichen und bäuerlichen Akteuren, förderte die soziale Distanz wechselseitiges Unverständnis, führte zu Fehlperzeptionen und verlieh Konflikten Auftrieb, die sich in Protesten der Landbevölkerung gegen den Machtmißbrauch von Gutsherren und Beamten und die Reglementierung der Agrarproduktion entluden. Traditionale Legitimationsvorstellungen der Bauern über angemessenes wirtschaftliches Verhalten (moral economy) und überkommene Ansprüche lösten - besonders bei Nahrungsmittelknappheit - vielfach spontan Widersetzlichkeit aus, die sich aus chiliastischen Freiheitserwartungen speiste und Appelle an eine - vermeintlich „gerechte" - Obrigkeit einschloß. Bauernunruhen, die von den Behörden kaum antizipiert werden konnten und oft mehrere Gouvernements erfaßten, mündeten aber nur gelegentlich in organisierte Bewegungen, die den staatlichen Herrschaftsanspruch auf dem Lande bedrohten und deshalb von Truppen niedergeschlagen wurden. Die Ressourcen- und Wertkonflikte führten zu einer Eskalation der Gewalt und deckten den Widerspruch von Zentralisierung und Segmentierung auf, den die autoritäre Gesellschaftspolitik im Zarenreich herbeigeführt hatte. Das Verhältnis zwischen Bauern und Obrigkeit im vorrevolutionären Rußland konstituierte damit wirkungsmächtige Traditionsbezüge, denen auch die Agrar- und Sozialpolitik in der „proletarischen Diktatur" der Bolschewiki Rechnung trug.12 Auch die Verteilung des Gutslandes konnte die Wirtschaftskraft der bäuerlichen Betriebe nicht nachhaltig steigern, nachdem der 2. Allrussische Rätekongreß schon am 8. November 1917 das Dekret „Über den Grund und

Plaggenborg: Bauernwelt (wie Anm. 11), S. 144-154. Dazu allgemein: Dietrich Geyer: Rußland in den Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine zeitgeschichtliche Problemskizze, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 23 (1997), S. 258-294, hier 268 f., 275; Jóhann Pàli Arnason: The Future That Failed: Origins and Destinies of the Soviet Model. London 1993, S. 70; Jörg Baberowski: Wandel und Terror: die Sowjetunion unter Stalin 1928-1941. Ein Literaturbericht, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995), S. 97-129, hier 101. Zu den Kontinuitätslinien in der Politik gegenüber den Bauern und der ländlichen Gesellschaft: Scott: State (wie Anm. 9), S. 204, 208. Zur Landwirtschaft und zu den Bauernunruhen im 19. Jahrhundert: Dietrich Beyrau: Agrarstruktur und Bauernprotest: Zu den Bedingungen der russischen Bauernbefreiung von 1861, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 64 (1977), S. 179-236, hier 194-206, 213-236. Zum Konzept der moral economy als Forschungsüberblick: Manfred Gailus/Thomas Lindenberger: Zwanzig Jahre „moralische Ökonomie". Ein sozialhistorisches Konzept ist volljährig geworden, in: GG 20 (1994), S. 467-477.

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Boden" angenommen und damit die entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer angeordnet hatte. Dagegen wurde der Boden der „einfachen Bauern und einfachen Kosaken" nicht angetastet. Das Land ging in einen Bodenfonds über, aus dem Parzellen an Bewerber vergeben werden sollten.13 Der Bürgerkrieg löste zusammen mit der politisch induzierten Umstellung der Agrarwirtschaft bereits Anfang 1918 eine Versorgungskrise aus. Die sowjetische Regierung entzog daraufhin den Bauern seit Sommer 1918 die Verfügungsgewalt über das Korn, nachdem sie schon im Mai ein Staatsmonopol über den Getreidehandel verkündet hatte. Im Juni 1918 wurden „Komitees der Dorfarmut" eingesetzt, denen die Organisation der Ablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Verteilung von Industrieprodukten an die Bauern oblag. Nachdem die Komitees, in die keine „Kulaken" aufgenommen werden durften, Ende 1918 aufgelöst worden waren, setzte das Regime willkürlich Ablieferungsmengen für Getreide fest. 1919/20 wurde das System der Zwangsablieferung auf fast alle Nahrungsmittel ausgedehnt und erstmals offen der „Klassenkampf gegen renitente Bauern erklärt. Dabei drängte Lenin regionale Parteistellen, „Kulaken" zu töten oder als Geiseln zu nehmen und ihr Getreide zu beschlagnahmen. Die Versorgungsdiktatur im Rahmen des „Kriegskommunismus" beseitigte aber nicht den Hunger, denn die Bauern zogen sich entweder auf die Subsistenzwirtschaft zurück oder verkauften ihre Produkte auf illegalen Märkten. Die Erbitterung über die Getreiderequisitionen und der Protest gegen die mangelhafte Versorgung mit Industriewaren eskalierten Anfang 1921 in Unruhen und Aufständen. Bauern rekurrierten dabei auf traditionale Formen abweichenden Verhaltens, indem sie ihre Produktionsmittel in Brand setzten oder Erfassungsinspektoren und Funktionäre töteten. Mit dem Dekret „Über die Ersetzung der Lebensmittel- und Rohstoffbeschaffung durch die Naturalsteuer" vollzog die neue Regierung im März 1921 schließlich einen radikalen Kurswechsel, der in die „Neue Ökonomische Politik" mündete. Der Übergang zu einer flexibleren Wirtschaftspolitik, die durch eine Währungsreform ergänzt wurde und den Bauern Produktionsanreize bieten sollte, konnte aber die Hungersnot nicht mehr verhindern, die im Sommer 1921 Millionen Tote forderte und eine internationale Hilfsaktion auslöste.14 Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 285 f.; Altrichter: Bauern (wie Anm. 11), S. 175; Wädekin: Agrarpolitik (wie Anm. 8), S. 38 f. Das „Dekret über den Grund und Boden" ist abgedruckt in: Helmut Altrichter/Heiko Haumann (Hg.): Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Band 2: Wirtschaft und Gesellschaft München 1987, S. 25-29. Helmut Altrichter: Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917-1922/23. Darmstadt 2 1996, S. 73 f., 102-107; ders.: „Offene Großbaustelle Rußland". Reflexionen über das „Schwarzbuch des Kommunismus", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ)

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1924 gefährdete aber eine neue Mißernte, die wiederum zu gewaltsamen

Übergriffen örtlicher Parteifunktionäre gegen Bauern und private Händler führte, die Durchsetzung der Geld- und Marktwirtschaft. Daraufhin leitete die Parteiführung die Politik des „licom k derevne" (Das Gesicht dem Dorfe zuwenden) ein, die auf Plenarsitzungen des Zentralkomitees im Oktober 1924 und April 1925 beschlossen und vom III. Unionssowjetkongreß im Mai 1925 bestätigt wurde. Das Programm umfaßte Maßnahmen zur Mechanisierung und Intensivierung der Agrarwirtschaft sowie zur staatlichen Förderung der Genossenschaften, um Ressourcen für die Industrialisierung zu gewinnen, die Bauern fester an die Dorfsowjets - und damit an das Regime - zu binden und die akute ländliche Unterbeschäftigung abzubauen. Schon Anfang 1926 wurde die Politik des „licom k derevne" jedoch zurückgenommen. Parteiführer wie Rykov, Smirnov und Kalinin, die Zwangsmaßnahmen gegen die „Kulaken" abgelehnt hatten, büßten zunehmend ihre Macht ein, und die - offiziell ohnehin nie aufgegebene - Kollektivierung der Landwirtschaft wurde erneut zu einem Ziel konkreter Agrarpolitik. Zudem mußten sich die Genossenschaften wieder der staatlichen Preisbindung unterwerfen, und der Privathandel mit Getreide wurde eingeschränkt. Anfang 1928 griffen die Machthaber schließlich sogar zu Zwangsmaßnahmen, um den Getreideexport zu steigern. Die repressive Dynamik der „Klassenkampf-Agitation richtete sich vor allem gegen die „Kulaken", die wieder als Feindgruppe stigmatisiert wurden. Obgleich in der Parteiführung noch andere Maßnahmen zur Belebung des Agrarmarktes - wie die von Bucharin vorgeschlagene Ausweitung des Industriewarenangebots - diskutiert wurden, verlieh die Beschaffungskrise 1927/28 den radikalen Politikern um Stalin Auftrieb, die auf eine Integration der Landwirtschaft in das System zentraler Wirtschaftsplanung drängten, um ihr so Ressourcen für die vorrangig angestrebte Industrialisierung entziehen zu können. Nachdem die forcierte Industrialisierung schon auf dem 15. Parteitag der Allsowjetischen Kommunistischen Partei (VKP/b) Ende 1927 entschieden worden war, beraubten die Beschlüsse des XIV. Parteikongresses (April 1929) und des im November 1929 veranstalteten Plenums des ZK die ,/echte Opposition" gegen Stalin ihrer Macht. Molotov kündigte daraufhin in einer Rede offen an, die Kollektivierung voranzutreiben, die eng mit der Vertreibung der „Kulaken" verknüpft wurde.15 47 (1999), S. 321-361, hier 336; Markus Wehner: Bauempolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 19211928. Köln 1998, S. 123-156; Haumann: Leibeigenschaft (wie Anm. 11), S.40f.; Wädekin: Agrarpolitik (wie Anm. 8), S. 39-41; Merl: Sowjetmacht (wie Anm. 9), S. 26-36,128 f.; Altrichter/Haumann (Hg.): Sowjetunion (wie Anm. 13), S. 127-131, 136-151; Hildermeier: Geschichte (wie Anm. 13), S. 286 f. Robert C. Tucker: Stalin in Power. The Revolution from above 1928-1941. New York 1990, S. 129-138; Stephan Merl: Handlungsspielräume und Sachzwänge in der sowje-

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Damit hatte die Parteiführung zu einem Sprung in die kommunistische Moderne angesetzt, die durch die „Zwillingsbrüder Massenzwang und ungehemmter Gebrauch utopischer Hoffnungen" erreicht werden sollte. Das von Lenin entworfene Schichtungsmodell und „Klassenkampf'-Konzepte bildeten die Legitimationsbasis einer technizistischen Politik der Sozialkonstruktion, der die Bevölkerung in den Dörfern unterworfen wurde. Die schematische Einteilung der ländlichen Gesellschaft in Lohnempfänger (,3atraken"), arme Bauern (Bednjaken"), Mittelbauern („Serednjaken") und Großbauern („Kulaken") widersprach zwar der bäuerlichen Mentalität, die noch deutlich von den natürlichen Produktionsbedingungen und Klientelbeziehungen - Nachbarschaft und Verwandtschaft - geprägt war, entfaltete aber eine destruktive Dynamik, die sich besonders gegen die „Kulaken" richtete. Der Begriff, der allgemein wohlhabende Bauern bezeichnete und seit der Jahrhundertwende pejorativ gebraucht wurde, war trotz der Versuche, ihn zu entmythologisieren, unbestimmt und ambivalent geblieben. Als vage Identifizierungskriterien der „Kulaken" galten Landbesitz, die Beschäftigung von Lohnarbeitern sowie die Geräte- und Maschinenausleihe. Nachdem diese Gruppe schon zuvor - besonders bei Getreiderequisitionen - Angriffe auf sich gezogen hatte, wurde „Kulak" in den späten zwanziger Jahren eine nahezu beliebig zu erweiternde politische Feindkategorie, die herrschaftstechnisch den Vorzug bot, damit strukturelle Defizite und politische Fehlentscheidungen personalisieren und so verdecken zu können. Die Bolschewiki projizierten auf die „Kulaken" ihre Verschwörungsvorstellungen und die radikale,Klassenkampf'-Rhetorik, nach der diese Gesellschaftsgruppe als „Ausbeuter" galt. Auch wenn die Repression und Exklusion der „Kulaken" auf die Einschüchterung der ländlichen Bevölkerung und die Unterwerfung aller Bauern zielte, sollte mit der Vertreibung dieser Gruppe vor allem die dörfliche Oberschicht entmachtet und vernichtet werden, die den Herrschafts- und Konstruktionsanspruch der Machthaber bio-

tischen Wirtschafte- und Sozialpolitik in der Zwischenkriegszeit, in: Wolfram Fischer (Hg.): Sachzwänge und Handlungsspielräume in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit St. Katharinen 1985, S. 175-229, hier 181-216; Stephan Merl: Agrarreformen und nichtmarktwiitschaftliche Bedingungen - Agrarsektor und Industrialisierung in Rußland und in der Sowjetunion, in: Toni Pierenkemper (Hg.): Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution. Stuttgart 1989, S. 187-194; ders. (Hg.) Sowjetmacht (wie Anm. 9), S. 38-47; Haumann: Leibeigenschaft (wie Anm. 11), S. 41 f.; Hildermeier: Geschichte (wie Anm. 13), S. 384-386, 391 f. Umfassend zur politischen Auseinandersetzung über die Agrarpolitik in der Sowjetunion bis 1926: Wehner: Bauernpolitik (wie Anm. 14), S. 157-265. Zum Kurswechsel von 1926: Markus Wehner: „Licom k derevne". Sowjetmacht und Bauernfrage 19241925, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 42 (1994), S. 20-48, hier 38-42,44 f., 47; Baberowski: Wandel (wie Anm. 12), S. 104; Harrison: Peasantry (wie Anm. 11), S. 124.

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ckierte. Da der Kreis der Betroffenen durch die Machtzentrale nicht klar eingegrenzt worden war, verfugten Partei- und Staatsfunktionäre bei der Verfolgung der „Kulaken" über einen erheblichen Handlungsspielraum. Die örtlichen „Kader" nutzten dabei Ressentiments gegen die führende Rolle aus, die „Kulaken" in vielen Umverteilungsgemeinden einnahmen, und schürten den Konflikt zwischen dieser Gruppe und den Kleinbauern sowie Parzellenbesitzern, die ihre Armut zur Arbeit in Bergwerken gezwungen hatte, bei ihrer Rückkehr aber die Vormachtstellung der traditionalen Oberschicht bedrohten. Darüber hinaus eignete sich das Feindbild des „Kulaken" zur Disziplinierung der Kolchosniki, die in den neugebildeten Kollektivbetrieben arbeiteten. Die Vertreibung der „Kulaken" war damit zwar allgemein integraler Bestandteil des stalinistischen Terrors, zielte aber unmittelbar auf einen Elitenwechsel in der ländlichen Gesellschaft. Im manichäischen Weltbild der kommunistischen Machthaber erschienen die „Kulaken" als Feinde der neuen politischgesellschaftlichen Ordnung. Die Deportation dieser Bauerngruppe war deshalb von den Zielen bestimmt, eine traditionale Elite in den Dörfern zu entwurzeln und die bäuerliche Kultur auf dem Lande auszulöschen.16 Nachdem die „Kulaken" schon 1927/28 Opfer von Angriffen und Gewaltmaßnahmen örtlicher Funktionäre geworden und ökonomisch - so bei der Erhebimg von Steuern - benachteiligt worden waren, lösten die Resolutionen der Parteiführung 1929 die erste Welle der Liquidierung von Kulakenbetrieben aus. Damit einhergehend wurde die Zwangskollektivierung begonnen, die trotz des unzureichenden technischen Inventars, z.B. in den 1929 eingerichte-

Jörg Baberowski: Stalinismus „von oben". Kulakendeportationen in der Sowjetunion 1929-1933, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 572-591, hier 574, 579, 587-591. Daneben: Robert Conquest: Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929-1933. München 1988, S. 150; Altrichter: Bauern (wie Anm. 11), S. 99 f., 191. Zit. nach: Moshe Lewin: Die Auseinandersetzungen in der Agrarfrage und die Wirklichkeit in der UdSSR 1928-1940, in: Peter Hennicke (Hg.): Probleme des Sozialismus und der Übergangsgesellschaften. Frankfurt/M. 1973, S. 345. Ähnliche Interpretation in: Gäbor T. Rittersporn: Modernisierung durch Vernichtung? Über einige Folgen der Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 43 (1995), S. 809-821, hier 810 f. Zur Klasseneinteilung und bäuerlichen Mentalität: Sheila Fitzpatrick: Stalin's Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village After Collectivization. Oxford 1994, S. 31 f.; Altrichter: Bauern (wie Anm. 11), S. 95 f.; Hildermeier: Geschichte (wie Anm. 13), S. 290292. Zum Begriff „Kulak" besonders: Moshe Lewin, Who Was the Soviet Kulak?, in: ders., The Making of the Soviet System. New York 1985, S. 121-141; Stephan Merl: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930-1941. Berlin 1990, S.61f., 103; Fitzpatrick: Stalinism (wie Anm. 11), S. 22; Altrichter/Haumann (Hg.): Sowjetunion (wie Anm. 13), S. 197-199. Zu den Ansätzen einer Entmythologisierung des Begriffs: Merl: Sowjetmacht (wie Anm. 9), S. 54, 214-221. Der stalinistische Terror wird als Kontext betont in: Stefan Plaggenborg: Neue Literatur zur Geschichte des Stalinismus, in: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 37 (1997), S. 444-459, hier 448 f.

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ten Maschinen-Traktoren-Stationen, als f l u c h t nach vorn" vorangetrieben werden sollte. Im August forderte das Politbüro auf Druck Stalins rigorose Maßnahmen, um die Bauern zur Ablieferung von Getreide zu zwingen, damit die Exporterlöse zu steigern und der Industrialisierung Kapital zuzuführen. Mit seiner Rede auf der Konferenz marxistischer Agrarwissenschaftler verstärkte Stalin am 27. Dezember 1929 den Druck auf die „Kulaken", indem er den „Kollektivbauer" zum Leitbild der Agrarpolitik erhob und die „Politik der Liquidierung des Kulakentums als Klasse" proklamierte. Die „Offensive gegen das Kulakentum" stufte Stalin als „Kampf auf Leben und Tod" ein, in dem diesen Bauern ihre Führungsrolle in den Dörfern entrissen und ihre Erzeugung „durch die Produktion der Kollektiv- und Sowjetwirtschaften" ersetzt werden sollte. Ein Geheimbeschluß des Politbüros bestätigte am 5. Januar 1930 schließlich die rigorose Politik gegenüber den „Kulaken", und eine daraufhin eingesetzte Kommission legte für den Umgang mit dieser Bauemgruppe drei Kategorien fest. Rund 60.000 Personen wurden den „konterrevolutionären Kulakenaktivs" zugerechnet und waren zu erschießen oder unverzüglich in Arbeitslager zu transportieren, die von der Vereinigten Staatlichen Politischen Verwaltung (OGPU) eingerichtet worden waren. Die Gruppe der „reichsten Kulaken" und ehemaliger „Halbgroßgrundbesitzer" - eine Kategorie, der willkürlich rund 150.000 Personen zugeordnet wurden - sollte ebenfalls enteignet, aber zusammen mit ihren Familien deportiert werden. Den restlichen „Kulaken" war ihr Besitz nur teilweise zu entziehen; sie sollten aber innerhalb ihres Heimatkreises auf Land mit geringerer Bodenqualität umgesiedelt werden. Die Vorlage der Kommission wurde den Parteiorganisationen am 30. Januar 1930 zugeleitet.17 Ideologisch aufgeladen durch eine grenzenlose Klassenkampf'-Hysterie, bestimmten Gewalt und Terror seit Ende 1929 die Agrar- und Gesellschaftspolitik der VKP (b). Mit der Kollektivierung und der Verfolgung der „Kulaken" löste die Parteiführung auf dem Lande eine kumulative Radikalisierung aus,

Zit. nach: Josef Stalin: Zu Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR. Rede auf der Konferenz marxistischer Agrarwissenschaftler 27. Dezember 1929, in: ders.: Fragen des Leninismus. Berlin (Ost) 1955, S. 391-416, hier 406,410,412 f., 415. Vgl. auch Stephan Merl: Das System der Zwangsarbeit und die Opferzahl im Stalinismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 282; Merl: Bauern (wie Anm. 16), S. 72; Altrichter: „Offene Großbaustelle Rußland" (wie Anm. 14), S. 338; Hildermeier: Geschichte (wie Anm. 13), S. 392 f.; Scott (wie Anm. 9), S. 210, 218. Zur Intervention Stalins und zum Politbüro-Beschluß vom 29. August 1929: Lars T. Lih/Oleg Naumow/Oleg Chlewnjuk (Hg.): Stalin. Briefe an Molotow 1925-1936. Berlin 1996, S. 183, 186 f. Zum Kurswechsel 1926/27 ausführlich: Wehner: Bauempolitik (wie Anm. 14), S. 338-362. Zur geringen Mechanisierung der sowjetischen Landwirtschaft und zu den Traktorenstationen: Davies: Offensive (wie Anm. 11), S. 382-396. Interpretation des Kollektivierungsbeginns als „Flucht nach vorn" in: Baberowski: Wandel (wie Anm. 12), S. 107.

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die sich weniger aus konkreten Beschlüssen als aus Aufrufen und Andeutungen ergab. Unter dem Druck des Repressionsapparates beschleunigten regionale und lokale Parteifunktionäre willkürlich das Kollektivierungstempo, und sie drängten auf die Vertreibung der „Kulaken". In den Dorfsowjets wurde der Identifizierungsdruck deshalb so übermächtig, daß die Registrierung der Bauern schnell eine Eigendynamik entfaltete. Unter dem Zwang, „Kulaken" zu „entlarven", und im Wettstreit um das höchste Kollektivierungstempo erweiterte sich der Kreis der Verfolgten schon in der ersten Phase der Liquidierung von Bauernwirtschaften im Winter 1929/30 rapide. Nachdem Stalin im März 1930 die Zwangskollektivierung ebenso unvermittelt kritisiert hatte wie die Repression der „Kulaken", wurde die Einstufung dieser Gruppe geprüft. Die Resolution des 16. Parteitages der VKP/b vom 13. Juli 1930 wies darüber hinaus auf „Fehler" und „Entstellungen" bei der Kollektivierung und in dem Vorgehen gegen die „Kulaken" hin. In den Kolchosen setzte daraufhin eine Austrittswelle ein. Bis zum 1. Juni 1930 ging der Anteil der kollektivierten Haushalte von 55 (am 1. März 1930) auf 23,6 Prozent zurück.18 Beeinflußt von der radikalen Industrialisierungspolitik, die mit dem Wirtschaftsplan für das Jahr 1931 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte und eine Konzentration auf die Schwerindustrie erzwang, verstärkte die Parteiführung im Herbst 1930 den Repressionsdruck auf dem Lande erneut, obgleich nur wenige der registrierten „Kulaken" der ersten Enteignungswelle entgangen waren. Ausgehend von der Zwangsvorstellung einer permanenten gesellschaftlichen Reproduktion der „Kulaken", wurden bis zum Frühjahr 1931 erneut 300.000 bis 350.000 Wirtschaften registriert, die vielfach als „Podkulaken" stigmatisierten Mittelbauern gehörten. Die Kriminalisierung von Ablieferungsrückständen und allgemein die Politisierung ökonomischer Probleme sollte anschließend die rigorose Vertreibung und Deportation der von der Kampagne erfaßten Bauern rechtfertigen. Daher waren im Frühjahr 1931 - ebenso wie im Winter 1929/30 - die Zwangserfassimg landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Steuerpolitik die wichtigsten Instrumente der Betriebsliquidierung, die nach der Registrierung im Frühjahr 1931 einsetzte. Bereits seit November 1929 konnte das Wirtschaftsinventar und die zur Eigenversorgung benötigten Nahrungsmittel von Bauern versteigert werden, die nicht imstande waren, ihre Ablieferungsquoten aufzubringen oder Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Zudem verloren „Kulaken" - ebenso wie andere Die Dokumente sind abgedruckt in: Altrichter/Haumann (Hg.): S o w j e t u n i o n (wie Anm. 13), S. 296 f., 311-314. Zu den Folgen: Haumann: Geschichte Rußlands (wie Anm. 11), S. 555; Lih/Naumow/Chlewnjuk (Hg.): Stalin (wie Anm. 17), S. 53 f.; Merl: Bauern (wie Anm. 16), S. 80-85, 106. Zum Politikstil, der den Übergang zur Kollektivierung kennzeichnete: Fitzpatrick: Stalinism (wie Anm. 11), S. 26. Zur kumulativen Radikalisierung: Baberowski: Wandel (wie Anm. 12), S. 107,123 f.

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Bauern, die sich dem Eintritt in Kolchosen widersetzten - ihr Wahlrecht, und sie wurden seit 1928 zur individuellen Besteuerung herangezogen. Das neue Steuergesetz, das im März 1931 veröffentlicht wurde, hob schließlich für alle Bauern (nicht aber für die Kolchosen) die Steuerfreiheit auf. Insgesamt sollten die administrativen und ökonomischen Zwangsmittel sowohl die Kollektivierung beschleunigen als auch die Liquidierung der Kulakenwirtschaften vorantreiben.19 In den Dörfern wiesen „Troikas" aus örtlichen Staats- und Parteifunktionären sowie OGPU-Leiter die registrierten Bauern und ihre Familien aus den Häusern und Wohnorten aus. Dabei beschlagnahmten sie den Besitz der „Kulaken"; der Wert der requirierten Güter war insgesamt aber gering. Bauern, die sich gegen ihre Enteignung wehrten, wurden oft umstandslos erschossen. Darüber hinaus organisierten die „Troikas" den Transport in die „Sondersiedlungen", die zunächst als „Kulakensiedlungen" bezeichnet wurden. Da die Provinz- und Bezirksbehörden den Dorfsowjets für die Deportation ebenso wie für die Registrierung Quoten zuwiesen und die Vorgaben auch fortlaufend veränderten, gewann der Terror gegen die Bauern eine enorme Dynamik. „Kulaken", die der ersten Kategorie der kompromißlosen „Klassenfeinde" zugeordnet worden waren, wurden schon im Winter 1929/30 verhaftet, enteignet und anschließend erschossen oder in enge Gefängniszellen inhaftiert. Die anderen „Kulaken" mußten den Transport in die Lager antreten, überwiegend in Zügen. Dabei starben rund 15 bis 20 Prozent der Deportierten - vor allem Kinder - , auch an Transitpunkten, wo sie die Züge vorübergehend verlassen mußten. So waren enteignete „Kulaken" in den frühen dreißiger Jahren gezwungen, auf überfüllten Bahnhöfen auf den Transport zu ihren Bestimmungsorten zu warten. In den Lagern, von denen viele in den entlegenen Regionen der Tundra und Taiga eingerichtet wurden, zwangen die OGPULeitungen die Verbannten schließlich zum Arbeitseinsatz. Ende 1931 mußten allein in Kasachstan 45.000 „Kulaken" Zwangsarbeit auf Baustellen, in Kohlengruben und bei der Kultivierung von Land verrichten. Ohne ausreichende Verpflegung starben viele der z.T. in Erdhöhlen lebenden Deportierten innerhalb weniger Wochen, auch infolge von Epidemien. Die Überlebenden hatten

Vgl. die umfassende Darstellung in Merl: Bauern (wie Anm. 16), S. 73, 76, 104-129. Daneben: Stephan Merl: Agrarpolitik und Bauernschaft im Nationalsozialismus und im Stalinismus, in: Matthias Vetter (Hg.): Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Strukturelemente der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft. Opladen 1996, S. 118-156, hier 127-129; Davies: Offensive (wie Anm. 11), S. 411 f. Zur Individualsteuerpflicht als Druckmittel auch die Dokumente in: Merl (Hg.): Sowjetmacht (wie Anm. 9), S. 222-228. Zur Wirtschaftspolitik 1930/31 zusammenfassend: Robert William Davies: Crisis and Progress in the Soviet Economy, 1931-1933. London 1996, S. 457.

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als Ausgestoßene keine Rechte und waren vollständig von den Entscheidungen der staatlichen Lagerverwaltung abhängig.20 Als die Vertreibungspolitik zur physischen Vernichtung eskalierte, entzogen sich viele Bauern ihrer Verhaftung durch Flucht. Von 1929 bis 1932 flohen etwa 20 bis 25 Prozent der „Kulaken" aus ihren Dörfern. Obwohl die Beschäftigung dieser Bauern in Industriebetrieben ebenso untersagt war wie ihre Aufnahme in die Rote Armee, wurden sie oft von Fabrikdirektoren eingestellt, die Arbeitskräfte benötigten. Viele „Kulaken" zerstörten zudem vor der Liquidierung ihrer Wirtschaften ihre Maschinen und Geräte, schlachteten ihr Vieh und setzten ihre Gebäude in Brand. Traditionale Formen bäuerlicher Selbstbehauptung bildeten auch Symbolhandlungen, Gesten, verbale Gewalt und Witze gegen die Kolchosen, Arbeitsbummelei und die Aneignung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Darüber hinaus kam es besonders in Dörfern, in denen sich die Bewohner mit den „Kulaken" solidarisierten, zu Aufständen wie dem „Weiberaufruhr" 1930. Obgleich die Kategorie des „Kulaken" in der Verfolgungspraxis auf nahezu alle Bauerngruppen ausgedehnt werden konnte, blieb die Wahrnehmung der Repression weitgehend auf die jeweils Betroffenen begrenzt. Dabei traf die Heroisierung Stalins, mit der die Propaganda des Regimes an den Mythos des benevolenten Zaren anknüpfen und den örtlichen Funktionären die Verantwortung für die Repressionsmaßnahmen zuweisen sollte, unter den Bauern offenbar nur auf eine begrenzte Resonanz.21 Schon im Frühjahr 1930 wurden rund 500.000 „Kulaken" und ihre Familienangehörigen Opfer der Vertreibung; weitere 100.000 bis 200.000 hatten sich den Zwangsmaßnahmen durch Flucht entzogen. Insgesamt wurden 1930/31 etwa 600.000 bis 800.000 Familien als „Kulaken" registriert, enteignet und 20

21

Conquest: Ernte (wie Anm. 16), S. 153, 159, 170-176; Fitzpatrick: Peasants (wie Anm. 16), S. 82 f.; Merl: Bauern (wie Anm. 16), S. 78-80. Angabe zu Kasachstan nach: Davies: Crisis (wie Anm. 19), S. 488. Dagegen die Darstellung in: Baberowski: Wandel (wie Anm. 12), S. 117. Zu den Reaktionen der Bauern auf die Kollektivierung: Stephan Merl: Bauernprotest in Sowjetrußland zwischen 1917 und 1941, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 8 (1993), H. 4, S. 11-36, hier 21-29; Gabor T. Rittersporn: Das kollektivierte Dorf in der bäuerlichen Gegenkultur, in: Manfred Hildermeier (Hg.): Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung. München 1998, S. 147-167; Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Stéphane Courtois u.a. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München 1998, S. 51-295, hier 168; Fitzpatrick: Peasants (wie Anm. 16), S. 287-296, 312; dies.: Stalinism (wie Anm. 11), S. 132; Conquest: Ernte (wie Anm. 16), S. 154-156. Allgemein auch: Hans-Henning Schröder: Stalinismus „von unten"? Zur Diskussion um die gesellschaftlichen Voraussetzungen politischer Herrschaft in der Phase der Vorkriegsfünfjahrpläne, in: Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991, S. 133-166, hier 164.

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aus ihren Heimatdörfern vertrieben; davon erfaßten die Deportationen 380.000 bis 390.000. Rechnet man ihre Familienangehörigen hinzu, wurden insgesamt rund 2,1 Millionen Menschen als „Sondersiedler" in ferne Regionen deportiert, von denen 250.000 bis 300.000 beim Transport starben. Zwangsumsiedlungen in ihren Heimatregionen entwurzelten 400.000 bis 450.000 Familien, und weitere 200.000 bis 250.000 gaben ihre Betriebe unter dem Verfolgungsdruck auf. 100.000 Familienvorstände wurden in Arbeitslager eingewiesen, wo sie nur geringe Überlebenschancen hatten. Allerdings gelang offenbar allein 1932 mehr als 207.000 deportierten „Kulaken" die Flucht. Anfang 1932 hielten sich rund 1,7 bis 1,8 Millionen Personen in Kulaken- bzw. Sondersiedlungen auf, und 1935 lebten nahezu 1,2 Millionen „Kulaken" und ihre Familienmitglieder in ihren neuen Siedlungsorten, überwiegend in Sonderlagern. Von 1932 bis 1940 starben etwa 390.000 „Kulaken" in den Sondersiedlungen - wo diese Opfergruppe 1935 und 1937 mehr als ein Drittel der Inhaftierten stellte - , und allein von 1930 bis 1934 fielen der Deportation rund 530.000 bis 600.000 Personen zum Opfer. Insgesamt starben bei der Verbannung zwischen 1930 und 1953 offenbar mehr als eine Million Menschen. Die Beseitigimg der Kulakenwirtschaften, der Massenterror gegen die Bauern und die Verhaftungen in den Dörfern nach 1933 hatten rund eine Million Opfer gefordert.22 Nicht nur die gegen sie gerichteten Zwangsmaßnahmen, sondern auch der Funktionsverlust und die Auflösung der „ob§iny" und der „schody" seit 1930 hatten diese Führungspersonen der institutionellen Basis ihres Einflusses in den dörflichen Milieus beraubt. Zunächst solidarisierten sich Bauern, z.T. auch Parteimitglieder und Vorsitzende von Dorfsowjets mit Nachbarn, die als „Kulaken" bedroht und verfolgt wurden; Protektion und Hilfe für diese Gruppe darunter viele Mittelbauern - wurden jedoch streng bestraft. Insgesamt zerstörten die Liquidierung der Kulakenwirtschaften und die Kollektivierung die traditionale Sozialstruktur auf dem Lande und zerrissen die gesellschaftlichen Beziehungen. Der „Klassenkampf verlieh persönlichen Ressentiments Auftrieb, bildete neue soziale Gegensätze heraus und fragmentierte so die ländliche Gesellschaft. Zudem entvölkerten die Verhaftungen und Deportationen die Stephan Merl: Wie viele Opfer forderte die „Liquidierung der Kulaken als Klasse"? Anmerkungen zu einem Buch von Robert Conquest, in: GG 14 (1988), S. 534-540, hier 539. Weitere Opferzahlen nach: J. Arch Getty/Gäbor T. Rittersporn/Viktor N. Zemskov: Victims of the Soviet Penal System in the Pre-war Years: A First Approach on the Basis of Archival Evidence, in: American Historical Review 98 (1993), S. 1017-1049, hier 1020 f., 1024; Merl: System (wie Anm. 17), S. 282, 289 f.; ders.: Bauern (wie Anm. 16), S. 89 f., 98-100; Werth: Staat (wie Anm. 21), S. 165, 174; Hildermeier: Geschichte (wie Anm. 13), S. 398; Fitzpatrick: Peasants (wie Anm. 16), S. 82 f. Andere Angaben in: Conquest: Ernte (wie Anm. 16), S. 156-159; Rittersporn: Modernisierung (wie Anm. 16), S. 812; Baberowski: Stalinismus (wie Anm. 17), S. 579. Vgl. auch die Angaben in: Altrichter: „Offene Großbaustelle Rußland" (wie Anm. 14), S. 338, 351 f.

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Dörfer, vertieften die Entfremdung zwischen Bauernschaft und Bolschewiki dauerhaft und steigerten nachhaltig die (schon zuvor hohe) Landflucht. Die Kollektivierung griff tief in das familiäre Alltagsleben ein und steigerte den Generationskonflikt. Viele Söhne von „Kulaken" wandten sich von den Dörfern ab, lehnten ihre bäuerliche Herkunft ab, distanzierten sich - nach dem Vorbild des legendären Pavlik Morozov - von ihren Vätern und nahmen Identitäten an, die dem Erziehungskonzept des Sowjetstaates entsprachen. Freigelassene „Kulaken" verbargen ihre Herkunft, ohne daß viele von ihnen damit einer erneuten Verhaftung entgehen konnten. Nur vereinzelt wurden in ihre Dörfer zurückgekehrte „Kulaken" in den späten dreißiger Jahren in Führungspositionen der Kolchosen - so als Vorsitzende - eingesetzt; die Aufstiegsmobilität erfaßte die Söhne bedrängter Bauern allerdings deutlich stärker. Die Nachkommen der verfolgten agrarischen Funktionselite hatten offenbar das „kulturelle Kapital" übernommen, das eine effiziente Leitung landwirtschaftlicher Betriebe voraussetzte. Der Verlust an spezifischen Kenntnissen, der aus der Liquidierung der Kulakenwirtschaften resultierte, trug aber zu dem rapiden Produktionsrückgang bei, der die sowjetische Landwirtschaft in den frühen dreißiger Jahren nachhaltig schädigte. Die Kollektivierung erschütterte auch einzelne Industriebranchen, in denen die Produktion in den frühen dreißiger Jahren wegen des Mangels an agrarischen Rohstoffen eingeschränkt werden mußte.23

S.G. Wheatcroft/R.W. Davies: Agriculture, in: R.W. Davies/Mark Harrison/S.G. Wheatcroft (Hg.): The Economic Transformation of the Soviet Union, 1913-1945. Cambridge 1994, S. 106-130, hier 118 f.; Davies: Offensive (wie Anm. 11), S. 415; ders.: Crisis (wie Anm. 19), S. 468 f.; Hildermeier: Geschichte (wie Anm. 13), S. 532-535; Wädekin: Agrarpolitik (wie Anm. 8), S. 56; Fitzpatrick: Peasants (wie Anm. 16), S. 80 f., 84-90, 239, 245, 307; dies.: Stalinism (wie Anm. 11), S. 132, 138, 140; Conquest: Ernte (wie Anm. 16), S. 160 f., 165-169; Tucker: Stalin (wie Anm. 15), S. 133. „Kulturelles Kapital" wird hier nach der Soziologie Bourdieus als Wissen und Ensemble von Fähigkeiten gefaßt, die in Sozialisationsinstanzen wie Familie und Schule transferiert werden. Vgl. Sven Reichardt: Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 71-93, hier 76. Zum Funktionsverlust der „obsiny" und „schody": Altrichter: Bauern (wie Anm. 11), S. 193 f. Zur Interaalisierung der stalinistischen Erziehungsdiktatur durch den Sohn eines „Kulaken" anschaulich: Jochen Hellbeck (Hg.): Tagebuch aus Moskau 1931-1939. München 1996, bes. S. 26-29, 68. Das Leben und die erneute Verhaftung eines freigelassenen Mittelbauern 1936/37 ist dokumentiert in: Véronique Garris/Natalija Korebewskaja/Thomas Lahusen (Hg.): Das wahre Leben. Tagebücher aus der Stalin-Zeit. Berlin 1998, S. 22-105.

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3. Vertreibung als Verdrängung. Der Ausschluß der „Großbauern" aus der ostdeutschen Gesellschaft 1948 bis 1953 Ebenso wie in Rußland erfaßte die Enteignung der Großgrundbesitzer auch in der SBZ nicht die großen Landwirte.24 Damit hatte die KPD aber ihre ideologischen Vorbehalte gegenüber den „Großbauern" lediglich zurückgestellt, für die sowohl Engels als auch Lenin eine Besitzgarantie abgelehnt hatten. So bezeichnete der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck Landwirte mit 20 bis 50 ha in einer Gesprächsnotiz vom 29. August 1945 als „schon sehr reiche Großbauern". Als „Großbauern" wurden - ebenso wie in der Statistik des Deutschen Reiches - in der SBZ formal Landwirte mit einem Bodeneigentum von jeweils 20 bis 100 ha eingestuft. Aus der kommunistischen Ideologie, nach der „Großbauern" als „Ausbeuter" galten, wurden als weitere - unscharfe - Definitionskriterien aber auch der Kapitalbesitz und die Verfügung über Lohnarbeiter abgeleitet. Die Bauernpolitik der KPD, deren Führung im April 1946 den Zusammenschluß mit der SPD zur SED erzwang, blieb in der unmittelbaren Nachkriegszeit aber unentschieden und ambivalent. So konzedierte Rudolf Reutter, der im Parteivorstand der SED die Abteilung Landwirtschaft leitete, in einer 1947 erschienenen Propagandaschrift zwar, daß „auch der Großbauer für die bürgerlich-demokratische Entwicklung gewonnen werden" könne; diese Gruppe landwirtschaftlicher Produzenten sei aber „in den meisten Fällen als Gegner einer sozialistischen Entwicklung zu werten [...]". Bereits im Herbst 1945 hatten Gemeindebodenkommissionen in vielen Dörfern spontan das Eigentum von „Großbauern" beschlagnahmt, die von Parteiaktivisten oft willkürlich als „Nationalsozialisten" oder „Kriegsverbrecher" eingestuft worden Joachim Piskol: Zur Entwicklung der agrarpolitischen Konzeption der KPD 1935 bis 1945, in: Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Wissenschaftliche Mitteilungen, 1982/11, S. 55-59, hier: 55 f. Der Text der ZK-Direktive ist als Faksimile abgedruckt in: Günter Benser/Hans-Joachim Krusch (Hg.): Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/1946: Band 2: Protokolle der erweiterten Sitzung des Sekretariats des Zentralkomitees der KPD Juli 1945 bis Februar 1946. München 1994, S. 13-18. Früher Beschlußentwurf des ZK in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO), DY 30/IV 2/7/227, Bl. 1-5. Der Aufruf vom 11. Juni 1945 ist abgedruckt in: Hermann Weber (Hg.): DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1985. München 3 1987, S. 32-36. Zur Forderung Stalins: Wladimir Semjonow: Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939-1991, Berlin 1995, S. 237. Zur Vorbereitung der Bodenreform: Jochen Laufer: Die UdSSR und die Einleitung der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Arnd Bauerkämper (Hg.): .Junkerland in Bauernhand"? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone. Stuttgart 1996, S. 21-35; Friederike Sattler: Bündnispolitik als politisch-organisatorisches Problem des zentralen Parteiapparates der KPD 1945/46, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht. Berlin 1998, S. 119-212, hier 143-167, 207-212.

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waren. Auch wenn diese Enteignungen nach Anweisungen der übergeordneten Kreis- und Provinzial- bzw. Landesbodenkommissionen zurückgenommen wurden, gaben viele „Großbauern" ihre Vorbehalte gegen die Enteignungen nicht auf, die 1945/46 die Gutsbesitzer getroffen hatten.25 Die SED-Führung wies deshalb wiederholt Gerüchte über eine „zweite Bodenreform" öffentlich zurück, obgleich Parteifunktionäre entschlossen waren, „die sozialen Wurzeln der alten Hierarchie der Großbauern [...] schleunigst und gründlichst auszureißen".26 Bis 1948 zielte die Agrarpolitik der Partei aber insgesamt nicht gegen die „Großbauern", sondern auf die Festigung der Neubauernstellen, die aus der Bodenreform hervorgegangen waren. So lehnte Reutter noch im Januar 1948 einen Vorschlag des Vizepräsidenten der Deutschen Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft, Ernst Busse, den „Klassenkampf auf dem Lande zu schüren, mit der Bemerkung ab: „Die in Frage kommenden Altbauern in einen direkten Gegensatz zum Dorf zu bringen, muß eine Spaltung in der Bauernschaft zur Folgen, die u.E. weder politisch noch wirtschaftlich tragbar ist".27 Wirtschaftlich begünstigte in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem der anhaltende Lebensmittelmangel die „Großbauern", die in der SBZ noch relativ gut mit Vieh und technischem Inventar ausgestattet waren. Obgleich sie bei der Bodenreform das von Gutsbesitzern gepachtete Land verloren hatten, verfugten sie vielerorts über Ackerflächen mit hoher Bodenbonität. Auch ihre oft hohe Qualifikation erlaubte vielen „Großbauern" eine - im Vergleich mit den Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.): Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953. Berlin 1994, S. 56; Rudolf Reutter: Die Bauernpolitik der SED. Berlin 1947, S. 10. Zur ideologischen Grundlage vgl. Engels: Bauernfrage (wie Anm. 8), S. 503; Lenin: Entwurf (wie Anm. 9), S. 145 f. Zu den Definitionskriterien: Edwin Hoernle: Bauern und Arbeiter (Oktober 1947), in: Nathan Steinberger/Siegfiied Graffunder/Kurt Herholz (Hg.): Edwin Hoernle. Ein Leben für die Bauernbefreiung. Das Wirken Edwin Hoernles als Agrarpolitiker und eine Auswahl seiner agrarpolitischen Schriften. Berlin (Ost) 1965, S. 594-607, hier 597. Zur ungerechtfertigten Enteignung von Betrieben mit weniger als 100 ha: Boris Spix: Die Bodenreform in Brandenburg 1945-47. Konstruktion einer Gesellschaft am Beispiel der Kreise West- und Ostprignitz. Münster 1997, S. 51-54; Ulrich Kluge: Die Bodenreform 1945, in: Jürgen Schneider/Wolfgang Harbrecht (Hg.): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in Deutschland (1933-1993). Stuttgart 1996, S. 91-104, hier 103. Zur Furcht der Bauern vor einer „zweiten Bodenreform" exemplarisch das Memorandum vom Juli 1948 in: Bernd Bonwetsch/Gennadij Bordjugov/Norman M. Naimark (Hg.): Sowjetische Politik in der SBZ 1945-1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjulpanov. Bonn 1998, S. 168. Zit. nach dem Bericht über eine Sitzung der brandenburgischen Landesbodenkommission vom 18. November 1947 in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam (BLHA), Rep. 332, Nr. 639, Bl. 9. SAPMO, DY 30/TV 2/7/277, Bl. 2 (Orthographie korrigiert). Zu Busse: Lutz Niethammer (Hg.): Der „gesäuberte" Antifaschismus. Die KPD und die roten Kapos von Buchenwand. Dokumente. Berlin 1994, S. 99-103.

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Neubauern - effiziente und intensive Produktion, zumal die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den verlorenen deutschen Ostgebieten ein Reservoir nur niedrig entlohnter Arbeitskräfte bildeten. Daneben waren schlecht ausgestattete Neubauern, die ihre Parzellen in der „Zusammenbruchgesellschaft"28 der Nachkriegszeit nicht ohne Hilfe bewirtschaften konnten, zu Arbeitseinsätzen auf den Betrieben alteingesessener Landwirte gezwungen, um sich Maschinen und Geräte leihen zu können. Die Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS), die enteignete Maschinen der Gutsbetriebe aufgenommen hatten, blieben bis zu den späten vierziger Jahren so schwach, daß sie die private Ausleihe unter den Bauern keinesfalls ersetzten konnten. Insgesamt erzielten „Großbauern" in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg - auch durch Schwarzmarktgeschäfte - ein beträchtliches Reineinkommen. Zudem nahmen sie in den Raiffeisengenossenschaften, die von der SMAD in ihrem Befehl Nr. 146 am 20. November 1945 wieder zugelassen wurden, wichtige Positionen ein. Auch in der Vereinigimg der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB), die 1946/47 als Organisation der Klein- und Neubauern gebildet wurde, wuchs ihr Einfluß. Nach der Enteignung der Gutsbesitzer stellten sie darüber hinaus in den dörflichen Vereinen und in den Gemeindeverwaltungen Führungspersonen. Ihr ökonomisches Potential und ihr gesellschaftliches Prestige in den dörflichen Milieus riefen aber auch Neid und Ressentiments hervor. Besonders die Schwarzmarktgeschäfte der wohlhabenden Landwirte verstärkten in der SBZ - ebenso wie in Westdeutschland - den ohnehin tiefen Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten von Nahrungsmitteln und steigerten den Stadt-LandKonflikt.29

Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955. Göttingen 41986, S. 37. Joachim Piskol: Zur sozialökonomischen Entwicklung der Großbauern in der DDR 1945 bis i960, in: ZfG 39 (1991), S. 419-433, hier 419-423. Zur Wiedelzulassung der Genossenschaften: Klaus von der Neide: Raiffeisens Ende in der Sowjetischen Besatzungszone. Bonn 1952, S. 5, 37 f. Zur Gründung der VdgB die ausführliche Darstellung in: Bernhard Wernet-Tietz: Bauernverband und Bauernpartei. Die VdgB und die DBD 1945-1952. Ein Beitrag zum Wandlungsprozeß des Parteiensystems der SBZ/DDR, Köln 1984, S. 48-59. Zur Not der Neubauern und zu den sozialen Konflikten zwischen den Landwirten: Amd Bauerkämper: Die Neubauern in der SBZ/DDR 1945-1952. Bodenreform und politisch induzierter Wandel der ländlichen Gesellschaft, in: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 108-136, hier 116-127. Zum Verlust des Pachtlandes: BLHA, Ld. Br. Rep. 350, Nr. 872, Bl. 8; Christel Nehrig/Joachim Piskol: Zur fuhrenden Rolle der KPD in der demokratischen Bodenreform, in: ZfG 28 (1980), S. 324-339, hier 337. Zum Statusgewinn der „Großbauern" nach der Entmachtung der Gutsbesitzer: Arnd Bauerkämper: Strukturumbruch ohne Mentalitätenwandel. Auswirkungen der Bodenreform auf die ländliche Gesellschaft in der Provinz Mark Brandenburg 1945-1949, in: ders. (Hg.): .Junkerland in Bauernhand"? (wie Anm. 24), S. 69-85, hier 80 f. Zu den Folgen des Hungers für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft: Günter J. Trittel: Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der

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Diese Ressentiments konnte die SED-Parteiftihrung ausnutzen, als sie nach der 11. Tagung des Parteivorstands (29./30. Juni 1948) mit Unterstützung der SMAD offen zur Repression und Verdrängung der „Großbauern" überging. So erklärte Ulbricht am 17. September 1948 im ZK: „In der Landwirtschaft steht die Frage des Kampfes gegen die Großbauern, d.h. diejenigen Bauern, die einige fremde Arbeitskräfte beschäftigen". In einem Aufsatz, der im November 1948 veröffentlicht wurde, behauptete der Präsident der Hauptverwaltung Land- und Forstwirtschaft in der 1947 gegründeten Deutschen Wirtschaftskommission (DWK), Hoernle, zwar weiterhin, daß „eine Enteignung der Großbauern mit staatsrechtlichen Mitteln keineswegs auf der Tagesordnung" stehe, trat aber für Maßnahmen ein, „die den Kleinbauern und vor allem den Neubauern aus der faktischen Abhängigkeit vom Großbauern befreien und diesen im ökonomischen, sozialen und politischen Leben des Dorfes zurückdrängen". In einem Gespräch, das am 18. Dezember 1948 in Moskau stattfand, untersagte Stalin den SED-Funktionären Pieck, Grotewohl und Ulbricht zwar die Bildung einer Regierung in Ostdeutschland und verbot die Proklamation einer „Volksdemokratie", bekräftigte aber das Ziel, die „Großbauern" in den landwirtschaftlichen Genossenschaften und in der VdgB zu entmachten. Außerdem wurde entschieden, den Ausbau von MAS und Volkseigenen Gütern (VEG) zu „Stützpunkten der Arbeiterklasse auf dem Lande" zu beschleunigen, um die Neu- und Kleinbauern ökonomisch zu stärken und damit ihre Abhängigkeit von den größeren Landwirten zu verringern. „Großbauer" wurde - wie „Kulak" in der UdSSR - zu einem politischen Kampfbegriff, der zur propagandistischen Rechtfertigung der SED-Politik inflationär eingesetzt wurde und die Vertreibung der wirtschaftsstarken Landwirte aus der SBZ/DDR ideologisch begründen sollte. Die Wahrnehmung der „Großbauern" durch viele Parteifunktionäre war von pathologischen Verschwörungsvorstellungen und ein dichotomisches Gesellschafts- und Politikverständnis gekennzeichnet, in dem die ohne abhängig Beschäftigte arbeitenden „werktätigen" Bauern das Gegenbild der als „Ausbeuter" abqualifizierten größeren Landwirte darstellten. So drohte Ulbricht den „Großbauern" auf der 1. Parteikonferenz der SED, die vom 25. bis 28. Januar 1949 in Berlin veranstaltet wurde, daß „wir als Partei des Volkes die Pflicht haben, die Willkürakte und Ausbeutungsmaßnahmen der Spekulanten gegenüber den Neubauern und den Klein- und Mittelbauern zu bekämpfen."30

30

Bizone (1945-1949). Frankfurt/M. 1990; Paul Erker: Hunger und sozialer Konflikt in der Nachkriegszeit, in: Manfred Gailus/Heinrich Volkmann (Hg.): Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770—1990. Opladen 1994, S. 392-408, hier 393,397. Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Christel Nehrig: Landwirtschaftspolitik, in: Andreas Herbst/Gerd-Rüdiger Stephan/Jürgen Winkler (Hg.): Die SED. Geschichte - Organi-

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1947 besonders zur Unterbindung von Kompensationsgeschäften und Schwarzmarkthandel konzipiert und im darauffolgenden Frühjahr gebildet, sollten Kontrollkommissionen und -ausschüsse in den Dörfern den Einfluß von „Großbauern" ermitteln und Gegenmaßnahmen vorbereiten. Am 1. November 1948 hatte das ZK der SED die DWK darüber hinaus angewiesen, „ein System von Maschinenausleihstationen in den fünf Ländern der Zone zu organisieren [...], damit die Neu-, Klein- und Mittelbauern aller Kreise und Bezirke möglichst gleichmäßig mit maschineller Zugkraft und mit der [sie] Benutzung landwirtschaftlicher Maschinen versorgt werden können." Daraufhin erließ die DWK zehn Tage später eine Verordnung, nach der die „Verwaltung der Maschinen-Ausleihstationen" (VMAS) als halbstaatliche Institution zu bilden war. Eine Zentrale für Landtechnik, deren Aufbau ebenso wie die Gründung der VMAS im Februar 1949 vom Politbüro der SED bestätigt wurde, erfaßte und verteilte die Maschinen der MAS. Die Wirtschaftskommission erließ aber trotz nachdrücklicher sowjetischer Forderungen erst im Juni 1949 eine Verordnung, nach der Landesgüter in VEG überfuhrt wurden. Zuvor waren mit den Genossenschaften und dem Landhandel wichtige Organisationen entmachtet worden, in denen die „Großbauern" fest verwurzelt waren. So dominierten die „Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetriebe", die im März 1949 gebildet wurden, zunehmend den Landhandel. Die Raiffeisengenossenschaften verloren nicht nur diesen Wirtschaftszweig, sondern wurden nach der Resolution eines Kongresses, der vom 15. bis 17. März in Berlin stattfand, zu Universalgenossenschaften umgebildet. Damit waren diese Organisationen schon vor ihrem Zusammenschluß mit der VdgB zur „Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (Bäuerliche Handels-Genossenschaft)" im November 1950 zentraler politischer Kontrolle unterstellt worden. Schauprozesse gegen Genossenschaftsfunktionäre 1950 in Güstrow und 1951 in Erfurt vollendeten die „Gleichschaltung" der Genossenschaften, in denen „Großbauern" bereits in den späten vierziger Jahren ihre Leitungspositionen und ihren Einfluß ebenso weitgehend eingebüßt hatten wie in der VdgB.31 sation - Politik. Ein Handbuch. Berlin 1997, S. 294-305, hier 297; Steinberger/Graffiinder/Herholz: Hoernle (wie Anm. 25), S. 659 f.; Volker Klemm u.a.: Agrargeschichte. Von den bürgerlichen Agrarreformen zur sozialistischen Landwirtschaft in der DDR. Berlin (Ost) 21985, S. 193; Protokoll der Ersten Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 25. bis 28. Januar 1949 im Hause der Deutschen Wirtschaftskommission zu Berlin. Berlin 1949, S. 215. Zum Gespräch vom 18. Dezember 1948 die Notizen in: Badstiibner/Loth (Hg.): Pieck (wie Anm. 25), S. 250, 255. Zusammenfassend dazu auch: Ulrich Mahlert: Kleine Geschichte der DDR. München 1998, S. 52 f. Edgar Tümmler/Konrad Merkel/Georg Blohm: Die Agrarpolitik in Mitteldeutschland - Historische Entwicklung der Landwirtschaft in Mitteldeutschland und ihre agrarpolitische Konzeption, in: dies.: Die Agrarpolitik in Mitteldeutschland und ihre Auswirkung auf Produktion und Verbrauch landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Berlin 1969,

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Die Reorganisation der landwirtschaftlichen Verbände, die Verstaatlichung des Landhandels sowie der Ausbau der MAS und VEG zielten zwar primär auf die Stärkung der zentralen Wirtschaftsplanung im Zweijahrplan 1949/50, schädigten die „Großbauern" aber wirtschaftlich und schränkten ihren gesellschaftlichen Einfluß auf dem Lande ein. Direkte ökonomische Restriktionen reduzierten die Wirtschaftskraft dieser von der SED-Führung als „Ausbeuter" und „Saboteure" diffamierten Landwirte noch weiter. So ordnete die DWK, die im Februar 1948 Gesetzgebungskompetenz erhalten und den Zweijahrplan für 1949/50 vorbereitet hatte, am 1. Dezember 1949 auf Druck der SED eine Steuerreform an. Die Differenzierung der Steuersätze bewirkte, daß die „Großbauern" je Hektar um dreißig Prozent höhere Steuern zahlen mußten als Kleinbauern. Auch die Tarife der MAS wurden zugunsten der kleinen Landwirte gestaffelt, um sie aus der wirtschaftlichen Austauschbeziehung mit den „Großbauern" zu lösen. Daneben erhöhte das „Gesetz zum Schutze der Arbeitskraft der in der Landwirtschaft Beschäftigten" vom 7. Dezember 1949 indirekt die Lohnkosten für die „Großbauern", die in der SBZ eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Landarbeitern beschäftigten. Nach dem Landarbeiterschutzgesetz, das wegen des saisonalen Arbeitsrhythmus in den Agrarbetrieben zunächst vielfach ignoriert wurde, durften erwachsene Landarbeiter nur täglich acht Stunden beschäftigt werden; zudem erhielten sie einen Anspruch auf Jahresurlaub und den Abschluß schriftlicher

S. 1-167, hier 35, 39, 45. Aus der Perspektive der DDR-Agrarhistoriographie: Joachim Piskol/Christel Nehrig/Paul Trixa: Antifaschistisch-demokratische Umwälzung auf dem Lande (1945-1949). Berlin (Ost) 1984, S. 157-168, 178-183; Christel Nehrig/Joachim Piskol: Zur Dialektik von antifaschistisch-demokratischer Umwälzung und sozialistischer Revolution in der Agrarpolitik von KPD und SED 1945-1949, in: Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Wissenschaftliche Mitteilungen, 1982/1, S. 11-28, hier 23-26; Klemm: Agrargeschichte (wie Anm. 30), S. 191-195. Zit. nach: SAPMO, DY 30/IV 2/324, Bl. 3 f. Zum Aufbau der VMAS: SAPMO, DY 30/IV 2/7/321, Bl. 200 f., 208, 247-252, 273 f. Zum Umbau der Genossenschaften: Franz Buss: Die Struktur und Funktion der landwirtschaftlichen Genossenschaften im Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Marburg 1965, S. 102-145; Jens Schöne: Die Raiffeisengenossenschaften in der SBZ/DDR 1945-1954, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen 47 (1997), S. 180-196, hier 181-185. Zur Arbeit der Volkskontrollausschüsse im Herbst 1948: Elke Scherstjanoi: Volkskontrolle und zentrale staatliche Kontrolle im Land Brandenburg 1947-1949, Diss. A, Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin (Ost) 1987 (Ms.), S. 173-182. Zur Entmachtung der „Großbauern" in den Genossenschaften und in der VdgB: Arnd Bauerkämper: Neue und traditionale Führungsgruppen auf dem Lande. Politische Herrschaft und Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Berliner Debatte. Initial, H. 4/5, 1995, S. 79-92, hier 85-88.

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Arbeitsverträge. Außerdem mußten Bauern ständig beschäftigten Landarbeitern, die alleinstehend waren, ein möbliertes Zimmer zur Verfügung stellen.32 Die Erhöhung der Ablieferungsquoten wirkte sich - ebenso wie in der UdSSR in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren - auf die Wirtschaftsführung der „Großbauern" besonders einschneidend aus. So trat Anfang Dezember 1949 die Hektarveranlagung für Tierprodukte in Kraft. Obgleich sie vorrangig eine Produktionssteigerung - vor allem in der Viehwirtschaft - herbeiführen sollte, belastete diese Maßnahme besonders die „Großbauern", deren Betriebe insgesamt einen geringeren Viehbesatz aufwiesen als die Höfe der kleineren Landwirte. Die Hektarveranlagung zwang die „Großbauern", ihre Tierhaltung auszuweiten. Damit wuchs in ihren Betrieben der Arbeitsaufwand, während der Verkauf pflanzlicher Produkte, die als Viehfutter benötigt wurden, eingeschränkt werden mußte. Landwirte, die ihre Produktionsauflagen nicht erfüllten, wurden streng bestraft, denn mit dem Übergang zur Planwirtschaft war auch die Kontrolle über die landwirtschaftliche Erzeugung verstärkt worden; so waren schon im Mai 1948 rund 4.600 Bauern allein in sowjetischen Speziallagern inhaftiert, wo sie etwa 10,5 Prozent der Insassen stellten.33 In den frühen fünfziger Jahren erhöhte die SED-Führung den ökonomischen Druck auf die „Großbauern", besonders durch die am 15. Februar 1951 erlassene Verordnung zur Pflichtablieferung und die ergänzende Anweisung zur Differenzierung der Normen vom 28. Februar. Mit seinem „Beschluß über die unverzügliche Aufholung der Rückstände in der Erfüllung der Erfassungspläne für landwirtschaftliche Erzeugnisse" legte das Politbüro der SED am 11. Dezember 1951 schließlich besonders rigorose Zwangsmaßnahmen fest. Ins-

Piskol: Entwicklung (wie Anm. 29), S. 424 f.; Piskol/Nehrig/Trixa: Umwälzung (wie Anm. 31), S. 158. Zum Landarbeiterschutzgesetz vgl. Arnd Bauerkämper: Aufwertung und Nivellierung. Landarbeiter und Agrarpolitik in der SBZ/DDR 1945-1960, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter in der SBZ-DDR. Essen 1999, S. 245267, hier 256. Das Gesetz ist abgedruckt in: Gesetzblatt der DDR (GBL), Nr. 16, 19.12.1949, S. 113-115. Zur institutionellen Entwicklung der DWK bis 1948: Bernd Niedbaiski: Deutsche Zentralverwaltungen und Deutsche Wirtschaftskommission (DWK). Ansätze zur zentralen Wirtschaftsplanung in der SBZ 1945-1948, in: VfZ 33 (1985), S. 456-477. Zum sowjetischen Einfluß: BArch, DK-1, Nr. 7545, Bl. 27 f. Ilona Buchsteiner: Bodenreform und Agrarwirtschaft der DDR. Forschungsstudie, in: Leben in der DDR, Leben nach 1989 - Aufarbeitung und Versöhnung, hg. vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Band 5. Schwerin 1997, S. 9-61, hier 12, 25 f.; Siegfried Kuntsche: Bauern im Interessenkonflikt. Die Situation vor der Staatsgründung 1949, in: Elke Scherstjanoi (Hg.): „Provisorium für längstens ein Jahr". Protokoll des Kolloquiums Die Gründung der DDR. Berlin 1993, S. 231-236, hier 232 f.; Piskol: Entwicklung (wie Anm. 29), S. 424 f.; Piskol/Nehrig/Trixa: Umwälzung (wie Anm. 31), S. 159 f. Zahlenangabe nach: Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik. Berlin 1998, S. 85.

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gesamt wurden die Ablieferungsnormen für Betriebe mit 20 bis 50 ha von 1949 bis 1952 in Mecklenburg um 44 Prozent, für Landwirte mit einem Bodeneigentum von mehr als 50 ha um 34 Prozent erhöht. In Thüringen erhöhten sich die Ablieferungsnormen für diese Gruppe um 31 bzw. 30 Prozent. Die Differenzierung der Auflagen zum Anbau und zur Ablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse in den Gemeinden belastete besonders die „Großbauern", löste aber auch die Proteste anderer Landwirte aus, die sich der Kontrolle ihrer Betriebe und den Eingriffen in die Agrarproduktion widersetzten. Konfrontiert mit dem zunehmenden Erfassungs- und Ablieferungsdruck, verheimlichten „Großbauern" Anbauflächen, entzogen ihre Erzeugnisse dem Zugriff der Erfassungskommissionen oder sperrten sich offen gegen die Pflichtabgabe. Viele „Großbauern" verweigerten den verhaßten Erfassern sogar den Zutritt zum Hof, und sie wehrten sich gegen die Kontrolle der Viehställe. Die SEDKreisleitungen, in denen die Funktionäre den Widerstand der Bauern lediglich als Manifestation und Folge des vermeintlich unausweichlichen „Klassenkampfes" interpretierten, verhängten gegen diese Landwirte, die vereinzelt von Bürgermeistern unterstützt wurden, harte Strafen. Obwohl „Großbauern" wegen der Repressionspolitik oft mit „Republikflucht" drohten, wurden ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse rücksichtslos beschlagnahmt. Außerdem erhielten Landwirte, die Rückstände bei den Pflichtablieferungen, in den Viehhalteplänen, bei den Erntearbeiten und den Steuerabgaben aufwiesen, in Schauprozessen z.T. lange Haftstrafen.34 Obgleich in der DDR schon bis Ende 1951 rund 3.300 Bauern, die über mehr als 20 ha verfugt hatten, ihre Betriebe aufgegeben hatten, verschärfte die SED-Führung 1952 die Unterdrückung der „Großbauern" weiter. Da die Deutschlandpolitik der UdSSR mit der Ablehnung der „Stalin-Noten" durch die Westmächte einen deutlichen Rückschlag erlitten hatte, ließ die sowjetische Staats- und Parteiführung im April 1952 die Kollektivierung der Landwirtschaft zu. Nachdem Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED (9.-12. Juli 1952) den vorangegangenen Beschluß des Politbüros zur Bildung Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) „auf völlig freiwilliger

Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Berlin 1995, S. 74-79. Die Verordnung vom 15. Februar 1951 und die Anweisung zur differenzierten Veranlagung vom 28. Februar 1951 sind abgedruckt in: GBl., Nr. 21, 19.2.1951, S. 107-113; Nr. 36,22.3.1951, S. 212-215. Zum Vorgehen gegen die „Großbauern": Christel Nehrig: Bauern zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. Die modifizierte Agrarpolitik von 1950/51, in: Scherstjanoi (Hg.): „Provisorium für längstens ein Jahr" (wie Anm. 33), S. 238 f.; Kuntsche, Bauern (wie Anm. 33), S. 232. Angaben nach: Piskol: Entwicklung (wie Anm. 29), S. 425. Exemplarisch für die Gemeinde Niederzimmern (Thüringen): Antonia Humm: Auf dem Weg zum sozialistischen Dorf? Zum Wandel der dörflichen Lebenswelt in der DDR 1952 bis 1969 mit vergleichenden Aspekten zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 1999, S. 136.

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Arad Bauerkämper

Grundlage" verkündet hatte, wurde die Verdrängung der „Großbauern" eng an die Kollektivierungspolitik gekoppelt. „Devastierte" Betriebe sollten ebenso von den LPG übernommen werden wie verlassene Neubauernstellen, deren Inhaber mit der Bewirtschaftung ihres Landes ohne das dafür notwendige Inventar und Vieh überfordert waren. Schon eine Verordnung, die am 20. März 1952 vom Ministerrat erlassen worden war, hatte die Landräte ermächtigt, staatliche Treuhänder auf Bauernhöfen einzusetzen, die eine „weit unterdurchschnittliche Produktion" aufwiesen. Eine Verordnung, die am 17. Juli - unmittelbar nach dem offiziellen Beginn der Kollektivierung - verabschiedet wurde, wies den LPG „devastierte" Betriebe zu und legalisierte die Enteignung von Bauern, die aus der DDR geflohen waren, sowie aller anderen Landwirte, die ihre Betriebe verlassen hatten. Nach der Gründung der ersten LPG im Sommer 1952, die überwiegend von Neubauern gebildet wurden, steigerte die SEDFührung die Verdrängungs- und Repressionspolitik gegenüber den „Großbauern" noch. So erließ der Ministerrat am 19. Februar 1953 eine Verordnung, die sich zwar gegen alle Landwirte richtete, aber besonders die ökonomisch belasteten „Großbauern" erfaßte. Nach dieser Verordnung konnten die Räte der Kreise alle Betriebe beschlagnahmen, die ihre Ablieferungspflichten nicht erfüllt hatten.35 Auf dem Lande mündete die Repressionspolitik daraufhin in offenen Terror gegen die traditionalen agrarischen Funktionseliten. Der „Klassenkampf gewann auf dem Lande eine destruktive Dynamik, die sich besonders in der Zwangsaussiedlung von „Großbauern" und Strafverfahren gegen diese Gruppe von Landwirten widerspiegelte. Gerichte verurteilten „Großbauern", denen die SED-Kreisleitungen oft Wirtschaftsverbrechen, „Sabotage" und „Hetze" gegen die DDR bzw. die Sowjetunion vorwarfen, vielfach zu langen Gefängnisstrafen. So verhängte das Kreisgericht in Demmin am 24. Februar 1953 gegen einen Landwirt, der 1952 sein Ablieferungssoll und den Viehvermehrungsplan Wolfgang Bell: Enteignungen in der Landwirtschaft der DDR nach 1949 und deren politische Hintergründe. Analyse und Dokumentation. Münster-Hiltrup 1992, S. 17 f., 21 f., 29-32. Die Verordnungen sind abgedruckt in: GBl., Nr. 38, 27.3.1952, S. 226228; Nr. 25, 27.2.1953, S. 329 f. Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Arnd Bauerkämper: Von der Bodenreform zur Kollektivierung. Zum Wandel der ländlichen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und DDR 1945-1952, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte (wie Anm. 2), S. 119-143, hier 135; Ilse Spittmann/Gisela Helwig (Hg.): DDR-Lesebuch. Stalinisierung 1949-1955. Köln 1991, S. 155. Zum Beginn der Kollektivierung: Elke Scherstjanoi: Die DDR im Frühjahr 1952. Sozialismuslosung und Kollektivierungsbeschluß in sowjetischer Perspektive, in: DA 27 (1994), S. 354-363; Joachim Piskol: Zum Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft der DDR im Sommer 1952, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) 37 (1995), S. 19-26. Angabe zu den bis Ende 1952 aufgegebenen Betrieben nach: Christel Nehrig: Zur sozialen Entwicklung der Bauern in der DDR 1945-1960, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 41 (1993), S. 6676, hier 70.

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nicht erfüllt hatte und in der Urteilsbegründung als „großbäuerliches Element" stigmatisiert wurde, eine Haft von zwei Jahren. Mit den Verfahren gegen „Großbauern" vollzog sich in den Justizbehörden der DDR eine nachhaltige Politisierung, auf die ein Funktionär der SED-Bezirksleitung Potsdam im Januar 1953 mit seiner Kritik zielte, daß in den Justizorganen „Genossen noch nicht die Behandlung solcher Fälle vom Klassenstandpunkt aus betrachten, sondern formal von den Gesetzen ausgehen". Insgesamt wurden vom 1. August 1952 bis zum 31. Januar 1953 in der DDR 583 Gerichtsverfahren gegen „Großbauern" durchgeführt. Darüber hinaus installierte die SED-Führung seit Anfang 1953 besonders in Gemeinden mit MAS und LPG Abschnittsbevollmächtigte der Deutschen Volkspolizei, die nicht nur die neuen Agrarbetriebe überwachten, sondern auch Ablieferungsrückstände kriminalisierten. Am 23. September 1952 beschloß das Politbüro zudem die Einrichtung von politischen Abteilungen in den MAS, denen die Kontrolle und Verdrängung von „Klassenfeinden" auf dem Lande oblag.36 In den ländlichen Milieus konnte die SED die Unterdrückung der „Großbauern" aber nicht bruchlos durchsetzen, da das Prestige der lokalen Honoratioren weitgehend ungebrochen war. Dorfbewohner waren zudem vielerorts durch Klientel- und Nachbarschaftsbeziehungen mit den „Großbauern" verbunden. Deshalb versuchten Bürgermeister, VdgB-Funktionäre und sogar SEDMitglieder, „Großbauern" vor Willkürmaßnahmen zu schützen. Entgegen den herrschaftspolitischen Intentionen der SED-Führung solidarisierten sich vielfach auch kleinere Landwirte mit bedrohten „Großbauern", deren fachliche Kenntoisse und berufliche Leistungen vielerorts respektiert wurden. Die Landbevölkerung lehnte deshalb überwiegend die von der Staatspartei vorangetriebene politische und ökonomische Differenzierung zwischen den Landwirten ab. So fragten „werktätige" Bauern in der brandenburgischen Gemeinde Fehrbellin (Kreis Osthavelland) im Februar 1952 einen SEDFunktionär, „warum der Unterschied zwischen werktätigen und Großbauern. Sie arbeiten doch genauso mit wie die anderen". Einen Monat später stellte in Lindenberg-Glienicke (Kreis Fürstenwalde) „ein Bauer unter stürmischem Armin Mitter: „Am 17.6.1953 haben die Arbeiter gestreikt, jetzt aber streiken wir Bauern". Die Bauern und der Sozialismus, in: Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.): Der Tag X - 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54. Berlin 1995, S. 75-128, hier 85-87; Dieter Schulz: Der Weg in die Krise 1953. Berlin 1993, S. 20 f.; ders.: Ruhe im Dorf? Die Agrarpolitik von 1952/53 und ihre Folgen, in: Jochen Cemy (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte: Neubefragung von DDR-Geschichte. Leipzig 1990, S. 103-110, hier 106 f. Zit. nach: BLHA, Rep. 530, Nr. 1437 (Bericht vom 17.1.53). Zur Bildung der politischen Abteilungen: Bell: Enteignungen (wie Anm. 35), S. 22 f. Das Urteil vom 24.2.1953 ist abgedruckt in: Spittmann/Helwig (Hg.): DDR-Lesebuch (wie Anm. 35), S. 161-164. Zu Prozessen gegen „Großbauern" 1952/53 vgl. Werkentin: Strafjustiz (wie Anm. 34), S. 80-85 (Angabe zur Zahl der Verfahren: S. 81).

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Amd Bauerkämper

Beifall der anderen [Bauern] die Frage, ob er, da seine Wirtschaft über 20 ha umfaßt, denn ein Verbrecher sei und aus diesem Grunde die MAS-Arbeit teurer bezahlen müsse als sein Kollege, dessen Besitz unter 20 ha liegt. Ebenfalls wurde unter großem Geschrei die Frage gestellt, wer denn eigentlich werktätiger Bauer sei". „Großbauern" verweigerten auch offen Unterschriften unter politische Erklärungen und entzogen sich Veranstaltungen, die von der SED auf dem Lande z.B. zur Glorifizierung der Bodenreform durchgeführt wurden.37 Die Repressionsmaßnahmen, die das SED-Regime durchsetzte, verdrängten und vertrieben in der DDR die agrarische Führungsgruppe aus der Gesellschaft und ebneten damit der politisch erzwungenen Herausbildung der neuen sozialen Ordnung auf dem Lande den Weg. Nachdem schon von 1950 bis 1952 rund 5.000 „Großbauern" ihre Betriebe aufgegeben hatten, ging allein im ersten Halbjahr 1953 die Zahl dieser Landwirte in der DDR um 36,5 Prozent zurück. Von fast 22.800 Agrarbetrieben, die bis Ende Mai 1953 in staatliche Verwaltung gelangten, waren nahezu 17.600 seit Februar verlassen oder konfisziert worden. 1952/53 verloren 18,6 Prozent der Landwirte mit 20 bis 35 ha, 42,3 Prozent der Produzenten mit 35 bis 50 ha und 68,8 Prozent Bauern mit über 50 ha die Verfügungsgewalt über ihre Betriebe. Insgesamt ging die Zahl der „Großbauern" in Ostdeutschland um rund 40 Prozent zurück. Bis Ende Mai 1953 mußten staatliche Institutionen rund zehn Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche - etwa 621.000 ha - übernehmen, die von geflohenen „Großbauern" aufgegeben worden war. Die Vertreibung dieser Gruppe eskalierte 1952/53 insgesamt zu einer destruktiven Dynamik, die von den Machthabern selber verursacht worden war, in der Agrarwirtschaft aber dringend benötigte materielle Ressourcen vernichtete und qualifizierte Produzenten aus der landwirtschaftlichen Erzeugung verdrängte. Die „devastierten" Bauembetriebe waren durch rigorose Requisitionen schon zuvor nachhaltig geschwächt worden und konnten überwiegend nur extensiv bewirtschaftet werden. Betriebe, die „Großbauern" entzogen worden waren, sollten nach der Verordnung vom 19. Februar 1953 den LPG zugewiesen werden, die damit aber ökonomisch beträchtlich belastet wurden. So hatten Produktionsgenossenschaften schon Ende Mai 41 Prozent der enteigneten Flächen übernommen. Auch die Bildung „Örtlicher Landwirtschaftsbetriebe" (ÖLB) nach einer Verordnung,

Zit. nach: BLHA, Rep. 332, Nr. 667 (Berichte vom 28.2.52 u. 25.1.52). Vgl. auch BLHA, Rep. 332, Nr. 657, Bl. 48, 64 f.; Rep. 332, Nr. 658, Bl. 51; Rep. 530, Nr. 817, Bl. 112; Rep. 730, Nr. 727 (10.11.52). Vgl. auch Arnd Bauerkämper: Kaderdiktatur und Kadergesellschaft. Politische Herrschaft, Milieubindungen und Wertetraditionalismus im Elitenwechsel in der SBZ/DDR von 1945 bis zu den sechziger Jahren, in: Peter Hübner (Hg.): Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR. Köln 1999, S. 37-65, hier 53.

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die der Ministerrat am 3. September 1953 erließ, beseitigte den Problemstau in der Agrarwirtschaft nicht, den das SED-Regime mit der Verdrängung, Repression und Vertreibung der „Großbauern" herbeigeführt hatte. Die ÖLB waren völlig unzureichend mit Vieh, Arbeitskräften und Gebäuden ausgestattet, so daß die landwirtschaftliche Erzeugung in diesen Betrieben ebenso gering blieb wie die Produktivität. 1955/55 mußten die Produktionsgenossenschaften alle ÖLB aufnehmen, die 1956 rund 54 Prozent der LPG-Flächen stellten.38 Die betroffenen Bauern betrachteten sich als Opfer des SED-Regimes und erkannten trotz des Schutzes, der ihnen von vielen Dorfbewohnern gewährt wurde, zunehmend, daß ihre Lage ausweglos war. Der ökonomische Druck und die politische Repression veranlaßten deshalb 1952/53 viele von ihnen zur Flucht nach Westdeutschland. Die Bauernvertreibung demaskierte in den Dörfern den humanitären Anspruch des SED-Regimes, und die sozioökonomischen Folgeprobleme der Flucht wirtschaftsstarker Landwirte diskreditierte die Agrar- und Gesellschaftspolitik der Machthaber in der DDR. Als die Zahl der Bauern, die ihre Betriebe verließen, 1952 sprunghaft zunahm, verbreitete sich auf dem Lande eine Desillusionierung, die in der Einsicht gipfelte,, jetzt könne für eintausend Westmark sich jeder gewissermaßen sorgenlos absetzten". So stieg die Zahl der Personen, die in der ostdeutschen Landwirtschaft gearbeitet hatten und in der Bundesrepublik die Aufnahme beantragten, 1953 auf 39.436 (1952: 13.867; 1954: 12.620). 1953 hatten fast 12 Prozent der im Notaufnahmeverfahren registrierten Flüchtlinge in der DDR im Pflanzenbau oder in der Viehwirtschaft gearbeitet.39 Bedrängte Landwirte hinderte oft nur ihre Verwurzelung in dem dörflichen Milieus und persönliche Rücksichtnahme, ihre Heimat zu verlassen. So erin-

39

Angaben nach: Christian Krebs: Der Weg zur industriemäßigen Organisation der Agrarproduktion in der DDR. Die Agrarpolitik der SED 1945-1960. Bonn 1989, S. 86 f.; Kurt Krambach/Siegfiied Kuntsche/Hans Watzek: Wirtschaftliche Entwicklung in den drei Nordbezirken der DDR - Agrarwirtschaft, Agrarpolitik und Lebensverhältnisse auf dem Lande. Forschungsstudie, in: Leben in der DDR (wie Anm. 33), S. 80, 82; Dieter Schulz: Probleme der sozialen und politischen Entwicklung der Bauern und Landarbeiter in der DDR von 1949 bis 1955, Diss. A, Humboldt-Universität Berlin 1984 (Ms.), S. 66; ders.: Ruhe (wie Anm. 36), S. 106; Bell: Enteignungen (wie Anm. 35), S. 59 f.; Nehrig: Landwirtschaftspolitik (wie Anm. 30), S. 298 f. Die Verordnung vom 3. September 1953 ist abgedruckt in: GBl., Nr. 99, 15.9.1953, S. 983-985. Vgl. auch das Dokument in: Spittmann/Helwig (Hg.): DDR-Lesebuch (wie Anm. 3), S. 164. Als Fallstudie zur Flucht von „Großbauern" und den Umgang mit „devastierten" Betrieben instruktiv: Humm: Weg (wie Anm. 34), S. 136 f. Zit. nach: BLHA, Rep. 730, Nr. 727 (Bericht vom 14.11.52; Orthographie korrigiert). Angaben zu den Flüchtlingszahlen nach: Helge Heidemeyer: Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949-1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer. Düsseldorf 1994, S. 51 f.; Krambach u.a.: Entwicklung (wie Anm. 38), S. 80, 84. Zur Bauernflucht 1952/53 auch: Volker Ackermann: Der „echte" Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945-1961. Osnabrück 1995, S. 129,145.

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Arnd Bauerkämper

nerte sich der Sohn eines „Großbauern" (geb. 1940) im Kreis Wittenberg (Südfläming) nach dem Zusammenbruch des ostdeutschen Realsozialismus: , 3 s war so, daß alle verkaufsfähigen Schweine verkauft werden mußten und kaum was geschlachtet werden konnte. In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre waren sehr viele Inhaber von Betrieben dieser Größe nach Westen geflüchtet. Eigentlich saßen wir auch schon auf den Koffern, die Sachen waren wirklich schon gepackt. Meine Eltern hatten auch die Absicht, in den Westen zu flüchten. Der Haupthinderungsgrund war die Gesundheit meiner Mutter und auch die Tatsache, daß meine Großmutter noch lebte. Und sie wollte nicht mit in den Westen gehen".40

Zusammen mit der rigorosen Kollektivierung steigerte die Verfolgung der „Großbauern" die Unruhe auf dem Lande. Die Repressionspolitik der SED trug damit maßgeblich zu dem Volksaufstand bei, der im Juni 1953 auch von Gruppen der ländlichen Bevölkerung getragen wurde. Indem die sowjetische Staats- und Parteiführung Ende Mai „Maßnahmen zur Gesundimg der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik" beschloß, zwang sie die SED-Spitzenfunktionäre zu einem radikalen Kurswechsel. Am 9. Juni 1953 rückte die ostdeutsche Staats- und Parteiführung in einem Kommunique des Politbüros schließlich von der Fixierung auf die LPG ab - ohne freilich das Ziel der Kollektivwirtschaft grundsätzlich aufzugeben - , und zwei Tage später hob der Ministerrat die Zwangsgesetze auf, die gegen die „Großbauern" erlassen worden waren. Der Unmut und Protest, den die Verfolgung der „Großbauern" und die rigide Kollektivierungspolitik auf dem Lande herbeigeführt hatten, steigerten sich daraufhin zu offenen Demonstrationen und Versammlungen gegen das SED-Regime. Die Bevölkerung erzwang vielerorts auch die Freilassung inhaftierter Bauern. Aufmerksam und argwöhnisch beobachtet von SED-Funktionären, feierten in einzelnen Gemeinden „Großbauern" in unverhohlener Freude den Kurswechsel der Staatspartei, den sie als politische Niederlage des Regimes deuteten. Wiederholt wurde auf dem Lande auch gefordert, die Bezeichnung „Großbauer" völlig aufzugeben und damit die SED-Agrarpolitik zu entschärfen.41

40

41

Christel u. Alexander Panzig (Hg.): „Weest de noch, wie mer stoppeln war'n?" Alltag in Dörfern des Südflämings in den vierziger und fünfziger Jahren. Reindorf o.J [1998], S. 37 f. Armin Mitter/Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDRGeschichte. München 1993, S. 72-76, 79, 86 f., 126, 129-131, 309-317, 330, 342345; Mitter: „Am 17.6. haben die Arbeiter gestreikt, jetzt aber streiken wir Bauern" (wie Anm. 37), S. 97-120; Werkentin: Strafjustiz (wie Anm. 34), S. 85-90. Zu den Reaktionen auf dem Lande auch: Arnd Bauerkämper: Abweichendes Verhalten in der Diktatur. Probleme einer kategorialen Einordnung am Beispiel der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR, in: ders./Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990. Christoph Kleßmann zum 60. Geburtstag. Bonn 1998, S. 294-311, hier 305 f. Verordnung des Ministerrats in:

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Mit der Verordnung vom 11. Juni 1953 räumte das Regime geflohenen Landwirten die Rückgabe ihres Besitzes ein, der inzwischen allerdings überwiegend von LPG übernommen worden war. Obgleich das ZK der SED im Juli eingestand, daß Bauern „unter dem wirtschaftlichen Druck, dem sie nicht gewachsen waren, resigniert die Republik" verlassen hatten, erhielten zurückkehrende „Großbauern" lediglich Ausgleichsflächen. Überdies verstanden viele LPG-Mitglieder und SED-Funktionäre in den Kreisen und Gemeinden den abrupten Kurswechsel nicht und befürchteten, daß eine Rückgabe von Flächen an die zuvor als „Klassenfeinde" diffamierte agrarische Funktionselite, die mächtige Landwirte in den Dörfern gebildet hatten, den „Aufbau des Sozialismus" auf dem Lande vollends blockieren könnte. Viele nach Westdeutschland geflohene „Großbauern" kehrten auch wegen ihres fortbestehenden Mißtrauens gegenüber der imberechenbaren SED-Politik nicht in ihre Heimat zurück. Insgesamt hatten bis Ende 1953 nur 7,6 bzw. 36,3 Prozent der nach den Verordnungen vom 17. Juli 1952 bzw. 19. Februar 1953 Enteigneten ihre Betriebe wieder übernommen. Im Bezirk Frankfurt/Oder hatten bis Ende März 1954 nur rund 16 Prozent der Landwirte, deren Betriebe nach der Verordnung vom 19. Februar beschlagnahmt worden waren, die Rückgabe beantragt. Auch von den Bauern, die enteignet worden waren, aber die DDR nicht verlassen hatten, erhielten bis Ende 1953 nur ein Viertel ihre Wirtschaften zurück.42 In der ersten Kollektivierungsphase durften die „Großbauern" ebensowenig in die LPG eintreten wie die „Kulaken" in der UdSSR in die dort gebildeten Kolchosen. Beherrscht von Verschwörungsobsessionen, registrierten die Ortsund Kreisleitungen der SED Versuche dieser Landwirte, die Gründung und Entwicklung von LPG zu beeinflussen. Auch der Beschluß der III. LPGKonferenz (12./13. Dezember 1954), „Großbauern" den Eintritt in LPG zu erlauben, beseitigte keineswegs die ideologischen Vorbehalte der SEDFunktionäre gegenüber dieser Gesellschaftsgruppe. Nachdem die Staatspartei auf ihrem V. Parteitag im Juli 1958 aber das Ziel verkündet hatte, den in der Bundesrepublik erzielten Pro-Kopf-Verbrauch von Lebensmitteln zu übertreffen, gewann die wirtschaftliche Stabilität der durch die Übernahme von ÖLB geschwächten LPG Priorität. Obgleich die SED daraufhin zunehmend um die qualifizierten Landwirte warb, waren Ende 1958 weniger als sieben Prozent der Altbauern den LPG beigetreten. Die in der DDR verbliebenen „GroßbauGBL, Nr. 78,19.6.1953, Bl. 806 f. Das Kommunique des Politbüros ist abgedruckt in: Kleßmann: Staatsgründung (wie Anm. 28), S. 519-521. Zit. nach: Wilfriede Otto: Dokumente zur Auseinandersetzung in der SED 1953, in: BzG 32 (1990), S. 654-672, hier 659 f. Der Beschluß der sowjetischen Führung ist abgedruckt in: Rolf Stöckigt: Ein Dokument von großer historischer Bedeutung vom Mai 1953, in: BzG 32 (1990), S. 647-653, hier 650-653. Angaben zu den Betriebsrückgaben nach: Bell: Enteignungen (wie Anm. 35), S. 61 f.; BLHA, Rep. 601, Nr. 1781 (Vierteljahrsmeldung vom 31.3.1954).

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ern" wurden überwiegend erst von der Zwangskollektivierung erfaßt, die in den Dörfern besonders im „sozialistischen Frühling" 1960 von den Agitationsgruppen der Bezirks- und Kreisleitungen mit oft brachialer Gewalt und Terror durchgesetzt wurde. Dabei nutzten „Großbauern" ihre Restautonomie vielfach, indem sie einem Anschluß an bestehende, oft labile Produktionsgenossenschaften auswichen und statt dessen selber LPG vom Typ I bildeten, in denen sie nur das Ackerland gemeinsam bewirtschaften mußten.43 Auch das zunächst gegen „Großbauern" verhängte Verbot, in den Produktionsgenossenschaften Leitungsaufgaben auszuüben, mußte schrittweise zurückgenommen werden, um die Qualifikation dieser erfahrenen Landwirte nutzen zu können. Schon 1954/55 hatten LPG-Mitglieder vereinzelt verlangt, „Großbauern" Leitungsfunktionen in den Betrieben zu übertragen, da nur ihnen die Fähigkeit zugetraut wurde, heruntergewirtschaftete LPG ökonomisch zu stabisieren. So kritisierte ein Mitglied der LPG Niedeijesar (Bezirk Frankfurt/Oder) im November 1954: „Die jetzt die LPG leiten, verstehen nichts davon. Nur ein richtiger Großbauer könnte diese Aufgabe erfüllen". In den späten fünfziger Jahren eröffneten sich für qualifizierte „Großbauern", die sich LPG angeschlossen hatten, zunehmend Aufstiegswege in betriebliche Leitungspositionen, da sie vielerorts als die besten Bauern galten. Besonders aber ihre Söhne trugen - ebenso wie in der UdSSR - maßgeblich zur Konsolidierung der Kollektivbetriebe in den sechziger Jahren bei. Die Kompetenz dieser Zum Abschluß der Kollektivierung und zur Sozialstruktur der LPG: Dieter Schulz: „Kapitalistische Länder überflügeln". Die DDR-Bauern in der SED-Politik des ökonomischen Wettbewerbs mit der Bundesrepublik von 1956 bis 1961. Berlin 1994, S. 32-39; Siegfried Kuntsche: Die Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse und der Produktionsstruktur in der Landwirtschaft, in: Dietmar Keller/Hans Modrow/Herbert Wolf (Hg.): Ansichten zur Geschichte der DDR, Band 1. Bonn 1993, S. 191-210, hier 203 f.; Arnd Bauerkämper: Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, in: APZ, B 38/97,12.9.1997, S. 25-37, hier 33 f.; Nehrig: Landwirtschaftspolitik (wie Anm. 30), S. 299; dies.: Entwicklung (wie Anm. 35), S. 73 f. Zum Beschluß der III. LPG-Konferenz: Willi Herferth/Karl-Heinz Poosch/Walter Schmidt/Rolf Stöckigt: Von der demokratischen Bodenreform zum sozialistischen Dorf. Berlin (Ost) 1965, S. 137 f. Zur Werbung um die „Großbauern" in den späten fünfziger Jahren aus der Perspektive der DDR-Historiographie: Helmut Griebenow/Kurt Meyer: Die Einbeziehung der Großbauern in die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft in der DDR, in: Jahrbuch für Geschichte (JfG) 6 (1972), S. 371-396, hier 384-395; Siegfried Graffunder: Zur Dialektik von Interessen und gesellschaftlicher Aktivität der Bauernschaft in der Endphase der Übergangsperiode der DDR von 1956/57 bis 1960/61. Motivationen, Erscheinungsformen und Grad gesellschaftlicher Aktivität der Einzel- und Genossenschaftsbauern, in: JfG 31 (1984), S. 103-152, 113-126, 131-149; Willi Herferth: Der Aufschwung der Genossenschaftsbewegung nach der 33. Tagung des ZK im Oktober 1957, in: ZfG 14 (1966), S. 208-225; Kurt Meyer: Die Entwicklung der Großbauernschaft im Prozeß der sozialistischen Revolution in der DDR bis zu ihrem Übergang in die Klasse der Genossenschaftsbauern (1949/50 bis 1961), nachgewiesen am Beispiel des mittelsächsischen Raumes, Diss. A, Karl-Marx-Universität Leipzig 1971 (Ms.), S. 178-213.

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landwirtschaftlichen Fachkräfte erwies sich auch im Generationswechsel als unverzichtbar. Das gesellschaftliche Ansehen der „Großbauern" als qualifizierte Führungskräfte und als örtliche Honoratioren blieb noch lange nach dem Abschluß der Kollektivierung und der damit verbundenen Beseitigung der ökonomischen Basis dieser Gesellschaftsgruppe in den Produktionsgenossenschaften wirksam.44 4. Vernichtung und Verdrängung agrarischer Fachkräfte. Die Programmatik und Praxis des Elitenwechsels in der Sowjetunion und DDR Seit dem 19. Jahrhundert hat der radikale Nationalismus, die Volkstumsideologie und die Utopie ethnischer Homogenität eine neue, radikale Form der Vertreibung hervorgebracht. Dabei sind Menschen vielfach nicht nur durch Kriege, sondern wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen oder sozialen Gruppe entwurzelt worden. Sozialplanerischer Gestaltungswille, wissenschaftliches Fachwissen und die Erweiterung der Logistik, Organisations- und Kommunikationssysteme ermöglichten besonders neuen Radikaldiktaturen, die sich pseudodemokratisch legitimierten, eschatologische Heilsvisionen verkündeten und auf gesellschaftliche Mobilisierung zielten, die Vertreibimg „objektiver Feinde", die dem anvisierten Gesellschaftsprojekt angeblich ebensowenig entsprachen wie dem jeweils propagierten Menschenbild. Radikale Modernisierungsillusionen wurden so zur Triebkraft von Repression, Vertreibung und Vernichtung - ein Weg in die Moderne, der schließlich das Ziel selber diskreditierte.45 Die wissenschaftliche Forschung über diese Radikalisierung der Vertreibungspolitik im 20. Jahrhundert hat sich aber ebenso wie die politische Debatte weitgehend auf die Verfolgung und Flucht ethnischer Minderheiten aus einzelnen Staaten oder die Ausweisung von Volksgruppen aus okkupierten BLHA, Rep. 730, Nr. 970 (27.6.1958). Zit. nach: BLHA Rep. 730, Nr. 957 (Bericht vom 18. November 1954). Allgemein auch die Hinweise in: Hans Luft: Quo vadis, ostdeutsche Landwirtschaft? In: DA 27 (1994), S. 963-968, hier 964; Buchsteiner: Bodenreform (wie Anm. 33), S. 36. Die Wahl von „Großbauern" zu LPGVorsitzenden wurde von SED-Spitzenfunktionären wie dem ZK-Abteilungsleiter für Landwirtschaft, Erich Mückenberger, aber noch 1958 scharf kritisiert. Vgl. BLHA, Rep. 530, Nr. 1348 (Schreiben vom 8.9.1958). Knapper Überblick über die Debatte in: Karl Schlögel: Kosovo war überall, in: Die Zeit, Nr. 18, 29. April 1999, S. 15-19. Zum Konzept des „objektiven Feindes": Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1991 ('1951), S. 654. Erläuterungen in: Pohlmann: Der „Keim des Verbrechens" (wie Anm. 7), S. 228 f. Dazu anregend: Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992, S. 45, 55, 69, 320-326, 343; ders.: Unbehagen in der Postmodeme. Hamburg 1999, S. 18, 27.

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Gebieten konzentriert.46 Dagegen ist die Vertreibung als sozialer Prozeß bislang ebenso vernachlässigt worden wie der Nexus von Zwangsmigration und Elitenwechsel.47 Wie hier gezeigt wurde, ist Vertreibung aber als ein umfassender Prozeß zu analysieren, der Menschen gewaltsam aus ihren Lebensbeziehungen und Alltagskontexten reißt. In den neuen Radikaldiktaturen führten auch Vertreibungen, die innerhalb eines Staates vollzogen wurden, tiefe wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche herbei, die den Sozialprojekten der Machthaber zunächst den Weg ebneten, zugleich aber zu so hohen Ressourcenverlusten führten, daß ökonomische Modernisierungsprozesse verzögert oder sogar blockiert wurden. Bei der Vertreibung von Führungskräften ist der Verlust an Humankapital - spezifische Fähigkeiten, Qualifikationen und Verhaltensformen - besonders gravierend. Politisch induzierte Prozesse gewaltsamer gesellschaftlicher Ausgrenzung können so zu einer Variante der Vertreibung werden, die grenzenlose Umgestaltungsprojekte der Machthaber widerspiegelt und den damit verbundenen Herrschaftsanspruch demonstriert. Als Instrumente der Repressions- und Vernichtungspolitik verweisen Vertreibungsprozesse insofern auf den selbstzerstörerischen Krisenzyklus in Regimes, die weder programmatisch noch in ihrer praktischen Politik fähig und

In den letzten Jahren ist in Deutschland vor allem die Geschichtsschreibung über die Vertreibung und Integration der Deutschen aus den Ostgebieten von 1944 bis 1948 intensiviert worden. Zu diesem seit den achtziger Jahren wieder enorm expandierenden Forschungsbereich zusammenfassend: Hans-Werner Rautenberg: Die Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute, in: APZ, B 53/97, 26.12.1997, S. 34-46; Edgar Wolfram: Zwischen Geschichtsschreibung und Vergangenheitspolitik. Forschungen zu Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: AfS 36 (1996), S. 500-522; Michael Schwartz: Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: DA 39 (1997), S. 177-195. Als instruktive Fallstudie: Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956. Göttingen 1998. Der vielschichtige Prozeß der Vertreibung wird vergleichend dargestellt in: Norman M. Naimark: Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe, University of Washington 1998. Als frühe Studie: Eugene M. Kulischer: Europe on the Move. War and Population Changes, 1917-1947. New York 1948. Ansätze dazu mit Bezug auf die Herausbildung der westdeutschen Demokratie nach 1945 in: Wolfram Wette: Eine Gesellschaft im Umbruch. „Entwurzelungserfahrungen" in Deutschland 1943-1948 und sozialer Wandel, in: Robert Streibel (Hg.): Flucht und Vertreibung. Zwischen Abrechnung und Verdrängung. Wien 1994, S. 257-284, hier 275-277. Die Auswirkungen der Option, in die Bundesrepublik zu fliehen, auf die Verdrängung und Vertreibung von Funktionseliten aus der DDR werden knapp diskutiert in: Anna-Sabine Ernst: „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus". Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961. Münster 1997, S. 341; Ralph Jessen: Diktatorischer Elitenwechsel und universitäre Milieus. Hochschullehrer in der SBZ/DDR (1945-1967), in: GG 24 (1998), S. 24-54, hier 30, 33, 43 f., 52.

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bereit waren, differenzierte Rationalitätskriterien in Politik und Ökonomie zuzulassen.48 Dieser destruktive Grundzug verbindet stalinistische Diktaturen mit dem NS-Regime. Die Vernichtung der „Kulaken" ist keineswegs nur einem „blinddogmatischen Verständnis der Ziele der Revolution zuzuschreiben [...]". Der Enteignung und Vertreibimg der Bauern aus ihren Dörfern lag vielmehr eine radikale Herrschaftsideologie zugrunde, die einen tiefgreifenden sozioökonomischen Umbruch herbeiführte. Im Gegensatz zur Judenvernichtung im „Dritten Reich" zielte die Repressionspolitik, die in der stalinistischen Sowjetunion gegen die „Kulaken" durchgesetzt wurde, aber nicht primär auf die physische Vernichtung, sondern auf die vollständige Entmachtung und soziale Exklusion von Exponenten der Gesellschaftsordnung, die beseitigt werden sollte. Obwohl dabei der Tod der alten Führungspersonen auf dem Lande billigend in Kauf genommen wurde, ist ein systematischer und anhaltender Vernichtungswille gegenüber den „Kulaken" nicht zu erkennen. Eine Rückkehr deportierter Bauern in ihre Heimatgemeinden war vielmehr keineswegs ausgeschlossen, und seit 1933 erhielten sie und ihre Angehörigen schrittweise das Wahlrecht zurück. Nachdem 1936 in der Sowjetunion eine neue Verfassung erlassen worden war, wurde die Bezeichnung „Kulak" offiziell sogar nicht mehr benutzt. Damit war die revolutionäre Dynamik der stalinistischen Diktatur jedoch keineswegs gebrochen, wie die Schauprozesse 1937/38 und die Terrorwelle von 1936 bis 1938 schließlich zeigten.49 Stalinistische Diktaturen waren nicht nur durch eine spezifische Herrschaftsform gekennzeichnet, sondern in sozialgeschichtlicher Perspektive auch durch eine radikale Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik, der das voluntaristische Konzept einer Zwangsmodernisierung zugrunde lag. Die ideologisch determinierte, politisch erzwungene und gewaltsam herbeigeführte tiefgreifende Transformation der ländlichen Sozialstruktur verursachte jedoch sowohl in der Sowjetunion als auch in der DDR anhaltende Konflikte und enorme Reibungsverluste. Die stalinistischen Diktaturen zielten nicht nur auf eine Beseitigung der bestehenden Eigentumsverhältnisse, sondern auch auf eine zentRittersporn: Modernisierung (wie Anm. 16), S. 820; Merl: Agrarpolitik (wie Anm. 19), S. 145,147 f., 153. Stephan Merl: .Ausrottung" der Bourgeoisie und der Kulaken in Sowjetrußland? Anmerkungen zu einem fragwürdigen Vergleich mit Hitlers Judenvernichtung, in: GG 13 (1987), S. 368-381, hier 372-378. Zit. nach: Manfred Messerschmidt: Nationalsozialismus und Stalinismus. Modernisierung oder Regression? In: Faulenbach/Stadelmaier (Hg.): Diktatur (wie Anm. 7), S. 87-95, hier 90. Zur Interpretation allgemein: Ian Kershaw/Moshe Lewin: Introduction. The regimes and their dictators: perspectives and comparison, in: dies. (Hg.): Stalinism and Nazism. Dictatorship in Comparison. Cambridge 1997, S. 1-25 hier 14 f. Zum Terror 1936-1938: Wadim S. Rogowin: Die Partei der Hingerichteten, Essen 1999; Hildermeier: Geschichte (wie Anm. 13), S. 451-463.

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ral gesteuerte Neuordnung der sozialen Strukturen und Beziehungen durch eine „Revolution von oben", letztlich sogar auf eine „Verstaatlichung der Gesellschaft". In dieser Illusion einer umfassenden Sozialplanierung nahm ein tiefgreifender und umfassender Elitenwechsel einen wichtigen Stellenwert ein. Die Repressionsmaßnahmen richteten sich deshalb in der UdSSR ebensowenig primär gegen ethnische Minderheiten wie in der DDR, sondern vor allem gegen gesellschaftliche Gruppen, die in traditionalen Sozialhierarchien so tief verwurzelt waren, daß sie die Handlungsautonomie der Machthaber begrenzten, ihren Gestaltungswillen einhegten und damit die stalinistische Radikalmodernisierung zu blockieren drohten. Die Destruktion der bestehenden Gesellschaft und die Entmachtung überkommener Führungsgruppen wurden aus der Perspektive der Machteliten in der Sowjetunion zu unabdingbaren Voraussetzungen ihrer Politik, mit der die angestrebte neue politische und soziale Ordnung erzwungen werden sollte. Der Elitenwechsel war damit Korrelat einer weitgespannten Politik der Gesellschaftskonstruktion, die auch auf dem Lande die Zerstörung etablierter dörflicher Institutionen voraussetzte.50 Hinsichtlich ihres sozialrevolutionär-utopischen Gestaltungspotentials, das sich mit einer enormen Zerstörungskraft verband, weisen die Herrschaftssysteme in der Sowjetunion und in der DDR in ihrer hochstalinistischen Phase deutliche Affinitäten auf. Wie die Vernichtung der „Kulaken" und die Verfolgung der „Großbauern" zeigten, überwogen in der Herrschaftspraxw demgegenüber die Unterschiede, denn die politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen konditionierten die Dynamik, die dem Anspruch auf das Herrschaftsmonopol und dem Ziel inhärent war, eine neue Gesellschaft herauszubilden. In der Sowjetunion hatten sich die Bolschewiki durchgesetzt, in der DDR ihre Herrschaft - trotz der deutschen Tradition kommunistischer Politkultur - lediglich implantiert. So blieb die Verdrängung der „Großbauern" eng in den umfassenden Prozeß der politisch-kulturellen „Sowjetisierung"

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Zit. nach (in dieser Reihenfolge): Baberowski: Wandel (wie Anm. 12), S. 107; Johann P. Arnason, Die Moderne als Projekt und Spannungsfeld, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.): Kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1986, S. 278-326, hier 288. Zu Gesellschaftskonstruktion und Elitenwechsel auf dem Lande: Scott: State (wie Anm. 9), S. 203, 214; Stephan Merl: War die Hungersnot von 1929-1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder wurde sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt?, in: Guido Hausmann/Andreas Kappeler (Hg.): Ukraine: Gegenwart und Geschichte eines neuen Staates. Baden-Baden 1993, S. 157, 166; ders.: Agrarpolitik (wie Anm. 19), S. 130, 132 f. Für die DDR: Bauerkämper: Kaderdiktatur (wie Anm. 37), S. 43-45. Allgemein: Schröder: Stalinismus „von unten" (wie Anm. 21), S. 137, 157. Die Vertreibung von Völkern in der UdSSR ist dagegen weniger eine Folge der Gesellschaftskonstruktion, sondern des deutschen Vormarsches im Zweiten Weltkrieg und des damit verbundenen Kollaborationsverdachtes. Vgl. Nikolai Bougai: The Deportation of Peoples in the Soviet Union. New York 1996.

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eingebunden, die in der DDR in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren durchgesetzt oder von der SED selber herbeigeführt wurde.51 Der sich herausbildende ostdeutsche Teilstaat blieb an die deutschland- und weltpolitischen Ziele der östlichen Führungsmacht gekettet, während die UdSSR ihre Politik in den dreißiger Jahren weitgehend autonom bestimmt hatte. Die Vernichtung der „Kulaken" in der Sowjetunion vollzog sich im Schatten von Weltwirtschaftskrise und politischer Radikalisierung in den westlichkapitalistischen Staaten und konnte durch Deportationen in entlegene Regionen verborgen werden. Während der geographische Raum von den Machthabers in der UdSSR genutzt wurde, um soziale und politische Konflikte gewaltsam zu entschärfen, desavouierte die Flucht der „Großbauern" nach Westdeutschland nicht nur die SED-Machthaber, sondern drohte in dem Systemkonflikt des Kalten Krieges auch die deutschland- und weltpolitischen Ziele der Sowjetunion zu diskreditieren. Diese Konstellation ließ zwar eine Repressionspolitik zu, schloß aber eine Massenvernichtung aus. Die sozioökonomischen Führungsgruppen wurden demnach in beiden stalinistischen Diktaturen mit unterschiedlichen Zwangsmitteln aus der ländlichen Gesellschaft disloziert. Die Segregierung und Entmachtung der agrarischen Honoratioren vollzogen sich in der Sowjetunion als Vernichtung, in der DDR dagegen als Verdrängung. Beide Prozesse beleuchten aber scharf eine wichtige Dimension der Herrschaftspraxis und Gesellschaftspolitik in stalinistischen Diktaturen: die Vertreibung als gewaltsame soziale Exklusion.52

Zur „Sowjetisierung" die Beiträge in: Michael Lemke (Hg.): Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ/DDR (1945-1953). Köln 1999. Daneben: ders.: Die Sowjetisierung der SBZ/DDR im ost-westlichen Spannungsfeld, in: APZ, B 6/97,31.1.1997, S. 41-53; Michael Reiman: „Sowjetisierung" und nationale Eigenart in Ostmitteleuropa und Südosteuropa. Zu Problem und Forschungsstand, in: Hans Lemberg (Hg.): Sowjetisches Modell und nationale Prägung. Kontinuität und Wandel in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Marburg 1991, S. 3-9. Zum sowjetischen Einfluß auch der Überblick in: Jan Foitzik: Sowjetische Hegemonie und Kommunismus in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, in: APZ, B 37-38/96, 6.9.1996, S. 2937. Fitzpatrick: Stalinism (wie Anm. 11), S. 217.

.Verantwortliche Arbeit beim Wiederaufbau". Die Vertriebenen und die Formation neuer administrativer Eliten in der SBZ/DDR VON MICHAEL SCHWARTZ

I. Der Anteil von Flüchtlingen und Vertriebenen, die in der SBZ/DDR sprachpolitisch korrekt (wenn auch gesellschaftlich nicht immer effektiv sprachregelnd) als „Umsiedler" bzw. „ehemalige Umsiedler" bezeichnet wurden1, an den nach 1945 neu formierten administrativen Funktionseliten ist schwer zu beziffern. Da das SED-Regime bereits seit 1949/50 aus politischideologischen Gründen darauf verzichtete, gesonderte Umsiedlerstatistiken erheben zu lassen, existieren konkrete Datenerhebungen über den Vertriebenenanteil im öffentlichen Sektor der SBZ/DDR lediglich für die unmittelbare Nachkriegszeit. Auch diese Daten geben nur punktuelle Einblicke, da grundsätzlich mit einer erheblichen personellen Fluktuation im öffentlichen Sektor der sowjetischen Zone gerechnet werden muß, die sich nicht nur der zwischen 1945 und 1947/48 betriebenen "Entnazifizierung" verdankte, sondern ab 1947/48 nahtlos in die politischen Gleichschaltungsbestrebungen der SEDFührung überging, die mehrere Wellen personeller Umbesetzungen im öffentlichen Sektor der SBZ/DDR verursachten. Längerfristige und einigermaßen „dauerhafte" Beobachtungen lassen sich folglich für die eigentliche DDREntwicklung nicht quantifizieren; Annäherungen sind lediglich von mühevoller Detailaufarbeitung sektoraler Personalaktenbestände zu erwarten, obwohl zuweilen auch diese Methode an datenschutzrelevante Grenzen stößt. Insofern scheint es, als werde eine derart elaborierte Vertriebenenforschung, wie sie im

Zum Mißverhältnis von sprachpolitischem Anspruch und seiner Durchsetzung siehe Michael Schwartz: Vom Umsiedler zum Staatsbürger. Totalitäres und Subversives in der Sprachpolitik der SBZ/DDR, in: Dierk Hoffmann/Marita Krauss/Michael Schwartz (Hg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven. München 2000, S. 135-165.

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Michael Schwartz

Bereich der bundesrepublikanischen Funktionseliten existiert, für die SBZ/DDR nicht möglich sein. Angesichts dieser Ausgangslage bleibt der folgende Annäherungsversuch an die Vertriebenen-Integration im öffentlichen Sektor der SBZ/DDR zwangsläufig fragmentarisch. Doch auch Fragmente ermöglichen Erkenntnisgewinn. So dürfte deutlich werden, daß die von der SED sehr früh vertretene These vom konstitutiven Zusammenhang zwischen den allgemeinen Sozialrevolutionären "Umwälzungen" in der SBZ und den dortigen Fortschritten in der Vertriebenenintegration nicht bloße Propaganda gewesen ist. Die vergleichsweise rigorose Entnazifizierung im öffentlichen Dienst der SBZ bewirkte in Verbindung mit der dortigen Abschaffung des Berufsbeamtentums eine Personalfluktuation, die - anders als in den Westzonen - einer nennenswerten Anzahl von Vertriebenen günstige berufliche Chancen zum Neueinstieg oder Wiedereinstieg ermöglichte. Diese günstige Integrationssituation im öffentlichen Dienst der SBZ verdankte sich primär der einseitigen Entnazifizierung alteingesessener und daher im Hinblick auf ihre NS-Vergangenheit überprüfbarer Staatsdiener. Objektive Daten über die politische Vergangenheit von Vertriebenen waren demgegenüber in der SBZ kaum oder nur zufallig (häufig durch Zeugenaussagen SEDnaher Vertriebener) zu erlangen; in der Regel verließen sich die sowjetzonalen Behörden daher bei der Einstellung von Vertriebenen auf deren kaum nachprüfbare Selbstzeugnisse, so daß „eine ganze Reihe von Belasteten und Unbelasteten aus den Reihen der Vertriebenen in den Staats- und Verwaltungsapparat" gelangten.2 Teilweise dürfte die betont rigorose „Entnazifizierung" in der SBZ faktisch kaum mehr als ein landsmannschaftlicher Austausch NS-belasteten Personals gewesen sein. Die SED-Führung war sich über die obskure Vergangenheit eines Teils ihrer vertriebenen Staatsdiener durchaus im klaren. Schon im Sommer 1946 erklärte der mecklenburgische SED-Vorsitzende Carl Moltmann der SMAD maliziös, „unter den 1 Mill.fion] Umsiedlern, von denen natürlich keiner Nazi sein will", falle „die Kontrolle sehr schwer".3 Ausnahmsweise sahen sich Vertriebene durch ihre Vertreibimg einmal in eine gegenüber den Alteingesessenen günstige Wettbewerbsposition versetzt. Eine Alteingesessene aus dem mecklenburgischen Grimmen, deren Ehemann als angeblich „kleiner Pg." unter der Entnazifizierung zu leiden hatte, hatte sich bereits Anfang 1946 erbost an die Reichskonferenz der KPD mit

Wolfgang Meinicke: Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone. Ein kurzer historischer Überblick, in: Alexander v. Plato/Wolfgang Meinicke: Alte Heimat - Neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Berlin 1991, S. 23-81, insb. 78. BAB, DQ 2/1, Bl. 91 ff., insb. 93, ZVAS, Gedächtnisprotokoll der Konferenz der SMAD-Abteilung Arbeitskraft am 11./12.7.46,16.7.46.

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der rhetorischen Frage gewandt: „Jenseits der Oder gab es wohl keine Pgs., trotzdem erwiesen ist, daß 80 Prozent der Erwachsenen in der Partei waren? Ich habe mich stets der Flüchtlinge angenommen und geholfen, so gut ich konnte. Leider muß ich heute feststellen, daß sie zum größten Teil ihr Unwesen treiben. Alle sitzen dick in den Ämtern drin und handeln nicht immer ehrenvoll".4 War dieser Eindruck einer überproportionalen Vertriebenen-Integration in den öffentlichen Dienst der Sowjetzone berechtigt? Im Winter 1946/47 wußte das thüringische Neubürgeramt durchaus von beruflichen Vermittlungsschwierigkeiten für frühere Angestellte unter Vertriebenen zu berichten, die fast sämtlich umgeschult werden müßten, da in ihren alten Berufen keine offenen Stellen verfugbar seien.5 Und noch ein Jahr später, als der Entnazifizierungs-Boom längst abzuflauen begann, galten vertriebene frühere Angestellte und Beamte in Thüringen als schwer vermittelbar, insbesondere wenn sie bereits fortgeschrittenen Alters waren.6 Hing dieses kontinuierliche Unterbringungsproblem in Thüringen womöglich mit einer dort (und ähnlich in Sachsen-Anhalt) zurückhaltenderen Entlassung NS-belasteter alteingesessener Staatsdiener zusammen?7 In Mecklenburg scheint die entnazifizierungsbedingte Personalfluktuation deutlich größer gewesen zu sein: Zwischen Kriegsende und Dezember 1945 wurde die Zahl der in der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommerns beschäftigten alteingesessenen früheren NSDAPMitglieder von mehreren hundert auf zwei heruntergefahren, während das Personalvolumen kontinuierlich gesteigert wurde.8 Der deutliche Zusammenhang zwischen der Entlassung alteingesessener Staatsdiener und der Neueinstellung von Vertriebenen bestätigt die neuerdings vertretene These vom engen Konnex zwischen Desintegration und Neuintegration. Die sowjetisch-einheitssozialistische „Doppelstrategie von Entmachtung und Privilegierung"9 wurde beileibe nicht nur im Bereich der 4

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Zit. nach: Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/46, Band 4: Protokoll der Reichskonferenz der KPD 2./3. März 1946, bearb. von Günter Benser und Hans-Joachim Krusch. München e.a. 1996, S. 430. BAB, DO 2/25, Bl. 76-115, insb. Bl. 105, Ministerium für allgemeine Verwaltung Thüringen, Amt für Neubürger, Jahresbericht für 1946,30.12.46. BAB, DO 2/26, Bl. 1 ff., insb. Bl. 136, Mdl Thüringen, Amt für Neubürger, Jahresbericht für 1947, o.D. Dazu: Wolfgang Meinicke: Die Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1948, in: Rainer Eckert/Alexander v. Plato/Jörn Schüttrumpf (Hg.): Wendezeiten - Zeitenwende. Zur „Entnazifizierung" und „Entstalinisierung". Hamburg 1991, S. 33-52, insb. 42 f. Damian van Melis: Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945-1948. München 1999, S. 83 f. Arnd Bauerkämper/Jürgen Danyel/Peter Hübner: Funktionäre des schaffenden Volkes? Die Führimgsgruppen der DDR als Forschungsproblem, in: Diess./Sabine Roß

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Agrarpolitik verfolgt, wo dieser Zusammenhang zwischen Enteignung früherer Besitzeliten und der Konstitution einer subventionierten Neubauernschicht, die übrigens um 1950 fast zur Hälfte aus Vertriebenen bestand, am bekanntesten sein dürfte. Vertriebene konnten, sofern sie politisch anpassungsbereit waren, von sämtlichen erzwungenen Transformationsprozessen in der Gesellschaft der SBZ/DDR - im Agrarsektor, im Bereich der Großindustrie, aber auch im öffentlichen Dienst - durchaus profitieren.10 Indem die SBZ und die frühe DDR durch politisch gewollte Verdrängung und durch massenhafte Abwanderung („Republikflucht") im Vergleich zur Bundesrepublik in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 zur sozial deutlich mobileren deutschen Teilgesellschaft wurde", öffnete sie den 1945 auf dem Tiefpunkt sozialer Positionierung gestrandeten Vertriebenen vergleichsweise gute soziale Wiedereinstiegschancen, die nicht selten auch außerordentliche Aufstiegschancen waren. Ein Teil der in der SBZ/DDR lebenden Vertriebenen wurde zu einer aktiven Stütze des SED-Regimes, weil er seinen eigenen sozialen Aufstieg untrennbar mit diesem verbunden sah - wie etwa jener dreiundzwanzigjährige SED-Funktionär, der Anfang 1952 einem Westreporter stolz erzählte, „daß er eines Arbeiters Kind sei, aus Schlesien, und unter kapitalistischen Verhältnissen niemals den Aufstieg zum Referenten des [thüringischen] Ministerpräsidenten hätte nehmen können".12 Dieser Zusammenhang zwischen erzwungener Transformation in der SBZ und dortiger Vertriebenenintegration im öffentlichen Dienst wurde im polemischen Systemvergleich mit der Bundesrepublik von der DDR-Politik der fünfziger Jahre ausdrücklich herausgestellt. „Von Anfang an", so der PresseDienst der Ost-CDU 1953, habe man in der DDR im Unterschied zum Westen „in den Umsiedlern keine Flüchtlinge" gesehen, sondern sei „vom ersten Tag an um ihre Seßhaftmachung und dauernde Versorgung bemüht" gewesen. „Durch die Entfernung aller Faschisten aus der Verwaltung" habe man „bewährten antifaschistischen Umsiedlern in den öffentlichen Betrieben verantwortliche Arbeit beim Wiederaufbau der demokratischen Verwaltung gegeben".13 Bereits anläßlich der Verabschiedung des DDR-Gesetzes „zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler" im September 1950 hatte eine

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(Hg.): Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR. Berlin 1997, S. 11-86, insb. 79. Meinicke: Flüchtlinge (wie Anm. 2), S. 78. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1968, S. 453. Erich Kuby: In einem anderen Land - In der Deutschen Demokratischen Republik, in: Frankfurter Hefte 7.1952, S. 417-432, insb. 427. Vgl. Bonner Probleme unter der Lupe. Dichtung und Wahrheit vom „Ministerium für Vertriebene", in: upd [Union-Pressedienst] Nr. 2/3 (Februar 1953), S. 20-22, insb. 20.

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DDR-Propagandabroschüre darauf hingewiesen, wie gut in der DDR bereits „für die ehemaligen Umsiedler gesorgt" worden sei: „Nicht nur nach den geschriebenen Gesetzen, sondern faktisch sind die Bürger in unserer Republik alle gleich. Ob sie bei uns geboren sind oder nicht, ob es sich um die [...] Erreichung irgendeiner Stelle bis in die höchsten Spitzen des Staates und der Wirtschaft [handelt]: kein Alteingesessener hat irgendein Vorrecht." Diese Behauptung, die der realen Lebenssituation vieler Vertriebener Hohn sprach, war gleichwohl nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern wurde mit dem Hinweis zu untermauern versucht, daß Vertriebene bei einem DDRBevölkerungsanteil von 24,2 Prozent innerhalb der politischen Führungselite von Ministern bis zu Gemeindebürgermeistern - einen Anteil von „fast 30 Prozent" stellen würden. Darüber hinaus seien „im Staatsapparat [...] 72.865, bei der Post 8.730, bei der Bahn 35.350 und im Schuldienst 23.411 ehemalige Umsiedler in Stellung". Das bedeute unter Anrechnung von Familienangehörigen, daß insgesamt etwa 600.000 der 4,3 Millionen in der DDR lebenden Vertriebenen „in diesen staatlichen Stellungen [...] Arbeit und Verdienst und damit auch der größte Teil eine Heimat, ein eigenes Heim gefunden" hätten.14 II. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Gesamtkontext des Vertriebenenproblems - insbesondere soweit es die sowjetische Besatzungszone betraf. Die mit der Niederlage des „Dritten Reiches" einsetzende Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa ist zu Recht als eine der größten Massenzwangswanderungen der Geschichte angesprochen worden. Nachdem bereits die vom NS-Regime während des Weltkrieges veranlaßten „Umsiedlungen" sogenannter „Volksdeutscher" Bevölkerungsgruppen - meist aus Osteuropa - zu einer Einwanderung von Hunderttausenden in das damalige „Großdeutsche Reich" gefuhrt hatten, brachten Flucht und Vertreibung kurz vor und mehrere Jahre nach Kriegsende annähernd zwölf Millionen Menschen auf das Gebiet des sehr viel kleiner gewordenen Nachkriegsdeutschland. Die erzwungene Massenmigration bewirkte, daß die deutsche Bevölkerungszahl im Nachkriegsdeutschland trotz hoher Kriegsverluste (von rund 10 Prozent der Gesamtbevölkerung oder cirka 7 Millionen Menschen) gegenüber dem Wert 1939 fast identisch geblieben war. Bezogen auf das verbliebene Territorium (also die jetzige wiedervereinigte Bundesre-

Vgl.: Sie fanden eine neue Heimat, hgg. vom Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, o.O. u.J. [1950], S. 4 f.

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publik) hatte sich somit zwischen 1939 und 1949 die Bevölkerungszahl drastisch erhöht - von knapp 59 Millionen auf nimmehr 68,4 Millionen Menschen. Dabei war der prozentuale Bevölkerungszuwachs in den amerikanischen und britischen Zonen stärker als in der SBZ, wo er 17,9 Prozent betrug und einen Zuwachs von 15,2 Millionen auf 17,9 Millionen Menschen bewirkte; doch erfuhr die SBZ zweifelsohne die stärksten strukturellen Bevölkerungsveränderungen, denn dort zählten 1949 nur noch 75 Prozent der Bevölkerung zur Vorkriegs-Bevölkerung des Jahres 1939. Es war folglich nicht nur eine erhebliche Bevölkerungszunahme, sondern auch eine gravierende Bevölkerungsumschichtung erfolgt.15 Die nach Westen geflüchteten oder vertriebenen Millionen von Menschen, in der SBZ ein volles Viertel der Nachkriegsbevölkerung, wurden zu Zwangseinwanderern im eigenen Land, denn sie kamen zwar als Reichs- oder zumindest als Volksdeutsche, jedoch zugleich als Fremde und als lästige zusätzliche Esser oder berufliche Konkurrenten. Der alltägliche Sprachgebrauch der Bevölkerung in Ost und West präferierte zunächst, wenn er nicht ohnedies in pejorative Stigmatisierungen abglitt, den Terminus des „Flüchtlings". Es markiert die unterschiedliche Zielrichtung der Integrationspolitiken beider entstehenden deutschen Staaten, daß dieser Alltagsbegriff in der Bundesrepublik allmählich durch den „Vertriebenen"-Begriff abgelöst wurde, in der SBZ/DDR hingegen bereits 1945 durch die politisch-administrativ von oben verordnete Sprachregelung des „Umsiedler"-Begriffs überlagert (wenn auch nicht verdrängt) wurde. Wesentlich war hierbei die mit dem Umsiedler-Begriff verknüpfte Deutung von Flucht und Vertreibung als unumkehrbarer Akt, der zugleich eine gleichberechtigte Integration dieser „Umsiedler" in die SBZAufnahmegegellschaft erforderlich machte, um sie so rasch wie möglich zu „ehemaligen Umsiedlern" und zu voll assimilierten „Staatsbürgern" zu machen.16 Diese sprachpolitische Deutung von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung als ebenso schlichte wie endgültige „Umsiedlung" machte eine Verständigung mit Westdeutschland immer schwieriger. Zu Recht stellte die für Propagandaarbeit in der Bundesrepublik geschaffene SEDWestkommission im Herbst 1950 fest: „Der Begriff Umsiedler hat in Westdeutschland einen völlig anderen Inhalt als in der DDR und wird deshalb in unserem Sinne nicht verstanden. Er trifft auch in Westdeutschland nicht zu, weil diese Menschen im Gegensatz zur DDR zwar .ausgesiedelt' aber eben nicht .angesiedelt' wurden."17 Der Bundesrepublik wurde folglich zum VorBAB, DO 2/19, Bl. 225-239, DVdl, Abt. Bevölkerungspolitik: Die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur seit 1939, Mai 1949. Ausführlich: Schwartz: Vom Umsiedler zum Staatsbürger (wie Anm. 1). SAPMO, NY 4062/122, Bl. 334 ff., insb. Bl. 335, SED, Westkommission, Bericht über die Tagung im Nationalrat der NF am 30.9. und 1.10., 2.10.50.

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wurf gemacht, die Flüchtlinge weitgehend in sozialer Not sich selbst zu überlassen, um eine Umverteilung zu Lasten einheimischer Besitzstände zu vermeiden und eine sozial unzufriedene Verfügungsmasse für eine revisionistische Grenzpolitik gegenüber Osteuropa zu erhalten. „Den deutschen Monopolisten liegt [...] daran, daß die Umsiedler in Westdeutschland niemals verschwinden sollen, sie sollen ewig als eine Kaste von Ausgestossenen und Parias erhalten werden".18 Schon bei der Einführung des „Umsiedler"-Begriffs waren dessen sowjetisch-sozialistische Schöpfer bemüht gewesen, zugleich immer schon dessen Ende mitzudenken, das mit dem Erfolg der damit bezeichneten Integrationspolitik zusammenfallen würde. Die lediglich als vorläufig, kurzfristig verstandene besondere „Umsiedlerpolitik" der SBZ/DDR, die möglichst rasch durch vollständige Assimilation der Vertriebenen in ihrer sozialistischen Aufnahmegesellschaft abgelöst werden sollte, kontrastierte je länger, desto stärker mit der ambivalenten, an einer dauerhaften Erhaltung von „Vertriebenenidentität" interessierten Entwicklung in Westdeutschland. Insbesondere die sukzessive Vergrößerung der westdeutschen Vertriebenenzahlen durch die automatische Mitzählung aller nach 1945 geborenen Nachfahren von Vertriebenen und die damit verfolgte Verstetigung der Vertriebenen-Kategorie wurde als „revanchistisch" verworfen. Schon 1947 hatte der für Umsiedlerpolitik zuständige SED-Spitzenpolitiker Paul Merker deshalb gefordert: „Es sollte festgestellt werden, wieviele von den Umsiedlerfamilien sind schon in ein normales Leben hinübergewechselt und deshalb nicht mehr als Umsiedler zu führen, denn die Umsiedler dürfen weder als eine besondere Klasse noch als ein besonderer Stand angesehen werden. Sind sie über den Zustand der Hilfsbedürftigkeit hinweg, sind sie eingebürgert, in ständiger Wohnung und Arbeit oder Versorgung, dann sollten sie auch aus den Umsiedlerstatistiken gestrichen werden".19 Nur wenig später bemühten sich starke Kräfte innerhalb der SED, die Merker zugunsten Ulbrichts in der Vertriebenenpolitik beiseite drängten, darum, die Umsiedler-Terminologie, die Umsiedlerstatistiken und die daran geknüpfte politische Wahrnehmung eines besonderen Vertriebenenproblems in der SBZ/DDR überhaupt fallenzulassen. Zwar hatte die SED-Führung nach heftigen internen Konflikten im November 1948 ausdrücklich die „Weiterführung des Assimilationsprozesses der Umsiedler" beschlossen.20 Gleichwohl zeigten sich im Jahre 1949 immer mehr Zentralbehörden der SBZ darum bemüht, jene

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ThüHStA, Ministerium des Innern 3819, Bl. 88 ff., insb. Bl. 90, Mdl Thüringen Rededisposition für Kreiskonferenzen, o.D., [ca. Herbst 1951], Paul Merker: Die nächsten Schritte zur Lösung des Umsiedlerproblems. Berlin 1947, S. 13 f. SAPMO, DY30/IV2/2.1/248, SED, ZS, Prot. Nr. 130(11) vom 15.11.48, Beschluß zur Weiterführung des Assimilationsprozesses der Umsiedler.

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„Umsiedler", die sich nicht erfolgreich „assimilieren" ließen, einfach aus der zonalen Statistik verschwinden zu lassen und damit als Sonderproblem unkenntlich zu machen.21 Eine besondere Umsiedler-Statistik war nicht nur administrativ lästig, sondern auch politisch mißlich, wenn nicht gar gefährlich, weil sie das Sondergruppenbewußtsein wachhielt und das diesbezügliche Integrationsproblem offenlegte, immer wieder auf das Zurückbleiben von Integrationsresultaten hinter den postulierten Zielen aufmerksam machte und zugleich an uneingelöste Versprechen oder uneinlösbare Forderungen gemahnte. Was in der 1947 formulierten Forderung der SED als statistische Sonderkategorie zwar stetig, aber allmählich und im Einklang mit dem gesellschaftlichen Assimilationsfortschritt hatte abschmelzen sollen, suchte die wachsende Ungeduld der SED im Frühjahr 1949 zu einem radikal beschleunigten Ende zu bringen. Sämtliche Sonderstatistiken über „Umsiedler" wurden durch die Berliner Zentrale mit Wirkung zum April 1949 untersagt.22 Allerdings ließ sich dieses Statistik-Verbot nicht sofort und nicht vollständig durchsetzen. Selbst nachdem das anfangs schwankende Innenressort23 von der zentralen Arbeitsverwaltung im September 1949 auf die Linie festgelegt worden war, „die gesonderte Erfassung f.[ür] Umsiedler hinsichtl.[ich] schulischer und erwerbsmäßiger Unterbringung" als „vollkommen eingestellt" zu betrachten24, gab es fortdauernden Widerspruch nicht nur in den regionalen Instanzen der SMA25, sondern auch in einigen Landesregierungen der SBZ/DDR, die

Hierzu ausführlich: Michael Schwartz: „Apparate" und Kurswechsel: Zur institutionellen und personellen Dynamik von „Umsiedlei"-Integrationspolitik in der SBZ/DDR 1945-1953, in: Dierk Hoffinann/Michael Schwartz (Hg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR. München 1999, S. 105-135. Johannes Hoffinann/Manfred Wille/Wolfgang Meinicke: Flüchtlinge und Vertriebene im Spannungsfeld der SBZ-Nachkriegspolitik, in: Diess. (Hg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Wiesbaden 1993, S. 12-26, insb. 25; dort wird allerdings irrtümlich erklärt, die Statistiken seien bereits 1948 eingestellt worden. BAB, DQ 2/1082, DWK, HVAS, Brack, an DVdl, Abt. Bevölkerungspolitik, 1.8.49; die zentrale Arbeitsverwaltung der SBZ monierte hier widersprüchliche Anweisungen der DVdl zur Umsiedler-Statistik, indem einerseits die DVdl damit einverstanden gewesen sei, „daß eine besondere statistische Erfassung der Umsiedler innerhalb der Arbeitsverwaltung wegfallen kann", andererseits das Arbeitsministerium in SachsenAnhalt im Juli aufgefordert habe, neuerliche Angaben zum Arbeitseinsatz dieser Bevölkerungsgruppe zu machen. Ebenda, handschriftliche Notiz vom 10.9.49 auf dem o.g. Schreiben. BAB, DO 2/33, Bl. 59 f., insb. Bl. 60, DVdl, Abt. Bevölkerungspolitik, Protokoll der Besprechung bei der SMAD am 16.8., 16.8.49; dabei informierte DVdlAbteilungsleiter Büttner den SMAD-Vertreter Balakin am Beispiel Sachsen-Anhalts, „daß die SMA in den Ländern immer noch die veraltete Form der Statistik" forderten, womit jedoch die personell verkleinerten Abteilungen für Bevölkerungspolitik überfordert seien; Balakin zeigte sich hierüber „sehr erstaunt, da die SMA der Länder längst andere Anweisungen erhalten hätten".

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sich nicht ohne weiteres des Maßstabs für die Erfolgskontrolle ihrer Umsiedlerpolitik berauben lassen wollten und sich dabei zuweilen auf sowjetische Rückendeckung beriefen. Schon im Frühjahr 1949 hatte der Leiter des Umsiedleramtes Sachsen-Anhalt, der selbst aus der CSR stammende „antifaschistische Umsiedler" Rudolf Hiebsch (SED), die zentrale Weisimg zur Einstellung der Umsiedlerstatistik durch Ausnahmebestimmungen aufzuweichen versucht.26 Im September lehnte auch die Leiterin der sächsischen Umsiedlerabteilung, die Liberaldemokratin und aus Oberschlesien stammende Ruth Fabisch, mit Rückendeckung ihres SED-Innenministers die von Berlin gewünschte „Vereinfachung der Umsiedler-Statistik" mit der Begründung ab, daß „sie dann ,keine Unterlagen über die Lage der Umsiedler im Land Sachsen mehr erhält". Die DVdl vereinbarte gleichwohl mit dem Statistischen Zentralamt, daß die Umsiedlerabteilung künftig nur noch Transport-Statistiken fuhren sollte.27 Auch nach einem Personalwechsel in den Abteilungsleitungen betrachteten Sachsen-Anhalt und Sachsen im Dezember 1949 dieses Zugeständnis als unzureichend.28 Doch dieser Widerstand einiger couragierter Länderbürokraten gegen die Informationsunterdrückungsund Tabuisierungspolitik der Zentrale hatte nur geringen Erfolg. Im November 1949 hatte das thüringische Arbeitsministerium gegenüber dem vorgesetzten DDR-Ressort darauf beharrt, „da im Rahmen der nach wie vor im Mittelpunkt stehenden Betreuung der Umsiedler die arbeitsmäßige Unterbringung dieses Personenkreises einen wichtigen Platz einnimmt, [...] zumindest die Zahlen der arbeitslosen Umsiedler monatlich zu erfahren".29 Nachdem das Statistische Zentralamt der DDR gegen diesen Vorschlag Einspruch erhoben hatte30, vertrat auch das DDR-Arbeitsministerium den „Standpunkt, daß das Problem der arbeitsmäßigen Unterbringung der Umsiedler nicht durch Ergänzung der Statistiken gelöst wird, sondern durch die Arbeit unserer Ämter und Verwaltungsorgane überhaupt, insbesondere deshalb, weil die Ursachen für die Tatsachen, daß der Anteil an Arbeitslosen bei den Umsiedlern größer ist als bei der Stammbevölkerung, allgemein bekannt sind". Daß innerhalb der DDRRegierung insbesondere dem Arbeitsministerium an der Unterdrückung be-

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BAB, DO 1/8/83, Bl. 76-83, insb. Bl. 83, Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik Sachsen-Anhalt, Abt. Umsiedler, Hiebsch, Denkschrift zum künftigen Arbeitsgebiet der Abt. Bevölkerungspolitik, 9.3.49. DO 2/23, Bl. 147 ff., insb. Bl. 148, DVdl, Abt. Umsiedler, an DVdl, HA Verwaltung, 27.9.49. BAB, DO 1/33291, Mdl DDR, Abt. Bevölkerungspolitik, Protokoll der Länderbesprechung am 12.12.49,21.12.49, S. 9. Ebd., Ministerium für Arbeit und Sozialwesen Thüringen an Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen DDR, 2.11.49. Ebd., Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen DDR an Ministerium für Arbeit und Sozialwesen Thüringen, 4.11.49.

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sonderer Statistiken gelegen zu sein schien, wurde daran deutlich, daß das DDR-Innenministerium den thüringischen Vorschlag „bis zu einem gewissen Grade" unterstützt hatte. Das führte zu dem Kompromißvorschlag, fortan halbjährliche Sonderstatistiken über die Arbeitslosigkeit unter Umsiedlern „im Situationsbericht" zu erheben, wodurch eine formelle Ergänzung des StatistikFormblattes und die dazu notwendige Zustimmung des Statistischen Zentralamtes umgangen werden konnten.31 Davon abgesehen blieb das zentrale Statistikverbot unverändert bestehen. Die Verschleierungspolitik ging in der Folgezeit selbst innerhalb der DDR-Regierung so weit, daß die für Vertriebenenfragen zuständige Abteilung im DDR-Innenministerium über keine aktuellen Bevölkerungsstatistiken mehr verfügte. Als man deshalb im Februar 1951 das Statistische Zentralamt um Auskünfte aus der aktuellen Volks- und Berufszählung von 1950 ersuchte, lehnte dies der Staatssekretär der Staatlichen Plankommission, Bruno Leuschner (SED), unter Hinweis auf das allgemeine Verbot der Informationsweitergabe strikt ab. Den verdutzten Funktionären des Innenministeriums wurde anheimgestellt, über ihren vorgesetzten Minister direkt mit Leuschners Chef, dem stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Heinrich Rau, auf höchster Ebene weiterzuverhandeln.32 Wo Bevölkerungsstatistik eine derart brisante Geheimsache war, wußte bald niemand mehr Bescheid. Weder der zentrale SED-Apparat noch dessen sowjetische Kontrolleure konnten in den fünfziger Jahren noch verläßliches aktuelles Zahlenmaterial zur sozialen Entwicklung der „Umsiedler" in der DDR erhalten. So teilte das DDR-Innenministerium dem ZK der SED im Frühjahr 1952 auf dessen Anfrage mit, über statistische Kenntnisse zum damaligen Vertriebenenanteil in öffentlichen Dienststellen der DDR leider nicht zu verfügen.33 Und im Herbst 1953 mußte dasselbe DDR-Ressort der sowjetischen Hohen Kommission erklären, bereits seit 1949 keinen statistischen Gesamtüberblick über die Vertriebenenfrage mehr zu besitzen. Diese peinliche Ahnungslosigkeit begründete man mit der Standardformel, man habe seinerzeit die besondere statistische Registrierung der Umsiedler deshalb aufgegeben, weil sich gezeigt habe, „daß eine besondere Herausstellung der Umsiedler die Assimilierung erschwert".34

Ebd., Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen DDR, Abt. Statistik, Rundschreiben an alle Landesregierungen, 25.11.49. BAB, DO 1/33276, Staatliche Plankommission DDR, Statistisches Zentralamt, an Ministerium des Innern DDR, Abt. Bevölkerungspolitik, 13.2.51. BAB, DO 1/33267, Mdl DDR, Abt. Bevölkerungspolitik, an SED, ZK, Genossin Köppen, 23.5.52. BAB, DO 2/49, Bl. 139 ff., Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten DDR an Hohe Kommission der UdSSR in Deutschland, 20.10.53, anliegend „Erläuterungen zur Lage der ehemaligen Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik", 20.10.53.

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Diese Unterdrückung der Vertriebenenstatistik erschwert zum Leidwesen des Historikers auch langfristig angelegte sozialgeschichtliche Untersuchungen zur beruflichen Integration Vertriebener in der DDR-Gesellschaft.35 Allerdings gibt es Bruchstücke aus dem frühen Zeitraum zwischen 1945 und 1950, die zumindest einige Beobachtungen und Hypothesen gestatten. Diese sollen am Beispiel des öffentlichen Dienstes in der SBZ/DDR im folgenden formuliert werden. III. Die durch Entnazifizierung bisheriger Staatsbediensteter und den erheblichen Ausbau des öffentlichen Personalkörpers nach 1945 gleichermaßen ermöglichte großzügige Einstellung Vertriebener in die öffentlichen Verwaltungen der SBZ wurde von der SED bereits frühzeitig als integrationspolitischer Erfolg gefeiert. Schon im September 1946 prognostizierte (mitten im damaligen Wahlkampf in der SBZ) ein sozialistischer Funktionär der „Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler" (ZVU)36 im sowjetischen Presseorgan „Tägliche Rundschau", die teilweise noch gegebenen „Schranken" zwischen Umsiedlern und Alteingesessenen würden „mit der Überwindung des äußeren Notstandes der Umsiedler [...] gänzlich verschwinden". Indikator für den prognostizierten Integrationsfortschritt war die wachsende Mitarbeit Vertriebener im öffentlichen Dienst, die im brandenburgischen Kreis Templin angeblich schon eine Quote von 30 Prozent erreicht hatte.37 Es war zufallig derselbe Autor, der unterdessen zum Umsiedlerreferenten des SED-Parteivorstandes aufgestiegene Georg Chwalczyk, der im Februar 1949 im „Neuen Deutschland" diese

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Möglich sind kurzfristige, auf existenten Sonderstatistiken basierende Studien etwa zur Vertriebenenintegration in die Neubauernschaft oder in die Arbeiterschaft; vgl. etwa Arnd Bauerkämper: Von der Bodenreform zur Kollektivierung. Zum Wandel der ländlichen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der DDR 1945-1952, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 119-143; Michael Schwartz: Vertrieben in die Arbeiterschaft: „Umsiedler" als „Arbeiter" in der SBZ/DDR 1945-1952, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde: Arbeiter in der SBZ/DDR. Essen 1999, S. 81-128. Zu dieser Vertriebenen-Zentralverwaltung der SBZ ausführlicher: Manfred Wille: Die Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler - Möglichkeiten und Grenzen ihres Wirkens, in: Ders./Hoffmann/Meinicke: Sie hatten alles verloren (wie Anm. 22), S. 2754; Michael Schwartz: Zwischen Zusammenbruch und Stabilisierung. Zur Ortsbestimmung der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) im politischadministrativen System der SBZ, in: Hartmut Mehringer (Hg.): Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und in der Deutschen Demokratischen Republik. München 1995, S. 43-96. BAB, DO 2/93. Bl. 1, Georg Chwalczyk: Helfende Hände, in: Tägliche Rundschau Nr. 213 vom 13.9.46.

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Beobachtung nochmals akzentuierte: Die „völlige staatsbürgerliche Gleichstellung", die den „Umsiedler zum Staatsbürger" machen sollte, sei in der SBZ bereits vielfach gegeben; etliche Vertriebene wirkten als Volksvertreter oder Funktionäre von Parteien und Massenorganisationen an der Gestaltung des öffentlichen Lebens mit, und „Zehntausende" arbeiteten in den „demokratischen Verwaltungsorganen".38 Auch die brandenburgische Regierung meldete Anfang 1949 optimistisch klingende Einzelbeispiele: Demnach stammten in der kreisfreien Stadt Wittenberge 17,3 Prozent aller kommunalen Angestellten aus Vertriebenenkreisen, im Kreisarbeitsamt waren es sogar 31,3 Prozent.39 Der Vertriebenenanteil in Brandenburg betrug damals etwa 24 Prozent.40 Die thüringische Regierung hatte - bei einem Vertriebenenanteil von 22,8 Prozent im Lande - schon in ihrem Jahresbericht für 1947 die Partizipation der Vertriebenen im öffentlichen Leben als nicht ungünstig dargestellt. Dabei dachte man insbesondere an jene „14.222 Umsiedler", die „in der öffentlichen Verwaltung zum Teil an verantwortlicher Stelle tätig" sein sollten.41 Die Partizipationsquote Vertriebener im öffentlichen Dienst scheint in Mecklenburg besonders hoch gewesen zu sein. Nach Angaben des dortigen Innenministers waren Anfang 1949 von 32.000 Verwaltungsangestellten zwischen 40 und 50 Prozent „Umsiedler"42, womit deren Partizipation in etwa dem dortigen Bevölkerungsanteil (von etwa 44 Prozent) entsprochen hätte. In SED-Funktionärskreisen kursierten damals sogar angebliche Vertriebenenquoten von enormen 52 Prozent an den Beschäftigten der Schweriner Landesregierung43 - ein Wert, der den regionalen Bevölkerungsanteil deutlich überschritten haben würde. Diese nicht ganz eindeutigen statistischen Angaben zu Mecklenburg waren noch vergleichsweise exakt, wenn man sie mit den für ein anderes Land kolportierten Angaben des „Neuen Deutschland" vergleicht, das Anfang 1950 die wenig brauchbare Mitteilung lancierte: „Etwa 20 bis 40 Prozent der Arbeiter und Angestellten der

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Ebenda, Bl. 10, Georg Chwalczyk: Vom Umsiedler zum Staatsbürger, in: Neues Deutschland Nr. 39 vom 16.2.49. BAB, DO 2/22, Bl. 34 ff., insb. Bl. 50, Mdl Brandenburg, Abt. Umsiedler, an SMA Brandenburg, Jahresbericht 1948,17.1.49. Ende 1947 lag er bei 23,7 Prozent der Bevölkerung; vgl. BAB, DO 2/13, Bl. 93. BAB, DO 2/26, Bl. 1 ff., insb. Bl. 147, Mdl Thüringen, Amt für Neubürger, Jahresbericht 1947, o.D. BAB, DO 1-8/83, Bl. 57-73, insb. Bl. 60, DVdl, Protokoll über Landeskonferenz des Mdl Mecklenburg am 1.2.49 in Schwerin, 1.2.49; der Anteil des öffentlichen Dienstes an allen Erwerbstätigen des Landes lag damals bei 14 Prozent; vgl. MLHA, Ministerium für Wirtschaft und Arbeit 207, Ministerium für Wirtschaft Mecklenburg, Bericht des Ministers für Wirtschaft in der Arbeitskonferenz in Rostock am 19.1.1950, o.D., S. 7. BAB, DO 2/36, Bl. 295 ff., insb. Bl. 303, Mdl Thüringen, Protokoll der erweiterten Sitzung der Landeskommission für Neubürger Thüringen am 11.2.49.

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Post, Reichsbahn, der Verwaltungen, Industrie und Landwirtschaft sowie der Freiberufler und Handwerker in Sachsen-Anhalt waren im Jahre 1948 Umsiedler".44 Bezeichnenderweise wurden Verhältniszahlen für die gesamte SBZ/DDR niemals zusammengestellt, geschweige denn veröffentlicht; sie wären deutlich geringer ausgefallen und eigneten sich daher nicht für Propagandazwecke.45 Von einer Integration „der" Vertriebenen in den öffentlichen Dienst schlechthin kann natürlich keine Rede sein. Es gab deutliche regionale und soziale Unterschiede. Wie das DDR-Innenministerium Anfang 1950 resümierte, waren insbesondere SED-nahe „antifaschistische Umsiedler" aus der CSR in öffentliche Verwaltungen der SBZ integriert worden; zwar sei die exakte Herkunft der in den Verwaltungen tätigen Umsiedler nicht mehr feststellbar, doch könne gesagt werden, daß ein großer Prozentsatz der dort tätigen Umsiedler aus der CSR stamme.46 Schon gegen Ende 1946 hatte die ZVU 12 Prozent der erwerbstätigen Sudetendeutschen in öffentlichen Verwaltungen verortet, hingegen nur 7,7 Prozent der erwerbstätigen Vertriebenen aus den zu Polen geschlagenen deutschen Ostgebieten.47 Neben dieses Gefalle der regionalen Herkunft, das im Falle der „Antifa-Umsiedler" zugleich an klare politische Zuverlässigkeitskriterien geknüpft war48, trat als weiteres Differenzierungsmoment das Stadt-Land-Gefälle, das häufig auch ein Bildungsgefälle implizierte. So waren nach Feststellungen der zonalen Innenverwaltung vom Jahresende 1948 etliche vertriebene Stadtbewohner aus Pommern (aus Stettin, Stargard und dergleichen), aber auch Vertriebene aus Industrieregionen der CSR in den mecklenburgischen Landkreis Grimmen gelangt, wo diese „städtischen und meist aktiven Menschen" nun „fast überall als Angestellte etc. in Gemeinden und Kreisverwaltungen, in den öffentlichen Körperschaften und Gesellschaften zu finden" waren.49 In solchen Fällen zog

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„37.000 Umsiedler besuchen die Universitäten", in: Neues Deutschland Nr. 12 vom 14.150, S. 2. In der sächsischen Landesregierung waren 1949 rund 5 Prozent der Mitarbeiter Vertriebene und damit deutlich unterrepräsentiert; vgl. Stefan Donth: Vertriebene und Flüchtlinge in Sachsen 1949-1992. Die Politik der sowjetischen Militäradministration und der SED. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 322. BAB, DO 1/33204, Mdl DDR, Abt. Bevölkerungspolitik Heinze, Bericht über Die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei in die sowjetische Besatzungszone, 21.1.50. BAB, DO 2/58, Bl. 15-19, insb. Bl. 16, ZVU, Georg Chwalczyk: Bericht über Eingliederung der Umsiedler in den Produktionsprozeß, o.D.; dabei ging man von einer Gesamtzahl von rund einer Million erwerbstätigen Vertriebenen aus. Jan Foitzik: Kadertransfer. Der organisierte Einsatz sudetendeutscher Kommunisten in der SBZ 1945/46, in: VfZ 33.1983, S. 308-334. BAB, DO 2/58, Bl. 57-61, DVdl, HAU, Büttner, Denkschrift: Ist eine Binnenwanderung notwendig?, 9.12.48.

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man in Verwaltungskarrieren offenbar an der agrarisch geprägten einheimischen Bevölkerung vorbei. In bestimmten Fachverwaltungen - etwa der Agrar- und Forstwirtschaft war freilich auch das Gegenteil zu beobachten. So stammte jenes knappe Drittel aller Angestellten, das 1946 in der brandenburgischen Agrarverwaltung von Vertriebenen gestellt wurde, im Vergleich zu den einheimischen Kollegen, bei denen der Arbeiterhintergrund häufiger war, überdurchschnittlich oft (wiederum zu einem Drittel) aus Landwirtsfamilien oder hatte (16,5 Prozent dieser Vertriebenen) selbst den Berufeines Landwirts ausgeübt; doch selbst in diesem speziellen Fall verfugten die vertriebenen Verwaltungsangestellten über ein deutlich höheres Bildungsniveau als ihre einheimischen Kollegen.50 An solche Einzelbeobachtungen jedoch die verallgemeinernde These zu knüpfen, daß Vertriebene von den politisch bedingten Säuberungen und Stellenausweitungen im öffentlichen Dienst der SBZ durchweg hätten profitieren können, wäre nicht ohne Einschränkungen zulässig. Es gab auch Diskriminierungstendenzen. Nicht von ungefähr lancierte ein in der Ost-CDU von Vertriebenenfunktionären stammender Entwurf für ein „Umsiedlergesetz" im Sommer 1947 eine Bestimmung, welche die öffentlichen Behörden verpflichten sollte, Vertriebene bei Einstellungen im öffentlichen Dienst, aber auch in anderen beruflichen Sektoren „wie die einheimische Bevölkerung unter den gleichen Voraussetzungen" - also bei gleicher beruflicher Qualifikation „gleichberechtigt zu behandeln".51 Diese Forderung war kein Einzelfall. Schon 1946 hatte ein Breslauer Vertriebener - ebenfalls vergeblich - beim Präsidenten der sowjetzonalen Arbeitsverwaltung den „Erlaß eines Gesetzes zur bevorzugten Einstellung von Umsiedlern und Heimkehrern" gefordert. Dieses Votum ging sehr viel weiter als der spätere CDU-Entwurf, war hier doch von verbindlichen Vertriebenenquoten für alle öffentlichen Verwaltungen und Unternehmen die Rede, wobei die betreffenden Arbeitsplätze notfalls durch Entlassungen freigemacht werden sollten. Die betroffenen Einheimischen könnten schließlich „eher noch eine Spanne der Arbeitslosigkeit überwinden, da sie noch über eine Barsumme verfugen und Sachwerte besitzen". Vor allem for50

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Vertriebene verfügten zu 40 Prozent über Abitur oder Hochschulabschluß gegenüber nur 22,5 Prozent der Einheimischen; vgl. Dierk Hoffinann: „Umsiedler" in den Funktionseliten Brandenburgs 1945-1952. Erste Ergebnisse am Beispiel des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft, in: Manfred Wille (Hg.): 50 Jahre Flucht und Vertreibung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in die Gesellschaften der Westzonen/Bundesrepublik und der SBZ/DDR. Magdeburg 1997, S. 238-248, insb. 246; dieses Projekt des Instituts für Zeitgeschichte München, Außenstelle Berlin, zur Elitenintegration von Vertriebenen in der SBZ/DDR wurde im folgenden wegen unüberwindlicher Quellenprobleme aufgegeben. ACDP, 07/010/1927, Bl. 482 ff., Dr. Lenz an Dertinger, 21.6.47, Anl. 2: Entwurf für ein Umsiedlergesetz, insb. Par. 9.

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derte dieser Vertriebene die grundsätzliche Entlassung sogenannter Doppelverdiener, womit selbstverständlich stets weibliche Erwerbstätige gemeint waren. Im Verwaltungsdienst befindliche Frauen sollten, um Arbeitsplätze für (männliche) Vertriebene zu schaffen, sofort zu 50 Prozent entlassen werden; Ausnahmeregelungen wurden lediglich Kriegerwitwen, „Opfern des Faschismus" (OdF), Kriegsgefangenen- oder Schwerbeschädigtenfrauen zugestanden.52 Allerdings teilten die SED-Arbeitslenker der SBZ diesem entschlossenen Petenten mit, „daß eine ganze Reihe von Fragen nicht so einfach zu lösen sind, wie Sie es sich aus Ihrer Perspektive heraus vorstellen".53 Auf einer im Mai 1947 veranstalteten SED-Landeskonferenz in Sachsen kritisierte ein Vertreter des Kreises Meißen ausdrücklich die fehlende Beteiligung von Umsiedlern im öffentlichen Dienst.54 Später scheint es auch in Sachsen zu vermehrten Einstellungen gekommen zu sein,55 doch erwies sich dieser Fortschritt als äußerst fragwürdig, da lediglich vorübergehend. Jedenfalls befand sich unter den umsiedlerpolitischen Verbesserungsvorschlägen des sächsischen Innenministeriums an die SKK vom Januar 1950 auch die Anregung, gerade die öffentlichen Verwaltungen dürften Vertriebene nicht als erste, sondern (aufgrund der besonderen sozialen Notlage dieser Bevölkerungsgruppe) vielmehr nur als letzte entlassen.56 Im Juli 1950 wiederholte die sächsische Umsiedlerabteilung diese ihre Forderung, daß bei Personalreduzierungen in öffentlichen Verwaltungen „so wenig als möglich Umsiedler zur Entlassung kommen" müßten, da aus zahlreichen Beschwerden hervorging, daß weiterhin das Gegenteil weitverbreitete Realität war.57 Diese Tendenz, die zuletzt Hinzugekommenen oder die am wenigsten Akzeptierten im Falle von Stellenkürzungen als erste wieder in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, verweist auf unterschiedliche zeitliche Konjunkturen von Vertriebenenpartizipation im öffentlichen Dienst. Nachdem seit 1945 der (vom NS-Regime kriegsbedingt stark reduzierte) öffentliche Dienst auf dem Gebiet der SBZ erheblich ausgeweitet worden war58, forderte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) seit Sommer 1948 massiven Stellenabbau, um BAB, DQ 2/2007, Herbert F., Ottendorf, an DVAS, 12.9.46. Ebd., DVAS, Kreil, an Herbert F., Ottendorf, 26.9.46. SäHStA, LRS, Mdl 1017, Bl. 54 ff., insb. Bl. 184, [SED-Landeskonferenz Sachsen, Abt. Arbeit und Sozialpolitik, Dresden-Strehlen am 3.5.47]. 1949 waren 5,1 Prozent der Mitarbeiter der sächsischen Landesregierung Vertriebene; vgl. Donth: Vertriebene (wie Anm. 45), S. 420. BAB, DO 2/23, Bl. 151 ff., insb. Bl. 172, Mdl Sachsen, Abt. Umsiedler, an SKK Dresden, Jahresbericht 1949,10.1.50. SäHStA, LRS, Mdl 304, 9-15, 14, [Mdl] Sachsen, Abt. Umsiedler, Halm, an SKK Dresden, 3.7.50. Torsten Mehlhase: Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg in Sachsen-Anhalt. Ihre Aufnahme und Bestrebungen zur Eingliederung in die Gesellschaft. Münster 1999, S. 178.

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die Explosion der Personalkosten im öffentlichen Dienst zurückzufahren. Nach sowjetischen Angaben war zwischen 1946 und 1948 eine Steigerung der Besoldungsausgaben um 82 Prozent verursacht worden. Dies betraf insbesondere die staatlichen Verwaltungen im engeren Sinne, während die Besoldungsausgaben für Lehrer, Ärzte sowie Verkehrs- und Postangestellte mit 47 Prozent deutlich moderater gestiegen waren. Nach Berechnungen der SMAD waren die Verwaltungsapparate der Länder, Kreise und Gemeinden in der SBZ - obgleich die volle Zahl der bei den Gemeinden Tätigen noch gar nicht enthalten war - im Erhebungszeitraum um 76 Prozent gewachsen - von 108.000 Stellen auf 191.000 Stellen. Im gleichen Zeitraum waren die Mitarbeiterzahlen in den Verwaltungen für Industriefragen, Verkehr, Post- und Fernmeldewesen nur um 30 Prozent gestiegen.59 Der seitdem einsetzende Personalabbau im öffentlichen Dienst wurde von der SED selbstverständlich zu politisch erwünschten Umstrukturierungen und personellen „Säuberungen" genutzt. Vertriebene wurden von dieser öffentlichen Entlassungswelle getroffen, weil sie Vertriebene (und damit Späteingestellte) waren oder weil sie politisch mißliebige Vertriebene waren. So monierte etwa der brandenburgische CDU-Landesvorsitzende Zborowski gegenüber dem Potsdamer SEDInnenminister im Sommer 1948, daß „der durch die Währungsreform erforderliche Personalabbau [...] recht weitgehend CDU-Angehörige" getroffen und zu „erheblichefn] Verschiebungen in der parteipolitischen Zusammensetzung des Personals zu Ungunsten der bisher ohnehin benachteiligten CDU und LDP" im Lande geführt habe. Besonders die Polizei drohte sich infolge dieser Verschlankung zu einem SED-treuen Staat im Staate zu entwickeln, da laut Zborowski durch massive Personalüberprüfungen in allen Kreisen „auch die letzten CDU-Angehörigen aus der Polizei entfernt worden" seien. Bei diesen Überprüfungen seien meist Mitglieder des jeweiligen Kreisvorstandes der SED anwesend gewesen, wodurch „bei fast allen Prüflingen der Eindruck" entstanden sei, „die Polizei sei weitgehend ein Instrument dieser Partei". Zudem seien den zur CDU gehörenden Prüflingen gezielt politische Fragen gestellt worden, die deren Standpunkte erkundeten und den Eindruck vermittelt hätten, „die CDU wäre eine Partei minderen Rechts". Daß nicht zuletzt Vertriebene unter diesen Personalaustausch fallen konnten, machte die verbreitete Fangfrage an die Polizisten deutlich: „Was würden Sie sagen, wenn die OderNeiße-Linie fallen würde?"60 Nach anfanglichem Zögern und Taktieren hatte sich die SED-Führung damals dazu durchgerungen, die 1945 gezogene OderNeiße-Linie als endgültige deutsche Ostgrenze anzuerkennen, was nicht nur

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BAB, C 15/872, Bl. 1-5, SMAD, Finanzverwaltung, Kowal, an DWK, Rau, 21.8.48. BAB, DO 1-7/39, Bl. 20 ff., insb. Bl. 22 f., CDU Brandenburg, Zborowski, an Mdl Brandenburg, Bechler, 10.8.48.

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unter der eigenen Parteibasis, sondern insbesondere unter den in der SBZ lebenden Vertriebenen heftigen Unmut auslöste.61 Ab 1948 spielte das Entnazifizierungsmotiv in der Personalentwicklung der SBZ/DDR keine Rolle mehr, an seine Stelle trat vielmehr das zukunftsgerichtete Loyalitätskriterium gegenüber der SED. Als die "Deutsche Verwaltung des Innern" (DVdl) Ende 1948 der SMAD und Walter Ulbricht meldete, daß sich unter den Angestellten der öffentlichen Verwaltungen in Thüringen rund 40 Prozent ehemalige Nazis befanden62, war dieser Alarmismus nicht mehr allzu bedeutsam. In den Jahren zuvor hatte das Entnazifizierungsmotiv hingegen gerade in den öffentlichen Verwaltungen hohe Priorität besessen, wenn es auch niemals wirklich konsequent umgesetzt worden zu sein scheint. In den alltäglichen Verteilungs-Kleinkriegen, die eben auch um Positionen in der Staatsverwaltung geführt wurden, wurde das Entnazifizierungsmotiv jedoch zum wirkungsvollen, da systemloyalen Verdrängungsargument vertriebener Interessenten gegen alteingesessene Positionsinhaber. Schon 1945/46 häuften sich Beschwerden von Antifa-Umsiedlern aus der CSR, die es nach Thüringen verschlagen hatte, etwa des Inhalts: „Kein einziger Genosse von uns hat bisher eine Neusiedlerstelle bekommen oder sonst irgend eine Anstellung. Dagegen sitzen die ehemaligen Pgs in den Ämtern, bei der Polizei und in den Verwaltungsstellen."63 Auch aus dem ausschließlich von tschechoslowakischen Antifa-Umsiedlern besiedelten Dorf Zinna bei Jüterbog erreichte die zonale Arbeitsverwaltung Mitte 1946 die Klage eines Vertriebenen über bislang immer wieder gescheiterte Versuche, erneut im öffentlichen Dienst tätig zu werden. Denn „im Kreis Luckenwalde scheint der Bedarf [...] voll befriedigt zu sein, obzwar es manchmal den Anschein hat, als ob noch nicht alle Nazis von den Verwaltungsstellen entfernt worden wären. [...] Im Kreis Quedlinburg/Harz, wo eine Einstellungsmöglichkeit besteht, scheitert dies, weil Zuzugsgenehmigungen vom dortigen Landrat [...] nur an Fachkräfte der Industrie erteilt werden". So habe ihm ein Kreissekretär „in herablassendem Ton die Zusage einer Zuzugsgenehmigung für den Fall" gegeben, „daß wir im Hüttenwerk in Thale, im Bergwerk oder einer Ziegelei Hilfsarbeiten annehmen würden". Erbost mobilisierte dieser Antifa-Umsiedler die politisch-korrekte Rhetorik des Antifaschismus: „Daß es Kreissekretäre gibt, die daran interes-

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Hierzu Andreas Malycha: „Wir haben erkannt, dass die Oder-Neiße-Grenze die Friedensgrenze ist". Die SED und die neue Ostgrenze 1945 bis 1951, in: Deutschland Archiv 33.2000, S. 193-207. BAB, DO 1-7/41, Bl. 57. BAB, DO 2/50, Bl. 429, Auszüge aus Beschwerden (oft antifaschistischer) Umsiedler an ZVU, November 1945 bis Mai 1946.

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siert sind, den Zuzug von Verwaltungsfachkräften zu unterbinden, ist begreiflich und bestätigt die Annahme, daß solche Herren getarnte Nazis sind."64 Einer dieser in der SED engagierten Antifa-Umsiedler mobilisierte mit Gleichgesinnten und einem wohlgesonnenen sowjetischen Offizier im Rücken Anfang 1947 in der mecklenburgischen Kreisstadt Malchin eine Vertriebenenbzw. Umsiedlerversammlung (über die korrekte Bezeichnung wurde gestritten), in der etwa 180 Personen aus Malchin und Umgebung zusammenkamen. Der Einberufer, ein anerkanntes „Opfer des Faschismus und Mitglied der SED", erklärte seinen „Leidensgenossen und Leidensgenossinnen": „Wir erkennen unsere Pflichten erst an, wenn wir auch unsere Rechte erhalten haben. Wir Umsiedler sind nicht Menschen zweiter Klasse den Einheimischen gegenüber. Wir lassen uns nicht länger als ,verkommene Flüchtlinge' stiefmütterlich behandeln. Die Altbürger haben die Kriegsschuld genauso abzutragen wie wir." Die Vertriebenen stellten die Hälfte der Kreisbevölkerung und etwa 21 Prozent der Einwohner der Stadt Malchin. Umso unverständlicher war dem Redner das krasse Mißverhältnis ihres Anteils am öffentlichen Dienst, denn auf dem Landratsamt seien nur 26 von 203 Angestellten Vertriebene, auf dem Bürgermeisteramt nur 12 von 69. „Im Geschäftsleben, bei der Reichsbahn, der Post usw. sind es die gleichen Mißstände." Die Versammlung verabschiedete daraufhin eine Entschließung an die Kreisverwaltung und die Parteien, in der eine umfassende Gleichberechtigung der „Umsiedler" gegenüber den Altbürgern gefordert wurde: „Die Umsiedler haben im allgemeinen Aufbau nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte, wenn man ihnen die zwangsweis gewählte neue Heimat nicht verleiden will." Unter den konkreten Forderungen war auch jene nach einer Umsiedlerquote in den Verwaltungen gemäß dem Bevölkerungsanteil. Obwohl die Einberufer der Versammlung aus SED-Kreisen stammten, wurde ihr Initiator am nächsten Tag vom NKWD verhaftet, der auf der Versammlung gegründete „Umsiedler-Verband" polizeilich sofort wieder aufgelöst.65 Die Malchiner SED-Kreisleitung rief dem zum Alleinschuldigen erklärten Vertriebenen-Genossen hinterher, dieser habe binnen kurzem vier verschiedene Stellen im öffentlichen Dienst wieder aufgeben müssen und sei schon „seit längerer Zeit als Querulant bekannt und aufgefallen".66 Solche couragierten Interessenvertreter konnte die mehrheitlich alteingesessene SED nicht brauchen. Im August 1949 reagierte der SED-Vorsitzende und künftige DDRPräsident Wilhelm Pieck auf die Herausforderung des westdeutschen SofortBAB, DQ 2/2007, Richard B„ Dorf Zinna, an ZVAS, 10.6.46. MLHA, MP 623, MP Mecklenburg, Abt. Information, Tiedt, Bericht über die Gründung des Deutschen Umsiedler-Verbandes in Malchin am 5. Januar 1947,10.1.47. MLHA, MfS 802, SED, KV Malchin, an Ministerium fur Sozialwesen Mecklenburg, Rosenträger, 30.1.47.

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hilfegesetzes67 mit einer „großen Umsiedlerkundgebung in Berlin", auf der er die rhetorische Frage „Wer hilft den Umsiedlern?" nicht nur mit einem Verweis auf die sowjetzonale Bodenreform beantwortete, sondern zugleich mit dem Hinweis, in der SBZ habe man „alles getan, den übrigen nicht in der Landwirtschaft tätigen Umsiedlern Beschäftigung in der Industrie, im Gewerbe, Handwerk und Handel sowie in der Verwaltung, Post und Eisenbahn und im Lehrerberuf zu verschaffen". Nach Piecks Angaben waren von damals 2,1 Millionen arbeitspflichtigen Vertriebenen „160.360 in der öffentlichen Verwaltung" tätig.68 Das wären 7,6 Prozent der erwerbsfähigen Vertriebenen in der SBZ gewesen. Eine in dieser Form niemals veröffentlichte, obwohl als Leistungsbilanz der bisherigen Vertriebenenintegration in der SBZ erstellte „UmsiedlerDenkschrift" von SED und DWK von 1949, hatte regierungsintern etwas niedrigere Zahlen genannt: Demnach waren damals insgesamt 140.360 Vertriebene im öffentlichen Dienst der SBZ tätig (also 6,7 Prozent aller erwerbsfähigen Vertriebenen). Etwas mehr als die Hälfte dieser Gruppe (72.865) arbeitete in den eigentlichen Staatsverwaltungen der SBZ, weitere 35.350 als Bedienstete der Bahn, über 23.000 als nach 1945 neu eingestellte Lehrer und schließlich 8700 als Postangestellte.69 Wenn wir die im späteren Statistischen Jahrbuch der DDR70 veröffentlichten Daten für 1950 zugrunde legen, ergibt sich ein im Vergleich zum damaligen Bevölkerungsanteil der Vertriebenen (von über 24 Prozent) in der SBZ/DDR deutlich unterdurchschnittlicher Vertriebenenanteil im öffentlichen Sektor. Die engere „öffentliche Verwaltung" wies bei insgesamt rund 369.000 Beschäftigten im Jahre 1950 einen Vertriebenenanteil von 19,8 Prozent auf, bei insgesamt 254.000 Mitarbeitern der Schienenbahnen ergab sich ein Vertriebenenanteil von 13,9 Prozent, bei insgesamt 84.700 Postmitarbeitem ein Vertriebenenanteil von nur 10,3 Prozent. Der Vertriebenenanteil an der Lehrerschaft der SBZ/DDR läßt sich aufgrund einer undifferenzierten Sammelrubrik „Schule, Bildung, Forschung, Religion" in der DDR-Statistik nicht in ähnlicher Weise berechnen. Wenn wir jedoch der 67

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Mit dem im August 1949 in Kraft getretenen Soforthilfegesetz begann die westdeutsche Lastenausgleichspolitik; vgl. dazu Lutz Wiegand: Der Lastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1985. Frankfurt am Main 1992; Michael Schwartz: Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: Deutschland Archiv 30.1997, S. 177-195; ders.: „Ablenkungsmanöver der Reaktion". Der verhinderte Lastenausgleich in der SBZ/DDR", in: Deutschland Archiv 32.1999, S. 397-409. Wilhelm Pieck: Reden und Aufsätze, Band 2. Berlin 1954, S. 274 und 276. SAPMO, DY30/TV2/13/388, Sekretariat der DWK, Entwurf einer Denkschrift über die bisher erreichten Ergebnisse in der Unterbringung der Umsiedler in Wirtschaft und Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone nach dem Stand vom 1. Juli 1949, S. 6. Statistisches Jahrbuch der DDR 1955, S. 26.

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unveröffentlichten Angabe in der DWK-Denkschnft von 1949 Glauben schenken wollen, wonach 31,8 Prozent aller Lehrer in der SBZ aus Vertriebenenkreisen stammten71, so wäre der Schuldienst ein Bereich des öffentlichen Dienstes der SBZ/DDR gewesen, innerhalb dessen Vertriebene stark überdurchschnittliche Personalanteile zu stellen vermocht hatten. Der Zusammenhang zwischen besonders rigoros betriebener „Entnazifizierung"72 und der Vertriebenen-Integration in dieser Berufsgruppe ist evident. Es dürften die gesellschaftlichen Gruppenkonflikte um diesen Wirkungszusammenhang gewesen sein, die es der SED-Politik ratsam erscheinen ließen, diese Verhältniszahl - im Gegensatz zu den übrigen Zahlenangaben der Denkschrift - nicht zu veröffentlichen, sondern sich in Propagandabroschüren auf die Nennung der absoluten Zahl von 23.411 vertriebenen Lehrkräften zu beschränken.73 Diese Teilinformation reichte aus, um die Partizipationschancen Vertriebener im öffentlichen Sektor der DDR positiv von den in der Bundesrepublik damals noch vorherrschenden Abwehr- und Ausgrenzungsstrategien abzuheben: So resümierte im DDR-Organ „Neue Schule" ein aus dem bayerischen Schuldienst entlassener vertriebener Hilfslehrer verbittert, das „allgemeine Bild im Westen" sei völlig anders als in der DDR, in der Bundesrepublik gebe es „eine bewußte und gewollte Ungleichheit in rechtlicher Hinsicht durch Flüchtlingsgesetzgebung", die Vertriebene effektiv zu Bürgern zweiter Klasse gemacht habe: „Der sogenannte ,Flüchtlingslehrer' erhält, da er in Bayern nur als ,Aushilfslehrer' fungiert, für gleiche Arbeit nur 60 Prozent des Lohnes, den sein beamteter bayerischer Kollege erhält. Das ist ein Musterbeispiel westlicher .Gerechtigkeit', .Humanität', .Demokratie' oder wie man es sonst dort heuchlerisch zu nennen pflegt. Das einzige Recht, das ein noch im Dienste belassener Umsiedlerlehrer hat, ist das Recht auf Arbeitslosigkeit. Er muß gehen, sobald [einheimischer] Ersatz für ihn vorhanden ist."74

SAPMO, DY30/IV2/13/388, DWK, Sekretariat, Entwurf einer Denkschrift über die bisher erreichten Ergebnisse in der Unterbringung der Umsiedler in Wirtschaft und Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone nach dem Stand vom l.Juli 1949, S. 42. Arnd Bauerkämper: Kaderdiktatur und Kadergesellschaft. Politische Herrschaft, Milieubindungen und Wertetraditionalismus im Elitenwechsel in der SBZ/DDR von 1945 bis zu den sechziger Jahren, in: Peter Hübner (Hg.): Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR. Köln e.a. 1999, S. 37-65, insb. 50. Vgl.: Sie fanden eine neue Heimat (wie Anm. 14), S. 6. Johann Fuchs: Als Umsiedlerlehrer in Westdeutschland, in: Die Neue Schule 5.1950, S. 847-849, insb. 847.

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i §5

IV. Führte die mehr oder weniger starke quantitative Partizipation von Vertriebenen im öffentlichen Dienst der SBZ/DDR auch zum Aufstieg in Führungspositionen und damit zur eigentlichen Elitenintegration?75 Diese Frage ist anhand der vorliegenden Informationen am schwierigsten zu beantworten. Die sich bietenden Indizien gestatten kein umfassendes, geschweige denn eindeutiges Bild. In der sächsischen Regierung war beispielsweise 1949 der Vertriebenenanteil in Führungspositionen überdurchschnittlich hoch.76 Doch gab es erhebliche sektorale Unterschiede: Man darf vermuten, daß in entweder neu geschaffenen oder personell besonders stark „gesäuberten" Verwaltungsbereichen die Aufstiegsmöglich-keiten von Vertriebenen deutlich besser waren als in traditionellen und personell zurückhaltender umbesetzten Sektoren des öffentlichen Dienstes. Eine völlig neu geschaffene Bürokratie der SBZ waren naturgemäß die Umsiedlerverwaltungen selbst, die ab 1945 zur Betreuung und Kontrolle des massenhaften Flüchtlings- und Vertriebenenproblems geschaffen worden waren. Man sollte meinen, daß diese Umsiedlerbürokratien ein besonders günstiges Aufstiegsfeld für Vertriebene gewesen seien - freilich unter der Bedingung strikter SED-Konformität, da die KPD/SED von Anfang nahezu alle Leitungspositionen in diesen Behörden okkupierte und auch die Mehrheit der einfachen Verwaltungsmitarbeiter stellte. Bis zum Herbst 1947 waren bereits volle zwei Drittel der ZVU-Belegschaft in der SED organisiert, womit die Umsiedler-Zentralverwaltung die zweithöchste SED-Organisationsquote aller Zentralverwaltungen der sowjetischen Zone aufwies77 und nur noch von der Arbeits- und Sozialverwaltung (77 Prozent) übertroffen wurde; an dritter Stelle folgte die ebenfalls nach 1945 neu geschaffene Zentrale Sequestrierungskommission (64 Prozent). In den regulären Wirtschaftsressorts hingegen war der SED-Anteil an den Belegschaften deutlich niedriger, das eindeutige Schlußlicht bildete die zentrale Justizverwaltung mit ganzen 12 Prozent an SED-Mitgliedern.78 Noch Ende 1950 soll der zentrale Regierungsapparat der

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Positionsanalysen von Funktionseliten stehen im Vordergrund der modernen Eliteforschung; vgl. Bauerkämper/Danyel/Hübner: Funktionäre des schaffenden Volkes? (wie Anm. 9). 7,5 Prozent gegenüber 5,1 Prozent an der gesamten Regierungsbelegschaft, vgl. Donth: Vertriebene (wie Anm. 45), S. 420. BAB, DO 2/3, Bl. 143, und BAB, DO 2/6, Bl. 2; offensichtlich wurden gezielt parteilose Verwaltungsmitarbeiter entlassen. War in der Industrieverwaltung immerhin noch jeder zweite ein SED-Mitglied, betrug der SED-Anteil in der Zentralverwaltung für Handel und Versorgung lediglich 28 Prozent, in der Landwirtschaftsverwaltung 23 Prozent, in der zentralen Finanzverwaltung nur 17 Prozent und in der BrennstoffVerwaltung gar nur 13 Prozent; vgl.

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DDR insgesamt erst zu 56,5 Prozent mit SED-Mitgliedern durchsetzt gewesen sein, von denen wiederum nur 12 Prozent schon vor 1945 der KPD angehört hatten.79 Es gab innerhalb des SED-Funktionärskorps der sowjetzonalen Umsiedlerbürokraten durchaus Tendenzen, sich selbst als gelungene Beispiele für erfolgreiche Vertriebenenintegration im öffentlichen Dienst herauszustellen. So wurde innerhalb der ZVU der Sudetendeutsche Anton Fischbach den vertriebenen Lesern der offiziösen Zeitschrift „Neue Heimat" als Beispiel für einen Aufstieg in sowjetzonale Führungspositionen präsentiert.80 Fischbach, ein aus der CSR emigrierter Kommunist, der während des Zweiten Weltkrieges der tschechoslowakischen Exilarmee in Großbritannien angehört hatte, war Ende 1945 als Referent in die ZVU eingetreten und avancierte 1947/48 nacheinander zum Leiter der Organisations- bzw. der Wirtschaftsabteilung. Weitaus wichtiger war jedoch seine nichtöffentliche Funktion als Vorsitzender der SED-Betriebsgruppe dieser Zentralverwaltung, die ihn zum informellen Mitregenten der ZVU erhob.81 Mit ähnlicher Argumentation verwies Anfang 1948 das thüringische Amt für Neubürger zum Beleg für seine These generell gelungener Vertriebenenintegration in den öffentlichen Verwaltungen gezielt auf sich selbst, denn neun seiner 31 Mitarbeiter (29 Prozent) waren Vertriebene, darunter auch der damalige Amtschef Willy Kalinke im Range eines Ministerialrats, der zugleich als SED-Landtagsabgeordneter und Landesvorsitzender der „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes" ( W N ) fungierte.82 Solche Interpretationen müssen jedoch relativiert werden. Gegenüber den stark identitätsstiftenden Klammern gemeinsamer KPD- und OdFVergangenheit der leitenden SED-Funktionäre in den Umsiedlerverwaltungen erwies sich nämlich die persönliche Zugehörigkeit zur Vertriebenen-Gruppe als weitaus weniger signifikant. Dazu mochte die Tatsache beitragen, daß die von der Parteiarbeit auferlegte und zeitweilig vom NS-Regime erzwungene hochgradige räumliche Mobilität vieler KPD-Funktionäre den ursprünglichen geographischen Heimatbezug zugunsten der Wahlheimat „Partei" ohnehin relativiert hatten - ein Phänomen, wie es auch in der traditionellen deutschen

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BAB, DO 2/6, Bl. 2, Auflistung der SED-Quote des Personals der deutschen Zentralverwaltungen, o.D. [ca. Herbst 1947]. Jens Gieseke: Von der Deutschen Verwaltung des Innern zum Ministerium für Staatssicherheit 1948 bis 1950. Die politische Polizei in den Weichenstellungen der DDRGründung, in: Dierk Hofimann/Hermann Wentker (Hg.): Das letzte Jahr der SBZ. Politische Weichenstellungen und Kontinuitäten im Prozeß der Gründung der DDR. München 2000, S. 133-148, insb. 135. BAB, DO 2/96, Die Neue Heimat. BAB, DO 2/3, Bl. 236. BAB, DO 2/26, Bl. 1 ff., insb. Bl. 147, Mdl Thüringen, Amt für Neubürger, Jahresbericht 1947, o.D.

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Beamtenschaft zugunsten der Wahlheimat „Staat" beobachtet werden konnte. Im übrigen gehörte - ähnlich wie in der Bundesrepublik, wo ebenfalls lediglich ein Teil der Bundesvertriebenenminister selbst der Gruppe der Vertriebenen angehörte - die Mehrheit der ZVU-Führung gar nicht der Bevölkerungsgruppe der „Umsiedler" an: Von den sechs Mitgliedern der diversen ZVU-Präsidien zwischen 1945 und 1948 entstammten lediglich die beiden Vizepräsidenten Michael Tschesno, der 1902 im damals russischen Wilna das Licht der Welt erblickt hatte83, und der 1894 in Breslau geborene Arthur Vogt84 den späteren Vertreibungsgebieten. Die ZVU-Präsidenten Josef Schlaffer und Rudolf Engel besaßen hingegen keine biographischen Verbindungen zu ihrer Klientel. Ähnliches dürfte auch für große Teile der Gründungsbelegschaft der ZVU gegolten haben: Nicht umsonst mußte der selbst aus Osteuropa stammende ZVU-Vizepräsident Tschesno Ende 1945 gegen die ,,falsch[e]", offenbar innerhalb der ZVU weitverbreitete Auffassung polemisieren, daß die Vertriebenen „schlecht und schuld am Kriege" seien und folglich das Schicksal ihrer Vertreibung vollauf verdient hätten.85 Allerdings hatte Walter Ulbricht schon im November 1945 gefordert, in der ZVU verstärkt „antifaschistische Umsiedler" aus der CSR zum Einsatz zu bringen86, was in der Folgezeit auch geschah. Dies diente primär der Verstärkung der kommunistischen Kaderpolitik in der ZVU, führte jedoch beiläufig auch zur Erhöhung des Vertriebenenanteils im Personal der zentralen Umsiedlerverwaltung, eine Entwicklung, die statistisch niemals exakt erfaßt worden zu sein scheint, jedoch mit der 1946/47 erfolgten verstärkten Berufung sudetendeutscher „Antifa-Umsiedler" mit KPC- oder SPC-Vergangenheit als Umsiedlerreferenten diverser SED-Parteigremien parallel lief.87 Auch die schon erwähnte Person des ZVU-Abteilungsleiters und SED-Betriebsgruppenchefs steht für die damit erheblich gesteigerten Karrierechancen sudetendeutscher in der SED organisierter „Antifa-Umsiedler". Dies galt teilweise auch für die Landesumsiedlerämter: Zumindest in Thüringen und Sachsen-Anhalt wurden 1946 sudetendeutsche Antifa-Umsiedler mit deren Leitung betraut, was im Hallenser Fall des SED-Abteilungsleiters Rudolf Hiebsch bis 1949 anhielt. In Thüringen wechselte die Leitung stets zwischen einheimischen und vertriebenen SED-Funktionären, bis der längere Zeit amtierende Vertriebene Willy Kalinke (1947-49) für Kontinuität sorgte. 83 84 85 86 87

BAB, DO 2/3, Bl. 11 ff. Hierzu SAPMO, SgY30/0969. BAB, DO 2/6, Bl. 30 ff., insb. Bl. 30, ZVU, Protokoll der Betriebsversammlung vom 15.12.45. SAPMO, NY 4018/1186, Bl. 2 ff., insb. Bl. 3, KPD, ZK-Sekretariat, Ulbricht, Rundschreiben an alle Sekretariatsmitglieder der KPD, 27.11.45. SAPMO, DY 30/TV2/11/217, Bl. 54, SED, Abt. Personalpolitik, an Gniffke und Dahlem, 19.12.47.

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In den übrigen Landesämtern hielten, soweit und solange sie SED-gefiihrt waren, bis 1949 offensichtlich konstant alteingesessene Funktionäre die Stellung; Vertriebene gelangten erst dann in Leitungspositionen, als die dortige Abteilungsleitung Mitgliedern der bürgerlichen Blockparteien anvertraut wurde dem gebürtigen Schlesier und CDU-Landtagsabgeordneten Kurt Herzog in Mecklenburg kurzfristig 1948, der gebürtigen Oberschlesierin und LDPPolitikerin Ruth Fabisch in Sachsen zwischen 1947 und 1949. Der biographische Vertriebenenhintergrund war in all diesen Fällen keineswegs belanglos. Als sich die SED-Führung 1948/49 nicht nur anschickte, die bisherigen Umsiedlerbürokratien zu „liquidieren", sondern zugleich auch die Notwendigkeit besonderer Vertriebenenpolitik insgesamt in Frage stellte, stemmten sich nicht zufällig gerade jene Chefs von Landesumsiedlerabteilungen, die selbst aus Vertreibungsgebieten stammten, dieser Schlußstrichmentalität vehement entgegen - gleichgültig, ob es sich um bürgerliche oder um SEDVerwaltungsfiinktionäre handelte.88 Solche Eigenwilligkeit behinderte oder verbaute in der Regel eine spätere DDR-Elitenkarriere oder lenkte diese auf Nebengleise wie den Kultursektor. Auch reguläre, traditionell existierende Verwaltungszweige in der SBZ boten Vertriebenen stets dann nicht nur quantitative Partizipationschancen, sondern auch qualitative Aufstiegschancen, sofern ein größerer Austausch oder Ausbau des Personalkörpers anstand. Im Rahmen der „Entnazifizierung" wurden beispielsweise in Thüringen zwischen 1945 und 1948 über 3000 Justizbedienstete entlassen, wobei der Personalaustausch bei Richtern und Staatsanwälten besonders gravierend war. Der damit erzeugte enorme Bedarf an qualifiziertem Personal konnte durch systemtypische Elitebildungsprogramme, etwa die „Volksrichter"-Ausbildung89, nur allmählich und begrenzt kompensiert werden. In den vierziger Jahren mußte man sich daher mit dem personellen Rückgriff entweder auf schon pensionierte, nicht NS-belastete einheimische Juristen (1946 betrug das Durchschnittsalter der thüringischen Richter 63 Jahre) oder auf vertriebene Juristen behelfen, die zumindest von sich behaupteten, nicht NS-belastet zu sein. Im Nachgang fanden sich unter neu eingestellten Vertriebenen-Juristen in Thüringen natürlich ebenfalls einige frühere NSDAP-Mitglieder, „die später wieder entlassen werden mußten, falls sie nicht von der SMATh eine Ausnahmegenehmigung erhielten". Insgesamt

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Die hier dargelegten Beobachtungen werden demnächst in einer umfassenden Arbeit des Verfassers zur „Umsiedlerpolitik" in der SBZ/DDR ausführlich dargelegt und belegt werden. Hierzu Hermann Wentker (Hg.): Volksrichter in der SBZ/DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation. München 1997; leider enthält diese Dokumentation keine näheren Aufschlüsse über etwaige Vertriebenenpartizipation an den ersten Lehrgangsjahrgängen.

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war der Zugang vertriebener Juristen auf Spitzenpositionen der thüringischen Nachkriegsjustiz jedoch beachtlich: 1947 waren fast 40 Prozent der Richter sowie 24 von 42 Staatsanwälten in Thüringen Vertriebene. Am in Gera residierenden thüringischen Oberlandesgericht waren damals fünf Schlesier und ein Sudetendeutscher tätig.90 Auf der anderen Seite hatte die einzige westdeutsche Studie, die sich Mitte der fünfziger Jahre intensiv mit der Situation der Vertriebenen in der SBZ/DDR auseinandersetzte, den Eindruck gewonnen, daß zum damaligen Zeitpunkt Vertriebene im DDR-Justizdienst nur „sehr gering beteiligt" gewesen seien, da sich „der Großteil der heimatvertriebenen Juristen [...] dem zunehmenden Zwang der umgestalteten Justiz durch die Flucht in die Bundesrepublik entzogen" habe.91 Sollte diese sich auf ein Mosaik individueller Berichte stützende These bewahrheiten, so wäre die hohe Repräsentanz von Vertriebenen unter der Justizelite der SBZ ein bloßes Übergangsphänomen gewesen, um im Zuge zunehmenden politischen Konformitätsdrucks durch die nachrückenden, viel stärker SED-konformen Jahrgänge der „Volksrichter" verdrängt zu werden. Letztere sollen „keine Anziehungskraft auf den heimatvertriebenen Nachwuchs" ausgeübt haben.92 Anders verhielt es sich jedoch mit der in der SBZ neu geschaffenen „Volkspolizei", deren Vertriebenenanteil derselben Studie zufolge „wesentlich größer" war als jener der DDR-Richterschaft und auf um die 20 Prozent geschätzt wurde. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren dürfte diese Quote noch weit höher gelegen haben, da „gerade in den Jahren 1945 bis 1949 [...] viele Vertriebene in die Polizei" eintraten, in der sie materielle Vergünstigungen und geordnete Karrierechancen vorfanden.93 In der Volkspolizei trugen diese Vertriebenenzugänge - ebenso wie in der Lehrerschaft der SBZ - erheblich dazu bei, den dort durch Entnazifizierung und/oder Stellenausbau herrschenden „Personalnotstand etwas auszugleichen".94 In der Volkspolizei, für die verläßliche Zahlen fehlen, dürften zahlreiche Vertriebene ebenfalls dazu beigetragen haben, das enorme personelle Wachstum der sowjetzonalen Sicherheitsorgane von rund 22.000 zu Anfang 1946 auf über 83.000 im März 1949 ermöglicht zu haben. Zugleich war allerdings diese Frühphase der Volkspolizei durch „außerordentlich hohe Fluktuation" geprägt, so daß dieser Vertriebenen-,3oom" 90 91 92

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Petra Weber: Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961. München 2000, S. 41-44. Peter-Heinz Seraphim: Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone. Berlin 1954, S. 110. Ebd.; auch Dieter Pohl: Justiz in Brandenburg 1945-1955. Gleichschaltung und Anpassung. München 2001, verweist wiederholt auf die hohe personelle Fluktuation der Justizjuristen. Vgl.: Seraphim: Die Heimatvertriebenen (wie Anm. 91), S. 110. Mehlhase: Flüchtlinge und Vertriebene (wie Anm. 58), S. 179.

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der Frühzeit später abgenommen haben könnte.95 Dennoch scheint der Vertriebenenanteil noch in den fünfziger Jahren beträchtlich geblieben zu sein: Die zeitgenössische westdeutsche Forschung erklärte dies mit den „relativ großen Vergünstigungen", welche insbesondere auf .jugendliche Heimatvertriebene, die ohne Mittel und Familienanhang und vielfach ohne jede andere Berufsausbildung als eine militärische" dastanden, anziehend gewirkt hätten.96 Für einen Teil dieser Vertriebenen bedeutete ihr Einstieg in die Volkspolizei nur eine Übergangsstation für ihre spätere Karriere in der Mitte der fünfziger Jahre geschaffenen „Nationalen Volksarmee" der DDR. Ein jüngst erschienenes biographisches Handbuch über die Generalität und Admiralität der NVA demonstriert die entsprechenden Aufstiegschancen von Vertriebenen in dieser ebenfalls neu geschaffenen Institution, innerhalb derer der Anteil des früheren Offizierskorps der Wehrmacht geringfügiger blieb als in der parallel entstandenen westdeutschen Bundeswehr. Unter den im September 1952 ernannten 28 ersten Generälen und Admirälen der „Kasernierten Volkspolizei", des noch getarnten Vorläufers der NVA, stammte immerhin ein Viertel aus den Vertreibungsgebieten.97 Nur wenige dieser Vertriebenen-Generäle der DDR waren bereits Wehrmachtsoffiziere gewesen: Die prominenteste Ausnahme war zweifellos Arno von Lenski, ein 1893 geborener ostpreußischer Gutsbesitzerssohn und kaiserlicher Berufsoffizier, der als Generalmajor der Wehrmacht 1943 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war und über das „Nationalkomitee Freies Deutschland" (NKFD) später zum Chef der DDRPanzertruppen aufstieg.98 Ebenfalls über das NKFD war ein junger, 1918 im böhmischen Kreis Gablonz geborener Kaufmann, der es im Zweiten Weltkrieg zum Wehrmachts-Leutnant gebracht hatte, zur sozialistischen Sache gestoßen.99 Typischer für vertriebene KVP-Generale der ersten Stunde war jedoch der 1902 in Roßbach geborene Sudetendeutsche Rudolf Dölling, der bereits seit den frühen zwanziger Jahren der KPC angehört hatte, zeitweilig im sowjetischen Exil gelebt und zuletzt als Rundfunkredakteur gearbeitet hatte, um 1945 zunächst in die CSR, 1946 als „Antifa-Umsiedler" in die SBZ überzusiedeln und nach einer Karriere im SED-Parteiapparat schließlich die militärische

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Hierzu allgemein: Richard Bessel: Grenzen des Polizeistaates. Polizei und Gesellschaft in der SBZ und frühen DDR, 1945-1953, in: Ders./Ralph Jessen (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 224252, insb. 229 f. Seraphim: Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone (wie Anm. 91), S. 110. Klaus Froh/Rüdiger Wenzke: Die Generale und Admirale der NVA. Ein biographisches Handbuch. Berlin 2000, S. 295-297; siehe auch die anhand dieser Liste im Gesamtwerk ermittelten biographischen Angaben. Ebd., S. 133 f. Ebd., S. 77 f.

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Laufbahn einzuschlagen.100 Über eine kommunistische Vorkriegsvergangenheit in der CSR verfugten auch andere KVP-Generale, die sich lediglich darin unterschieden, ob sie den Zweiten Weltkrieg in einem NSKonzentrationslager101 oder auf Seiten der Roten Armee102 überlebt hatten.103 Aus Schlesien stammte schließlich der 1920 geborene Heinz Keßler, der als Wehrmachtsüberläufer ins NKFD und in die FDJ gefunden hatte, um seine DDR-Karriere als Armeegeneral und Minister für Nationale Verteidigung zu beschließen.104 Auch unterhalb dieser Gründungs-Generalität boten KVP bzw. NVA jungen Vertriebenen mit ungünstigen Herkunfts- und Ausbildungsvoraussetzungen die Chance zur Offizierslaufbahn und schließlich den Aufstieg in die Generalität. Bereits ein kursorischer Einblick in das erwähnte NVA-Handbuch, der sich auf die 33 Einträge des Buchstabens „B" beschränkt, führt zu acht späteren NVA-Generalen mit Vertriebenenhintergrund; ihr Anteil von 24,2 Prozent an ihrer Zufallsgruppe deckt sich im übrigen mit dem um 1950 gegebenen Bevölkerungsanteil der Vertriebenen in der DDR. Die meisten dieser Gruppe stammten aus kleinen Angestellten- oder aus Arbeiterverhältnissen, ein einziger aus einer Bauernfamilie. Fünf dieser acht verfügten bereits über eine in der Vorkriegszeit erworbene Berufsausbildung: Zwei hatten Arbeiterberufe ergriffen, zwei Kaufmannsberufe, ein weiterer war als kaufmännischer Angestellter ausgebildet worden. Vier dieser acht hatten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst als Landarbeiter durchschlagen müssen; in fünf Fällen zog der Eintritt in die KPD oder SED eine Volkspolizeikarriere nach sich, in einem weiteren Fall war es umgekehrt. Diese durch die Vertreibung aus der Bahn geworfenen jungen Menschen hatten das militärische Karriereangebot des SED-Staates entschlossen genutzt.105 In der Spätzeit der DDR scheint die Attraktivität des Offiziersberufs unter Vertriebenenabkömmlingen nachgelassen zu haben: Unter den vierzehn letzten, noch im Herbst 1989 beförderten NVA-Generalen oder -Admiralen befanden sich noch ganze vier Vertriebene.106 Während die polizeilich-militärische Karriere einen außergewöhnlich guten Zugang für Vertriebene zu Elitepositionen in der DDR ermöglicht zu haben scheint, muß die Situation in den meisten Sektoren des öffentlichen Dienstes 100 101 102 103 104 105 106

Ebd., S. 85 f. Ebd., S. 117. Ebd., S. 135 f. Die Varianten von NS-Haft und anschließendem sowjetischen Exil verbindet das Beispiel in ebd., S. 200. Ebd., S. 122. Ebd., S. 69-81. Ebd., S. 310, und die aufgrund dieser Liste ermittelten biographischen Daten im gesamten Band.

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zurückhaltender beurteilt werden. Dies gilt selbst für die DDR-Lehrerschaft, obwohl dort - ähnlich wie bei der Volkspolizei - überdurchschnittlich viele Vertriebene zu finden waren. Wurden bis 1948 infolge der „Entnazifizierung" rund 28.000 alteingesessene Lehrer wegen NS-Belastung entlassen, so sahen sich bis 1950 gleichzeitig 23.411 Vertriebene als Lehrer neu eingestellt107, die Mitte der fünfziger Jahre etwa 30 Prozent der gesamten DDR-Lehrerschaft ausgemacht haben dürften.108 Daß dieser hohe Anteil von Vertriebenen an der „Neulehrerschaft" der SBZ tatsächlich mit „einem Verzicht auf Fachkompetenz und kulturelles Kapital gleich" zu setzen ist109, läßt sich sicher derart pauschal nicht behaupten. Einzelstichproben weisen daraufhin, daß sich unter den Neulehrern der SBZ durchaus Vertriebene oder bombengeschädigte Evakuierte befanden, die über berufliche Vorerfahrung verfügten110, wenn andererseits auch keineswegs sämtliche früheren Lehrer aus Vertreibungsgebieten den Einstieg in den sowjetzonalen Schuldienst wählten, da unter den Bedingungen der „Zusammenbruchsgesellschaft" zunächst „andere Berufe wegen der Zusatzverpflegungen und Zuweisungen an Mangelwaren lukrativer" schienen.111 Vertriebenenzugänge kompensierten jedenfalls im Schuldienst der SBZ volle 83,6 Prozent aller entnazifizierungsbedingten Entlassungen, während dies im öffentlichen Dienst insgesamt (bei 520.000 Entlassungen Einheimischer und rund 140.360 Neueinstellungen Vertriebener) lediglich zu 27 Prozent der Fall war. Allerdings gab es aus westdeutscher Beobachterperspektive auch in der DDR-Lehrerschaft ein klares Unterschichtungsphänomen für Vertriebene, die „an leitenden Stellen des Schuldienstes, wie Direktoren, Schulräten, Leitern von Lehrergewerkschaften, Referenten in den Aufsichtsbehörden und Kultusministerien, [...] weit weniger stark beteiligt zu sein schienen". Ähnliches galt demnach für die Hochschullehrerschaft der DDR.112 Muß man schon bei einer stark von Vertriebenen gestellten Berufsgruppe wie den Lehrern von einer positionellen Unterschichtung ausgehen, so gilt dies erst recht für jene Sektoren des öffentlichen Dienstes der SBZ/DDR, die über einen traditionell gewachsenen Personalstamm verfügten und diesen trotz der politisch motivierten „Säuberungs"-Wellen der vierziger Jahre im wesentlichen bewahren konnten. Unter den Anfang der fünfziger Jahre aufbereiteten Materialien des DDR-Innenministeriums „über die Einbürgerung der Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik", die das Fehlen aktueller Sta107 108 109 110 111 112

Vgl.: Mehlhase, Flüchtlinge und Vertriebene (wie Anm. 58), S. 178. Seraphim: Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone (wie Anm. 91), S. 112. Peter Hübner: Einleitung: Antielitäre Eliten?, in: Ders. (Hg.): Eliten im Sozialismus. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 9-35, insb. 23 f. Die Fallbeispiele in ThüHStA, Mdl 3879, Bl. 9, und insbesondere in ThüHStA, Mdl 3809. Mehlhase: Flüchtlinge und Vertriebene (wie Anm. 58), S. 179. Ebd.

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tistiken nicht wirklich ausgleichen konnten und meist auf die bis 1949 gesicherten Daten zurückgreifen mußten, befindet sich das Beispiel der Leipziger Stadtverwaltung, in der damals insgesamt 1130 Vertriebene beschäftigt waren; ganze vierzehn derselben waren jedoch als leitende Angestellte tätig, 70 weitere als Sachgebietsleiter oder Sachbearbeiter, 105 als untergeordnete Angestellte, immerhin 38 als Ärzte; 725 Vertriebene jedoch waren als Arbeiter im städtischen Dienst beschäftigt, weitere 318 als medizinisches Pflegepersonal oder in vergleichbaren untergeordneten Tätigkeiten.113 Einen höheren Verallgemeinerungsgrad beansprucht die Behauptung der erwähnten regierungsamtlichen Umsiedler-Denkschrift von 1949, wonach nicht nur in den wirtschaftlichen Hauptverwaltungen der DWK - also den späteren Wirtschaftsressorts der DDR-Regierung - 260 Vertriebene als Angestellte beschäftigt gewesen seien, davon „79 in leitenden und gehobenen Positionen", sondern auch viele der auf 9000 geschätzten vertriebenen Postangestellten der SBZ in leitender Position tätig gewesen seien.114 Eine bereits im Mai 1947 für die ZVU gefertigte Übersicht der Schweriner Oberpostdirektion über den Vertriebenenanteil ihres Personals hatte in dieser Hinsicht weitaus ernüchteradere Resultate präsentiert: Demnach waren von insgesamt 6289 Mitarbeitern dieser OPD 2941 Vertriebene. Die imposante Quote von 46,8 Prozent differenzierte sich jedoch ganz erheblich nach der jeweiligen beruflichen Position, denn von insgesamt 3405 Angestellten waren nur 1280 Vertriebene (37,6 Prozent), während unter den insgesamt 1929 Lohnempfängern (also Arbeitern) hingegen 1319 Vertriebene (über 68 Prozent) auszumachen waren. Von den 1280 Vertriebenen im Angestelltenverhältnis wiederum befanden sich ganze zwei im höheren Dienst, 97 im gehobenen Dienst (als Sachbearbeiter der OPD oder als Vorsteher mittlerer Postämter), 671 im mittleren Dienst (als Vorsteher kleiner Ämter oder einfache Betriebsangestellte) sowie 510 im einfachen Dienst (als Zusteller).115 Und selbst diese sich nach oben hin drastisch verengende Vertriebenenpartizipation im Postdienst war alles andere als selbstverständlich gewesen: Mitte 1946 hatten Vertriebene gegenüber dem SED-Parteivorstand noch geklagt, daß gerade Eisenbahn und Post ehemaligen Bediensteten aus den Ostgebieten die Weiterbeschäftigung

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DO 2/49, Bl. 129-133, insb. Bl. 132, Mdl DDR, Material über die Einbürgerung der Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik unter besonderer Berücksichtigung der Umsiedler aus der CSR, o.D. Auch im DWK-Verwaltungsapparat selbst, dem Nukleus der späteren wirtschaftlichen Ministerien der DDR-Regierung, arbeiteten 260 Umsiedler als Angestellte, davon „79 in leitenden und gehobenen Positionen"; vgl. SAPMO, DY30/TV2/13/388, Entwurf zur Umsiedler-Denkschrift (wie oben), S. 42. Darüber hinaus waren von insgesamt 642 Posthaltem 225 Umsiedler, von insgesamt 313 Nachwuchskräften 117 Umsiedler; vgl. BAB, DO 2/67, Bl. 158, OPD Schwerin an „Umsiedleramt bei der Landesregierung, für Herrn Chwalczyk", 17.5.47.

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verweigerten, jedoch mit alteingesessenen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern äußerst großzügig verfuhren.116 Es muß offenbleiben, ob später Entnazifizierungsmaßnahmen oder zeitweiliger Stellenausbau die 1949 konstatierte größere Vertriebenenpartizipation in diesen Sparten des öffentlichen Dienstes begünstigte. Im übrigen sollte die häufig geschlechtsspezifische Dimension beruflicher Unterschichtung im Falle der Vertriebenen nicht übersehen werden. Die am wenigsten qualifizierten Positionen im öffentlichen Dienst der SBZ/DDR wurden überdurchschnittlich oft von Frauen besetzt. Im Juni 1950 stellte der DDR-Regierungsausschuß zur Förderung der Frauenarbeit fest, daß allein die Reichsbahn damals 20.000 Frauen beschäftigte, die Post sogar rund 100.000 Frauen, davon ein knappes Drittel im Zeitungsvertrieb. Ziel der DDR-Regierung war es, diese weibliche Beschäftigung bei Bahn und Post in der Folgezeit um 50 Prozent zu steigern. Von einer Förderung des beruflichen Aufstiegs war jedoch auf dieser Beratung keine Rede.117 V. Zusammenfassend kann man im Hinblick auf Vertriebenen-Partizipation im öffentlichen Dienst der SBZ und der frühen DDR folgendes vorläufige und vorsichtige Fazit ziehen: In der SBZ/DDR kam es zwischen 1945 und 1955 zu einer nennenswerten Integration von über 140.000 Vertriebenen in den öffentlichen Dienst. Zwar läßt sich die neuerdings erhobene Behauptung nicht klären, ob damit „im Staatsdienst" des entstehenden SED-Regimes „vergleichsweise gute Möglichkeiten für eine Fortsetzung des früheren Berufs" Vertriebener gegeben waren118, doch trifft auf jeden Fall die schon Mitte der fünfziger Jahre aus westdeutscher Sicht zugestandene Feststellung zu, daß sich für Vertriebene im öffentlichen Dienst der SBZ/DDR „berufliche Chancen" (für Wiedereinstiege und Neuanfänge) eröffneten, „die weit über die entsprechenden Möglichkeiten in der Bundesrepublik hinausgehen" dürften.119 Diese größeren Integrations- und Aufstiegschancen Vertriebener im öffentlichen Dienst der SBZ/DDR gingen wesentlich auf zwei strukturelle Trans116 117 118

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BAB, DO 2/4, Bl. 98-106, insb. Bl. 101, Protokoll und Anlagen der SED-Konferenz mit den Umsiedlern aus den Ländern und Provinzen der SBZ am 14.6.46. BAB, DQ 2/1073, Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen DDR, Abt. Planung und Statistik, Aktennotiz zur Förderung der Frauenarbeit, 9.6.50, S. 2 f. Diese Sicht bei Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998, S. 268. Seraphim: Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone (wie Anm. 91), S. 109.

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formationsprozesse zurück: Zum einen auf eine vehemente Personalexpansion des öffentlichen Dienstes, die aus den wachsenden Durchherrschungsansprüchen des politischen Systems gegenüber seiner Gesellschaft resultierte und eine frühe Tendenz zur überbürokratisierten Variante einer Dienstleistungsgesellschaft erkennen ließ; zum zweiten auf eine personelle Umschichtung im Zuge von „Entnazifizierung" und SED-konformen „Säuberungen" der Verwaltungen, die zur Neubesetzung von hunderttausenden Amtsstellen führte. Dabei wies jedoch die Beteiligung von Vertriebenen „erhebliche örtliche und berufliche Unterschiede" auf.120 Regional scheint insbesondere Mecklenburg-Vorpommern - als Folge der Parallelen konsequenter Entnazifizierung, des Verwaltungsausbaus und einer massenhaften Vertriebenenpräsenz - besonders günstige Einstiegsvoraussetzungen geboten zu haben. Sektoral wiesen die am stärksten ausgebauten oder überhaupt neu aufgebauten Berufszweige der öffentlichen Verwaltungen, die zugleich als politisch relevant eingestuft und entsprechend intensiv kontrolliert und „gesäubert" wurden, gute Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten für Vertriebene auf. Deshalb scheinen Vertriebene auf Positionen im Justiz-, Polizei- und Militärdienst der SBZ/DDR weitaus stärker präsent geworden zu sein als etwa bei Post und Bahn. Gerade der Hinweis auf den Justizdienst fuhrt freilich auch zur notwendigen Herausstellung zeitlicher Unterschiede. Insbesondere die frühen Nachkriegsjahre boten (etwa im Justiz- und Schuldienst) Vertriebenen günstige Einstiegsmöglichkeiten, die ab 1948/49 durch die Rückkehr einheimischer Kriegsgefangener und deren berufliche Wiedereinstiege, durch Personalabbau in den Verwaltungen und durch das Nachdrängen SED-konform ausgebildeter junger Jahrgänge teilweise revidiert worden sein dürften. Auf der anderen Seite partizipierten auch viele Vertriebene an der zweiten Welle des jugendlichSED-konformen Verwaltungseinstiegs um 1950, so daß es möglicherweise eher zu einem Generationenaustausch vertriebener Verwaltungsmitarbeiter als zu einem gravierenden Rückgang der Vertriebenenquote insgesamt gekommen sein kann. Auch geschlechtsspezifische Dimensionen dieses Prozesses wären beachtlich, sind allerdings anhand des vorliegenden Materials nur anzudeuten. Hingegen werden die landsmannschaftlichen Unterschiede innerhalb der Vertriebenenpopulation selbst sehr viel greifbarer. So scheint die Minderheit der aus der CSR stammenden Sudetendeutschen, die in der SBZ/DDR lediglich rund 900.000 von insgesamt 4,3 Millionen „Umsiedlern" (21 Prozent) stellte121, quantitativ und insbesondere qualitativ sehr viel besser in den dorti120 121

Ebd. BAB, DO 2/49, Bl. 129-133, Mdl DDR, Material über die Einbürgerung der Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik unter besonderer Berücksichtigung der Umsiedler aus der CSR, o.D. [ca. 1952],

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gen öffentlichen Dienst integriert worden zu sein als die eigentliche Mehrheit der „ostdeutschen" Vertriebenen. Diese Vorrangstellung Sudetendeutscher basierte auf diversen Faktoren: Der höhere Verstädterungs- und Ausbildungsgrad war zweifellos ein struktureller Vorteil, doch hinzu kam die dem SEDRegime wichtige Möglichkeit größerer Kontrolle der NS-Vergangenheiten Sudetendeutscher durch einen höheren Anteil SED-konformer und notfalls auch zur Anzeige von belasteten „Landsleuten" bereiter „Antifa-Umsiedler". Hinzu kam die Sonderrolle dieser „Antifa-Umsiedler" selbst, die unmittelbar nach ihrer privilegierten Übersiedlung in die SBZ zur wichtigen „Kaderreserve" für die an verläßlichen altkommunistischen Mitgliedern rare SED wurden.122 Begreiflicherweise gelang es in der Frühzeit der SBZ/DDR insbesondere solchen sudetendeutschen „Antifa-Umsiedlern", in Elitepositionen des öffentlichen Dienstes im SED-Staat aufzusteigen, bevor seit den fünfziger Jahren ein Nachschub an jungen Vertriebenen das Sozialprofil entsprechend verbreiterte. Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß auch diese , Antifa-Umsiedler" nur in einigen Sektoren der DDR-Administration breitenwirksam und dauerhaft in Führungspositionen aufsteigen konnten. Dies scheint insbesondere für die Kulturpolitik, für den Auswärtigen Dienst123 und für die Polizei- und Militärapparate der DDR, einschließlich der Staatssicherheit, zu gelten.124 In den engsten Führungszirkel der SED-Herrschaft stießen Vertriebene hingegen nur selten vor. Unter den 68 Mitgliedern und Kandidaten des SED-Politbüros zwischen 1949 und 1989 finden sich zwar auch 13 Vertriebene (19,1 Prozent), doch nur wenigen gelang der Durchbruch in den engsten Kreis der Macht: Der Oberschlesier Rudolf Herrnstadt und der Ostpreuße Karl Schirdewan scheiterten in den fünfziger Jahren als Herausforderer des Sachsen Ulbricht, der Pommer Egon Krenz und sein Landsmann Hans Modrow gerieten 1989/90 nur noch zu glücklosen Konkursverwaltern des Saarländers Honecker. Neben dem aus der Neiße-Stadt Guben stammenden Wilhelm Pieck war es vermutlich nur der Stettiner Günter Mittag, der in der SED-Führung als Vertriebener langfristig über wirkliche Macht verfügte. Ansonsten fanden sich Vertriebene eher als „Fachleute" in der zweiten und dritten Reihe der SED-Führung; nicht zufällig waren sie - Aufsteiger der Nachkriegszeit - in den achtziger Jahren im Politbüro am zahlreichsten vertreten.125

Foitzik: Kadertransfer (wie Anm. 48). Man denke an den langjährigen DDR-Außenminister Oskar Fischer. Fallbeispiele bietet - neben der detailliert erörterten NVA-Generalität - auch Foitzik: Kadertransfer (wie Anm. 48). Vgl.: Andreas Herbst/Winfried Ranke/Jürgen Winkler: So funktionierte die DDR, Bd. 2 und 3, Reinbek 1994, anhand der Liste in Band 2, S. 815.

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Auf die auch innerhalb der Vertriebenen selbst gegebenen Differenzierungsund Distanzierungslinien verweist ein aus dem Mai 1948 stammender Eintrag des Zeitzeugen Victor Klemperer, der anläßlich eines Umzuges nach Greifswald mit einem Angestellten des dortigen Wohnungsamtes zu tun bekam. Dieser „erzählte auftauend, er sei Flüchtling aus dem Osten, früher Postinspektor, jetzt hier im Amt, möchte so gern nach Görlitz, erhält keine Erlaubnis. - Warum er sich nicht zum Postdienst melde? ,Mit 68 Jahren? "' Auf Klemperers Erwiderung, er selbst sei nicht jünger und immer noch berufstätig, Fachkräfte in höheren Positionen würden doch gebraucht, erwiderte dieser Vertriebene in einer Mischung aus Verachtung und Resignation mit Blick auf den sowjetzonalen Postdienst: „Da kommt niemand an, das teilt sich die rote Clique."126 Der Einstieg in Elite-Positionen blieb in der Tat immer stärker einer SEDkonformen „roten Clique" vorbehalten, zu der auch Vertriebene Zugang fanden. Jene vielen Vertriebenen jedoch, die den dazu erforderlichen politischen Anpassungsakt nicht leisten wollten, hatten höchstens „im mittleren und gehobenen Verwaltungsdienst" der SBZ/DDR eine Chance, wo sie noch Mitte der fünfziger Jahre „eine beträchtliche Rolle" spielten.127 Diese VertriebenenGroßgruppe, die zwar den Einstieg oder Wiedereinstieg in den öffentlichen Dienst geschafft hatte, aber häufig in untergeordneten Positionen tätig war, differierte sozial und mental offensichtlich erheblich von jener kleineren Vertriebenenminderheit, der ein Aufstieg in wirkliche Elitepositionen in der SBZ/DDR gelang. Auf die Mehrheit der Vertriebenen im Staatsdienst des SED-Regimes war deshalb „politisch" nicht imbedingt Verlaß. Nach seinem Greifswalder Gespräch notierte Klemperer, NS-verfolgter Jude und gerade deshalb trotz seiner bürgerlichen Herkunft überzeugtes Mitglied der KPD/SED, mit Entsetzen: „Der Mann ist Beamter bei uns! Auf wen sich stützen?" Seine Frau habe ihm resigniert erklärt, alles laufe wieder so „wie in der Weimarer Zeit. Wo ist die Republik???"128

Victor Klemperer, „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen". Tagebücher 1945— 1960, Band 1. Berlin 1999, S. 536, Eintrag vom 11. Mai 1948. Seraphim: Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone (wie Anm. 91), S. 109. Klemperer: „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen" (wie Anm. 126), Band 1, S. 536.

Die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa und die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik. Ein Problemaufriss VON MATHIAS BEER

1. Einführung In meinem Beitrag werden zwei Problemlagen angesprochen: die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa nach 1945 und die politischadministrative Elite der Bundesrepublik. Jedes der beiden Themenfelder und die jeweils damit verbundene breite Forschung wirft bereits für sich, auch wenn Definitionsfragen ausgeklammert werden, eine ganze Reihe von Fragen auf. Diese potenzieren sich, sobald die beiden Themen zueinander in Bezug gesetzt werden. Fest steht, dass es sich angesichts der mit der Vertreibung verbundenen Ziele um eine radikale Umsiedlung handelte, von der ohne Ausnahme alle Segmente der Bevölkerung, auch die Führungsschichten betroffen waren. Davon ausgehend kann gefragt werden, wie sich Flucht und Vertreibung auf die ostdeutschen Eliten ausgewirkt haben. Ob dieser Einschnitt zu Veränderungen in der Zusammensetzung der Eliten geführt hat und, wenn ja, zu welchen? Wie die ostdeutschen Eliten in die bundesrepublikanischen Führungsschichten eingegliedert wurden und welche Faktoren dabei forderlich und welche hemmend waren? Ob es zur Herausbildung neuer Eliten im Bereich der Vertriebenen gekommen ist und wie deren Verhältnis zu den alten Eliten aussieht? Es kann aber auch darum gehen, den Anteil, und damit verbunden, den Stellenwert der Flüchtlinge und Vertriebenen an den Führungsschichten der Bundesrepublik zu bestimmen. Aus der breiten Palette der mit dieser Aufzählung bei weitem noch nicht ausgeschöpften möglichen Fragestellungen, die zu einem Grossteil noch der Erforschung harren, soll hier ein Aspekt herausgegriffen werden: Wie haben sich Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ost-Mitteleuropa auf die Struktur der Funktionseliten der frühen Bundesrepublik, verstanden als Inhaber von Positionen, von denen Entscheidungen von gesamtgesellschaftli-

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eher Bedeutung getroffen oder mitbestimmt werden, ausgewirkt und welche Schlüsse lassen sich daraus zum Einfluss der Vertriebenen auf die Herausbildung des neuen Staatswesens ziehen? Im Mittelpunkt steht dabei die politischadministrativen Elite1 der Bundesrepublik, wobei dem Personal aus dem Bereich der obersten Bundesbehörden2 die Aufmerksamkeit gilt. Angaben zu den Eliten der Landesparlamente und Landesregierungen werden nur punktuell herangezogen. Angesichts der schmalen Basis empirisch erhobener Daten und der geringen Zahl von Arbeiten zu diesem für die Geschichte der Bundesrepublik nicht unbedeutenden Themenkomplex kann es sich bei den folgenden Ausfuhrungen um nicht mehr als einen ersten Versuch handeln, die bestehende Forschungslücke aufzuzeigen und das anspruchsvolle Thema anzureißen. Anders ausgedrückt, es werden eher Hypothesen und damit verbunden Forschungsdesiderata formuliert als abgesicherte Thesen präsentiert. Zunächst werden, um die für die folgenden Ausführungen notwendigen inhaltlichen und quantitativen Referenzpunkte zur Verfugung zu haben, die Ereignisse von Evakuierung, Flucht und Vertreibimg und deren Folgen für die westlichen Besatzungszonen und die Bundesrepublik skizziert. Daran schließt sich ein Blick auf die Erträge der Flüchtlings-, Eliten- sowie der zeitgeschichtlichen Forschung für unser Thema und auf die methodischen Probleme an, welche die verfügbaren Quellen und ihre Interpretation aufwerfen. Aufbauend auf diese, wie zu zeigen sein wird, spärliche Grundlage wird dann anhand ausgewählter Beispiele, nach der regionalen Herkunft der politischadministrativen Eliten der frühen Bundesrepublik gefragt und nach dem Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen in unterschiedlichen Segmenten dieser Funktionseliten. Damit verbunden sind drei Thesen. Erstens, dass der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an einigen Segmenten der politischadministrativen Elite der Bundesrepublik zeitweilig höher ist, als der Anteil dieser Gruppen an der Gesamtbevölkerung. Zweitens, dass im Vergleich zu

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Zur Definition des verwendeten Elitebegriffs vgl. Hans-Gerd Schumann: Führungsschicht und FQhrungsgmppen heute. Anmerkungen zu Methodologie-Problemen der deutschen „Elitologie", in: Hanns Hubert Hofmann/Günter Franz: Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 12). Boppard am Rhein 1980, S. 203-218. Wilhelm Weege: Politische Klasse, Elite, Establishment, Führungsgruppen. Ein Überblick über die politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion, in: Thomas Leif/Hans J. Legrand/Ansgar Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand. Bonn/Berlin 1992, S. 35-64. Josef Kölble: Oberste Bundesbehörden (Bundesministerien), in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. von Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Christoph von Unruh. Band 5: Die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1987, S. 174-192; vgl. auch Klaus König: Politiker und Beamte. Zur personellen Differenzierung im Regierungsbereich, in: Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag. Hg. von Karl Dietrich Bracher u.a. Berlin 1992, S. 107-132.

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anderen Schichten der geflüchteten und vertriebenen Bevölkerung, sich die Eingliederung, verstanden als Chancengleichheit zwischen alteingesessener und zugezogener Bevölkerung, im Bereich der politisch-administrativen Eliten aufs Ganze gesehen früher und reibungsloser vollzogen hat. Drittens, dass der quantitative Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der politischadministrativen Elite der Bundesrepublik nicht direkt proportional zu dem Einfluss der Flüchtlinge und Vertriebenen auf das entstehende neue Staatswesen ist. Hinweise auf Faktoren, welche eine solche Entwicklung begünstigt haben könnten, und den daraus sich ergebenden Folgen für die Charakterisierung der politisch-administrativen Elite der frühen Bundesrepublik beschließen die Ausführungen. 2. Hintergrund und Folgen von Evakuierung, Flucht und Vertreibung Schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges setzte in Europa eine Bevölkerungsverschiebung riesigen Ausmaßes ein. In Fortführung und Radikalisierung älterer Traditionen wurden Millionen von Menschen aufgrund zwischenstaatlicher Abkommen umgesiedelt oder zu Opfern willkürlicher staatlicher Verpflanzungsmaßnahmen.3 Dem nationalsozialistischen Deutschland dienten sie als Mittel zur Verwirklichung seiner vom Rassegedanken bestimmten Expansions- und Vernichtungspolitik. Eine dauerhafte Lösung der Minderheitenprobleme in Ost-Mitteleuropa versprachen sich die Alliierten, als sie im Artikel XIII des Potsdamer Abkommens die bis dahin erfolgten wilden Vertreibungen deutscher Bevölkerung sanktionierten und die „ordnungsgemäße Überfuhrung deutscher Bevölkerungsteile" aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Ungarn beschlossen.4 Über das Ausmaß, welches das Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem erreichen würde, waren sich anfangs die Alliierten selbst nicht im klaren. „Last fall, Dazu und zum Folgenden: Eugene M. Kulischer: Europe on the Move. War and Population Changes 1917-1947. New York 1947; Hans Lemberg: „Ethnische Säuberung". Ein Mittel zur Lösung von Nationalitätenproblemen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46 (1992), S. 27-38; ders.: Das Konzept der ethnischen Säuberung im 20. Jahrhundert, in: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hg.): Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945. Essen 1999, S. 485-491; Götz Aly: „Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankflirt am Main 1995 sowie Dan Diner: Kataklysmen. Gedächtnis und Genozid, in: ders.: Das Jahrhundertverstehen. Eine universalhistorische Deutung. Mttnchen 1999, S. 195-248. Wolfgang Benz (Hg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Aktualisierte Neuausgabe. München 1996; Alfred Maurice de Zayas: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen. 6. erw. Aufl. München 1981.

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when the problem was beginning to develop [...], the problem was completely underestimated," stellte rückblickend die fur die Umsiedlung zuständige Abteilung der amerikanischen Militärregierung fest.5 Bei der Volkszählung am 13. September 1950 betrug der Anteil der Vertriebenen und Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik 16,5 Prozent, was in absoluten Zahlen etwa acht Millionen Menschen entspricht.6 Davon kamen etwa zwei Drittel aus den östlichen Provinzen des Reiches, ein Drittel außerhalb der Reichsgrenzen. Tab. 1: Verteilung der Vertriebenen auf die Bundesländer 1950 und 19557 Land Schleswig-Holstein Hamburg Niedersachsen Bremen Nordrhein-Westfalen Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Summe/Durchschnitt

13. September 1950 in Prozent absolut 856.943 33,00 115.981 7,20 1.851.472 27,00 48.183 8,60 1.331.959 10,10 720.583 16,70 152.267 5,10 861.526 13,40 21,20 1.937.297 7.876.211 16,50

31. Dezember 1955 absolut in Prozent 622.200 27,30 187.600 10,50 1.673.600 25,60 81.800 12,80 2.081.400 14,00 811.500 17,70 262.200 7,90 1.207.100 16,90 1.828.800 19,00 8.756.200 17,40

Die Verteilung der Vertriebenen und Flüchtlinge im Bundesgebiet war, anders als es die alliierte Planung vorgesehen hatte, uneinheitlich. Gehörten z.B. in Schleswig-Holstein, das mit Niedersachsen und Bayern zu den Hauptaufnahmeländern zählte, im Schnitt von 100 Personen 33 der Gruppe der Vertriebenen und Flüchtlinge an, so waren es zur gleichen Zeit in Rheinland-Pfalz nur fünf Menschen von Hundert. Im Zuge der Binnenumsiedlungsprogramme in den späten 1940er bis zum Beginn der 1960er Jahre wurde mittels einer behördlich gelenkten Wanderungsbewegung aber auch aufgrund freiwilliger Wanderung das bestehende Ungleichgewicht bei der Verteilung der Flüchtlinge und Vertriebenen auf das Bundesgebiet korrigiert. Gekoppelt mit einem

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Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HSTAS), Mikrofiche RG 260 OMGUS 11-39/1-1. Dazu und zum Folgenden Rüdiger Overmans: Personelle Verluste der deutschen Bevölkerung durch Flucht und Vertreibung, in: Dzieje Najnowsze 26 (1994), Heft 2, S. 51-63; Klaus Mehnert/Heinrich Schulte (Hg.): Deutschland-Jahrbuch. Essen 1949, S. 249-269 sowie Gerhard Reichling: Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Teil 1: Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940-1985. Bonn 1986, S. 28-32. Gerhard Reichling: Die Heimatvertriebenen im Spiegel der Statistik (Schriften des Vereins für Socialpolitik NF. Band 6/m). Berlin 1958, S. 17.

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verstärkten Wohnungsbau8 wurde über eine Million Flüchtlinge und Vertriebener aus den am stärksten belasteten Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern in die anderen Bundesländer, vor allem nach NordrheinWestfalen und Baden-Württemberg umgesiedelt. Bedingt durch den sich verstärkenden Zuzug insbesondere von Flüchtlingen9 aus der DDR und bedingt durch die im Bundesvertriebenengesetz von 1953, in dem eine einheitliche Definition der Begriffe und die Bestimmung festgeschrieben wurde, dass der Vertriebenenstatus vererbbar ist, 10 nahm die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen in den folgenden Jahren weiter zu. Bei der Volkszählung von 1961, der letzten bei der nach dem Flüchtlings- und Vertriebenenstatus gefragt wurde, lag der Anteil der Vertriebenen und Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik bei 21,5 Prozent.11 Schon die wenigen angeführten Daten veranschaulichen, dass zusätzlich zu den anderen durch die Kriegsereignisse Entwurzelten - Kriegsgefangene, Displaced Persons, Evakuierte - Umsiedlung, Flucht und Vertreibimg am Ende des Zweiten Weltkrieges zu demographischen Veränderungen gefuhrt haben, wie sie in der deutschen Geschichte in einem so kurzen Zeitraum bis dahin nicht stattgefunden hatten. 3. Flüchtlinge, Vertriebene und Elitenforschung Neu, wie das Ausmaß der Bevölkerungsverschiebungen, welche der unmittelbaren Nachkriegszeit ihren Stempel aufdrückten und den verordneten demokratischen Neuanfang in der Bundesrepublik mit bestimmten, war auch die Frage, wie deren Folgen in einem besetzten, weitestgehend zerstörten Land, das selbst hungerte und fror, und sich auch deshalb gegen die von den Besatzungsmächten verordnete Assimilation der Flüchtlinge und Vertriebenen wehrte, bewältigt werden konnten. „Die Aufnahme von vielen Tausenden Ausgewiesenen stellt ein großes Experiment dar", meinte damals der Landes-

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Günther Schulz: Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik von 1945 bis 1957 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 20). Düsseldorf 1994. Helge Heydemeyer: Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949-1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 100). Düsseldorf 1994. Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge vom 19. Mai 1953, in: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 22 vom 22. Mai 1953, S. 201-221. Wolfgang Wala: Ost-West-Wanderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Flüchtlinge, Vertriebene und Obersiedler im Spiegel der Statistik, in: Mathias Beer (Hg.): Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945. Sigmaringen 1994, S. 61-75, hier 63-69.

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kommissar für das Flüchtlingswesen in Württemberg-Hohenzollern, Theodor Eschenburg.12 Er war sich nicht sicher, wie es ausgehen würde, und sprach damit aus, was viele dachten. Aber nicht nur für die Politik und die Verwaltung, sondern auch für die Wissenschaft war die Suche nach Antworten auf die Herausforderung durch das Wanderungsgeschehen und deren Folgen eine dringende Aufgabe. „Die Gegenwart", so der Soziologe Eugen Lemberg 1950, „ist voll drängender Probleme. Die Wissenschaft weiß nicht, wo sie zuerst anfangen soll, die Grundlage für ihre Lösung zu schaffen. Damit ist für sie selbst eine unerhörte Zeit angebrochen. Aufgaben, Quellen und Beobachtungsmittel, die sie früher in entlegenen Geschichtsepochen oder bei fremden Naturvölkern suchen musste, sind ihr heute drängend nahe gerückt, ja, sie drohen sie zu überwältigen. Völkerwanderungen unerhörten Ausmaßes vollziehen sich vor unseren Augen!"13 Diese Bestandsaufnahme verband Lemberg mit einem eindringlichen Appell, der in seiner zeitspezifischen Diktion, die Wurzeln der angemahnten Forschung erkennen lässt: „Auf- und Untergang von Völkern, Verschmelzung von Stämmen, Neubildung volkstümlicher Traditionen geschieht täglich um uns und ist an Ort und Stelle zu beobachten. Der Geschichtsforscher, der Soziologe, der Völkerpsychologe, der Volkskundler, sie alle brauchen nur die Augen zu öffnen."14 Es war dies die Geburtsstunde der sogenannten Flüchtlingsforschung. Dabei handelte es sich nicht um eine eigene wissenschaftliche Fachrichtung. Vielmehr bürgerte sich der Begriff als Sammelbezeichnung für alle wissenschaftlichen Disziplinen ein, welche die Erforschimg der Flüchtlingsfrage verband. Während die Historiker ihre Aufmerksamkeit vornehmlich auf die Dokumentation der Ereignisse von Flucht und Vertreibung richteten,15 standen für andere Fächer eher Gegenwartsfragen im Vordergrund. Ging es der Volkskunde16

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Andrea Kühne: Entstehung, Aufbau und Funktion der Flüchtlingsverwaltung in Württemberg-Hohenzollern 1945-1952. Flüchtlingspolitik im Spannungsfeld deutscher und französischer Interessen. Sigmaringen 1999, Dokument Nr. 6, S. 244. Eugen Lemberg/Lothar Krecker: Die Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen. Untersuchungen zum Strukturwandel von Land und Leuten unter dem Einfluss des Vertriebenen-Zustroms. Marburg 1950, Vorwort. Ebd. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bearb. von Theodor Schieder u.a. Hg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 5 Bände, 3 Beihefte. Bonn 1953-1962; vgl. dazu auch Mathias Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteuropa", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 345-389 sowie ders.: Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe, Entstehung, Ergebnis, Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 99-117. Herbert Schwedt: Die Anfänge der volkskundlichen Flüchtlingsforschung im deutschen Südwesten, in: Beer (Hg.), Zur Integration (wie Anm. 11), S. 49-60 sowie Hermann Bausinger: Das Problem der Flüchtlinge und Vertriebenen in den Forschun-

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zunächst in Fortfuhrung älterer Traditionen darum, die sprachlichen und gegenständlichen Ausdrucksformen der Kultur der Neubürger festzuhalten, so wurde unter dem Einfluss der Soziologie schon bald der zunächst auf die Flüchtlinge und Vertriebenen eingeschränkte Blick auf die Folgen der Bevölkerungsverschiebungen für die Gesellschaft insgesamt und damit für die Aufnahmegebiete und die aufnehmende Bevölkerung ausgeweitet. Es wurde nach den Veränderungen gefragt, welche der plötzliche und hohe Bevölkerungsanstieg in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft - Wirtschaft, Sozialstruktur, konfessionelle Gliederung usw. - bewirkte, wie diese vonstatten gingen und welche Ergebnisse sie zeitigten: „Es gibt", schrieb Elisabeth Pfeil 1951, „im Grunde nur ein großes Thema der Flüchtlingsforschung: den Prozess von Ausgliederung und Wiedereingliederung, von Entfugung und neuer Verfugung, von Ent-Setzen und Wiedereinsetzen, von Dissimilierung und Assimilierung zu beobachten und zu erkennen. Man mag die Flüchtlingsfrage wissenschaftlich anpacken, wo man will, letzten Endes ist alle wissenschaftliche Bemühung um sie darauf gerichtet, Licht in diese großen Umwandlungsvorgänge zu bringen."17 Damit sind nur einige der Stichworte genannt, welche die frühe bundesdeutsche Flüchtlingsforschung charakterisieren. Ihre thematische Breite und die ihr eigenen Methoden und Ansätze widerspiegeln sich in dem dreibändigen, 1959 erschienenen Werk „Die Vertriebenen in Westdeutschland".18 Darin werden die Ergebnisse der Statistik vorgestellt und die Aufnahme, Unterbringung einschließlich des Wohnungsbaus aus der Perspektive der entstehenden Flüchtlingsverwaltungen, der Wohlfahrtsverbände und der beiden großen Kirchen thematisiert. Bevölkerung und Wirtschaft bilden die Schwerpunkte des zweiten Bandes, in dem die Bereiche Landwirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Industrie und der Lastenausgleich behandelt werden. Den Schwerpunkt des dritten Bandes bilden schließlich die aufgrund des Bevölkerungszuwachses eingetretenen Veränderungen im kulturellen Bereich, bei den Konfessionen, in der Wissenschaft, der Literatur, der Presse und im Film. Sieht man die dreibändige Studie als Quintessenz der ersten Phase der deutschen Flüchtlingsforschung, so ist sie symptomatisch für die uns hier interessierende Fragestellung: Eliten sind kein Thema. Wenn überhaupt finden sie nur beiläufig Erwähnung, z. B. wenn im Bereich der Kultur von vertriebenen Wissenschaftlern und Schrift-

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gen zur Kultur der unteren Schichten, in: Rainer Schulze u.a. (Hg.): Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit. Hildesheim 1987, S. 180-195. Elisabeth Pfeil: Thema und Wege der deutschen Flüchtlingsforschung (Mitteilungen aus dem Institut für Raumforschung Bonn 6). Bonn 1951, S. 1. Eugen Lemberg/Friedrich Edding (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben. 3 Bände. Kiel 1959.

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stellern die Rede ist. Hinweise zu den vertriebenen Eliten oder zur Rolle von Flüchtlingen und Vertriebenen in der sich herausbildenden politischen und administrativen Führungsschicht der Bundesrepublik sucht man vergebens. Ein solches Fazit ist mit nur geringfügigen Abstrichen auch für die zweite und dritte Phase der deutschen Flüchtlingsforschung zu ziehen. In den sechziger und siebziger Jahren schwand das Interesse an der Flüchtlingsforschung. Neben politischer Opportunität spielte sicher auch eine Rolle, dass sich im Zuge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und der politischen Stabilisierung der Bundesrepublik die in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht oder nicht so schnell für möglich gehaltenen Fortschritte bei der Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen mit Wohnraum und Arbeitsplätzen einstellten. „Die Gründungskrise hatte sich binnen eines Jahrzehnts in einer Hülle von Zufriedenheit und Sekurität aufgelöst."19 Man sprach in Analogie zum Wirtschaftswunder vom Eingliederungswunder.20 Die wenigen in dieser Zeit erschienenen, vorwiegend politikwissenschaftlichen Fragestellungen verpflichteten Studien galten den Vertriebenen- und Flüchtlingsverbänden. Sie konnten z.B. anhand der Untersuchung des Aufbaus, der Struktur und des Wirkens der Vertriebenenverbände und -parteien den zeitweilig nicht unerheblichen Einfluss der Vertriebenen auf zentrale politische Entscheidungsprozesse der Bundesrepublik offenlegen.21 Doch wurden die damit gegebenen Ansatzpunkte, um nach dem Stellenwert der Flüchtlinge und Vertriebenen in der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik zu fragen, in der Folgezeit nicht weiter verfolgt.22 Die in den 1980er Jahren einsetzende neuere Flüchtlingsforschung hat in erheblichem Maß dazu beigetragen, das Integrationswunder, d.h. die schnelle und weitestgehend geräuschlose Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebe-

Hans Günter Hockerts: Integration der Gesellschaft. Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Sozialreform 32 (1986), S. 25—41, hier 40. Mathias Beer: Zur Datierung eines „Wunders". Anmerkungen zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945, in: Banatica. Beiträge zur deutschen Kultur 8 (1991), S. 7-22. Franz Neumann: Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1950-1960. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur einer politischen Interessenpartei (Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft 5). Marburg 1966; Hans Josef Brües: Artikulation und Repräsentation politischer Verbandsinteressen, dargestellt am Beispiel der Vertriebenenorganisationen. Köln 1972 sowie Hans-Jürgen Gaida: Die offiziellen Organe der ostdeutschen Landsmannschaften. Ein Beitrag zur Publizistik der Heimatvertriebenen in Deutschland (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 15). Berlin 1973. Eine Ausnahme bildet die Studie von Michael Freund: Heimatvertriebene und Flüchtlinge in Schleswig-Holstein. Ein Beitrag zu ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung als Bundestags- und Landtagsabgeordnete. Diss. Kiel 1975.

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nen in der bundesdeutschen Gesellschaft als einen Mythos zu entlarven.23 Aber auch sie hat sich, abgesehen von verdienstvollen kleineren Beiträgen, die sich darauf beschränken, den Anteil der Vertriebenen in einzelnen Landtagen und dem Bundestag zu quantifizieren,24 der Frage nach den Folgen von Flucht und Vertreibung für die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik nicht angenommen. Drei Tagungsbände, einer steht für den Anfang der neueren Flüchtlingsforschung, die beiden anderen widerspiegeln den aktuellen Forschungsstand, sind hierfür aufschlussreich. Der 1987 erschienene Band „Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegszeit"25 zog eine Bilanz der bisherigen Forschung und skizzierte Perspektiven für die künftige Forschung, die insbesondere in einer Ausweitung der zeitlichen Perspektive der Untersuchungen, der Erforschung der Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen in der SBZ/DDR und vergleichenden Studien, der Untersuchung der Flüchtlingsverwaltungen, der Aufhebung der üblichen Trennung von Flüchtlingen und Vertriebenen einerseits sowie alteingesessener Bevölkerung andererseits und der Notwendigkeit gesehen wurden, im Rahmen von Mikrostudien die lebensgeschichtliche Perspektive der Eingliederungsvorgänge stärker zu berücksichtigen. Die seither veröffentlichten zahlreichen, zu einem Grossteil der sozialhistorischen Migrationsforschung verpflichteten einschlägigen Studien sind diesen Anregungen gefolgt,26 und an ihnen orientieren sich auch die neueren Veröffentlichungen. Für eine Flüchtlingsforschung in sozialgeschichtlicher Erweiterung plädiert ein jüngst erschienener Tagungsband; eine andere, einer vergleichenden Perspektive verpflichtete Veröffentlichung fragt nach Spezifika der Vertriebeneneingliederung in der SBZ/DDR.27 In bei-

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Paul Lüttinger: Der Mythos der schnellen Integration, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 20-36. Marion Frantzioch: Die Vertriebenen. Hemmnisse und Wege ihrer Integration. Mit einer kommentierten Bibliographie (Schriften zur Kultursoziologie 9). Berlin 1987, S. 143-160, die selbst auf diesbezügliche Defizite hinweist, S. 183 Anm. 527: „Bisher steht noch eine Untersuchung über die Führungsschichten in Vertriebenenorganisationen aus, lässt aber interessante Erkenntnisse über die ,neuen Eliten' im Vergleich zu den alten Elementen erwarten."; Helmut Neubach: Ostdeutsche Abgeordnete im Landtag von Rheinland-Pfalz 1947-1986, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 12 (1986), S. 261-282 sowie ders.: Anteil der Vertriebenen in den Parlamenten und Regierungen, in: 40 Jahre Arbeit für Deutschland - Die Vertriebenen und Flüchtlinge. Hg. von Marion Frantzioch/Odo Ratza/Günter Reichert. Frankfurt am Main/Berlin 1989, S. 153-165. Schulze u.a. (Hg.): Flüchtlinge und Vertriebene (wie Anm. 16). Gertrud Krallert-Sattler: Kommentierte Bibliographie zum Flüchtlings- und Vertriebenenproblem in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und der Schweiz. Wien 1989 sowie Rolf Messerschmidt: Mythos Schmelztiegel! Einige Neuerscheinungen zur „Flüchtlingsforschung" der letzten Jahre, in: Neue Politische Literatur 37 (1992), S. 34-55. Sylvia Schraut/Thomas Grosser (Hg.): Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschafl (Mannheimer Historische Forschungen 11). Mannheim 1996 sowie

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den Sammelbänden sucht man vergebens nach dem Anteil und der Rolle der Flüchtlinge und Vertriebenen bei der Bildung einer neuen politischen und administrativen Führungsschicht, die nach der bedingungslosen Kapitulation mit dem materiellen Wiederaufbau, der politischen und geistigen Neuordnung einherging. Waren und sind die vertriebenen Eliten ebenso wie der Anteil der Vertriebenen an den sich in der Nachkriegsgesellschaft formierenden bundesdeutschen Eliten kein Thema der deutschen Flüchtlingsforschung, vermutlich auch, weil Flucht und Vertreibung in erster Linie mit Bedrohung und Not, beruflicher Abstufung und sozialem Abstieg verbunden werden, so war es für die von der Soziologie und Politikwissenschaft getragenen Eliteforschung28 der frühen Bundesrepublik zumindest ansatzweise eines. In Anlehnung vorwiegend an die bahnbrechenden amerikanischen Studien von Deutsch und Edinger29 interessierten sich Ralf Dahrendorf sowie sein Schüler Wolfgang Zapr 0 und der um ihn gescharte Forscherkreis für die Führungsgruppen in Ost- und Westdeutschland, den Wandel der deutschen Eliten und damit verbunden die Wandlungen der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit insgesamt. Dabei wurde, wie später bei Klaus von Beyme,31 nach der Kontinuität der Eliten, nach ihrem Sozialprofil, nach der Ämter- sowie der Positionsrotation und Zirkulation gefragt. In diesem Zusammenhang wurde bei der Erhebung der empirischen Daten auch der Faktor „Regionale Herkunft" berücksichtigt, wodurch Flüchtlinge und Vertriebene in das Blickfeld der westdeutschen Elitologie gerieten. Die für diese Studien erhobenen Daten und die daraus abgeleiteten Schlüsse können noch heute mit Gewinn herangezogen werden, wenn nach dem Einfluss der Flüchtlinge und Vertriebenen auf und nach ihrem

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Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte, Sondernummer). München 1999. Dietrich Herzog: The Study of Elites in West Germany, in: Max Kaase/Klaus von Beyme (Hg.): Elections & Parties (German Political Studies 3). London/Beverly Hills 1978, S. 243-259 sowie Wolfgang Felben Eliteforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1986. Karl W. Deutsch/Lewis J. Edingen Germany Rejoins the Powers. Mass Opinion, Interest Groups and Elites in Contemporary German Foreign Policy. Stanford 1959; Lewis J. Edingen Post-Totalitarian Leadership: Elites in the German Federal Republic, in: American Political Science Review 54 (I960), S. 58-82; ders.: Continuity and Change in the Background of German Decision-Makers, in: The Western Political Quarterly 14 (1961), S. 17-36. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1968; Wolfgang Zapf: Wandlungen der deutschen Eliten. München 1965 sowie ders. (Hg.): Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht. 2. erw. Aufl. München 1965. Klaus von Beyme: Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland. München 1971.

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Stellenwert in der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik gefragt wird. Im Unterschied zur soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung, in der sich die Elitenforschung spätestens seit den siebziger Jahre etabliert hat und seit den achtziger Jahren eine bis heute andauernde Blüte erlebt, wobei allerdings seit den 1970er Jahren die Kategorien „Flüchtling" und „Vertriebener" so gut wie keine Beachtung mehr finden,32 hat die zeitgeschichtliche Forschung die Eliten insgesamt erst spät entdeckt. Dabei galt das Hauptaugenmerk, wie jenes der bundesdeutschen Zeitgeschichte überhaupt, lange Zeit vorrangig den Eliten der Weimarer Republik, jenen der nationalsozialistischen Zeit und den bestehenden Verbindungen zwischen den beiden.33 Regionale administrative Eliten und insbesondere die Kontinuitätslinien zu den bundesdeutschen Führungsschichten, die gerade als Forschungsobjekt entdeckt werden, haben erst in jüngster Zeit Beachtung gefunden.34 Doch auch bei den in diesem Zusammenhang vorgelegten Studien kommen Flüchtlinge und Vertriebene, wie lange Zeit in der zeitgeschichtlichen Forschung überhaupt, nur am Rande vor. Von größerem Gewinn sind in unserem Zusammenhang Studien wie jene von Rudolf Morsey35, welche sich mit der Personalpolitik im Vorfeld der Gründung der Bundesrepublik und in deren Anfangsjahren beschäftigen, jene zur Personalpolitik einzelner Ministerien, wie zum Beispiel beim Auswärtigen Amt36, oder jene von Udo Wengst37, UlRolf-Peter Lange: Strukturwandlungen der westdeutschen Landesregierungen 19461973. Das politische Führungspersonal der Länder. 2 Bände. Diss. Berlin 1976; Stefan Holl: Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg. Sozialprofil, Rekrutierung, Selbstbild (Tübinger Studien zur Landespolitik und politischen Landeskunde 3). Kehl u.a. 1989; Hans-Georg Wehling (Red.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. von der Landeszentrale für politische Bildimg Baden-Württemberg. Stuttgart u.a. 1990; Hans-Dieter Klingenmann u.a. (Hg.): Politische Klasse und politische Institutionen: Probleme und Perspektiven der Elitenforschung. Opladen 1991 sowie Ursula Hoffinann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik. Opladen 1992. Fritz Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945. Düsseldorf 1979 sowie Martin Broszat/Klaus Schwabe (Hg.): Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg. München 1989. Cornelia Rauh-Kühne/Michael Ruck (Hg.): Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 bis 1952. München 1993 sowie Wilfried Loth/Bernd-A. Rusinek (Hg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Frankfurt am Main 1998. Rudolf Morsey: Personal- und Beamtenpolitik im Übergang von der Bizone zur Bundesverwaltung (1947-1950). Kontinuität oder Neubeginn?, in: ders. (Hg.): Verwaltungsgeschichte. Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele. Berlin 1977, S. 191-238. Hans-Jürgen Döscher: Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität. Berlin 1995. Udo Wengst: Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948-1953. Msseldorf 1983; ders.: Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948-1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland. Düsseldorf 1984.

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rieh Reusch38 und Curt Garner39, die ihr Augenmerk auf die Beamten, die Beamtengesetzgebung und die Beamtenpolitik gerichtet haben. Wie bei der zeitgeschichtlichen Eliteforschung überhaupt steht dabei ein Komplex im Vordergrund: Die Frage nach Kontinuität und Wandel nach Reform und Tradition über 1945 hinaus. Auch wenn diese Studien nicht explizit nach dem uns hier interessierenden Zusammenhang fragen, kommen sie fast zwangsläufig um das Thema „Flüchtlinge und Vertriebene" nicht herum. Der Literaturüberblick zwingt zu einem eher nüchternen und insgesamt gesehen unbefriedigendem Fazit, das zwei Seiten hat. Erstens, trotz einer langjährigen und ertragreichen Flüchtlingsforschung und trotz der Blüte der Elitenforschung und der zeitgeschichtlichen Forschung sind schon die Ergebnisse, die man für die Erörterung eines Teilbereichs des Themenkomplexes „Vertreibimg und Eliten", nämlich der Frage nach dem Zusammenhang von Flucht und Vertreibimg und der Herausbildung der bundesdeutschen politischadministrativen Eliten, heranziehen kann, eher spärlich bemessen. Dies ist zweitens sicher auch auf die weitgehende Abgrenzung der einzelnen Fächer und Forschungsrichtungen zurückzuführen, mit der Folge, dass die Ergebnisse der soziologischen und politikwissenschaftlichen Eliteforschung von der zeitgeschichtlichen Forschung und auch umgekehrt nicht rezipiert worden sind, ja sogar die Erkenntnisse der multidisziplinären Flüchtlingsforschung nur zögerlich Eingang in die zeitgeschichtliche Forschung gefunden haben.

3. Methodische Fragen Die Probleme, vor die man bei der Heranziehung der, wie Klaus von Beyme unterstreicht,40 nur in geringem Umfang vorliegenden empirischen Untersuchungen gestellt wird, liegen in der schmalen Datengrundlage. Hinzu kommt, wie von historischer Seite angemerkt wurde,41 dass das erhobene Datenmaterial zu wenig in Bezug zu den konkreten Umständen und den Bestimmungsfaktoren für die Formierung der deutschen Eliten nach 1945 gesetzt wird.

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Ulrich Reusch: Deutsches Berufsbeamtentum und britische Besatzung. Planung und Politik 1943-1947. Stuttgart 1985. Curt Garner: Public Service Personnel in West Germany in the 1950s: Controversial Policy Decisions and Their Effects on Social Composition, Gender Structure, and the Role of Former Nazis. In: Journal of Social History 29 (1995/96), S. 25-80. von Beyme, Die politische Elite (wie Anm. 31), S. 15: „Jede Studie über die politische Elite in der Bundesrepublik muss davon ausgehen, dass nicht einmal über die wichtigsten Entscheidungen hinreichende empirische Untersuchungen vorliegen." Ulrich Zelinsky: Bedingungen und Probleme der Neubildung von Führungsgruppen in Deutschland 1945-1949. In: Josef Becker u.a. (Hg.): Vorgeschichte der Bundesrepublik. Zwischen Kapitulation und Grundgesetz. München 1979, S. 217-233, hier 218.

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Darüber hinaus werfen die durch Quantifizierung erstellten Datensätze und die Interpretation der so ermittelten Werte Fragen grundsätzlicher Art auf, von denen zumindest einige näher betrachtet werden sollen. Bei der Bestimmung der regionalen Herkunft von Personen, die einer bestimmten Elite zugerechnet werden können, wird in der Regel der Geburtsort einer Person zugrunde gelegt. Dieses auf den ersten Blick überzeugende Kriterium, das sicher auch deshalb herangezogen wird, weil es am einfachsten zu recherchieren ist, erweist sich bei genauerer Betrachtung als äußerst problematisch. Es misst nämlich dem Ort, an dem eine Person rein zufällig geboren wurde, einen absoluten und damit ausschließenden Wert zu. Der nur vorübergehende Aufenthalt am Geburtsort und damit verbunden die Sozialisation der betreffenden Person in einem anderen sozialen Umfeld und andere Variablen bleiben dabei unberücksichtigt. Dieses kann, abgesehen von anderen, noch zu besprechenden Faktoren, dazu führen, dass es gerade bei den in der Regel geringen Werten der absoluten Zahlen zu erheblichen Verzerrungen bei prozentualen Angaben kommt.42 Verdeutlichen lässt sich das an der Biographie zweier Bundesminister. Der eine ist der langjährige Wirtschaftsministers Karl Schiller. Bei dem in Breslau geborenen und in Kiel aufgewachsenen Politiker, dessen Vater aus Köln stammt, kann, wie er selbst schrieb, aufgrund des nur relativ kurzen Aufenthalts der Familie in Schlesien von keinen wirklichen Verbindungen zum Geburtsort und damit dem Herkunftsgebiet ausgegangen werden: „Das gehört wohl zu den Zufälligkeiten des Lebens."43 Karl Schiller wird deshalb in einer einschlägigen Studie nicht zu den Schlesiern im deutschen Bundestag gezählt, erscheint aber aufgrund seines Geburtsortes in allen Aufstellungen zur Herkunft von Bundespolitikern als aus dem Gebiet östlich der Oder und Neiße stammend. Nahezu umgekehrt verhält es sich mit Theodor Oberländer, dem am längsten amtierenden Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.44 1905 im thüringischen Meinigen geboren, ist seine Biographie, sein wissenschaftliches und politisches Wirken spätestens seit seiner Promotion in Königsberg eng mit dem deutschen Osten verbunden. Es bildete auch die Grundlage für die politische Karriere Oberländers nach 1945, die als Abgeordneter des Bayerischen Landtags begann, über das Amt des Staatssekretärs für Flüchtlingsfragen in Bayern zur Übernahme des Vertriebenenministeriums führte und im Mai 1960 aufgrund seiner NSVergangenheit jäh beendet wurde. Theodor Oberländer gehört ohne Zweifel zu

Otto Kirchheimer. The Composition of the German Bundestag, 1950. In: The Western Political Quarterly 3 (1950), S. 590-601, hier 593 f. Helmut Neubach: Von Paul Löbe bis Heinrich Windelen. Die Schlesier im Deutschen Bundestag 1949-1984. In: Ders., Hans-Ludwig Abmeier (Hg.): Für unser Schlesien. Festschrift fflr Herbert Hupka. München 1985, S. 89, Anm. 32. Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen (wie Anm. 21), S. 430.

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den profiliertesten Vertretern der Vertriebenen in der politisch-administrativen Elite der frühen Bundesrepublik, auch wenn sein Geburtsort nicht östlich der Oder-Neiße-Linie liegt. Die Probleme, welche die Datengrundlage einer Erhebung mit sich bringt, die nur den Geburtsort berücksichtigt, zeigt ein weiteres Beispiel. Im April 1950 wurde eine Erhebung durchgeführt, die das Ziel hatte, die Verteilung der Beamten und Angestellten aus den einzelnen Ländern bei den obersten Bundesbehörden zu ermitteln.45 Weil keine einheitliche Meinung darüber vorlag, was nach Artikel 36 des Grundgesetzes, der eine ausgewogene Beteiligung aller Länder an der Bundesverwaltung vorschrieb, unter „Länder" zu verstehen war, wurde sowohl nach dem letzen Wohnort vor der Einstellung in den zonalen, bizonalen oder Bundesdienst, als auch nach dem Geburtsort gefragt, ohne dass die davon erwartete Klarheit erzielt worden wäre. Nach Ansicht von Heinrich Peter Hellwege,46 damals Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates, widersprachen sich gerade in Ländern mit einem hohen Flüchtlingsanteil die nach dem Geburts- und dem Wohnortsprinzip ermittelten Werte. Seinen Berechnungen zufolge lag der Anteil der außerhalb des Bundesgebietes geborenen Beamten deutlich höher 47 Vermutlich um solchen Problemen aus dem Weg zu gehen, wurde in einigen Studien48 vom Geburtsort als Kriterium für die Bestimmung der regionalen Herkunft abgesehen und statt dessen in Anlehnung an das Bundesvertriebenengesetz das Wohnortsprinzip zugrunde gelegt. Doch damit wird das eigentliche Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben. Der vom Gesetzgeber festgeschriebene Stichtag 31. Dezember 1937 verleiht auch dem Wohnortprinzip Zufallscharakter. Er wird auch dadurch nicht kompensiert, dass damit die Voraussetzungen für die Anerkennung als Heimatvertriebener oder Sowjetzonenflüchtling gegeben sind, womit die Ausstellrag eines Flüchtlingsausweises A bzw. C verbunden ist. Hinzu kommt, dass bei den durchgeführten Erhebungen von Mitgliedern des Bundestages oder von Landtagen in der Regel nicht nach dem Flüchtlings- oder Vertriebenenstatus der Abgeordneten gefragt wurde. Ist das dennoch geschehen, so sind die auf dieser Grundlage ermittelten Daten nur bedingt mit jenen vor Verabschiedung des Bundesvertriebenenge-

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Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 938: Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage (Drucksache Nr. 389) vom 28. April 1950. Fritz Sänger: Die Volksvertretung. Handbuch des Deutschen Bundestags. Stuttgart 1949, S. 156; Helmut Beyer/Klaus Müller: Der niedersächsische Landtag in den fünfziger Jahren. Voraussetzungen, Ablauf, Ergebnisse und Folgen der Landtagswahl 1955. Düsseldorf 1988, S. 159-174. Bundesarchiv Koblenz (BÄK) B 106:7238. Zitiert nach Morsey, Personal- und Beamtenpolitik (wie Anm. 35), S. 231 Anm. 1. Vgl. u.a. Freund: Heimatvertriebene (wie Anm. 22).

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setzes vergleichbar, weil bis dahin der Flüchtlingsbegriff in den einzelnen Ländern der westlichen Besatzungszonen zum Teil erheblich voneinander abwich.49 Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Bestimmungen ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor zu sehen, nämlich die Zuschreibung der Flüchtlings- bzw. Vertriebeneneigenschaft. Gerade die beiden angeführten Biographien verdeutlichen, dass diese mit dem Bekenntnis der betreffenden Person zwar übereinstimmen kann, aber keinesfalls übereinstimmen muss. Dadurch erklären sich auch die zum Teil erheblichen Abweichungen, die in einschlägigen Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zu den im Bundestag vertretenen Vertriebenen zu finden sind.50 Die Qualität der auf der Grundlage des Geburtsortsprinzips ermittelten Daten wird durch einen weiteren Punkt eingeschränkt. Bei dem nach dem Kriterium „regionale Herkunft" ermittelten Personenkreis, ob nun der Geburtsort oder der juristische Status einer Person zugrunde gelegt wurde, wird nach weiteren Merkmalen, wie das bei dem untersuchten Elitensegment insgesamt geschieht, nicht weiter differenziert. Das hat zur Folge, dass über die gesamte Gruppe Daten zum Familienstand, zum Alter, zur Konfession, sozialen Herkunft, Ausbildung, zum Beruf, zur politischen Familientradition und Karriere vorliegen, die dann in das Gesamtprofil der betreffenden Gruppe einfließen. Weil aber diese Kriterien nicht getrennt nach dem regionalen Herkunftsprinzip eruiert werden, fehlt die Grundlage für einen Vergleich, der erst die Spezifika des sozialen Profils der beiden nach dem Geburtsort unterschiedenen Gruppen offenlegt und damit auch Aufschluss über den Anteil der jeweiligen Gruppe an der Elite gibt, der sie angehört. Im Zusammenhang mit dem Kriterium „Geburtsort" ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor zu sehen. Er betrifft die Zuordnung der ermittelten Daten zu größeren Gebieten. Es liegen kaum Aufstellungen vor, welche eine Differenzierung nach Provinzen vornehmen. In der Regel werden alle vertriebenen Personen unter dem Oberbegriff „östlich der Oder und Neiße" zusammengefasst, sowohl die innerhalb als auch jene außerhalb der Reichsgrenzen. Da-

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Ebd., S. 46-72. Vgl. auch Mathias Beer: Flüchtlinge, Ausgewiesene, Heimatvertriebene. Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Deutschland nach 1945 begriffsgeschichtlich betrachtet. In: Ders./Martin Kintzinger/Marita Krauss (Hg.): Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel. (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung 3). Stuttgart 1997, S. 145— 167. Mitgliederstruktur des deutschen Bundestages. I.-VII. Wahlperiode. Materialienzusammenstellung und Auswahlbibliographie (Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste. Materialien Nr. 40), S. 203-215. Auf S. 204 heißt es z.B.: „Die allgemein interessierende Frage nach der Zahl der Vertriebenen unter den Abgeordneten lässt sich an Hand der bisher vorliegenden Angaben nicht zufriedenstellend beantworten."

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durch bleibt z.B. der sehr geringe Anteil von Vertriebenen aus Südosteuropa an der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik unberücksichtigt. Manchmal werden die Gebiete östlich der Oder und Neiße und die Länder der DDR zu einem Wert zusammengefasst. Abgesehen davon, dass dadurch die vom Gesetzgeber im Bundesvertriebenengesetz festgelegte Unterscheidung zwischen „Sowjetzonenflüchtling" und „Vertriebener" nicht berücksichtigt wird, hat die fehlende Differenzierung auch weitere Auswirkungen. Die Flucht aus der DDR und die Vertreibung fanden unter unterschiedlichen Voraussetzungen statt, so dass sich auch das Sozialprofil der beiden Migrantengruppen unterscheidet. Bei den DDR-Flüchtlingen liegt z.B. der Anteil hochqualifizierter deutlich über dem Durchschnitt der Flüchtlinge und Vertriebenen. Nicht zuletzt ist es unvermeidlich, im Zusammenhang mit dem von der Literatur angebotenen Datenmaterial das Definitionsproblem von Eliten anzusprechen. In der Literatur werden ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zur politisch-administrativen Elite gezählt. Nur an drei Beispielen soll das verdeutlicht werden. Zählt Wolfgang Zapf51 Angehörige der höheren Verwaltung, der Diplomatie, Justiz, Militär, unter Umständen auch Hochschullehrer und Experten zur Verwaltungselite, so rechnet Klaus von Beyme52 Minister, Staatssekretäre, Parteiführer und Ministerpräsidenten der Länder zur politischen Elite. Nach Adolf Kimmel53 wiederum besteht die politischadministrative Elite aus hohen Beamten, die an der Nahtstelle von Politik und Verwaltung tätig sind, wobei er beamtete Staatssekretäre, die Abteilungsleiter beim Bundespräsidenten, im Kanzleramt und den Ministerien und die Leiter zentraler Bundesbehörden dazu rechnet. Wichtigstes Kriterium ist dabei die Nähe zur Politik, sind die regelmäßigen Kontakte zu Politikern und die Beteiligung an politischen Entscheidungen. Die dadurch schon eingeschränkte Vergleichbarkeit der Daten wird durch die unterschiedlichen Untersuchungszeiträume der einzelnen Studien noch weiter vermindert. Alle folgenden Erhebungen, Aufstellungen und Zahlen stehen notwendigerweise unter methodischen Vorbehalten, von denen hier nur einige angesprochen worden sind. Sie unterstreichen zugleich die Notwendigkeit, in viel stärkerem Masse als das bisher geschehen ist, quantitative Erhebungen mit prosopographischen und biographischen Untersuchungen zu verbinden.

Zapf: Wandlungen (wie Anm. 30), S. 33-37. von Beyme: Die politische Elite (wie Anm. 31), S. 15 und 22. Adolf Kimmel: Die politisch-administrativen Eliten in Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Essay. In: Louis Dupeux/Rainer Hudemann/Franz Knipping (Hg.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Band 2: Strukturen und Beziehungen. München 1996, S. 117-123, hier 117 f.

Die Vertreibung und die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik

215

4. Flüchtlinge und Vertriebene in der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik Schon im Vorfeld der Gründung der Bundesrepublik wurde in unterschiedlichen Gremien der Länder und auf zonaler sowie überzonaler Ebene von Seiten der Flüchtlings- und Vertriebenenvertreter die Forderung nach anteiliger Berücksichtigung der Flüchtlinge und Vertriebenen beim Aufbau der einzelnen Institutionen erhoben. Sie wurden dabei indirekt von den Besatzungsmächten unterstützt. Diese hatten gemäss des von ihnen vertretenen Assimilationskonzeptes 1946 das sogenannte Koalitionsverbot erlassen. Danach war es Flüchtlingen und Vertriebenen trotz ihrer rechtlichen Gleichstellung mit der alteingesessenen Bevölkerung verboten, sich in eigenen politischen Vereinigungen zu organisieren. Sie sollten vielmehr den Weg in die bestehenden Parteien finden. Diese schenkten jedoch zunächst dem Flüchtlingsproblem recht wenig Aufmerksamkeit. „Wo ist von Seiten der Parteien der konstruktive Plan auf dem Flüchtlingsgebiet?", fragte Theodor Eschenburg Ende 1947.54 Zur gleichen Zeit beklagten die in Stuttgart versammelten Flüchtlingsvertreter aus den drei Ländern der US-Zone, dass in dem beim Länderrat bestehenden Flüchtlingsausschuss keine Flüchtlinge vertreten waren.55 Weil auch keines der 52 Mitglieder des Wirtschaftsrates der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen angehörte,56 appellierten Anfang 1948 die Flüchtlingsvertreter der amerikanischen und britischen Zone an die Landtage und die Parteien der einzelnen Länder: „Bei der Zuwahl zu dem auf 104 Mitglieder zu ergänzenden Wirtschaftsrat ist dafür Sorge zu tragen, dass bei der Auswahl der von den Länderparlamenten zu entsendenden Vertreter Personen aus dem Kreis der Flüchtlinge und Ausgewiesenen mit der Maßgabe berücksichtigt werden, dass dem Grundsatz der verhältnismäßigen Beteiligung der Flüchtlinge und Ausgewiesenen im Wirtschaftsrat Rechnung getragen wird."57 Diese Forderung blieb nicht ohne Wirkung, wie das ein Jahr später eingerichtete, vorrangig mit Vertriebenenvertretern besetzte „Amt für Fragen der Heimatvertriebenen", der Vorgänger des Bundesvertriebenenministeriums, und die Ergebnisse der ersten Bundestagswahl zeigen. Zwar konnten sich die Interessenvertreter mit ihrer Forderung nach „Vertriebenenwahlkreisen" nicht durchsetzen. Dennoch ge-

Theodor Eschenburg: Politische und organisatorische Überlegungen zum Flüchtlingsproblem. In: Die Besinnung. Eine Zweimonatsschrift. Heft 5/6, September/Dezember 1947, S. 6-11, hier 7. Bundesarchiv Koblenz (BÄK) B 150:770-2, Protokoll vom 3. November 1947. Schreiben des Zonenflüchtlingsausschusses und der Landesflüchtlingsausschüsse der britischen Besatzungszone an Konrad Adenauer, 14. März 1948. In: Linus Kather: Die Entmachtung der Vertriebenen. Band 1: Die entscheidenden Jahre. München/Wien 1964, S. 59-62. HSTAS EA 2/801:428, 19. Januar 1948.

216

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hörten 61 der Abgeordneten dem Kreis der Flüchtlinge und Vertriebenen an, was einem Anteil von nahezu 15 Prozent entspricht. Er lag damit nur knapp unter dem damaligen Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung. Auch nach der Gründung der Bundesrepublik verstummte die Forderung nach angemessener Vertretung der Flüchtlinge und Vertriebenen am Aufbau des neuen Staatswesens nicht. Bereits in seiner zwölften Sitzung, noch lange vor der Verabschiedung des Lastenausgleichsgesetzes und des Bundesvertriebenengesetzes, ersuchte der Bundestag am 12. Oktober 1949 die Bundesregierung, beim Aufbau der Bundesbehörden Heimatvertriebene bevorzugt zu berücksichtigen. Auf diesen Beschluss beriefen sich elf Abgeordnete, als sie am 19. Januar 1950 eine kleine Anfrage an die Bundesregierung richteten. Angeführt wurden sie vom Angeordneten Günter Goetzendorff, einem 1917 geborenen Schlesier, der 1948 Präsident der Landesvertretung der Ausgewiesenen in Bayern sowie Chefredakteur des überparteilichen Wochenblattes der Heimatvertriebenen „Der Neubürger" und als Vertreter der Wirtschaftlichen Aufbauvereinigimg (WAV) in den ersten Bundestag gewählt worden war.58 Die Anfrage Nr. 34 des Abgeordneten Goetzendorff und Genossen forderte die Bundesregierung auf, spezifiziert mitzuteilen, wie viel Heimatvertriebene in den Bundesministerien angestellt bzw. verbeamtet worden sind, und zwar gesondert nach Gehalts- bzw. Besoldungsgruppen und unter Gegenüberstellung des Anteils Einheimischer am Gesamtstellenplan. Das federführende Innenministerium forderte daraufhin entsprechende Aufstellungen bei den einzelnen Bundesministerien an. Schon am 26. Januar legte die Personalstelle des Bundesministeriums für Angelegenheiten der Vertriebenen, wie das Ministerium zunächst hieß,59 die erbetenen Zahlen vor. Von dem Gesamtpersonalbestand von 82 Personen, vom Minister bis zu den Reinigungskräften, entfielen 67 auf Heimatvertriebene, wobei die Schlesier mit 30 den mit Abstand höchsten Wert verzeichneten, und nur 15 auf Nichtvertriebene.60 Damit standen 81,7 Prozent Vertriebenen 18,3 Prozent Nichtvertriebene gegenüber. Diese Zahlen, welche das Verhältnis der Vertriebenen und nichtvertriebenen Bevölkerung der Bun58

59

60

Sänger (Hg.): Die Volksvertretung (wie Anm. 46), S. 149 f. Vgl. auch Franz J. Bauer: Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern 1945-1950 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte Bd. 3). Stuttgart 1982, S. 269 f., 292-301; Hans Woller: Die LoritzPartei. Geschichte Struktur und Politik der Wirtschaftlichen Aufbauvereinigung (WAV) 1945-1953 (Studien zur Zeitgeschichte 19). Stuttgart 1982. Lothar Wieland: Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Ämter und Organisationen der Bundesrepublik). Bonn 1968. Zum Aufbau und Personal des Ministeriums in der ersten Legislaturperiode vgl. Wengst: Staatsaufbau (wie Anm. 37), S. 166 f.; Manfred Max Wambach: Verbändestaat und Parteienoligopol. Macht und Ohnmacht der Vertriebenenverbände (Bonner Beiträge zur Soziologie 10). Stuttgart 1971, S. 125-134. BÄK B 150:3119, 26. Januar 1950.

Die Vertreibung und die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik

217

desrepublik zu diesem Zeitpunkt nahezu auf den Kopf stellen, verändern sich nicht wesentlich, wenn man nur die Gruppe der Beamten, nur die Stellen ab der Ebene der Regierungsdirektoren oder die Spitze des Ministeriums betrachtet. Im ersten Fall liegt der Anteil der Vertriebenen sogar bei 88 Prozent im zweiten bei knapp 77 Prozent und an der Ministeriumsspitze bei 100 Prozent. Hans Lukaschek,61 der erste Bundesvertriebenenminister war Schlesier, der Staatssekretär Ottomar Schreiber62 kam aus dem Memelgebiet. Beide hatten bereits in der Frankfurter Zweizonenverwaltung gehobene Positionen inne. War der eine Präsident des Obergerichts der Bizone und dann Präsident des Hauptamtes für Soforthilfe in Bad Homburg, so stand der andere an der Spitze des Amtes für Fragen der Heimatvertriebenen. Damit befand sich die Leitung des Bundesvertriebenenministeriums in einer Kontinuität, die für die obersten Bundesbehörden insgesamt festgestellt wurde. Ein weiteres lässt die Aufstellung erkennen. Im Vergleich zu anderen Gebieten ist das nicht zum Reichsgebiet gehörende Sudetenland überproportional vertreten. Dagegen liegt der Wert der anderen außerhalb der Reichsgrenzen liegenden Herkunftsgebiete weit unterhalb des Anteils der vertriebenen Bevölkerung aus diesen Gebieten.63 Man kann im weit überdurchschnittlichen Anteil von Vertriebenen im Bundesvertriebenenministerium, der auch in den Bundestagsausschüssen für Heimatvertriebene und jenem für den Lastenausgleich gegeben war,64 ein klassisches Beispiel von verbandspolitischer Ämterpatronage und zugleich ein Charakteristikum dieses Sonderministeriums im klassischen Gewände sehen, von dem lange gar nicht sicher war, ob es überhaupt als eigenständiges Ressort eingerichtet werden würde. Dass es sich um ein Spezifikum dieses Ministeriums handelte, macht der Vergleich mit den anderen Ministerien deutlich.

Hans-Ludwig Abmeier: Hans Lukaschek. In: Neue Deutsche Bibliographie. Band 15. Berlin 1989, S. 514 f.; Markus Leuschner: Hans Lukaschek. Ein deutscher Politiker aus Schlesien. Königswinter o. J. Walter Vogel: Westdeutschland 1945-1950. Der Aufbau von Verfassungs- und Verwaltungseinrichtungen über den Ländern der drei westlichen Besatzungszonen. Teil m . Boppard am Rhein 1983, S. 483, Arnn. 3. Eine ihrem Anteil an den Vertriebenen der Bundesrepublik entsprechende Vertretung am Personal des Bundesvertriebenemmnisteriums war eine Forderung, welche die einzelnen Landsmannschaften immer wieder vorbrachten. Sie waren der Ausgangspunkt für die diesbezüglichen Erhebungen und Gutachten, welche das Bundesvertriebenenministerium immer wieder durchftihrte oder in Auftrag gab. Die Ausschüsse des Deutschen Bundestages. 1.-7. Wahlperiode (Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Reihe. Materialien Nr. 33). Bonn 1973. Wambach, Verbändestaat (wie Anm. 59), S. 70-92.

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218

Tab. 2: Anteil der Heimatvertriebenen bei den Beamten und Angestellten der Bundesministerien Anfang des Jahres 195065 Bundesministerium

Anteil der Vertriebenen in Prozent Beamte

Bundeskanzleramt

52

des Inneren für Angelegenheiten des Marshall-Plans der Justiz der Finanzen für Wirtschaft

27 22

für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten für Arbeit für Verkehr

37 14 9 34 21 91 46 63

für Post und Femmeldewesen für Wohnungsbau für Angelegenheiten der Vertriebenen für gesamtdeutsche Fragen für Angelegenheiten des Bundesrats

15 24 14

Angestellte 27 34 29 33 27 34 33 31 23 27 29 81 17 33

Zudem liefert die Antwort, welche von Bundesinnenminister Gustav Heinemann am 16. Februar 1950 auf die Anfrage „Goetzendorff und Genossen" dem Bundestag vorlegte, weitere für unsere Fragestellung aussagekräftige Daten. Wenn es sich beim Anteil der Heimatvertriebenen am Personal des Bundesvertriebenenministeriums auch um den absoluten Spitzenwert handelte, so war die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittliche Vertretung der Heimatvertriebenen am Personal der obersten Bundesbehörden keine Ausnahme. Werte von knapp 50 Prozent und darüber wurden auch, und zwar in dieser Reihenfolge, vom Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates, dem Bundeskanzleramt und dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen erreicht. Überhaupt liegt nur in einem Ministerium, dem Bundesministerium für Verkehr, und auch dort nur bei den Beamten, der Anteil der Heimatvertriebenen unter ihrem Durchschnitt an der Gesamtbevölkerung zu diesem Zeitpunkt. Im Schnitt ergibt das einen Anteil der Heimatvertriebenen in allen Bundesministerien von 26 Prozent bei den Beamten und sogar von 32 Prozent bei den Angestellten. Hätte man, wie der Bundesinnenminister ausdrücklich hervorhob, den „Personenkreis der politischen Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 593. Die Zahlen wurden erstmals veröffentlicht bei Morsey: Personal und Beamtenpolitik (wie Anm. 35), S. 232 f.

Die Vertreibung und die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik

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Flüchtlinge und der sonstigen verdrängten Beamten und Angestellten der Ostzone mit eingeschlossen", wäre der Anteil der aufgrund der Kriegsereignisse geflohenen und vertriebenen Beamten und Angestellten am Personal der Bundesministerien noch weitaus höher gewesen. Liefert diese Erhebung bereits erste Anhaltspunkte für den Anteil der geflüchteten und vertriebenen Beamten sowie Angestellten an den obersten Behörden der Bundesrepublik zu einem Zeitpunkt, als die kurzfristig negativen Folgen der Währungsreform das Integrationswunder noch nicht einmal erahnen ließen, so lassen sich aufgrund der Qualität der erhobenen Daten, d.h. die Aufschlüsselung nach Besoldungsgruppen, auch Schlüsse zum Anteil der Vertriebenen an der politisch-administrativen Elite des neu entstandenen Staates ziehen. Den höchsten Wert bei den heimatvertriebenen Beamten verbucht mit 41 Prozent der einfache Dienst. Mit jeder höheren Besoldungsstufe verkleinert sich der Anteil der heimatvertriebenen Beamten am Gesamtpersonalkörper der Bundesministerien und erreicht beim höheren Dienst einen im Vergleich zum Durchschnitt und den anderen Besoldungsgruppen den geringsten Wert von 19 Prozent. Dieser Durchschnittswert ist nicht allein mit dem sehr hohen Wert beim Bundesvertriebenenministerium zu erklären. Auch weitere Ministerien, allen voran das Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrats mit 63 Prozent, gefolgt vom Bundeskanzleramt mit 44 Prozent, dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen mit 43 Prozent, dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit 38 Prozent und dem Bundesministerium für Post und Fernmeldewesen mit 21 Prozent liegen zum Teil deutlich über dem Mittelwert. Mit 19 Prozent liegt der Anteil der Heimatvertriebenen auch im Bereich der Abteilungsleiter deutlich über dem Durchschnitt der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung. Anders ausgedrückt, die Heimatvertriebenen waren zu diesem Zeitpunkt, legt man als Maßstab allein das quantitative Kriterium zugrunde, an der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik überrepräsentiert. Das ist insofern ein überraschender Befund, steht er doch erstens im Widerspruch zu der gerade von heimatvertriebenen Mitgliedern der politischadministrativen Elite, aber auch von Vertretern der einschlägigen Interessenverbände immer wieder angemahnten (zahlenmäßigen) Gleichstellung der Vertriebenen mit der nichtvertriebenen Bevölkerung beim Aufbau der Bundesverwaltung und der Bundesregierung.66 Im Bereich der politischadministrativen Elite kann, legt man diese Zahlen zugrunde, von einer Be-

Aus der langen Reihe einschlägiger Forderungen seien nur zwei Beispiele genannt. Linus Kather: Die Entmachtung der Vertriebenen. 2 Bände. München/Wien 1964, 1965; Herbert Czaja: Unterwegs zum kleinsten Deutschland? Mangel an Solidarität mit den Vertriebenen. Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik. Frankfurt am Main 1996.

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220

nachteiligung aufgrund des Vertriebenenschicksals und -status' nicht die Rede sein. Die Ergebnisse der Erhebung stehen zweitens in Widerspruch zu den ebenfalls empirisch abgesicherten Daten, welche zu den einzelnen Erwerbstätigengruppen aus den Reihen der Vertriebenen vorliegen. Am stärksten von den sozialen und beruflichen Umschichtungen der Vertriebenen war den vorliegenden Daten zu Folge die vertriebene bäuerliche Bevölkerung betroffen. Davon heben sich die Werte für die im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik insgesamt beschäftigten Vertriebenen ab, aus deren Kreis sich, wie die der bundesdeutschen Bevölkerung insgesamt, in zunehmendem Masse die Mitglieder der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik rekrutierten. Tab. 3: Vertriebene unter den Beschäftigten der Bundesbehörden67 1952 insgesamt

1960

1966

Vertriebene

insgesamt

Vertriebene

insgesamt

Vertriebene

Beamte

48.000

15.000

60.000

16.000

75.000

18.000

Angestellte

21.000

5.000

67.000

15.000

95.000

20.000

Arbeiter

20.000

2.000

69.000

17.000

106.000

23.000

Summe

89.000

22.000

196.000

48.000

276.000

61.000

Insbesondere die Zahl der Vertriebenen unter den Beschäftigten der Bundesbehörden war verhältnismäßig hoch. Sicher handelte es sich bei dem 1952 verzeichneten Anteil von über 31 Prozent um einen Spitzenwert. Doch auch der 1966 registrierte niedrigste Wert liegt bei 24 Prozent. Die Repräsentation der Vertriebenen in der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik scheint somit, bei aller gebotenen Vorsicht, im allgemeinen Trend der Beschäftigung von Vertriebenen im öffentlichen Dienst und insbesondere im Bundesdienst zu liegen. Dieses mögen einige der Gründe gewesen sein, weshalb in späteren Jahren, soweit das zum jetzigen Zeitpunkt überblickt werden kann, keine weiteren Anfragen an die Bundesregierung zu diesem Sachverhalt gerichtet worden sind, zumal davon auszugehen ist, dass das Ergebnis der Erhebung nicht nur jene Abgeordneten überrascht hat, welche die Anfrage vom Januar 1950 eingebracht hatten. Es ist zu vermuten, dass die Eindeutigkeit der Erhebung mit dazu beigetragen hat, in späteren Jahren von weiteren Aufstellungen dieser Art abzusehen. Die Folge: für die späteren Jahre liegen keine derart detaillierten Aufstellungen vor. Um festzustellen, ob es sich bei den Befunden von Anfang 1950 nicht um zeitspezifische, singulare Werte handelt, werden zum Vergleich 67

Nach Reichling: Die deutschen Vertriebenen (wie Anm. 6), S. 86, Tabelle 27.

Die Vertreibung und die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik

221

andere Indikatoren herangezogen. Sie stützen sich sowohl auf die Auswertung von Unterlagen, anhand derer der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen im Bundestag, in der Bundesregierung und in einem Landtag bestimmt werden kann, als auch auf die Ergebnisse von soziologischen und politikwissenschaftlichen Studien. Mit Hilfe der so ermittelten Daten soll zumindest ansatzweise geprüft werden, ob sich der Trend der Befunde vom Anfang des Jahres 1950 bestätigen lässt. In den ersten Bundestag wurden, wie bereits erwähnt, 61 Abgeordnete gewählt, die der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen zuzurechnen sind.68 Das entspricht knapp 15 Prozent der Abgeordneten. Ihre Zahl erhöhte sich im zweiten Bundestag auf 86 Abgeordnete, was sicher auch auf den Einzug des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE)69 in den Bundestag zurückzuführen ist, um dann im dritten einen prozentualen Wert zu erreichen, der in etwa jenem der ersten Legislaturperiode entspricht. In den folgenden beiden Wahlperioden verringerte sich die Zahl der den Flüchtlingen und Vertriebenen zuzurechnenden Mandatsträger leicht und erreichte im sechsten Bundestag dann wieder einen Wert von über 16 Prozent. Entgegen der gängigen Meinung stellte in der Regel die SPD die zahlenmäßig stärkste Gruppe von Flüchtlingen und Vertriebenen, auch wenn die Unterschiede zur CDU nicht immer so deutlich waren wie in der ersten und sechsten Wahlperiode. Damals betrug das Verhältnis 25 zu 14 und 34 zu 20 zugunsten der SPD. Die Werte der im Bundestag vertretenen Flüchtlinge und Vertriebenen liegen somit nur wenig niedriger als jene, die 1950 beim Personal der Bundesministerien insgesamt und auch bei den Führungspositionen der einzelnen Ministerien ermittelt wurden. Für die Landtage steht nur vereinzelt einschlägiges Material zur Verfugung.70 Mit am besten ist der Kenntnisstand für Schleswig-Holstein, das unter den Hauptaufnahmeländern für Flüchtlinge und Vertriebene an der Spitze stand. Bei den Landtagswahlen vom April 1947 gehörten nur 14,3 Prozent der gewählten Parlamentsabgeordneten dem Kreis der Heimatvertriebenen und Den folgenden Angaben liegen die vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages veröffentlichten Zahlen zugrunde. Vgl. Mitgliederstruktur (wie Anm. 50), S. 203-215; Peter Schindler: Datenhandbuch des Deutschen Bundestages 19491982. Hg. vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages. Bonn 1983, ergänzend: Neubach: Anteil der Vertriebenen (wie Anm. 24). Die in den beiden Veröffentlichungen genannten Zahlen weisen erhebliche Abweichungen auf. Neumann: Der Block der Heimatvertriebenen (wie Anm. 21). Neubach: Ostdeutsche Abgeordnete (wie Anm. 24). Die Dokumentationsbände zur Tätigkeit der Landtage enthalten in der Regel keine Angaben zu der regionalen Herkunft der Abgeordneten. Vgl. Josef Weik: MdL und Landtagsgeschichte von BadenWürttemberg 1945-1984 mit Verzeichnis der Abgeordneten von Baden und Württemberg 1919-1933. Hg. vom Landtag von Baden-Württemberg. 3., erg. Auflage. Stuttgart 1984.

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Flüchtlinge an. Nach Aufhebung des Koalitionsverbotes veränderte sich die Situation schlagartig, wie die Ergebnisse der Landtagswahl vom Juli 1950 zeigen. 26 der 69 Mandate gingen an Vertriebene und Flüchtlinge, was einem Anteil von 37,7 Prozent entspricht.71 Er liegt deutlich über dem zu jenem Zeitpunkt registrierten Anteil von Flüchtlingen und Vertriebenen in SchleswigHolstein von 33 Prozent. Bei den beiden folgenden Wahlen in den Jahren 1954 und 1958 gingen 26 bzw. 24,6 Prozent der Landtagssitze an Flüchtlinge und Vertriebene.72 Sie entsprechen in etfwa dem mittlerweile auf Grund der eingeleiteten Umsiedlungsprogramme auf 27,3 Prozent gesunkenen Anteil der Vertriebenen und Flüchtlinge an der Bevölkerung Schleswig-Holsteins. Betrachtet man die personelle Besetzung der Bundeskabinette während der ersten vier Legislaturperioden, so findet man ähnlich hohe Werte.73 Zwei Minister, die der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen zuzurechnen sind, saßen in der ersten Legislaturperiode am Kabinettstisch. Beide brachten ministerielle Erfahrung mit. Der aus Oberschlesien stammende HansChristoph Seebohm74 war Minister für Aufbau und Arbeit in Niedersachsen. Hans Lukaschek war 1946 für kurze Zeit Minister für Landwirtschaft und Forsten in Thüringen und bekleidete nach seiner Flucht in den Westen hohe Ämter in der bizonalen Verwaltung. Der damit gegebene Anteil von 12,5 Prozent von Vertriebenen an den 16 in der ersten Legislaturperiode amtierenden Bundesministern, erhöhte sich in den folgenden Wahlperioden kontinuierlich und erreichte Werte von 20 Prozent und mehr. Legt man die Geburtsorte der Bundesminister der Jahre 1953 bis 1960 zugrunde, so waren allein die Vertriebenen in deutlich höherem Masse in der bundesdeutschen Exekutive vertreten als Vertreter aus den Ostgebieten des Reiches der politisch-administrativen Elite der Weimarer Republik und auch der NS-Zeit angehörten.75 Die auf den Bundestag, die Bundesregierung und einen Landtag bezogenen Befunde werden durch die Ergebnisse einzelner Untersuchungen gestützt, deren primäres Untersuchungsobjekt nicht auf die Flüchtlings- und Vertriebenenthematik eingeschränkt war. In seiner Pionierstudie von 1965 fragte Wolfgang Zapf nach Kontinuität und Wandel bei den deutschen Eliten im Zeitraum 1919 Freund: Die Heimatvertriebenen (wie Arnn. 22), S. 147 f. Vgl. auch Renate L. Wertz: Die Vertriebenen in Schleswig-Holstein. Aufnahme und Eingliederung. 2., erw. Aufl. Kiel 1988. Freund: Die Heimatvertriebenen (wie Anm. 22), S. 201, 206. Die Angaben stützen sich auf die in den amtlichen Handbüchern des deutschen Bundestages der ersten bis zur vierten Legislaturperiode veröffentlichten Daten. Vgl. auch Hannelore Gerstein/Hartmut Schellhoss: Die Bonner Exekutive. Eine Sozialstatistik der Bundeskabinette 1949-63. In: Zapf (Hg.): Beiträge (wie Anm. 30), S. 55-76. Deutscher Bundestag (Hg.): Amtliches Handbuch des deutschen Bundestages. 3. Wahlperiode. Darmstadt 1954, S. 500. Hannelore Schmidt: Die deutsche Exekutive 1949-1960. In: Archives Européennes de Sociologie 4 (1963), S. 166-176, hier 172.

Die Vertreibung und die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik

223

bis 1961, wobei seine Aufmerksamkeit besonders den politischen Zäsuren von 1933 und 1945 galt. Nach den von ihm ermittelten Daten sind fast 30 Prozent der zu der westdeutschen Verwaltungselite zählenden Personen in Mittel- und Ostdeutschland geboren.76 Er schließt daraus auf eine „starke Elitenabwanderung", schränkt aber unter Anfuhrung nur eines Beispiels ein, dass der direkte Übergang aus Spitzenpositionen der Ostzone wohl auf Einzelfälle beschränkt war. Auf die Frage des Aufstiegs der Flüchtlinge und Vertriebenen in die westdeutschen Eliten geht er mit dem Hinweis, es handle sich um ein eigenes Untersuchungsproblem, nicht ein. Die Relevanz der Frage, welche er anhand der 90.000 der insgesamt 300.000 Mitglieder der Ost-CDU, die mittlerweile in der Bundesrepublik lebten, unterstrich, war für ihn unbestritten. Auch für Klaus von Beyme war in seiner Studie von 1970 die regionale Herkunft der von ihm untersuchten politischen Elite der Bundesrepublik ein Kriterium, das er berücksichtigt hat. Tab. 4: Herkunftsländer der Führungspositionsinhaber in der Bundesrepublik im Zeitraum 1949 bis 196977 Staatssekretäre

Länder

absolut

in Prozent

4

5,13

11

15,94

Baden-Württemberg

7

8,98

5

7,25

Berlin

3

3,85

1

1,44

Bremen

7

8,98

5

7,25 2,90

Hamburg

1

1,28

Hessen

6

7,69

2

Niedersachsen

4

5,12

5

7,25

17

21,79

16

23,19

6

7,69

3

4,35

Rheinland-Pfalz Saar

1

1,50

2,56

5

7,25

Schleswig-Holstein

2

Länder der späteren DDR

5

6,41

6

8,69

Ostgebiete

9

11,54

7

10,15

Ausland

2

2,56

2

2,90

Keine Angaben

5

6,41

78

100,00

69

100,00

Summe

77

in Prozent

Bayern

Nordrhein-Westfalen

76

Politiker absolut

Zapf: Wandlungen (wie Anm. 30), S. 172. von Beyme: Die politische Elite (wie Anm. 31), S. 32 f.

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Die von ihm ermittelten absoluten Zahlen ergeben ein vergleichbares Bild: Von den erfassten Spitzenpolitikern entfielen bis 1969 die höchsten Anteile auf Nordrhein-Westfalen - 17 von 78 Staatssekretären, 16 von 69 Ministern und Parteiführern gefolgt von den deutschen Ostgebieten, Bayern, BadenWürttemberg und den Ländern der späteren DDR. Den starken Anteil von Ostund Mitteldeutschen an der politischen Führung führte Beyme nicht allein auf die Elitenabwanderung zurück. Für ihn waren auch Spezifika der vertriebenen und geflüchteten Bevölkerung - schlechte Startbedingungen im Bereich der Wirtschaft und ein starker Bewährungswille - dafür verantwortlich. Hans-Ulrich Derlien schließlich unterstreicht 1990 in einem Beitrag zur Kontinuität und zum Wandel der politisch-administrativen Elite zwischen 1949 und 1984, welcher auf einer nie vollständig veröffentlichten Erhebung beruht, die bis 1984 ungebrochene starke Bedeutung der ehemaligen Ostgebiete und der DDR als Herkunftsgebiete der Beamtenelite der Bundesrepublik. Seit der vierten Legislaturperiode stammt seinen Angaben zufolge etwa ein Viertel der Beamten aus diesen Gebieten. Dieser Anteil erhöht sich auf 27 Prozent bis 36 Prozent, wenn Berlin zur Region „DDR und ehemalige Ostgebiete" gezählt werden. Tab. 5: Regionale Herkunft der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik im Zeitraum 1949-198478 Staatssekretäre Regionale Herkunft 34,00 DDR, Ostgebiete, Berlin 13,60 NRW 18,40 Bayern, Baden-Württemberg 34,00 Andere 100,00 Insgesamt

Angaben in Prozent Abteilungsleiter Beamte gesamt 31,90 32,40 22,IQ 20,40 15,90 16,50 29,50 30,70 100,00 100,00

Politiker 24,00 19,80 27,00 29,20 100,00

Wenn auch nicht im gleichen Umfang, sind die DDR und die ehemaligen Ostgebiete bei den Abteilungsleitern und den Politikern im Vergleich zum Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich vertreten. Ein erheblicher Teil der bundesdeutschen politischadministrativen Elite ist vom Vertreibungsschicksal geprägt und, so der Schluss von Derlien, „die Beamtenelite ist noch stark preußisch geprägt". Nach Hans-Ulrich Derlien/Gerhard Pipping: Die administrative Elite. In: Wehling (Bearb.): Eliten in der Bundesrepublik (wie Anm. 32), S. 98-108, hier 98-101. Vgl. auch Hans-Ulrich Derlien: Karrieren, Tätigkeitsprofil und Rollenverständnis der Spitzenbeamten des Bundes - Konstanz und Wandel. In: Verwaltung und Fortbildung 22 (1994), Heft 3, S. 255-274.

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Bei aller Vorsicht in der Bewertung der vorgestellten Ergebnisse lassen die Befunde Schlüsse auf den Zusammenhang von Flucht, Vertreibung und der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik zu. Erstens, der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik entspricht nicht nur in etwa ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, sondern er liegt im Bereich der obersten Bundesbehörden sogar darüber. Zweitens, die Eingliederung in die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik hat sich in diesem Segment der geflüchteten und vertriebenen Bevölkerung offenbar rascher und reibungsloser vollzogen als bei anderen Gruppen. Drittens ist damit die Frage verbunden, ob dem beträchtlichen Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik ein Einfluss gleichen Umfangs der Flüchtlinge und Vertriebenen auf die politische Ausgestaltung des neuen Staatswesens Bundesrepublik Deutschland entspricht. 5. Erklärungsansätze Sollten sich im Rahmen der notwendigen zukünftigen Forschungen zu dem hier behandelten Themenkomplex diese Befunde weiter absichern lassen, wird man nicht umhin kommen, nach den Gründen zu fragen, die zu der geschilderten Entwicklung geführt haben. Zumindest auf einige soll abschließend eingegangen werden. Zunächst ist unübersehbar, dass im Rahmen der Vorarbeiten zum Grundgesetz und dann mit seiner Verabschiedung wichtige Voraussetzungen für den festgestellten hohen Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der politischadministrativen Elite der Bundesrepublik geschaffen wurden. Es sind nicht weniger als vier Artikel des Grundgesetzes, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Zum einen Artikel 116, der den Begriff „Deutscher" definiert und dabei Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit, deren Ehegatten und Abkömmlinge mit einschließt, und dann Artikel 119, in dem festgeschrieben ist, dass in Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen die Bundesregierung bis zur einer bundesgesetzlichen Regelung mit Zustimmung des Bundesrates Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen kann. Die damit für alle Flüchtlinge und Vertriebenen geschaffene rechtliche Grundlage und die gesehene Notwendigkeit, dass die Bundesregierung noch vor der Verabschiedung von Gesetzen tätig werden kann, wird in zwei weiteren Artikeln gerade für den hier interessierenden Personenkreis weiter verbessert. Im Artikel 36 ist festgelegt, dass bei den obersten Bundesbehörden Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden sind. Wenn es auch strittig blieb, was unter Ländern zu verstehen war, so war mit verfassungsrechtli-

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eher Festlegung eine Grundlage geschaffen, auf die sich Flüchtlinge und Vertriebene berufen konnten und es auch getan haben. Noch weitgehendere Folgen hatten in dieser Hinsicht die Bestimmungen des Artikels 131 über die Rechtsverhältnisse ehemaliger Angehöriger des öffentlichen Dienstes, der ausdrücklich Flüchtlinge und Vertriebene, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst standen, mit einschloss. Verbunden mit diesem Artikel des Grundgesetzes ist ein zweiter Faktor zu sehen, welcher den hohen Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der politisch-administrativen Elite der Bundesrepublik begünstigt hat. Die vorliegenden Studien zur Gesetzgebung im Zusammenhang mit Artikel 131 des Grundgesetzes machen das Interesse sowohl der Angehörigen des öffentlichen Dienstes als auch der Politiker aus allen Lagern an Regelungen deutlich, die fast nahtlos an die Zeit der Weimarer Republik anknüpften. Dabei war, wie Udo Wengst am Beispiel des Verbandes der Beamten und Angestellten der öffentlichen Verwaltung aus den Ostgebieten und dem Sudetenland (Verbaost) gezeigt hat, das Gewicht der einschlägigen Interessenverbände der Vertriebenen weitaus größer als die Zahl ihrer Mitglieder vermuten lässt.79 Durch spezialisierte und hochqualifizierte Experten gelang es ihnen, in den für sie zentralen Fragen des Bundesvertriebenengesetzes, des Lastenausgleichs und der Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Berufsgruppen gerade in der ersten Hälfte der 1950er Jahre Einfluss auszuüben. Das um so mehr, als zwischen bundesstaatlicher Ministerialorganisation und Interessenverbänden der Flüchtlinge und Vertriebenen enge personelle Verflechtungen bestanden.80 Noch höher ist drittens die gegebene Interessenidentität von nichtvertriebenen und vertriebenen Beamten einzuschätzen.81 Dass die Rechte der Beamten den Wechsel der Staatsform 1945 unbeschadet überstanden, war der verbindende Grundsatz, welcher Fragen nach der regionalen Herkunft in den Hintergrund treten ließ. Die Notwendigkeit und Legitimität des damit verbundenen Reintegrationsprozesses von vertriebenen und nichtvertriebenen Beamten wurde von keiner politischen Partei in Frage gestellt, was den hohen vergangenheitspolitischen Konsens in der bundesdeutschen Gesellschaft der 1950er

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Wengst: Beamtentum (wie Anm. 37), S. 72. Lorenz Schomerus: Die organisatorische Eingliederung der Interessenverbände in die Bundesverwaltung. Diss. Karlsruhe 1959, S. 110-113. Wambach: Verbändestaat (wie Anm. 59), S. 160 f. Patrick von zur Mühlen u.a.: Vertriebenenverbände und deutschpolnische Beziehungen nach 1945. In: Carl Christoph Schweiter/Herbert Feger (Hg.): Das deutsch-polnische Konfliktverhältnis seit dem Zweiten Weltkrieg. Multidisziplinäre Studien über konfliktfördemde und konfliktmindernde Faktoren in den internationalen Beziehungen. Boppard am Rhein 1975, S. 96-161, hier 107. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfange der Bundesrepublik und die NSVergangenheit. München 1996, S. 73.

Die Vertreibung und die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik

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Jahre unterstreicht.82 Dadurch gelang es, Anliegen durchzusetzen, die nichtvertriebenen und vertriebenen Beamten zugute kamen. Sie ebneten den Vertriebenen und Flüchtlingen den Weg in die bundesdeutsche politischadministrative Elite, der bei anderen Berufsgruppen zu einer Frontstellung zwischen Nichtvertriebenen und Vertriebenen führte. Viertens sind in den schlechteren Startbedingungen für die Vertriebenen und Flüchtlinge im Bereich der Wirtschaft sowie im bei Zuwanderern allgemein feststellbaren Bewährungswillen weitere Gründe zu sehen, welche die Beamtenlaufbahn und auch den Aufstieg in die politisch-administrative Elite der Bundesrepublik begünstigten.83 Diese und noch weitere Gründe haben vermutlich dazu beigetragen, dass die von der gewaltigen Bevölkerungsverschiebung z.T. mit ausgelöste, z.T. auch nur beschleunigte Modernisierung der Bundesrepublik sich unter konservativem Vorzeichen vollzog.84 Wenn dennoch insgesamt gesehen die quantitative Repräsentation der Flüchtlinge und Vertriebenen im Rahmen der politisch-administrativen Elite der frühen Bundesrepublik sich langfristig nicht in einem ihr entsprechenden politischen Einfluss niederschlug, so liegt das zum einen an der deutlich ausgeprägten landsmannschaftlichen Aufsplitterung der Flüchtlinge und Vertriebenen. Sie verhinderte die Ausbildung eines auf dem Flüchtlings- und Vertreibungsschicksal fußenden Gruppenbewusstseins. Trotz der wiederholten Versuche, im Bundestag eine „Koalition der Vertriebenen" zustande zu bringen, scheiterten solche Bemühungen an den Partikularinteressen der einzelnen Gruppen der Flüchtlinge und Vertriebenen. Zum anderen liegt es sicher auch an der fortschreitenden Integration und Assimilation der Flüchtlinge und Vertriebenen in die Gesellschaft der Bundesrepublik. Davon waren die der politisch-administrativen Elite zuzurechnenden Vertreter der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht ausgenommen.

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Ebd., S. 88,399. Vgl. Hans W. Schoenberg: Germans from the East. A Study of Their Migration, Resettlement and Subsequent Group History since 1945. Den Haag 1970, S. 134. Peter Waldmann: Die Eingliederung der ostdeutschen Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft. In: Becker u.a. (Hg.): Vorgeschichte (wie Anm. 41), S. 163-192, hier 188.

Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ/DDR am Beispiel der wissenschaftlichen Intelligenz VON REINHARD BUTHMANN

1. Zur Begrifflichkeit von, Abwanderung" und „Elite" Es wird stets ein Geheimnis bleiben, welcher „letzte" Grund das Individuum bewog, Heimat, Haus und Hof, Freunde, Familie und Firma zu verlassen und auszuwandern, überzusiedeln oder gar unter Lebensgefahr1 zu fliehen. Anders bei den passiven Formen2 der „Wanderung": hier legte das vertreibende Regime den Grund fest. Auch Befragungen zur Evaluation der Motive sind problematisch, da sie gewöhnlich nicht auf Basis einer klientenzentrierten3 Weise durchgeführt wurden. In der Regel berichteten die Akteure a posteriori in eine Standarderwartung hinein. Es sind also allererst sozialpsychologische Gründe, die uns nahelegen, zunächst nicht zwischen politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Motiven zu differenzieren. Denn diese waren sowohl in soziologischer als auch psychologischer Hinsicht nicht eindimensional, sondern entstammten einem Raum-Zeit-Kontinuum zahlreicher Einflüsse und Bedingungen. Hingegen ist unstrittig, daß es sich in der Mehrzahl aller, Abwanderungsfalle" um existentielle Entscheidungen handelte. Grenzerfahrungen schlechthin.4 Respektive DDR: die Erkenntnisse zu den allgemeinen Lebensbedingungen in deren totalitär verfaßter Gesellschaftsstruktur besitzen - ipso facto - aner-

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Nach Erkenntnissen der „Arbeitsgemeinschaft 13. August" kamen durch das DDRGrenzregime annähernd 1000 Personen ums Leben. FAZ vom 12.8.1999. Zum Beispiel Verschleppung, Vertreibung, Verbannung und Ausweisung. Auf Carl Rogers zurückgehende „nicht-direkte bzw. klientenzentrierte" Gesprächsform. Marita Krauss: Grenze und Grenzwahmehmung bei Emigranten der NS-Zeit, in: Andreas Gestrich und Marita Krauss (Hg.): Migration und Grenze. Stuttgart 1998, S. 61-82.

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Reinhard Buthmann

kannte, wenngleich nicht homogene Geltung.5 Diese referentielle Zuordnungsmöglichkeit zu den Motiven der „Abwanderung" schwindet aber in dem Maße, wie Theorie- und Beschreibungsansätze zu Phänomenen anderer großer Wanderungsbewegungen dieses - „menschenverachtenden"6 - Jahrhunderts ins Blickfeld geraten: die kausalen Situationszuschreibungen und Begrifflichkeiten verlieren an Schärfe.7 Abwanderung versus Flucht Das Definitionsdilemma haben die Väter des Bundesvertriebenengesetzes vom Mai 1953 relativ gut gelöst, als sie schrieben, daß der, welcher die „sowjetische Besatzungszone" verläßt, „um sich einer von ihm selbst nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten Zwangslage zu entziehen",8 als Flüchtling zu definieren sei. Dies ist eine heute weniger denn je ungeteilte Sicht auf die damaligen Regimeverhältnisse, da nicht wenige Historiker den Begriff Flucht für diese frühe Zeit eher vermeiden. Freilich haben die Gesetzgeber mit der Nichtanerkennung bloßer wirtschaftlicher Gründe der späteren Diskriminierung dieses Motivs Vorschub geleistet. Tatsächlich aber bedingten schon damals die totalitär geprägten Regimeverhältnisse das gesamte individuelle und gesellschaftliche Leben in der DDR. Die Begriffswelt zur Qualifizierung des Verlassens von angestammter Heimat ist dichotomisch: üblich sind vor allem die tendenziell apolitischen Begriffe Abwanderung (Wanderungsbewegung) und Übersiedlung sowie der politische Begriff Flucht (Fluchtbewegung). SED und MfS bevorzugten Begriffe wie Republikflucht (R-Flucht), ungesetzliches Verlassen, Verbleiber und Übersiedler9. Undefiniert10 suggeriert der Begriff Abwanderung eine ex-post-

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Einen vergleichenden Aufriß relevanter Totalitarismusansätze bei Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 16-31. Michael Stolleis: „Das zu Ende gehende Jahrhundert wird als das menschenverachtende, menschenrechtsverletzende, mörderische zwanzigste Jahrhundert in die Geschichte eingehen. Es rechnet die Toten, die Gefolterten, Verhungerten, Expatrierten und Emigrierten nur nach Hekatomben-Millionen." FAZ vom 11.8.1999. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die DDR-Forschung: Beliebt ist die Reduktion der Motive auf materielle Gründe, wonach es sich bei „autonomen Wanderungen (Alten-, Bildungs- und Familienwanderungen, Wanderungen aus politischen Motiven) [...] häufig um sog. arbeitsmarktinduzierte Wanderungen" handele. Klaus Sieveking: Migration und Rechtsstatus von Zuwanderern - bundesrepublikanische und europäische Aspekte, in: Recht und Politik 3 (1992), S. 135-144, hier 135. BGBl., Teil I, Nr. 22, vom 22.5.1953, S. 201-221, hier 203. Was das MfS unter dem Begriff Übersiedlung verstand, zeigt das regelmäßige Verfahren in solchen Fällen, wo die SED respektive das MfS Interesse am Verbleib der betreffenden Personen hatte, diese aber von ihrem „Recht" auf Übersiedlung nicht abließen. Als „hartnäckige" Antragsteller („rechtswidrige Antragsteller") waren sie massiven Schikanen und Restriktionen ausgesetzt. Es sei auch darauf hingewiesen, daß

Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ/DDR

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Legitimation des DDR-Regimes, so, als wäre das Verlassen der SBZ/DDR ohne weiteres dem üblichen Wanderungsgeschehen zuordnungsfahig. Von Wanderungsbewegung sollte aber nur gesprochen werden, wenn es grundsätzlich die natürliche und/oder rechtliche Möglichkeit zur Auswanderung - für alle - gibt. Das war aber in der SBZ/DDR nicht der Fall." Ferner genügt es nicht, wenn, wie gelegentlich behauptet wird, die Flüchtlingsströme aus der SBZ „nachkriegsbedingten Umsiedlungsbewegungen und Familienzusammenführungen"12 zugeschrieben werden. Das Wissen um die Natur des Stalinismus/Kommunismus muß - als handlungsleitend13 - zumindest ins Kalkül gezogen werden. Gerade jene Protagonisten der Flüchtlingsströme, die am ehesten der Elite zuzurechnen sind, erlebten von den ersten Tagen an politische Repression. Selbst ein so wohlwollendes Engagement, wie es HansGeorg Gadamer mit den Machthabem versuchte, mußte rasch scheitern.14 Schließlich befriedigt es auch nicht, wenn Flucht und Übersiedlung als Modalitäten des Wanderungsgeschehens klassifiziert werden. Sie dagegen als „Sonderfalle der Zwangswanderung"15 auszuweisen, ist zwar begrifflich konsensfahig, aber kompliziert. Der Oberbegriff „Fluchtgeschehen" reflektiert also am ehesten die totalitäre Natur der SBZ/DDR und ist zudem mit dem MfS-üblichen Begriffsinventar weitgehend kohärent. Freilich schließt dieser Begriff nicht sämtliche Einzelfalle16 und Randerscheinungen ein.17 DDR-Geschichte, wenn sie sich pronon-

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das MfS die „Übersiedlung von Inoffiziellen Mitarbeitern" zum Zwecke politischoperativer Aufgaben betrieb. Zur Definitionsproblematik vgl. Ulrike Poppe u.a. (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995. Der Blick auf die frühe Nachkriegszeit, scheinbar rechtsstaatliche Möglichkeiten in den achtziger Jahren oder die Fluchtwelle in der Spätphase der DDR tun diesem Urteil keinen Abbruch, im Gegenteil: diese Phänomene markieren und qualifizieren als „Rand" die eigentliche Gefängnisnatur des DDR-Staates. Hartmut Wendt: Die deutsch-deutschen Wanderungen - Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: Deutschland Archiv 24 (1991), S. 386-395, hier 388. Die marxistisch-leninistische Indoktrination der Schüler begann bereits 1946. Unter „Grundsätzliches und Methodisches" wurden die Lehrpläne in Bezug zur deutschen Geschichte auf Bauernkrieg, bürgerliche Revolution 1948/49, Arbeiterbewegung und demokratisch-antifaschistische Bewegung festgelegt. In: Lehrpläne für die Grundund Oberschulen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Geschichte. Berlin und Leipzig 1946, S. 3. Vgl. Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie. Tübingen 1999, S. 261— 292. Wendt: Wanderungen (wie Anm. 12), S. 386. Zum Beispiel der Ruf an eine westdeutsche Universität (in den fünfziger Jahren) oder die Übersiedlung zwecks Familienzusammenführung (in den achtziger Jahren).

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eiert als solche zu erkennen gibt, sollte nicht in übergeordnete historische Begriffszusammenhänge - hier Wanderungsgeschehen - künstlich „eingehängt" werden. Der Begriff „Elite" Nicht weniger problematisch ist der Begriff Elite. Folgende Prämissen sind unabdingbar: 1. D i e „Elitetheorie" galt in der D D R als bürgerlich und war mit den negativsten Etiketten belegt. 18 Dies entsprach der leninistischen Aversion gegenüber j e d e m Individualismus; 19 2. „Elite" wird heute eher quantifizierend 20 und a-individuell als qualifizierend und individuell gebraucht; 3. Der Begriff „Elite" ist von aporetischer Natur; 4. Gleichwohl impliziert „Elite" nach w i e vor einen Inbegriff v o n Führerschaft, fachlicher Unersetzbarkeit und Herrschaftswissen. Unabhängig von allen Definitions-, Beschreibungsund DDRLeugnungsversuchen hat es faktisch eine Elite von Wissenschaftlern, Technikern und Wissenschaftsmanagern in der D D R gegeben. D i e Majorität dieser 17

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Aber auch dies ist so sicher nicht. Denn unter dem aristotelischen Aspekt eines sittlichen Strebens nach Glückseligkeit in der Polis als eines zöon politikön wäre letztlich jede Entscheidung gegen die totalitäre DDR notwendig eine politische. Danach bestand das Ziel darin, die „gesellschaftliche Entwicklung als das Werk einer Führungsschicht nachzuweisen, deren [...] Herrschaft über die Massen sie aus angeblich besonderen sozialen, biologischen, geistigen oder sittlichen Qualitäten [...] herzuleiten versucht." Letztlich diente dies dazu, zu behaupten, „daß die wissenschaftlichtechnische Revolution zwangsläufig die fuhrende Rolle der Intelligenz erfordere [...]. In: Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin (Ost) 1973. Nahezu wortgleich bei Georg Klaus und Manfred Buhr: Philosophisches Wörterbuch. Leipzig 1969. - Erst in den achtziger Jahren löste sich die Verkrampfung in dieser Debatte. Dies hatte seinen Grund im Mangel an Spitzen- und Führungskräften. Vgl. Harald Schliwa: „Warum schenken heute die Gesellschaftswissenschaftler der DDR diesem Problem [...] größere Aufmerksamkeit?" Ders.: Vom Stellenwert der Persönlichkeitsentwicklung und der Individualität in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 8 (1988), S. 704-712, hier 704. Kuczynski hat dies in „Das Problem der Elite" zutreffend charakterisiert: „Mein Gott, was für eine Unbildung in unserem Lexikon! Und mehr: Was für eine Täuschung über die Realität in der DDR! Denn hier wurde eine ausgesprochene Elitepolitik auf einem Gebiet betrieben, auf dem des Sports." Sein Versuch, eine .Ausdehnung des Prinzips der Elite auch auf die Wissenschaften" zu bewirken, beantwortete die Abt. Wissenschaften im ZK der SED abschlägig: „Wir wollen keine Wissenschaftler-Elite erziehen". Bei Jürgen Kuczynski: Ein Leben in der Wissenschaft der DDR Münster 1994, S. 42-54, hier 43 f. Wenn wie im Falle der Hochschullehrerschaft zur Zeit der Weimarer Republik überschaubar, mag es noch angehen. Vgl. Kurt Sontheimer: Die deutschen Hochschullehrer in der Zeit der Weimarer Republik, in: Klaus Schwabe (Hg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815-1945. Boppard 1988, S. 215-224, hier 215.

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Kreise hat sich selbst auch so verstanden.21 Das markanteste Merkmal bildete deren tradierter bürgerlicher Lebensstil, der, sofern er sich ungebrochen durch die staatlich vorgegebenen Verhaltensformen zu erkennen gab, vor allem in der Privatsphäre gelebt wurde. Dieses Phänomen ist als Nonkonformität beschreibbar. Waren die Träger solchen Lebensstils Funktionäre der DDRWissenschaft, zeigte er sich nicht selten völlig offen. Tatsächlich war es einer kleinen und mächtigen Gruppe von Wissenschaftlern gestattet, quasi in Doppelmoral zu leben (unter anderem Peter Adolf Thiessen, Max Steenbeck, Robert Rompe und Manfred von Ardenne). Allein sie bildeten Elite im wahren Sinne des Wortes. Sie und wenige andere ließen sich auf das Konstrukt sozialistischer Wissenschaft ein und haben allererst zu verantworten, daß es der SED gelang, diese künstliche Symbiose begrifflich über die Zeiten zu retten. Schaut man nach Institutionen aus, deren maßgebende Wissenschaftler schon immer als Elite galten, was naturgemäß auch auf deren Mitarbeiter ausstrahlte, so fallen insbesondere die Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) sowie die Deutsche Akademie der Naturforscher „Leopoldina" auf. Eine Anstellung an der AdW war das ungeschriebene Ziel nahezu aller Universitäts- und Hochschulabsolventen. Interessanterweise wurde den Akademikern, abzüglich üblicher Ressentiments, die Selbstzuschreibung „Elite" im allgemeinen nicht streitig gemacht. Vertretern anderer „Funktionseliten", wie den Wirtschafts- und Parteimagnaten, ist diese „öffentliche Anerkennung" keinesfalls zuteil geworden. Wenn der wissenschaftlichen Intelligenz der ehemaligen DDR insgesamt die Bedeutung einer Funktionselite zugebilligt wird, muß dies, sollten sich Befunde wie Udo Rieges kulturelle Deutung dieser sozialen Schicht als valide erweisen,22 notwendigerweise zu einem contradictio in adjecto fuhren. In Vermeidung solchen Widerspruchs müßte Funktionselite quantitativ so eingegrenzt werden, daß man wieder auf einen personell überschaubaren Kreis stieße.23 Der Vorteil zahlenmäßig großer Funktionseliten wäre mit Blick auf die Schadensbilanzierung allerdings dahin. Diese läßt sich, etwa mit Blick auf Ausbildungs- und Personalkosten, für große Durchschnitte relativ leicht ermit-

Die Selbstsetzung gilt heute bestenfalls als antiquiert. Gleichwohl ist die Geschichte von dieser Modalität des Geistes durchsetzt: Zunit- und Ordenswesen; Römer IX, Calvinismus; Nietzsche (Ecce homo). Siehe unten. Udo Riege: Intelligenz und Kultur in der DDR. Eine Nachbereitung, in: Deutschland Archiv 25 (1992), S. 966-977. Für die siebziger und achtziger Jahre ist aber bezeichnend, daß, schaut man auf die Leitungsstrukturen von Wissenschaft und Technik, nunmehr (Nomenklatur-)Kader der SED das Geschehen weitgehend bestimmten. Sie als Elite zu bezeichnen, führt aber notwendigerweise zum Begriffswiderspruch (vgl. oben, Punkt 4 der Prämissen): sie dienten allererst der SED und nicht der Wissenschaft.

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teln. Der Spitzenwissenschaftler aber, als innovative Kraft, Wissensträger, Autorität und Lehrer, entzieht sich einer solchen Arithmetik. „Wertelite" Die Gesinnung mag das tiefstgehende Lot zur Bestimmung von „Wertelite" sein, gleichsam deren archimedischer Punkt. Die Bedeutung „bloßer" SEDParteizugehörigkeit ist zum Verständnis der Zuordnungsproblematik von Personen zu einer solchen Gemeinschaft unbrauchbar. „Das Auseinanderfallen von Parteizugehörigkeit und tatsächlichen weltanschaulichpolitischen Positionen war besonders unter Naturwissenschaftlern anzutreffen", schreibt der Sowjetunion-Experte Beyrau in „Intelligenz und Dissens" und zitiert den Dissidenten Leonid Pljuschtsch, wonach dieser in seinem Arbeitsbereich „der einzige überzeugte Marxist gewesen [sei], obwohl es [dort] mehrere Parteimitglieder gab."24 Dies trifft auch auf die DDR zu. Das asketische Wissenschaftsideal Max Webers ist zwar in der DDR in sein Gegenteil verkehrt worden, da dem Marxismus-Leninismus als oberste wertvermittelnde Leitidee gleichsam Gesetzescharakter zukam, jedoch mit der Konsequenz, daß bürgerliche Wissenschaftler das Webersche Ideal im Sinne eines tendenziellen Nischendaseins lebten. Und generell? Nach Klaus Schwabe sei „es erst der Erste Weltkrieg gewesen, der dem moralischen Führungsanspruch der deutschen Wissenschaft, ihrem Selbstverständnis, eine Wertelite zu sein, den entscheidenden Stoß versetzt hat." Wenn die „Wurzeln dieses Eigenverständnisses der deutschen Gelehrten als einer sinnvermittelnden Wertelite in der preußischen Reformära zu suchen sind"25, diese aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits als degeneriert diagnostiziert wurden,26 andererseits der Geist der Sommerfeldschule bis in die dreißiger Jahre und darüber hinaus reiche Früchte trug,27 so drängt sich die Frage auf, ob ein großes singuläres Ereignis wie der Erste Weltkrieg überhaupt ein solches verinnerlichtes Selbstverständnis zu „töten" in der Lage gewesen sein kann. Dem humanistischen Bildungsideal verpflichtete Wissenschaftler wie Niels Bohr, Max Planck, Albert Einstein, Werner 24 25

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Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985. Göttingen 1993, S. 155. Klaus Schwabe: Einführende Bemerkungen: Rahmenbedingungen und Selbstdeutung des beruflichen Wirkens deutscher Gelehrter. Ders.: Hochschullehrer (wie Anm. 20), S. 16 f. Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Rolf Kreibich: Die Wissenschaftsgesellschaft. Frankfurt am Main 1986, S. 208 f. Vgl. Nietzsches grundlegende Kritik der deutschen Bildungsanstalten zu Beginn des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts. Friedrich Nietzsche: Fünf öffentliche Vorträge, Einleitung und Vorrede über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in: Kritische Gesamtausgabe, Band ni/2. Berlin und New York 1973, S. 133-244. Vgl. Michael Eckert: Die Atomphysiker. Eine Geschichte der theoretischen Physik am Beispiel der Sommerfeldschule. Braunschweig und Wiesbaden 1993.

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Heisenberg und Kurt Lewin - sowie in neuerer Zeit Hans-Georg Gadamer und Carl Friedrich von Weizsäcker - haben dieses Selbstverständnis jedenfalls immer gelebt und weitergegeben. Die Thiessens 28 sollten und dürfen nicht pars pro toto stehen.

2. Die Situation der Intelligenz Situationsbeschreibungen wollen vollständige „Bilder" von Geschehen liefern. Ihr Sinn besteht darin, das Verständnis von Geschehnisabläufen zu präzisieren und adäquate Begrifflichkeiten zu schaffen. 29 Sowohl in der Literatur30, Historiographie 31 als auch in der Soziologie 32 sind entsprechende Versuche, Geschehen aus seinem Kontext heraus zu erhellen, bekannt. Allein der Wissenschaftstheoretiker und Sozialpsychologe Kurt Lewin hat hierzu eine Metatheorie erarbeitet: die Feldtheorie. 33 Quasi-feldtheoretische Begriffe oder Denkansätze finden sich in der Literatur zum Fluchtgeschehen zuhauf. Das wundert nicht, da hier dynamische Prozesse, Interdependenzen, Konflikte, Restriktionen und Barrieren eine dominante Rolle spielen. So sieht der MfS-Forscher Bernd Eisenfeld die „Ab-

Vorsitzender des Reiehsforschungsrates, Träger des Goldenen Parteiabzeichens; 1955 Rückkehr aus der UdSSR; Vorsitzender des Forschungsrates der DDR. „Er hatte zur nationalsozialistischen Elite gehört und war maßgeblich an der ,Reinigung' der wissenschaftlichen Institute von Juden und anderen staatsfeindlichen' Elementen beteiligt. [...] Der russische Kommandant Mute höchst eigenmächtig die notwendige Entnazifizierung durch und schickte ihn zur Nachbehandlung' nach Rußland. Sein Auftauchen als ,freiwilliger Mitarbeiter' und Kollege bewies mir, daß es höchste Zeit war, mir meine antifasclustischen Ressentiments abzugewöhnen." Bei Heinz und Elfi Barwich: Das Rote Atom. München 1967, S. 39. Bedacht, daß 1946 von 29 Ordentlichen Mitgliedern der Preußischen Akademie zehn aus politischen Gründen aus der Mitgliederliste gestrichen wurden, und nur Thiessens Streichung - nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion - aufgehoben wurde, zeigt dies nicht Willkür, sondern pragmatische Berechnung. Vgl. Conrad Grau: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Heidelberg, Berlin und Oxford 1993, S. 236. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989. Funktion von Phänotypus, „Sosein" und „Rand" im Schaffen von Siegfried Lenz (z. B.: „Deutschstunde"). Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Die Betrachtung der sechs Bedingtheiten. Leipzig 1985. Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. Berlin 1931. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Leipzig und Weimar 1981. Carl-Friedrich Graumann (Hg.): Kurt-Lewin-Werkausgabe (künftig: KLW). Bern und Stuttgart, seit 1981. Reinhard Buthmann: Widerständiges Verhalten und Feldtheorie. Theorie versus Wirklichkeit? In: Macht Ohnmacht Gegenmacht. Grundfragen der Analyse politischer Gegnerschaft in der DDR. Ein Tagungsband (erscheint 2001 bei edition Temmen).

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Stimmung mit den Füßen" als Resultante von „innerer Verfassung der DDR" und „Anziehungskraft Westdeutschlands" und spricht in Bezug auf die Ereignisse im Herbst 1989 von einem „Dammbruch".34 Das Phänomen des Dammbruchs hat Morton Deutsch, Schüler Lewins, früh als „aufgeschobene Handlung" beschrieben und experimentell nachgewiesen.35 Die generelle Dynamik solchen Geschehens hat der Bürgerrechtler und Theologe Ehrhart Neubert im Blick, wenn er betont: „Die Angst, endgültig in der DDR eingeschlossen zu werden, setzte die hohe Hemmschwelle, den angestammten Lebensbereich und die mühsam erarbeitete Lebensgrundlage zu verlassen, herab."36 Geschichtshistoriographisch gesehen haben insbesondere Vertreter der konservativen Deutschlandforschung37 „feldtheoretisch" argumentiert. Diese Koinzidenz ist nicht überraschend, denn jede reflektierte Lebenserfahrung „weiß" von mehreren Faktoren, die eine Handlung erst möglich machten, „weiß" von der Bedeutung des Zufalls, der Nuance und vor allem von der Macht der Situation und der Autonomie des Individuums. Für eine angewandte Feldtheorie, die eine Methode der „.allmählichen Approximation' bei schrittweise zunehmender Spezialisierung" darstellt und „Tatsachen [...] aus einer Situation nicht eliminiert",38 können nicht wenige aus der Feder konservativer Deutschlandforschung stammende Situationsbeschreibungen als brauchbare erste Approximationen gelten. Jürgen Rühle hat ein solches Situationsbild, dessen Gültigkeit kraft des totalitären Charakters des DDR-Regimes bis zuletzt Bestand hatte,39 bereits 1956 aufgezeigt: „Irgendwann einmal kommt für die meisten der Punkt, wo der Widerspruch zum System unaufhebbar wird: Der Direktor des Märkischen Museums in Ostberlin mußte seine Stellung aufgeben und sich nach Westberlin absetzen, weil er Handzeichnungen des .Formalisten' 34

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„1989 kam es dann im Sommer zu einem regelrechten Dammbruch". Bei Rainer Eppelmann u.a. (Hg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Paderborn, München, Wien und Zürich 1996, S. 201. Alfred J. Marrow: Kurt Lewin - Leben und Werk. Stuttgart 1977, S. 55. Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989. Bonn 1997, S. 133. Vgl. Gerd Meyer: Die westdeutsche DDR- und Deutschlandforschung im Umbruch. Probleme und Perspektiven in den Sozialwissenschaften, in: Deutschland Archiv 25 (1992), S. 273-285. Feldtheorie und Experiment in der Sozialpsychologie, in: KLW, Band 4, S. 187-213, hier 207. Diagnostizierbare Liberalisierungseffekte sind eher Folgen äußerer Zwänge (KSZESchlußakte; drohende Zahlungsunfähigkeit), als daß sie eine Abkehr von der „welthistorischen Mission" des Kommunismus belegen. Technokratieeffekte, fiskalischer Pragmatismus, Ermüdungserscheinungen und die - posthume - Bejahung politisch motivierter Theorien sollten nicht mit tatsächlicher Liberalisierung verwechselt werden.

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Grünewald publiziert hatte; der Intendant der Staatsoper, Ernst Legal, trat zurück, weil er nicht mit der Entlassung seiner Westberliner Arbeitskräfte einverstanden war; der Maler Horst Strempel flüchtete, als sein ,formalistisches' Wandbild im Berliner Bahnhof Friedrichstraße übermalt wurde. Wieweit es dem einzelnen möglich ist, seine Kulturaufgabe in der Zone zu erfüllen, hängt von der ideologischen Exponierung seines Berufes, dem jeweiligen Kurs der Partei, der lokalen Situation ab; wie weit er nachzugeben bereit ist, bzw. wie er sich entscheidet, wenn er von der Partei in die Enge getrieben wird, von ganz individuellen Voraussetzungen, wie Alter, Charakter, Familienbindung, Weltanschauung usw. [...] Einen Sonderfall stellt die Lage der technischen Intelligenz dar, die von politischen und ideologischen Zumutungen weitgehend verschont blieb. Hier war der Typus des unpolitischen Fachmannes noch möglich. Wenn freilich das Problem reichlich durchdacht wird, dann ist die politische Verantwortung des Technikers, der beispielsweise für die Rüstung oder die Sowjetunion arbeitet, nicht geringer. Dieser Umstand sowie die allgemeine Misere in der Zone haben dazu geführt, daß auch und gerade die technische Intelligenz in starkem Maße die Zone verläßt. [...] Unter dem Eindruck der Massenflucht ist die SED dazu übergegangen, auch von ihnen ein politisches Bekenntnis zu fordern, was aber den Lösungsprozeß nur beschleunigt. Bisher konnten die Ingenieure, Techniker usw. im Betrieb wie im Privatleben eine Atmosphäre politischer Ruhe und Neutralität um sich schaffen, die ihnen Leben und Arbeit ermöglichte, andererseits auch Immunität und Unabhängigkeit gegenüber der Staatsideologie verbreiteten. Für das totalitäre System sind diese Oasen in seinem Machtbereich naturgemäß auf die Dauer untragbar, weil dadurch wichtige Kräfte des gesellschaftlichen Getriebes außerhalb des Drucksystems bleiben und gegebenenfalls, wie jetzt bei der Abwanderung nach dem Westen, anders als gewünscht handeln."40 Diese Diagnose ist heute aufgrund des Vorhandenseins Tausender „Operativer Materialien" des MfS unbestritten. Es bleibt hinzuzufügen, daß, wie Heinrich von zur Mühlen 1960 feststellte, auch die Hochschullehrer den Konflikten „kaum noch [...] auszuweichen" vermochten, wenn beispielsweise der Historiker „nur das marxistische Geschichtsbild vermitteln" durfte und selbst dem

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Jürgen Rühle: Die Haltung der Intellektuellen in der Sowjetzone, in: SBZ-Archiv 7 (1956), S. 4-7; Kurt Hager: Antwort auf Fragen der Intelligenz. Neues Deutschland vom 14.10.1955.

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Biologen „seine ,undialektische Arbeitsmethode' zum Vorwurf gemacht"41 worden war. Natürlich gab es auch immer wieder Stimmen, die zum Bleiben ermunterten. Auch mag Ende der vierziger Jahre bei Wissenschaftlern die Hoffnung auf eine Meisterung der Situation noch überwogen haben: „Man kann auch als Nichtmarxist hier arbeiten". Doch selbst diese Stimme bat die westdeutschen Kollegen, „uns nicht auflzujgeben"42. Der renommierte Atomphysiker Heinz Barwich resümierte knapp 20 Jahre später: „Ich habe zwischen 1955 und 1961 immer wieder versucht, durch die Politik der kleinen Schritte manche Übertreibung der Partei zu durchkreuzen [und ein] Doppelleben über 20 Jahre durchgehalten."43 Das geistige Klima Tatsächlich ist die Frage nach dem geistigen Klima für die Evaluation der konkreten Situation, unter der die Wissenschaftler zu arbeiten hatten, ein nicht zu unterschätzendes Faktum zur Erklärung und Erhellung der Motive zum Verlassen der SBZ/DDR. In aller Regel wichen die Wissenschaftler aus, die sich dem Regime ideologisch nicht verkaufen wollten oder konnten. Die radikalste „Systemantwort" hieß: Flucht in den Westen. Nach dem Mauerbau war es die Nische, die aus naheliegenden Gründen bevorzugt gewählt wurde. Über zwei Jahrzehnte lang hat die SED, realiter das MfS, ein kreatives und innovatives Kollektiv von Mikroelektronikern in Dresden „atmosphärisch" vergiftet. Einer seiner talentiertesten Physiker, Ludwig Steinhäuser, wurde 1977 wegen angeblicher Spionage, Sabotage und versuchten „ungesetzlichen Grenzübertritts" zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.44 Steinhäuser, von Werner Hartmann43 gefordert, zählte neben seinem Kollegen Konrad Iffarth, zu den namhaften Opfern der SED-Wissenschafts- und Personalpolitik in diesem Bereich. Hartmann selbst entging aufgrund seiner nationalen und internationalen Reputation nur knapp einer langjährigen Freiheitsstrafe.46 Er starb verbittert 1988.47 Aufschlußreich ist, daß mit dem engeren Kollegenkreis um Hartmann eine Wissenschaftslandschaft sichtbar wird, die in den fünfziger und sechziger Jahren für die DDR typisch war. Ähnliche Kreise hat es um Manfred von Ardenne und einige andere Spitzenwissenschaftler der Deut-

Heinrich von zur Mühlen: Die Flucht der Wissenschaftler. Flüchtlingszahlen und Fluchtgründe, in: SBZ-Archiv 12 (1960), S. 123 f., hier 124. Physikalische Blätter 4 (1948), S. 453. Physikalische Blätter 22 (1966), S. 267. IM „Rüdiger"; BStU, ASt Dresden, AIM 4885/90, Band 9, Bl. 144. Werner Hartmann (geb. 30.1.1912), Physiker. Weitere Hinweise zu seiner Bedeutung siehe unten. OV „Molekül"; BStU, ASt Dresden, AOV 2554/76, Band 45. Werner Hartmann - Leiter der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden. In: Gedenkschrift des Zentrums für Mikroelektronik Dresden GmbH (1990).

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sehen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gegeben. Sie pflegten in diesen Dezennien gleichermaßen enge wissenschaftliche Kontakte untereinander wie auch zu ihren westdeutschen Kollegen. Sie absolvierten ähnliche Ausbildungswege und sind zu einem beachtlichen Teil von denselben Lehrern - des Goldenen Zeitalters der Physik - geprägt und gefördert worden. Dies tradierte Beziehungen so hoher Kohärenz, daß die „bloße" Zweistaatlichkeit Deutschlands nicht imstande war, diese zu eliminieren. Um diese Kreise zu zerstören, bedurfte es mehr als nur „offizieller" SED-Kaderpolitik: hier war der genuine Platz des MfS. Signifikanter Ausdruck dieser bürgerlichen Tradition war bis weit in die sechziger Jahre hinein die westdeutsche Zeitschrift „Physikalische Blätter", deren freier und kreativer Geist für die SED reines Gift war. Tradition, Verantwortung, politisches Engagement und philosophische Kompetenz der Physiker sind hier zu einem bis heute nicht wieder erreichten Vademekum geronnen. So wird verständlich, daß die SED diese Jahrgänge noch bis in die achtziger Jahre hinein für weite Kreise der naturwissenschaftlichen Intelligenz unzugänglich machte,48 und zwar nicht nur, weil Ernst Brüche sie 1946 programmatisch zur „Wiederaufnahme der innerdeutschen Aussprache"49 eingeschworen hatte. Immerhin durften Experten-IM des MfS die Zeitschrift zum Aufspüren von Abwerbungs- respektive Fluchtabsichten nutzen.50 Nota bene relativieren diese Jahrgänge das Verdikt eines angeblichen Wert-, Sinn- und Verantwortungsverlustes der (Natur-)wissenschaftler erheblich.51 Hartmut Wendts generelles Urteil trifft gerade auf die Lage der Intelligenz in dieser Zeit zu, wenn er schreibt, daß die „wesentlichen Gründe [zum Verlassen der DDR] in [den] Repressionen gegen Kirchen, bürgerlichen Mittelstand und Intelligenz" zu finden sind.52 Exakt diese Trias von SEDVorbehalten war es, der das schrumpfende Residuum des Bildungsbürgertums in der SBZ/DDR bis zuletzt ausgesetzt blieb. Eine Fokussierung von Vorbe48

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Zwar genossen ausgewählte Wissenschaftler Privilegien. Doch auch sie unterstanden der Kontrolle seitens des MfS, zu welchem Zweck und wann auch immer: „Das in der Zielstellung formulierte Auffinden der Zeitschriften ,Bild der Wissenschaft' und .Physikalische Blätter' verlief negativ." In: Molekül (wie Anm. 46), Band 16, Bl. 258. Rüdiger (wie Anm. 44), Band 14, Bl. 9-43, hier 9. Ebd., Bl. 9-26. Zu Unrecht wird hier Max Weber bemüht, wenn ihm, etwa in Entgegensetzung zu Wilhelm von Humboldts „Bildung durch Wissenschaft", zugeschrieben wird, den pragmatischen und dienstleistenden Charakter der „Wissenschaft als Beruf' gefordert zu haben. Diesen hat er als Zeitgeist konstatiert. Weber wendete sich dezidiert gegen den Einzug von Politik, Parteimeinungen, theologischen und fachfremden Werturteilen in die Hörsäle. Dies insistierte nicht die Entlassung der Wissenschaftler in die Verantwortungslosigkeit. Vgl. Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988, S. 582-613. Wendt: Wanderungen (wie Anm. 12), S. 389.

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halten, die so auf keine andere Bevölkerungsschicht zutraf! Mit den überlieferten Materialien zu intensiv und exzessiv geführten „politisch-operativen Maßnahmen"53 des MfS, deren Wirkungsdimension bei weitem das in den Schatten stellt, was bislang hierzu bekannt geworden ist,54 besitzen wir ein valides Zeugnis von der Situation der Intelligenz in der DDR. Das Feindbild des SED-MfS-Geistes gegen Tradition sowie Art und Weise bürgerlichen Selbstverständnisses war so komisch und seltsam wie gefahrlich und wirklichkeitsfremd: „Es wurde erkannt, daß eine Vielzahl entscheidender Kommandostellen in forschungs- und wirtschaftsleitenden zentralen Gremien, Universitäten und Hochschulen sowie strukturbestimmenden Industriebetrieben der DDR durch Personen besetzt waren und sind, die aufgrund engster Konzernverbindungen und ihres zum Teil erkannten früheren ausgeprägten nazistischen Engagements55 mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls feindlich gehandelt haben und noch handeln."56 Oder personenbezogen: „Professor Hartmann ist ein bürgerlicher Wissenschaftler mit einer antikommunistischen und antisowjetischen Grundhaltung. Sein persönlicher Umgangskreis sind ihm Gleichgesinnte, insbesondere solche, die nach 1945 ihren Wohnsitz in der BRD nahmen und nach wie vor zu den reaktionären Kräften zählen. Zur Aufrechterhaltung dieser Verbindungen setzte er sich ständig über die von ihm eingegangenen Verpflichtungen, insbesondere die in der [...] Zusammenarbeit mit der UdSSR festgelegten Verhaltensnormen, hinweg f...]."57 Was viele früh erkannten und zu der im Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Lebensweg einzig richtigen Handlung veranlaßte, nämlich die SBZ/DDR

Meist in Form „Operativer Vorgänge" (OV). Das Defizit soll mittelfristig mit einer umfassenden Studie des Verfassers zur Wirkungsgeschichte des MfS in Wissenschaft und Forschung geschlossen werden: „SEDWissenschaftspolitik und Staatssicherheit". Zur Schizophrenie dieses Arguments siehe Anm. 28. Die Einschätzung aus dem Jahre 1977 stammt von dem Diplomingenieur und IM in Schlüsselposition Hanisch alias „Rüdiger" und „Rügen". In: Rüdiger (wie Anm. 44), Bl. 145. Stellungnahme zur Eingabe Prof. Hartmanns an den Vorsitzenden des Staatsrates vom 12.5.1975. In: Molekül (wie Anm. 46), Band 4, Bl. 168-172, hier 168.

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rasch zu verlassen (wie Gadamer58 und Hund59), war das tiefe Mißtrauen, ja stellenweise der blanke Haß, der ihnen von Seiten der KPD- bzw. SEDFunktionäre entgegenschlug.60 Nicht wenige schoben die Flucht auf und schafften es gerade noch rechtzeitig (wie Kockel61), andere mußten auf einen glücklichen Umstand hoffen (wie Barwich62), einige zögerten zu lange (wie Hartmann63); wiederum andere, die blieben, richteten sich in Nischen ein (wie Tembrock64), glichen sich, sofern sie kein Übergewissen besaßen (wie von Ardenne65), bis zur Selbstverleugnung der SED an (wie Steenbeck66) oder „wendeten" sich zu gewissenlosen Helfern des SED-Regimes (wie Thiessen67). Bürgerliche Wissenschaftler mit sozialistischer bzw. marxistischer Gesinnung, die seitens des SED-Staates in Mißkredit gerieten, befaßten sich mit Abwanderungsgedanken eher widerwillig (wie Bloch68) oder niemals (wie Kuczynski69). Wie das geistige Klima, so war auch die soziale Lage der Akademiker höchst unbefriedigend. Der leider viel zu früh verstorbene renommierte DDRSoziologe Manfred Lötsch war wohl der einzige, der dies beizeiten prononciert behauptete: „Lebensstil, Lebensweise und -bedingungen stehen zu den gesellschaftlichen Bedingungen in einem Grundwiderspruch". Seine Forderungen bildeten - defizitär betrachtet - das Target der Fluchtmotive: „Verbesserung der Lebens-, Arbeits-, Kommunikations- und Informationsbedingungen; Akzeptanz spezifischer Lebensformen und die Abschaffung der Wohnungsnot: „Drei Leute - drei Zimmer, das geht nicht an für kreative Zwecke".70 Substantielle Eingriffe in das Selbstverständnis der „Gelehrtenrepublik" Wenn es der SED auf Grund ihrer Machtfiille und namentlich ihres „Schwertes" MfS schließlich doch gelang, das resistente bürgerliche Wissenschaftlerpotential zu zerschlagen, dann lag dies - neben dem Aderlaß durch das 58 59 60

61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Hans-Georg Gadamer (geb. 11.2.1900), Philosoph. Friedrich Hund (geb. 4.2.1896), Physiker. Ebenso durch die sowjetische Besatzungsmacht. Die von Ulbricht eingeführten Sondervergünstigungen für Spitzenwissenschaftler verstärkten noch die Ressentiments der SED-Funktionäre. Bernhard Kockel (geb. 3.9.1909), Physiker. Heinz Barwich (geb. 22.7.1911), Physiker. Vgl. Anm. 46 und 47. Günter Tembrock (geb. 7.6.1918), Zoologe und Verhaltensforscher. Baron Manfred von Ardenne (geb. 20.1.1907), Physiker. Max Steenbeck (geb. 21.3.1904), Physiker. Peter Adolf Thiessen (geb. 6.4.1899), Chemiker. Emst Bloch (geb. 8.7.1885), Philosoph. Jürgen Kuczynski (geb. 17.9.1904), Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler. Doktorandenkurs an der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1988. Privatarchiv des Verfassers.

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Fluchtgeschehen - vor allem am Faktor Zeit. Ihr Pyrrhus-Sieg71 besitzt hierin zwei Daten: zum einen die Akademiereform von 1968 bis 1972, hier signifikant die Absetzung des Generalsekretärs der Akademie der Wissenschaften, Ernst-August Lauter; und zum anderen die Zernichtung72 einer auf hohem Niveau stehenden industrienahen Forschung und Entwicklung zur Mikroelektronik, die ihren traurigen Höhepunkt 1974 erreichte, hier signifikant das Schicksal Werner Hartmanns. Danach war das bürgerliche Potential endgültig gebrochen. Zwar verfugte der SED-Staat bei weitem noch nicht über eine genügend hohe Zahl von „Parteisoldaten" für alle relevanten Führungsstellen in Forschung, Entwicklung und Hochtechnologie. Immerhin aber waren nun die wichtigsten Forschungszentren der Akademie und der Industrie fest in der Hand solcher Kräfte. Die Folgen waren verheerend.73 Die gesamte Wissenschaftspolitik der SED war von solchen Eingriffen gezeichnet. Erste bedeutende Strukturveränderungen an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin fanden vor dem Hintergrund einer in den Jahren von 1953 bis 1957 veränderten Wissenschaftspolitik der DDR statt.74 Entscheidend war, daß die SED dazu überging, die Akademie verstärkt zu administrieren, indem sie ihr Aufgaben und Funktionen „der Partei und Regierung" zuwies. Akademiepräsident Walter Friedrich75 sprach von „regelmäßige^] Fühlungnahme mit dem Herrn Ministerpräsidenten" und verkündete: „Mehr als bisher werden gemeinsame Beratungen mit den Leitern der tragenden staatlichen Organe die Koordinierung der wissenschaftlichen Arbeiten fordern und die Zusammenarbeit zwischen der Forschung und der Produktion wesentlich verbessern."76 Die strukturellen und wissenschaftspolitischen Veränderungen waren inspiriert von verstärkten Bemühungen der SED, die per-

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Die uneingeschränkte Macht der SED ab den siebziger Jahren ist als eine Art „kaderpolitische Inzucht" nicht ohne historische Analogien; vgl. die schwäbische Vetternwirtschaft an der Universität Tübingen, „die dazu führte, daß im achtzehnten Jahrhundert ganze Fakultäten nur aus Verwandten bestanden". Bei Walter Jens: Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik. München 1977, S. 108. Ich verwende diesen veralteten Begriff, weil er angemessener ist als „Vernichtung", da viele Bestandteile des „Vernichteten" - wenn auch verändert - weiterexistierten. Vgl. Bernd Falter: Die „technologische Lücke" - zum Rückstand der mikroelektronischen Industrie der DDR, in: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften. Technische Universität Dresden, Heft 25 (1998), S. 15-38. Vgl. Reinhard Buthmann: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR. Berlin 2000, S. 1128.

Als Nachfolger von Johannes Stroux (1946 bis 1951) Präsident von 1951 bis 1956. Danach Max Volmer (1956 bis 1958), Werner Hartke (1958 bis 1968), Hermann Klare (1968 bis 1979), Werner Scheie (1979 bis 1989). Die Abwicklung der AdW erfolgte unter Horst Klinkmann. Aus dem Bericht des Präsidenten, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin - 1952-1953. Berlin 1955, S. 89.

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sonalpolitische Situation zu ihren Gunsten zu verändern. Anfangliche Erfolge 1953 verebbten bald wieder; lediglich sieben der 42 zugewählten Ordentlichen Akademiemitglieder waren SED-Genossen. Die am 25. Juli 1968 eingeleitete Akademiereform hatte zwar das Ziel, die Wissenschaft noch enger an die von der Partei- und Staatsfiihrung definierten Schwerpunktaufgaben der Volkswirtschaft zu binden,77 doch die personelle Umwälzung in den Leitungshierarchien stand unzweifelhaft im Mittelpunkt des Geschehens. Daß die Reform bei jenen Wissenschaftlern auf Widerstand stoßen mußte, die für eine unabhängigere Grundlagenforschung eintraten, war von der SED erwartet worden; ihr und dem MfS war vor allem die „Passivität einer Reihe älterer Akademiemitglieder" zuwider. Die Konfrontation kulminierte schließlich in der Desavouierung der Akademieleitung (Präsident Hermann Klare, Generalsekretär Ernst-August Lauter) durch die SED, namentlich durch deren 1. Sekretär der Akademieparteileitung Lotar Ziert.78 Nach der Akademiereform war eine neue Situation entstanden: „Es war nicht mehr die Akademie des Neubeginns nach 1945".79 Zwei Institutionen, die in der Literatur zur DDR-Wissenschaft selten behandelt werden, seien kurz erwähnt. Zum einen die Kammer der Technik (KdT), 1948 gegründet. In ihr sah Walter Ulbricht vor allem ein Instrument zur Bindung der „fortschrittlichen Intelligenz" an die DDR und somit zur Eindämmung des Fluchtgeschehens.80 Nach dem Mauerbau verlor sich mehr und mehr die Bedeutung dieser „Massenorganisation", die am augenfälligsten die Verproletarisierung der Intelligenz vorantrieb. Zum anderen die Deutsche Akademie der Naturforscher, „Leopoldina".81 Hier mußte bereits im Juni 1945 der große Emil Abderhalden82, der der Akademie von 1931 an als Präsident vorstand, auf Wunsch der USA Halle verlassen. Er hatte es in der Zeit des Nationalsozialismus verstanden, sich und seinem Hause weitgehend Autonomie zu bewahren.83 Die Frage in der Rückschau auf Nationalsozialismus und

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Vgl. Matthias Judt: DDR-Geschichte in Dokumenten. Berlin 1997, S. 238-242 und 274-291. Information der HA XVIII des MfS an Kurt Hager vom 25.10.1968: „Einige Probleme in der Deutschen Akademie der Wissenschaften im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Akademiereform". BStU, ZA, Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (künftig: ZAIG) 1600, Bl. 1-13, hier 2. Grau: Preußische Akademie (wie Anm. 28), S. 254. O. E. H. Becker: Die Kammer der Technik, in: PZ-Archiv 13 (1951), S. 9 f., hier 10. Vgl. Kristie Macrakis: Einheit der Wissenschaft versus deutsche Teilung. Die „Leopoldina" und das Machtdreieck in Ostdeutschland, in: Dieter Hoffmann und Kristie Macrakis (Hg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 147169. Emil Abderhalden (geb. 9.3.1877), Chemiker. Leo Stern: Zur Geschichte und wissenschaftlichen Leistung der deutschen Akademie der Naturforscher „Leopoldina". Berlin 1952, S. 77. ,

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Krieg, was denn von der „Leopoldina" geblieben ist, konnte der Marxist Leo Stern zu Beginn ihres vierten saeculums (1952) noch guten Gewissens positiv beantworten.84 Doch die Frage nach ihrem Selbstverständnis und Verhältnis zur SED, gut 30 Jahre später, evozierte Selbsttäuschung: Weitestgehend von Forschimg und Lehre abgeschnitten, hatte sie außerhalb eines elitären Zirkels „gutbürgerlicher" Wissenschaftler kaum mehr Bedeutung. So wurde sie schließlich zum Inbegriff jener typischen DDR-Schizophrenie, wonach die SED die Bedeutung von Grundlagenforschung und Tradition öffentlich predigte, gleichzeitig aber alles unternahm, was den alten unabhängigen Geist dieser Akademie zu bändigen versprach. Ein Mekka für junge Wissenschaftler und Studenten war sie schließlich immer weniger.85 Aufmerksamkeit war ihr in akademischen Kreisen - und dann immer auch vom MfS - lediglich dann beschieden, wenn Wissenschaftler aus dem Ausland zu Gastvorlesungen einreisten. 3. Statistische Hinweise Nach Erhebungen des DDR-Soziologen Lötsch waren nur maximal zehn Prozent der in Forschung und Entwicklung eingesetzten Hoch- und Fachschulkader, also etwa 12.000, kreativ und entwicklungsbestimmend.86 Selbst diese Zahl mag Insidern noch zu hoch erscheinen. Vermutlich waren es in einem engeren Sinne kaum mehr als 2000 bis 3000. Wie hoch der „Abfluß" aus einem solchen engen Elitekreis möglicherweise war, verdeutlicht das nähere kommunikative - also nicht nur institutsbezogene - Umfeld Werner Hartmanns87. Danach waren von 63 DDR-Wissenschaftlern bis Mitte der sechziger Jahre 14 „republikflüchtig" geworden.88 Nahezu jede dieser Fluchten bedeutete einen erheblichen Verlust für die Forschung der DDR.89 Unterstellt, daß dieser Anteil von 20 Prozent repräsentativ ist, heißt, daß die Valenz zur Flucht bei hochkarätigen Wissenschaftlern um ein Vielfaches höher war, als bei der Gesamtkohorte der wissenschaftlich-technischen Beschäftigten (ca. drei Prozent, siehe Abschnitt 6).

114 85 86 87 88 89

Ebd., S. 93-95. Macrakis kommt zu einem gegenteiligen Urteil: Leopoldina (wie Anm. 81), S. 150. Lötsch: „Ist uns klar, wie viel von so wenig Leuten abhängt?". Privatarchiv (wie Anm. 70). Siehe Kapitel 2. Rüdiger (wie Anm. 44), Bl. 212 f. Die meisten waren Physiker in leitender Stellung.

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Tabelle 1: FuE-Potential der DDR 90 (2)

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16.983.000 7.658.000 87.291 17.061.009 7.795.000 137.666 16.614.294 8.547.000 195.073 91

Jahr Bevölkerung Berufstätige Beschäftigte davon Hochschulkader

(6) (7) (8) (9)

(5)

(6)

13.183 37.273 78.668

1,7 4,8 9,2

(7)

(8)

9553 2192 9083 3057 18.285 7832

(9) 22,9 33,7 42,8

Verhältnis: Spalte 5 zu 3 (in Prozent)92 Beschäftigte an der DAW bzw. AdW davon Hochschulkader Verhältnis Spalte 8 zu 7 (in Prozent)

Wie problematisch es dagegen ist, alle Angehörigen der wissenschaftlichtechnischen Intelligenz als Funktionselite zu bezeichnen, zeigen nicht zuletzt die auf großen Zahlen basierenden soziologischen Befunde. So deckt sich zum Beispiel Udo Rieges Arbeit93 über kulturelle Bedürfiiisse und Interessen der ostdeutschen wissenschaftlich-technischen Intelligenz erstaunlich mit Vorurteilen, die kritische DDR-Bürger weiland dezidiert vertraten. Aber Riege beschreibt keine Elite, sondern eine eher amorphe Kohorte dieser soziologischen Schicht. 94 Kein Wunder, daß bei einer solchen Schicht kein „elitäres Intelligenzbewußtsein" abzulesen ist. Insofern trifft es zu, sie als eine spezifische

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FuE: Forschung und Entwicklung. Die Bevölkerungs- und Beschäftigtenzahlen in: Statistisches Jahrbuch der DDR 1990. Berlin (Ost) 1990, S. 1, 17 und 63. Die übrigen VbE-Daten (zu VbE siehe Anm. 107) in: Staatssekretariat für Forschung und Technik vom Juli 1965. SAPMO, Bestand Hoppegarten, DF 4/20521. Wissenschaftsstatistik m.b.H. im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft: Forschung und Entwicklung in der DDR. Daten aus der Wissenschaftsstatistik 1971 bis 1989. Essen 1990, S. 62 und 70. Bereinigt: 140.567. Aus: 195.073 VbE (siehe Anm. 107) plus 8.226 im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich Beschäftigte (VbE) minus 32.440 VbE-Leistungen außerhalb der FuE-Bereiche minus 30.300 VbE per „begrifflich-inhaltliche Säuberung". Von den 140.567 VbE waren 132.341 in der natur-, ingenieur-, agrarwissenschaftlichen sowie medizinischen Forschung und Entwicklung beschäftigt. 57.326 waren Wissenschaftler und Ingenieure. In: Wissenschaftsstatistik (wie Anm. 87), S. 19, 21 und 45. Nach Lötsch für 1988: 6,7 Prozent. Dagegen: BRD (2,3), USA (1,6), Japan (4,2). Privatarchiv (wie Anm. 70). Riege: Intelligenz (wie Anm. 22). Die empirische Grundlage bildete eine bereits 1985 unter Lötsch durchgeführte Untersuchung zu 2.908 Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz aus dem Hochschul- und Industriebereich.

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Schicht von Werktätigen95 („Verproletarisierung") zu bezeichnen. Unterhalb dieser statistischen Oberfläche existierten aber völlig divergente Verhaltensmuster und Biographien. Die oben bezifferte Schicht von ca. 12.000 respektive 2000 bis 3000 kreativen Wissenschaftlern und Technikern hat mit Sicherheit nicht so gelebt, wie es einige der Indikatoren Rieges nahelegen: z.B. unter Verwendung von „überdurchschnittlich wenig Freizeit zur Erfüllung von Arbeitsaufgaben [...]'i96. So verdunkelt der Durchschnitt des kulturellen Verhaltens aller Angehörigen der Intelligenz die Lebensweise der DDRWissenschaftlerelite bis zur Unkenntlichkeit. Ein weiteres Problemfeld bildet die Überlieferungslage der Zahlen zum Fluchtgeschehen sowie zum Umfang der wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz. Angaben zu geflüchteten Personen - Die Erfassung der Rentner geht häufig sowohl aus den Primärdaten als auch aus der Sekundärliteratur nicht hervor. Generell gilt, daß die DDR für den internen Gebrauch (Ministerium des Innern, Ministerium für Staatssicherheit) die Rentner gesondert auswies. Die lückenhafte Überlieferungslage läßt aber in vielen Fällen eine unzweifelhafte Zuordnung nicht zu. Wo ein solcher Nachweis fehlt, sind die Zahlen ob des großen Rentneranteils nahezu wertlos.97 - Flucht fand auch über Umwege98 und Drittstaaten99 statt. Angaben zu den Beschäftigten in Wissenschaft und Entwicklung - Wer als wissenschaftlicher oder wissenschaftlich-technischer Kader galt oder heute (nachträglich) gilt, ist umstritten. Sowohl im Westen als auch im Osten hat es einen steten Begriffswandel gegeben.100 So gibt es ältere Studien, in denen Techniker - also meist Fachschulingenieure - nicht der 95

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Bereits Nietzsche zog aus dem Niedergang der Bildung die begriffliche Konsequenz „Fabrikarbeiter", des unbedarften „Spezialisten". In: Bildungsanstalten (wie Anm. 26), S. 162. Riege: Intelligenz (wie Anm. 22), S. 970. Eine auf Angaben des Ministeriums des Innern (Mdl) gestützte Analyse des MfS gibt den enormen Anteil von Rentnern am Gesamtbestand der „Abwanderung" wieder: 1968 (57,2 Prozent), 1969 (60,3), 1970 (65,7). BStU, ZA, HA IX 1911, Bl. 6-25, hier 6.

Sogenannte Verbleiber. Monika Tantzscher: Die verlängerte Mauer. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Verhinderung von „Republikflucht". Ein Bericht für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. BStU (Hg.). Berlin 1998. Vgl. Dolores L. Augustine: Zwischen Privilegierung und Entmachtung. Ingenieure in der Ulbricht-Ära, in: Hoflmann und Macrakis: Naturwissenschaft (wie Anm. 81), S. 173-191.

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Intelligenz zugerechnet wurden, dagegen aber Apotheker und Lehrer. Zudem wurde in der DDR auch das mittlere medizinische sowie (ausgebildete) Kindergartenpersonal zum Bestand der Hoch- und Fachschulkader gezählt (zuletzt ca. 25 Prozent).101 - Besonders fragwürdig sind Angaben, in denen die Anzahl von Ingenieurabschlüssen, nicht aber deren Tätigkeit verzeichnet ist.102 Zutreffend bemerkt Beyrau, daß der „Ingenieurberuf in der Sowjetunion [...] in gewisser Weise als funktionales Äquivalent zur Profession des Juristen im Westen [anjgesehen werden" könne.103 Für die DDR galt dies zwar nicht im gleichen Maße,104 aber doch tendenziell. - Ein nicht unerheblicher Anteil des wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Kaderpotentials war mit Verwaltungsaufgaben, fern aller wissenschaftlich relevanten Tätigkeit befaßt. In den Akademien und Forschungseinrichtungen der UdSSR sollen es ca. 20 Prozent gewesen sein.105 Der entsprechende Anteil in der DDR war sicher nicht geringer. In der Auslandsabteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR waren Mitte der siebziger Jahre 150 Personen mit der Kontrolle der Auslandskontakte befaßt.106 Für solche und ähnliche MfS-nahe Arbeitsaufgaben lassen sich für die Akademie der Wissenschaften der DDR in den achtziger Jahren etwa 300 Personen feststellen. Vermutlich waren nahezu 500 Personen mit sicherheitsrelevanten Aufgaben beschäftigt: ungefähr drei Prozent der Gesamtbelegschaft oder fünf Prozent der Hoch- und Fachschulkader. - In aller Regel gaben die Fachministerien und staatlichen Organe der DDR die Anzahl der Arbeitskräfte in VbE107 an. Die überlieferten MfS-Bestände zeigen dagegen einen unregelmäßigen, meist wirren Gebrauch. Eine recht valide Personalbestandsanalyse hat das Staatssekretariat für Forschung und Technik (SFT) 1965 erstellt.108 Die Verfasser räumten ein, daß es in den zurückliegenden Jahren „sehr unterschiedliche Zahlen" gegeben habe, die „zu unterschiedlichen Einschätzungen des wissenschaftlich-technischen Potentials der DDR" geführt hätten. So wurde häufig von der „organisato101

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Privatarchiv (wie Anm. 70). „Abschlüsse - ,in-Beschäftigung"' fiir 1964 und (1971): 189.604 (159.921) - 281.219 (keine Angabe). 1963/65 sollen 26 Prozent der FuE-Mitarbeiter über einen Fachschulabschluß verfügt haben. Bei Augustine: Privilegierung (wie Anm. 100), S. 176 und 185. Beyrau: Dissens (wie Anm. 24), S. 145. Hier die Bedeutung der „Kaderschmiede" Hochschule für Ökonomie in Berlin (Karlshoist). Beyrau: Dissens (wie Anm. 24), S. 145. Ebd., S. 148. Entsprechend der gesetzlichen Normarbeitszeit eine sog. Vollbeschäftigteneinheit (1,0). Staatssekretanat für Forschung und Technik (wie Anm. 87).

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rischen Nomenklatur .Forschung und Technik'" ausgegangen, wonach jene Betriebe ermittelt wurden, in denen wenigstens ein FuE-Thema bearbeitet werden konnte. Ähnlich problematisch war der statistische Jahresarbeitsbericht, der nur jene Einrichtungen berücksichtigte, in denen mindestens ein Forschungsthema durchgeführt wurde. Per 31. Dezember 1964 existierten aber 1700 Betriebe und Institute, „in denen mindestens ein Beschäftigter in einer gesonderten Einheit" für FuE-Aufgaben tätig war. Die SFTBestandsaufhahme versuchte diese und andere Unscharfen zu eliminieren und dürfte somit tatsächlich „erstmalig einen Gesamtüberblick über das wissenschaftlich-technische Potential der DDR gegeben"109 haben. Da ein ähnliches Dokument für spätere Jahre bisher nicht aufgefunden wurde, kommt diesem Dokument eine besondere Bedeutung zu. 4. Zur Phänomenologie des Fluchtgeschehens und zur Rolle des MfS110 Die Verhinderung des Verlassens der DDR war stets eine erstrangige und vor allem neuralgische Aufgabe der dafür verantwortlichen Organe. Eine Freizügigkeit im westlich-demokratischen Sinne und vor allem in Bezug auf Reisefreiheit sowie Wohnsitz- und Arbeitsplatzwechsel nach dem Westen hat es weder in den Anfangsjahren111 noch in den späten achtziger Jahren der DDR gegeben. Sie kannte keinen Rechtsanspruch auf Ausreise, abgesehen von den Sonderregelungen für Rentner, Pflegebedürftige und von den Familienzusammenführungen (unter bestimmten Bedingungen) und der letztlich auf Willkür beruhenden „Reisefreiheit" aus familiären Gründen.112 Für die achtziger Jahre kann bestenfalls von einem „halblegalisierten" Recht auf „Antragstellungen auf ,Ausreise aus der DDR und Entlassimg aus der Staatsbürgerschaft'"113 gesprochen werden.114 Das Fluchtgeschehen läßt sich grob und ungeachtet aller wechselseitigen Überlagerungen in fünf Phasen einteilen:

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'

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113 114

Ebd., S. 4. Zu Gesetzen und Rolle des MfS siehe Tantzscher: Mauer (wie Anm. 99), S. 17-35. Aus der Gesamtperspektive gesehen trifft dies trotz lokaler Anomalien, insbesondere im Hinblick auf privilegierte Wissenschaftler, auch zu: „Große Freizügigkeit besonders] nach 1955 in Form von Privat- und Dienstreisen nach der BRD". In: Molekül (wie Anm. 46), Band 16, Bl. 12. Grundlegend hierzu Bernd Eisenfeld: Die Verfolgung der Antragsteller auf Ausreise, in: Ulrich Baumann und Helmut Kury (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung: Opfer von SED-Unrecht. Freiburg 1998, S. 117-136. Wendt: Wanderungen (wie Anm. 12), S. 392. Vgl. Stefan Wolle: Flucht oder Widerstand? In: Henke, Steinbach, Tuchel (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR. Köln, Weimar und Wien 1999, S. 309-326.

Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ/DDR 1. Phase: 2. Phase: 3. Phase: 4. Phase: 5. Phase:

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Abwanderungs- und Fluchtbewegung von 1946 bis 1961 (Mauerbau). Flucht von 1961 bis 1975 (UNO-Beitritt der DDR, Schlußakte von Helsinki). 115 Flucht und Übersiedlung von 1976 bis 1983 (Madrider Konferenz). 116 Übersiedlungsbewegung von 1983 bis 1989 (Fall der Mauer). Fluchtbewegung vom Sommer 1989 bis Frühjahr 1991.

Das Exekutivorgan der SED, das MfS, war in allen diesen Phasen involviert. 117 So erfolgte zum Beispiel die praktische Umsetzung der dritten Phase auf Grundlage der 1976 gegründeten Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) des MfS. 118 Sie vereinigte all jene Bestrebungen, welche die Hoffhungen auf eine tatsächliche Liberalisierung der Reise- und Ausreisebedingungen, die die DDR-Bevölkerung nach Helsinki hegte, zunichte machte. Zuvor umriß der MfS-Befehl 1/75 119 zur Verhinderung des „ungesetzlichen Verlassens" der D D R die Zielgruppen, die mit besonderem Augenmerk bedacht wurden und im weitesten Sinne als Funktionseliten der D D R bezeichnet werden könnten. A n erster Stelle sind hier die „Angehörige[n] der wissenschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und medizinischen Intelligenz" genannt. 120

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Das Ende dieser Phase markierte der Befehl 1/75 vom 15.12.1975 zur „Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels". BStU, ZA, DSt 102092, S. 1-29. Des weiteren der Befehl 6/77, quasi eine „Antragsbekämpfungsanweisung", zur „Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen". BStU, ZA, DSt 102331. Das Ende dieser Phase markierte die Dienstanweisung 2/83 vom 13.10.1983 zur „Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie für die vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich-negativer Handlungen". BStU, ZA, DSt 102977. Vgl. die Schaffung einer „virtuellen Mauer" per MfS-Anweisung 1/60 vom 4.5.1960. Der Anteil des MfS hieran war signifikant: Am Ring um Berlin wurden u. a. die Sicherungsmaßnahmen und „die örtliche Verantwortlichkeit der Sicherungskräfte" neu festgelegt. Die befähigtsten operativen Mitarbeiter des MfS sollten „die gesamten Sicherungsorgane unter [ihre] Führung bzw. Kontrolle" bringen. In: Protokoll vom 21.6.1961 zur Sitzung des (erweiterten) Kollegiums am 20.6.1961. BStU, ZA, SdM 1902, Bl. 297-328, hier 316 und 319. Grundlegend hierzu sowie zu den politischen Hintergründen, Befehlen, Anordnungen und Dienstanweisungen: Bernd Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung (Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur, Methoden. MfS-Handbuch, Teil HI/17). BStU, Berlin 1995, S. 1-50. Befehl 1/75 vom 15.12.1975 (wie Anm. 115), S. 9 f. Auf die an sechster Stelle aufgeführte künstlerische Intelligenz kann hier nicht eingegangen werden. Quantitativ hielt sich der Verlust von Künstlern eher in Grenzen. Das

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Während der Phase der offenen Grenze Berlins121 war das wissenschaftliche Leben in den Ostberliner Wissenschaftsinstitutionen durch relative Freizügigkeit, Kontaktmöglichkeiten und die im Ostteil der Stadt beschäftigten Westwissenschaftler nicht unbeeinflußt.122 Natürlich galten dem MfS die „Grenzgänger"123 als suspekt, da es einen grundsätzlich negativen Einfluß auf das Meinungsklima befürchtete. Bis 1955 hatte das MfS, namentlich Erich Mielke, die Wissenschaft und ihre Eliten noch nicht speziell im Blick: „Notwendig sind einschneidende Maßnahmen gegen [die] Republikflucht, insbesondere von Arbeitern, Bauern und Jugendlichen."124 Mit der weiteren Verschlechterung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Intelligenz änderte sich dies jedoch rasch.125 Insgesamt übte die SED unter Walter Ulbricht eine widersprüchliche Politik im Umgang mit der wissenschaftlich-technischen Intelligenz aus. Begünstigungen126 und Maßregelungen wechselten einander ab. Die „Republikflucht" galt aber stets als Verrat: „Wer die Deutsche Demokratische Republik verläßt und aus irgendwelchen Gründen nach Westdeutschland geht, schädigt die Deutsche Demokratische Republik [...] und leistet bewußt oder unbewußt den reaktionären Machthabern in Westdeutschland Hilfsdienste."127 Diese harte Verurteilung stand bereits unter dem Eindruck einer „unkontrollierten Abwanderung" von Fachkräften, Technikern und Wissenschaftlern. Von der technischen Intelligenz hatte kurz zuvor Kurt Hager128 ein politisches Bekenntnis zur DDR

121 122

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galt selbst für den Gipfel der Biermann-Kontroverse 1976 und 1977, als die DDR 27 Personen aus dem engeren kulturellen Bereich verlor. Vgl. Hauptabteilung XX des MfS vom 2.1.1978: „Aufstellung von Personen aus dem kulturellen Bereich [...], die seit 1976 die DDR ungesetzlich verlassen haben, ausgewiesen wurden bzw. übergesiedelt sind". BStU, ZA, HA XX 6075, Bl. 92-97. Dies gilt auch für die Gruppe der Schriftsteller. Selbst unter Verwendung eines sehr breiten Begriffes „Schriftsteller" waren es nur 78. Bei Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996, S. 90. Die relative Freizügigkeit zwischen Ost- und Westberlin darf nicht vergessen machen, daß die Stadt gegenüber dem DDR-Territorium nahezu abgeschottet war. Über die „ideologische Durchdringung" der technischen Intelligenz, die extrem hohe Ablehnungsquote gegenüber dem Regierungssystem (Angabe lt. Ulbricht: 90 Prozent) und den ,.Liquidationsprozeß'' gegen die „alte technische Intelligenz" bei O. E. H. Becker: Die technische Intelligenz, in: SBZ-Archiv 4 (1953), S. 7 f. Zum Sprachgebrauch „Grenzgänger" vgl. Julius Götz: Jagd auf Grenzgänger, in: SBZ-Archiv 12 (1961), S. 234-239. Protokoll der 18. Kollegiumssitzung am 26.8.1955. BStU, ZA, SdM 1903, Bl. 82. Vgl. Großzitat zur Anm. 40. Zum Beispiel sogenannte Einzelvertiäge, die nicht selten die 10.000 DM-Grenze erreichten. Die neue Lage und Politik der SED - Vorbereitung der 3. Parteikonferenz der SED Beschluß des 25. Plenums des Zentralkomitees. In: Beilage des Neuen Deutschlands vom 1.11.1955. 1952 bis 1955 Abt.-Leiter Wissenschaft im ZK der SED, 1955-1989 Sekretär des ZK (geb. 24.7.1912).

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gefordert.129 Vom 1. Januar 1958 bis zum 31. Dezember 1962 flüchteten mindestens 1.676 Wissenschaftler - eine in der Wissenschaftsgeschichte „einzigartige" Fluchtbewegung.130 Der vor dem Mauerbau zunehmenden Abwanderung und Flucht - begünstigt durch Abwerbung - stand das MfS relativ hilflos gegenüber. Daß Abwerbung tatsächlich stattfand, wird heute niemand mehr bezweifeln wollen. Über den - ambivalenten - Fall des renommierten Dresdener Wissenschaftlers Siegfried Hildebrand hatte das MfS mittels einer Postkontrolle folgendes in Erfahrung gebracht: „Das von Ihnen gelegentlich unserer Unterredimg zu Dritt in Ihrem Dienstzimmer angeschnittene Thema hat mich verständlicher Weise [...] sehr beschäftigt. [...] Ich brachte ja auch bereits in Karlsruhe zum Ausdruck, daß ich viel zu gern und auch mit viel Auftrieb eine Lehrtätigkeit an der TH München aufnehmen würde. [...] Auch hinsichtlich der ordnungsgemäßen Übersiedlung nach dem Westen sehe ich keine Gefahr, da ich nicht der erste Professor von Dresden wäre, der nach dem Westen gerufen würde."131 Daß es im Falle Hildebrands nicht zur Abwanderung oder Flucht in die Bundesrepublik kam, stützt die „Vermutung, daß die für Siemens lukrativere Variante gewählt wurde, [ihn] mit der Kapazität seines Instituts in der DDR für Siemens arbeiten zu lassen!"132 Eine plausible Einschätzung eines fachlich versierten MfS-Gutachters, begründet aus zahlreichen Fakten und Umständen. So waren 1953 die Wissenschaftskontakte allein wegen des regen Transfers von Diplomarbeiten und Dissertationen noch außerordentlich fruchtbar. Zudem verließen nicht wenige seiner Studenten späterhin die DDR und nahmen eine Arbeit bei Siemens auf.133 1954 teilte er einem Kollegen mit, daß „der größte Teil seiner früheren Berufskollegen und Mitarbeiter bereits in Westdeutschland tätig" sei.134 Die relative Machtlosigkeit des MfS bei seiner Fluchtabwehr, sofern es sich um Spitzenkräfte handelte, dauerte bis zum Mauerbau. Im Falle des Direktors des Heinrich-Hertz-Instituts, Professor Otto Hachenberg, informierte Stasichef

129 130

131 132 133 134

Hager: Antwort auf Fragen (wie Anm. 40). Ober die Jahre nicht homogen und Mindestzahl. Bei Heinrich von zur Mühlen: Aderlaß der Wissenschaft. Die Flucht von Hochschullehrern und Wissenschaftlern aus der Zone, in: SBZ-Archiv 14 (1963), S. 136-138, hier 136. Prof. Siegfried Hildebrand, November 1953. In: Rüdiger (wie Anm. 44), Bl. 426. Ebd., Bl. 427. Ebd., Bl. 428. Zum Beispiel Kindler (1972); ebd., Band 10, Bl. 273. Ebd., Band 9, Bl. 446.

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Mielke höchstpersönlich Walter Ulbricht, Kurt Hager und Erich Apel135 über die Abwerbungserkenntnisse seines Organs. Apel sprach daraufhin mit Hager und teilte Mielke mit, daß Hager „die Angelegenheit persönlich in die Hand" nehmen wolle.136 Doch das erhoffte Resultat blieb aus. Hachenberg verließ, wie bereits einige seiner Mitarbeiter zuvor, noch 1961 die DDR.137 Auf dem Papier sah der Einsatz des MfS erfolgversprechender aus: 1. Abwehr der direkten Abwerbetätigkeit feindlicher Zentralen. 2. Information und Analyse der Ursachen der „Republikflucht". 3. Verstärkte operative Tätigkeit in Flüchtlingslagern. 4. Operative Bearbeitung der Rückgekehrten.138 Hierzu setzte es insgesamt 17 Maßnahmen wie zum Beispiel die Kontrolle des Postverkehrs ein.139 Schließlich erklärte 1958 das Kollegium des MfS den „Kampf gegen die Republikflucht" zur „wichtigsten Aufgabe".140 Wie sah dieser „Kampf' konkret aus? Immer wieder kritisierten das MfS und die SED-Spitze die örtlichen SED-Parteiorganisationen, denen sie „Unwachsamkeit" in Fragen der Abwerbungen vorwarfen: „ E i n z e l n e Parteiorganisationen unterschätzen diese Form des verschärften Klassenkampfes, verhalten sich teilweise passiv und entwickeln [keine] breite Offensive zur Aufklärung der Werktätigen und Verurteilung dieser Machenschaften."141 Diese Diagnose deckte sich weitestgehend mit deijenigen, die die Abteilung Wissenschaft und Propaganda unter Johannes Hörnig dem Politbüro der SED vorlegte.142 Ebenso einheitlich bemängelten SED und MfS den ,3ewußtseinsstand" der Wissenschaftler sowie die negativen Wirkungen von Tagungsbesuchen im westlichen Ausland. Das Physikalisch-Technische Institut Berlin (PTI), in den späten fünfziger Jahren ein Sicherungsschwerpunkt des MfS, machte da keine Ausnahme. Auch dieses Institut beschäftigte „Grenzgänger" und verlor zahlreiche Wissenschaftler. Obgleich im ersten Halbjahr 1960 nur drei „republikflüchti135

136

137 138 139 140 141 142

Erich Apel (geb. 3.10.1917; Suizid 1965). Minister für Maschinenbau und Schwermaschinenbau; Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED; Chef der Staatlichen Plankommission. MfS vom 4.7.1961: „Einzelinformation über Versuche der Abwerbung des Leiters des Heinrich-Hertz-Instituts in Berlin-Adlershof, Prof. Hachenberg". BStU, ZA, ZAIG 440, Bl. 1 f. HA XVIII vom Oktober 1967: „Raumforschung/Verteidigungsindustrie". BStU, ZA, HA XVIII, Bündel 444, Bl. 1-11, hier 9. Information zur Bekämpfung der Republikflucht vom 29.3.1956. BStU, ZA, AS 1109/65, Band 10, Bl. 170-173. MfS-Direktive zur Bekämpfung der Republikflucht vom 18.5.1956. BStU, ZA, AS 1109/65, Band 10, Bl. 174-179. Protokoll der Kollegiumssitzung vom 24.11.1958. BStU, ZA, SdM 1903, Bl. 176. Schreiben des ZK der SED an alle 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen der SED vom 7.2.1956. BStU, ZA, AS 109/65, Band 1, Bl. 240-252, hier 241. Drei Berichte der Abt. Wissenschaft und Propaganda bei John Conelly: Zur „Republikflucht" von DDR-Wissenschaftlern in den fünfziger Jahren, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994), S. 331-352.

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ge" Mitarbeiter und im zweiten Halbjahr sieben registriert wurden, handelte es sich doch mehrheitlich um wichtige Mitarbeiter.143 Der Schwerpunkt des Instituts, die elektronische Halbleitertechnik, war im zweiten Halbjahr 1960 mit drei Abgängen am stärksten betroffen.144 Zur Eindämmung des Fluchtgeschehens setzte das MfS hier auf zwei Hebel: die „ideologischen Auseinandersetzungen mit den Mitarbeitern" und die „operative Bearbeitung der Abwertungen". Da die Physiker, die das PTI verließen, zu den niveaubestimmenden Kräften des Hauses zählten, ist es plausibel, daß sich die zurückgebliebenen Mitarbeiter „ihrer Perspektive beraubt"145 fühlten. Nach einer Bilanz von Anfang 1961 verließen insgesamt 33 Mitarbeiter das Institut durch „Republikflucht".146 Von insgesamt einem Dutzend Maßnahmen zur Eindämmung des Fluchtgeschehens am PTI standen im Mittelpunkt: umfangreiche Beschattungsaufgaben mittels Geheimer Informatoren, insbesondere im „Kontaktbereich" der DDR-Wissenschaftler zu ihren Kollegen im Westen; die Feststellung „aller Republikflüchtigen aus dem PTI" einschließlich ihrer Aufenthaltsorte; die Einleitung der Postkontrolle zu allen „entscheidenden Verbindungspersonen der Republikflüchtigen"; die Führung von „Einzelgesprächen" mit Wissenschaftlern und die „Aufklärung" der Belegschaft auf öffentlicher Parteiversammlung.147 Tatsächlich fokussierten SED und MfS auf ideologische Defizite, obgleich sie es besser wußten. Denn die ihnen bekanntgewordenen Fluchtgründe spiegelten das breite Spektrum von Restriktionen in der DDR wider: Reisebeschränkungen, ideologische Indoktrination, wirtschaftliche Unfreiheit sowie Abbau bürgerlicher Rechte („als bürgerliche Ärzte haben wir keine Zukunft"148). So wundert es nicht, daß die positive Valenz des Westens, also letztlich dessen kulturelle und materielle Attraktivität, für das MfS keinen kardinalen Fakt darstellte. Vielmehr wertete es die Flucht als böses Tun schlechthin.149 MfS-Oberst Beater: „Die Ursachen der Republikfluchten liegen in erster Linie in der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus begründet.

143 144 145

144 147 14t 149

Leutnant Enge (MfS) vom 5.11.1960: .Analyse der Republikfluchten aus dem Physikalisch-Technischen Institut". BStU, ZA, HA XVIII, Bündel 428, Bl. 1-10. Ebd., Bl. 2. Oberst Hüttner (HV A) vom 18.12.1958: „Kündigung Westberliner Mitarbeiter im Techn.-Phys. Institut der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Mohrenstraße". BStU, ZA, HA XVin, Bündel 428. Abt. VI/4 des MfS vom 24.2.1961: „Faktoren, die die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes und die Forschungsaufgaben hemmen". BStU, ZA, HA XVIII, Bündel 428. Republikfluchten (wie Anm. 143), Bl. 8-10. Conelly: Republikflucht (wie Anm. 142), S. 340. Vgl. ebd., S. 339-343.

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[...] Die Organe des MfS haben sich in der Vergangenheit nicht vollkommen den aus den Problemen der Republikflucht entstehenden Aufgaben zugewandt. Die gleiche Schwäche ist auch im gesamten Staatsapparat - insbesondere der dortigen Kaderabteilungen, aber auch der Parteiorganisationen - usw. vorhanden. Die bisher größten Schwierigkeiten [...] bestehen darin, daß die Mitarbeiter unserer Organe noch nicht im genügendem Maße erkennen, daß die Republikflucht zu dem Teil des großen Planes des Feindes gehört, die DDR aufzuweichen."150 Die Vorschläge aus dem Kreis der Kollegiumssitzungen des MfS zur Eindämmung des Fluchtgeschehens in den Jahren 1958 bis 1961 sind zahlreich und stereotyp. Laut Beschluß 1/61 des Kollegiums vom 13. Januar 1961 sollten Mielke geeignete Vorschläge unterbreitet werden, gegen „welche Zentren des Feindes spezielle politisch-operative Maßnahmen zur Bekämpfung der Republikflucht durchzuführen" seien. Die Programmatik lautete: ,,a) Arbeit unter den Personen, die die DDR verlassen haben, sie ansprechen und die Ursachen des illegalen Verlassens der DDR ergründen; b) Festnahme einiger Initiatoren der Republikflucht und öffentlich die verbrecherischen Ziele ihrer Tätigkeit aufzeigen (Konterpropaganda); c) Feststellung der Kräfte, die ständig aufs neue die Republikflucht als Sorge Nr. 1 der DDR hervorheben und die Gegner informieren." Mielke betonte auf dieser Sitzung, daß eine notwendige Verbesserung der ,,politisch-operative[n] Arbeit unter der Intelligenz" gerade auch im Hinblick auf die Bekämpfung der „Republikflucht" fallig sei, da „eine wesentliche Einschränkung der Republikflucht erreicht werden" müsse.151 Oberst Schröder hielt wenig später „die Einsetzung eines speziellen Mitarbeiters für die Koordinierung der Bekämpfung der Republikflucht" für notwendig. Die Forderung, die im Rahmen des MfS-Beschlusses 4/61 bestätigt wurde, schloß „eine Analyse über die Lage innerhalb der Intelligenz" ausdrücklich ein, da von Seiten des Staates „ungenügend an der Untersuchung der Republikflucht gearbeitet" würde.152 Zwei Monate später mußte eingeräumt werden, daß das Fluchtgeschehen „trotz angewiesener und eingeleiteter Maßnahmen weiter an[steige]." Zudem sah das MfS „im Hinblick auf den

150

151 152

Anlage 3 zum Protokoll der Kollegiumssitzung vom 29.6.1959: „Stand der Republikflucht nach Schwerpunkten und Besonderheiten der Entwicklung". BStU, ZA, SdM 1555, Bl. 74-76. Protokoll vom 14.1.1961 der Sitzung des Kollegiums am 13.1.1961. BStU, ZA, SdM 1902, Bl. 361-398, hier 396 f., 364. Protokoll vom 22.4.1961 der Sitzung des Kollegiums am 20.4.1961. BStU, ZA, SdM 1902, Bl. 329-347, hier 336, 339 f. und 342 f.

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Abschluß eines Friedensvertrages" die Gefahr einer „Tor-Schluß-Panik"153 auf sich zukommen. Und dies, obwohl die Volkskammer der DDR am 11. Dezember 1957 eine Ergänzung des Strafgesetzbuches154 verabschiedet hatte,155 die die Bürgerrechte weiter einschränkte. Natürlich war diese Maßnahme kontraproduktiv, da die Paragraphen 15 (Übermittlung von Nachrichten, die keine Staatsgeheimnisse waren), 16 (verbotene Verbindungsaufnahme) und 21 (Verbrechen der Abwerbung) den Druck auf die Bevölkerung eher noch verstärkten. Der „Tatbestand" der Verbindungsaufnahme und Nachrichtenübermittlung galt bis zum Existenzende der DDR als Verbrechen: ein für geheimnisschutzverpflichtete Wissenschaftler großes Handicap. Auf einem Höhepunkt des Fluchtgeschehens, 1960, begann die SED, dieses analytisch und systematisch zu erfassen. Wilhelm Girnus156, einer der Falken des SED-Regimes, resümierte, daß sich im Staatssekretariat für Hochschulwesen „die systematische und politische Auswertung der Republikflucht durchzusetzen"157 beginne. Parallel forcierte auch das MfS seine analytische Tätigkeit und begann mit systematischen Maßnahmen zur Bekämpfung der 158 Flucht, die in einem makabren „Wettbewerb" münden sollte (siehe Tabelle 2 )Zu allem Überdruß wurde noch kurz vor dem Mauerbau das Ende der DDRFlugzeugindustrie eingeleitet,159 wovon nahezu 28.000 Beschäftigte betroffen waren.160 Das MfS rechnete mit einer verstärkten Fluchtwelle, zumal des hochkarätigen wissenschaftlich-technischen Personals.161 Zur Abwehr ordnete Mielke zum 17. März 1961 unter dem Codewort „Aktion Technik" die Bildung eines Einsatzstabes an, der „insbesondere für die Einleitung operativer Maßnahmen zur Aufklärung und Abwehr feindlicher Handlungen, Verbindungen und Versuche von Abwerbungen und Republikfluchten" verantwortlich zeichnete.162 Inwieweit diese Aktion von Erfolg gekrönt war, ist nicht bekannt. Jedenfalls hat es eine Absetzbewegung in Richtung Westen gegeben. 153 154 155 156 157 158 l5

'

160 161 162

Protokoll über die erweiterte Kollegiumssitzung vom 20.6.1961. BStU, ZA, SdM 1557, Bl. 170-173. GBl. der DDR, Teil I, Nr. 78/1957, S. 643. Vgl. Heinrich Schweichel: Ein Jahr Strafrechtsergänzungsgesetz. Die „sozialistische Gesetzlichkeit" in der Praxis. In: SBZ-Archiv 10 (1959), S. 2-7. Zu dieser Zeit Staatssekretär für Hoch- und Fachschulwesen (geb. 27.1.1906). Conelly: Republikflucht (wie Anm. 142), S. 345. Dienstanweisung 1/60 vom 4.5.1960. BStU, ZA, DSt 101427, S. 1-7. Auf Grundlage des Politbürobeschlusses vom 28.2.1961. Vgl. Gerhard Barkleit und Heinz Hartlepp: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR, in: HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden (Hg.). Berichte und Studien, Nr. 1 (1995), S. 19. Vgl. Buthmann: Hochtechnologien (wie Anm. 74), S. 17. Protokoll vom 3.3.1961 über die Sitzung des Kollegiums am 1.3.1961. BStU, ZA, SdM 1902, Bl. 350-357, hier 356. Befehl Nr. 121/61 vom 15.3.1961. BStU, ZA, DSt 100307, S. 1-4.

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Tabelle 2: Gesamtbilanz der Festnahmen und Strafmaß in Monaten, 1961 bis 1965163 Delikt164 § 14 (Spionage) §§15 (Sammlung von Nachrichten) und 16 (Verbindungsaufnahme) § 17 (Staatsgefahrdende Gewaltakte) § 19 (Staatsgefährdende Propaganda und Hetze) § 21 (Abwerbung) § 26 (Nichtanzeige von Staatsverbrechen) §§ 8, 5(Paßgesetz) Gesamt

Personen Zuchthaus Gefängnis Gesamt 8 7

516 78

1

72

10

97

124

221

15 3

751 -

27 31

778 31

-

95

95

356

1.870

7 51

1.514

14 65

-

530 143 72

Daß die DDR auf ihre bürgerliche wissenschaftlich-technische Intelligenz angewiesen war, stand bis zum Mauerbau nicht in Frage. Auf welche Weise aber interpretierte Mielke genauer, als dies die öffentlichen Verlautbarungen der Partei- und Staatsfuhrung erkennen ließen: „Wir müssen so arbeiten, daß wir erreichen, daß die Angehörigen der alten Intelligenz ihr Wissen uns zur Verfügung stellen, wobei darauf zu achten ist, daß sie nicht ihre falschen ideologischen Auffassungen in unsere junge, zu entwickelnde Intelligenz hineintragen."165 Der MfS-Ton nach dem Mauerbau blieb sich gleich: „Der Kampf gegen [...] die noch vorhandene R-Flucht muß verstärkt werden. Es gibt noch Möglichkeiten zum illegalen Verlassen der DDR, die wir noch nicht kennen." Und Mielke:

163 164 165

Übersicht vom 27.9.1966: „Festnahmen der HA XVHI/5 von 1961-1965". BStU, ZA, HA XVm, Bündel 444. Wolfgang Schuller: Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968. Ebelsbach 1980. Protokoll vom 21.12.1961 über die Sitzung des Kollegiums am 13.12. und 20.12.1961. BStU, ZA, SdM 1902, Bl. 250-296, hier 260.

Abwanderung und Flucht von Eliten aus der SBZ/DDR

257

„Die noch vorhandenen R-Fluchten sind der Beweis dafür, daß sich der Klassenkampf nicht abgeschwächt hat. Der Feind wirkt aktiver im Innern. [...] Es ist nicht möglich, die gegenwärtig hohe Zahl von Festnahmen noch länger beizubehalten. In solchen Fragen zeigt sich [...] die Kompliziertheit unserer Arbeit unter den gegenwärtigen Bedingungen. Teile der Intelligenz und auch einige Wirtschaftsfunktionäre orientieren auf den Westen. Es erhebt sich für uns die Frage, inwieweit steckt der Feind hinter einer solchen Einstellung."166 Die Maßnahmen der DDR am 13. August 1961 reduzierten zwar die Massenflucht an der Grenze zur Bundesrepublik und Westberlin. Doch die Probleme der Eindämmung des Fluchtgeschehens blieben stets brisant. Der Historiker Thomas Ammer verweist auf grundsätzliche Transpositionen: „Grenzzwischenfälle und Tote an der Mauer, Ansammlung von Tausenden Fluchtwilligen in den Gefängnissen, Anklagen an die Adresse der DDR-Führung auf internationalen Konferenzen und bei politischen Kontakten aller Art, Inanspruchnahme der Sicherheitsorgane der Verbündeten zu Hilfsdiensten bei der Jagd auf,Republikflüchtige' in fast allen sozialistischen Ländern der Welt."167 Die Hauptabteilung XVIII/5168, die für die „Sicherung" des wissenschaftlichtechnischen sowie geisteswissenschaftlichen Potentials zuständig war, führte nun in Form eines Wettbewerbs „eigene" Verhaftungen durch, die insbesondere der Vereitelung von Fluchtabsichten dienten.169 Der Wettbewerb beinhaltete zur Bestimmung der Leistungsfähigkeit der einzelnen operativen Mitarbeiter Angaben zu Strafartikel, Strafmaß und Vollzugsart. Allein im Rahmen des Operativen Vorgangs (OV) „Labor" wurden vom 26. November 1962 bis 28. April 1967 durch Veranlassung der HA XVIII/5 elf Personen inhaftiert.170 Dieses Beispiel zeigt überaus deutlich, wie differenziert und massiv einzelne Diensteinheiten des MfS als Exekutive der SEDStaatsmacht fungierten. 166 167 168 169

170

Ebd., Bl. 280,284,290. Thomas Ammer: Stichwort: Flucht aus der DDR, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 1206-1208. Inklusive Vorgängereinrichtungen: Selbständige Abteilung VI und Abteilung 6 der HA in. Die Verhaftungen - als äußerste Form repressiver Maßnahmen - generierten ihrerseits wieder Fluchten. Den Teufelskreis konnte das SED-Regime - qua eigener Verfaßtheit - niemals durchbrechen. Verhaftungen aus politischen Gründen hatten Tradition; vgl. Grondin: Gadamer (wie Anm. 14), S. 290. HA XVIII/5 vom 7.11.1967. BStU, ZA, HA XVIII, Bündel 444.

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Infolge des UNO-Beitritts der DDR und der KSZE-Schlußakte von Helsinki171 wurden nicht nur höhere Erwartungen bei den DDR-Bürgern im Hinblick auf mehr Freizügigkeit geweckt, sondern auch der Mut zu entsprechenden Antragstellungen wuchs. Bereits 1976 registrierte das MfS gegenüber 1975 einen „sprunghaften Zuwachs" der Ausreiseantragsteller um 70 Prozent.172 Parallel dazu belebte sich der Wissenschaftleraustausch zwischen beiden deutschen Staaten,173 obgleich dieser dem MfS unter dem Verdikt „Mißbrauch der Schlußakte" stets mißliebig blieb: „Wie begegnen wir Wissenschaftszusammenarbeit DDR-BRD?"174 Aus Sicht des MfS durchaus rational, denn jede Reise von Wissenschaftlern in den Westen weckte neue Bedürfhishorizonte (moderne Technik, Kommunikation, Information). Im Zuge 1983 erlassener Verordnungen175 gewannen die Anträge auf „ständige Ausreise" schlagartig an Bedeutung. Die HA XVIII/5 reagierte mit der Bildung einer „Nichtstrukturellen Arbeitsgruppe für Übersiedlungsersuchen", die nach der Dienstanweisung 2/83176 den Prozeß der Prüfung, Kontrolle und Entscheidung zu Übersiedlungsersuchen zu „qualifizieren" hatte.177 Zwar war nun ein Formalismus für die Übersiedlung geschaffen worden. Doch dieser war alles andere als von rechtsstaatlicher Art. Das Fluchtgeschehen spaltete sich deutlich. Während (wenige) Angehörige der Wissenschaftselite vor allem Dienstreisen zur Flucht nutzten, setzten (viele) „namenlose" Wissenschaftler auf Ausreise per Übersiedlungsantrag. Erstere Modalität hatte in aller Regel „Rückfuhrungsversuche" des MfS zur Folge, letztere Sanktionen und Schikanen seitens staatlicher Organe.178 1982 (in Klammem für 1983) siedelten 11.612 (9672) Personen nach der Bundesrepublik bzw. Berlin (West) über; die Neuanträge beliefen sich auf 24.922 (30.367). Unter ihnen befanden sich 2396 (3100) Hoch- und Fach171 172 173 174 175

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177

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KSZE vom 30.7. bis zum 1.8.1975. Weitere Daten siehe Eisenfeld: Koordinierungsgruppe (wie Anm. 118), S. 22 und 49 f. Buthmann: Hochtechnologien (wie Anm. 74), S. 31-32. Generalmajor Kleine vom 24.4.1987. BStU, ZA, HA XVIII442, Bl. 7-9, hier 7. U. a. die „Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländem" vom 15.9.1983, in: GBl. der DDR, Teil I, Nr. 26, S. 253-255. Dienstanweisung 2/83 vom 13.10.1983..„zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie für die vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich-negativer Handlungen". BStU, ZA, DSt 102977, S. 1-47. Oberstleutnant Neuß (MfS) vom 9.3.1984: „Monatliche Einschätzung zur Entwicklung der politisch-operativen Lage - Februar 1984". BStU, ZA, HA XVIII, Bündel 78, Bl. 1-7, hier 4. Zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen vgl. Eisenfeld: Verfolgung (wie Anm. 112), S. 124-127.

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schulkader, davon waren 195 (281) Ärzte. 1983 hatten 885 Antragsteller ihre Arbeitsrechtsverhältnisse „gekündigt"; weitere 828 gingen einer Arbeit mit geringerem Qualifikationsniveau nach.179 1982 wurden mindestens 269 (484) Antragsteller wegen „Straftaten im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen der Übersiedlung" registriert; sie wurden in aller Regel festgenommen.180 Zum 31. März 1987 waren es bereits 87.043 Bürger181, die sukzessive von 1972 an Anträge auf Übersiedlung gestellt hatten. In dieser Kohorte befanden sich 8793 Hoch- oder Fachschulkader (14,5 Prozent), 877 Ärzte (1,4 Prozent) sowie 499 Lehrer (0,7 Prozent).182 Der MfS-Sprachgebrauch verschleierte systematisch soziologische Fakten, wenn im Übersiedlungszusammenhang von „Kündigungen" die Rede ist: Von insgesamt 87.043 Übersiedlungsersuchenden „kündigten" per 31. März 1983 2723 ihr Arbeitsverhältnis und weitere 1303 „nahmen eine unter ihrem Qualifikationsniveau liegende Tätigkeit" an.183 Korrekt hingegen ist, daß vielen gekündigt worden ist.184 Auch selbstgewählte Kündigungen zum Zwecke des Ausweichens vor Sanktionen und der Senkung des eigenen „Nutzwertes" für den Staat waren nicht selten.185 1986 waren es insgesamt 3807 Personen, die diesen Weg gingen.186 Etwa 200 zählten zum engeren Bereich der Forschung und Entwicklung.187 1989 waren von den nunmehr 87.535 Antragstellern bereits 17 Prozent Hoch- und Fachschulkader (10.011). Unter ihnen befanden sich 1,5 Prozent Ärzte (890) sowie ein Prozent Lehrer (592). Von den 1144 Personen, die ihre Arbeitsverträge „aufgelöst" hatten, waren 271 Hoch- und Fachschulkader. Von den 1274 Personen, die unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiteten, waren 933 Hoch- und Fachschulkader. Von 3694 Personen, die bereits vor ihrer

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„Hinweise über Anzahl und Entwicklungstendenzen der Übersiedlung von Bürgern der DDR nach der BRD und Westberlin und das ungesetzliche Verlassen der DDR in der Zeit vom 1.1. bis 31.12.1983" (auch für 1982). BStU, ZA, ZAIG 4531, Bl. 26-37. ZAIG-Wochenberichte von 1982 und 1983. BStU, ZA, ZAIG 4506-4529. Diejenigen, die ihre Anträge während der Bearbeitung" zurückzogen, sind hier nicht enthalten. Zeitraum vom 1.1.1972 bis 31.3.1987: „Information über die Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen zur Erreichung der Übersiedlung nach der BRD und nach Westberlin". BStU, ZA, ZAIG 7873, Bl. 1 f. Ebd. „Wissenschaftlichen Mitarbeitern sollten Überleitungs- und Aufhebungsverträge angeboten werden. Verweigerten sie ihr Einverständnis, folgte eine fristgemäße Kündigung." Bei Eisenfeld: Verfolgung (wie Anm. 112), S. 125. Insgesamt, also nicht nur im Bereich der Intelligenz, sollen es zwischen 1985 und 1987 jährlich 3.700 bis 5.700 Fälle gewesen sein. Bei Eisenfeld: Verfolgung (wie Anm. 112), S. 127. Zitiert aus Lageeinschätzung der ZKG bei Eisenfeld: Koordinierungsgruppe (wie Anm. 118), S. 40. ZAIG-Wochenberichte von 1986. BStU, ZA, ZAIG 4551-4565.

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Antragstellung keiner Arbeit nachgingen, waren 651 Hoch- und Fachschulkader.188 A m 30. Juni 1989 waren es bereits 115.997 Personen, die einen Antrag auf Übersiedlung gestellt hatten. 189 Schließlich mutierte die Übersiedlungsbewegung 1989 in eine reine Fluchtbewegung (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3: Fluchtgeschehen, 28.8. bis 5.11.1989 190 Zeitraum

Übersiedlung realisiert

Flucht

Anträge

realisiert

7954 12.352 2877 2964 2465 24.853

Summe ab 25.9.1989

53.465 36.409 ca. 32.950

(1) Ärzte (2) Wiss.-techn. Personal (3) Lehrer

188

189

190 1,1

m

193

Vers uche

959 317 1433 313 4132 1.221 ca. 6700 1027 4920 933 ca. 8800 1130 5900 613 2500 461

28.8.-3.9. 4.9.-10.9. 25.9.-1.10. 2.10.-8.10. 9.10.-15.10. 16.10.-22.10. 23.10.-29.10. 30.10.-5.11.

3888 4580 6734 7767 6637 6803

Flucht

5385

identifiziert1"

2507 2353 2381 2008 2410 2754 14.413

Flucht

(1)

(2)

(3) (4)

31 40 39 29 42 44 42 56

50 45 81 65 95 48 60 85

16 19 22 22 21 10 13 31

252 434

20 21 16 10 13 10 7 13

(5) 120192 130 170 130 170 120 120 185

119 69 895

(4) Leiter (5) HuF-Kader193

Information „über die Entwicklung und Zurückdrängung der Antragstellung auf ständige Ausreise nach der BRD und nach Westberlin - Berichtszeitraum: 1.1.1989— 30.6.1989" vom 17.7.1989. SAPMO-BA, ZPAIV 2/2.039/309, S. 8. Information und Schlußfolgerungen zu einigen Fragen der „feindlichen Einwirkung" auf Bürger der DDR. Dokument ohne Datum und Verfasser. Der Verteilerschlüssel enthält sechs hochrangige MfS-Offiziere (u.a. Mielke, Mittig, Neiber) sowie den Hinweis, daß das Papier am 8.7.1989 durch Mielke an Egon Krenz übergeben worden ist. BStU, ZA, ZAIG 5270, Bl. 2-34, hier 33. ZAIG-Wochenübersichten 36/89 bis 43/89. BStU, ZA, ZAIG 8197. Die Identifikation gelang nicht zuletzt in den Fällen, wo die betreffenden Personen auf postalischem Wege Nachricht gaben. Insofern holte die Geschichte die DDR wieder ein, denn bereits vor dem Mauerbau war das MfS auf diese Nachrichtenquelle angewiesen. Vgl. Conelly: Republikflucht (wie Anm. 142), S. 338. 26 waren promoviert. Diese Zahl kann durchaus als Richtwert gelten; sie bildet auch den Gesamtanteil der Promovierten ab und deckt sich zudem mit Angaben aus den fünfziger Jahren für diesen Bereich. Vgl. Conelly: Republikflucht (wie Anm. 142), S. 339 und 345. Hoch- und Fachschulkader.

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5. Schaden und Nutzen Technisches Wissen, Kreativität und Genialität sind seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hochbegehrt, gelten als unverzichtbar sowie als Motor der Entwicklung.194 Allenfalls Nationalsozialismus und Kommunismus hatten ideologische Probleme mit diesen Potenzen. Der Kommunismus sah zwar in dem Idiom von der „Wissenschaftlich-technischen Revolution" (WTR) eine seiner evolutionären Legitimationen, hatte aber aufgrund seines gebrochenen Verhältnisses zur Genialität und Individualität kein stringentes Handeln ermöglichen können.195 Die makro- und mikroökonomische Bedeutung des Faktors Wissen wurde von der DDR nicht bezweifelt. Dagegen ist die adäquate Wahrnehmung seines temporären, zyklischen, Bedeutungszuwachses ein anderes, hier nicht zu vertiefendes Problem. Es war für die DDR bezeichnend, nicht zu erkennen, daß sie unter dem Aspekt eines systembedingten Mangels an Invention und Innovation sowie der permanenten Misere in den Faktoren Kapital und Arbeit gerade das Wissen hätte fördern müssen. Und genau in dieser Frage zeigte sich das schizophrene Handeln der SED. Einerseits schuf sie die Bedingungen, die die Wissenschaftler herausdrängte, andererseits bewertete sie Flucht als Verbrechen und Sabotage: „Da neue Kräfte stets längere[r] Anlernzeit bedürfen, [...] wirken sich alle Republikfluchten als ein Rückschlag in der Arbeit aus. Daraus resultiert gleichfalls die politische Bedeutung jeder Flucht. Die Forschungstermine werden in Gefahr gebracht."196 Elite, in einem notwendigen und unverzichtbaren Sinne, umfaßt stets drei Ausprägungen: das Genie, den Manager und den Spezialisten. Das Wissen, das solche Personen besitzen, ist in ihnen angelegt und nicht anderweitig „speicherbar". Es ist auf seine jeweilige Art Herrschaftswissen. Für die DDR kam hinzu, daß Wissen über den hypertrophen Geheimnisschutz - personell segmentiert und parzelliert wurde.197 So konnte bei Verlust eines Teilwissens infolge von „Republikflucht" auch das „zurückgebliebene Wissen" zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Namentlich das MfS scherte dies wenig. Was es dagegen wirklich beunruhigte und zu hektischen Handlungen zwang, war der Abfluß von Regimekenntnissen. Dies war immer dann der Fall, wenn Mana1,4 195 196 1,7

Dagegen die Technikkritik in der Philosophie (Burckhardt, Cassirer, Heidegger, Arendt, Adorno). Daß seine Protagonisten dies nie begriffen, zeigt nicht zuletzt Kurt Hagers Naivität in Wissenschaftsfragen: Ders.: Erinnerungen. Leipzig 1996, S. 318. Republikfluchten (wie Anm. 143), Bl. 1. Vgl. Buthmann: Hochtechnologien (wie Anm. 74), S. 92-106.

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ger und/oder Topwissenschaftler gleichzeitig auch Inoffizielle Mitarbeiter des MfS waren. Flüchteten „IM in Schlüsselpositionen", trat für das MfS regelmäßig der GAU ein. Ohne Zweifel stellten die Wissenschaftsmanager, die gleichzeitig gute Wissenschaftler, SED-Genossen und inoffiziell oder offiziell mit dem MfS in Verbindung standen, die eigentliche Elite dar. In ihnen bündelte sich technisches und betriebswirtschaftliches Wissen, Gestaltungskompetenz und -macht sowie Kenntnisse um die wirkliche Lage in ihren Verantwortungsbereichen. Im Falle solcher „Abflüsse" von Herrschaftswissen wurden erhebliche Verunsicherungs- und Destruktionspotentiale generiert. Signifikant war dies 1987 und 1989 der Fall, als das Dresdener Forschungszentrum für Mikroelektronik sowie das Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie in Berlin von solchen Verlusten betroffen waren. Im Dresdener Fall hatte der Delinquent „umfangreiche Kennmisse darüber, was und in welchem Umfang die Sicherheitsorgane der DDR [an] Embargotechnik aus der BRD organisiert"198 hatten. Für den Bereich der exakten Wissenschaften ist der Blick nur auf Protagonisten - unbeschadet der Eliteproblematik - zu eng. Hier müssen auch jene Phänomene ins Blickfeld gerückt werden, die das Wegbrechen ganzer Kollektive beinhalteten.199 Richtete der Verlust eines Topwissenschaftlers ohnehin erheblichen Schaden an, so erhöhte sich dieser noch, wenn dessen Assistenten und Labortechniker „nachzogen". Kumulativ sind so bedeutende Personalverluste eingetreten. Stellvertretend für Einrichtungen, die teils lawinenartige Abgänge erlitten, seien genannt: das Physikalisch-Technische Institut in Berlin, das Kernforschungszentrum Rossendorf, das Zentralinstitut für Optik und Spektroskopie und das Heinrich-Hertz-Institut, beide in Berlin, sowie das Dresdener Forschungszentrum für Mikroelektronik.200 Ein weiterer Umstand macht das Besondere des Fluchtgeschehens neben seiner unberechenbaren Plötzlichkeit (in der alles umfassenden Planwirtschaft ein Novum!) und temporären Massenhaftigkeit aus. Die SED und vor allem das MfS gingen - im Unterschied zu den Verantwortlichen in den Kombinaten, Betrieben und Instituten - von einer prinzipiellen Ersetzbarkeit der Perso-

Gekürzt wiedergegeben. Reinhard Buthmann: Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms. Berlin 1997, S. 239 f. Im Zuge der intensiven und extensiven Erweiterung der Forschungskapazitäten sowie der Erhöhung der Assistentengehälter in der Bundesrepublik erwartete das MfS insbesondere im Hinblick auf Nachwuchskräfte eine „Abwandefungswelle". In: Zentrale Informationsgruppe des MfS vom 15.5.1959 zu geplanten Abweisungen von Physikern. BStU, ASt Leipzig, Leitung 00079. Struktur und Namen der Einrichtungen sind häufig geändert worden.

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nen201 sowie von der Beschaffbarkeit202 von Wissen aus. Vertriebene Elite aber läßt sich weder kurz- noch mittelfristig adäquat ersetzen. Qualifiziert man den Schaden in groben Zügen, so fallen drei große und in ihrer jeweiligen Zeit typische Phänomene auf: der Verlust von mittlerem und hochkarätigem Personal durch Abwanderung, Flucht und Deportation (1945 bis 1954); der massive Verlust von Angehörigen aller Schichten der Intelligenz meist durch Flucht (1958 bis 1961); die sukzessive Ausdünnung verbliebener Restpotentiale durch Flucht und Übersiedlung. Freilich ist das dritte Schadensphänomen durch andere Geschehnisse erheblich - und zum Teil gegenläufig - überlagert. Im thematischen Interesse steht hierbei die permanente Degeneration des wissenschaftlich-technischen Personals, die, als Ausgliederung von Spezialisten aus politisch motivierten Sicherheitserwägungen,203 zusätzlich die Fluchttendenz verstärkte. Das Wissenschaftsklima in der DDR, das im entscheidenden Maße auch vom MfS geprägt worden war, wurde zum Ende der DDR hin, ganz seinem Scheine zum Trotz, nicht liberaler. Zudem begannen die Arbeitsbedingungen der wissenschaftlich-technischen Beschäftigten an vielen Orten mit der Konsequenz zu kollabieren, daß die Zahl der Ausreisewilligen und - wegen politischer Unzuverlässigkeit - „herausgelösten Kader" ständig wuchs. Das MfS hat diesen Gesamtzusammenhang, soweit überliefert, nicht reflektiert. Ganz vereinzelt, lokal und zudem sehr spät mögen es einige MfS-Verantwortliche begriffen haben, daß sie selbst Destruktion betrieben: ,3s [nützt der] Volkswirtschaft nicht unbedingt [sie!], wenn [die] Staatssicherheit auf d[ie] Herauslösung versierter Fach- und Leitungskader aus ihren Funktionen dräng[t], ohne die damit möglicherweise verbundenen Störungen ganzer ökonomischer Prozesse [...] zu beachten."204 Der „Abfluß" von bedeutenden Teilen der wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz hatte in jeder Beziehung eine destabilisie-

201 202 203

204

Letztlich war der Wissenschaftler dem MfS eine „austauschbare Beschäftigteneinheit"; vgl. Buthmann: Kadersicherung (wie Anm. 198), S. 128. Ausführlich bei Buthmann: Hochtechnologien (wie Anm. 74), S. 111-118. Mitte der achtziger Jahre, als die DDR die Entwicklung moderner Hochtechnologien forcierte und zunehmend auf disponibles und kreatives Potential angewiesen war, begann sie - auf Basis ihrer Sicherheitsdoktrin - mit massiven Sicherheitsüberprüfungen. Hierdurch selektierte sie das knappe Gut „Personal" nach außerbetriebswirtschaftlichen Kriterien. „Ausführungen des 1. Stellvertreters des Leiters der BV anläßlich der Einführung des Gen. Oberstleutnant Prüfer als Leiter der OD CKB am 13. Juni 1989". BStU, ASt Halle, AKG 650, Bl. 1-37, hier 19.

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rende (Rückwirkung auf weite Bereiche der Volkswirtschaft. In aller Regel handelte es sich um Personen, die am Beginn oder in der Mitte ihrer höchsten Leistungsfähigkeit standen. Das zeigt sich besonders gut an der Kohorte der „hartnäckig Übersiedlungsersuchenden". Hier lag das durchschnittliche Alter zwischen 30 und 40 Jahren; signifikante Stichproben für 1982 und 1983 zeigen Altersdurchschnitte von 34,6 bzw. 37,2 Jahren.205 Aus der Perspektive der Bundesrepublik ergab sich somit ohne Zweifel ein nicht unbeträchtlicher Zugewinn an risikobereitem und innovativem Humankapital.206 Auch sollte der politische Prestigegewinn nicht gering geschätzt werden.

6. Schlußbemerkungen Der„Kampf um die wissenschaftlich-technische Intelligenz" des SED-Staates war reich an grotesken Situationen, Widersprüchen sowie massiven Karrierebeeinflussungen; vor allem aber war er von eminent hybrider Natur. So wußte das MfS hin und wieder auch einmal die Flucht eines Wissenschaftlers mittels eines „Zugeständnisses] in Form [...] eines Einzelvertrages" zu verhindern. Begründung: er entwickelte „ein erstklassiges Korrosionsschutzmittel [...], mit dem sämtliche Betriebe der DDR arbeiteten."207 Die SED propagierte zwar Wissenschaft, aber nicht um den Preis der Akzeptanz ihrer, der Wissenschaft, Eigengesetzlichkeit. Prinzipiell hat der SEDStaat den bürgerlichen Wissenschaftler mit seinem spezifischen und tradierten Verständnis von Arbeitsbedingungen, Information und Kommunikation nicht akzeptiert. Niemals erkannte sie das an, was Max Planck - ganz im Geiste Max Webers - prägnant, eindringlich und zutreffend forderte, nämlich das „Supremat der großen Fragen der reinen Wissenschaft über kurzlebige Personen- und Tagesinteressen".208 Im Gegenteil: aus der Umkehrung dieser Forderung und den daraus erwachsenen Restriktionen und Repressionen ist allererst die Dauerpräsenz der Wissenschaftlerflucht aus der DDR erklärbar. Der Exodus in den Westen war sicher „ein Barometer sowohl der inneren Verfassung der DDR als auch der Anziehungskraft Westdeutschlands".209 Ein Barometer aber, das den Grad der Repressionen des DDR-Regimes nur mäßig anzugeben in der Lage war, da die Möglichkeiten des Verlassens der DDR zu 205 206 2