Vertagte Revolution: Die Politik der Kuomintang in China, 1923–1937 [Reprint 2018 ed.] 9783110818628, 9783110005295


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German Pages 815 [820] Year 1969

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Table of contents :
Geleitwort
Vorwort des Verfassers
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Nichttotalitäre Einheitsparteien in Entwicklungsländern
Erster Teil Revolutionäre Aktion — Die Zusammenarbeit der KMT und KCT bis 1927
I. Kapitel: Prämissen
II. Kapitel: Das Bündnis mit dem Kommunismus bis zum Tode Sun Yat-Sens
III. Kapitel: Die Konsolidierung in Kuangtung und der Aufstieg Chiang Kai-sheks
IV. Kapitel: Der „Nordfeldzug" und der Kampf der Linken gegen Chiang im Winter 1926/27
V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den Kommunisten
VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen Revolution 1923 bis 1927
Zweiter Teil Konsolidierung der Herrschaft — Die KMT von 1927 bis 1931
VII. Kapitel: Die Krise und der militärische Sieg der KMT 1927/ 28
VIII. Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen Kräfte 1929 — 1931
IX. Kapitel: Die Außenpolitik der Nationalregierung, 1928—31
X. Kapitel: Reformen, Wiederaufbau und die KMT, 1928 bis 1931
XI. Kapitel: Der Weg zur Nanking-Kanton-Koalitionsregierung
Dritter Teil Entwicklungspolitik und ihre Grenzen — bis zum Chinesisch-Japanischen Krieg 1937
XII. Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe bis 1936
XIII. Kapitel: Die KMT und das Volk — Organisation, Propaganda und Kontrolle
XIV. Kapitel: Fünf Jahre Aufbau in China
XV. Kapitel: Zwischen kommunistischem Aufstand und japanischer Aggression, 1932 bis 1936
XVI. Kapitel: Vom Staatsstreich in Sian bis zum Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges
Ergebnisse
Quellen- und Literaturverzeichnis
Anhang: Vollmitglieder des 2EK und der ZKK der KMT und Personal der Nationalregierung 1924 bis 1937
Biographie
Personenregister
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Vertagte Revolution: Die Politik der Kuomintang in China, 1923–1937 [Reprint 2018 ed.]
 9783110818628, 9783110005295

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Jürgen Domes · Vertagte Revolution

Beiträge zur auswärtigen und internationalen Politik

Herausgegeben von

Richard Löwenthal und Gilbert Ziebura

Band 3

Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner · Veit & Comp.

Berlin 1969

Jürgen Domes

Vertagte Revolution — Die Politik der Kuomintang in China, 1923-1937 —

Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.

Berlin 1969

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

A r d i i v - N r . 4775691 © Copyright 1969 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . GÖschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp. · P r i n t e d in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Drude: T h o r m a n n & Goetsdi, Berlin 44

In memoriam Chu Chia-hua

Geleitwort Seit dem Entstehen einiger Dutzend neuer Staaten verschiedener Größenordnung im Prozeß der Entkolonisierung hat die Weltpolitik eine neue Dimension gewonnen: Den Wettstreit der Weltmächte, und der um sie gruppierten Bündnissysteme, um den außenpolitischen Einfluß auf die neuen Staaten einerseits, den Kampf dieser Staaten um die Bewahrung ihrer neugewonnenen Unabhängigkeit andererseits. Dabei gibt die ideologische Komponente des Ost-West-Konflikts der Rivalität der Blöcke um den Einfluß auf die „Dritte Welt" zugleich den Charakter der Unterstützung rivalisierender politischer Kräfte und alternativer Regime innerhalb der neuen Staaten; und die Tatsache, daß es sich durchweg um unterentwickelte Gebiete handelt, führt zwangsläufig dazu, daß diese politischen Kräfte sich ihren Völkern als Vertreter alternativer Entwicklungswege, alternativer Methoden der politisch gelenkten Modernisierung präsentieren. Der Kampf um den „westlidi-kapitalistischen", „östlich-kommunistischen" oder „dritten" Entwicklungsweg in diesen Ländern und um die Herrschaft von traditionalistisch, nationalrevolutionär oder kommunistisch orientierten Führungsgruppen in jedem einzelnen von ihnen ist so zu einem wichtigen Bestandteil der weltpolitischen Auseinandersetzung geworden; und es ist nur natürlich, daß sich die politische Wissenschaft im Westen ebenso wie vergleichbare Disziplinen in der Sowjetunion im letzten Jahrzehnt mit größter Intensität den Problemen des politisch gelenkten Modernisierungsprozesses und dem vergleichenden Studium der vorliegenden Erfahrungen zugewandt hat. Nun hat die Erfahrung gelehrt, daß in den meisten Entwicklungsländern die Voraussetzungen einer pluralistisch-rechtsstaatlidien Demokratie vom westlichen Typus ebensowenig gegeben sind, wie in den entwickelten Industrieländern die Voraussetzungen einer totalitären, kommunistischen Parteidiktatur. Unter diesen Umständen ist der Vergleich der Stärken und Sdiwächen kommunistischer und nichtkommunistischer Entwicklungsdiktaturen von besonderem Interesse; und dieser Vergleich liegt da besonders nahe, wo die nichtkommunistischen Entwicklungsgremien den Charakter nationalistischer Einparteistaaten haben, die einer bewußten, aber selektiven Nachahmung des sowjetischen Vorbildes

VIII

Geleitwort

ihre Entstehung verdanken. Von Kemal Atatürks Aufbau des neuen türkischen Nationalstaates mit Hilfe der Republikanischen Volkspartei bis zur Entstehung des unabhängigen Algerien als Einparteistaat der Nationalen Befreiungsfront haben wieder und wieder nationalistische Führer, die eine schnelle, unabhängige Modernisierung ihrer Staaten mit Hilfe der Mobilisierung der Volksmassen, aber ohne Zulassung der freien Vertretung von Teilinteressen anstrebten, den Versuch gemacht, das sowjetische System der Einparteiherrschaft und Teilelemente der sowjetischen Planung zu kopieren, ohne deswegen die kommunistische Ideologie in Bausch und Bogen zu übernehmen. Die Frage der relativen Vorund Nachteile solcher nationalistischen Einparteistaaten gegenüber ihren kommunistischen Rivalen vom Standpunkt der Entwicklungsleistung und Machtstabilität (etwa des Vorteils größerer wirtschafts- und außenpolitischen Flexibilität, der Heranziehung westlicher und östlicher Wirtschaftshilfe, der Vermeidung der landwirtschaftlichen Zwangskollektivierung, der leichteren Erhaltung knapper wirtschaftlicher Fachkräfte; des Nachteils geringerer ideologischer Durchschlagskraft gegenüber entwicklungshemmenden Traditionen und geringerer moralischer Kohäsion der neuen Eliten gegenüber den Versuchungen der Macht) gehört heute zu den faszinierendsten Problemen einer vergleichenden politischen Wissenschaft. Für diese aktuelle Fragestellung bietet die Entwicklung Chinas in der Zeit zwischen den Weltkriegen ein einzigartiges Erfahrungsmaterial. Dr. Sun Yat-sens Nationale Volkspartei, die Kuomintang, wurde 1923/24 bewußt nach bolschewistischem Vorbild und mit Hilfe sowjetischer Berater als zentralistisch geführte Massenpartei mit einer von politisch geschulten Kadern geführten Armee reorganisiert, um sie zur Einigung Chinas durch Mobilisierung der Volksmassen und militärischen Vormarsch und zur Errichtung einer „Erziehungsdiktatur" zu befähigen. Dabei lehnten Dr. Sun und sein effektiver Nachfolger Chiang Kaishek die spezifisch kommunistischen Zielsetzungen von vornherein ab, und auf ihre anfängliche Zulassung aktiver Mitarbeit der chinesischen Kommunisten im Zuge der nationalen Revolution folgte ab April 1927 Chiangs Versuch ihrer totalen Unterdrückung. Das daraus hervorgehende Parteiregime der Kuomintang hat tatsächlich die territoriale Einheit Chinas wiederhergestellt und hat China bis 1937 ganz und bis 1949 teilweise beherrscht; es hat damit während einer langen und überaus ereignisreichen Periode ein größeres Gebiet regiert und eine bedeutendere Rolle in der Weltpolitik gespielt als irgendeine andere nationalistische Parteidiktatur. Dennoch hat es, nach bedeutenden Anfangserfolgen, nach

Geleitwort

IX

seclis Jahren des „unerklärten" und acht Jahren des offenen Krieges mit Japan, und nach vier Jahren erneuten Bürgerkrieges am Ende einer kommunistischen Parteidiktatur das Feld räumen müssen. Die Frage nach den Gründen des schließlichen Scheiterns der Kuomintang auf dem chinesischen Festland hat somit exemplarische Bedeutung für das allgemeine Problem eines Leistungsvergleichs nationalistischer und kommunistischer Entwicklungsdiktaturen. Um so bedauerlicher ist es, daß die Bearbeitung dieser wichtigen Periode der Politik und Geschichte Chinas durch die westliche Wissenschaft bisher erhebliche Lücken aufweist. Wohl verfügen wir über Teilstudien und über die Memoiren von Beteiligten, doch der überwiegende Teil der westlichen Forschung hat sich mit der Entwicklung der chinesischen kommunistischen Bewegung oder auch mit dem Gesamtprozeß der chinesischen Revolution beschäftigt. Eine wissenschaftliche Darstellung, die Entwicklung, Charakter, Leistungen und Niedergang des Kuomintangregimes im ganzen zum Thema gemacht hätte, fehlte bisher; und solange diese umfassende geschichtliche Darstellung nicht vorlag, war auch die theoretische Analyse vom Standpunkt der vergleichenden politischen Wissenschaft nicht möglich. Mit der vorliegenden Arbeit hat Dr. Jürgen Domes es erstmalig unternommen, diese doppelte Lücke zu füllen. Er hat einmal an Hand bisher unerschlossener chinesischer Quellen — vor allem der auf T'aiwan befindlichen Kuomintang-Archive und der persönlichen Archive einiger Kuomintang-Politiker — die Gesamtentwicklung des Kuomintangregimes von seinen Kantoner Anfängen bis zum Ausbruch des offenen Krieges mit Japan 1937 zur Darstellung gebracht, und er hat zum anderen die Beschreibung des geschichtlichen Ablaufs zur Grundlage von Analysen der Partei- und Staatsstruktur und der Entwicklungsleistung dieses Regimes gemacht, die einen Vergleich mit Struktur und Leistung anderer Einparteiregime ermöglichen. Er hat damit ein methodisches Beispiel dafür gegeben, was die Verbindung sprachlich und historisch fundierter Regionalstudien mit der Beherrschung einer modernen sozialwissenschaftlichen Disziplin — in diesem Fall der Wissenschaft von der Politik — auf dem in Deutschland noch wenig entwickelten Gebiet der gegenwartsorientierten Chinaforschung leisten kann, und was jene viel erörterte „Sino-Politologie" ist, die an der von ihm aufgebauten Arbeitsstelle „Politik Chinas und Ostasiens" am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin in Forschung und Lehre betrieben wird. Nach einer einleitenden Zusammenfassung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der chinesischen Revolution und ihrer

χ

Geleitwort

Entwicklung bis zum Jahre 1923 gliedert sich die Darstellung von Dr. Domes in drei zeitliche Abschnitte. Der erste umfaßt die Reorganisation der Kuomintang und ihrer bewaffneten Macht zur Partei und Armee „neuen Typs" und die Entfaltung der national-revolutionären Bewegung unter Führung der Kuomintang und unter aktiver Mitwirkung der chinesischen Kommunisten, und endet mit dem Bruch zwischen der Kuomintang und der KP Chinas. Dr. Domes schildert die Eigenart einer Zusammenarbeit, die nicht auf einem „Einheitsfrontabkommen" zweier getrennter Parteien, sondern auf der Zulassung der Kommunisten zur individuellen Mitarbeit in der KMT in teilweise leitenden Stellungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer separaten Parteiorganisation und Propaganda außerhalb der KMT beruhte. Er macht deutlich, daß die Kommunisten im Zuge des Anschwellens der Massenbewegung viele Schlüsselpositionen in den Massenorganisationen, aber keinen wesentlichen Einfluß im Offizierskorps der Armee zu erringen vermochten. Er behandelt das Heranreifen eines unvermeidlichen, obwohl von den Kommunisten selbst zunächst nicht gewünschten Konflikts um die Frage der Agrarreform zwischen kommunistisch geführten Bauernorganisationen und einer Parteiführung, die sich für die zentrale Aufgabe der nationalen Einigung Chinas auf ein Offizierskorps stützte, das großenteils aus Angehörigen grundbesitzender Familien bestand. Und er macht so verständlich, daß die Wendung zur blutigen Niederschlagung der Kommunisten zu einem nicht minder tiefgreifenden Wandel der Kuomintang führt als die seinerzeitige Reorganisation mit ihrer Hilfe: Die Massenorganisationen werden jeder Selbständigkeit beraubt und schrumpfen unter der strengen Aufsicht der Parteiführung bis zur Bedeutungslosigkeit zusammen, und die Kuomintang selbst wird im Maße, wie ihre Herrschaft sich ausdehnt, zu einer Organisation von Bürokraten und Militärs mit einer lokalen Basis von Honoratioren. Die Konsolidierung der Einheit Chinas im ständigen Kampf mit Kräften des Regionalismus und die Schaffung nationaler Institutionen durch diese bürokratisch-militärische Staatspartei sind die zentralen Themen der mittleren Periode, die bis zur japanischen Besetzung der Mandschurei 1931/32 führt. Dr. Domes zeigt einerseits, daß der Elan des nationalen Einigungswillens durch die Ausschaltung der Kommunisten nicht gebrochen wurde, andererseits, daß die Einigung Chinas nun mehr als das Ergebnis eines siegreichen Feldzuges denn als Frucht einer revolutionären Bewegung erschien. Diese Schwächung des ideologisch-revolutionären Elements im Vergleich zum militärisch-bürokratischen erklärt aber auch die Tendenz zum Wiederaufleben des eben besiegten militärischen Regio-

Geleitwort

XI

nalismus der Provinzgenerale innerhalb der Kuomintang — jetzt freilich nicht mehr in unverhüllter Gestalt, sondern im Bündnis mit rivalisierenden Apparatfraktionen, die sidi auf die lokalen Gewalthaber stützen und ihnen dafür den Anschein der „Parteilegitimität" verleihen. Auf dem Hintergrund dieses Strukturwandels der KMT beschreibt Dr. Domes die schließliche Durchsetzung und Institutionalisierung der zentralen Autorität Chiang Kai-sheks gegen immer neue regionale und fraktionelle Aufstände, aber auch die Grenzen, die dieser Autorität nicht nur durch die Enklaven der „Sowjetgebiete", sondern durch die Notwendigkeit von Kompromissen mit lokalen und fraktionellen Gruppierungen gezogen bleiben: Selbst auf ihrem Höhepunkt war die Diktatur der Kuomintang niemals ein zentralistisches Einparteiregime im vollen Sinne ihres eigenen Anspruchs, ja, sie verwirklichte niemals vollständig jenes Monopol legitimer physischer Gewaltanwendung, das nach Max Weber den Staat definiert. Diese Grenzen der faktischen Macht der KMT, nicht weniger als die Grenzen, die ihre Bindung an die grundbesitzenden Schichten den Bestrebungen auch zu einer nichtrevolutionären Agrarreform zog, beschränkten auch die Wirksamkeit der von Dr. Domes geschilderten, beachtlichen entwicklungspolitischen Maßnahmen und ließen die Bemühungen, in den Institutionen der „Erziehungsdiktatur" die Grundlagen einer schrittweisen Demokratisierung zu legen, nicht über Ansätze hinausgelangen. Die Lostrennung der Mandschurei von China durch die japanische Armee im Anschluß an den „Zwischenfall von Mukden" vom September 1931 erweist sich als der zweite große Wendepunkt in der Entwicklung des Kuomintangregimes. Die akute Gefährdung der nationalen Existenz, die von nun an auf der Tagesordnung steht, mildert zwar zeitweise die Rivalitäten der Führer; doch deren gemeinsame Uberzeugung, daß das isolierte China den offenen Krieg mit Japan noch nicht wagen kann, sondern auf Jahre hinaus hinhaltenden Widerstand mit Teilkonzessionen abwechseln muß, beraubt die KMT nun, wie Dr. Domes zeigt, der Anziehungskraft auf die nächste Generation der nationalgesinnten Intelligenz: Die nationalistische Staatspartei, die auf die Sozialrevolutionäre Legitimation verzichtet hat, verliert in den Augen der Jugend auch die Legitimation der nationalen Idee — und muß erleben, daß ihre kommunistischen Gegner sich dieser Idee als Waffe gegen das Regime bemächtigen. Die Versuche Chiangs, durch die Bewegung „Neues Leben" seinem Regime eine neo-konfuzianische Ideologie der von oben gelenkten Modernisierung im Rahmen der Tradition zu geben, werden in diesem Zusammenhang ebenso verständlich, wie der Abstand, der

XII

Geleitwort

diese Form des autoritären Paternalismus sowohl von nationalrevolutionären wie von faschistisch-nationalistischen Ideologien trennt. Doch dieser Versuch kann so wenig wie die anhaltenden Bemühungen um weitere Reformen die Tatsache verdunkeln, daß die KMT sicli in den Jahren vor dem Ausbruch des offenen Kriegs mit Japan nicht nur nach außen, sondern zunehmend auch nach innen schon in der Defensive befindet: Die Forderung nicht nur der intellektuellen Opposition, sondern auch wichtiger Armeeführer, den Kampf gegen die Kommunisten abzubrechen und den offenen Kampf gegen Japan aufzunehmen, die in dem Zwischenfall von Sian gipfelt, ist kennzeichnend für diese Situation; und Chiangs schließliche Wendung zum Krieg gegen Japan im Bündnis mit den — damals noch sehr schwachen — militärischen Kräften der Kommunisten erweist sich als ein, durch deren formelle Unterstellung unter die Autorität der Nationalregierung nur dünn verschleierter Verzicht auf das Parteimonopol der Kuomintang, der die Grundlagen für den erneuten Bürgerkrieg nach der Niederlage Japans legt. Was können wir aus der Analyse von Dr. Domes für unsere allgemeine Frage nach den relativen Stärken und Schwächen nationalistischer und kommunistischer Entwicklungsdiktaturen entnehmen? In der politischen und wissenschaftlichen Diskussion über die Gründe des kommunistischen Sieges in China herrschen bisher zwei entgegengesetzte Vereinfachungen vor. Für die Bewunderer Mao Tse-tungs beweist der Verlauf der chinesischen Revolution die grundsätzliche Überlegenheit der kommunistisclien über die nationalistische Lösung und die Unvermeidlichkeit ihres Sieges in allen Entwicklungsländern; für die Verteidiger Chiang Kai-sheks ist die entscheidende Ursache seiner Niederlage die Zerstörung eines vielversprechenden Aufbauwerkes durch den japanischen Einfall, zusätzlich erschwert durch Fehler der amerikanischen Kriegs- und Nachkriegspolitik. Die Forschungsergebnisse von Dr. Domes scheinen mir keine von beiden Vereinfachungen zu rechtfertigen: Sie beweisen keine grundsätzliche Unterlegenheit jeder nichtkommunistischen Lösung, aber auch kein ausschließliches Scheitern Chiangs an feindlichen äußeren Kräften, sondern zeigen eine sukzessive ideelle und soziale Aushöhlung des Kuomintangregimes auf Grund zweier schwerer, traumatisch wirkender Krisen. Die erste dieser Krisen entstand aus der politischen Anomalie der ursprünglichen Mitarbeit der Kommunisten beim Aufbau einer nationalrevolutionären Parteidiktatur — einer Anomalie, die früher oder später zum Konflikt führen mußte, aber nur um den Preis einer schweren organischen Schädigung des Regimes beendet werden konnte. Vor allem aber gab die enge Bindung von Parteiführung und Offizierskorps der KMT

Geleitwort

XIII

an die Interessen der grundbesitzenden Schichten den chinesischen Kommunisten ein effektives Monopol des Kampfes für eine wirksame Agrarreform und dem Konflikt mit ihnen einen echten Klassencharakter, so daß die Beendigung der Zusammenarbeit durch ein blutiges Massaker zu einer entscheidenden Schwächung der sozial fortschrittlichen Antriebe des Kuomintangregimes und seiner Verankerung in den Massen der chinesischen Bauernschaft führen mußte. Die zweite große Krise, durch lange Verzögerung des offenen, kriegerischen Widerstandes gegen Japan verursacht, schwächte nicht weniger entscheidend die nationale Legitimation des Regimes und seine Autorität unter der intellektuellen Jugend. Beide Krisen zusammen resultierten in einen fortschreitenden Verlust jener ideologischen Anziehungskraft, ohne die eine Entwicklungsdiktatur das Volk für ihre Ziele nicht zu mobilisieren vermag, bis schließlich die Parteidiktatur, der ideellen Antriebe weitgehend beraubt, zunehmend zur bloßen Fassade für eine zum Selbstzweck gewordene militärisch-bürokratische Apparatherrschaft entartete. Diese Gründe des Scheiterns der Kuomintang sind gewiß nicht zwangsläufig für alle nationalrevolutionären Entwicklungsdiktaturen; besonders der erste ist aber auch nicht von unwiederholbarer Einmaligkeit. Die soziale Zusammensetzung der Führung und der zivilen und militärischen Kader solcher Diktaturen können in verschiedenen Ländern je nach den historischen Vorbedingungen sehr verschieden sein: dementsprechend geht das Bekenntnis zum Nationalismus und zur unabhängigen Modernisierung, das allen diesen Regimen gemeinsam ist, in manchen, aber keineswegs in allen nichtkommunistischen Entwicklungsdiktaturen mit dem Willen und der Fähigkeit zur Durchführung der entwicklungsnotwendigen sozialen Umgestaltungen zusammen. Die allgemeinste Lehre, die ich aus der Pionierarbeit von Dr. Domes glaube entnehmen zu können, ist diese — daß die Überlebensfähigkeit eines solchen Regimes im Wettstreit mit kommunistischen Rivalen nicht von seinem nationalistischen Bekenntnis, sondern von seiner Entschlossenheit und Fähigkeit zur Durchführung der entwicklungsnotwendigen Strukturreformen abhängt. Stanford, Neujahr 1969

Richard Löwenthal

Vorwort des Verfassers In dem Wandlungsprozeß, der sich seit ungefähr hundert Jahren unter den Völkern Asiens und Afrikas vollzieht, kommt der chinesischen Revolution exemplarische Bedeutung zu. Ihr Studium kann deshalb zum Verständnis dieses Prozesses in erheblichem Maße beitragen. In den letzten zwanzig Jahren sind in der westlichen Politikwissenschaft, vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika, eine Anzahl sorgfältiger, viele Probleme erhellender Untersuchungen zur Geschichte und zum Wesen der kommunistischen Bewegung in China entstanden. Dagegen wurde die Entwicklung der Kuomintang, der für Jahrzehnte führenden politischen Kraft in China, bisher im Westen noch nicht zusammenfassend dargestellt. Die hiermit vorgelegte Studie unternimmt einen ersten Versuch, diese Lücke zu schließen. Dabei stehen zwei Fragestellungen im Mittelpunkt: die historische Frage nach den Vorgängen, welche die Geschichte der Kuomintang in den Jahren von 1923 bis 1937 bestimmten, und die politikwissenschaftliche Frage nach der Relevanz dieser Vorgänge für das Verständnis der chinesischen und darüber hinaus der afro-asiatischen Revolution. Dieser Studie liegen vor allem chinesische Quellen zugrunde, von denen ein Teil bisher im Westen noch nicht ausgewertet wurde. Dennoch muß sie unvollkommen bleiben, weil eine Reihe bedeutsamer Fragen erst geklärt werden kann, wenn Dokumente zur Verfügung stehen, zu denen heute der Zugang noch verwehrt ist. Mein besonderer Dank gilt Professor Dr. Richard Löwenthal, der mit tiefem Verständnis und großer Hilfsbereitschaft diese Arbeit von Anfang an gefördert hat. Ohne seine Unterstützung wäre sie nicht zustandegekommen. Weiterhin bin ich Professor Dr. Wolfram Eberhard (Berkeley), Professor Dr. Franz Michael (Washington), Professor John Lindbeck, PhD (Harvard), Professor Richard L. Walker, PhD (Columbia, S. C.), Professor Dr. Hsiao Tso-liang (T'aipei), Professor Dr. GottfriedKarl Kindermann und Professor Dr. Franz Ansprenger für manchen Rat und hilfreiche Kritik in Gespräch und Korrespondenz zu großem Dank verpflichtet. Den gleichen Dank schulde ich Professor C. Martin Wilbur, PhD (Columbia University) und Professor Benjamin

Vorwort

XV

Schwartz, PhD (Harvard), deren Arbeiten diese Studie in erheblichem Maße angeregt haben. Weiterhin ist der Ford-Stiftung und der Außenkommission der Freien Universität Berlin zu danken, deren großzügige materielle Unterstützung mir Quellenstudien und Interviews in Ostasien ermöglichten. Der Präsident der Academia Historica in T'aipei, Professor Dr. Lo Chialun, hat mir Zugang zu den noch nicht veröffentlichten Akten des Parteiarchivs der Kuomintang verschafft und auch sonst meine Arbeiten über das Maß des Üblichen hinaus gefördert. Ähnliches gilt von dem ehemaligen Direktor der Nationalbibliothek der Republik China in T'aipei, Dr. Chiang Fu-tsung und Professor Abraham T. Wu (T'aipei). Tso Yiu-kam (Hongkong), Professor Ch'eng Chen-yü (T'aipei), Professor Li Hsien-liang und das „Government Information Office" der Nationalregierung der Republik China halfen mir dabei, bedeutsame Interviews gewährt zu bekommen. Ihnen sei ebenfalls herzlich gedankt. Von großer Bedeutung für meine Arbeit war die Bereitschaft einer Reihe führender Persönlichkeiten der Kuomintang und anderer Beobachter der hier beschriebenen Ereignisse, meine Fragen in Interviews zu beantworten. Zu ihnen gehören der Präsident der Republik China, Generalissimus Chiang Kai-shek, Sun K'e, Dr. K'ung Hsiang-hsi f , General Ho Ying-ch'in, General Pai Ch'ung-hsi f , General Chang Fa-k'uei (Hongkong), General Ku Chu-t'ung, Chang Chih-pen, Ma Ch'ao-chün, Ku Cheng-kang, Professor Huang Chi-lu, Oberst a.D.Sun Li-ch'uan (Hongkong), Sung Feng-en (Berlin) und zwei Schüler Μ. N. Roys, P. P. Widia und V. B. Karnik in Bombay. Die chinesischen Studenten Chang Ta-chih, Lin Ch'ing-huang, LoKuan Hsi-hua, Diplom-Politologe Kuan Hsin-chi und T'ang Ch'i haben diese Arbeit bis Ende 1964 mit Präliminarübersetzungen, Dolmetscherdiensten bei Interviews sowie unschätzbarer Hilfe bei der Durchsicht der umfangreichen Dokumentensammlungen und seither durch mannigfachen Rat erheblich gefördert. Auch ihnen gebührt mein Dank, ebenso wie den Diplom-Politologen Heinrich Gerhardt und Marie-Luise Näth für viele kritische Korrekturen, der Diplom-Politologin Helga Rinecker für ihre Hilfe bei der Anfertigung der Bibliographie und Christa Bleistein, Heike Schwenn, Dipl.-Pol. Erik v. Groeling und Werner Pfennig für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts. Für die Umschrift chinesischer Namen und Begriffe wurde — abgesehen von einigen wenigen, allgemein bekannten geographischen Bezeichnungen — die von Wade und Giles eingeführte Methode benutzt. Wenn ich diesen bescheidenen Versuch eines Beitrags zum Verständnis

XVI

Vorwort

und zur Beurteilung der Politik der Kuomintang dem Andenken Dr. Chu Chia-huas widme, so geschieht dies nicht nur, weil er mir vor seinem Tode am 3. Januar 1963 im Gespräche wesentliche Anregungen gab und wichtige Dokumente zur Durchsicht zur Verfügung stellte, sondern vor allem, weil seine unvollendet gebliebene Arbeit als Verkehrs- und Erziehungsminister, Generalsekretär der Parteiorganisation der Kuomintang, Gouverneur von Chekiang und Präsident der Academia Sinica die ernsthaftesten und wirksamsten Bemühungen der Kuomintang um die Entwicklung Chinas repräsentiert. Berlin, den 31. Januar 1969

Jürgen Domes

Inhaltsverzeichnis Geleitwort Vorwort des Verfassers Einleitung: Nichttotalitäre Einheitsparteien in Entwicklungsländern

VII XIV 1

Erster Teil: Revolutionäre Aktion — Die Zusammenarbeit der KMT mit der UdSSR und der K C T bis 1927 I. Kapitel: Prämissen Das traditionelle chinesische Gesellschaftssystem zur Zeit der Ch'ing- Dynastie China und die Mächte 1839 bis 1922 — Wandlungen in Herrschaftsordnung und Gesellschaft Die Herausbildung des militärischen Regionalismus bis 1920 Die intellektuelle Erneuerungsbewegung 1916 bis 1926 Zur Lage der Bauern in China um 1920 Frühgeschichte und Programm der KMT Die KMT im Kampf mit den Militärmadithabern Die sowjetische Chinapolitik bis Ende 1922 Die Frühgeschichte des chinesischen Kommunismus' bis zur „Westsee-Konferenz" im August 1922 Die Beziehungen Sun Yat-sens zu den Kommunisten bis Ende 1922 II. Kapitel: Das Bündnis mit den Kommunisten bis zum Tode Sun Yat-Sens . .

13 13 23 34 38 44 49 62 65 70 75 83

Der Beginn der Zusammenarbeit Suns mit der UdSSR und die Entstehung des „Blocks von innen" 83 Die Reorganisation der KMT 1923/24 89 Der Aufbau der „revolutionären Basis" 1924 97 Der Durchsetzungskampf der KMT in Kuangtung bis März 1925 104 Sun Yat-sens Reise nach Nordchina und sein Tod 108 III. Kapitel: Die Konsolidierung in Kuangtung und der Aufstieg Chiang Kaisheks 117 Die Errichtung der „Nationalregierung" in Kanton Die antiimperialistische Massenbewegung im Sommer 1925 Opposition von rechts — Fraktionskämpfe in der KMT Der Sieg des linken Flügels auf dem II. Parteikongreß der KMT Chiang Kai-sheks Staatsstreich vom 20. März 1926

117 123 130 141 148

XVIII

Inhalt

IV. Kapitel: Der „Nordfeldzug" und der Kampf der Linken gegen Chiang im Winter 1926/27 157 Der Vorstoß bis zum Yangtzu 157 Chiang Kai-shek und die Kommunisten, Mai bis November 1926 164 Der Konflikt über die Strategie des Nordfeldzuges und den Sitz der revolutionären Zentrale 173 Koalition gegen Chiang Kai-shek 179 V. Kapitel: Der Brudi der KMT den Kommunisten Die Aktion vom 12. April 1927 Nanking und Wuhan im April und Mai 1927 Die Krise in Wuhan im Frühsommer 1927 Die Komintern und die K C T im April und Mai 1927 Wuhan bricht mit den Kommunisten

191 191 202 213 219 227

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der chinesischen Revolution 1923 bis 1927 .. 238 Die Intentionen der Bündnispartner Zur soziologischen Struktur des I. und II. ZEK der KMT Fraktionen und Machtgruppen in der KMT-Führung Wandlungen in den Grundsätzen und Methoden der KMT im Jahre 1927 . . . .

238 245 250 259

Zweiter Teil: Konsolidierung der Herrschaft — Die KMT von 1927 bis 1931 VII. Kapitel: Die Krise und der militärische Sieg der KMT 1927/28

265

Chiang Kai-sheks Rücktritt und die Bildung des „Spezialkomitees"

265

Kommunistische Aufstände im Herbst und Winter 1927 Von der Bildung des „Spezialkomitees" zum Sturz Wang Ching-weis Chiangs Rüdekehr zur Macht und das 4. Plenum des II. ZEK Die zweite Phase des Nordfeldzuges Die „Periode der Erziehungsdiktatur" beginnt

276 280 294 302 311

VIII. Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen Kräfte von 1929 bis 1931 321 Der III. Parteikongreß und der Sieg über die Kuangsi-Gruppe Konflikte mit der Kuominchün und anderen Militärgruppen, 1929 Der große Bürgerkrieg im Frühjahr und Sommer 1930 Der Konflikt zwischen Chiang und H u Han-min Der kommunistische Partisanenkrieg in Südchina, 1928 bis 1931 IX. Kapitel: Die Außenpolitik der Nationalregierung, 1928—1931 Verhandlungen über die Revision der ungleichen Verträge Der diinesisdi-sowjetische Bahnkonflikt in Tungpei 1929

323 331 339 348 357 365 365 375

Inhalt

XIX

Chinesisch-japanische Spannungen seit 1928 Der „Mukden-Zwischenfall" und seine unmittelbaren Folgen

380 387

X. Kapitel: Reformen, Wiederaufbau und die KMT, 1928 bis 1931

399

Die Reform des chinesischen Rechtswesens

400

Der Ausbau des Erziehungswesens Finanzpolitik und wirtschaftlicher Aufbau

411 417

Nationalkonvent und Grundgesetz Soziologische Struktur und Machtgruppen im III. Z E K der K M T

426 432

XI. Kapitel: Der Weg zur Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

439

Die Bildung der Gegenregierung in Kanton

439

Die Friedenskonferenz in Shanghai

444

Zwei getrennte Parteikongresse

450

Der zweite Rüdttritt Chiangs und die Reorganisation der Regierung auf dem 1. Plenum des IV. ZEK 455 Der Wiederbeginn der Zusammenarbeit zwischen Wang und Chiang 465 Dritter Teil: Entwicklungspolitik und ihre Grenzen — Bis zum chinesisch-japanischen Krieg 1937 X I I . Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe bis 1936 Instrumente der Erziehungsdiktatur — Partei, Regierung und Armee

475 476

Vorbereitungen für den Übergang zum Verfassungsstaat

489

Das innerparteiliche Kräftespiel bis zum Aufstand von Fudiou Chiangs zweiter Aufstieg zur Macht bis zum V. Parteikongreß 1935

495 505

Der V. Parteikongreß und die Umbildung der Regierung im Dezember 1935 517 Der Zusammenbruch des südchinesischen Regionalismus 525 X I I I . Kapitel: Die K M T und das Volk — Organisation, Propaganda und Kontrolle 534 Die Partei und ihre Massenorganisation

534

Instrumente und Methoden der Kontrolle

543

Rüdekehr zum Konfuzianismus — Die Bewegung „Neues Leben"

550

Die Landpolitik der KMT, 1932 bis 1937

559

Zur soziologischen Struktur des IV. und V. ZEK der K M T

568

X I V . Kapitel: Fünf Jahre Aufbau in China

575

Der militärische Aufbau

576

Weiterer Ausbau des Erziehungswesens Bemühungen um den wirtschaftlichen Aufbau

585 592

Der Ausbau des Verkehrswesens

604

XX

Inhalt

XV. Kapitel: Zwischen kommunistischem Aufstand und japanischer Aggression, 1932 bis 1936 610 Der Zusammenbruch der KCT in den Städten und der vierte „Verniditungsfeldzug" Fünfter „Vernichtungsfeldzug" und „Langer Marsch" Der Verlust von Jehol und Japans Austritt aus dem Völkerbund 1933 Nankings „appeasement"-Politik 1934/35 Die „Autonomiebewegung" in Nordchina und der Beginn der Politik des Widerstandes

611 616 622 628 637

XVI. Kapitel: Vom Staatsstreich in Sian bis zum Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges

647

Intellektueller Nationalismus — Die „Nationale Rettungsbewegung" 1935/36 647 Der Staatsstreich in Sian 656 Erste Kontakte mit der K C T im Frühjahr und Sommer 1937 674 Der 7. Juli 1937 682 Ergebnisse

689

Quellen- und Literaturverzeichnis

705

Anhang: Vollmitglieder des ZEK und der ZKK der KMT und Personal der Nationalregierung, 1924/25 bis 1937 733 Biographie

755

Personenregister

784

(Bei den mit einem Sternchen [*] bezeichneten Namen befinden sich innerhalb der Rubrik „Biographie" nähere Lebensdaten.)

Einleitung Nichttotalitäre Einheitsparteien in Entwicklungsländern Seit dem Beginn der „Meiji-Restauration" in Japan 1868, vor allem aber seit dem ersten und zweiten Weltkrieg, sind in den Ländern Asiens, Afrikas und Ibero-Amerikas immer stärker Kräfte des sozialen und politischen Wandels wirksam geworden. Wir beobachten diesen Wandel auf drei Ebenen, er vollzieht sich: von einer agrarischen zu einer halbindustriellen oder gar voll indutrialisierten Wirtschaft, von einem traditionalistisch geprägten zu einem westlich-wissenschaftlichen Bildungswesen, und von feudalen oder tribalistisch-kommunitären zu zentralisierten, bürokratisch-rationalen Herrschaftssystemen. Nahezu überall treten als Motor dieses Wandlungsprozesses — der eben das umfaßt, was man geläufig als „Entwicklung" bezeichnet — kleine Elitegruppen auf, die entweder aus eigener Erfahrung mit westlichen Herrschaftssystemen, einschließlich der kommunistischen Einparteiherrschaft, vertraut oder wenigstens über diese recht ausführlich informiert sind. Soldie Eliten bildeten sich auf mancherlei Weise. Im wesentlichen wird man jedoch vier Gruppen unter ihnen feststellen können: Die erste dieser Gruppen besteht aus Absolventen von westlich organisierten und oft audi geleiteten Bildungsinstituten im Lande selbst, wobei christliche Missionsschulen besondere Bedeutung gewonnen haben, jedoch selten in dem Sinne, den sich ihre Gründer erhofften. Zum zweiten handelt es sich um Akademiker, die an ausländischen Universitäten studierten — vor allem in Europa und den Vereinigten Staaten 1 — und von dort Modellvorstellungen für die Änderung der sozialen und politischen Verhältnisse in ihrem Land mitbrachten. Die dritte Gruppe umfaßt in erster Linie Kaufleute, denen durch intensive Wirtschaftsbeziehungen mit 1

1

Der Begriff „Europa" wird hier geographisch gebraucht und sdiließt die politisch bedeutsamsten Regionen der UdSSR mit ein. Domes

2

Einleitung

westlichen Ländern — und auch durch die Konkurrenz westlicher Erzeugnisse auf dem einheimischen Markt! — die Unzulänglichkeit der eigenen herkömmlichen sozialen und politischen Ordnungen in der Weltverkehrswirtschaft bewußt wurde. Die vierte Gruppe schließlich hat ihren Ursprung in einem unter ausländischer Leitung oder maßgeblicher Beratung entstandenen modernen Militärapparat. Diese vier Gruppen erscheinen zuweilen jeweils einzeln, meist aber in unterschiedlich gestalteten Koalitionen als treibende Kraft des Entwicklungsprozesses. Als Vehikel dieses Prozesses werden die Apparate politischer Parteien benutzt, die in vielen Fällen entweder als Einheitspartei auftreten, oder aber wenigstens gegenüber konkurrierenden Gruppen so stark sind, daß sie über längere Zeit hinaus die politischen Entscheidungsvorgänge in ihren Ländern allein zu gestalten vermögen. Wenn man den Versuch unternimmt, die Typen der Herrschaftsausübung in den Staaten Asiens, Afrikas und Ibero-Amerikas zu bestimmen — ein Unternehmen, das gewiß von mannigfaltigen Problemen belastet ist — so ergibt sich im Januar 1968 in den 88 in Frage kommenden Staaten folgendes Bild: Von einem demokratisch-repräsentativen System parlamentarischen oder präsidentiellen Charakters könnte man (mit mancherlei Vorbehalten) in 20 Staaten sprechen; ein demokratisch-repräsentatives System, in dem eine einzelne Partei den vorwiegenden politischen Einfluß ausübt, ist in zwölf Staaten festzustellen; nichtkommunistisdie Einheitsparteien beherrschen 24 Staaten; Militärdiktaturen 17 Staaten; traditionell — oder konstitutionell-monarchische Systeme finden sich in neun Staaten; kommunistische Einparteiensysteme in fünf Staaten; und unklare Herrschaftsverhältnisse mindestens in einem Staat (dem Yemen). Von den 68 Staaten Asiens und Afrikas wurden zu dieser Zeit 23 von nichtkommunistischen Einheitsparteien beherrscht, vier von kommunistischen Einheitsparteien, und in elf von ihnen übte eine Partei den bei weitem überwiegenden politischen Einfluß aus, obgleich — mindestens theoretisch — bei Wahlen die Konkurrenz anderer Gruppen möglich war2. 2

Angesichts der Situation in Indonesien im Januar 1968 erscheint es mir als zulässig, dieses Land unter den „Militärdiktaturen" einzureihen. Nord- und Südvietnam,

Nicbttotalitärc

Einheitsparteien

in

Entwicklungsländern

3

Solche Einheitsparteien, in denen sich entwicklungsaktive Eliten sammeln, treten in unterschiedlichen Formen auf. Es gibt unter ihnen Gruppen, die dem von Duverger beschriebenen Typ der Partei der Honoratioren-Komitees3 entsprechen, aber ebenso „Miliz-Parteien" 4 und Kaderparteien, die sich organisatorisch am Modell der leninistischen KPdSU orientieren5. Den ersten Typ vertreten etwa die „Parti Democratique de la Cote d'Ivoire" Houphouet-Boignys® und die „Grand Alliance" Tunku Abdul Rahmans in Malaysia, der zuletzt genannte findet sich in der syrischen Baath-Partei und im „Bloc Democratique Guineen" Seku Tures, wenn auch in beiden Fällen offenbar weniger straff geordnet als die KPdSU selbst. Alle diese Gruppen, auch wo sie theoretisch neben sich die Konkurrenz schwacher oppositioneller Kräfte dulden, würden von Duverger als „parti unique"7 bezeichnet werden. Zur weiteren formalen Bestimmung eignen sich die von Gabriel d'Arboussier entwickelten Kategorien der „Führungspartei" (parti dominant), der „Vereinigten Partei" (parti unifie) und der „Einheitspartei" (parti unique) 8 . Franz Ansprenger hat Beispiele für diese drei Typen im afrikanischen Bereich angeführt. In Asien wären der „All Indian National Congress" und Ayub Khan's „Pakistan Muslim League" als „Führungsparteien" zu bezeichnen — diesen Typ vertritt in Ibero-Amerika vor allem der mexikanische „Partido Revolucionario Institucional (PRI)" —, die „Grand Alliance" Malaysias erscheint als „Vereinigte Partei" — obgleich neben ihr noch schwache Oppositionskräfte legal zu wirken vermögen —, während man in Burmas „Partei des burmesischen Weges zum Sozialismus" eine „Einheitspartei" in der von d'Arboussier gebrauchten Bedeutung erkennen kann. Nord- und Südkorea und die Volksrepublik wie audi die Republik China sind jeweils einzeln gezählt, ohne daß damit die Annahme einer wie auch immer gearteten

„Zwei-Staaten-Theorie"

für

irgendeines

dieser

Gesamtländer

ausgesprodien

werden soll. 3

Vgl. Maurice Duverger, Les partis politiques, Paris 1951, p. 35 ff.

1

ibid., p. 55 ff.

5

Vgl. hierzu: Richard Löwenthal, „Die Haltung der Sowjets zu den Einparteiensystemen

der

Entwicklungsländer",

in:

Entwicklungsländer

zwischen

nationaler

und kommunistischer Revolution, Hannover 1965, p. 12. f. und 15. 6

An der Elfenbeinküste.

7

Vgl. Duverger, op. cit., p. 2 8 7 — 2 9 4 .

8

Vgl. Gabriel d'Arboussier, L'Afrique vers l'unite, Issy (Seine) 1961, zitiert bei: Franz Ansprenger,

„Stabilität und Instabilität der neuen Staaten Afrikas",

Entwicklungsländer, op. cit., p. 90 f. 1"'

in:

Einleitung

4

Die Konkurrenz zulassende, aber in ihrem Lande dominierende „Führungspartei", die „Vereinigte Partei", in der mehrere im jeweiligen Lande wirkende politische Kräfte organisatorisch zusammengeschlossen wurden, und die „Einheitspartei" im engeren Sinne — sie alle haben eines gemeinsam: in ihrem Herrschaftsbereich gibt es keine Chance für die Machtübernahme konkurrierender Gruppen durch Wahlen. Dies Charakteristikum bezeichnet jenes Phänomen, das hier Einheitspartei genannt werden soll. Die erste solcher Parteien, die in ihrem Lande an die Macht kam, war Kemal Atatürks „Republikanische Volkspartei" (Cümhuriyet Halk Partisi, CHP), die in qualitativer Veränderung der Tätigkeit der seit 1907 die türkischen Geschicke bestimmenden „jungtürkischen" „Komitee"Partei („Comite du progres et de l'unite") zwischen 1919 und 1922 zur maßgeblichen politischen Kraft der Türkei wurde9. In Anlehnung an das organisatorische Modell der KPdSU schuf sich Kemäl Atatürk diese Partei als Herrschaftsinstrument, um mit dessen Hilfe die von ihm entwikkelten Grundsätze der politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Erneuerung seines Landes durchzusetzen. Seine Doktrin, in ersten Ansätzen schon in extremen Gruppen der „Komitee"-Partei vor dem ersten Weltkrieg erkennbar, fand ihren deutlichsten Ausdruck in den „Fundamental-Artikeln" der Partei von 1924, die schließlich 1937 auch in die türkische Verfassung aufgenommen wurden: „Prinzipien des Staates sind: 1.

die Maxime, daß die Interessen des Staates allen anderen als entscheidender Faktor vorangehen — der Nationalismus;

2.

der Grundsatz, daß der Staat eine homogene Gemeinschaft seiner Bewohner sei, ohne Rücksicht auf Klassen und Privilegien — der Populismus;

3.

die Regel, daß die persönlichen Interessen immer erst nadi denen der Gemeinschaft kommen — der Etatismus;

4.

das Prinzip des Laizismus als Manifestation der Trennung von Religion und Staat und absoluter Toleranz im religiösen Bereich;

5.

die Anerkennung des Grundsatzes, daß der Staat sich administrativ,

kulturell,

wirtschaftlich und sozial unaufhörlich nach vorn entwickelt — der Revolutionismus; . .

Zur Verwirklichung dieses Konzepts bediente sich Kemäl Atatürk der Revolution durch Dekrete, wie es besonders in den großen Reformen • Hierzu vgl. u. a.: Löwenthal, op. cit., p. 12 f. (dort zitiert: Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey, London 1 9 6 1 ) ; August Ritter von Kral, Atatürk's Land, Wien 1938. 10

Zitiert nach ibid., p. 20.

Kamal

Νichttotalitäre

Einheitsparteien

in

Entwicklungsländern

5

von 1925, 1928 und 1934 zu erkennen ist11. Für ihn ist der „ordnende Wille des Führers der Nation" bewegende Kraft, die Partei nur unterstützendes Instrument der Führung. Nicht die C H P revolutioniert die Türkei, sondern sie hilft der von ihr nur bedingt abhängigen Spitze, die „Revolution von oben" voranzutreiben 12 . Während diese Auffassung von der Rolle der Partei als spezifisdi „kemalistisdi" bezeichnet werden kann, sind die von Kemal entwickelten Prinzipien in ähnlicher Weise bei vielen Einheitsparteien in Entwicklungsländern erkennbar. Sie sind anti-monarchisch, proklamieren — und praktizieren nidit selten sogar — ihre Ablehnung der herkömmlich hierarchisch verfaßten sozialen Struktur, betonen den Vorrang der Redite des Kollektivs vor denjenigen des Individuums und die Pflicht des Staates, aktiv den Prozeß der ökonomischen und sozialen Entwicklung zu fördern. Entstanden als Repräsentationsorgan der Ideologie — oder audi der Theoreme — einer bestimmten oder der Koalition mehrerer Elitegruppen, in irgendeiner der drei von d'Arboussier beschriebenen Formen wirkend und irgendeinen der verschiedenen Organisationstypen, die Duverger schilderte, vertretend, üben sie, ohne wirksame Konkurrenz zuzulassen, die Herrschaft in ihrem Lande aus. Dieses Konzept ist jedodi — trotz aller „diktatorischen" Züge — von demjenigen totalitärer Einparteisysteme ebenso unterschieden wie von den Konzepten der autoritären Diktatur — wie sie heute etwa in Spanien und Portugal auftritt — oder der parlamentarisch-demokratischen Regierungsweise. Von dieser unterscheidet es sich eben durch die Verweigerung legaler Alternativen, von der autoritären Diktatur durch seine betont revolutionäre oder mindestens sozial-evolutionäre Zielsetzung. Die Einheitspartei, um die es hier geht, verzichtet in der Regel darauf, die bedingungslose Zustimmung aller Bürger zu ihren Maßnahmen gewaltsam zu erzwingen, und sie gewährleistet meist die religiöse Freiheit und die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes. Die Ziele, die sich solche Einheitsparteien setzen, bleiben örtlich und oft audi zeitlich begrenzt. Diese Kriterien unterscheiden sie von den herrschenden 11

18

Durch persönliches Dekret wurden 1925 der Schleier für die Frauen und der Fez für die Männer abgeschafft, die Klöster aufgelöst und die mohammedanische Geistlichkeit aus den Sdiulen in die Mosdieen verbannt. Weiterhin wurden durch persönliches Dekret 1928 die lateinische Schrift eingeführt und die arabisdie verboten und 1934 die letzten Reste arabisch-mohammedanischer Traditionen im öffentlichen Leben beseitigt. Kral, op. cit., p. 227.

6

Einleitung

Parteien totalitär verfaßter Staaten. Deshalb wird hier der Begriff der nichttotalitären Einheitspartei verwandt. Darunter soll eine Gruppe verstanden werden, die herrscht, ohne Konkurrenz im politischen Bereich zuzulassen, jedoch auch ohne die totale Kontrolle über das Denken und Handeln der Volksangehörigen anzustreben. Sie stellt ein Vehikel dar, mit dessen Hilfe modern ausgebildete Eliten ihre jeweiligen entwicklungspolitischen Konzeptionen verwirklichen wollen. Bei Kemal Atatürk verband sich hier eine sehr gemäßigte Agrarpolitik13 mit der Förderung einer gemischt staatlich-privaten industriellen Wirtschaft14. Ähnliche Phänomene sind in vielen Entwicklungsländern heute feststellbar. Über das technische, entwicklungspolitische Konzept hinaus wird man aber bei dem Studium solcher nichttotalitären Einheitsparteien ihrem „Zukunftsbild" Rechnung tragen müssen. Richard F. Behrendt definiert diesen Begriff als „die Vorstellung

einer als wünschenswert,

erachteten Gesellschaftsordnung

legitim

und ein E n t w u r f

und grundsätzlich

(Rahmenplan)

für ihre

realisierbar Verwirk-

lichung in der kürzest möglichen Zeit und mit den besten möglichen Mitteln. Diese Vorstellung muß auf einer vor-wissenschaftlidien Entscheidung über die wünschenswerte Ausrichtung dieser Gesellschaft basiert sein" 1 5 .

Richard Löwenthal „ein

derartiges

hat darauf hingewiesen, daß

Regime

(Einparteiregime

in Entwicklungsländern;

seine selbstgestellte Aufgabe . . . nicht ohne jede

Anm.

d.

V.)

Ideologie lösen kann; die Umerzie-

hung der Volksmassen und der Zusammenhalt der herrschenden Partei selbst erfordern ein Gedankensystem, das die Werte der nationalen Tradition und des Willens zur Modernisierung miteinander zu vereinen sucht und die Aufgaben der nationalen Revolution in einleuchtender und emotionell bindender Weise begründet" 1 6 .

Während also theoretisch auch eine parteiungebundene und ausschließlich pragmatisch orientierte „Entwicklungsdiktatur" denkbar wäre, wird die von einer nichttotalitären Einheitspartei ausgeübte Herrschaftsform nicht auf ideologisch bestimmte, weitergefaßte Zielvorstellungen verzichten können, sie wird vielmehr erzieherisch ein bestimmtes „Zukunftsbild" im Volke zu verbreiten suchen. Es scheint daher angemessener, diese Herrschaftsform als „Erziehungs- und Entwicklungsdiktatur" zu bezeichnen, denn nur als „Entwicklungsdiktatur". 13

ibid., p. 75 ff.

14

ibid., p. 98.

15

Zitiert nach: „Die humane Gesellschaft als Zukunftsbild", Plan für eine Vorlesung an der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1 9 6 5 / 6 6 , p. 2.

16

Löwenthal, op. cit., p. 15.

Nichttotalitäre

Einheitsparteien

in

Entwicklungsländern

7

Als zweite der hier beschriebenen nidittotalitären Einheitsparteien gelangte nun im Jahre 1928 nach 23jährigem Kampf in China die „Kuomin tang" („Nationale Volkspartei", hinfort: KMT) zur Herrschaft. Diese Partei war als Koalition von Eliten entstanden, die sich aus allen vier zuvor17 geschilderten Gruppen entwickelt hatten. Sie setzte es sich zum Ziel, unter einem Volk von damals 420 bis 450 Millionen Menschen als gestaltende Kraft des sozialen, ökonomischen und politischen Wandels, eben der „Entwicklung" Chinas, zu wirken. Als jedoch im Jahre 1949 die chinesischen Kommunisten die letzte von der K M T geleitete Regierung vom Festland nach T'aiwan (Formosa) vertrieben, war dieser Versuch gescheitert. Und seither bietet die Frage nach dem Grund seines Scheiterns Stoff für mannigfaltige politische und politikwissenschaftliche Überlegungen. Bisweilen wird die Auffassung vertreten, die K M T habe vor dem Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges 1937 vorwiegend erfolgreich gewirkt und erst seit dem Jahre 1940 etwa seien jene Verfallserscheinungen aufgetreten, die zu ihrer Niederlage im Kampf gegen die Kommunistische Partei Chinas („Kung-ch'an tang", hinfort: KCT) geführt hätten18. Es findet sich andererseits auch die Behauptung, daß eben diese Verfallserscheinungen oder entscheidenden Schwächen bereits vor 1937 die Politik der KMT bestimmt hätten19, ja, daß sie schon ihre Wurzel in dem von dem Gründer und ersten Führer der Partei, Sun Yat-senentwickelten „Zukunftsbild" hätten20. Die vorliegende Studie soll diese Interpretationen untersuchen: Trifft eine von ihnen in vollem Umfang zu, können sie miteinander verbunden, oder müssen sie alle drei abgelehnt werden? Sie beschäftigt sich daher mit der Politik der K M T in China von 1923 bis 1937 und deren Voraussetzungen, wobei „Politik in China" — im strengen Wortsinne — „Innenpolitik" bedeuten soll. Dabei werde ich mich darum bemühen, die folgenden Fragen einer Beantwortung näher zu bringen: 17 ,8

Siehe oben, Seite 1 f. So vor allem: A. Doak Barnett, China on the Eve of Communist Takeover, New York 1963.

19

Diese Auffassung vertritt u. a. John K. Fairbank (The United States and China, 2. Aufl. Cambridge, Mass. 1958), ähnlich audi: Tang Tsou, America's Failure in China 1944—1950, Chicago 1963.

20

Ansätze zu dieser Theorie finden sich bei Harold R . Isaacs, The Tragedy of the Chinese Revolution, 2. Aufl. Stanford 1951, vor allem aber bei: Manabendra N a t h Roy, Revolution und Konterrevolution in China, Berlin 1930. Hongkong 1955.

8

Einleitung

Auf welche Weise kam die KMT in China an die Macht? In welcher soziologisch-politischen Gestalt kam sie an die Macht, und wie unterschied sich diese Gestalt von derjenigen, in der sie ihren revolutionären Kampf um die Macht begann? Welche soziologischen und ökonomischen Bedingungen fand sie zu Beginn ihrer revolutionären Aktionen und bei ihrem Machtantritt vor? Welche Konzeptionen entwickelte sie, um diese Bedingungen zu verändern? Wie also sah ihr „Zukunftsbild" aus, wie ihr konkretes „Entwicklungsmodell" ? Welche Probleme ergaben sich für die Gestalt und die Aktionen der KMT aus dem Vollzug ihrer Machtausübung? Welche Erfolge hatte die KMT in ihrer Entwicklungspolitik in China seit 1928, und besonders von 1932 bis 1937? und schließlich: Warum wirkten diese Erfolge nach dem zweiten Weltkrieg für die KMT nicht machterhaltend? Zunächst soll der Lauf der Ereignisse dargestellt werden, wobei der Entwicklung der innerparteilichen Auseinandersetzungen in der KMT und Fragen der Führungssoziologie in dieser Partei besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dann erst werden die politikwissenschaftlichen Fragen danadi, welche allgemeinen Schlüsse man aus den geschilderten Vorgängen zur Beurteilung von Gegenwartsphänomenen ziehen könne und welche Ratschläge sich eventuell aus diesen Schlüssen ergäben, diskutiert. Der Umfang der dieser Untersuchung zugedachten Aufgabe gebietet zwei wesentliche Einschränkungen: Zum ersten werden außenpolitische Entwicklungen nur in soweit in diese Studie einbezogen, als sie ausschlaggebenden Einfluß auf die Gestaltung der chinesischen Innenpolitik ausübten. Dies gilt vor allem für die Gestaltung der chinesisch-japanischen und chinesisch-sowjetischen Beziehungen. Auch sei an dieser Stelle darauf verwiesen, daß demnächst eine umfassende Darstellung der weltpolitischen Aspekte der chinesischen Revolution aus der Feder Gottfried-Karl Kindermanns21 in deutscher Sprache vorliegen wird, der hier keinesfalls vorgegriffen werden soll. Zweitens wird die Entwicklung der KCT nach 1927 nicht jene Beachtung finden, die der Leser vielleicht angesichts der Tatsache, daß diese Partei heute das chinesische Festland beherrscht, erwarten mag. Ich bin 51

Habilitationsschrift Freiburg/Breisgau 1965, Erscheinen in Opladen für Herbst 1968 angekündigt.

Nichttotalitäre

Einheitsparteien

in

Entwicklungsländern

9

mir der Tatsache bewußt, daß mit der KCT eine politische Kraft die Geschichte der KMT begleitete, die für die Politik dieser Partei eine große potentielle Gefahr darstellte. Man ist jedoch heute allzu leicht versucht, rückschauend die damals aktuelle Bedeutung des chinesischen Kommunismus in der Zeit von 1927 bis 1937 zu hoch zu bewerten. Hier soll hingegen versucht werden, die politischen Kräfte in China und ihre Wirkungen auf den Gang der Ereignisse in den Proportionen des untersuchten Zeitabschnittes selbst zu begreifen. Die Politik der KMT in China vor 1937 ist für den Politikwissenschaftler vor allem von Interesse, sofern daraus — und aus dem Problem ihrer Niederlage — allgemeine Schlüsse für die Situation in den Entwicklungsländern heute gezogen werden können. Dies ist meiner Ansicht nach möglich. Denn obgleich ich meine Skepsis gegenüber allen Versuchen, entwicklungspolitische Forschung generalisierend und losgelöst von der intensiven Beschäftigung mit der Situation in bestimmten Regionen oder gar Ländern zu betreiben, nicht verhehlen kann, meine ich doch, daß aus dem ins Einzelne gehende Studium eben dieser Regionen und Länder einige auch allgemein gültige Ergebnisse zu gewinnen seien. Deshalb soll hier, über die Beantwortung der oben genannten Fragen hinaus — und auf Grund der dort gewonnenen Antworten — weiter gefragt werden: Welche systemimmanenten Gefahren für Erziehungs- und Entwicklungsdiktaturen sind aus der Geschichte der KMT in China vor 1937 erkennbar? Wie könnte diesen Gefahren begegnet werden? Können von nichttotalitären Einheitsparteien bestimmte Erziehungsund Entwicklungsdiktaturen überhaupt jene Aufgaben lösen, die sidi ihnen objektiv stellen oder die sie sidi subjektiv gesetzt haben? Und wenn dies als möglich erscheint, weldie Voraussetzungen sind für den Erfolg dieser Herrschaftsform notwendig? Wenn es gelingen sollte, auch nur einen stichhaltigen und irgend relevanten Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu leisten, dann hätte die vorliegende Untersuchung die politikwissenschaftliche Aufgabe, die sie sich stellt, erfüllt; denn mehr als so ein bescheidener Erfolg ist bei der Komplexität der zu behandelnden Probleme und angesidits der begrenzten Möglichkeiten des Verfassers nicht zu erwarten.

Erster Teil Revolutionäre Aktion — Die Zusammenarbeit der KMT und KCT bis 1927

I. Kapitel Prämissen Jede Revolution ist das Ergebnis des Zusammenwirkens mannigfaltiger sozialer, politischer und geistesgeschichtlicher Entwicklungen, die sie notwendig und damit zugleich auch erst möglich machen. So können die Ereignisse in China seit dem ersten Weltkrieg nur verstanden werden, wenn man zunächst einen Überblick über die vorhergehenden Entwicklungen und über jene Situation gibt, welche die KMT zu Beginn ihrer revolutionären Arbeit vorfand. Die Aufgabenstellung der vorliegenden Untersuchung erlaubt jedoch nur, in aller Kürze einige der wesentlidien Aspekte der chinesischen Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jhdt. und in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jhdt. zusammenfassend darzustellen. Ich stütze mich dabei auf eine Auswahl aus der großen Fülle der im Westen heute hierzu schon vorliegenden Arbeiten. Die Lage, in der KMT begann, ihren Plan zur Revolutionierung von Staat und Gesellschaft Chinas auszuführen, wurde maßgeblich durch die Strukturen der traditionellen chinesischen Gesellschafts- und Staatsformen und deren Wandlung unter dem Einfluß des Westens bis 1911, durch die Politik der Mächte gegenüber China seit dem Opiumkrieg (1839—42), durch die Herausbildung des militärischen Religionalismus nach der „Revolution" von 1911 und durch die intellektuelle Erneuerungsbewegung, die China seit 1915 erfaßte und die in den Demonstrationen in Peking am 4. Mai 1919 kulminierte, bestimmt.

Das traditionelle chinesische Gesellschaftssystem zur Zeit der Ch'ing-Dynastie Die im Jahre 1644 durch militärische Eroberung Chinas als Fremdherrschaft an die Macht gekommene Mandschu- oder Ch'ing-Dynastie, mit der die Jahrtausende alte Folge einer Reihe nationaler und auch zuweilen — so z.B. bei der mongolischen Yüan-Dynastie von 1280 bis

14

I. Kapitel:

Prämissen

1368 — ausländischer Herrscherhäuser ihr Ende erreichte, regierte ein Land, dessen soziale Strukturen im wesentlichen über fast zweitausend Jahre hinweg unverändert geblieben waren. Man hat zuweilen das klassische chinesische Gesellschaftssystem als „feudal" bezeichnet. Diese Bezeichnung trifft jedoch angesichts des Bedeutungsinhaltes des Begriffes „Feudalismus" nicht zu1. Das wesentliche Kennzeichen der feudalen Ordnung, nämlich die auf der Verleihung von Gütern — vor allem Land — gegen militärische und verwaltungstechnische Dienstleistungen gründende Herrschaftsstruktur, ist spätestens im Jahre 221 v. Chr. Geb. mit der Übernahme der Macht durch Ch'in Shih-huang-ti — den „ersten Gelben Kaiser", wie er sich selbst nannte — in China verschwunden. Gerade die freie Ubertragbarkeit des Landes durch Kauf und Weiterverkauf in einer vor allem von der Präsenz eines patrimonial verfaßten Beamtentums bestimmten Herrschaftsordnung ist charakteristisch für die herkömmliche chinesische Gesellschaft gewesen. Max Weber hat diese Tatsache bereits 1920 deutlich genug festgestellt2. Man kommt daher der Bestimmung der sozialen Strukturen Chinas vor der um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden Begegnung mit dem Westen näher, wenn man, statt polemisch verdunkelnd von „Feudalismus", von einer durch Agrar-Frühkapitalismus modifizierten Patrimonialordnung spricht. Diese Gesellschaftsordnung nun zeichnete sich vor allem durch fünf wesentliche Züge aus: 1. Sie war agrarisch bestimmt3. Vier Fünftel des chinesischen Volkes4 — nach anderen Angaben sogar über 85 °/o5 — lebten in Dörfern und 1

2

3

4 5

Ich folge hier der von M a x Weber (u. a. in: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, p. 148 ff.) benutzten Definition. Vgl. hierzu audi: Fairbank, op. cit., p. 33 f.; Richard L. Walker, China unter dem Kommunismus, dtsche. Ausgabe Stuttgart 1956, p. 155; und Derk Bodde, „Feudalism in China" in: Rushton Coulborn (Hrsg.), Feudalism in History, Princeton 1956, p. 49—92. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1920, p. 321. C h o w Tse-tsung, The May Fourth Movement, Cambridge, Mass. 1960, p. 7. Vgl. hierzu: Fairbank, op. cit., p. 28 ff.; Gottfried-Karl Kindermann, „Agrarrevolution und Agrarreform als Alternativen der Selbstentwicklung: Die Entwicklungstheorien des Sunyatsenismus und des chinesischen Kommunismus" in: Derselbe (Hrsg. Kulturen im Umbruch, Freiburg/Brsg. 1962 [hinfort: Kindermann, Kulturen]), p. 84 ff.; Paul Μ. A. Linebarger, Djang Chu und Ardath W. Burks, Far Eastern Governments and Politics, Princeton 1956, p. 24 f.; J. O. P. Bland, Recent Events and Present Policies in China, London 1912, p. 28 ff. Fairbank, op. cit., p. 29. Fang Tung-mei, Chung-kuo she-hui chili chiu chih-tu (das alte chinesische Gesellschaftssystem), Vortrag, T'aipei 1962, p. 4.

Das chinesische Gesellschaftssystem

zur Zeit der

Ch'ing-Dynastie

15

gewannen den überwiegenden Teil ihres Unterhalts aus der Bodenbearbeitung, sei es als Einzelbauern auf eigenem Besitz, sei es als Pächter oder als Landarbeiter. 2. Sie war weitgehend selbstversorgend. Die Produktion Chinas an landwirtschaftlichen Gütern und Handwerkserzeugnissen befriedigte meist den eigenen Bedarf. War dies nicht der Fall, so gab es Hungersnöte bzw. Versorgungslücken. Man versuchte jedoch nicht, den Fehlbedarf aus nennenswerten Importen zu decken. Außenhandel vollzog sich — abgesehen von dem früh beginnenden Seidenhandel über Zentralasien mit Europa — im wesentlichen in der Form, daß der Kaiser von China „Tribute" fremder Fürsten entgegennahm und diese mit — nicht selten wertvolleren — „Geschenken" honorierte 6 . 3. Sie war von großer Kontinuität''. Trotz aller Wechsel der Dynastien, trotz Eroberungen durch benachbarte Stämme, trotz einer Vielzahl von Aufständen und innenpolitischen Wirren haben sich die grundlegenden Strukturen der chinesischen Gesellschaft vom Beginn der H a n Dynastie im Jahre 206 v . C h r . Geb. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum gewandelt 8 . 4. Sie wurde maßgeblich von der Grundeinheit der autonomen Großfamilie bestimmt 9 . Hier muß allerdings eine einschränkende Warnung ausgesprochen werden: Die Tatsache, daß der Familienverband (Clan) unter der nur unwesentlich durch Konsultationen beschränkten Leitung des ältesten männlichen Mitgliedes als weitgehend selbstverantwortliche Einheit auftrat, sollte nicht so mißverstanden werden, daß damit auch allgemein eine „kollektivistisch" geordnete Wohngemeinschaft verbunden gewesen wäre. Dies galt auch in der Vergangenheit nur für jene Gruppen der Oberschicht, die lange Zeit hindurch für den Westen „China" repräsentierten 10 , und nicht einmal in jedem Fall. Die Masse der 0 7

8

9

Vgl. Chow, op. cit., und Linebarger u. a., op. cit., p. 33 f. ibid., p. 25. Vgl. audi Weber, op. cit. (Anm. 2), p. 313 und Η. B. Morse, Trade and Administration of China, o. O. 1920, p. 289. Zur chinesischen Geschichte gibt eine vorzügliche kurze Einführung: Wolfram Eberhard, Chinas Geschichte, dtsche. Ausgabe, Bern 1948. Eine sehr detaillierte Darstellung findet sich bei Otto Franke, Geschichte des chinesischen Reiches, 5 Bde., Berlin 1930—1952. Zur Struktur der chinesischen Großfamilie vgl. u.a.: Fairbank, op. cit., p. 30 ff.; Olga Lang, Chinese Family and Society, N e w Haven 1946; Lin Yüeh-hua, The Golden Wing: A Sociological Study of Chinese Familism, London 1948; und audi: T'ang Leang-li, China in Aufruhr, dtsche. Ausgabe Leipzig/Wien 1927 (hinfort: T'ang, China), p. 36 ff. Faibank, op. cit., p. 33.

16

I. Kapitel:

Prämissen

Bevölkerung lebte, schon aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, eher in Gemeinschaften, die unserer sogenannten „Kleinfamilie" ähnlich waren. Aber die übergreifende Jurisdiktion der Großfamilie und ihres Oberhaupts hielt auch sie zusammen und wirkte für sie ebenso als erste Instanz der Rechtspflege wie als Wohlfahrtsverband 11 . 5. Den lokalen Zusammenhang gewährleistete nahezu ausschließlich die zentrale Verwaltung, die stark bürokratischen Charakter trug. Die sich selbstverwaltenden gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen blieben auf den lokalen Bereich beschränkt. Die im Westen lange Zeit als allgemein für China gültig angenommene Lebensgemeinschaft in der Großfamilie war nun allerdings für eine Schicht üblich, die traditionell als leitende Gruppe der Gesellschaft auftrat. Diese Schicht, die aus Graduierten der staatlichen Prüfungen, ihren Familienangehörigen und solchen Personen, denen es gelungen war, sich gelehrten Rang zu erkaufen 12 , bestand, nannte in den Städten erhebliche Teile des Kapitals, auf dem Lande einen weit über den durchschnittlichen Besitz der Bauern hinausgehenden Teil des Bodens ihr eigen. Fairbank, Eberhard und Chang Chung-li haben sie in Analogie zu der maßgeblichen sozialen Schicht Englands im 18. und 19. Jahrhundert „Gentry" genannt13. Ich möchte gegen diese Praxis — bei aller Anerkennung der von den genannten Autoren benutzten Beschreibungsmethoden — Bedenken anmelden, weil die Gefahr besteht, daß aus der Benutzung dieses Analogiebegriffs Mißverständnisse erwachsen können, welche den Beobachter für die tatsächliche Situation der herkömmlichen chinesischen Gesellschaft möglicherweise blind machen. Auch der von Max Weber vorgeschlagene Begriff „Literaten" 14 scheint — obgleich er den Weg der Elitenbildung deutlicher macht als der terminus „Gentry" — Mißdeutungen provozieren zu können. Die Schicht, von der hier die Rede ist, umfaßte außer den Beamten alle jene Chinesen, die mindestens eine der traditionellen Prüfungsstufen erfolgreich erklommen, sich einen der dort zu erwerbenden Ränge erkauft oder ihn ehrenhalber verliehen bekommen hatten 15 ebenso wie solche Familien, die wegen ihres großen 11 12

13

u 15

ibid., p. 31 f. Zum chinesischen Prüfungssystem vor allem: Chang Chung-li, The Chinese Gentry, Seattle, 1955, p. 165—209. Vgl. audi Johanna M. Menzel, The Chinese Civil Service — Career open to Talent?, Boston 1963. Vgl. Fairbank, op. cit., p. 33—37; Eberhard, op. cit., p. 88 f.; Chang, op. cit., passim; audi: Linebarger u. a., op. cit., p. 24. Weber, op. cit. (Anm. 2), p. 321—349. Vgl. Chang, op. cit., p. 3—30.

Das chinesische Gesellschaftssystem

zur Zeit der

Ch'ing-Dynastie

17

Landbesitzes lokalen Einfluß hatten 18 . Man wird sie sich überhaupt eher als eine Gruppe von Familien denn als eine Sammlung von Individuen vorstellen müssen. Die Beamten (kuan) bildeten innerhalb dieser Gruppe nur eine Minderheit von nicht viel mehr als 5 % 1 7 . Im übrigen finden wir Lehrer, Leute, die man in Deutschland als „Privatgelehrte" bezeichnen würde und hauptsächlich mit der Verwaltung von Familienangelegenheiten beschäftigte Personen ebenso wie solche, die ihren Verdienst ausschließlich aus Grundbesitz bezogen oder Handel trieben. Allen aber war gemeinsam, daß sie in ihrem jeweiligen Wohnsitz maßgeblichen Einfluß auf die örtlichen Geschicke nahmen und daß die — meist bäuerlichen — Massen zu ihnen als „Wissenden" aufschauten. Es scheint mir daher zutreffend, diese Gruppe als „Honoratioren" zu bezeichnen. Durch ihre engen familiären und sachlichen Verbindungen mit den Trägern der Macht und den Vermittlern der Herrschaftsausübung war es den Honoratiorenfamilien gelungen, in erheblichem Umfang Besitz zu akkumulieren 18 . Die Mobilität der Honoratioren scheint größer gewesen zu sein, als oft angenommen wird. Chang gibt für die Zeit nach dem T'aip'ingAufstand (1850—1864) ein Anwachsen ihrer Zahl um nahezu 3 0 % an 19 , und ähnliche Veränderungen ereigneten sich häufig in der chinesischen Geschichte. Audi gab es immer wieder Perioden, in denen die staatlichen Prüfungen, auf denen in der Regel für die Mehrheit der Honoratiorenfamilien der Zugang zur leitenden Schicht beruhte, aus anderen Gruppen der Gesellschaft aufsteigenden Leuten Chancen boten, doch blieben diese begrenzt. Der Anteil der Honoratioren und ihrer Familienangehörigen an der Gesamtbevölkerung Chinas schwankte offenbar zwischen einem und zwei Prozent, mit regionalen Extremwerten von 0,6 und 5 % 2 0 . Das Rückgrat dieser Gruppe bildeten die „Gelehrten", die „shih". „Shih" — das ist zugleich auch die oberste Schicht in der herkömmlichen chinesischen Einteilung des Volkes in vier Gruppen: „Shih" (Ge16

Fairbank, op. cit., p. 34 f.

17

Chang, op. cit., p. 116 ff., gibt für die Zeit vor der T'aip'ing Revolte die Zahl von 30 000, für die Zeit danach die Zahl von 80 000 Beamten an. Im ganzen sdiätzt er die Anzahl der Angehörigen der „gentry" auf 1,1 bzw. 1,4 Millionen Familienhäupter (p. 111 f.).

18

Weber, op. cit., p. 321.

19

Chang, op. cit., p. III.

20

ibid., p. 113 f., wird die Gesamtzahl der Angehörigen von „gentry"-familien vor 1850 auf 5,5 Millionen, danach auf 7,2 Millionen veranschlagt.

2

Domes

I. Kapitel:

18

Prämissen

lehrte), „Nung" (Bauern), „Kung" (Handwerker) und „Shang" (Kaufleute)21. Hier von „Klassen" zu sprechen, wäre nicht zutreffend, man wird diese Einteilung eher als eine Stufenfolge des sozialen Prestiges werten müssen. In der agrarischen Gesellschaft Chinas genossen die Bauern verständlicherweise hohes Prestige, wenn auch ihre Einkommensverhältnisse, besonders seit dem 17. Jahrhundert, so gestaltet waren, daß sie in guten Erntejahren gerade eben, in schlechten Erntejahren kaum noch von ihrer Arbeit auskömmlich leben konnten. Ihre totale Absorbierung durch die Feldarbeit ließ sie über lange Perioden der Geschichte hinweg politisch passiv bleiben. Die Handwerker dagegen lebten trotz ihres niedrigeren Ranges in der Prestigeskala meist unter günstigeren wirtschaftlichen Bedingungen als die Bauern. Eine straffe, dem Einzelnen einen erheblichen Grad sozialer Sicherheit verschaffende Gilden-Org&msation (hui) schützte sie vor allzu willkürlichen Ubergriffen. Und da die Mehrzahl von ihnen in den Städten lebte, konnten sie sich audi besser gegen Banden heimatlos gewordener Bauern verteidigen, deren Aktionen auf dem Lande vor allem in Perioden des Niederganges der staatlichen Macht verheerend wirkten. Gleiches galt für die Kaufleute. Audi sie waren wohlorganisiert und häufig im Besitz erheblicher Güter. Aber in einem agrarisch fundierten, von Gelehrten geleiteten Staatswesen blieb ihr politischer Einfluß begrenzt, und dies führte dazu, daß sie, exzessiv besteuert, nicht in der Lage waren, die ökonomische Dynamik zu entwickeln, welche das europäische städtische Bürgertum seit dem 17. Jahrhundert kennzeichnete22. In der konfuzianischen Staats- und Gesellschaftslehre verfügten die Herrsdier Chinas nun über ein ideologisches Instrument, das wesentlich zur Verfestigung der sozialen Strukturen beigetragen hat 23 . Der Konfuzianismus wollte „eine politische Ordnung dadurch erzielen, daß er sie auf eine sittliche Ordnung aufbaute, und (er) strebte nach politischer Harmonie, indem er versuchte, die moralische Harmonie beim 21

Zum folgenden Abschnitt vgl.: Linebarger u. a., op. cit., p. 3 4 — 3 7 .

22

Fairbank, op. cit., p. 4 2 — 4 7 .

23

Vgl. hierzu: Fung Yu-lan, A History of Chinese Philosophy, Princeton 1952; Η. G. Creel, Confucius. The Man and the Myth, N e w York 1949; Gottfried-Karl Kindermann (Hrsg. Konfuzianismus, Freiburg/Brsg.

1963

(hinfort:

Sunyatsenismus Kindermann,

und chinesischer

Konfuzianismus),

Kommunismus),

insbes. p. 15—66.

Unter den Werken des K'ung-tzu ist vor allem wichtig das „Lun-Yü", übers, und kommentiert v. Richard Wilhelm, Jena 1921. Vgl. aber audi: Konfuzius, hrsg. v. Lin Yutang (Yü-t'ang), Fischer-Bücherei Nr. 154, Frankfurt/Main und Hamburg 1957.

Das chinesische Gesellschaftssystem zur Zeit der Ch'ing-Dynastie

19

einzelnen Menschen zu verwirklichen. So war das eigentümliche Kennzeichen des Konfuzianismus die Abschaffung der Unterscheidung zwischen Ethik und Politik 24 ." Man vertrat die Auffassung, daß jeder Einzelne sich vom Grundsatz des „jen", dem aus dem Herzen kommenden Wohlverhalten25, leiten lassen müsse. Dies könne jedoch nur durch Selbsterziehung und das so entstehende gute Beispiel für andere erreicht werden. Die das „jen" in ihrem Leben verwirklichenden Edlen (Chün-tzu) verdienten die Verehrung der Niederen (Hsiao-jen), die ihrerseits zu Edlen erzogen werden sollten. Den Konfuzianern war — wie Kindermann zutreffend feststellt27 — „die Vorstellung eines persönlichen Gottes fremd". Sie glaubten vielmehr an ein Weltgesetz, das an den „Himmel" (T'ien) lokal gebunden sei. Dieses Gesetz soll im „Zentralen Reich" (Chung-kuo — der chinesische Name für China) exemplarisch gegenwärtig gesetzt werden, und von dort aus sich durch sein Beispiel verbreiten, bis eines Tages die ganze Welt in der „Großen Harmonie", der „Umfassenden Gemeinsamkeit" (Ta-t'ung) vereinigt ist. „Gleichsam teleologisch sozialutopische Endvorstellungen einer harmonischen, staats- und klassenslosen Menschheitsfamilie"28 waren also dem Konfuzianismus durchaus nicht fremd. Mit seiner Betonung der Achtung vor dem jeweils höher Stehenden — Vater, Ehemann, älterer Bruder, Herrscher — diente er allerdings der Erhaltung der bestehenden Gesellschafts- und Herrschaftsordnung. Deshalb erwies er sich für den chinesischen Staat, in dem der Kreis der auf Grund ihrer Kenntnis der „Schriften" „Wissenden" — eben der Honoratioren — politisch und ökonomisch bestimmte, als außerordentlich praktisch. Dennoch interpretiert man das klassische chinesische Staats- und Gesellschaftssystem falsch, wenn man es als „totalitär" bezeichnet. Gewiß, der Kaiser und seine Beamten herrschten in der Zentrale absolut. Der Kaiser, der „Sohn des Himmels" (T'ien-tzu) hat auf Grund des ihm vom „Himmel" erteilten Auftrages (T'ien-ming) „unter dem Himmel" (T'ien-hsia — der chinesische terminus für „Erde" oder 24

Lin, op. cit., p. 11 und 15 f. Vgl. hierzu audi: Kuo Heng-yü, „Geistesgeschiditliche Voraussetzungen

der kommunistischen

Machtübernahme

in China",

in:

Jürgen

Domes, Politik und Herrsdiaft in Rotchina, Stuttgart 1965, p. 13. 25

Die konfuzianische Kardinaltugend jen =

wird von Fairbank mit

love", von Lin mit „echte Menschlichkeit" übersetzt. 20

Kuo, op. cit., p. 11.

27

Kindermann, Konfuzianismus, op. cit., p. 21.

28

ibid.

2"

„benevolent

20

I. Kapitel:

Prämissen

„Welt") alle Gewalt 29 . Doch wird weiter zu fragen sein, wie denn in diesem Denksystem die überirdische Wirkungskraft „Himmel" in der Immanenz aktiv geworden sei. Hierzu sagen die konfuzianischen Klassiker im „Shu-ching" („Buch der Urkunden"): „Der Himmel hört und sieht, und zwar geht sein Hören und Sehen vom Volk aus. Der Himmel verleiht Glanz und verbreitet Schrecken, und zwar geht dieser Glanz und dieser Schrecken vom Volk aus30." Der „Auftrag" des „Himmels" zur Ausübung der Herrschaft kann also vom Volk entzogen werden, das in diesem Akt den „Himmel" repräsentiert. Geschieht dies, dann wird der Kaiser gestürzt oder gar getötet31 — und das ist die „Änderung des Auftrages", „Ke-ming" — der chinesische Begriff für „Revolution"! Die konfuzianische Ideologie diente also nicht der Erhaltung der Macht einzelner Herrscher oder Dynastien, sondern derjenigen der überkommenen sozialen Strukturen, innerhalb derer Herrschaftswechsel durchaus möglich waren. Schließlich begegnet man zuweilen der Behauptung, diese Gesellschaftsordnung sei „kollektivistisch" gewesen. Studien des Familiensystems, auf das nicht selten als „kollektivistisch" verfaßte Einheit verwiesen wird, erlauben es jedoch nicht, diese Theorie aufrecht zu erhalten32. Ich glaube, daß der Begriff „kommunitär" eher geeignet sei, die Wirklichkeit der sozialen Ordnungsformen im alten China zu beschreiben. Nachdem die Mandschus im Jahre 1644 ihre Herrschaft über China errichtet hatten, paßten sie sich — ebenso wie zuvor im 13. Jahrhundert die Mongolen — schnell an das herkömmliche Gefüge der Herrschaftsordnung an. Im Gegensatz zu den Mongolen, die sich bald der chinesischen Lebensart assimiliert hatten, bemühten sie sich jedoch darum, „Ausländer" zu bleiben. Sie proklamierten, wie Linebarger, Djang und Burks in ihrer äußerst informativen Analyse der Mandschuherrschaft zu Recht feststellen33, die Eroberung des Landes und betrachteten die Chinesen als Unterworfene. Um ihre Fremdherrschaft zu sichern, bedienten sie sich wohlüberlegter Formen der Rassen-Diskriminierung. Obgleich sie unter den Chinesen die überkommenen sozialen Strukturen unverändert ließen, überlagerten sie diese doch mit einer Schicht militärischer Auf sichts29 30

Vgl. Derk Bodde, China's Cultural Tradition, New Y o r k 1959, p. 55 ff. „Shu-diing", zitiert bei: Alfred Forke, Die Gedankenwelt des chinesischen Kulturkreises, München/Berlin 1927, p. 38, siehe auch: Lun Yü, X X , 1.

31

Vgl.: Kuo, op. cit., p. 10 und T'ang, China, op. cit., p. 34 f.

32

Siehe oben, Anm. 9!

33

Linebarger, u. a., op. cit., p. 4 2 — 4 7 .

Das chincsische Gesellschaftssystem

zur Zeit der

Ch'ing-Dynastie

21

personen, die in den Städten des Landes in abgeschlossenen Quartieren unter sich lebten und weder ihren Unterhalt verdienen noch sich den Prüfungen unterwerfen mußten, die für die Chinesen den Zugang zum Beamtenapparat öffneten. Die Leitungsfunktionen im Militär und in der Polizei wurden nach ihrer Bedeutung in vier Kategorien eingeteilt: Posten für Mandschus, für Mongolen, für chinesische „Banner"-Soldaten und schließlich für sonstige Chinesen. Diesen war damit der Zugang zum Kontrollapparat erschwert, zu Zeiten gar nahezu unmöglich gemacht. Hinzu kam, daß im Zentralen Verwaltungsapparat und zum Teil audi in den Provinzen die wichtigen Stellen doppelt — mit einem Mandschu und einem Chinesen — besetzt wurden, wobei der Mandschu meist mindestens zeremoniell den höheren Rang hatte, während der Chinese die Arbeit leisten mußte34. Dies führte bald zu Mißstimmung innerhalb der chinesischen Honoratiorenschicht, der die Dynastie entgegenzutreten versuchte, indem sie ihr loyal gesonnene chinesische Beamte mit Hilfe besonders hoher finanzieller Dotationen korrumpierte. Neben der Korruption wurde die Regierungsmacht vor allem dadurch begrenzt, daß der Wirkungsbereich des Staatsapparates in der Kreishauptstadt endete. Außerdem war der zahlenmäßige Umfang der Beamtenschaft außerordentlich gering. Chang Chung-li schätzte ihn für die Mitte des 19. Jahrhunderts auf insgesamt 27 000 Personen35, Tang Leang-li auf 25—30 000, also einem Beamten für 150 000 Einwohner36. Der „Staat" interessierte sich vor allem für die großen öffentlichen Bauten (Flußdeiche, Kanäle und Verteidigungsanlagen), die Eintreibung der Steuern, die nicht selten an Steuereinnehmer aus der Honoratiorenschicht verpachtet wurden, die Rekrutierung neuen Verwaltungspersonals in den Prüfungen und endlich für die Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und der Integrität des Herrschaftsbereichs durch den Einsatz seiner Soldaten, von denen um 1880 einer auf rund 1500 Einwohner kam37. Eine unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit der Zentrale auf den einzelnen Menschen fehlte völlig; denn zwischen ihn und den Verwaltungsapparat schob sich ein mannigfaltiges System lokaler Selbstverwaltungskörperschaften. Unterricht, Armenpflege, Altersversorgung, Gesundheitsfürsorge und örtliche Polizei waren Sache der Großfamilien, 34

ibid., p. 47.

35

Chang, op. cit., p. 116.

36

T a n g , China, op. cit., p. 44.

37

Zahlen nach: Gothaischer Genealogischer Hofkalender nebst diplomatisch-statistischem Jahrbuch 1888, Gotha 1887, p. 615 und 617.

22

/. Kapitel:

Prämissen

der städtischen Handwerker- und Kaufmannsgilden38 und der Dorfund Stadt-Ältestenräte. In diesen Körperschaften und Organen nun übten die Angehörigen der Honoratiorenschicht besonderen Einfluß aus, nicht zuletzt von hier bezogen sie ihre politische Kraft. Die Mandschu-Fremdherrschaft mußte mit diesen Gruppen rechnen, und sie bemühte sich, hier mit Hilfe ihrer „Bannerleute" eine wirksame Kontrolle auszuüben. Dies führte jedoch dazu, daß die Herrschaft der Ch'ing-Dynastie immer mehr als Unterdrückung empfunden wurde. Die chinesische Opposition gegen dieses System war — im Gegensatz zu früheren Dynastien — nicht so sehr Sache der Honoratiorenschicht; denn ein erheblicher Teil von ihr hatte zunächst seinen Frieden und bald sein Bündnis mit der fremden Dynastie geschlossen39. Zwar gab es auch unter den Honoratioren viele, welche die Mandschu-Herrschaft ablehnten und manche, die sie gar bekämpften, aber der Hauptteil des chinesischen — und hier schon in Ansätzen nationalistische Züge aufweisenden — Widerstandes rekrutierte sich aus den Kreisen der Handwerker und Kaufleute, denen die Bauern bei Aufständen gegen die Zentrale Hilfe leisteten. Dieser Widerstand organisierte sich in den „Geheimgesellschaften" 40 , die seit der späten Ming-Zeit als politische und Wohlfahrts-Organisationen im ganzen Land, besonders aber in Südchina, Bedeutung bekamen. Seit 1644 traten sie unter dem Schlachtruf „Stürzt die Ch'ing, bringt die Ming zurück!" („Fan Ch'ing fu Ming!") in unversöhnliche Opposition zur Mandschu-Dynastie. Die drei wichtigsten unter ihnen, die „San He Hui" (Triaden-Gesellschaft), die „T'ien Ti Hui" (Gesellschaft von Himmel und Erde) und die „Ke Lao Hui" (Gesellschaft der Brüder und Alten) haben wesentlich zur Entwicklung des revolutionären Potentials unter den Massen Chinas beigetragen, das im 20. Jahrhundert dann die erstaunlich schnellen Erfolge revolutionärer Bewegungen — auch wenn diese wie im Jahre 1911 im Grunde kümmerlich vorbereitet waren — möglich machte. So stellte sich das Herrschaftssystem der Ch'ing-Dynastie um die Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Ordnungsform dar, in der das seit Jahrhunderten eingespielte Verhältnis zwischen dem staatlichen Apparat und 38

Vgl.: T'ang, China, op. cit., p. 35. Zum System der „Gilden" siehe audi: Linebarger u. a., op. cit., p. 31 f.

39

T'ang Leang-li, The Inner History of the Chinese Revolution, London 1930, (hinfort: T a n g , Revolution) p. 3. T'ang, China, op. cit., p. 43.

40

ibid., p. 4 — 9 und Linebarger u. a., op. cit., p. 32 f.

China und die Mächte 1839 bis 1922

23

den Organen und Kräften der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung empfindlich gestört war. Wenn auch die Mehrheit der Honoratiorenschicht mit der Dynastie kooperierte, so traten doch selbst hier immer wieder Gegenkräfte auf. Erhebliche Teile der bäuerlichen und städtischen Massen waren dem zentralen Apparat und seiner landfremden Spitze feindlich gesonnen, die traditionellen Formen der Herrschaftsordnung reichten offenkundig nicht mehr aus, um den Willen der Regierung im Lande durchzusetzen. In solcher Verfassung erlebte nun China seit 1839 den Angriff des europäischen und später auch des japanischen Imperialismus, deren modernen Techniken der Machtausbreitung und Machtausübung das Land weder politisch, noch technisch oder ökonomisch gewachsen war. Unter diesem Angriff zerbrach das ideologische Selbstverständnis des „Zentralen Reiches", und mit ihm löste sich zwangsläufig die konfuzianische Gesellschaftsordnung auf.

China und die Mächte 1839 bis 1922 — Wandlungen in Ηerrschaflsordnung und Gesellschaft Die exzessive Ausnutzung der China abgezwungenen Sonderrechte durch die Mächte und nicht zuletzt auch das arrogante Auftreten der christlichen Missionare überall im Lande führten schließlich zu wachsender Mißstimmung unter der Bevölkerung, die sich auch gegen die Mandschu-Regierung richtete und sich 1900 im „Boxeraufstand" Luft machte. Eine Gruppe der Geheimgesellschaft des „Weißen Lotos" (Pai Lien Hui) hatte sich in den nordchinesischen Provinzen Chihli (Hopei), Honan und Shantung im Verband des „I H o T'uan" neu organisiert und wurde zur bestimmenden Kraft dieser Bewegung. Um den Thron zu retten, machte die in Peking regierende Kaiserinwitwe Tz'u Hsi gemeinsame Sache mit den Aufständischen, die sich nunmehr ausschließlich gegen die Fremden wandten. Ein vereinigtes Expeditionskorps aus Truppen von acht Mächten griff ein. Peking wurde erobert, und China gezwungen, 400 Millionen Taels (etwa 500 Millionen US-Dollar) Entschädigung an die Mächte zu zahlen. Die Aufteilung des Landes in Kolonien der Mächte wurde nur dadurch verhindert, daß die Westmächte und Japan hier in Konkurrenz traten und sich, um Auseinandersetzungen untereinander aus dem Wege zu gehen, der sich am 6. September 1899 vom amerikanischen Außenminister John Hay verkündeten Doktrin der „Offenen

24

I. Kapitel:

Prämissen

Tür" angeschlossen41. Danach sollten alle Mächte in ganz China die gleichen Rechte haben. In den letzten Jahren der Mandschu-Herrschaft erreichte so die internationale Stellung Chinas einen Tiefpunkt. Die Souveränität der chinesischen Regierung im Lande war derart beschränkt, daß die oft gebrauchte Bezeichnung Chinas als „Halbkolonie" zutreffend erscheint. Außer den „Pachtgebieten" und dem Gesandtschaftsviertel in Peking hatte man „internationale Siedlungen", vor allem in Shanghai, und die sogenannten „Konzessionen" Italiens, Japans und Frankreichs in T'ienchin, Frankreichs in Shanghai, Großbritanniens in Hank'ou und Chiukiang, und verschiedener Mächte auf der Insel Shamien bei Kanton u. a. m. unter ausländische Verwaltung gestellt. Darüber hinaus galt das Prinzip der Exterritorialität für die Wohngebiete der Ausländer in allen 21 dem fremden Handel geöffneten „Vertragshäfen". Uberall in China entzog der Grundsatz der Extrajurisdiktion die Ausländer selbst dann der chinesischen Gerichtsbarkeit, wenn sie Verbrechen gegen Chinesen begangen hatten. Die Seezölle unterstanden fremder Kontrolle, und ein Versuch Chinas, sie im Jahre 1902 von fünf auf zehn Prozent zu erhöhen, scheiterte. Sie blieben bei fünf Prozent der Durchschnittspreise der Jahre 1897/99, betrugen also schon im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts tatsächlich nur noch etwa 2,5 % des Marktwertes42. Weiter hatte die Mandsdiu-Regierung 1898 auch die Erträge aus den die chinesische Wirtschaft schwer belastenden Binnenzöllen, den „li-chin", als Sicherheit für einen Kredit Großbritanniens und des Deutschen Reiches verpfändet und damit praktisch die Hoheitsrechte über diese Abgabe verloren43. Viele der bis zum Jahre 1911 gebauten Eisenbahnen unterstanden ausländischer Verwaltung, und von den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts an wuchs die Zahl der chinesischem Zugriff entzogenen fremden Fabriken von Jahr zu Jahr. Dieses System der „ungleichen Verträge"44, die den Mächten Rechte in China einräumten, welche die Chinesen im Ausland keineswegs genos41

Englischer Text in: United States Relations with China, with Special Reference to the Period 1944—1949, Washington, Department of State, 1949 (hinfort: U S Weißbuch), p. 4 1 4 — 4 1 6 .

42

T'ang, China, op. cit., p. 105.

43

T'ang, Revolution, op. cit., p. 38.

44

Eine zusammenfassende Darstellung der Politik der Mächte gegenüber China bietet: W . L. Langer, The Diplomacy of Imperialism, 2 Bde. 2. Aufl. New Y o r k

1950,

vgl. weiter vor allem auch: H . S. Quigley und G. H . Blakeslee; The Far

East,

2 Bde. Boston 1938.

China und die Mächte 1839 bis 1922

25

sen, verfestigte sich in den ersten Jahren nach 1911 noch weiter, wobei vor allem Japan sich immer mehr Privilegien sicherte, die praktisch eine Unterwerfung Chinas unter das Nachbarland vorbereiteten 45 . Nachdem die Japaner 1914 in den Krieg gegen Deutschland eingetreten waren und sich des Pachtgebiets Kiaochou und der Shantungbahn bemächtigt hatten, präsentierten sie der chinesischen Regierung am 18. Januar 1915 die „21 Forderungen", die am 7. Mai des gleichen Jahres in ein Ultimatum verwandelt wurden, das der damalige chinesische Präsident Yüan Shih-k'ai am 9. Mai annahm. Diese Forderungen liefen praktisch auf die Errichtung einer japanischen Kontrolle über die Mandschurei, die Innere Mongolei, Shantung und die chinesische Südost-Küste hinaus. Sie sind zwar nie voll in Kraft getreten, erweckten jedoch im Lande starke Opposition, die wesentlich zum Entstehen prärevolutionärer Bedingungen, besonders aber zu der noch zu schildernden „Bewegung des 4. Mai", beitrugen. Unter dem Druck der langsam vernehmlicher werdenden öffentlichen Meinung versuchte die Pekinger Regierung im Laufe des ersten Weltkrieges, eine Revision der „ungleichen Verträge" einzuleiten. Trotz geringer Anfangserfolge im Kampf Chinas um die Gleichberechtigung unter den Völkern — vor allem auf der Washingtoner Konferenz von 1921/22 — hatte sich am „halbkolonialen" Status des Landes audi Anfang der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts noch wenig geändert. China blieb weiterhin den diskriminierenden Bestimmungen der ungleichen Verträge unterworfen, die vor allem im ökonomischen Bereich dem Lande schwerwiegende Schäden brachte. Die außerordentlich niedrigen Zölle machten das Land schon von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zu einem bequemen Absatzmarkt für die Produkte europäischer und japanischer Fabriken, mit denen die langsam entstehende lokale Industrie nicht zu konkurrieren vermochte. Ständige Außenhandelsdefizite schwächten die Zahlungsbilanz Chinas und trugen zu einem langsamen, aber stetigen Verfall der Währung bei. Noch stärker als die wirtschaftlichen Folgen der imperialistischen Politik gegenüber China trugen aber die Wirkungen, die diese Politik auf das Selbstbewußtsein und das Selbstverständnis der Chinesen hatte, zur Entstehung jener Bedingungen bei, welche die chinesische Revolution vorbereiteten. Jahrhundertelang hatte sich China, das „Zentrale Reich", als Mittelpunkt der Weltzivilisation, als unmittelbaren Wirkungsbereich der Kräfte des Weltgesetzes („T'ien") verstanden. Die Begegnung mit einer machtpolitisch überlegenen Technik und Zivilisation, 45

Vgl. hierzu: Shen Mo, Japan in Manchuria, Manila 1961, p. 13—75.

l. Kapitel:

26

Prämissen

die sich in einer Kette diplomatischer und militärischer Niederlagen manifestierte, strafte die herkömmliche Ideologie Lügen. Das chinesische Volk begann, an der bisher im allgemeinen anerkannten Staats- und Gesellschaftslehre zu zweifeln und die Fülle der Demütigungen, denen es von Seiten der Mächte ausgesetzt war, rief Reaktionen hervor, die im radikalen Nationalismus endeten. Im politischen Bereich löste der Schock der Niederlagen in der Auseinandersetzung mit den Mächten drei aufeinander folgende Reaktionen aus, die, von einander widersprechenden Grundsätzen ausgehend, sich in einer Steigerungsfolge beschreiben lassen, in der sich Restauration bei gleichzeitiger Übernahme westlicher Techniken, Reform und Umsturz ablösten. Unter den chinesischen Staatsmännern um die Mitte des 19. Jahrhunderts ragte der Gelehrte und General Tseng Kuo-fan (1811—1872) aus der Provinz Hunan hervor. Ihm gelang es, mit Hilfe einer aus Briten und Franzosen bestehenden Freiwilligentruppe und an der Spitze einer zum Teil bereits mit modernen Waffen und westlichen Taktiken operierenden Armee in den Jahren 1862 bis 1864 den T'aip'ing-Aufstand, der den Süden Chinas nahezu verwüstet hatte, niederzuschlagen. Tseng und seine jüngeren Mitarbeiter Li Hung-chang und Chang Chih-tung, alle drei unbestechliche und mit großem Ernst um die Besserung der Lage Chinas bemühte Beamte, vertraten die Uberzeugung, daß nur die Rückkehr zu den ethischen Grundsätzen der traditionellen konfuzianischen Gesellschaftslehre China zu retten vermöchte. Von der Mehrheit der chinesischen Honoratiorenschicht unterstützt, bemühten sie sich darum, mit der vor allem unter den mandschurischen Beamten und am H o f wuchernden Korruption aufzuräumen, die Position der Chinesen gegenüber den Mandschu in der Verwaltung zu stärken und gleichzeitig — unbeschadet des Festhaltens an der konfuzianischen Ideologie — westliche militärische Techniken einzuführen 46 . China müsse, so argumentierten sie, vor allem lernen, westliche Maschinen und Waffen zu benutzen. So bemühten sie sich denn um den Aufbau einer modernen Armee und 46

Vgl. Fairbank, op. cit., p. 140 und 144 ff.; op. cit., p. 9 4 — 1 2 6 ; J . Ο. P. Bland und E. Backhouse, China unter der Kaiserin-Witwe,

dtsdie. Ausgabe, Berlin

1913

p. 5 1 — 1 1 5 ; Ku Hung-ming, Artikel „Die Geschichte einer chinesischen Oxfordbewegung", in: Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen, übers, v. Alfons Paquet, 2. Aufl. T'aipei 1956, p. 2 8 — 1 3 4 . Eine Gesamtdarstellung der Restaurationsperiode auf Grund chinesischer Dokumente gibt Mary C. Wright, The Last Stand of Chinese Conservatism — The T'ung-chih Restoration 1862—1874, Stanford 1957.

China und die Mächte 1839 bis 1922

27

Flotte, sie gründeten Arsenale und kleine Werften und begannen 1872, junge Chinesen — meist Angehörige von Beamtenfamilien — zum Studium der Technik und der Naturwissenschaften ins Ausland, zuerst nach den USA, zu senden. Diese Politik wurde auch nach dem Tode Tsengs fortgesetzt, als 1875 der ebenfalls unmündige Kaiser Kuang-hsü den Thron bestieg, für den bis 1887 die Kaiserin-Witwe Tz'u Hsi die Regentschaft führte 47 . 1876 schickte man die ersten Offiziere zur Ausbildung nach Europa, 1878 nahm das erste Kohlenbergwerk moderner Art in K'aip'ing bei Peking die Produktion auf, das 1880 durch die erste Eisenbahn Chinas mit der Hauptstadt verbunden wurde 48 . Im Jahre 1880 entstand eine nach westlichem Vorbild organisierte Marineakademie in T'ienchin, 1882 begann man mit dem Bau eines neuzeitlichen Kriegshafens in Lüshun, und 1888 war die Flotte Chinas bereits mit einigen der damals kampffähigsten, modernsten Kriegsschiffe der Welt ausgerüstet49. Doch selbst diese Neuerungen stießen auf den heftigen Widerstand starker reaktionärer Kräfte am Kaiserhof. Die Grundstrukturen der Gesellschaftsordnung und audi die Instrumente der Herrschaftsausübung blieben weiter unverändert. Erst die katastrophale Niederlage im Krieg gegen Japan 1894/95 führte bei vielen Chinesen zu der Erkenntnis, daß die westliche Technik eben nicht losgelöst von den intellektuellen und politischen Voraussetzungen, unter denen sie entstanden ist, benutzt werden kann. Regierungssystem und Erziehungswesen bedurften grundlegender Reformen, um China in die Lage zu versetzen, seine Schwäche in der internationalen Politik zu überwinden. Der Kantonese K'ang Yu-wei (1858—1927) übernahm die Führung der neuen Reformbewegung, der sich bald eine Reihe jüngerer Intellektueller anschloß. 1897 schockierte K'ang die Schriftgelehrten der reaktionären Zirkel mit seiner Schrift „K'ung-tzu als Reformer" („K'ung-tzu kai-chih k'ao"), in der er die These aufstellte, daß die Orthodoxie diejenigen Elemente in der Lehre des K'ung-tzu, die zu allen jenen politischen und sozialen Reformen aufriefen, welche die jeweilige Situation verlangte, im Interesse der Erhaltung der her47 48

Bland/Backhouse, op. cit., p. 130—159. Chih H w a Chen (Ch'en Chih-hua), Verkehrsentwicklung und Verkehrsplanung in China und ihre Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, Diss. Wien 1941, p. 42. Vgl. auch: Wuisin Siao (Hsiao Wei-hsin?), Die Entwicklung des Eisenbahnwesens in China, Berlin 1929, p. 21 f.

Li Chien-nung, The Political History of China 1840—1928, Übers, u. hrsg. v. Teng Ssu-yü und Jeremy Ingalls, Princeton 1956, p. 103 ff. 5» Vgl. ibid., p. 151 f. 49

28

I. Kapitel:

Prämissen

kömmlichen Ordnungen eliminiert habe50. Freunde K'angs am Kaiserhof verstanden es, das Interesse des jungen Kaisers Kuang-hsü für seine Theorien zu wecken, und am 16. Juni 1898 wurde er von diesem in Audienz empfangen. Der Kaiser fand sich bereit, den meisten Reformvorschlägen K'angs durch Edikte Gesetzeskraft zu verleihen. Es begannen jene „Hundert Tage der Reform", in denen Kuang-hsü, beraten von K'ang, versuchte, nach dem Vorbild des japanischen Meiji-Kaisers Chinas schnelle Modernisierung einzuleiten51. Diese Entwicklung wurde von den reaktionären Kreisen der Beamtenschaft und vor allem von den Mitgliedern des Mandschu-Kaiserhauses mit großer Sorge beobachtet. Sie formierten sich zu einer machtvollen Opposition, die sich um die Kaiserin-Witwe Tz'u Hsi sammelte und in der Nacht vom 20. zum 21. September 1898 zum Gegenangriff schritt. Der Kaiser wurde verhaftet und im Sommerpalast bei Peking interniert. Tz'u Hsi übernahm erneut die Regentschaft und schaffte sofort alle während der „Hundert Tage der Reform" eingeführten Neuerungen wieder ab. K'ang konnte fliehen, während sechs seiner engsten Mitarbeiter hingerichtet wurden52. Die Reaktion hatte noch einmal gesiegt. Doch die Eroberung Pekings durch die Expeditionsarmee der Mächte und die demütigenden Bedingungen des Friedensvertrages nach dem Boxerkrieg überzeugten schließlich audi Tz'u Hsi von der Notwendigkeit politischer und technischer Reformen, die vom Jahre 1901 an — jetzt verspätet — in Angriff genommen wurden53. Gleichzeitig bemühte sich die Dynastie darum, den immer lauter werdenden Forderungen nach der Errichtung einer repräsentativen Regierungsform durch die Vorbereitung einer Verfassung Rechnung zu tragen. 1905 und 1907 wurden zwei Kommissionen hoher Würdenträger zu Studien der konstitutionellen Regierungsweise ins Ausland entstandt und in Peking ein Büro gebildet, das Verfassungsvorschläge sammeln sollte54. Aus diesen Vorbereitungen entstanden die am 17. August 1908 verkündeten „Grundsätze einer Verfassung" (Hsien-fa ta-kang), welche die Berufung von Provinzialversammlungen für das Jahr 1909, den Zusammentritt einer von diesen Gremien beschickten Nationalversammlung (Tzucheng-yüan) für 1910 und den endgültigen Übergang zur konstitutionel51

ibid., p. 156 ff., audi: Bland/Backhouse, op. cit., p. 177—199.

52

Vgl. u. a.: Li, op. cit., p. 160 ff., Bland/Backhouse, op. cit., p. 2 0 0 — 2 0 9 .

53

Vgl. Li, op. cit., p. 194 ff. und Linebarger u. a., op. cit., p. 124 f.

54

Ibid., p. 208 f. und Linebarger u. a., op. cit., p. 124.

China und die Mächte 1839 bis 1922

29

len Regierungsweise für 1917 versprachen. Bereits kurz nach der Proklamation der „Grundsätze" starb jedoch am 15. November 1908 die Kaiserin-Witwe Tz'u Hsi im Alter von 74 Jahren, nachdem sie noch einen Tag zuvor den Kaiser Kuang-hsü, der seit zehn Jahren interniert war, hatte umbringen lassen 55 . Ihm folgte sein zwei Jahre alter Neffe P'u Y i unter dem Namen Hsüan-t'ung auf den Thron, während dessen Vater, Prinz Ch'un, die Regentschaft übernahm. Bedeutsamer als schüchterne Versuche, das Herrschaftssystem zu reformieren, sollten jedoch die Erziehungsreformen werden, die damit begannen, daß 1901 die konfuzianischen Akademien in den Provinzhauptstädten in Hochschulen nach dem Vorbild der Pekinger „Kaiserlichen Universität" verwandelt wurden. Diese Hochschulen konnten ab 1902 nach der Absolvierung von Abschlußprüfungen in modernen Lehrfächern die gleichen akademischen Grade verleihen, die man bisher in den klassischen Staatsprüfungen erwarb 56 . Damit war bereits das traditionelle Prüfungssystem in seiner Bedeutung erheblich verringert worden. Im Jahre 1905 schließlich wurde es ganz abgeschafft. Die Bedeutung dieses Schritts für die Veränderung der herkömmlichen politischen und sozialen Struktur kann kaum überschätzt werden; denn die klassischen Prüfungen dienten nicht nur der Rekrutierung des administrativen Personals, sondern sie wirkten Jahrhunderte lang zugleich als konstitutives und integrierendes Element für die Honoratiorenschicht, auf deren Zusammenhalt die Kontinuität von Staat und Gesellschaft beruhte. Jetzt setzte ein Prozeß der Desorientierung der leitenden Gruppen des Landes ein, der die kulturelle Revolution im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vorbereitete. Die Hochschulen modernen Stils graduierten immer mehr Studenten, die sich zur Fortsetzung ihrer Studien ins Ausland begaben, und zwar nach den U S A und Europa, vor allem aber nach Japan. Wir werden später noch sehen, daß eine Mehrheit der Führer der revolutionären Bewegung sich aus den vom Ausland heimgekehrten Studenten rekrutierte. Die Enttäuschung über den langsamen Fortschritt des Prozesses der Konstitutionalisierung ließ nun seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr Chinesen den einzigen Weg zur Rettung ihres Landes im Umsturz der Monarchie erkennen. Anhänger Sun Yat-sens begannen ab 1905 mit einer Serie vergeblicher Aufstandsversuche, von denen es allein in den Jahren von 1907 bis 1909 sechs gab, und zwar alle in den süd55 56

Vgl. u. a.: Eberhard, op. cit., p. 341 und Li, op. cit., p. 227 ff. ibid., p. 195 f.

30

I. Kapitel:

Prämiisen

chinesischen Provinzen Kuangtung, Kuangsi und Yünnan, die zu Hochburgen der revolutionären Bewegung wurden57. Am 16. April 1910 hatte der Sun-Anhänger Wang Ching-wei* einen mißglückten Attentatsversuch auf den Regenten unternommen58, und am 29. März 1911 war in Kanton nur mit großer Mühe ein weiterer Aufstandsversuch niedergeschlagen worden59. Trotz dieser Fehlschläge nahm die revolutionäre Agitation weiter zu, und die Gegner der Dynastie bekamen immer mehr Unterstützung aus den Kreisen der Geheimgesellschaften. Eine Entscheidung der Regierung im Jahre 1910, durch welche die mit chinesischen Mitteln erbauten Eisenbahnen verstaatlicht werden sollten, führte zu Mißstimmung unter den meist aus der Honoratiorenschicht kommenden Aktionären und zu neuen Unruhen in Südchina. Inzwischen war es den Revolutionären gelungen, auch die in Zentralund Südchina stationierten, westlich bewaffneten und organisierten Verbände der Armee zu infiltrieren. Junge Offiziere und Studenten hatten in der Stadt Wuch'ang in Hupei geheime Waffen- und Munitionsdepots angelegt, und in einem von ihnen explodierte am 9. Oktober 1911 eine Bombe. Die Polizei, dadurch aufmerksam geworden, machte Haussuchungen und entdeckte dabei Listen aller republikanischen Verschwörer der Stadt. Die Furcht vor der Verhaftung veranlaßte am folgenden Tage, dem 10. Oktober, die Anhänger Sun Yat-sens in der Truppe, gegen die Mandschu-Behörden loszuschlagen. Der Oberst Li Yüan-hung übernahm den Befehl, und innerhalb eines Tages war die Stadt in der Hand der Aufständischen. Dies wirkte als Signal für ganz Südchina. In den folgenden zwei Monaten erhoben sich alle Provinzen südlich des Yangtzu gegen die Monarchie60. Das Herrschaftssystem der Mandschus brach wie ein Kartenhaus zusammen. Der Regent versuchte zwar noch einmal, die Entwicklung aufzuhalten, indem er am 2. November Yüan Shih-k'ai als Premierminister an die Spitze eines fast ausschließlich aus Chinesen 57

Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 61 f. und Li, op. cit., p. 2 2 1 . Li berichtet noch von einem siebenten Aufstandsversuch in H u n a n 1906, der jedoch offenbar von nicht so großer Bedeutung war, da er selten registriert wird.

58

T'ang, Revolution, op. cit., p. 65 ff.

59

ibid., p. 71, Li, op. cit., p. 2 3 8 f.

90

Zum Aufstand von Wuhan und seinen Folgen vgl. u. a.: Bland, op. cit., passim; Li, op. cit., p. 2 4 5 — 2 4 9 ; T'ang, Revolution, op. cit., p. 7 6 — 8 0 ; Eberhard, op. cit., p. 343 f. Aus der Fülle der chinesischen Literatur ist vor allem ein sehr interessanter Bericht eines Teilnehmers zu erwähnen: Chang Chih-pen, Hsing-hai ke-ming-te chike ku-shih (Einige Geschichten von der Hsinghai-Revolution), T'aipei 1 9 6 1 .

China und die Mächte 1839 bis 1922

31

bestehenden Kabinetts stellte61, aber vergebens! — Am 24. Dezember kam Sun Yat-sen aus Hongkong in dem jetzt von den Revolutionären besetzten Shanghai an und begab sich sofort nach Nanking, wo ihn eine revolutionäre Delegiertenversammlung am 29. Dezember zum „Provisorischen Präsidenten der Republik China" (Chung-hua-min-kuo lingshih ta-tsung-t'ung) wählte. Am 1. Januar 1912 trat er dies Amt an, bildete das erste republikanische Kabinett Chinas62 und proklamierte die Einführung des Gregorianischen Kalenderjahres und die Bezeichnung des Jahres 1912 als „Erstes Jahr der Republik" (Min-kuo yüan-nien). Während in ganz Südchina ein blutiges Mandschu-Progrom vonstatten ging, hielt Yüan mit seiner modernen Armee im Norden der Dynastie noch die Treue, verhandelte jedoch gleichzeitig mit den Revolutionären63, um einen Frieden zu erreichen und die Spaltung Chinas zu vermeiden. Diese Verhandlungen führten dazu, daß der Prinzregent am 12. Februar 1912 die Abdankung des Kaisers und der Dynastie verkündete 64 , während gleichzeitig Sun in Nanking als Provisorischer Präsident zurücktrat und am 15. Februar Yüan Shih-k'ai dieses Amt übernahm 65 . Am 10. März 1912 endlich leistete dieser seinen Amtseid. Nach 2132 Jahren der absoluten Monarchie war China eine Republik geworden. Die alte Herrschaftsordnung, überreif zum Sturz, brach in nur wenig mehr als vier Monaten zusammen. Dies war nicht zuletzt ein Ergebnis erheblicher sozialer Wandlungen, die sich unter dem Eindruck des Angriffs der Mächte vor allem in den Küstenstädten und entlang des Yangtzu — also überall da, wo es unmittelbare Berührungen 61

Vgl. Li, op. cit., p. 247—253.

02

D i e Ämterbesetzung dieses Kabinetts: Vizepräsident

:

Oberbefehlshaber und Kriegsminister Minister des Auswärtigen Minister der Justiz Minister der Erziehung Minister der Finanzen Minister für Handel und Industrie Minister des Inneren Generalsekretär des Präsidialamtes Vgl. T'ang, Revolution, op. cit., p. 57

: : : : : : : : f.

Li Yüan-hung Huang Hsing W u T'ing-fang Dr. Wang Ch'ung-hui Dr. Ts'ai Yüan-p'ei Ch'en Chin-tao Chang Chien T'ang Shou-ch'ien H u Han-min

63

Li, op. cit., p. 258—266, Linebarger, p. 125 ff.

64

Bland, op. cit., p. 73 f., Li, op. cit., p. 266 f.

85

T'ang, Revolution, p. 96.

32

1. Kapitel:

Prämissen

mit dem Westen gab — seit mehr als einer Generation vollzogen hatten66. In den ostchinesischen Küstenstädten und am Yangtzu machten sich erste Anzeichen für eine Auflösung des traditionellen Familiensystems bemerkbar, ja, schon kurz vor der Jahrhundertwende war — nach einigen Quellen — zum ersten Mal der Ruf nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau laut geworden, der nun nicht wieder verstummte 67 . So bildete sich, während die Abschaffung des traditionellen Prüfungssystems und der Zusammenbruch der herkömmlichen Herrschaftsordnung die alte Honoratiorenschicht desintegrierte, in den Städten ein Großbürgertum heraus, das sich meist aus der alten Kaufmannsschicht rekrutierte und zunehmend Selbstbewußtsein entwickelt. Zu diesem Prozeß trug besonders die Entstehung der Gruppe der „Kompradoren" bei: Agenten, welche — vor allem in den Vertragshäfen — die Geschäfte ausländischer Firmen mit chinesischen Käufern und Verkäufern abwickelten und dabei erhebliche Gewinne erzielten68. Mit dieser Gruppe tauchten jedoch auch Gegensätze innerhalb des städtischen Großbürgertums auf; denn während sie auf die Zusammenarbeit mit Ausländern angewiesen war, breitete sich unter den einheimischen Industriellen und Besitzern eigener Handelsfirmen Verbitterung über fremde Konkurrenz aus, die durch vom Ausland kontrollierte Zölle bevorzugt wurde 69 . Neben das städtische Bürgertum trat nun die Industriearbeiterschaft. Um 1900 gab es im Lande etwa 300 000 Fabrikarbeiter, die meisten davon in Shanghai70, um 1912 waren es schon 650 000, und 1918 etwa 2 Millionen71. Mit dem Entstehen einer Industriearbeiterklasse gingen 66

07

Chow, op. cit., p. 7 f. Vgl. hierzu: Edmund Clubb, Twentieth Century China, N e w York 1964. Vgl. hierzu: Liu E, The Travels of Lao Ts'an, T'aipei 1963, p. 142 ff. und audi das im Westen wenig bekannte Essay v o n Ku Hung-ming, N a n - n ü p'ing-teng lun (Über die Gleichberechtigung v o n Mann und Frau), Shanghai 1910, p. 11. Dagegen: Ch'en Tung-yüan, History of the Chinese Women, Shanghai 1928, p. 365. Ch'en meint, die Gleichberechtigung v o n Mann und Frau sei in China zuerst 1917/19 in der Zeitschrift „Neue Jugend" (Hsin Ch'ing-nien) gefordert worden.

08

Eine vorzügliche Darstellung der Art und der Zusammensetzung dieser Gruppe findet sich bei: Günther Benecke, „Der Komprador", in: „Weltwirtschaftliches Archiv", Bd. 1 8 / H e f l 2 (Oktober 1922), p. 375—413 (Teil I) und Heft 3 (November 1922), p. 525—556 (Teil II).

69

Vgl. T'ang, Revolution, op. cit., p. 38 f. So: Chung-kuo chih kung-yeh t'ung-chi (Industrielle Statistik Chinas), hektogr. Tabellen, N a n k i n g 1935, p. 4 f. Vgl. hierzu: Chow, op. cit., p. 381.

70

71

China und die Mächte 1839 bis 1922

33

auch die Anfänge der chinesischen Gewerkschaftsbewegung Hand in Hand. 1896 wurde — noch als Zweig einer traditionellen Geheimgesellschaft — die erste chinesische Gewerkschaft in Kanton gegründet 72 . 1906 entstand dann etwa gleichzeitig in Hongkong und Kanton mit Unterstützung von Anhängern Sun Yat-sens die „Gemeinsame Gesellschaft zum Studium der Maschinen" (Chi-ch'i yen-chiu kung-hui), aus der sich später die „Mechaniker-Union von Kuangtung", das Rüdsgrat der KMT-Gewerkschaftsbewegung, bildete 73 . Bereits 1918 fanden in China 25 Streiks mit 6455 Teilnehmern und einer Durchschnittsdauer von 8,27 Arbeitstagen statt, 1920 waren es schon 46 mit 46 140 Teilnehmern und einer Durchschnittsdauer von 7,14 Arbeitstagen 74 . Noch schneller als die Arbeiter organisierten sich die Kaufleute. Die Zahl der von ihnen gegründeten Handelskammern (Shang-hui) stieg allein zwischen 1912 und 1915 von 794 mit 196 636 Mitgliedern auf 1242 mit 245 728 Mitgliedern, nachdem es bis 1893 solche Organisationen überhaupt nicht gegeben hatte 76 . Die neuen Arbeiter- und Kaufmannsverbände schwächten das herkömmliche Gildensystem erheblich, während die Geheimgesellschaften offenbar ihren Einfluß behielten, ja, noch verstärken konnten. So hatte die Auflösung der traditionellen chinesischen Gesellschaftsordnung bereits begonnen, als die Herrschaft der Mandschu-Dynastie endete, und sie setzte sich in dem ersten Jahrzehnt der Republik schnell fort. Dies gilt allerdings vor allem für die Küstenstädte. In den Dörfern und Flecken, in denen immer noch über 80 % der Bevölkerung lebten, und auch in vielen größeren Städten tief im Inneren des Landes, hielten sich zäh die herkömmlichen sozialen Strukturen. Nur in Küstennähe, vor allem in der Provinz Kuangtung, ergriffen die gesellschaftlichen Wandlungen auch das Land, hier vor allem in der Form, daß bei dem Auftreten von Mißernten ab 1844 immer häufiger die Bauern nicht — wie früher — in andere Provinzen, sondern ins Ausland flüchteten, vor allem jetzt in die USA, wo 1868 schon über 50 000 Chinesen ( 9 0 % 72

Ma Ch'ao-chün (Hrsg.), Chung-kuo lao-kung yün-tung shih (Geschichte der chinesischen Arbeiterbewegung), 5 Bde., T'aipei 1959, Bd. I, p. 49 f.

73

ibid., p. 51. Das Ideogramm „kung" in „Kung-hui" hier ist nicht dasselbe wie in „Kung-hui" = Gewerkschaft. Hier heißt es „öffentlich, gemeinsam", nicht „Arbeiter". Chow, op. cit., p. 388.

74 75

3

ibid., p. 380. Domes

34

I. Kapitel:

Prämissen

von ihnen aus Kuangtung) lebten78. Unter ihnen fand Sun Yat-sen — ebenso wie in den auslandschinesischen Gemeinschaften in Südostasien viele Anhänger, die seiner Bewegung erhebliche finanzielle Zuwendungen machten. So wurden die Auslandschinesen, zusammen mit den neu entstandenen Gruppen des städtischen Großbürgertums, bald zur Avantgarde der revolutionären Bewegung, die dann nach 1920 schließlich weite Teile des Volkes ergriff.

Die Herausbildung

des militärischen Regionalismus bis 1920

Das erste Jahrzehnt der chinesischen Republik wird zu Recht als Periode der regionalen Militärmachthaber („warlords", chinesisch: „chünfa") bezeichnet; denn das mit diesen militärischen Führern verbundene Herrschaftssystem und die Kämpfe unter ihnen bestimmten tatsächlich an der Oberfläche das Bild der Politik in China, während die zuvor skizzierten Entwicklungen zunächst noch unmerklich die weitere Revolutionierung des Landes vorbereiteten. Die Ereignisse in der Tagespolitik dieser Periode sind so verwirrend und gleichen einander so sehr, daß hier auf eine auch nur oberflächliche Gesamtdarstellung verzichtet werden soll. System und Zeit der Machtausübung der regionalen Militärmachthaber bedürfen anderer Studien, die sich ausschließlich mit dieser Periode beschäftigen. Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die schrittweise Modernisierung der chinesischen Streitkräfte begonnen. In den achtziger Jahren war — unter dem Kommando des jungen Yüan Shih-k'ai und dem leitenden Einfluß des damaligen Vizekönigs der Hauptstadtprovinz Chihli (Hopei), Li Hung-chang — die „Neue Armee" (Hsin-chün) entstanden, aus der sich dann nach dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 und dem „Boxeraufstand" die „Armee des Nordmeers" (Peiyang-chün) entwickelte77. Sie wurde das wesentliche Machtinstrument Yüan Shih-K'ais, dem es mit ihrer Hilfe gelang, schon bald nach seinem Amtsantritt als Präsident der Republik die eigentlichen revolutionären Kräfte beiseite zu schieben. Der „Repräsentantenrat" von Delegierten der revolutionären Provinzen (Ling-shih ts'an-yi yüan), der am 28. Ja' · Vgl. Rowe, op. cit., p. 23 f. 77

Vgl. hierzu: W i n Chih-kung, Tsui-chin san-shih nien Chung-kuo chün-shih shih (Die letzten dreißig Jahre chinesischer Militärgeschichte)

(1929), hrsg. von

Wu

Hsiang-hsiang, 2 Bde., T'aipei 1962. Uber die „Peiyang"-Armee wird dort in Bd. I, p. 3 9 — 6 0 , ausführlicher berichtet.

Die Herausbildung des militärischen Regionalismus bis 1920

35

nuar 1912 in Nanking zusammentrat, hatte bereits am 11. März ein „Vorläufiges Grundgesetz der Republik China" (Chung-hua-min-kuo ling-shih yüeh-fa) verabschiedet, auf das Yüan sich bei den Vereinigungsverhandlungen festgelegt hatte 78 . Dieses Grundgesetz sah die Bildung eines Repräsentantenrates mit 121 Mitgliedern vor, der als provisorisches Parlament die legislative Gewalt ausüben und die aus dem Präsidenten und einem Vizepräsidenten mit ihrem Kabinett bestehende Exekutive überwachen sollte79. Yüan ernannte zunächst ein stark von den Revolutionären beherrschtes Kabinett unter dem Premierminister T'ang Shao-yi*. Die Anhänger Sun Yat-sens gingen mit anderen, ihnen nahestehenden Gruppen in der „Kuo-min tang" ( K M T ) eine Vereinigung ein80, während sich die früheren konstitutionellen Monarchisten in der „Fortschrittspartei" (Chin-pu Tang) unter Liang Ch'i-di'ao und in einer Reihe kleinerer Gruppen sammelten, die in der Regel Yüan unterstützten, der schon im Sommer und Herbst 1912 in Konflikt mit der K M T geriet 81 . Diese spaltete sich bald in einen revolutionären Flügel unter Sun Yat-sen und einen parlamentarischen unter der Führung Sung Ch'iaojens, eines Anhängers des europäisch-parlamentarischen Regierungssystems, den das erste chinesische „Parlament" am 20. März 1913 zum Premierminister wählte. Er wurde jedoch schon einen Tag später — offenbar nicht ohne das Zutun Yüans — ermordet 82 . Als Yüan dann noch am 26. April von einem Mächtekonsortium eine Anleihe in Höhe von 25 Millionen Pfund Sterling für die „Reorganisation der Verwaltung" bekam und den damit verbundenen harten Kontrollbedingungen zustimmte, obgleich das Parlament sie abgelehnt hatte, kam es zum offenen Bruch zwischen ihm und der K M T . Die „zweite Revolution" begann 83 . Doch sie erwies sich rasch als ein Fehlschlag. Die Mächte stellten sich hinter Yüan, dessen wohlbewaffnete und gut ausgebildete Truppen bereits im September den Aufstand der K M T niederschlugen. Sun, dessen Partei jetzt von Yüan verboten wurde, ging erneut ins Exil. Yüans Macht im Lande erreichte ihren Höhepunkt. Am 7. Oktober 78

Chinesischer Text bei: Wang Shih-diieh und Ch'ien Tuan-sheng, Pi-diiao hsien-fa (Vergleichende Verfassungslehre) Shanghai 1928, p. 252 ff. Englisch bei: Linebarger, op. cit., p. 5 4 7 — 5 5 1 .



Li, op. cit., p. 512.

80

T'ang, Revolution, op. cit., p. 100.

81

Vgl. ibid., p. 1 0 0 — 1 0 2 ; Li, op. cit., p. 276 f.

82

T'ang, Revolution, p. 108.

83

Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 117 ff.

3*

I. Kapitel:

36

Prämissen

1913 wurde er vom Rumpfparlament in Peking definitiv zum Präsidenten gewählt, und am l . M a i 1914 nahm jenes eine endgültige Verfassung, das „Grundgesetz der Republik China" (Chung-hua-min-kuo yüeh-fa), an, die der Exekutive eine sehr starke Stellung einräumte 84 . Doch Yüan Shih-k'ai gab sich damit nicht zufrieden. Er wollte, in herkömmlicher chinesischer Art, eine neue Dynastie gründen. Von Anfang 1915 an brachte er seine Anhänger im Lande mit Unterstützung der Mächte — vor allem der Japaner, deren „21 Forderungen" er sich im Mai gebeugt hatte — dazu, in einer Serie von Petitionen die Errichtung der Monarchie zu fordern. Am 11. Dezember „gab" er diesen „Forderungen nach" und proklamierte sich zum Kaiser und Gründer einer neuen Dynastie 86 . Damit aber hatte er seine Hand überspielt. Bereits am 24. Dezember erhob sich der General Ts'ai Ao in Yünnan gegen die neue Monarchie, und schnell folgten ihm die Militärs in Süd- und Zentralchina 86 ). Der ausbrechende Sturm des Widerstandes zwang Yüan Shih-k'ai, am 22. März 1916 schon wieder abzudanken. Ohne daß es ihm gelungen wäre, noch einmal die Kontrolle über das ganze Land zu erringen, starb er — in seinen Hoffnungen enttäuscht — am 6. Juni 1916. Mit Yüans Abdankung und Tod war die Macht der Zentralregierung so geschwächt, daß sie von nun an bis 1928 aufhörte, über die Hauptstadt hinaus weitere Gebiete Chinas zu kontrollieren. Wer audi immer in Peking als Präsident amtierte 87 , die Macht im Lande hatten die regionalen Militärmachthaber in der Hand. Die meisten von ihnen — vor allem diejenigen, die Nordchina kontrollierten — waren alte Untergebene Yüan Shih-K'ais aus der „Peiyang"-Armee. Er hatte sie als Gouverneure eingesetzt, nachdem die „zweite Revolution" der K M T 1913 niedergeschlagen worden war. Sie stützten sich in den Provinzen auf ihre ständig an Zahl zunehmenden Truppen und schlossen untereinander wechselnde Bündnisse ab, um sich in einer Kette militärischer Auseinandersetzungen gegenseitig Gebiete abzujagen, deren Steuerkraft für sie interessant war. Durch exzessive Besteuerung und die auf dem Lande überhand nehmende Unsicherheit, 84

Chinesischer Text bei: Wang/Ch'ien, op. cit., p. 2 5 7 — 2 6 3 ; Englisch bei: Tung, op.

85

Eine der besten Darstellungen der Bewegung zur Wiedereinführung der Monarchie

80

Vgl. T'ang, Revolution, op. cit., p. 122 ff.

87

7.6.1916—14.7.1917:

cit., p. 326 ίί. und der Gegenströmungen gibt Li, op. cit., p. 3 0 4 — 3 5 0 . Li Yüan-hung;

14.7.1917—4.9.1918:

vom 4. 9. 1918 an: Hsü Shih-ch'ang (bis 1922).

Fing

Kuo-ch'ang;

Die Herausbildung

des militärischen Regionalismus

bis 1920

37

verelendeten die Bauern in weiten Teilen Chinas immer mehr, was bedeutete, daß die Militärmachthaber keine Sorgen um neue Rekruten zu haben brauchten; denn als Soldat bekam man wenigstens einen gesicherten Lebensunterhalt, natürlich wiederum auf Kosten der Bauern und der Bewohner der Städte des Inlandes. Das chinesische Kapital floh in die unter ausländischem Schutz stehenden Vertragshäfen und Konzessionen, während das flache Land verarmte. Die regionalen Militärmachthaber sammelten sich im wesentlichen in drei großen Gruppen: 1. der Chihli-Clique unter Ts'ao K'un und Wu P'ei-fu, die vor allem den Bereich zwischen Huanghe und Yangtzu, zuweilen aber auch die Hauptstadt, beherrschten; 2. der Anfu-Clique unter Tuan Ch'i-jui, die meist Hopei und Shantung kontrollierte, zuweilen aber audi bis zum Yangtzu vorstieß; und 3. der Fengt'ien-Clique unter Chang Tso-lin, der mit seinen Generalen die Mandschurei beherrschte und dessen Obergriffe nach Nordchina hinein in der Regel eher den Charakter von Beutezügen hatten. Außer ihnen gewann noch eine Reihe von Regionalmachthabern in Südchina einige Bedeutung, die meist in loser Verbindung mit den Anhänger Sun Yat-sens standen, so vor allem Lu Jung-t'ing in Kuangsi und T'ang Chi-yao in Yünnan, dessen Einfluß oft auch über längere Zeiträume nach Kueichou und Hunan hineinreichte. Shansi wurde seit 1912 von dem „Mustergouverneur" Yen Hsi-shan* regiert und aus den Auseinandersetzungen der anderen Generäle herausgehalten, was dazu führte, daß diese an sich nicht sonderlich reiche Provinz um 1920 wesentlich gesündere ökonomische und soziale Verhältnisse aufzuweisen hatte als die meisten anderen Gebiete in China 88 . Die Mächte sahen das Chaos im Lande durchaus nicht ungern, bot es doch eine Sicherung dafür, daß China nicht in die Lage versetzt wurde, mit machtpolitischem Nachdruck und deshalb möglicherweise auch mit Erfolg eine Revision der ungleichen Verträge zu fordern. Außerdem sicherten ihnen temporäre Allianzen mit den Cliquen der regionalen Militärmachthaber bestimmte Einflußsphären. So arbeitete die Chihliclique in der Regel mit Großbritannien und den USA zusammen, während die Anfu-Clique sich an Japan hielt. Chang Tso-lin wechselte seine Sympathien, war aber in der Mandschurei doch meist auf japanische Unterstützung angewiesen. 88

Vgl. zu den verschiedenen Gruppen regionaler Militärmachthaber und deren Politik u. a.: Li, op. cit., p. 351—400 und T'ang, Revolution, op. cit., p. 101.

38

I. Kapitel:

Prämissen

Bei der Beurteilung des Systems der regionalen Militärmachthaber wird man nicht übersehen dürfen, daß es seinen Grund in einer durchaus diskussionsfähigen Einstellung vieler Chinesen der damaligen Zeit hatte: im Hinneigen zu föderalistischen Ordnungsformen. Im militärischen Regionalismus traten sie aber nur pervertiert auf, und sie wurden durch ihn derart diskreditiert, daß später die KMT wieder zum Prinzip starker Zentralisierung der Regierungsgewalt zurückkehrte.

Die intellektuelle

Erneuerungsbewegung

1916—1921s9

Am 4. Mai 1919 gingen in Peking Studenten „auf die Straße" um gegen die nationale Demütigung Chinas Protest zu erheben90. Unmittelbarer Anlaß zu diesen Demonstrationen war die am 2. Mai in China bekannt gewordene Entscheidung Wilsons, Lloyd Georges und Clemenceaus auf der Friedenskonferenz zu Versailles am 30. April, gegen den Protest der chinesischen Delegation Kiaochou und die ehemals deutschen Rechte an der Shantung-Bahn Japan zu überlassen. Als die Nachricht von dem Beschluß der leitenden westlichen Staatsmänner die Hauptstadt Chinas erreichte, beschlossen Delegierte nahezu aller Pekinger Hochschulen, für den 7. Mai — den Gedenktag des japanischen Ultimatums von 1915, den man „Tag der nationalen Demütigung" nannte — eine Massendemonstration zu veranstalten 91 . Die Zentralregierung wurde damals maßgeblich von der mit Tuan Ch'i-juis „Anfu-Klub" eng verbundenen sogenannten „Verkehrsclique" um den Verkehrsminister Ts'ao Ju-lin und den Präsidenten der „Verkehrsbank" (Chiao-t'ung yin-hang), Lu Tsung-yü, beeinflußt, zu der auch der chinesische Gesandte in Tokio, Chang Tsung-hsiang, gehörte. Diese drei Politiker galten als besonders unterwürfig gegenüber Forderungen Japans, und als Chang am 3. Mai von Tokio nach Peking kam, verbreitete sich das Gerücht, er solle zum Außenminister ernannt werden, um der Übernahme Kiaochous und der Shantung-Bahn durch Japan zuzustimmen. Jetzt sahen sich die Führer 8

· Dieser Abschnitt folgt im wesentlichen der hervorragenden Untersuchung von Chow, op. cit., passim. Vgl. dazu auch: Fairbank, op. cit., p. 163—171. Im Deutschen liegt bisher nur eine kurze Darstellung von Wolfgang Franke (Chinas kulturelle Revolution — Die Bewegung vom 4. Mai 1919, München 1957) vor. 90 Zu den Demonstrationen und deren unmittelbaren Folgen vgl.: Chow, op. cit., p. 84 bis 144. ibid., p. 90 ff. M ibid., p. 99 f.

Die intellektuelle

Erneuerungsbewegung

1916—1921

39

der Studenten, unter ihnen vor allem Yi K'e-ni, Fu Ssu-nien, Lo Chialun, Chang Kuo-t'ao* und Tuan Hsi-p'eng 92 — veranlaßt, die für den 7. geplante Demonstration auf den 4. Mai vorzuverlegen. Zwischen 3000 und 10 000 Studenten und Oberschüler nahmen an ihr teil — wahrscheinlich etwas über 3000 —93. Sie zogen mit den Parolen: „Nach außen: widersteht den Großmächten! Nach innen: jagt die Verräter fort!" („Wai k'ang ch'iang-ch'üan, nei ch'u kuo-tsei!") durch die Straßen Pekings und brachen auch in das Gesandtschaftsviertel ein. Dort wurden sie jedodi von fremder Polizei aufgehalten, worauf ein beträchtlicher Teil von ihnen das Haus Ts'ao Ju-lins stürmte und Chang Tsung-hsiang, der sidi in diesem Haus aufhielt, verprügelte. Die Pekinger Studentendemonstrationen, die unter dem Namen „Bewegung des 4. Mai" (Wu-ssu yün-tung) in die Geschichte eingingen, wurden zur Initialzündung einer schnell erhebliche Teile des Landes ergreifenden Welle der Unruhe. Schon am 6. Mai gründeten die Pekinger Studenten eine alle zuvor bestehenden Gruppen und Zirkel umfassende „Union der Studenten an Sekundärschulen und höheren Lehrinstituten in Peking" (Pei-ching chung-teng i-shang hsüeh-hsiao hsüehsheng lien-he-hui) 94 , die sich am 16. Juni mit den inzwischen in vielen Städten nach ihrem Beispiel entstandenen Studentenverbänden auf einem Kongreß in Shanghai zur „Studentenunion der Republik China" (Chunghua-min-kuo hsüeh-sheng lien-he-hui) Zusammenschloß98. 92

93

94 95

Die chinesischen Kommunisten haben seit langer Zeit versucht, ihren späteren Führern die Hauptrolle bei der Leitung der Demonstrationen zuzuordnen. Dies trifft jedoch nicht zu. Chang Kuo-t'ao, der übrigens 1938 die KCT verließ und sich später der KMT anschloß — er lebt heute im Exil in Hongkong — war der einzige später leitende Kommunist unter den Führern der Studenten am 4. Mai 1919. Yi K'e-ni Schloß sich bald nach 1919 der KMT an und wurde 1932 Sekretär von Tuan Hsi-p'eng, als dieser das Amt des Vizeministers für Erziehung in der Nanking-Regierung übernahm. Tuan selbst war seit 1931 Mitglied des ZEK der KMT und starb 1948 in Nanking als stellvertretender Rektor der „Nationalen Cheng-diih-Universität". Lo Chia-lun, der Verfasser des Aufrufes für die Demonstration, ist heute Präsident der „Academia Historica" in T'aipei, Fu Ssu-nien starb 1953 in T'aiwan als Rektor der „Nationalen T'aiwan-Universität". Ob Mao Tse-tung, wie vielfach behauptet wird, an der Demonstration teilnahm, ist heute nicht mehr mit Sicherheit festzustellen, aber durchaus nidit ausgeschlossen. Irgendeine leitende Rolle hat er allerdings nicht gespielt. Chow (op. cit., p. 384 f.) neigt der Zahl von rund 3000 Demonstranten zu und weist darauf hin, daß damals in Peking nur insgesamt 6111 Studenten immatrikuliert waren (p. 386), andere Berichte geben Teilnehmerzahlen zwischen 5000 und 10 000 an. Chow, op. cit., p. 122. ibid., p. 164.

40

I. Kapitel:

Prämissen

Daraufhin entsdiloß sich die Regierung, in Peking über 1000 Studenten zu verhaften. Diese Aktion rief jedoch die Verbände der Kaufleute und Arbeiter auf den Plan, die in Shanghai und 17 anderen Städten in den Streik traten und zugleich einen Boykott japanischer Waren ausriefen, der in vielen Teilen Chinas rigoros befolgt wurde 96 . Derart bedrängt, sah sich das Kabinett am 13. Juni gezwungen, zurückzutreten. Die verhafteten Studenten wurden freigelassen. Massendemonstrationen und Streiks hatten zum ersten Mal in der Geschichte der chinesischen Republik zum Sturz einer Regierung geführt. Man wird aber die Ereignisse des Mai und Juni 1919 in China nicht isoliert betrachten können. Sie stellen vielmehr den Höhepunkt einer Entwicklung dar, die das Geistesleben des Landes von Grund auf veränderte, einer intellektuellen Erneuerungsbewegung, der man — nicht zu Unrecht — die Bezeichnung „Bewegung des 4. Mai" gegeben hat. Pioniere dieser Entwicklung waren die aus dem Ausland zurückkehrenden chinesischen Studenten. 1872 kamen die ersten 30 chinesischen Studenten in die USA, 1915 waren es dort bereits über 1200, während 1906/07 in Japan schon über 10 000 — nach anderen Angaben gar rund 13 000 — Chinesen studierten97. Auch in Europa nahm die Zahl der chinesischen Studenten seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ständig zu. Hier im Ausland vollzog sich so zuerst die Begegnung junger Chinesen mit westlicher Philosophie und europäischen politischen Ideen, welche die zurückkehrenden Studenten in ihr Heimatland mitbrachten, wo sie unter den Schülern der sich rasch vermehrenden Sekundärschulen und den Studenten der inzwischen entstandenen Hochschulen und Universitäten westlichen Stils begeisterte Anhänger fanden. Von den Führern der intellektuellen Erneuerungsbewegung sind vor allem in der älteren Generation Ts'ai Yüan-p'ei* und der Anarchist Wu Chih-hui*, die beide aus Frankreich zurückgekehrt waren, unter den Jüngeren aber Hu Shih:;', Ch'en Tu-hsiu:;' und Li Ta-chao* zu nennen. Unter ihrem Einfluß nutzten viele junge Chinesen die Gelegenheit, billig ins Ausland zu kommen, als die Alliierten von 1916 bis 1918 insgesamt rund 175 000 Arbeiter aus China anwarben, die in Frankreich und im Nahen Osten ihren dort kämpfenden Armeen helfen sollten98. Es entstand die „Werkstudenten96 97

98

ibid., p. 151—161. ibid., p. 26 und 31. Die Zahl der Studenten in Japan wird von T'ang, Revolution, op. cit., p. 52, für 1907 mit 10 000 angegeben, von Chow (p. 31) jedodi für 1906 schon mit 13 000. Vgl. Chow, op. cit., p. 37 ff. Unter den Studenten in Frankreich befand sich eine Reihe maßgeblicher späterer diinesisdier Politiker, so unter anderen Chou En-lai,

Die intellektuelle

Erneuerungsbewegung

1916—1921

41

bewegung", die sich neben der Förderung des Studiums in Frankreich auch um die Errichtung von Abendschulen für die dort lebenden chinesischen Arbeiter bemühte und deren Anhänger in Paris schnell in Berührung mit marxistischen Gruppen und Zirkeln kamen. Die intellektuelle Erneuerungsbewegung, die am 1916 die Städte des Landes erfaßte, vollzog sich in zwei Stufen. Zunächst ging es um die Reform der chinesischen Sprache. Bisher waren die respektierten Werke der Literatur in der klassischen Schriftsprache, dem „Wen-yen", erschienen, die nur von den mit ihr vertrauten Angehörigen der Honoratiorenschicht gelesen werden konnte. Jetzt begannen die jungen Intellektuellen, ihre Schriften in der Umgangssprache der Massen, der „Pai-hua", zu veröffentlichen. Dies widersprach allen Regeln, die bisher für die Literatur in China gegolten hatten. Zwar hatte es immer Werke in der Umgangssprache gegeben, so einige der bekanntesten klassischen Romane und Novellen, aber sie wurden von der Honoratiorenschicht nur als Unterhaltung und nicht als seriöse Literatur betrachtet. Das änderte sich jetzt: die in „Pai-hua" geschriebenen Bücher der Vergangenheit, neue literarische Produkte von jungen Schriftstellern, unter denen bald Lu Hsün* sich eine besondere Stellung errang, und nicht zuletzt auch Ubersetzungen westlicher Literatur fanden weite Verbreitung. Sie wurden von der jungen Generation mit Begeisterung gelesen und unter der Bevölkerung propagiert". Zum zentralen Organ der literarischen Revolution entwikkelte sich schnell die von Ch'en Tu-hsiu am 15. September 1915 in Shanghai gegründete „Jugend-Zeitschrift" (Ch'ing-nien tsa-chih), die seit der am 1. September 1916 erschienenen ersten Nummer des II. Jahrgangs den Namen „Neue Jugend" (Hsin Ch'ing-nien) führte. Sie wurde zum Forum aller neuen literarischen und intellektuellen Strömungen in China100. Die Hochburg der Bewegung aber war ab 1917 die „Peking-Universität" (Pei-diing ta-hsüeh, weithin bekannt unter der Abkürzung „Peita"). An dieser Hochschule, welche die Tradition der 1898 gegründeten

99

100

Li Li-san, Ch'en Yi, Li Fu-ch'un und Frau Teng Ying-di'ao, die später eine führende Rolle in der K C T übernehmen sollten (das 1966 amtierende VIII. Z K der K C T umfaßte unter 90 Vollmitgliedern 11, die in Frankreich studiert hatten), und die späteren Führer der „Chinesischen Jugendpartei" (Chung-kuo Ch'ing-nien Tang), Tseng Ch'i, Li Huang, Li Pu-wei, Ch'en Ch'i-t'ien und Tso Shun-sheng. Vgl. hierzu audi: Conrad Brandt, The French Returned Elite in the CCP, Hongkong 1961, p. 2—6. Zitiert nach Chow, op. cit., p. 274. Chow, op. cit., 283 ff. ibid., p. 42—48.

42

I. Kapitel:

Prämissen

„Kaiserlichen Universität" — der ersten Chinas — fortsetzte, sammelte sich die intellektuelle Elite der chinesischen Jugend. 1912 zählte die „Pei-ta" erst 818, 1920 hingegen schon 2565 Studenten101, von denen die meisten aus Familien städtischer Kaufleute oder aus der Honoratiorenschicht stammten. Die Leitung der „Pei-ta" hatte im Jahre 1917 Ts'ai Yüan-p'ei übernommen102, unter dessen Rektorat eine Reihe der bedeutendsten Führer der Erneuerungsbewegung als Professoren berufen wurden, unter ihnen Ch'en Tu-hsiu, Hu Shih und Li Tadiao. Ch'en wurde Dekan der Philosophischen Fakultät, an der die Neuerer sich in heftigen Auseinandersetzungen mit Vertretern der klassischen Literatursprache und der konfuzianischen Ideologie durchsetzten. Die Gründung der Zeitschrift „Wöchentliche Kritik" (Mei-chou p'inglun) durch Ch'en und Li Ta-chao und des Studentenorgans „Neue Flut" (Hsin-ch'ao) durch Fu Ssu-nien, Lo Chia-lun und andere Studentenführer — beide im Dezember 1918 in Peking — 1 0 3 bezeichnet den Übergang zur zweiten Stufe der intellektuellen Erneuerungsbewegung, zum Angriff auf die konfuzianischen Traditionen in Philosophie und Sozialethik. Die Reformer proklamierten, daß die herkömmliche Gesellschaftsideologie im neuen China überlebt sei. „Demokratie" und „Wissenschaft" — volkstümlich (in Anlehnung an die englischen Worte „democracy" und „science") als „Herr Te" (te-mo-k'e-la-hsi) und „Herr Sai" (saiyin-ssu) bezeichnet — müßten die Grundprinzipien der neuen Gesellschaftsordnung und des neuen Denkens werden104. In einer großen Anzahl literarischer und politischer Zirkel, die später gemeinsam hinter den Demonstrationen des 4. Mai 1919 standen, wurden westliche Denkrichtungen, vor allem Realismus, Individualismus und Utilitarismus, später dann auch der Sozialismus, diskutiert und adaptiert105. Die konfuzianischen Tugendlehren wurden lächerlich gemacht; alles, was aus dem Westen kam, war der Bewunderung der chinesischen Jugend sicher. Erst nach 1920 begann man dann, auch westliche Ideologien und Systeme kritischer zu betrachten und das geistige Erbe Chinas unvoreingenommener von neuem zu studieren106. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung kam 101

ibid., p. 4 9 .

102

ibid., p . 4 1 .

103

ibid., p . 5 4 f.

104

ibid., p . 5 9 f.

105

ibid., p . 2 9 4 ff.

1M

ibid., p. 3 1 7 ff.

Die intellektuelle

Erneuerungsbewegung

1916—1921

43

es bald zu einer Differenzierung und nach 1921 zur Spaltung der intellektuellen Erneuerungsbewegung in drei Hauptgruppen: Liberale um Hu Shih, welche die individuelle Freiheit und den Vorrang der kulturellen Aktivität der Intellektuellen vor der von vielen empfohlenen soziopolitischen Aktion betonten 107 ; Anhänger der K M T , der sidi vor allem die radikal-nationalistischen und auch die anarchistischen Kreise der Bewegung anschlossen108; und Marxisten, die dann maßgeblichen Anteil an der Gründung der K C T hatten, allen voran Ch'en Tu-hsiu und Li Ta-chao 10e . Die intellektuelle Eneuerungsbewegung hatte vier wesentliche Folgen: 1. Die Umgangssprache (Pai-hua) setzte sich in der Literatur und der Presse durch, und dies führt dazu, daß die schriftliche Propaganda revolutionären Gedankenguts aller Art breitere Schichten des Volkes zu erreichen vermochte. Diese Tendenz hatte schon zur Zeit der „Revolution" von 1911 begonnen, verstärkte sich aber jetzt von Jahr zu Jahr. Die Entwicklung wird daran deutlich, daß im Jahre 1913 in ganz China eine Million Zeitungen und Zeitschriften von der Post befördert wurden, 1923 dagegen 81 Millionen und 1924 gar 97 Millionen 110 . 2. China wurde zu einem Laboratorium der Ideen. Der Zusammenbruch der herkömmlichen Ideologie gab den Weg für alle nur erdenklichen Gedankenrichtungen frei, von denen die wirksamsten aus dem Westen importiert wurden. Zunächst orientierte man sich vor allem an Adam Smith, John Stuart Mill, Charles Darwin und John Dewey — der selbst von 1919 bis 1921 an der „Pei-ta" lehrte und Vorträge in vielen

107

ibid., p. 222 ff. Hu Shih schrieb am 16. Juni 1922 in einem Brief an zwei seiner marxistisch orientierten Kritiker sarkastisch: „Die Zahl der Sklaven von K'ung-tzu und Chu Hsin hat sich verringert, statt dessen sind die Sklaven von Kropotkin und Marx aufgetreten." (zitiert nach: Chow, op. cit., p. 242).

108

ibid., p. 217. Die ersten anarchistischen Schriften wurden 1903 aus dem Japanischen ins Chinesische übersetzt. 1912 gründeten die späteren KMT-Führer Wang Chingwei, Wu Chih-hui und Li Shih-tseng in Shanghai eine anarchistische Vereinigung, der auch Ts'ai Yüan-p'ei sehr nahe stand. Der Anarchismus fand 1919/20 an der „Pei-ta" viele Anhänger und hat auch Mao Tse-tung damals zeitweilig beeinflußt. Aus der 1919 gegründeten „Gesellschaft zum Studium des Anarchismus" (Wu-chengfu-chu-yi yen-chiu hui) nahmen einige Mitglieder 1920/21 an der Gründung der K C T teil — so ζ. B. Chou Fu-hai, Li Han-chün und Shen Hsüan-lu. Sie verließen diese Partei jedoch meist schon Ende 1921 und folgten den „Großen Drei" des chinesischen Anarchismus — Ts'ai Yüan-p'ei, Wu Chih-hui und Li Shih-tseng — in die

KMT.

109

Chow, op. cit., p. 243 ff.

1,0

T a n g , China, op. cit., p. 209.

44

I. Kapitel:

Prämissen

Städten des Landes hielt 111 — , doch nach der Oktoberrevolution in Rußland nahm dann der Einfluß des Marxismus unter den chinesischen Intellektuellen erheblich zu. 3. Die Kräfte der Erneuerungsbewegung gingen nach dem 4. Mai 1919 dazu über, Organisationen der Kaufleute und Arbeiter und Frauenverbände in fast allen Städten des Landes entweder zu reorganisieren oder neu zu gründen. Damit schufen sie ein System von Vereinigungen, das, modern, organisiert und von revolutionären Intellektuellen geführt, den weiteren Verlauf der chinesischen Revolution 1923 bis 1927 wesentlich beeinflußt hat 112 . 4. Während die intellektuelle Erneuerungsbewegung in ihren Anfängen kosmopolitisch orientiert war, breitete sich unter ihren Anhängern im Zusammenhang mit den Ereignissen im Frühjahr 1915 und wiederum 1919 immer mehr der radikale Nationalismus aus, der sich zunächst gegen Japan, bald aber auch gegen die europäischen Mächte richtete. Er fand seinen organisatorischen Ausdruck zuerst in der „Antiimperialistischen Großen Liga" (Fan-ti-kuo-chu-yi ta t'ung-meng), die von Studentenverbänden, Gewerkschaften und der Chinesischen Handelskammer (Chung-hua-min-kuo tsung-shang-hui) am 13. Juli 1923 in Peking gegründet wurde, wandte sich aber schon zu dieser Zeit schnell den beiden revolutionären Parteien, der K M T und der K C T , zu. Wer die Unterstützung der jungen Intellektuellen und der von ihnen beeinflußten Publikationsorgane und Verbände suchte, mußte hinfort über jeden Verdadit der Zusammenarbeit mit imperialistischen Mächten erhaben sein. Es scheint, als habe dies erheblich zu Sun Yat-sens Bereitschaft zum Bündnis mit dem Kommunismus beigetragen, das die erste Phase der revolutionären Politik der K M T ab 1923 bestimmen sollte 113 .

Zur Lage der Bauern in China um 1920 In jeder audi noch so summarischen Darstellung der Voraussetzungen der chinesischen Revolution bedarf es einer kurzen Schilderung der Lage der Bauern. Sie machten ungefähr vier Fünftel der Bevölkerung aus, und ihre Lebensbedingungen mußten schon deshalb wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung des Landes haben. 111

Chow, op. cit., p. 192.

112

ibid., p. 187—191.

113

Chow, op. cit., p. 254 ff. Vgl. zu diesem Absatz audi: Fairbank, op. cit., p. 170 f.

Zur Lage der Bauern in China um 1920

45

Im chinesischen Altertum waren Grund und Boden Staatseigentum gewesen, der den Bauern nach Maßgabe der Familiengröße und der Arbeitskraft von den Behörden zur Bestellung zugeteilt wurde. In der Periode der „Streitenden Reiche" setzte sich dann schrittweise das Privateigentum an Ackerland durch. Schon zu dieser Zeit begann die Akkumulation des Grundbesitzes und es bildete sich ein System der Verpachtung von Land an Bauern heraus. Es beruhte darauf, das landlose Bauern von — oft in den Landstädten lebenden und meist der Honoratiorenschicht angehörenden — Grundbesitzern Boden pachteten, wobei die Grundbesitzer die Landsteuer zahlten und zunächst auch meist das Saatgut stellten, während die Pächter ihnen im Durchschnitt etwa die Hälfte der Ernte überließen. Bei der Pacht handelte es sich jedoch eindeutig um ein Vertrags- und nicht um ein Unterordnungsverhältnis. Über dieses Verhältnis berichtet Jean Monsterleet: „Vergessen wir nicht, daß wir uns im Fernen Osten befinden, im Land der Kompromisse, wo ein Vertrag nie einen absoluten Wert besitzt. Sucht der Besitzer einerseits, den größtmöglichen Vorteil für sich herauszuschlagen, so gelingt es dem Päditer oft, in Bezug auf die Ernteerträgnisse zu mogeln; beide aber tun sich zusammen, um die Steuerbehörde zu beschwindeln. Die Entrichtung des Pachtzinses gibt häufig Anlaß zu Streitigkeiten, die durch Schiedsspruch beigelegt und mit einen Festessen beschlossen werden. Wenn man nur gedruckte Berichte in Betracht zieht und diese Mentalität außer acht läßt, so kann man das wirkliche Verhältnis zwischen Besitzern und Pächtern nicht erfassen 1 1 4 ."

Weiterhin muß berücksichtigt werden, daß lange Zeit hindurch Grundbesitzer und Pächter nicht selten zum selben Familienverband gehörten, der Konflikte meist rasch zu entschärfen verstand. Außerdem finden sich keine Hinweise darauf, daß bis ins 18. Jahrhundert hinein der Anteil der Päditer an der Landbevölkerung und derjenige des Pachtlandes an der landwirtschaftlichen Nutzfläche zehn Prozent überschritten hätten. Diese Situation änderte sich jedoch mit der Bevölkerungsexplosion, die sich in China im 17. und 18. Jahrhundert ereignete. Wir verfügen zwar bis heute nicht über genaue Zahlenangaben für die chinesische Bevölkerung, aber die Steuerlisten der Dynastien gelten doch als im Allgemeinen recht zuverlässig. Demnach wäre die Bevölkerungszahl von der Han-Zeit bis zum Ende der Ming-Periode, also von der Zeit um Christi Geburt bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, konstant zwischen 45 und 60 Millionen geblieben. Selbst wenn man annimmt, daß die Beamten bei der Anfertigung der Steuerlisten die Zentrale betrogen hätten — was 114

Jean Monsterleet, Wird der Gelbe Mann rot? (dtsche. Ausg. von „L'Empire de Mao Tse-tung 1 9 4 9 — 1 9 5 4 " ) , Freiburg/Brsg. 1956, p. 22.

46

I. Kapitel:

Prämissen

wahrscheinlich ist —, dürfte die Einwohnerzahl Chinas um 1650 keinesfalls mehr als 100—150 Millionen betragen haben. 1775 aber werden schon 264 und 1851 — vor den großen Aufständen, welche vielen Millionen Menschen das Leben kosteten — gar 432 Millionen Einwohner registriert115. Selbst bei vorsichtigsten Schätzungen kommt man zu dem Ergebnis, daß die Bevölkerung Chinas sich zwischen dem Beginn des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts verdoppelt, seit dem 17. aber mindestens verdreifacht hat. In der gleichen Zeit stieg die landwirtschaftliche Nutzfläche im besten Fall um knapp 20 Prozent an116. Die Folgen liegen auf der Hand: Da es schon seit der Zeit um Christi Geburt in den meisten Teilen Chinas kein Ältestenerbrecht mehr gab, wurden die Betriebe immer kleiner und waren bald vielerorts nicht mehr lebensfähig. Die Bauern verschuldeten, als Kapitalgeber und schließlich auch als Käufer aber bot sich die Honoratiorenschicht an. Im Laufe eines Jahrhunderts begann das Pachtsystem, vorherrschendes Charakteristikum des chinesischen Dorfes zu werden. Das wegen der Verarmung der Bauern steigende Landangebot stärkte darüber hinaus die Position der Grundbesitzer, die jetzt begannen, immer mehr Lasten auf die Pächter abzuwälzen. Über die Besitzverhältnisse in der chinesischen Landwirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Die chinesischen Kommunisten haben nach 1945 die Behauptung aufgestellt, daß Grundbesitzer und reiche Bauern nur 10°/o der Landbevölkerung gezählt, aber 70 bis 80 % des Bodens kontrolliert hätten 117 . Diese Behauptung wurde von ihnen seither so oft wiederholt, daß eine ganze Anzahl westlicher Autoren sie übernahm und bis heute verbreitete. Wissenschaftliche Untersuchungen aus der Zeit zwischen 1920 und 1940, die uns zur Verfügung stehen, widersprechen diesen Zahlenverhältnissen118. 115 116

117

118

Alle Zahlenangaben nach: Fairbank, op. cit., p. 124 f. So Hsiao Tseng, T'u-ti kai-ke diih li-lun yü shih-dii (Theorie und Praxis der Bodenreform), T'aipei 1953, p. 7 f. Nach älteren Angaben — so u. a. Ch'en Shao-kuan, System of Taxation in the Ch'ing Dynasty, N e w York 1914, p. 51 — stieg die Anbauflädie seit dem 17. Jahrhundert immerhin um 35 °/o. So z . B . Liu Shao-ch'i in: The Agrarian Reform Law of the People's Republic of China, 2. Aufl. Peking 1951, p. 75 f. Vgl. hierzu: Chow, op. cit., p. 381 f.; S . T . T u n g (Tung Shih-diin), „Land Reform, Red Style", in: „Freeman", v. 2 5 . 8 . 1952; Chiu Kai-ming, „Agriculture", in: H . F. MacNair (Hrsg.), China, Los Angeles 1951, p. 473 ff.; Kindermann, Kulturen, op. cit., p. 85 ff.; John Lossing Buck, Chinese Farm Economy, Chicago 1930, p. 146; und derselbe, Land Utilization in China, Chicago 1937, p. 57.

Zur Lage der Bauern in China um 1920

47

Man wird den tatsächlichen Verhältnissen wohl am nächsten kommen, wenn man davon ausgeht, daß rund die Hälfte der chinesischen Landbevölkerung Eigentumsbauern, je ein Fünftel Teilpächter und Vollpächter und rund 10 °/o landlose Landarbeiter waren. Eine Synopse der Fülle von Angaben über die Verteilung des Grundbesitzes führt zu dem Ergebnis, daß rund ein Drittel des Bodens in der Hand von Grundbesitzern und reichen Bauern lagen, zwei Drittel dagegen in der von mittleren und armen Bauern. Dem würde auch entsprechen, daß nach kommunistischen Angaben in der von der KCT 1950 bis 1953 durchgeführten Bodenreform 34 °/o der Ackerfläche neu verteilt wurden119, was allerdings ebenfalls den ursprünglichen kommunistischen Behauptungen widerspricht. Doch das Problem der Besitzverhältnisse war nicht das einzige in der chinesischen Landwirtschaft, und wahrscheinlich nicht einmal das schwerwiegendste. Mindestens ebenso stark fiel ins Gewicht, daß die Betriebe für die oft sehr großen Familien einfach zu klein geworden waren. Nach der von Kindermann zitierten Wilmanns-Studie betrug in den Dreißiger Jahren die Durchschnittsgröße aller landwirtschaftlichen Betriebe in China 2,23 ha, wobei Kleinbetriebe durchschnittlich 0,75 ha, Mittelbetriebe 1,87 ha und „Großbetriebe" 4,24 ha umfaßten 120 . Solche Betriebe können nur unter der Voraussetzung intensivster Bebauungsmethoden auf Grund der Anwendung moderner Techniken ihren Mann ernähren — und die gab es eben in China nicht. Die Zeit der revolutionären Wirren und der Kriege der regionalen Militärmachthaber hatte in den Dörfern Chinas zu großer Unsicherheit geführt. Die Bewässerungsanlagen und Deiche verfielen, Räuberbanden suchten die Bauern heim, und die Steuerlast wurde immer unerträglicher. Endlich trug auch der Zerfall der Honoratiorenschicht zur Verschlechterung der Lage unter den Bauern bei. Vielfach traten an die Stelle der alten, mit Pächterfamilien seit Jahrhunderten in Vertrag stehenden Honoratiorenfamilien neue Besitzer, meist Kaufleute aus der Stadt, die nicht gewillt waren, sich in Notzeiten auf Pachtmoratorien einzulassen, was früher häufig geschehen war. So hatten sich die Lebensbedingungen in den chinesischen Dörfern um 1920 derart verschlechtert, daß die Bauern begannen, auf den Umsturz " · U. a. „Jen-min jih-pao" vom 1. 1. 1954. 120 Kindermann, Kulturen, op. cit., p. 85 und 88. 121 Shao Chuan Leng und Norman D. Palmer, Sun Yat-sen and Communism, New York 1960 (hinfort: Leng/Palmer), p. 17 f.

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I. Kapitel:

Prämissen

als einzige ihnen möglich erscheinende Rettung zu hoffen. Dieser Umsturz hatte für sie aber nur dann einen Sinn, wenn dadurch der innere Friede wiederhergestellt, ihr Besitzstand garantiert und der Landbesitz ortsfremder Grundherren verteilt wurde. Ohne selbst politisch aktiv zu sein, stellten die Bauern also ein beträchtliches revolutionäres Potential dar, das darauf wartete, genutzt zu werden.

Die traditionelle Gesellschaftsordnung Chinas und sein herkömmliches Herrschaftssystem hatten sich der Begegnung mit dem Westen nicht gewachsen gezeigt. Die konfuzianische Gesellschaftsideologie, schon im ersten Jahrtausend nach Christi Geburt im Interesse der Erhaltung überkommener sozialer und politischer Strukturen verzerrt und seither im Formalismus erstarrt, war der Entwicklung moderner Wissenschaften feindlich gesonnen und blockierte mit ihrer Geringschätzung des Kaufmanns- und Unternehmertums die Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsdynamik, welche die industrielle Revolution im Westen herbeigeführt hatte. Seit 1839 erlebte China eine in der Geschichte wahrscheinliche einmalige nationale Demütigung, den Zusammenbruch der traditionellen sozialen Strukturen entlang der Ostküste und im YangtzuTal und ihre beginnende Zersetzung im ganzen Land. Die Herrschaftsordnung, die das große Reich durch Jahrhunderte zusammengehalten hatte, zerbrach. Das nach der „Revolution" von 1911 praktizierte Experiment mit der parlamentarischen Regierungsweise erwies sich als bei weitem verfrüht, auf eine kurze Periode der Militärdiktatur folgte die Auflösung der Zentralgewalt, und ein politisches Chaos entstand, während die geistig führenden Kräfte des Landes sich von der konfuzianischen Ideologie ab- und westlichen „Zukunftsbildern" zuwandten. In dieser Situation war die Revolution notwendig geworden. Wer immer Chinas Herrschaft übernehmen wollte, mußte die Bevölkerung politisch aktivieren und organisieren, das Land von der Last der ungleichen Verträge befreien und die Entwicklung einer gemischt agrarischindustriellen Volkswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Schaffung gesünderer Produktionsverhältnisse auf dem Lande mit Energie einleiten. Die politische Befreiung des Volkes in einem repräsentativen Herrschaftssystem konnte erst die Folge dieser Entwicklung sein, man wird aber festhalten müssen, daß die geistig führenden Kräfte Chinas um 1920 in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht bereit waren, auf sie zu Gunsten einer kontinuierlich waltenden repressiven Herrschaft zu verzichten.

Frühgeschichte und Programm der KMT

49

Frühgeschichte und Programm der KMT Sun Yat-sen begann seine politische Laufbahn als Anhänger der Gruppe um K'ang Yu-wei und Liang Ch'i-ch'ao, die dann 1898 zusammen mit dem jungen Kaiser Kuang-hsü vergeblich versuchte, das Beispiel der „Meiji-Restauration" Japans in China zu wiederholen. Im Gegensatz zu den beiden bedeutendsten Führern der Reformpartei war er aber schon als 13 Jahre alter Junge 1879 in Hawaii mit westlicher Zivilisation in Berührung gekommen und hatte dort und später in Hongkong eine westliche akademische Erziehung genossen. Während er studierte, beschäftigte er sich allerdings gleichzeitig auch mit den klassischen konfuzianischen Schriften, die er unter der Anleitung bedeutender Gelehrter aus Kanton las und die erheblichen Einfluß auf die Entwicklung seines politischen Denkens hatten 121 . Neben westlichen wissenschaftlichen Methoden und konfuzianischer Philosophie wirkten vor allem Einflüsse aus den Geheimgesellschaften, die in seiner Heimatprovinz Kuang-tung eine starke Stellung hatten, auf ihn ein und machten ihn früh zu einem Gegner der herrschenden Mandschu-Dynastie122. Schon während seines Studiums in Hongkong kam er mit einer kleinen Gruppe dynastiefeindlicher chinesischer Studenten zusammen, und nach der Promotion 1892 begann er, in Macao und Kanton die Gründung einer Organisation vorzubereiten, welche sich die Vertreibung der Mandschu-Dynastie aus China zum Ziel setzen sollte. Am 24. November 1894 — als das Land bereits unter dem Eindruck der ersten Niederlagen im Krieg gegen Japan stand — organisierte er in Kanton die „Vereinigung für den Aufbau Chinas" (Hsing Chung Hui) 123 , deren Aktivität mit einem vergeblichen Versuch Suns begann, dem Vizekönig der Hauptstadtprovinz Chihli (Hopei), Li Hung-chang, eine Reformdenkschrift 124 zu überreichen. Nach diesem Fehlsdilag — also noch vor dem Zusammenbruch der Reformbewegung 1898 — erklärte sich die „Hsing Chung Hui" für die Beseitigung der Monarchie und unternahm am 9. September 1895 einen Aufstandsversuch in Kanton, der schnell niedergeschlagen wurde. Sun mußte, von der Regierung als Verbrecher verfolgt, ins Ausland fliehen125. 122

T a n g , Revolution, p. 16 f.

123

ibid., p . 21 f.

124

Text dieser Denkschrift in: Tsung-li ch'üan-shu (Vollständige Ausgabe der Schriften des Parteiführers), 10 Bde., T'aipei 1953 (hinfort: Sun, VA), Bd. X ,

1. Teil,

p. 1—26. Auszüge in Englisch bringen Teng Ssu-yü und John K. Fairbank, China's Response to the West, Cambridge, Mass. 1954, p. 224 f. 125

4

T'ang, Revolution, p. 23. Domes

I. Kapitel:

50

Prämissen

Ober Japan und Hawaii ging er in die Vereinigten Staaten und dann weiter nach England, wo er zwei Jahre, von 1896 bis 1898, blieb 126 . In dieser Zeit kam er in stärkerem Maße als zuvor mit westlichen politischen Ideen in Berührung 127 . Außer den europäischen Klassikern der politischen Theorie wie Rousseau, Montesquieu und Mill, die später immer wieder in Sun's Schriften — zum Teil auch kritisch — zitiert werden, begannen jetzt auch sozialreformerische und Sozialrevolutionäre Lehren, Sun zu beeinflussen. 1897 las er zum erstenmal Schriften des amerikanischen Theoretikers der Landverteilung durch Besteuerung des nicht erarbeiteten Wertzuwachses, Henry George, dessen Lehren später im agrarpolitischen Programm der K M T ihren Niederschlag finden sollten128. Gleichzeitig hatte er in London seine erste Begegnung mit dem Marxismus, über den er mit russischen Emigranten diskutierte. Auch mit Maurice William's Schriften machte sich Sun vertraut 129 . Nach Sun's eigener Auskunft begann er zu dieser Zeit die ersten Vorarbeiten für seine Theorie von den „Drei Grundlehren vom Volk" (SAN M I N C H U YI) 1 3 0 . Die Nachrichten über die Reformbewegung in Peking veranlaßten Sun 1898, nach Ostasien zurückzukehren. Er ging zunächst nach Japan und dann nach Hongkong, wo er im Jahre 1900 vergeblich versuchte, mit japanischer Hilfe eine revolutionäre Bewegung in der Provinz Kuangtung in Gang zu bringen 131 . Das Scheitern der Reformbewegung von 1898 hatte dazu geführt, daß viele der früheren Reformisten jetzt bereit waren, sich den revolutionären, auf den Sturz der Monarchie zielenden Gedanken der „Hsing Chung Hui" zu nähern. Es gelang Sun während einer zweite Reise nach Europa 1904/05, unter den dort studierenden Chinesen Zellen seiner Bewegung zu gründen und darüber hinaus mit anderen revolutionären Verbänden in Kontakt zu 128

ibid., p. 26 f.

127

Leng/Palmer, op. cit., p. 19 und: Linebarger, The Political Doctrines of Sun Yat-sen (hinfort: Linebarger, Sun), op. cit., p. 133—145.

128

ibid., p. 136 ff. Vgl. hierzu: Ts'ui Shu-ch'in, „The Influence of the Canton—Moscow Entente upon Sun Yat-sens political Philosophy", in: „The Chinese Social and Political Science Review", 18. Jahrgang, N r . 1, 2 und 3, Peking 1934, p. 371 ff.; und: Leng/Palmer, op. cit., p. 24 f.

129 Vgl. Linebarger, Sun, op. cit., p. 142 ff. 130

Sun, VA, op. cit., Bd. I, p. 99. „Drei Grundlehren vom Volk" ist Gottfried-Karl Kindermanns Übersetzung des chinesischen Begriffes „San Min Chu Y i " (Kindermann, Konfuzianismus, op. cit.). Ihr wird hier gefolgt, weil ich sie für die mit Abstand beste Übertragung dieses Begriffes ins Deutsche halte.

131

T'ang, Revolution, op. cit., p. 29 ff.

FrühgesAichte und Programm der KMT

51

kommen 132 . Jetzt schien die Zeit gekommen, eine wirksamere Organisation aufzubauen. Nachdem Sun im September 1905 nach Tokio zurückgekehrt war, schlossen sich unter seinem Einfluß die „Hsing Chung Hui", die „Hua Hsing Hui" unter Huang Hsing und die „Kuang Fu Hui" in dem „Vereinigten Revolutionsbund Chinas" (Chung-kuo keming t'ung-meng-hui; hinfort: T'ung-meng-hui) zusammen. Dieser Verband stellte eine Geheimorganisation dar, deren Zentrale sich in Tokio befand. Bald entstanden Zweiggruppen in allen Provinzen Chinas außer in Kansu. Sie waren verpflichtet, periodisch über ihre Arbeit an die Zentrale zu berichten; die Mitglieder in China selbst kannten einander nur unter ihren Mitgliedsnummern; ihren Namen wußte außer den jeweiligen örtlichen Leitern niemand. An der Spitze des „T'ung-meng-hui" stand Sun Yat-sen selbst als „Parteiführer" (Tsung-li). Das Gründungsmanifest der „T'ung-meng-hui" forderte den Sturz der Mandschu-Dynastie, die Gründung einer Chinesischen Republik, eine gleichmäßige Verteilung des Bodens und den Abschluß eines Bündnisses zwischen China und Japan. Alle Länder sollten aufgerufen werden, sich an der Entwicklung Chinas zu beteiligen. Bei der Gründung betrug die Mitgliederzahl etwa 400, die meisten von ihnen in Japan studierende Chinesen. Im Jahre 1907 war sie bereits auf 7000 gestiegen und hatte um die Jahreswende 1911/12: 300 000 erreicht. Als zentrales Publikationsorgan wurde im Januar 1906 in Tokio die „Min Pao" (Volkszeitung) gegründet, zu deren Herausgebern man Wang Ching-wei, Chang P'ing-lin, Chu Chih-hsin und Hu Hanmin::" berief. In dieser Zeitung erschienen im Laufe des Jahres 1906 eine Reihe von Artikeln, die wesentlich zur Präzisierung der im Manifest und im Eid des Bundes bereits im Ansatz erkennbaren „Drei Grundlehren vom Volk" beitrugen133. Diese Theorie wurde von Sun in einer Rede vor 5000 chinesischen Studenten in Tokio am 16. Januar 1907 zum erstenmal offiziell formuliert. In der gleichen Rede entwickelte er auch seine Lehre von der „Fünf-Gewalten-Verfassung" (Wu-ch'üan hsienfa) und erklärte, daß sich der Ubergang Chinas zu einer verfassungsmäßigen Herrschaftsform in drei Stufen vollziehen müsse, wobei nach einer einleitenden Periode der Militärdiktatur für eine Ubergangszeit eine Erziehungsdiktatur der revolutionären Partei zu errichten sei,

132

ibid., p. 43. Zitiert nach: T'ang, Revolution, p. 49 (Übersetzungen wie bei allen Direktzitaten aus dem Englischen und dem Chinesischen d. Verf., wenn nidit anderweitig vermerkt).

133



Zur Organisation der „T'ung-meng-hui": vgl. T'ang, Revolution, p. 4 5 — 5 7 .

I. Kapitel: Prämissen

52

der dann die Periode der Verfassungsherrschaft folgen solle 134 . Chu Chih-hsin (1884 bis 1920), der die Methoden des Marxismus zur Analyse der politischen und ökonomischen Situation Chinas anwandte und 1906 in der „Min P a o " die erste chinesische Ubersetzung der zehn Forderungen des „Kommunistischen Manifests" veröffentlichte, hat in dieser Zeit wesentlich dazu beigetragen, daß Sun für die Lösung wirtschaftlicher Probleme sozialistische Vorstellungen adaptierte 135 . Dies stieß jedoch schnell auf Widerstand unter den Mitgliedern des Bundes, und der Parteiführer sah sich genötigt, seine Vorschläge für die Landverteilung und die Einführung staatskapitalistischer Wirtschaftsformen zunächst im Interesse der Bemühungen um den Sturz der Monarchie zurückzustellen. Nachdem eine Anzahl von Aufstandsversuchen in China, an denen sich der „T'ung-meng-hui" maßgeblich beteiligt hatte, gescheitert waren, traf die Erhebung in Wuch'ang am 10. Oktober 1911 die Revolutionäre unvorbereitet. Dennoch gelang es ihnen, sich schnell an die Spitze der Bewegung gegen die Dynastie zu stellen, und Sun, der sofort nach China reiste, übernahm — wie wir bereits sahen — die Leitung der ersten republikanischen Regierung in Nanking am 1. Januar 1912 1 3 6 . Nach seinem Rücktritt zugunsten Yüan Shih-k'ais Schloß sich der „T'ungmeng-hui" mit einer Reihe anderer revolutionärer Gruppen und einigen Geheimgesellschaften zur „Kuo Min T a n g " (Nationale Volkspartei) zusammen. Die neue Partei war daher sehr heterogen zusammengesetzt. Eine große Anzahl von Mitgliedern stand den sozialreformerischen Gedanken Suns skeptisch, ja, nicht selten sogar ablehnend gegenüber. Der nach dem Bruch mit Yüan von Sun und seinen Mitarbeitern geleitete Aufstand in Südchina im Sommer 1913 scheiterte, und der Parteiführer sah sich im September des gleichen Jahres erneut genötigt, China zu verlassen 137 . Im japanischen Exil löste er die K M T auf und gründete an ihrer Stelle die „Chinesische Revolutionspartei" (Chung-hua ke-mingtang), die wiederum den Charakter einer Geheimorganisation trug. Sun selbst übernahm das Amt eines alleinigen und unkontrollierten Parteiführers, unter dessen persönlicher Leitung ein exekutives Zentralbüro errichtet wurde 138 . Der Tod Yüan Shih-k'ais am 6. Juni 1916 schien den Revolutionären eine neue Chance in China zu bieten. Aber es bedurfte 134

Vgl. ibid., p. 45 ff.

135

ibid., p. 54. Vgl. hierzu auch: Chow, op. cit., p. 32 und 298.

138

Siehe oben, S. 31!

137

Vgl. u. a.: T'ang, Revolution, p. 116 ff.

138

ibid., p. 121 f.

Frühgeschichte

und Programm

der

KMT

53

noch eines achtjährigen Kampfes, ehe die Partei stark genug war, um diese Chance tatsächlich auszunutzen. Sun Yat-sens Theorie der Drei Grundlehren vom Volk, die schließlich zwischen 1917 und 1924 ihre uns heute bekannte Gestalt annahm, stellt einen Versuch dar, auf jene Fragen, die sich aus der außen-, innen- und wirtschaftspolitischen Lage Chinas in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ergaben, Antworten zu geben, mit deren Hilfe die Probleme des Landes gelöst werden sollten139. In seinem politischen Testament 140 hat Sun 1925 einen Katalog „kanonischer Schriften" aufgestellt, die der folgenden kurzen Darstellung seiner Lehre zugrunde liegen. Dazu gehört vor allem eine Sammlung von 16 zwischen dem 27. Januar und dem 24. August 1924 gehaltenen Vorträgen, die später — obgleich unvollendet — unter dem Titel „San Min Chu Y i " als Buch erschien141. Weiterhin wird man das am 12. April 1924 von Sun publizierte Programm „Grundlagen des nationalen Aufbaus" (Chien-kuo ta-kang) 142 und eine zuerst 1922 veröffentlichte Aufsatzsammlung unter dem Titel „Programm des nationalen Aufbaus" (Chien-kuo fang-lüeh)143 als Quellen hinzuziehen müssen. iss D i e beste heute in einer westlichen Sprache vorliegende Darstellung und Beurteilung der politischen Theorie Sun Yat-sens ist immer noch die von Paul Μ. A. Linebarger (Sun, op. cit.). Weiterhin sind vor allem die folgenden Studien zu beachten: Tai Chi-t'ao, Sun Wen chu-yi chih che-hsüeh te chi-ch'u (Grundlagen der Philosophie des Sunyatsenismus), Shanghai 1925 (deutsche Ausgabe, übers, v. Richard Wilhelm: Die geistigen Grundlagen des Sunyatsenismus, Berlin 1931); Maurice William, Sun Yat-sen Vs. Communism, Baltimore 1932; Ts'ui Shu-ch'in, op. cit.; Jair Hung, Les Idees Economiques de Sun Yat-sen, Diss. Toulouse 1934; Paschal Μ. d'Elia, The Triple Demism of Sun Yat-sen, Wuch'ang 1931; Leonard S. Hsü (Hsü Shih-lien), Sun Yat-sen: His Political and Social Ideas, Los Angeles 1933; Η . F. MacNair, China in Revolution, Chicago 1931, p. 7 8 — 9 1 ; Arthur N . Holcombe, The Chinese Revolution, Cambridge, Mass. 1931, p. 120—155, und Kindermann, Konfuzianismus, op. cit. 140

Vgl. hierzu Linebarger, op cit., p. 3—9. Der englische Text des Testaments von Sun Yat-sen findet sich u. a. bei: T'ang, Revolution, op. cit., p. 196; Sun, San Min Chu I, op. cit., p. I und Max Perleberg, Who's Who in Modern China, Hongkong 1954, p. 197.

141

ibid.

142

Englischer und chinesischer Text in: Sun Yat-sen, Fundamentals of National Reconstruction (Chien-kuo ta-kang), hrsg. v. Ts'ui Shu-ch'in, T'aipei 1953, p. 1—16. Englisch und Chinesisch: ibid., p. 19—54. Ein Gesamttext hierfür liegt in westlichen Sprachen nicht vor, ein wesentlicher Teil dieser Sammlung ist jedoch die 1922 — zuerst in Englisch! — erschienene Schrift: Sun Yat-sen, The International Development of China (Shih-yeh chi-hua), 1. Aufl. New Y o r k und London 1922, hier zitiert jüngste Auflage, T'aipei 1953.

143

54

I. Kapitel:

Prämissen

Die ideologischen Prinzipien des Sunyatsenismus verbinden westliches Gedankengut mit klassischen konfuzianischen Vorstellungen, von denen Sun stärker beeinflußt war, als im Westen oft angenommen wird144. Sie stellen sich zum Ikonoklasmus der leitenden Persönlichkeiten der intellektuellen Erneuerungsbewegung ebenso in Gegensatz wie zum Traditionalismus der T'ung-chih-Restauration und der Reformbewegung von 1898. Die erste Grundlehre — „Min-tsu Chu Yi" oder die Grundlehre vom Volkstum145 — betont, daß die notwendige Wiederherstellung der „ursprünglichen nationalen Größe Chinas" mit der „Erneuerung der moralischen Wertvorstellungen unserer Nation" zu beginnen habe146. Sun knüpft dabei an die herkömmlichen grundlegenden Tugenden der konfuzianischen Morallehre an: Loyalität und kindliche Ehrfurcht, aus dem Herzen kommendes Wohlverhalten (jen), Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit und schließlich Friedfertigkeit. Sie sollen sich mit der Summe der sozialen und politischen Erfahrungen aus Jahrtausenden chinesischer Geschichte und der Bereitschaft zur Anwendung westlich-naturwissenschaftlicher Methoden zu einer modernen chinesischen Gesellschaftsideologie verbinden147. Sun wandte sich mit Entschiedenheit gegen kosmopolitische Gedankengänge, wie sie damals unter den chinesischen Intellektuellen verbreitet waren148. Das mit der Grundlehre vom Volkstum verbundene praktisch-politische Programm umfaßte die Befreiung der Chinesen von der Vorherrschaft der Mandschus, die Herstellung der Gleichberechtigung aller in China lebenden Völkerschaften — von denen Sun allerdings nur die „Han" (die Chinesen im engeren Sinne), Mongolen, Tibetaner und Mandschus nennt —, die Beseitigung der ungleichen Verträge und die Liquidierung aller Vorrechte der Mächte in China149. 144 Vgl. hierzu: Linebarger, Sun, op. cit., p. 66 ff., 90 ff. und 113 ff.; und Kindermann, Konfuzianismus, op. cit., p. 3 0 — 3 8 . 145

Die Übersetzung von „Min-tsu chu-yi'" als „Grundlehre vom Volkstum" ist von Kindermann (Konfuzianismus, op. cit. passim) übernommen. Sie trifft die chinesische Bedeutung noch am Besten. „Min" bedeutet „Volk, Menschheit" (R. H . Mathews, Chinese-English Dictionary, 2. Aufl. Cambridge, Mass. 1962,

Ideogramm

4.508,

p. 631), „tsu" bedeutet „Clan, Stamm, Familie, sammeln" (ibid., Ideogramm 6.830, p. 1.005), also „Volks-Familie" oder „Volks-Rasse", „Volksstamm", audi die Bezeichnung für „Nationalität" im Sinne von „Minderheit". 146

Sun, San Min Chu Yi, op. cit., p. 37. Vgl. hierzu: ibid., p. 3 6 — 5 0 und Linebarger,

147

ibid., p. 81.

148

Sun, San Min Chu Yi, p. 16 u. 38.

149

Vgl. hierzu: Linebarger, Sun, p. 157—208.

Sun, op. cit., p. 6 7 — 7 4 .

Frühgeschichte

und Programm

der

KMT

55

Vor der „Revolution" von 1911 waren die Akzente in diesem Zusammenhang vorwiegend anti-mandschurisch gesetzt und nahmen vieles von der Ideologie der traditionellen Geheimgesellschaften auf. Während des ersten Weltkrieges und vor allem nach den Enttäuschungen, die China auf der Versailler Friedenskonferenz erlebte, wurden hingegen die anti-imperialistischen Tendenzen im Programm der K M T immer deutlicher. Unter dem Eindruck des Bündnisses mit der Sowjetunion und den Kommunisten begann Sun kurz vor seinem Tode, den marxistischen Begriff des Klassenkampfes aufzunehmen, den er jedoch auf die Auseinandersetzung zwischen Weißen und Farbigen, unterdrückten Nationen und imperialistischen „HerrenVölkern" übertrug. Allein in diesem Zusammenhange konnte er dann schließlich die chinesische Revolution zum „Teil der Weltrevolution" erklären, aber dieser Begriff hatte für ihn die Bedeutung der nationalen Emanzipation der Völker und nicht diejenige der internationalen Emanzipation des Proletariats150. „Min-ch'üan Chu Yi", die Grundlehre von der Volksmacht151, fordert einen modernen, stark an westlichen Vorbildern orientierten Verfassungsstaat152. Dieser soll jedoch — im Unterschied zu den Grundsätzen westlicher Demokratie — nicht so sehr die Freiheit des einzelnen als vielmehr das Recht des Volkes, seine Macht auszuüben, sichern153. Diese Macht ist nur dann real, wenn das Land frei von ausländischer Unterdrückung wird; denn die Volksmacht drückt die Freiheit der Nation in ihrer Gesamtheit aus, ohne diese Freiheit gibt es jene nicht. Deshalb kann die zweite Grundlehre vom Volk erst dann verwirklicht werden, wenn die Prinzipien der ersten in die Tat umgesetzt sind: die nationale Befreiung geht der politischen notwendig voraus154. So wird Volksmacht zum vornehmsten Ausdruck des befreiten Volkstums. 150 151

Vgl. ibid., p. 192 ff., vor allem aber audi: Sun, San Min Chu I, p. 21—27. Kindermann (Konfuzianismus, op. cit., passim) übersetzt „Min-ch'üan Chu Yi" mit „Grundlehre von den Volks rechten". Er orientiert sich dabei an dem Begriff „chunch'üan". Nach Mathews (op. cit., Ideogramm 1.663 a, p. 235) bedeutet „ch'üan": „Angeborene Rechte, Autorität, Macht, Einfluß". Ich ziehe es vor, mich an dem Begriff „chih-ch'üan" zu orientieren, und deshalb „Grundlehre von der Volksmacht" zu übersetzen. In der Lehre vom „min-di'üan" sind außerdem nicht nur die „vier Rechte" des Volkes enthalten, sondern auch die „fünf Funktionen" der Regierung. Weiter sei darauf hingewiesen, daß Sun „ch'üan" und „neng" unterscheidet, wobei „ch'üan" klar als „Potenz, Macht" zu verstehen ist. Schließlich ist das chinesische Wort für „Großmacht": „Ch'iang-ch'üan".

152 Vgl. hierzu: Linebarger, Sun, op. cit., p. 86—121. 153 154

Sun, San Min Chu I, p. 76 f. Vgl. Linebarger, Sun, p. 99.

I. Kapitel:

56

Prämissen

Im Staat, dessen Aufbau von den Drei Grundlehren bestimmt wird, soll das Volk die ungeteilte Gewalt ausüben. Aber an dieser Stelle fügt Sun die Unterscheidung von „Macht" (ch'üan) und „Fähigkeit" (neng) ein: das Volk hat die „Macht" — Suns offizielle Ubersetzer sprechen von „Souveränität" —, die Regierung dagegen die „Fähigkeit" oder Kompetenz zur Ausübung der Macht im Namen des Volkes. Das Volk ist der Ingenieur, die Regierung die Maschine, welche das durchführt, was das Volk will, sie ist der Taxichaufieur, dem der Fahrgast, das Volk, das Ziel der Fahrt angibt, der aber unterwegs das Steuer in der Hand hat155. Das Volk übt seine Macht aus, indem es die aus schweizerischen und amerikanischen Vorbildern abgeleiteten Rechte der Wahl und der Abberufung aller Amtsträger, der Gesetzesinitiative und des Volksentscheids in Anspruch nimmt156. Die Regierung hingegen hat bei Sun fünf Funktionen: den klassisch-europäischen der Legislative, Exekutive und Judikatur werden die traditionell-chinesischen der Rekrutierung administrativen Personals durch Prüfungen und der Zensur hinzugefügt. In fünf gleichgeordneten und voneinander unabhängigen, wohl aber einander kontrollierenden Organen (Yüan) sollen diese Regierungsfunktionen ausgeübt werden157. Um in China einen Verfassungsstaat zu errichten, in dem das Volk seine vier politischen Rechte ausüben und die fünf Organe der Regierung ihre Funktionen in geordneter Weise erfüllen können, bedarf es der Revolution. Sie vollzieht sich nach Sun in drei Stufen: Zunächst erobert die revolutionäre Partei die Macht im ganzen Lande und errichtet zu diesem Zweck eine Militärdiktatur (diün-cheng shihch'i). Wenn das Land geeint ist, sollen die Leitungsinstanzen der K M T die Führung des Staates übernehmen und eine Periode der Erziehungsdiktatur (hsün-cheng shih-ch'i) einleiten. An deren Ende steht dann die Zulassung anderer politischer Gruppen, die Wahl einer Nationalversammlung und die Verabschiedung einer endgültigen Verfassung, welche die Ordnung für das Endstadium des Verfassungsstaates (hsien-cheng shih-ch'i) festlegt158. Obgleich nicht voll systematisiert, lassen sich ähnliche Vorstellungen einer Stufenfolge der politischen Entwicklung auch bei Kemal Atatürk 155

Sun, San Min Chu I, p. 132 ff., besonders p. 134.

158

ibid., p. 1 4 2 — 1 4 6 ; Sun, Fundamentals, op. cit., p. 9 und 53.

157

ibid., p. 1 9 — 5 4 und Sun, San Min Chu I, p. 1 4 5 — 1 4 8 . Vgl. hierzu: Linebarger, Sun, op. cit. p. 2 2 1 — 2 2 7 .

158

Sun, Fundamentals, op. cit., p. 1 0 — 1 6 .

Frühgeschichte

und Programm

der

KMT

57

nachweisen159. Im Unterschied zu Sun hält jener zum Teil jedoch an den Ordnungsvorstellungen des kontinental-europäischen Parlamentarismus fest. Suns „Nationalversammlung" dagegen hat wohl legislatorische Vollmachten, die Exekutive aber soll bei ihm wesentlich größere Selbständigkeit besitzen als in parlamentarisch regierten Ländern160. Die Grundlehre vom Volkswohl — „Min-sheng Chu Yi" — blieb der unklarste und deshalb für exegetische Kontroversen anfälligste Teil der politischen Theorie Sun Yat-sens161. Dazu trug nicht zuletzt auch die Tatsache bei, daß er nicht mehr in der Lage war, seine Interpretation dieser Lehre zuende zu führen162. Volkswohl, das ist bei Sun identisch mit der Sicherung von vier grundlegenden Notwendigkeiten für das Volk: Ernährung, Kleidung, Wohnung und Verkehrsmittel163. Um die ausreichende Versorgung mit diesen „Vier Notwendigkeiten" zu gewährleisten, will Sun „vier friedliche Methoden" benutzen: soziale und wirtschaftliche Reform, Nationalisierung der Transport- und Verkehrsmittel, direkte Besteuerung und „sozialisierte Verteilung" — d. h. Aufbau eines Systems von Genossenschaften164. Die soziale und wirtschaftliche Reform soll sich vor allem auf zwei Wegen vollziehen: durch die gleichmäßige Verteilung des Landbesitzes und die Beschränkung des Privatkapitals165. In der gleichmäßigen Verteilung des Landbesitzes sieht Sun eine wesentliche Voraussetzung für die Hebung des Lebensstandards weiter Teile der Bevölkerung. Er will sie jedoch nicht durch eine einschneidende Agrarrevolution — Beschlagnahme des großen Grundbesitzes und Neuverteilung unter den Bauern — erreichen, sondern durch die Erhebung von hohen Steuern auf den Wertzuwachs des Besitzes solcher Grundherren, die nicht auf dem Lande selbst arbeiten, durch die Festsetzung gesetzlicher Höchstpachten, die etwa 25 % unter dem ursprünglichen Durchschnitt der Pachtsätze liegen, und gegebenenfalls dadurch, daß der Staat zwangs159 Siehe oben, S. 5 f. ιβο v g l . u_ a . : Sun, Fundamentals, p. 49. 161 Ich folge hier wiederum aus dem oben (Anm. 10) bereits angegebenen Grunde der Übersetzung von Kindermann (Konfuzianismus, op. cit., passim). Nach Mathews (op. cit., Ideogramm 5.738, p. 795) bedeutet „sheng": „Leben, Lebensunterhalt, geboren werden, hervorbringen", „min-sheng" wäre wörtlich am besten mit „gesichertes Leben des Volkes" zu übersetzen. 162 183

Vgl. Sun, San Min Chu I, p. 212; auch: T'ang, Revolution, op. cit., p. 171 f. Sun, Fundamentals, p. 9; San Min Chu I, p. 185 ff.

164

ibid., p. 157 ff. und 171.

165

ibid., p. 177—183.

58

I. Kapitel:

Prämissen

weise Land aufkauft und dies zu günstigen Bedingungen an bisherige Pächter weitergibt. Auf diese Weise hofft Sun, schrittweise und ohne Gewalt die von ihm zuerst ausgegebene Parole „Das Land dem Pflüger!" (Keng-die yu chi t'ien!) zu verwirklichen. Der Beschränkung des Privatkapitals dienen die Einführung einer Einkommensteuer, die Verstaatlichung der Bodenschätze, des Lebensmittel-Großhandels, des Transportund Verkehrswesens und der Banken, sowie unmittelbare Investitionen des Staates in solchen Industriezweigen, in denen die privaten Investitionen für die Bedürfnisse des Volkes nicht ausreichen. Im übrigen soll dem privaten Besitz an Produktionsmitteln Spielraum gelassen werden. Selbst in der Landwirtschaft wird der Erhöhung der Produktion durch „Mechanisierung, Benutzung von Düngemitteln, Einführung der Fruchtfolge, Ungezieferbekämpfung, Konservierung von Lebensmitteln, Entwicklung des Transportwesens und Bekämpfung von Naturkatastrophen" 167 vor der gleichmäßigen Verteilung des Besitzes Vorrang gegeben. Die marxistische Klassenkampftheorie lehnt Sun, soweit sie sich auf Auseinandersetzungen innerhalb eines Volkes bezieht, mit unmißverständlicher Entschiedenheit ab168. In China gibt es, wie er meint, nicht „Arme und Reiche, sondern nur unerträglich Arme und sehr Arme" 169 . Klassenkampf würde nur die Kraft des Landes schwächen, Ziel der Drei Grundlehren vom Volk sei nicht die Veränderung der Klassenhegemonie, sondern die Verwirklichung einer Form der Klassenharmonie. Hier beruft sich Sun auf die konfuzianische Vorstellung von der „Umfassenden Gemeinschaft" (Ta T'ung), deren Herstellung in China und schließlich in der ganzen Welt das letzte Ziel seiner Lehre ist170. Grundlegender Unterschied zwischen dem Sunyatsenismus und der kommunistischen Ideologie bleibt, daß jener deutlich national bezogen ist, dieser dagegen internationalistisch und klassenbezogen. Suns Ablehnung des Klassenkampfes und die daraus folgende Verneinung der Diktatur des Proletariats sind nur die Konsequenzen aus diesem Gegensatz. Das Bündnis von 1923/24 mußte deshalb notwendigerweise ein Zweckbündnis bleiben, dem grundlegende und daher unüberbrückbare Differenzen von Anfang an innewohnten. 167

ibid., p. 188. Im einzelnen führt Sun dies ibid., p. 189—195, aus. ibid., p. 160—165. Vgl. hierzu u . a . : Linebarger, Sun, op. cit., p. 2 5 2 — 2 6 1 ; Leng/ Palmer, op. cit., p. 132 ff. William, op. cit., passim; und: Karl Wittfogel, Sun Yatsen: Aufzeichnungen eines chinesischen Revolutionärs, Wien/Berlin, o. J. (1927). 169 Zitiert bei: T'ang, Revolution, op. cit., p. 174. 170 Vgl. Kindermann, Konfuzianismus, op. cit., p. 36. 188

Frühgeschichte

und Programm

der

KMT

59

Ebenso aber waren die seit 1925 auftretenden inneren Spannungen der KMT in der Ideologie der Drei Grundlehren vom Volk vorgezeichnet. Die oft zweideutigen und für widersprüchliche Interpretationen offenen Formulierungen Suns gaben den unterschiedlichsten politischen Kräften Heimat in der KMT. Die Partei stand so schon früh vor Problemen, die denen heutiger nationalistischer Einheitsparteien ähnlich sind: Die Weite ihres politischen Spektrums machte künftige Fraktionskämpfe unvermeidlich. Diese Schwäche ergab sich nicht erst aus der politischen Praxis, sie ist ein unmittelbares Resultat der Theorie Sun Yat-sens. Die KMT verfügte aber zur Zeit des Bündnisschlusses mit den Kommunisten nicht nur über eine grundlegende politische Theorie, sondern darüber hinaus auch über einen von Sun im Winter 1918/19 ausgearbeiteten und 1922 in englischer Sprache zuerst veröffentlichten, recht konkret gefaßten Entwicklungsplan für China, niedergelegt in dem Buch des Parteiführers „The International Development of China" 171 . Für jeden „Entwicklungspolitiker" dürfte sich ein eingehendes Studium dieser Schrift empfehlen; denn in ihr findet sich die erste kohärente entwicklungspolitische Konzeption, die in und für Asien niedergelegt wurde. Sun fordert hier zur Bildung eines vom Völkerbund geleiteten Konsortiums aller westlichen Mächte auf, das die Mittel für die Finanzierung seines Entwicklungsplans aufbringen soll. Dieser Plan sieht vor allem die grundlegende Verbesserung der Infrastruktur Chinas vor. Suns Vorschläge gehen sehr ins Detail, er bringt aber selbst in der Einleitung zu der genannten Schrift eine Zusammenfassung, die hier ausreichen muß, um die Pläne, die er ausgearbeitet hatte, darzustellen: „Der Plan würde in etwa so aussehen: I. D i e Entwicklung des Verkehrswesens a) 100 000 (englische) Meilen Schienenwege b) 100 000 (englische) Meilen Asphaltstraßen c) Verbesserung bestehender Wasserwege 1. D e r Hangchou-T'iendiin-Kanal 2. D e r Hsikiang-Yangtzu-Kanal d) D e r Bau neuer Kanäle 1. D e r Liaoho-Sunghuakiang-Kanal 2. Andere noch zu entwerfende Projekte

171

D e r damalige amerikanische Gesandte in Peking, Paul S. Reinsch, bestätigt bereits am 17. März 1919 in einem Brief an Sun, daß er die Schrift „mit großem Interesse gelesen" habe (ibid., p. 314). Das Vorwort ist mit dem 25. April 1921 datiert (ibid., p. VIII).

60

I. Kapitel:

II.

III. IV. V.

VI. VII. VIII. IX. X.

Prämissen

e) Flußregulierung 1. Regulierung der Deiche und desFlußbetts vom Yangtzu-Fluß vonHank'ou bis zum Meer, um es Überseeschiffen zu ermöglichen, diesen Hafen zu allen Jahreszeiten zu erreichen 2. Regulierung der Deiche und des Flußbetts vom Huangho (Gelber Fluß) zur Verhütung von Überschwemmungen 3. Regulierung des Hsikiang 4. Regulierung des Huaiho 5. Regulierung verschiedener anderer Ströme f) Die Erweiterung des bestehenden telephonischen und drahtlosen Nachrichtensystems im ganzen Land Die Entwicklung von Handelshäfen. a) Der Bau von drei großen Seehäfen, deren künftiges Fassungsvermögen dem des Hafens von New York entspricht, in Nord-, Mittel- und Südchina. b) Der Bau mehrer kleinerer Handels- und Fischereihäfen an der Küste. c) Der Bau von Werften an allen schiffbaren Flüssen. Die Planung moderner Städte mit öffentlichen Einrichtungen an Eisenbahnknotenpunkten, Endpunkten und Häfen. Die Entwicklung von Wasserkraftwerken. Die Errichtung von Eisen-, Stahl- und Zementfabriken größten Ausmaßes zur Deckung jenes Bedarfs, der durch die Inangriffnahme der obengenannten Projekte entstehen wird. Erschließung der mineralischen Bodenschätze. Entwicklung der Landwirtschaft. Bewässerungsanlagen größten Ausmaßes in der Mongolei und in Hsinkiang. Wiederaufforstung in Mittel- und Nordchina. Die Kolonisierung der Mandschurei, der Mongolei, Hsinkiangs, Kukunors und Tibets 172 ."

Rüdegrat des Entwicklungsplans sind die Vorschläge Suns zum Ausbau der Verkehrswege, insbesondere des Eisenbahnnetzes, welche den größten Teil der Schrift umfassen173. Sun schlägt vor, seine Gesamtkonzeption im Detail von internationalen Expertenstäben ausarbeiten zu lassen, welche das erwähnte Konsortium der Industrieländer des Westens beruft und überwacht. In den Kanzleien Europas und der USA wurde dieser groß angelegte Entwurf zu dem, was wir heute „multilaterale Entwicklungshilfe" nennen würden, jedoch nur belächelt174. Bereits die ersten Stellungnahmen von westlichen Ausländern aus dem Jahre 1919, die Sun im Anhang zu 172

173

ibid., p. 5—7. (Ich folge mit der deutschen Übersetzung hier Kindermann, Konfuzianismus, p. 132 f.)

ibid., p. 11—245. 174 Vgl. hierzu: T'ang, China, op. cit., p. 216 f.; Gustav Amann, Sun Yat-sens Vermächtnis, Berlin 1928, p. 63 und T'ang, Wang, op. cit., p. 76 ff.

FrühgeschiAte

und Programm

der

KMT

61

seinem Buch abdrucken ließ 175 — unter ihnen der amerikanische Gesandte in Peking, Paul S. Reinsch, der Handelsminister der USA- William C. Redfield und der italienische Heeresminister, General Caviglia — konnten deren Skepsis kaum verhehlen. Der Entwicklungsplan Sun's blieb im wesentlichen unbeachtet. Dies war nur eine in einer Reihe von Enttäuschungen, welche die Westmächte dem Parteiführer der K M T bereiteten. Schon im Jahre 1904 verklang ein Appell um Unterstützung an das amerikanische Volk ungehört 176 . Ähnlich erging es Versuchen Sun's, 1906 und 1911 Unterstützung aus Frankreich und Großbritannien zu bekommen 177 . Aus den Jahren 1918 bis 1921 datieren eine Anzahl vergeblicher Vorstöße Sun's und der K M T , westliche Hilfe zu erlangen 178 . Noch 1921 erbat er in einem Brief an den Präsidenten der USA, Warren G. Harding, die amerikanische Anerkennung für seine Gegenregierung in Kanton, erhielt aber einen abschlägigen Bescheid179. Auch seine ständig wiederholten Bemühungen um japanische Hilfe blieben erfolglos 180 . Die Mächte zogen es vor, jene Cliquen regionaler Militärmachthaber zu unterstützen, die einander in der Herrschaft über die Hauptstadt Peking ablösten 181 . Eine Anzahl von Emissären, die Sun zwischen 1917 und 1922 nach London, Paris, Washington und Rom sandte, wurden kaum angehört oder gar nicht empfangen; denn er galt zu jener Zeit in den Augen vieler westlicher „China-Kenner" als quantite n^gligeable. Ein letzter Versuch, noch im Sommer 1923 wenigstens die deutsche Wirtschaft zum Engagement in China zu bewegen, schlug ebenfalls fehl 182 . So fand die Jahreswende 1922/23 Sun Yat-sen bereit, jede Unterstützung anzunehmen, ganz gleich, wer sie auch immer anbot — und zu diesem Zeitpunkt trat die UdSSR auf den Plan. 175

Sun, International Development, op. cit., p. 3 1 4 — 3 3 0 .

176

Sun Yat-sen, True Solution of the Chinese Question, Honolulu 1904, erwähnt bei Kindermann, Konfuzianismus, p. 42.

177

Vgl. Leng/Palmer, op. cit., p. 29 f.

178

ibid., p. 30 f.

179

Papers Relating to the Foreign Relations of the United States 1921, Washington, Dept. of State 1936, Bd. I, p. 336.

180

Vgl. hierzu u . a . : Sun Yat-sen, The Vital Problem of China, 2. Aufl. T'aipei 1953, p. 1 3 5 — 1 7 4 und: Leng/Palmer, op. cit., p. 32 f.

181

Vgl. hierzu audi: ibid., p. 4 0 — 4 7 .

182 Vgl. J a s b e i Kindermann (Konfuzianismus, op. cit., p. 137 f.) abgedruckte Dokument (Brief Sun Yat-sens an seinen in Deutschland weilenden Anhänger Teng Chia-yen).

I. Kapitel:

62

Die KMT im Kampf

Prämissen

mit den

Militärmachthabern

Als nach dem Tode Yüan Shih-k'ais am 6. Juni 1916 Li Yüan-hung die Präsidentschaft in Peking übernahm, kehrten Sun und andere führende Mitglieder der „Ke-ming tang" aus dem Exil nach China zurück und erklärten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung. Sie bestanden aber darauf, daß die alte Nationalversammlung von 1913 wieder eingesetzt würde, ein Verlangen, dem Li und sein Premierminister Tuan Ch'i-jui schließlich nachgaben183. Als dieser jedoch am 14. März 1917 gegen den Protest Suns die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich abbrechen ließ, entwickelte sich schnell ein neuer Konflikt. Als Tuan am 14. Juli von neuem zum Premierminister ernannt wurde, schritt dieser zur Auflösung der Nationalversammlung durch Dekret. Damit war der Bruch zwischen der „Ke-ming tang" und der Pekinger Regierung endgültig vollzogen. Die Kriegserklärung an das Deutsche Reich vom 14. August 1917 184 vollzog Sun nicht mehr mit, und am 25. August traf sich in Kanton eine große Anzahl von Mitgliedern der Nationalversammlung von 1913, die am 30. August die Bildung einer „Militärregierung der Republik China" (Chung-hua-minkuo chün-cheng-fu) beschlossen. Am 1. September wählten sie Sun zum „Generalissimus der Land- und Seestreitkräfte" (Hai-lu-chün ta-yüanshoai) und die mit ihm verbündeten regionalen Militärmachthaber von Yünnan und Kuangsi, T'ang Chi-yao und Lu Jung-t'ing, zu seinen Stellvertretern. Schon im Oktober begann der Bürgerkrieg gegen die Zentralregierung. Doch bald stellte sich heraus, daß selbst im Lager Sun Yat-sens Meinungsverschiedenheiten bestanden. Innerhalb des Rumpfparlaments in Kanton bildete sich eine gegen Sun agitierende Gruppe 185 . Ihr gelang es, am 20. Mai 1918 an die Stelle des „Generalissimus" ein „Militärdirektorium" zu setzen, dem neben den „Ke-ming tang"-Mitgliedern Sun, T'ang Shao-yi und Wu T'ing-fang auch die Militärmachthaber Lu Jung-t'ing, T'ang Chi-yao, Lin Pao-yi und Ch'en Ch'un-hsüan angehörten186. Der Letztere hatte einen Geheimvertrag mit Hsü Shih-ch'ang in Peking abgeschlossen, demzufolge Sun ausgeschaltet und zwischen Peking und Kanton Frieden geschlossen werden sollte. Hsü wollte die Präsidentschaft, Ch'en die Vizepräsident183

Li, op. cit., p. 356 ff.

184

ibid., p. 373.

185

So Chang Chih-pen in einem Interview mit dem Verfasser in T'aipei am 6. Juli

180

ibid., p. 387.

1963. Vgl. hierzu: Li, op. cit., p. 385 ff.

Die KMT im Kampf

mit den Militärmachthabern

63

schaft in einer neuen Einigungsregierung übernehmen 187 . Sun Yat-sen verließ bereits am 21. Mai Kanton und begab sich über Japan nach Shanghai, wo er am Gedenktag des Aufstandes von Wuch'ang, am 10. Oktober 1919, die „Ke-ming tang" in „Nationale Volkspartei Chinas" (Chung-kuo Kuo-min tang; K M T ) umbenannte 188 . Jetzt galt die Partei nicht mehr als Geheimverband. Die Leitung der K M T stand dem Parteiführer (Tsung-li), Dr. Sun Yat-sen, allein zu, der bei seinem Hauptquartier Abteilungen für Allgemeine Politische Angelegenheiten, Parteiangelegenheiten und Finanzen errichten sollte. Das neue Parteistatut sah außerdem zwar jährliche Parteikongresse (hui-i) vor, gab aber über deren Einberufungsmodus keinerlei Auskunft 189 . Vom Herbst 1919 an bemühte sich Sun, Bündnisse mit solchen Militärmachthabern zu schließen, die als Gegner des „Direktoriums" in Kanton, das ohne ihn weiter amtierte, bekannt waren. Im Mai 1920 verließen seine Anhänger unter den Mitgliedern des Rumpfparlaments die südliche Hauptstadt, um sich endlich im September des gleichen Jahres in Chungking zu versammeln. Jetzt kehrte Sun nach Süd-China zurück, und nachdem der ihm treu gebliebene General Ch'en Ch'iung-ming am 29. Oktober Kanton erobert hatte, reiste er, zusammen mit seinen Mitarbeitern Wu T'ing-fang und T'ang Shao-yi, in diese Stadt, wo er am 1. Januar 1921 in einer Neujahrsansprache die Abschaffung der bisherigen Militärregierung und die Errichtung einer regulären Regierung der Republik China forderte. Die Reste der Nationalversammlung von 1913, die am 2. April in Kanton erneut zusammentraten, folgten dieser Aufforderung. Am 8. April beschlossen sie, eine „Regierung der Republik China" (Chung-huamin-kuo cheng-fu) zu bilden, und am 10. April wurde Sun von ihnen zum „Außerordentlichen Präsidenten" (Fei-ch'ang ta-tsung-t'ung) gewählt 190 . Sun bildete ein kleines Kabinett, in dem Wu T'ing-fang die Ministerien des Auswärtigen und der Finanzen, General Ch'en Ch'iung-ming 187 188

Interview mit Chang Chih-pen, 6. 7. 1963. Chang Chih-pen erklärte in dem erwähnten Interview, die Namensänderung der Partei im Herbst 1919 habe Sun Yat-sen ganz alleine entschieden.

189

Chinesisdier Text des Parteistatuts in: Ke-ming wen-hsien (Dokumente der Revolution), 38 Bände, T'aipei 1953 bis 1967, vor allem Band V I I I (1955) bis X X X (1964). Die Reihe wird fortgesetzt (hinfort: K M W H ) ; hier: Bd. VIII, p. 1—5. Vgl. hierzu: Tsou Lu, Kuomintang diien-shih, 2. Aufl. T'aipei 1958, p. 54 und 56 f. Dort finden sich audi sehr instruktive Organisations-Schemata.

100

Beschluß der außerordentlichen Sitzung der Nationalversammlung, Bd. VII, p. 97 f.

in:

KMWH,

64

I. Kapitel:

Prämissen

diejenigen des Inneren und der Militärangelegenheiten übernahm. Hsü Ch'ien* wurde Justizminister, T'ang Ting-kuang, ein Anhänger Ch'ens, Marineminister und Ma Chün-wu Generalsekretär des Präsidialamtes 191 . Mit dieser Regierung, die sich stärker als die Militärregierung von 1917 auf die K M T stützte, hoffte Sun, endlich eine Basis zur Verwirklichung seines Programms in China schaffen zu können. Machtpolitisch blieb er aber weiterhin auf wechselnde Kombinationen von südchinesischen Militärmachthabern angewiesen, die ihn jeden Augenblick im Stich lassen konnten, falls die Pekinger Zentralregierung oder irgendeiner der bedeutenderen Nord-Generale bessere Angebote als er selbst machten. Von ihnen hatte sich Marschall Wu P'ei-fu, inzwischen von Großbritannien und den USA wirksam unterstützt, die Provinzen zwischen Huanghe und Yangtzu unterworfen und ging zusammen mit seinem Freund Ts'ao K'un gegenPeking vor, um die dort seit 1917 herrschende„Anfu-Clique" Tuan Ch'i-juis zu vertreiben. Wus Unterbefehlshaber Sun Ch'uan-fang, der die Yangtzu-Mündung beherrschte, forderte am 15. Mai 1922 den Wiederzusammentritt der gesamten Nationalversammlung von 1913 und die Wiedereinsetzung Li Yüan-hungs als Präsidenten in Peking. Tatsächlich versammelten sich audi jene Mitglieder der alten Nationalversammlung, die 1918 mit Sun gebrochen hatten, am 1. Juni unter dem Schutz der Gewehre der Chihli-Armee Wu P'ei-fus in T'ienchin. Sie erklärten, daß die Versammlung von 1913 ihre Arbeit wieder aufnähme, und riefen „beide Präsidenten" — Hsü Shih-ch'ang in Peking und Sun in Kanton — auf, zurückzutreten, um damit den Weg zur Wiedervereinigung frei zu machen. Hsü verzichtete tatsächlich am 2. Juni auf sein Amt, worauf Wu den früheren Präsidenten Li Yüan-hung wieder zum Staatsoberhaupt der Zentralregierung machte. Suns Stellung schien zunächst nicht bedroht. Aber dies änderte sich schnell. Am 16. Juni 1922 unternahm sein Heeresminister und Armeebefehlshaber Ch'en Ch'iung-ming in Kanton einen Staatsstreich gegen ihn. Suns Wohnung wurde umstellt, und nur mit Mühe konnte er sich unter dem Schutz eines kleinen Verbandes von Kuangtung-Soldaten ins Gebäude des Marineministeriums am Hafen und von dort auf das Flagschiff der KMT-Marine retten, das Kanonenboot „Yung-feng", das später zu Ehren des Parteiführers „Chung-shan" getauft wurde 192 . Aus Shanghai eilte ihm sein 35 Jahre

191

Li, op. cit., p. 415.

192 Vgl. hierzu u. a.: Erklärung Suns zum Aufstand Ch'en Ch'iung-mings in: K M W H , Bd. VII, p. 1 0 2 — 1 0 4 ; Li, op. cit., p. 4 1 7 — 4 2 1 ; Leng/Palmer, op. cit., p. 40 und 4 6 ; T'ang, Revolution, p. 140 f. und Hollington K. Tong, Chiang Kai-shek, Soldier

Die sowjetische

Chinapolitik

bis Ende 1922

65

alter persönlicher Stabschef Chiang Kai-shek* zu Hilfe, und nachdem am 8. Juli auch die Besatzung dreier Kriegsschiffe gegen Sun gemeutert hatte, blieb den beiden, Sun und Chiang, nur noch die „Yung-feng". Mit ihr hielten sie sich unter heftigem Geschützfeuer noch einen Monat lang auf der Reede von Kanton. Dann aber, als Ch'en die zu ihrer Entlastung heraneilenden Verbände Hsü Ch'ung-chihs* geschlagen und nach Fukien zurückgeworfen hatte, entschlossen sie sich am 9. August 1922, an Bord ihres Schiffes nach Shanghai zu fliehen. Suns Bemühungen, mit Hilfe einiger Militärmachthaber andere zu vertreiben und so seine Herrschaft schließlich über ganz China auszudehnen, waren gescheitert. Nur wenige Getreue — darunter Chiang und Wang Ching-wei — sammelten sich um ihn, als er am 15. August, ein geschlagener Emigrant, in Shanghai eintraf.

Die sowjetische Chinapolitik bis Ende 1922 Die UdSSR trat in China nicht erst zu der Zeit auf den Plan, als Sun im August 1922 den Tiefpunkt seiner politischen Laufbahn erreicht hatte. Schon in den fünf vorangegangenen Jahren entwickelten sich Prinzipien und Methoden der sowjetischen Chinapolitik, die auf das sich abzeichnende Bündnis mit der K M T einwirkten 193 . Vor der Oktoberrevolution hat Lenin nur vereinzelt und keineswegs ausführlich zu chinesischen Fragen Stellung genommen194, so vor allem in einem Artikel aus dem Juli 1912, „Demokratie und Narodnikitum in China" 195 , mit dem er kritisch auf Ausführungen antwortete, die Sun unter dem Titel „Le deuxi^me pas de la Chine" in der Brüsseler sozialistischen Zeitung „Le peuple" veröffentlicht hatte196· Hier betonte Lenin, and Statesman, 2 Bde. London 1938. Hier zitiert nach der revidierten Neuauflage, T'aipei 1953 (in einem Band) p. 39 f. 183 Eine umfassende und sehr informative Darstellung der sowjetischen Chinapolitik bis 1924 gibt Allen S. Whiting, Soviet Policies in China 1917—1924, New York 1954. Ergänzend dazu sei auch auf die einleitenden Kapitel der Studie von Conrad Brandt, Stalin's Failure in China, Cambridge, Mass. 1958, hingewiesen, hier besonders p. 1—42, ebenso auf Leng/Palmer, op. cit., p. 52—59, u.a.m. 194 Vgl. hierzu u. a.: Whiting, op. cit., p. 10—23. i»5 Deutscher Text in: Lenin, Ausgewählte Werke in 12 Bänden, Wien—Berlin 1933, 186

5

Bd. IV, p. 317—323. Vgl. hierzu: Whiting, op. cit., p. 12 ff. Englischer Text: Sun Yat-sen, „China's Next Step", in: „Independent", Nr. L X X I I , v. Juni 1912, p. 1315 f. Domes

66

I. Kapitel:

Prämissen

daß es offenbar in Asien ein Bürgertum gäbe, das zur Durchführung einer bürgerlich-demokratischen Revolution fähig sei. Als vorläufig wesentliches revolutionäres Element Chinas bezeichnete er die armen Bauern, während das Proletariat ihm noch nicht genügend entwickelt schien. Die Politik des internationalen Sozialismus in China müsse daher: 1. die „reformistische Bourgeoisie" und Sun Yat-sen gegen monarchistische und „halbfeudale" Gruppen unterstützen; 2. die ausschließlich bürgerliche Revolution durch ein Programm für die Bauern stärken; 3. den Übergang Chinas zum Kapitalismus beschleunigen; und 4. gleichzeitig eine proletarische Kerntruppe heranbilden, welche die „kleinbürgerlichen" Aspekte im Programm Suns richtig zu stellen hätte 197 . Hier war skizzenhaft schon der Ansatz zu jener Theorie gegeben, die Lenin auf dem vom 19. Juli bis zum 7. August 1920 in Moskau stattfindenden Zweiten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (hinfort: Komintern) in seinen „Thesen zur nationalen und kolonialen Frage" entwickelte198. Die Ereignisse der Weltpolitik, so erklärte er hier, konzentrierten sich auf einen Mittelpunkt: den Kampf der „Weltbourgeoisie" gegen die Sowjetrepublik. In diesem Kampf seien nicht nur die Rätebewegungen in den westlichen Ländern, die vom Proletariat getragen würden, Verbündete der russischen KP, sondern ebenso auch alle nationalen Befreiungsbewegungen der Kolonien und der unterdrückten Völker, die sich durch bittere Erfahrung davon überzeugt hätten, daß es für sie nur eine Rettung gäbe: den Sieg der Sowjetmacht über den Imperialismus. Deshalb, so fuhr Lenin fort, sei es jetzt an der Zeit, daß ein enges Bündnis mit allen nationalen, bürgerlich-demokratischen Befreiungsbewegungen geschlossen würde. Die kommunistischen Parteien der Kolonien und Halbkolonien müßten hinfort vor allem diese Bewegungen unterstützen und darauf hinarbeiten, daß Bauernbewegungen im Osten einen revolutionären Charakter annehmen. Diese Zusammenarbeit mit nationalen, bürgerlich-demokratischen Bewegungen dürfe allerdings nicht zur Selbstaufgabe der Kommunisten führen. Sie sollten sich vielmehr in ihren Parteien, die selbständig bleiben müßten, auf m

ibid., p. 15. i»8 Vgl. hierzu vor allem: ibid., p. 42—58 und Brandt, op. cit., p. 3 ff. Text der Verhandlungen in: Der Zweite Kongreß der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921. Siehe auch: Leitsätze und Statuten zum II. Kongreß der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921; und: W. I. Lenin, Werke, Berlin-O 1959, Bd. 31, p. 132—139.

Die sowjetische Chinapolitik

bis Ende 1922

67

ihre spätere Aufgabe der Durchführung der proletarisch-sozialistischen Revolution vorbereiten199. Lenins Thesen stießen auf den entschiedenen Widerstand des indischen Delegierten Manabendra Nath Roy, der die Auffassung vertrat, die Komintern solle von Anfang an auf die Entwicklung kommunistischer Parteien in Asien und Afrika hinarbeiten, die sich sofort an die Spitze der revolutionären Bewegungen setzen müßten, da die bürgerlich-demokratischen Kräfte keine Massenbasis hätten und nicht bereit seien, die Agrarrevolution zu unterstützen. Nach heftigen Auseinandersetzungen entschloß man sich, Lenins Thesen, in denen — ein Entgegenkommen gegenüber Roy!— der terminus „bürgerlich-demokratisch" durch „nationalrevolutionär" ersetzt worden war, zusammen mit den inzwischen abgemilderten Thesen Roys zu verabschieden. Damit wurde ein Widerspruch geschaffen, der sich noch dadurch verschäfte, daß im stenographischen Bericht des Kongresses wiederum die ursprünglichen Thesen Roys, die der selbständigen Führung der Revolution in Kolonien und Halbkolonien durch die kommunistischen Parteien das Wort redeten, neben denjenigen Lenins erschienen200. Dieser Widerspruch sollte eine erhebliche Rolle in den Diskussionen innerhalb der KCT vor und während der Zeit ihres Bündnisses mit der KMT spielen. Dennoch hatten Lenins „Thesen" dem Kommunismus theoretisch einen neuen Weg erschlossen, der bald in China praktisch erprobt wurde. Aber die Politik der UdSSR gegenüber China bestand durchaus nicht nur aus Proklamationen zur revolutionären Taktik und deren Anwendung. Lenins Regierung wuchs vielmehr ab 1919/20 in das Erbe der klassischen russischen Ostasienpolitik hinein, die seit dem 17., vor allem aber seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem Wunsch bestimmt war, das sibirische Festland durch ein „glacis" — Mandschurei, Mongolei, Ostturkestan (Hsinkiang) — zu sichern, im ostasiatischen Raum einen eisfreien Hafen zu gewinnen und damit die Vormachtstellung Rußlands in Ostasien zu errichten. Aus dieser Politik ergaben sich Interessenkonflikte nicht nur mit China, sondern ebenso auch mit pazifischen Mächten, damals vor allem Großbritannien und Japan, später außerdem den USA. In den ersten zwei Jahren nach der Oktoberrevolution wurde diese traditionelle Linie von Moskau allerdings nicht befolgt. Die junge Sowjetmacht war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, galt es 1,9 200

5*

Vgl. ibid. Vgl. hierzu: Whiting, op. cit., p. 51 ff.

I. Kapitel:

68

Prämissen

doch, zunächst den Krieg gegen die Mittelmächte zu liquidieren und die eigene Herrschaft zu konsolidieren. Außerdem läßt sich in der sowjetischen Außenpolitik der ersten beiden Jahre nach 1917 ein idealistischer, auf das Zurückstellen der nationalen Interessen Rußlands gegenüber den internationalen der Weltrevolution gerichteter Zug erkennen. In einer Rede vor dem V. Rätekongreß in Moskau am 4. Juli 1918 erklärte der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Tschitscherin, die „Chinesische Ostbahn" Mandschurei—Harbin— Wladiwostok könne von China jederzeit zurückgekauft werden, die Sowjetregierung erkenne schon jetzt die chinesische Souveränität über die Bahn an und sei bereit, auch auf alle anderen russischen Vorrechte in China zu verzichten201. Diese Erklärung wurde am 25. Juli 1919 in einem Manifest des stellvertretenden Außenkommissars Lew Karakhan „an die chinesische N a tion und die Regierungen in Nord- und Südchina" präzisiert 202 . In diesem Manifest proklamierte die Sowjetregierung die Abschaffung aller ungleichen Verträge mit China, die Unterstellung der Sowjetbürger in China unter chinesische Gerichtsbarkeit und stellte in einem Absatz, der allerdings in der am 26. August 1919 von „Prawda" und „Iswestija" veröffentlichten Fassung fehlte, dafür in derjenigen, die endlich im März 1920 die Pekinger Regierung telegraphisch aus Irkutsk erreichte, wieder enthalten war 203 , folgendes fest: „Die Sowjetregierung

gibt dem chinesischen Volk, ohne irgendwelche

Gegenlei-

stungen zu verlangen, die Chinesische Ostbahn zurück, ebenso alle Konzessionen für Bergwerke, Forstwirtschaft, Goldminen, wie alle anderen Vorrechte, die China von der zaristischen Regierung, der Regierung Kerenski und den Briganten

Horvath,

Semjonow, Koltschak, den russischen Exgeneralen, Händlern und Kapitalisten abgezwungen wurden" 2 0 4 .

Dieses Manifest hatte zu einer Zeit, als die chinesische Öffentlichkeit unter dem unmittelbaren Eindruck der Enttäuschung durch die Beschlüsse der Versailer Friedenskonferenz stand, eine erhebliche propagandistische Wirkung. Allein, inzwischen war diese Sowjetmacht im Fernen Osten wieder präsent, und dies führte dazu, daß jetzt die machtpolitischen Aspekte der sowjetischen Ostasienpolitik deutlicher wur201 202

ibid., p. 28 f. und 139. Englischer Text u . a .

ibid., p. 2 6 9 — 2 7 1 .

Bd. I X , p. 1—9. 203

Vgl. hierzu u. a.: Whiting, p. 30 f.

204

ibid., p. 270.

Chinesisch und Englisch in:

KMWH,

Die sowjetische

Chinapolitik

bis Ende 1922

69

den. Ein zweites Manifest Karakhans vom 27. September 1920205 wiederholte zwar den Verzicht auf die Exterritorialität russischer Niederlassungen und die Extrajurisdiktion für russische Staatsbürger in China, schwieg sich aber über die Frage der Ostbahn aus und modifizierte so bereits erheblich das Angebot des Vorjahres. Inzwischen hatte sich offenbar in Moskau die Auffassung durchgesetzt, daß die Sowjetregierung russische Interessen in Ostasien zu vertreten habe. Dies bedeutete jedoch keinesfalls den Verzicht auf die Unterstützung revolutionärer Kräfte in China. Vielmehr vollzog sich die Chinapolitik der UdSSR in den folgenden Jahren gleichzeitig auf vier unterschiedlichen Linien: 1. bemühte man sich, den russischen Einfluß in den chinesischen Randgebieten, der während der Revolution verloren gegangen war, wiederzugewinnen. Diese Linie der sowjetischen Chinapolitik führte vor allem die Rote Armee aus, die im Sommer 1921 im Kampf gegen den zaristischen General Baron v. Ungern-Sternberg die Äußere Mongolei besetzte und dort eine von China unabhängige „Revolutionäre Volksregierung" in den Sattel hob, während ihre Versuche, auch den Distrikt von Iii in Hsinkiang unter sowjetische Kontrolle zu bringen, vorläufig scheiterten206. 2. setzte man alles daran, normale diplomatische Beziehungen zur Pekinger Zentralregierung aufzunehmen und sich so weiterhin Einfluß in der Mandschurei (hinfort chinesisch: Tungpei, d. h. der „Nordosten") zu sichern. Ausführendes Organ war hier das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, das „Narkomindel". Nach langwierigen Verhandlungen, die sich über nahezu drei Jahre hinzogen und an denen sich schließlich Karakhan selbst beteiligte, wurde am 31. Mai 1924 in Peking ein chinesisch-sowjetischer Vertrag unterzeichnet207. Darin verzichtete die UdSSR auf alle Sonderrechte in China, erkannte die völlige Rechtsgleichheit Chinas bei internationalen Verträgen an und gab einige Bergwerkskonzessionen zurück. Sie erreichte dafür die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die Errichtung einer gemeinsamen chinesisch-sowjetischen Verwaltung der Ostbahn unter sowjetischer Leitung und ein Stillhalteabkommen über die Äußere Mongolei. 205

Englischer Text u . a . : ibid., p. 272—275. Chinesisdi und Englisdi in: K M W H , Bd. I X , p. 9—17. soe Vgl. hierzu u . a . : Whiting, op. cit., p. 162—174; Cheng Tien-fong (Ch'en T'ienfeng), A History of Sino-Russian Relations, Washington 1957, p. 160—168; und: Xenia J. Eudin und Robert C. North, Soviet Russia and the East 1920—27, Stanford 1957, p. 121 ff. 207

Englischer Text u. a. bei: Whiting, op. cit., p. 276—282.

70

I. Kapitel: Prämissen

3. entschloß man sich ab 1920, in Anwendung von Lenins Theorie der nationalen Revolution in Kolonien und „Halbkolonien" revolutionäre Kräfte in China zu unterstützen, die im Gegensatz zur Pekinger Zentralregierung standen, mit der man zur gleichen Zeit zu verhandeln genötigt war. In diesem Bereich wirkte als Exekutivorgan vor allem die Komintern und das Zentralkomitee (hinfort: ZK) der KPdSU bzw. deren verschiedene Emissäre in China, aber auch das Narkomindel war zeitweilig beteiligt. Nicht von Anfang an war der chinesische Partner für diese Linie der sowjetischen Chinapolitik allein die K M T . 1921/22 gab es vielmehr Bestrebungen, neben ihr — oder sogar statt ihrer — General Ch'en Ch'iung-ming in Kanton und der Chihli-Clique Wu P'ei-fus Hilfe zu gewähren208. Erst ab 1923 konzentrierte man sich ganz auf Sun und die K M T . 4. schließlich wurde bei alledem nicht versäumt, für die Gründung und Entwicklung einer eigenen kommunistischen Partei in China Sorge zu tragen. Dies war Aufgabe der Komintern, die dabei von ihrer Gewerkschaftsorganisation, der Profintern, Hilfe bekam. So hatte schon die frühe Chinapolitik der UdSSR mannigfaltige Erscheinungsformen, und sie ging Wege, die zuweilen einander zu widersprechen schienen. Das Ziel aber war bei allen das gleiche: die Stärkung der eigenen Position in Ostasien, die man sich audi von der Förderung der chinesischen Revolution erhoffte.

Die Frühgeschichte des chinesischen Kommunismus' „Westsee-Konferenz" im August 1922

bis zur

Zur Zeit des ersten Weltkrieges gab es unter den Anhängern der „Fortschrittspartei" (Chin-pu tang) Liang Ch'i-ch'aos eine Reihe von Intellektuellen, die den Gedanken einer auf der Grundlage der traditionellen Gilden errichteten sozialistischen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung vertraten 209 . Aber alle diese Ansätze blieben zunächst erfolglos. Das änderte sich erst mit dem Sieg der Oktoberrevolution in Rußland, der von den Anhängern der intellektuellen Erneuerungsbewegung in ganz China, besonders aber an der „Pei-ta", mit großer Leidenschaft begrüßt wurde. Unter diesem Eindruck gründete Li Ta-chao im Frühjahr 1918 in Peking eine „Gesellschaft zum Studium des Sozialismus" 208

809

Vgl. ibid., p. 116—121; Brandt, op. cit., p. 19 und 24 f. und Wilbur/How, op. cit., p. 139 f. Chow, op. cit., p. 217 und 231 ff.

Die Frühgeschichte

des chinesischen

71

Kommunismus

(She-hui-chu-yi yen-chiu-hui), an der sich eine Anzahl von Studenten — unter ihnen bald audi Mao Tse-tung* — beteiligten 210 . Hier wurde neben anderen sozialistischen Theorien auch der Marxismus diskutiert, ohne daß man ihn jedoch akzeptierte. Erst unmittelbar nach dem 4. Mai 1919 erschien im Parteiorgan der „Chin-pu tang", der Pekinger „Morgenpost" (Tsao-pao), vom 9. Mai bis zum 1. Juni in Fortsetzungen die chinesische Ubersetzung von Marx' „Lohnarbeit und Kapital", der in den nächsten Monaten Ubersetzungen fast aller wichtigeren marxistischen Schriften folgten 211 . Am 15. Mai desselben Jahres bekannte sich dann Li Ta-chao in einem Artikel in Ch'en Tu-hsius Zeitschrift „Neue Jugend" (Hsin ch'ing-nien) offen zum Marxismus 212 . Ihm folgte bald auch Ch'en Tu-hsiu selbst, der sich schon Anfang 1919 dem Kreis um Li genähert hatte 213 und der Ende 1919 von Peking nach Shanghai ging, wo er, um die neue Lehre weiter zu verbreiten, im Mai 1920 einen marxistischen Zirkel gründete 214 . Diese Gruppe, der u. a. Tai Chi-t'ao* und der Anarchist Shen Hsüan-lu angehörten, gab sich bereits den Namen „Kommunistische Partei Chinas" (Kung-ch'an Tang; K C T ) . Sie errichtete eine provisorische Zentralorganisation mit Ch'en als leitenden Sekretär und gab ab 15. August 1920 die Wochenzeitung „Arbeiterkreise" (Lao-tung chieh) heraus 216 . Inzwischen hatte Li Ta-chao im März 1920 seine Gruppe in eine „Gesellschaft zum Studium des Marxismus" (Ma-k'e-ssu hsüeh-shuo yenchiu-hui) umgewandelt 216 . 510

ibid., p. 187 und 243 ff. Chow führt den Nachweis, daß der Kreis zum „Studium des Marxismus"

nicht,

wie

Brandt,

Schwartz

und

Fairbank

noch

behaupten,

(Der Kommunismus in China, Eine Dokumentargeschichte, dtsche. Ausgabe München 1955 [hinfort: B S F ] , p. 371), bereits im Frühjahr 1918 entstanden ist. Diese folgten einem Irrtum, dem der japanische Autor Kenichi H a t a n o erlag, als er die beiden von Li Ta-chao geleiteten Kreise verwechselte. Vgl. hierzu audi:

Stuart

Schräm, The Political Thought of Mao Tse-tung, N e w Y o r k 1963, p. 17 ff.; Wilbur/How, op. cit., p. 38 und Edgar Snow, Red Star over China, N e w Y o r k 1938, p. 149 ff. u. a. m. 211

Chow, op. cit., p. 298 f.

212

„Hsin Ch'ing-nien" (Neue Jugend) vom 15. 5. 1919.

213

Chow, op. cit., p. 216 und 243. Vgl. auch: Sdiwartz,

Chinese Communism and the

Rise of Mao, Cambridge, Mass. 1958, p. 1 2 — 2 7 und Ch'en Tu-hsiu, „Chu-yi yü nu-li" (Grundsätze und Wagnisse) in: „Hsin Ch'ingnien" vom 1. 12. 1920. 814 2,5

Wilbur/How, op. cit., p. 48 ff. So: Liu An-sheng,

Chung-kuo min-tsu min-chu ke-ming yün-tung shih chiao-

ch'eng (Textbuch zur Geschichte der nationalen, demokratischen Revolution Chinas), Suite, Shensi, 1941, p. 115, zitiert bei Brandt, op. cit., p. 20 f. Vgl. hierzu: Chow, op. cit., p. 248 f. " · ibid., p. 2 4 4 ; Wilbur/How, p. 49 f.

72

I. Kapitel:

Prämissen

Zu diesem Zeitpunkt schaltete sich die Komintern ein, da sie annahm, daß jetzt in China günstige Voraussetzungen f ü r die Gründung einer offiziellen kommunistischen Partei gegeben seien. Im Mai 1920 sandte sie Grigori Woitinski als ihren Vertreter nach China, den ein kommunistischer Chinese aus der UdSSR, Yang Ming-chai, begleitete 217 . Unter Woitinskis Einfluß wurden im August in Shanghai ein „Sozialistisches Jugendkorps" 2 1 8 und bald darauf in mehreren Provinzhauptstädten marxistische Zirkel gegründet. Währenddessen bemühte sich Ch'en Tu-hsiu um den Aufbau genuin kommunistischer Gruppen, deren Tätigkeit über das bloße Studium der marxistischen Theorie hinausgehen sollte. Solche Gruppen entstanden unter der Leitung Li Ta-diaos und Chang Kuo-t'aos im September 1920 in Peking, unter T'an P'ing-shan :: " und Ch'en Kung-po* im Oktober in Kanton und bald darauf auch unter Mao Tse-tung in H u n a n und Tung Pi-wu* in Hupei 219 . Insgesamt waren so innerhalb eines Jahres mit Hilfe von Ch'en und Woitinski in China sechs kommunistische Zweigorganisationen entstanden, während chinesische Studenten in Paris Anfang 1921 eine „Junge Kommunistische Partei Chinas" (Shao-nien Chung-kuo kung-ch'an-tang) bildeten 220 . So war der Boden f ü r die offizielle Gründung der K C T bereitet, die auf dem am 1. Juli 1921 in Shanghai beginnenden „I. Parteitag" stattfand. Zwölf — nach einigen Quellen elf oder 13 — Delegierte vertraten insgesamt 57 Parteimitglieder 221 . Für die Komintern nahm der Holländer Maring (recte Sneevliet) an dem Parteitag teil, auf dem die Meinungsverschiedenheiten zwischen den anwesenden Marxisten, Anarchisten, Sozialisten und radikalen Nationalisten mit großer Schärfe ausgetragen wurden 222 . Eine Fraktion unter Li Han-chün schlug vor, zunächst 217

Vgl. ibid., p. 79; C h o w , op. cit., p. 243 f.

218

ibid., p. 249.

2i· Vgl. hierzu: „A Brief History of the Chinese Communist Party", in: W i l b u r / H o w , op. cit., D o k u m e n t 1, p. 49 ff. und C h o w , op. cit., p. 249 f. 220 v g i . B r a n d t , The French Returned Elite, op. cit., p. 5. 221

Vgl. hierzu u . a . : W i l b u r / H o w , op. cit., p. 5 2 — 5 5 , 80 und 491 f., Brandt, op. cit., p. 22 und 2 4 ; Stuart R . Schräm, op. cit., p. 24 f. und Schwartz, op. cit., p. 34 ff. Übereinstimmend werden v o n allen Quellen als Delegierte M a o Tse-tung,

Chou

Fu-hai, Ch'en Kung-po, Chang Kuo-t'ao, Li Han-chün, Li Ta, H o Shu-heng, T u n g P i - w u , Ch'en T'an-ch'iu, Liu Jen-diing und P a o Hui-sheng genannt, einige geben außerdem noch Ch'en Wang-tao, andere W a n g Ch'iu-meng und T'ien E n - m i n an. 222 W i l b u r / H o w , ibid.; vgl. hierzu: Warren Kuo, „Documentation of the First C o n gress of the Chinese Communist Party", in: „Issues and Studies", T'aipei, Bd. I, N r . 2 v. N o v e m b e r 1964, p. 4 4 — 5 1 ; und Ch'en Kung-po, The Communist M o v e -

Die Frühgeschichte

des chinesischen

Kommunismus

73

das akademische Studium des Marxismus fortzusetzen und mit der Aufnahme aktiver Arbeit noch zu warten, die Mehrheit setzte jedoch die Bildung eines „Zentralbüros" (Chung-yang chü) durch, in das man Ch'en Tu-hsiu — der nicht anwesend war —, Chang Kuo-t'ao und Li Ta wählte. Das Amt des „Generalsekretärs" (Tsung-shu-chi) der neuen Partei wurde Ch'en Tu-hsiu übertragen, der die K C T bis zum August 1927 führte. Das kurz gefaßte Programm, das man auf dem Parteitag verabschiedete, bestand aus einigen medianisch übernommenen marxistischen Gemeinplätzen und betonte im übrigen die organisatorische und politische Selbständigkeit der KCT 223 . Sie mußte sich bald darauf mit der Aufgabe auseinandersetzen, die der Zweite Weltkongreß der Komintern den Kommunisten in Asien gestellt hatte: „im gegenwärtigen Stadium" die „nationalrevolutionären", bürgerlich-demokratischen Kräfte zu unterstützen. Praktisch bedeutete dies für die KCT, sich zur Zusammenarbeit mit der KMT zu entschließen. Hierzu war man in der Partei zunächst durchaus nicht geneigt. Man zog es vielmehr vor, sich dem Aufbau einer eigenständigen kommunistischen Arbeiterbewegung zu widmen. Ende 1920 waren in China bereits 200 000 Fabrikarbeiter und 185 000 Eisenbahner und Bergleute in Gewerkschaften organisiert224, die meist in enger Fühlung mit der KMT standen225. Jetzt bemühten sich die Kommunisten, auf die Gewerkschaftsbewegung Einfluß zu nehmen, und es gelang ihnen schnell, vor allem in Shanghai, Wuhan und bei den Eisenbahnern in Nordchina organisatorische Erfolge zu erzielen. In Kanton hingegen blieben die Gewerkschaften, die sich um die Mechanikerunion und die 1922 schon 230 000 Mitglieder zählende Kanton-Hongkonger Seemannsunion sammelten, weiterhin vorwiegend unter dem Einfluß der KMT, was vor allem auf der 1. Nationalen Arbeiterkonferenz deutlich wurde, die sich im Mai 1922 in der Hauptstadt der Regierung Sun Yat-sens versammelte226. Doch auch hier gelangen den Kommunisten im Laufe des Jahres 1922 Einbrüche, vor allem bei den Hongkonger Seeleuten und Hafenarbeitern. Unterdessen bemühte sich die Komintern weiter darum, die chinesischen Kommunisten zur Zusammenarbeit mit Sun Yat-sen

223 224

225 228

ment in China (M. A.-Thesis, Columbia-University 1924, hrsg. von Martin Wilbur, N e w York 1960). D i e Sdirift v o n Ch'en ist erst seit 1960 wieder bekanntgeworden. ibid., Anhang I. So: Ta Chen, (Ch'en Ta) „The Labor Situation in China", in: „Monthly Labor Review", N r . 6 v. Dezember 1920, p. 23. Vgl. Ma, op. cit., Bd. I, p. 142—156. Isaacs, op. cit., p. 65.

74

I. Kapitel: Prämissen

und seinen Anhängern zu bewegen. Noch auf der am 21. Januar 1922 in Moskau beginnenden „Ersten Konferenz der Werktätigen des Fernen Ostens" kam es indes zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den dort anwesenden Delegierten der K M T und den chinesischen Kommunisten 227 . Aber schließlich hatten die Anstrengungen der Komintern, ihre Generallinie der asiatischen Revolution bei der K C T durchzusetzen, Erfolg. Der II. Parteitag der KCT, der vom 16. bis zum 23. Juli 1922 bei Hangchou stattfand 228 und auf dem 20 Delegierte die inzwischen 123 Mitglieder vertraten, beschloß, eine Politik der Koalition mit der K M T bei Wahrung der organisatorischen Unabhängigkeit der Kommunisten — den sogenannten „Block von außen" (Tang-wai he-tso) — einzuleiten. Inzwischen war Moskau aber bereits einen Schritt weiter gegangen: Die Kominternführung hatte wiederum Maring nach China entsandt, um mit Sun Yat-sen Fühlung aufzunehmen. Dieser stellte, wahrscheinlich schon von dem Vertreter der Kommunistischen Jugendinternationale, Dalin, über dessen Gespräche mit Sun Yat-sen orientiert 229 , schnell fest, daß der Führer der K M T nur dann zu einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten bereit war, wenn diese in die nationalistische Einheitspartei einträten. Maring gewann Moskaus Unterstützung für seinen Plan, da die K C T hinfort nicht mehr neben sondern innerhalb der K M T arbeiten solle: die Konzeption des „Blocks von 827

228

229

Vgl. hierzu: Whiting, op. cit., p. 72—86 und Brandt, op. cit., p. 27 f. Der Name des leitenden KMT-Delegierten wird von Whiting — dem offiziellen Bericht (The First Congress of the Toilers of the Far East, Petrograd 1922, u. a. p. 61) folgend — mit „Tao" angegeben. Brandt nennt den ibid. (p. 153, 182, 192 und 194) festgestellten vollen Namen „Tao Sheng-tek" und weist darauf hin, daß es sich — nach Chang Kuo-t'ao, der angeblich selbst teilnahm — dabei vielleicht um Chang Ch'iu-pai gehandelt habe. Ma Ch'ao-chün teilte dem Verfasser in einem Interview am 11. Januar 1964 in T'aipei mit, daß Sun Yat-sen ursprünglich ihn gebeten habe, an dem Kongreß teilzunehmen. Wegen Mas Überlastung mit der Gewerkschaftsarbeit sei er dann jedoch nicht nach Moskau gereist, vielmehr sei an seiner Stelle ein Dr. Wang gegangen. Warren Kuo, „Questions about the Second Congress of Chinese Communist Party", in: „Issues and Studies", Bd. I, N r . 3 v. Dezember 1964, p. 48—55; Ders., „A Major Shift of Chinese Communist Strategy and Tactics", ibid., Nr. 4 v. Januar 1965, p. 43—68. Vgl. hierzu auch: Wilbur/How, op. cit., p. 58 ff., 82 f. und 492 f.; Brandt, op. cit., p. 29 f.; und Schwartz, op. cit., p. 38—45. Ort und Zeitpunkt dieses Parteitages waren lange Zeit kontrovers. Die meisten kommunistischen Quellen geben Mai oder Juli 1922 und Shanghai oder Hangchou als Ort an. Kuo (ibid., p. 51 ff.) weist nach, daß er zwischen dem 16. und 23. Juli 1922 am Westsee bei Hangchou stattgefunden haben muß. Siehe dazu unten, S. 78.

Die Beziehungen

Sun Yat-sens

zu den Kommunisten

bis Ende 1922

75

innen" (Tang-nei he-tso) war geboren worden. Inzwischen hatte sich die KCT bereits vor dem II. Parteitag von einer anarchistischen Mitgliedergruppe um Li Han-chün getrennt und sozialdemokratische und nationalistische Kräfte — unter ihnen Tai Chi-t'ao, Ch'en Kung-po und Chou Fu-hai* — waren von der KCT zur KMT übergegangen. Bemühungen der Parteiführung, zur Zusammenarbeit mit Wu P'ei-fu und Ch'en Ch'iung-ming zu gelangen, erwiesen sidi als Fehlsdiläge. Maring traf sich am 22. August 1922 am Westsee bei Hangchou mit den neugewählten Mitgliedern des ZK (Chungyang wei-yüan-hu) der KCT Ch'en Tu-hsiu, Li Ta-chao, Ts'ai Ho-shen, Chang Kuo-t'ao und Kao Chün-yu 2S0 . Diese wehrten sich zunächst gegen die in Moskau dekretierte Abweichung vom klassischen Dogma, durch welche die KMT jetzt plötzlich zu einer Mehrklassenpartei ernannt worden war, ließen sich dann aber, als Maring auf die Kominterndisziplin pochte, doch dazu überreden, der Politik des „Blocks von innen" zuzustimmen231. Damit war der Weg für das Bündnis der Kommunisten mit Sun Yat-sen und KMT frei.

Die Beziehungen Sun Yat-sens zu den Kommunisten bis Ende 1922 Nadi einigen Berichten hatte Sun im Herbst 1920 — noch in Shanghai — Gelegenheit zu einem Gespräch mit Grigori Woitinski, in dem er diesen über die Oktoberrevolution und das Rätesystem befragt und um die Errichtung eines starken Senders in Wladiwostok gebeten haben soll, über den die Verbindung zwischen Kanton und Moskau erleichtert werden könnte182. s,

° Diese Namen gibt Ch'en Tu-hsiu in: Kao di'üantang t'ung-diih shu (Ein Brief an alle Genossen der Partei), Shanghai 1929, p. 2 f., an. 831 ibid. Vgl. hierzu audi: Isaacs, op. cit., p. 59 f.; Wilbur/How, op. cit., p. 83 f. und 493; Sdiwartz, op. cit., p. 40; Warren Kuo, „Ideological Differences in the CCP Third National Congress", in: „Issues and Studies", Bd. I, Nr. 5 v. Februar 1965, p. 36. Bereits am 22. September 1922 wandelte die theoretisdie Wochenzeitschrift der KCT, „Hsiang-tao diou-pao" (Der Führer), ihre Taktik. In einem Artikel von Chih Yen, „Kuomintang shih shen-mo?" (Was ist die KMT?) wird zum ersten Mal die KMT objektiver dargestellt und ihr attestiert, daß sie „keine Klassenpartei" sei. Wörtlich in: Kung-fei huo-kuo shih-liao hui-pien (Gesammeltes historisches Material über den Angriff der Kommunisten auf unser Vaterland), vertrauliche Dokumentensammlung des nationalchinesischen Nachrichtendienstes, 3 Bde., T'aipei o. J. (1962/ 63?), (Hinfort: KCT-Dokumente), Bd. I, p. 51. 232 Wilbur/How, op. cit., p. 138 f. unter Berufung auf die „Prawda" v. 15. 3. 1925, dort zitiert nach North, op. cit., 1. Auflage 1953, p. 69—70.

76

I. Kapitel:

Prämissen

Über einen weiteren Kontakt Suns zur Sowjetregierung berichtet Whiting233: Im Oktober 1920 schrieb der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Tschitscherin, dem KMT-Führer einen Brief, in dem ein indirektes Bündnisangebot für die Kantoner Regierung enthalten war: „Ihr Land macht jetzt große Fortschritte, Ihr Volk beschreitet bewußt den Weg des Kampfes gegen das Joch des Imperialismus, der die Welt u n t e r d r ü c k t . . . Umgehend müssen zwischen uns Handelsbeziehungen aufgenommen werden. Wir dürfen keine Gelegenheit verpassen. Lassen Sie China entschlossen den Weg guter Freundschaft mit uns beschreiten 234 !"

Dieser Brief gelangte jedoch erst am 14. Juni 1921 in Suns Hand, der ihn am 28. August mit einem ausführlichen Schreiben an Tschitscherin beantwortete. Sun gab zunächst darin eine Schilderung der Lage in China aus seiner Sicht und sdhloß mit der kaum verhüllten Bitte um sowjetische Beratung: „Ich bin außerordentlich an Ihrer Arbeit interessiert, besonders an der Organisation Ihrer Sowjets, Ihrer Armee und Erziehung. Ich möchte alles wissen, was Sie und andere mir darüber berichten können, besonders über die Erziehung. Wie Moskau, so möchte auch ich bei der jungen Generation, den Arbeitern von morgen, die Grundlagen der chinesischen Revolution fest verankern 2 3 5 ."

Inzwischen war im Frühjahr 1921 der Sowjetbeauftragte Alexieff in Kanton eingetroffen und hatte dort eine Zweigstelle der „Rosta"-Nachrichtenagentur errichtet, die der KMT-Propaganda in China dienen sollte236. Von wesentlich größerer Bedeutung für das kommende Bündnis der KMT mit dem Kommunismus aber wurde eine Begegnung Suns mit dem Kominterndelegierten Maring im November 1921237. Am 10. August 233 Whiting, op. cit., p. 151—153 unter Berufung auf Lyon Sharman, Sun Yat-sen, His Life and Its Meaning, A Critical Biography, N e w York 1934, p. 234 f. und einen Artikel in „Bolschewik" v. 15. 10. 1950, p. 46, der in „Current Digest of the Soviet Press", Bd. II, N r . 43, p. 20 in englischer Übersetzung erschien. 234 Zitiert nach Whiting, ibid. 235 ibid., p. 153. Vgl. auch: Leng/Palmer, op. cit., p. 51. 238 ibid., p. 55. 237 Vgl. hierzu: Brandt, op. cit., p. 26 f.; Whiting, op. cit., p. 87; Leng/Palmer, op. cit., p. 55 f. und T'ang, Revolution, op. cit., p. 155. Nach Wilbur/How, op. cit., p. 139, die sich auf Wang Ching-wei — „Über die Trennung der Kommunisten von der K M T in Wuhan" in: Lang Ling-shih (Hrsg.), Ke-ming yü fan-ke-ming (Revolution und Gegenrevolution), Shanghai 1928, p. 593 — stützen, fand die Begegnung im August oder September 1921 statt. Dies ist jedoch unmöglich, da Sun erst am 15. November 1921 in Kueilin eintraf (Telegramm Suns an Ch'en Ch'iung-ming vom 15. 11.1921 in den unveröffentlichten Materialien des Parteiarchivs der K M T in

Die Beziehungen

Sun Yat-sens

zu den Kommunisten

bis Ende

1922

77

1921 hatte das Rumpfparlament in Kanton die Durchführung einer „Nordexpedition" gegen die regionalen Militärmachthaber in Zentralchina beschlossen. Um sie vorzubereiten, begab sich Sun Mitte Oktober von Kanton in die Provinz Kuangsi, in deren Hauptstadt Nanning er am 23. Oktober eintraf. Von dort reiste er nach Kueilin, und in dieser Stadt traf Maring ihn am 23. November. Anläßlich dieses Gesprädis und eines weiteren am 25. Dezember 1921 2 3 8 informierte Maring den Parteiführer der K M T über die revolutionären Methoden der Bolschewisten und über Lenins „Neue ökonomische Politik". Darüber hinaus riet er Sun, vor allem eine wohlorganisierte Partei aufzubauen, die mit den Bauern und Arbeitern verbunden sein müßte, und die über eigene Streitkräfte verfügen sollte. Audi die Gründung einer revolutionären Militärakademie wurde bereits zu dieser Zeit von Maring empfohlen. Während sich der Kominternvertreter über das Gespräch enttäuscht äußerte 239 , war Sun offenbar tief beeindruckt. Kurze Zeit später schrieb er an Liao Chung-k'ai ;; ": „Ich war sehr skeptisch, ob der Marxismus — reiner Kommunismus — nach der sowjetischen Revolution verwirklicht werden könnte; denn die Welt ist jetzt in einer Periode der kapitalistischen Hochflut. . . Jetzt habe ich gerade von Maring gehört, daß Sowjetrußland, nachdem es Experimente mit dem Kommunismus durchgeführt hat, in große Schwierigkeiten geriet und deshalb zur Neuen ökonomischen Politik übergegangen ist. Der Geist dieser Neuen ökonomischen Politik stimmt mit der Grundlehre vom Volkswohl, wie ich sie lehre, überein 240 ."

Dennoch hatte das Treffen in Kueilin keine unmittelbare Wirkung, obgleich Sun sich bereitfand, Vertreter der K M T zur „Ersten Konferenz der Werktätigen des Fernen Ostens" nach Moskau zu entsenden 241 . Innerhalb der Komintern gab es darüber, wie man sich zu Sun und der K M T stellen sollte, in jener Zeit erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Lenin, Bucharin und mit ihnen Maring empfahlen eine Politik der Zusammenarbeit mit der K M T , während diese von Sinowjew, Safarow und Μ. N . Roy entschieden abgelehnt wurde 242 . Zu der EntscheiT'ai-chung/T'aiwan; hinfort: KMT-Archiv). L o Chia-lun, der Sun damals begleitete, nennt als Datum des ersten Gesprächs Sun-Maring den 23. November 1921 („Bedeutsame Erinnerungen an das Gespräch des Parteiführers mit Maring", in: K M W H , Bd. I X , p. 2 0 5 — 2 0 7 ) . 238 2S

Tagebuch Chiang, Bd. III, p. 100.

· So Li Chien-nung, Tsiu-chin san-shih nien Chung-kuo cheng-chih shih (Die letzten 30 Jahre chinesischer politischer Geschichte), Shanghai 1930, p. 546.

240

Zitiert nach: Brandt, op. cit., p. 26 f.

241

Siehe oben. S. 74.

242

Leng/Palmer, op. cit., p. 56.

78

I. Kapitel:

Prämissen

dung, auf ein Bündnis mit Sun hinzuarbeiten, trug wesentlich ein Artikel Marings über die Situation in Südchina bei, der in der Zeitschrift „Kommunistitscheskii Internatsional", Nr. 22/1922, erschien243. Darin äußerte der Kominternvertreter seine Bewunderung für Sun und wies auf die Tatsache hin, daß die KMT es verstanden habe, in Kanton eine vorzügliche organisierte Gewerkschaftsbewegung aufzubauen. Schon deshalb sei sie für die erste Phase der Revolution in China eine geeignete Bundesgenossin des Kommunismus. Nach seiner Rückkehr in die UdSSR im September 1922 förderte Maring weiterhin den Abschluß eines Bündnisses mit Sun, für das er mit großer Mühe inzwischen auch die KCT gewonnen hatte. Sun selbst aber wurde vor allem durch die Erfahrung des Staatsstreichs von Ch'en Ch'iung-ming in Kanton am 16. Juni 1922 bewogen, den Gedanken einer Zusammenarbeit mit der UdSSR und den Kommunisten, der sich in den Kueiliner Gesprächen abgezeichnet hatte, ernsthaft zu prüfen. Bereits während der Flucht aus Kanton diskutierte er mit seinen Mitarbeitern am 9. August 1922 die Bedeutung einer möglichen Allianz mit der UdSSR und Deutschland244. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Shanghai am 15. August245 traf er sich dann dort mit dem Vertreter der Kommunistischen Jugendinternationale Dalin, der ihm die Koalition mit der KCT nach den Grundsätzen der Politik des „Blocks von außen" vorschlug246. Dies lehnte Sun jedoch ab und erklärte stattdessen seine Bereitschaft, den Eintritt der Kommunisten in die KMT zuzulassen. Ende August bot sich eine Gelegenheit, dieses Prinzip zum ersten Male offen anzuwenden. Von dem alten KMT-Politiker Chang Chi* eingeführt, kam Li Ta-chao zu Sun und bot, in Ubereinstimmung mit den Entscheidungen des ZK der KCT auf der Westsee-Konferenz bei Hangchou, seinen Eintritt in die KMT auf der Grundlage der Drei Grundlehren vom Volk an. Li teilte Sun mit, er sei zwar nicht bereit, zugleich aus der K C T auszuscheiden, werde aber seine Pflichten in der KMT dennoch loyal erfüllen. Sun akzeptierte dieses Angebot und nahm Li in seine Partei auf 247 . Nach Angaben Brandts folgten drei weitere Kommunisten — Ch'en 243 244 245 248

247

Vgl. hierzu: Whiting, op. cit., p. 87 ff. So Leng/Palmer, op. cit., p. 51, gestützt auf Sun, V A , Bd. VIII, p. 131—134. Nach Wilbur/How, p. 140, traf er bereits am 14. August in Shanghai ein. Wilbur/How, op. cit., p. 141. ibid. Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, op. cit., p. 156 und: Ders., Wang Ching-wei, op. cit., p. 77.

Die Beziehungen Sun Yat-sens zu den Kommunisten

bis Ende 1922

79

Tu-hsiu, Chang T'ai-lei und Ts'ai Ho-shen — noch im gleichen Jahre dem Schritt Lis248. Zur selben Zeit unternahm Sun von Shanghai aus, vor allem unterstützt von seinen Mitarbeitern Wang Ching-wei, Hu Han-min, Liao Chung-k'ai und Chiang Kai-shek, einen Versuch, die KMT gründlich zu reorganisieren. Am 4. September 1922 berief er eine Konferenz leitender Parteimitglieder ein, an der bis zum 6. September in drei Sitzungen 65 Personen teilnahmen, darunter auch zwei Kommunisten: Ch'en Tu-hsiu und Lin Tsu-han (Lin Po-ch'ü)249. Diese „erste Parteireform" der K M T ist in der westlichen Literatur bisher nur selten erwähnt worden. Sie hat jedoch nicht unerheblich zum Gelingen der Reform von 1923/24 beigetragen, für die sie bereits bedeutende organisatorische Grundlagen schuf. Die Shanghaier Konferenz stimmte Suns Reorganisationsvorschlägen zu, und am 6. September berief er aus ihrer Mitte ein Redaktionskomitee, dem unter dem Vorsitz von Ting Wei-fen* neun Mitglieder angehörten — unter ihnen auch Ch'en Tu-hsiu250 — und das den Auftrag erhielt, ein neues Parteistatut und ein Programm auszuarbeiten. Wang Ching-wei und Hu Han-min sollten dann zusammen mit Sun über die Annahme dieser Entwürfe entscheiden. Am 1. Januar 1923 wurden sie in Shanghai veröffentlicht und gleichzeitig in Kraft gesetzt251. Das Programm gab einen kurzen Abriß der Drei Grundlehren vom Volk und der Theorie von der „Fünf-Funktionen-Verfassung" wieder, wobei zum ersten Mal eindeutig die Sozialisierung der Grundstoffund Schwerindustrie gefordert wurde. Auch der Gedanke der gleichmäßigen Verteilung des Ackerlandes fand jetzt seinen Platz im Parteiprogramm. Das neue Parteistatut252 sah zwar wiederum vor, daß der Parteiführer (Tsung-li) die KMT nach außen vertreten und alle Parteiangelegenheiten leiten sollte, es stellte ihm aber einen „Zentralen Rat der 248

op. cit., p. 157, Fußnote.

249

Protokoll der Besprechungen im Parteihauptquartier am 4., 5. und 6. September 1922, in: K M W H , Bd. VIII, p. 32 bis 35, dort audi vollständige Teilnehmerlisten. Vgl. hierzu: Wilbur/How, op. cit., p. 141.

250

Ting Wei-fen, Chang Ch'iu-pai, Ch'en Tu-hsiu, Mao Tzu-ch'üan, T'an Cheng, Lü

251

Abgedruckt in: „Chung-kuo Kuomintang pen-pu kung-pao" (Bulletin des Partei-

Chih-yü, T'ien T'ung, Kuan P'eng und Ch'en Shu-jen. hauptquartiers der KMT), Bd. I, N r . 1 v. 10. 1. 1923; auch in: K M W H , Bd. VIII, p. 3 9 — 4 4 . 232

ibid., p. 4 1 — 4 4 . Vgl. dazu, Tsou Lu, op. cit., p. 58 ff.

I. Kapitel:

80

Prämissen

Kader" (Chung-yang kan-pu hui-i) zur Seite, der — vom Parteiführer ernannt — monatlich zusammentreten sollte. Beim Parteihauptquartier wurden Abteilungen für Allgemeine Angelegenheiten, Finanzen, Propaganda, Parteiorganisation und Auswärtiges sowie Ausschüsse für Gesetzgebungsfragen, Militärangelegenheiten, Politik, Bauern- und Arbeiterorganisation und Frauenfragen errichtet, deren Leiter bzw. Vorsitzende der Parteiführer ernannte. Neu war vor allem, daß die jährliche Einberufung eines Parteikongresses (Ch'üan-kuo tai-piao ta-hui) vorgesehen wurde (Art. 14 des Statuts), dessen Delegierte von allen Mitgliedern der KMT zu wählen waren. Diese Bestimmung gab die Rechtsgrundlage für den I. Parteikongreß ab, der im Januar 1924 die eigentliche Parteireorganisation durchführte. In allen Verwaltungseinheiten — Provinzen, Kreisen und Ämtern — sollten Zweigorganisationen (Tang-pu) gebildet werden. Mitglieder der Partei konnten alle erwachsenen Chinesen sein, doch bestimmte man, daß der Parteieintritt nur mit der Bürgschaft von zwei Mitgliedern möglich sein sollte und an eine Kandidatenzeit gebunden war. Die disziplinaren Bestimmungen wurden wesentlich verschärft (Art. 22 und 23). Gleich nach der Verkündung des neuen Parteistatuts ging man an die Einrichtung des Zentralen Parteihauptquartiers (Chung-yang tang-pu), das vorläufig in Shanghai blieb. Die Leiter der Abteilungen wurden ernannt253 und Richtlinien über die Organisation des „Zentralen Rates der Kader" erlassen254. Damit erschöpfte sich jedoch dieser Ansatz zur Reform bereits, der die etwa 150 000 Mitglieder er Partei kaum berührte255. Leonard S. Hsü (Hsü Shih-lien) hat vier Gründe für die organisatorische Schwäche der KMT vor 1924 genannt. Zum ersten seien die Mitglieder meist Intellektuelle und alte Politiker gewesen, die immer wieder mit den regionalen Militärmachthabern paktierten, zweitens sei das Programm der Partei nach dem Sturz der Mandschus und der Ausrufung einer Republik unklar geblieben, und die Partei habe sich nicht genügend darum bemüht, es dem Volke nahezubringen, drittens hätten Sun und seine Mitarbeiter sich zu lange

253 Allgemeine Angelegenheiten: P'eng Shu-chih ( K C T ) ;

Parteiorganisation:

Shu-jen; Finanzen: Lin Yeh-ning; Propaganda: Yeh Ch'u-cheng;

Ch'en

Auswärtiges:

Chang Ch'iu-pai (Mitteilung des Parteiführers an die Parteimitglieder vom Januar 1923, in: K M W H , Bd. VIII, p. 48 f.). a54

ibid., p. 49 f.

255

Bei Wilbur/How, op. cit., p. 493 werden für Ende 1922 138.000, für Ende 1923: 178.875 Mitglieder angegeben.

Die Beziehungen Sun Yat-sens zu den Kommunisten

bis Ende 1922

81

auf die Möglichkeit westlicher Unterstützung verlassen, und schließlich habe die Partei ihre Organisation und den Aufbau eigener militärischer Verbände vernachlässigt und kaum Kontakt zu den Massen der Bauern, Arbeiter und Kaufleute gefunden266. Während aber dieser Versuch einer Reform der KMT aus eigener Kraft und ohne sowjetische Unterstützung in den Präliminarien steckenblieb, war gleichzeitig audi die KCT in erhebliche Schwierigkeiten geraten. Trotz der Beschlüsse der Westsee-Konferenz im August 1922 hatte sie zunächst ihre Politik der selbständigen Organisation einer Arbeiterbewegung nicht ohne Erfolg fortgesetzt. Vom September 1922 bis zum iFebruar 1923 entfachte sie in Ch'angsha, Wuhan, T'ienchin und Kanton erfolgreiche Streikbewegungen, an denen sich insgesamt über 150 000 Arbeiter beteiligten257. Doch dann wandelte sich das Bild. Am 7. Februar 1923 wurde ein Eisenbahnerstreik an der Peking-Hank'ouBahn von Soldaten Wu P'ei-fus blutig niedergeschlagen258. Die KCT hatte ihre erste Niederlage erlitten und zugleich alle Hoffnungen auf die Möglichkeit aufgeben müssen, Wu und Sun gegeneinander auszuspielen, um sich ihre Selbständigkeit zu bewahren. Ihren knapp 300 Mitgliedern blieb jetzt, wollte sie nicht auch das Wohlwollen Moskaus verlieren, nur noch der Ubergang zur Politik des „Blocks von innen", die das Exekutivkomitee der Komintern (hinfort: EKKI) am 12. Januar 1923 erneut als Generallinie für den chinesischen Kommunismus bestätigt hatte259. Suns Stellung hatte sich Anfang 1923 wieder gefestigt. Abgesehen von der Einleitung des Bündnisses mit der UdSSR, über die noch zu berichten sein wird, war es ihm gelungen, sich der Loyalität des mit seinen Truppen in Südost-Fukien stationierten Kuangtung-Generals Hsü Ch'ung-chih und der nördlich von Kanton stehenden Yünnan-Verbände der Generale Yang Hsi-min und Liu Chen-huan zu versichern. Während Hsü, dem am 18. Oktober 1922 Chiang Kai-shek als Generalstabschef zur Seite trat, die Truppen Ch'en Ch'iung-mings in Ost-Kuangtung band, rückten Anfang Januar 1923 Yang und Liu überraschend auf 256

257

2M

259

6

Leonard Shih-lien Hsü, Sun Yat-sen — His Political and Social Ideas, Los Angeles 1933, p. 14 ff. Vgl. hierzu audi: Leng/Palmer, op. cit., p. 39 f. Vgl. Ma, op. cit., Bd. I, p. 239 ff.; Wilbur/How, op. cit., p. 64 ff. und 84; Schwartz, op. cit., p. 47; Brandt, op. cit., p. 25 f. und Whiting, op. cit., p. 64 f. Vgl. hierzu: Teng Chung-hsia, Chung-kuo chih-kung yün-tung diien-shih (Kurze Geschichte der chinesischen Arbeiterbewegung), Yenan 1943, p. 115. Auch: Schwartz, op. cit., p. 47 und Wilbur/How, op. cit., p. 87. Schwartz, op. cit., p. 40 und 46. Domes

I. Kapitel:

82

Prämissen

Kanton vor, das sie am 16. Januar im Namen der K M T zurückeroberten. Knapp einen Monat später, am 15. Februar, verließ Sun Shanghai, um über Hongkong wieder nach Kanton zurückzukehren, wo er am 21. Februar unter dem Jubel der Bevölkerung seinen Einzug hielt. Am 2. März endlich bildete er dort eine neue Regierung, die bereits die Bezeichnung „Nationalregierung" (Kuo-min cheng-fu) trug. Sun selbst trat als „Generalissimus" (Ta-yüan-shuai) an deren Spitze, und er umgab sich jetzt mit zuverlässigen Parteimitgliedern. Hu Han-min wurde Stellvertreter Suns und gleichzeitig Gouverneur von Kuangtung, T'an Yen-k'ai* Innenminister, Dr. Wu Ch'ao-shu (C. C. Wu)* Außenminister, Liao Chung-k'ai Finanzminister und der Sohn des Parteiführers, Sun K'e (Sun Fo)* Minister für Aufbau 260 . Die K M T begann, ihre durch den Staatsstreich Ch'en Ch'iungmings ausgelöste große Krise zu überwinden. So war das Szenarium für den Abschluß des Bündnisses zwischen der K M T und den Kommunisten gestellt. Sun hatte endlich eine ausländische Macht gefunden, die ihm jene Unterstützung geben wollte, die er am dringendsten brauchte: Hilfe beim Aufbau einer wirksamen Parteiorganisation und einer Armee, die nur von der K M T abhängig und keinem Militärmachthaber gehorsam sein sollte. Ein militanter Antiimperialismus, erwachsen aus einer Kette von Enttäuschungen über das Ausbleiben westlicher Hilfe, verband ihn mit der UdSSR und der Komintern, die gemeinsame Ablehnung des Systems der regionalen Militärmachthaber mit der K C T . Ideologisch aber blieben die Partner des Bündnisses voneinander getrennt. Die Revolution Suns und der K M T hatte mit jener, auf die Moskau und die K C T hinarbeiteten, nur in den ersten Stadien etliches gemeinsam. Beide Seiten begannen ihre Zusammenarbeit in der Hoffnung, den anderen zur Verwirklichung der eigenen Ziele ausnutzen zu können: Sun erwartete, daß die K M T die wenigen chinesischen Kommunisten leicht absorbieren werde, diese hingegen versprachen sich von der Mitarbeit in der nationalistischen Einheitspartei jene Massenbasis, um die sie sich bisher vergeblich bemüht hatten.

M0

L i , op. cit., p. 4 2 8 .

II. Kapitel Das Bündnis mit dem Kommunismus bis zum Tode Sun Yat-Sens Der Beginn der Zusammenarbeit Suns mit der UdSSR und die Entstehung des „Blocks von innen" Um einen toten Punkt in ihren Verhandlungen mit der chinesischen Zentralregierung in Peking zu überwinden, entsandte die Sowjetregierung im Sommer 1922 einen ihrer erfahrensten und bis dahin erfolgreichsten Diplomaten, Adolf Joffe, nach China1. Er traf, von Ts'ai Yüanp'ei und Hu Shih empfangen, am 12. August in Peking ein und nahm sofort Gespräche mit dem Außenminister Dr. Ku Wei-diün auf. Bereits am 2. September schlug er die Einleitung formeller Verhandlungen auf der Grundlage der beiden Karakhan-Memoranden und mit dem Ziel der Errichtung voller diplomatischer und konsularischer Beziehungen vor2. Doch Ku bestand in seiner Antwortnote vom 7. September darauf, daß dem offiziellen Verhandlungsbeginn der Rückzug der sowjetischen Truppen aus der Äußeren Mongolei vorausgehen müsse3. Unter dem Eindruck seiner Enttäuschungen in Peking begann der sowjetische Emissär im Dezember, sich nach anderen Partnern in China umzusehen, und es entsprach den in der Komintern bereits getroffenen Entscheidungen, daß er sich zuerst der K M T zuwandte, die, wie wir gesehen hatten, damals in einer besonders kooperationsbereiten Verfassung war. In der zweiten Dezemberhälfte kam er nach Shanghai und trat dort in Verhandlungen mit Sun Yat-sen ein4. Sie endeten am 26. Januar 1923 mit der Unterzeichnung des „Sun-Joffe-Kommuniques", das zur 1

Whiting, op. cit., p. 182 ff.; Leng/Palmer, op. cit., p. 61.

2

„China Weekly Review" v. 9. 9. 1922.

3

Vgl. Whiting, op. cit., p. 185.

4

Das genaue Datum der Ankunft Joffes in Shanghai ist nicht mehr feststellbar. Vom Dezember 1922 sprechen sowohl T'ang, Revolution, op. cit., p. 156, als audi Chiang Kai-shek (Tsdiiang Kai-sdiek), Sowjetrußland in China, dtsdie Ausg. Bonn 1959, p. 38.

6*

84

II. Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

Grundlage für das Bündnis der KMT mit der UdSSR und der Komintern werden sollte5. Dieses Kommunique hat folgenden Wortlaut: „(1) Dr. Sun hält die Einführung des Kommunismus oder auch nur des Sowjetsystems in China nicht für möglich, da hier die nötigen Vorbedingungen für eine erfolgreiche Anwendung fehlen. Herr Joffe sdiließt sidi voll und ganz dieser Ansicht an; er ist des weiteren der Meinung, daß das wichtigste und dringendste Problem Chinas die Herstellung seiner nationalen Einheit und seiner vollkommenen nationalen Unabhängigkeit sei. Herr Joffe hat Dr. Sun im Hinblick auf diese große Aufgabe der wärmsten Sympathie des russsidien Volkes für China und (seiner) Hilfsbereitschaft versichert. (2) Um alle Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen, hat Dr. Sun Herrn Joffe ersucht, die in der an die chinesische Regierung gerichteten russischen Note vom 27. September 1920 enthaltenen grundsätzlichen Ausführungen noch einmal zu bestätigen. Herr Joffe hat daraufhin diese Grundgedanken noch einmal bekräftigt und Dr. Sun gegenüber kategorisch erklärt, daß Rußland willens und bereit sei, mit China in Verhandlungen einzutreten, und zwar auf der Grundlage eines russischen Verzichts auf alle Verträge und erzwungenen Rechte und Privilegien, die China der Zarenregierung zugestanden hatte. Zu den erwähnten Verträgen gehören die Verträge und Abkommen über die Ostchinesische Eisenbahn. (3) Dr. Sun vertritt die Ansicht, daß die gesamte Frage der Ostchinesischen Eisenbahn nur durch eine dafür zuständige chinesisch-russische Konferenz befriedigend gelöst werden kann. Worauf es aber im Augenblick ankommt, ist, einen Modus vivendi für die jetzige Verwaltung dieser Eisenbahn zu finden. Dr. Sun und Herr Joffe sind beide der Ansicht, daß nach erfolgter Einigung zwischen der chinesischen und der russischen Regierung die Verwaltung dieser Eisenbahn zeitweilig umorganisiert werden sollte (unter der Bedingung), daß dadurch keine wirklichen Rechte oder Sonderinteressen beider Parteien verletzt werden. Dr. Sun meint außerdem, daß die Frage mit Tschang Tso-lin besprochen werden sollte. (4) Herr Joffe erklärt Dr. Sun kategorisch — und Dr. Sun ist in diesem Punkt vollkommen beruhigt — , daß es nicht die Absicht und das Ziel der gegenwärtigen russischen Regierung sei und auch niemals gewesen sei, in der Äußeren Mongolei eine imperialistische Politik zu verfolgen oder eine Unabhängigkeitsbewegung in der Äußeren Mongolei zu unterstützen. Dr. Sun sieht deswegen auch in einer sofortigen Zurückziehung der russischen Truppen von der Äußeren Mongolei weder eine dringende Notwendigkeit noch einen besonderen Vorteil für China. Der Grund dafür ist die momentane Schwäche und Handlungsunfähigkeit der chinesischen Regierung, die nach dem Rückzug der russischen Truppen höchstwahrscheinlich nicht in der Lage wäre, Umtriebe der Weißrussen zu verhindern, die der russischen Regierung neue Schwierigkeiten bereiten und die Situation noch ernster gestalten würden, als sie jetzt schon ist*." 5 Vgl. Wilbur/How, op. cit., p. 142 f. » Chinesischer Text in: K M W H , Bd. I X , p. 36 f.; englisch u . a . in: The China Year Book, 1924, p. 863. Der hier wiedergegebene deutsche Text findet sich bei B S F , op. cit., 48 f.

Vgl. hierzu u. a.: Wilbur/How, ibid.; Whiting, op. cit., p. 202 f.; Isaacs, op. cit., p. 6 2 ; T'ang, Revolution, p. 156 ff.; Brandt, op. cit., p. 33; Leng/Palmer, p. 62 ff.; Schwartz, op. cit., p. 45 und 60.

Der Beginn der

Zusammenarbeit

85

Das Kommunique entsprach auch der auf dem 4. Kongreß der Komintern im November 1922 bestätigten Generallinie, in China die K M T als Bundesgenossen zu betrachten 7 . In der Resolution dieses Kongresses war die Partei Suns zur „einzigen ernsthaften nationalrevolutionären Gruppierung in China" erklärt worden. Die Mitglieder der K C T sollten, so hieß es, als Einzelpersonen in der K M T „bleiben", ihre eigene Parteizugehörigkeit aber dessen ungeachtet beibehalten 8 . Damit waren die Grundzüge des Bündnisses der K M T mit den Kommunisten formuliert: Die UdSSR würde Sun materielle, die Komintern propagandistische Hilfe leisten, die chinesischen Kommunisten sollten zunächst ihre Ziele innerhalb der K M T verfolgen und zugleich die von dieser Partei geführte nationale Revolution unterstützen. Als Joffe am 28. Januar 1923 Shanghai verließ und nach Japan ging, begleitete ihn im Auftrage Suns dessen Mitarbeiter Liao Chung-k'ai. Während eines Kuraufenthaltes von Joffe in Atami 9 führten die beiden im Februar längere Gespräche, in denen sich die neue Allianz weiter präzisierte. Dabei erklärte Joffe Liao gegenüber, daß in der UdSSR der Kommunismus noch nicht praktisch durchgeführt sei. Ein Zeuge der Gespräche berichtet hierzu: „Liao fragte ihn, ob der Kommunismus in Rußland in zehn Jahren verwirklicht werden könne. Joffe sagte: ,Nein'. ,In 20 Jahren?' ,Nein', war wiederum die Antwort. ,In 100 Jahren?' ,Vielleicht', sagte Joffe. ,Nun gut', sagte Liao zu Ch'en Kung-po, einem jungen Studenten, der früher zur kommunistischen Partei gehört hatte . . ., .warum sollen wir von einem Utopia träumen, das vielleicht verwirklicht wird, wenn wir alle schon tot sind, vielleicht aber auch nicht. Laßt uns alle heute schon Revolutionäre sein und für die Durchführung der nationalen Revolution auf der Basis der Drei Grundlehren vom Volk arbeiten. Dafür müssen wir uns jedoch mit allen verfügbaren revolutionären Kräften verbinden und uns auf ein gemeinsames Nahziel einigen, ganz gleich, was auch immer unsere Fernziele seien'" 10 .

Während der Gespräche in Japan wurde vor allem beschlossen, daß in Kanton mit sowjetischer Unterstützung eine Militärakademie — die unmittelbar unter der Leitung der K M T stehen müßte — gegründet werden sollte, um Kader für eine Parteiarmee auszubilden. Liao kehrte im März nach Kanton zurück und betätigte sich energisch im Sinne einer Verwirklichung der Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Das 7

Vgl. Whiting, p. 206 und 2 0 8 — 2 1 9 .

8

Wilbur/How, p. 240 f.

* So ibid., p. 143. Nach T'ang, Revolution, p. 158 f. fanden die Gespräche in Tennawuni statt. 10

ibid., p. 158. Vgl. hierzu: Li, Tsiu-diin . . . , op. cit., p. 547 und Leng/Palmer, p. 66.

86

II. Kapitel: Das Bündnis mit den

Kommunisten

Programm dieser Zusammenarbeit haben die chinesischen Kommunisten später in dem Sun Yat-sen zugeschriebenen Schlagwort von den „Drei großen politischen Maßnahmen" (San-ta cheng-ts'e) — Bündnis mit der UdSSR, Bündnis mit der K C T und Bündnis mit den Arbeitern und Bauern — systematisiert. Obgleidi diese Formulierung die tatsädiliche Politik des Führers der KMT in seinen letzten beiden Lebensjahren zutreffend beschreibt, findet sich in seinen Schriften und Reden kein einziger Hinweis darauf, daß er sie je benutzt habe. Im Gegenteil: Sun bemühte sich trotz der beginnenden Zusammenarbeit mit den Kommunisten noch im Frühjahr und Sommer 1923 immer wieder darum, auch vom Westen Unterstützung zu bekommen. Doch wiederum blieb er erfolglos. Im Herbst 1923 kam es dann zu einem offenen Konflikt der Kantoner Regierung mit den Westmächten. Sun forderte am 5. November das diplomatische Korps in Peking auf, dafür zu sorgen, daß die Uberschüsse aus den Seezöllen in der Provinz Kuangtung hinfort an seine Regierung und nicht mehr an die Zentralregierung überwiesen würden. Darauf ließen sich die Mächte jedoch nicht ein, sie drohten vielmehr in einem Telegramm vom 3. Dezember mit „scharfen Maßnahmen", falls die Kanton-Regierung die Seezollüberschüsse einbehalten würde, und ließen am 5. Dezember vor Kanton Kriegsschiffe auffahren, um Sun zum Nachgeben zu zwingen. So endete dessen letzter Versuch, mit Westeuropa und den USA zur Zusammenarbeit zu gelangen. In Kuangtung war es Sun gelungen, zwischen Ende Mai und Anfang Juni einen Angriff Ch'en Ch'iung-mings auf Kanton abzuschlagen. Er blieb jedoch in seiner eigenen Hauptstadt auf die Unterstützung der Armeen der Militärmachthaber Yang Hsi-min und Liu Chen-huan angewiesen, mit denen er immer wieder Konflikte auszutragen hatte, weil ihre Soldaten in Suns eigener Hauptstadt Ausschreitungen begingen11. Die Auseinandersetzung mit der in Peking herrschenden „Chihli-Clique" verschärfte sich, als diese am 13. Juni den von ihr selbst eingesetzten Präsidenten Li Yüan-hung aus dem Amt vertrieb und am 5. Oktober einen der schärfsten Gegner der KMT, Ts'ao K'un, als Staatsoberhaupt einsetzte. Zwar schienen sich jetzt Möglichkeiten zu einem Bündnis mit Chang Tso-lin abzuzeichnen, aber unter dem Eindruck der Unzuverlässigkeit der regionalen Militärmachthaber verstärkte sich Suns Interesse an der Wiedervereinigung Chinas aus eigener Kraft bzw. im Bündnis mit den Kommunisten. 11

Vgl. T'ang, Revolution, p. 149 f.

Der Beginn der

Zusammenarbeit

87

Dieses Interesse wurde auch dadurch gefördert, daß die K C T auf ihrem III. Parteitag, der im Juni 1923 in Kanton stattfand, gegen erhebliche Widerstände in den eigenen Reihen endgültig den Ubergang zur Politik des „Blocks von innen" vollzog12. Opposition hiergegen gab es vor allem in den Reihen des „Sozialistischen Jugendkorps" (Shehui-chu-yi ch'ing-nien t'uan), das sogar mit dem Aufbau einer zweiten KP in China drohte13. Dennoch siegten die Anhänger der Zusammenarbeit mit der KMT, nicht zuletzt auch deshalb, weil bei einer der entscheidenden Abstimmungen die von Mao Tse-tung geführte Delegation von Hunan sich entschloß, entgegen ihrer ursprünglichen Absicht für den „Block von innen" einzutreten14. Mao wurde für diese Entscheidung von Ch'en Tu-hsiu mit der Ernennung zum Leiter der Organisationsabteilung beim ZK der K C T belohnt15. Unterdessen begann die Allianz der K M T mit Moskau festere Formen anzunehmen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen Joffes mit der Zentralregierung in Peking entsandte die Sowjetregierung im August 1923 den stellvertretenden Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, Lew Karakhan, mit dem Auftrag nach China, nun endlich ein Abkommen mit Peking abzuschließen. Gleich nach seiner Ankunft in der chinesischen Hauptstadt sandte dieser am 5. August ein Grußtelegramm an Sun16, der am 17. September mit einem ausführlichen Brief antwortete17. Schon am 23. September antwortete Karakhan. Kern seines Briefes an Sun war die Nachricht, daß man sich jetzt in Moskau entschlossen habe, einen ständigen Vertreter nach Kanton zu entsenden, der dort gleichzeitig auch Beraterdienste leisten sollte: „Daß in Kanton kein ständiger, verantwortlicher Vertreter unserer Regierung ist, hat man in Moskau seit langem sehr bedauert. Mit der Ernennung von Μ. M. Borodin ist nun ein wichtiger Schritt in dieser Richtung getan worden. Genösse B. ist eines der ältesten Mitglieder unserer Partei und hat viele Jahre in der revolutionären Bewegung in Rußland gearbeitet. Bitte, betrachten Sie den Genossen B. nicht nur als Vertreter der Regierung, sondern auch als meinen persönlichen Vertreter, mit dem Sie ebenso frei reden können, wie Sie es mit mir tun würden. Auf alles, was er sagt, können Sie sich so verlassen, als ob ich es selbst gesagt hätte 18 ."

12

Wilbur/How, p. 85 f. und Brandt, op. cit., p. 35 ff.

13

ibid., p. 34. ibid., p. 36. Edgar Snow, Red Star over China, New York 1944, p. 59. Louis Fischer, The Soviets in World Affairs, 2 Bde. London 1930, Bd. II, p. 634. Whiting, op. cit., p. 243.

14 15 16 17 18

ibid., p. 244. Hervorhebung d. Verf.

88

II. Kapitel: Das Bündnis mit den

Kommunisten

Dieser Brief ist die einzige bekanntgewordene Legitimation Michail M. Borodins (alias Grusenberg), der jetzt als Vertreter der Sowjetregierung nach Kanton abreiste 19 . Sun seinerseits hatte bereits Ende Juli eine Beobachterdelegation der K M T ernannt, die in die UdSSR reisen, dort Organisationsstudien treiben und außerdem mit ihren Besprechungen in Moskau zur Festigung des neuen Bündnisses beitragen sollte. An ihre Spitze stellte er Chiang Kai-shek, den die KMT-Mitglieder Shen Ting-i :: ' und Wang Teng-yüan sowie der Kommunist Chang T'ai-lei begleiteten. Über Shanghai, wo die Delegation noch Gespräche mit Maring führte, begab sie sich nach Moskau, das sie am 2. September erreichte. Nahezu drei Monate blieb Chiang mit seinen Begleitern in der UdSSR. Er führte Gespräche mit Trotzki, Kamenjew, Tschitsdierin, Sinowjew, Radek, Joffe und anderen maßgeblichen Sowjetführern und besichtigte Militärakademien und Parteischulen, nur den damals schon kranken Lenin konnte er nicht treffen. Am 29. November verließ die KMT-Delegation wieder die UdSSR und erreichte am 15. Dezember Shanghai 20 . Von dort sandte Chiang einen ausführlichen Bericht an Sun, dessen Inhalt bis heute umstritten ist. Chiangs Biograph Tong schreibt, er sei „ungünstig" gewesen81. Dem widerspricht T'ang Leang-li mit der Behauptung, Chiang habe vielmehr „sehr günstig" über seine Eindrücke berichtet 22 . Der Text von Chiangs Bericht ist nicht zugänglich. Es gibt jedoch Hinweise darauf, daß er bereits nach einer Ansprache vor chinesischen Studenten in Moskau seine Sorge über deren Indoktrinierung durch die Kommunisten geäußert habe 23 . Audi der Text eines unzweifelhaft echten Briefes von Chiang an Liao Chung-k'ai vom 14. März 1924 scheint dies zu bestätigen. Er betont nämlich in diesem Brief seine Besorgnis darüber, daß die UdSSR mit Sun und der K M T ein Doppelspiel treiben könnte: "

10

51 a 23

Isaacs, op. cit., p. 63, meint, Borodin sei als Vertreter des Politbüros der KPdSU nach Kanton gekommen. Dieser Behauptung, die Robert C. North und Xenia J. Eudin (M. N. Roy's Mission to China, Berkeley und Los Angeles 1963) wiederholen, widerspricht Whiting, op. cit., p. 323, der darauf hinweist, daß es dafür keine Belege gäbe, wohl aber u. a. den Brief Karakhans an Sun vom 23. 9. 1923 als Beleg dafür, daß Borodin „Vertreter der Sowjetregierung" gewesen sei. Seine einzige offiziell bekanntgegebene Funktion war damals diejenige eines „Korrespondenten der jRosta'-Nachrichtenagentur". Vgl. hierzu: Tagebuch Chiang, Bd. V, p. 42—73, insbesondere p. 53 und 6 9 ; und Chiang, op. cit., p. 40—44. Auch: Wilbur/How, p. 144. op. cit., p. 44. op. cit., p. 158. Tagebuch Chiang, Bd. V, p. 53 und 69. Vgl. dazu: Wilbur/How, p. 498.

Der Beginn der

Zusammenarbeit

89

„Die Russische Komunistische Partei hat bei ihrem Verfahren mit China nur ein Ziel: die kommunistische Partei Chinas zu einem Instrument für den eigenen Gebrauch zu machen. Sie ist nicht der Meinung, daß unsere Partei längere Zeit mit ihr zusammenarbeiten kann. Es ist die Politik der Kommunisten, die Nord- und Ostprovinzen, die Mongolei, Singkiang und Tibet zu Teilen des Sowjetgebietes zu machen; vielleicht führen sie sogar Böses gegen Chinas andere Provinzen im Schilde . . . Ihr sogenannter Internationalismus und die Weltrevolution sind nur Zarismus unter anderem Namen, um die Außenwelt leichter hinters Licht zu führen24."

Trotz der hier angemeldeten Bedenken war Chiang jedoch offenbar von den sowjetischen Organisationsformen beeindruckt, und er wurde in der Folgezeit ein entschlossener Befürworter der Reorganisation der KMT, die sich unter maßgeblichem Einfluß Borodins im Winter 1923/24 vollzog. Jetzt übernahm die KMT für den Aufbau der Partei und ihrer Armee das sowjetische Organisationsmodell.

Die Reorganisation

der KMT

1923/24

Schon im Sommer 1923 war ein sowjetischer Militärberater, General Pawlow, in Kanton aufgetaucht, der die Truppen der Anhänger Sun Yat-sens bei ihren Kämpfen gegen Ch'en Ch'iung-ming unterstützte, jedoch im November jenes Jahres im Felde fiel28. Die eigentliche sowjetische Beratungstätigkeit aber begann mit der Ankunft Borodins in der südchinesischen Hauptstadt am 6. Oktober 1923. Der Sowjetvertreter kam in Begleitung von etwa 40 russischen Militär- und Zivilberatern, unter ihnen vor allem General Galen (alias Wassilij Blücher) als Chef einer Militärmission26. Bereits kurz nach seinem Eintreffen in Kanton führte Borodin ein längeres Gespräch mit Sun, der Gedanken vorbrachte, die Mongolei als zweite Basis der Revolution zu benutzen. Dies stieß jedoch bei dem Russen auf taube Ohren: es gehe zunächst darum, so betonte dieser, die Basis in Kanton zu konsolidieren27. Hierfür legte Borodin fünf Tage nach seiner Ankunft, am 11. Oktober, Sun Pläne vor, die sich vor allem mit einer Reorganisation der KMT nach dem Vorbild der KPdSU und der Errichtung einer eigenen Militärakademie der Partei befaßten. Sun erklärte sich am 13. Oktober mit ihnen einverstanden 14

M M 27

U . a . in: KMWH, Bd. IX, p. 68—71. Ausschnitte in deutscher Sprache finden sich bei Chiang, op. cit., p. 44 f. Die dortige Übersetzung erscheint als zutreffend. Wilbur/How, p. 144 und Dokument 33, p. 249. Vgl. hierzu: ibid., p. 144 und 150. ibid., p. 144.

90

II. Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

und handelte rasch, um sie in die Tat umzusetzen. Am 25. Oktober berief er für den 1. Januar 1924 den „I. Parteikongreß der K M T " ein, der eine gründliche Reorganisation der Partei beschließen sollte, und ernannte gleichzeitig acht seiner Mitarbeiter — Wang Ching-wei, Hu Hanmin, Liao Chung-k'ai, Chang Ching-chiang*, Chang Chi, Tai Chit'ao, Lin Sen"' und den Kommunisten T'ang P'ing-shan — zu Mitgliedern eines „Provisorischen Zentralen Exekutiv-Komitees" (Lingshih chung-yang chih-hsing wei-yüan-hui) 28 . In etwa sechs Wochen hatte dieser Ausschuß, dem Borodin als Berater diente, erste Entwürfe für ein neues Parteistatut und für ein Programm der K M T fertiggestellt29. Noch während diese Arbeit im Gange war, regte sich in der KMT-Provinzorganisation von Kuangtung Widerstand gegen den neuen Kurs. Teng Tse-ju* und zehn weitere bekannte Parteifunktionäre sandten am 29. November eine Eingabe an den Parteiführer, in der sie vor allem vor der Politik des „Blocks von innen" warnten: die K C T meine es dabei nicht ehrlich, und man solle deshalb auf eine Zusammenarbeit mit ihr verzichten80. Doch Sun ging ärgerlich über diesen Einwand hinweg: „Der Grund, warum die russische Revolution gesiegt hat und unsere nicht, liegt darin, daß unsere Parteimitglieder noch immer nicht die ,Drei Grundlehren vom Volk' verstehen. Im wesentlichen ist wirklich kein Unterschied zwischen der ,Grundlehre von der Lebenshaltung des Volkes* (min-sheng chu-yi) und dem Kommunismus 3 1 ."

Er warnte noch dazu die „Genossen im Provisorischen Z E K " , sich nicht zum Antikommunismus verleiten zu lassen32 und veranlaßte sie, die Vorbereitungen für die Reorganisation zu beschleunigen. Am 9. De28

„Chung-kuo kuomintang ti-i-erh-san tz'u di'üan-kuo tai-piao ta-hui hui-i-k'an (Protokolle des I., II. und I I I . Parteikongresses der K M T ) , hrsg. von der Propagandaabteilung des Z E K der K M T , oO. 1931 (hinfort: Parteitagsmaterialien K M T ) , p.3.

Sun Yat-sen hat selbst berichtet, daß der Vorentwurf für das Parteistatut im D e zember 1923 von Borodin in Englisch niedergeschrieben worden sei. Sun habe es dann durchgesehen und Liao Chung-k'ai danach eine chinesische Übersetzung angefertigt (T'an-ho K C T liang ta yao-an (Zwei Anlagen gegen die K C T ) , hrsg. vom Z K K der K M T , o. O. 1927 (hinfort: „2 Anklagen"), hier: Randbemerkungen Suns; deutsche Übersetzung bei: BSF, op. cit., p. 50). » K M W H , Bd. I X , p. 65—67 und „2 Anklagen", p. 1—11.

28

Vgl. hierzu: Brandt, op. cit., p. 39 f. Brandt datiert allerdings nicht ganz richtig, weil er fälschlich die Anklage der Z K K vom 1 8 . 6 . 1924 mit dieser zusammenzieht. Im Herbst 1923 gab es noch keine Z K K der K M T . 31

Zitiert nach: BSF, op. cit., p. 51.

32

So: Chiang Kai-shek, Chiang Chieh-shih tsui-chin chih yen-lun (Reden von Chiang Kai-shek aus der letzten Zeit), Peking 1926, p. 2.

Die Reorganisation

der KMT

1923/24

91

zember trat in Kanton der „Zentrale Rat der Kader" zusammen33 und nahm eine vom Provisorischen ZEK vorbereitete Erklärung an, mit deren Veröffentlichung am 12. Dezember die Reorganisation der Partei offiziell begann34. Jetzt berief Sun am 13. Dezember Borodin formell zum „Berater der KMT" (Chung-kuo kuomintang ku-wen) und begann, in einer Serie von Reden vor Parteimitgliedern und Massenverbänden, die Grundgedanken der Reorganisation zu erläutern 38 . 196 Delegierte der KMT traten schließlich am 20. Januar 1924 zum I. Parteikongreß in Kanton zusammen36. Von ihnen waren 113 vom Vorläufigen ZEK ernannt und 83 in den lokalen Parteizweigen gewählt worden, 48 vertraten auslandschinesische Gemeinschaften und 14 — davon sechs gewählte und acht ernannte — gehörten der K C T an37. In seiner Eröffnungsrede „Die gegenwärtige Situation Chinas und die Reorganisation der Partei" 38 wies Sun darauf hin, daß es zunächst gelte, eine machtvolle und wohlorganisierte KMT zu schaffen, erst dann könne, durch die „Kraft der Partei", die Regierung des Landes reorganisiert werden. Bereits am ersten Sitzungstag wurden neun Delegierte — darunter zwei Kommunisten — in das „Redaktionskomitee" gewählt, das sich schnell zum wichtigsten Organ des Parteikongresses entwickelte. Die Delegierten folgten im allgemeinen in den Plenarsitzungen den Vorschlägen dieses und einiger weiterer Ausschüsse, die während der Sitzungsperiode gebildet wurden, und in denen in jedem Fall auch Mitglieder der K C T — unter ihnen vor allem Li Ta-chao, Lin Tsu-han und Mao Tse-tung — vertreten waren. Die KPdSU, die Komintern und Lew Karakhan sandten mit großem Beifall aufgenommene Grußtelegramme 39 ; und als am 25. Januar morgens die Nachricht vom Tode Lenins eintraf, entschloß man sich auf Antrag Suns, die Plenarsitzungen zum Zeichen der Trauer bis zum 28. zu unterbrechen40. Doch ganz ohne Widerstand gegen die Zusammenarbeit mit den Kommunisten ging es 33

Protokoll der Sitzung in: KMWH, Bd. VIII, p. 76—79. ibid., p. 71 f. 35 Vgl. u. a. den Text der Rede „Die Politik der KMT in Gegenwart und Zukunft", ibid., p. 79—92. 38 Protokoll des I. Parteikongresses u . a . ibid., p. 92—151, auch in: Parteitagsmaterialien KMT. Vgl. u . a . : Wilbur/How, p. 145—148; Brandt, op. cit., p. 43; Schwartz, op. cit., p. 51; Leng/Palmer, p. 70 f. und T'ang, Revolution, p. 160—166. 87 Delegiertenliste in: KMWH, Bd. VIII, p. 92—95. 38 Text in Chinesisch ibid., p. 97—101. 3 » ibid., p. 145. 40 ibid., p. 146.

34

92

//. Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

nicht ab: am 24. Januar unternahm eine Gruppe von Delegierten unter Feng Tzu-yüs Leitung einen Vorstoß, um zu erreichen, daß die in die Partei eingetretenen Kommunisten entweder aus der K C T austreten oder aber die K M T wieder verlassen müßten 41 . Sie konnten sich aber nicht durchsetzen, man ging über ihren Antrag zur Tagesordnung über. Um weiteren Angriffen dieser Art zuvorzukommen, verlas Li T a chao im Namen der K C T am 28. Januar ein Memorandum, in dem er feststellte, daß die K M T in China „die einzige revolutionäre Partei sei, die Ansehen, Prinzipien und Führungsqualität in sich vereint". Li fuhr u. a. fort: „Wir sind dieser Partei beigetreten, weil wir ihr und der Sache der Nationalen Revolution Chinas etwas zu bieten haben, und keineswegs in der Absicht, die Vorteile der Lage wahrzunehmen, um den Kommunismus im Namen der K M T zu verbreiten . . . Dr. Sun hat uns gestattet, unsere Beziehungen zu dem chinesischen Zweig der Dritten Internationale aufrechtzuerhalten. Daher ist unser Beitritt zur Partei bei gleichzeitiger Beibehaltung unserer Mitgliedschaft in der K C T eine offene und ehrliche Aktion, nicht etwa ein listiges Manöver. Im Gegenteil, da wir der K M T beigetreten sind, und so lange wir ihre Mitglieder bleiben, werden wir ihr politisches Programm erfüllen und uns gemäß ihrer Verfassung und ihren Satzungen verhalten. Falls wir unser Versprechen nicht halten sollten, werden wir uns gehorsam den Disziplinarmaßnahmen oder Strafen unterwerfen, die uns die K M T auferlegt 4 2 !"

In solcher Weise beruhigt und über die besonderen Aspekte kommunistischer Ethik noch nicht informiert, erhob der Parteikongreß keine Einwände mehr gegen die Ratifizierung des „Blocks von innen" durch die K M T . Am 28. Januar wurde das „Manifest des I. Parteikongresses" und am 30. Januar das neue Parteistatut verabschiedet. Noch am gleichen Tage endete die Sitzung mit der Wahl der Mitglieder für die neuen Leitungsorgane der Partei. Das Manifest43 beginnt mit einer Darstellung der Lage in China, die vor allem das Versagen der revolutionären Partei nach 1912, die Unterdrückung des Landes durch regionale Militärmachthaber und die wirtschaftliche Misere der Bauern und Arbeiter betont. Es folgt eine kurze Erläuterung der „Drei Grundlehren vom V o l k " , die manche Akzente anders setzt, als Sun selbst dies zuvor tat. So heißt es zur „Grundlehre vom Volkstum" u. a.: 41

ibid., p. 102 und 146. Vgl. auch Chiang, op. cit., p. 47. Chiang läßt den Namen Feng Tzu-yüs aus, wohl, weil dieser unter Mitwirkung von Freunden Chiangs im Mai 1925 aus der K M T ausgeschlossen wurde.

48

Vollständiger

Text

in:

KMWH,

Bd. I X ,

p. 3 7 — 4 0 ;

auszugsweise

in

deutscher

Sprache bei Chiang, op. cit., p. 47 f. 45

Chinesischer Text u . a . : K M W H , Bd. VIII, p. 1 1 7 — 1 2 8 ; englisch u . a . bei: Li, op. cit., p. 4 5 0 — 4 5 7 . Hervorhebungen d. Verf.

Die Reorganisation

der KMT

1923/24

93

„Bei der Befreiung des chinesischen Volkes hängt die K M T von der Unterstützung durch die Massen im Lande ab, von den Intellektuellen, Bauern, Arbeitern und den Kaufleuten (Man beachte hier die mit der klassischen chinesischen Prestigeskala identische Reihenfolge! d. V.). Denn die Grundlehre vom Volkstum hat für alle Klassen des Volkes die gleiche Bedeutung, nämlich die Befreiung von fremder Unterdrückung . . . Der Nationalismus der K M T ist unbezweifelbarer Anti-Imperialismus, er ist die Uberzeugung, daß die wirkliche Freiheit der Nation nur durch die enge Verbindung und Zusammenarbeit zwischen der Partei und den Volksmassen erreicht werden kann 4 4 ."

Bei der Behandlung der „Grundlehre von der Volksmacht" wird jetzt besonders Suns Theorie von der stufenweisen Entwicklung zum Verfassungsstaat hervorgehoben und gleichzeitig angekündigt, daß nur die Anhänger der Revolution und Gegner des Imperialismus die „Privilegien der Bürgerrechte" genießen sollen. Die „Grundlehre vom Volkswohl" werde, so heißt es im Manifest, durch die gleichmäßige Landverteilung auf dem Wege der Besteuerung, „falls dies nötig ist, auch durch bedingte Enteignung" und durch die Verstaatlichung der Banken und des Verkehrswesens verwirklicht werden. Die Bauern und Arbeiter werden besonders eingeladen, der K M T beizutreten und „eine Einheitsfront gegen Militaristen und Imperialisten" zu bilden. D e r dritte Teil des Manifestes bringt ein Parteiprogramm der K M T , in dem die Abschaffung aller ungleichen Verträge, der Exterritorialität und der Extrajurisdiktion gefordert und solchen Ländern, die freiwillig auf ihre Vorrechte in China verzichten, günstige neue Vertragsbedingungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung versprochen werden. Innenpolitisch verlangt die K M T lokale Selbstregierung, Autonomie der Provinzen, die allgemeine Wehrpflicht und die Schaffung einer umfassenden sozialen Gesetzgebung 45 . Das neue Parteistatut der K M T 4 6 sieht als Grundeinheiten der Partei die lokalen Zellen (Tang-pu) vor, in denen alle 14 Tage Mitgliederversammlungen abgehalten werden sollen. Die laufenden Geschäfte führt ein Exekutivkomitee, das aus seiner Mitte ein „Ständiges Mitglied" 44

ibid.

45

Der Entwurf des Manifests stammt laut T'ang (Revolution, p. 166) aus der Feder Wang Ching-weis. Dies wird sowohl durch einen bisher unveröffentlichten Brief Suns an Wang vom 3. 1. 1924 ( K M T — Archiv) als audi von Chang Chih-pen im Interview mit dem Verfasser am 6. 7. 1963 bestätigt. T'ang gibt darüber hinaus an, daß Borodin noch den Klassenkampf-Gedanken in das Manifest hineinbringen wollte, dies aber an Wangs Widerstand gescheitert sei (ibid.).

46

Chinesischer Text u. a.: K M W H , Bd. VIII, p. 1 2 8 — 1 4 0 ; englisch bei Holcombe, op. cit., p. 3 5 6 — 3 7 0 und in: The Party Constitution of KMT, T'aipei 1957, passim. Vgl. dazu u . a . : T'ang, Revolution, p. 161 ff.; Wilbur/How, p. 145 f. und Brandt, op. cit., p. 41 ff.

94

IL Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

(Ch'ang-wu wei-yüan) beruft und von einer Kontrollkommission überwacht wird (Kapitel IX, Art. 62—65). Das gleiche Organisationsschema wiederholt sich dann für die Parteiverbände in den Ämtern (Hsiang) (Kap. VIII, Art. 58—61), den Landkreisen (Hsien) (Kap. VII, Art. 48—57) und den Provinzen (ShSng) (Kap. VI, Art. 39—47). Auf diesen drei Ebenen werden allerdings die Mitgliederversammlungen durch Delegiertenkongresse ersetzt, die aus Wahlen im Beschlußorgan der jeweils unteren Ebene hervorgehen und in den Ämtern monatlich, in den Kreisen alle drei Monate und in den Provinzen zweimal im Jahr zusammentreten sollen. Die höchste Autorität in der Partei liegt in der Hand des Parteikongresses (Ch'üan-kuo tai-piao ta-hui) (Kap. V, Art. 25). Er hat das Recht, Statut und Programm der Partei zu ändern, die Mitglieder der Leitungsorgane zu wählen und die Grundlinien der Politik zu bestimmen (Art. 28). Der Kongreß soll jedes Jahr einmal zusammentreten — eine Bestimmung, die nie eingehalten wurde 47 —, über die Methode der Delegiertenwahl entscheidet das Zentrale Exekutivkomitee (Chungyang chih-hsing wei-yüan-hui; ZEK) (Art. 27). In der Praxis ist das ZEK das ausschlaggebende Organ der KMT. Es vertritt die Partei nach außen, organisiert und leitet die Parteiverbände der unteren Ebenen, denen gegenüber es Weisungsbefugnisse besitzt, überwacht die Arbeit der Abteilungen (Pu) in der Parteizentrale (Chung-yang tang-pu) und bestimmt über die Finanzen der Partei (Art. 31). Gegen Beschlüsse des ZEK bleibt den Mitgliedern nur der Appell an den Parteikongreß. Das ZEK tritt zweimal im Jahr zu Plenarsitzungen zusammen, die bei der Parteizentrale anwesenden Mitglieder sollen jedoch wöchentliche Sitzungen abhalten (Art. 33). Für die tägliche Arbeit ist der aus drei Mitgliedern bestehende „Ständige Ausschuß" (Ch'ang-wu wei-yüan-hui) des ZEK verantwortlich (Art. 34). Die Arbeiten des ZEK, das Verhalten der Mitglieder und die Rechnungslegung für die Parteifinanzen werden von der Zentralen Kontrollkommission (Chung-yang chien-ch'a wei-yüan-hui; ZEK) überwacht, die ebenfalls aus einer Wahl des Parteikongresses hervorgeht (Art. 29 und 38). Eine besondere Stellung nimmt der Parteiführer (Tsung-li) ein (Kap. IV, Art. 19). Dieses Amt liegt auf Lebenszeit in der Hand Dr. Sun Yat-sens, der im Statut namentlich genannt wird. Die Parteimitglieder sind verpflichtet, seinen Weisungen zu folgen (Art. 20), er amtiert als Vorsitzender des Parteikongresses 47

Zwischen dem I. und dem II. Parteikongreß vergingen zwei Jahre, vom II. bis zum III. drei Jahre, vom III. bis zum IV. 2Vi Jahre, vom IV. bis zum V. vier Jahre und vom V. bis zum VI. gar — wegen des chinesisch-japanischen Krieges — 9V2 Jahre.

Die Reorganisation

der KMT

1923/24

95

(Art. 21) und des ZEK (Art. 22). Alle Beschlüsse des Parteikongresses und des ZEK unterliegen seinem Vetorecht, das gegenüber dem ZEK absoluten, gegenüber dem Kongreß suspensiven Charakter trägt (Art. 23 und 24). Mit der Bürgschaft von zwei Parteimitgliedern kann jeder erwachsene Chinese, der bereit ist, Statut und Programm der KMT und die Beschlüsse ihrer Leitungsgremien anzuerkennen, der Partei beitreten. Uber den Beitritt entscheidet das jeweilige örtliche Beschlußorgan auf Antrag des betreffenden Exekutivkomitees (Art. 1 und 2). Die Mitglieder sind verpflichtet, alle Beschlüsse der Leitungsgremien widerspruchslos auszuführen, freie Diskussion ist nur vor der Beschlußfassung zugelassen. Im Falle von Verstößen gegen die Parteidisziplin wird eine Skala von Parteistrafen bis hin zum Ausschluß verhängt, gegen die es jedoch ein Berufungsrecht gibt. Als letzte Instanz entscheidet der Kongreß (Art. 71—73). Abgesehen von der besonderen Stellung des Parteiführers rezipiert das Statut also im wesentlichen die Bestimmungen des Parteistatuts der KPdSU von 1919. Das sowjetische Organisationsmodell wird nahezu vollständig übernommen. Dies gilt vor allem für den Grundsatz des „demokratischen Zentralismus", dessen Anwendung jetzt die Möglichkeit eröffnete, die KMT zu einem für ihre Führer und deren Politik äußerst brauchbaren Instrument zu machen. Es schien zugleich der Gefahr, daß die Kommunisten die KMT unterwandern und für ihre Zwecke mißbrauchen könnten, entgegenzuwirken. Dies setzte aber bei den Parteimitgliedern organisatorische und taktische Fähigkeiten voraus, welche die meisten von ihnen nicht besaßen. Unter mehr als 170 000 Parteimitgliedern gehörten nur etwa 300 gleichzeitig der K C T an. Deren Vertretung in den Leitungsgremien war jedoch unverhältnismäßig größer, als ihr Anteil an der Mitgliedschaft und auch an Delegierten des 1. Parteikongresses zu rechtfertigen schien48. Unter den 24 Vollmitgliedern des l.ZEK 4 9 befanden sich drei Kommunisten50, unter den 17 Kandidaten sogar sechs, darunter auch Mao Tse-tung51. 48

49

50 51

Zur Organisation der K M T 1924 siehe auch: Tsou Lu, op. cit., p. 60—64, 74 f. und 81 ff. Listen u. a. in: K M W H , Bd. VIII, p. 97 f. und in: K'ai-kuo wu-shih nien ta-shih chi (Chronik der 50 Jahre seit der Gründung der Republik), hrsg. von der Academia Historica, 2 Bde. T a i p e i 1962 (hinfort: KMT-Chronik), Bd. I, p. 246 f. T'an P'ing-shan, Li Ta-chao und Y ü Shu-te. Lin Tsu-han, Mao Tse-tung, Yü Fang-di'ou, H a n Lin-fu, Chang Kuo-t'ao und Ch'ü Ch'iu-pai.

96

II. Kapitel: Das Bündnis mit den

Kommunisten

Unmittelbar nach dem Ende des Parteikongresses begann am 31. Januar in Kanton das 1. Plenum des I. ZEK, auf dem jetzt die zur Durchführung der beschlossenen Reorganisation notwendigen Maßnahmen beraten wurden. Zunächst richtete man im Parteihauptquartier sieben Abteilungen als exekutive Instrumente ein 52 . Dabei gelang es den Kommunisten, einige der wichtigsten Positionen zu besetzen. So wurde T'an P'ing-shan Leiter der Organisationsabteilung, die für die Ernennung aller hauptamtlichen Mitarbeiter der K M T verantwortlich war. T'an holte sich seinen Parteigenossen Yang Pao-an als Sekretär in sein Amt. Lin Tsu-han übernahm die Leitung der Bauern-Abteilung und berief das junge KCT-Mitglied P'eng P'ai zum Sekretär. Die für die Leitung der Gewerkschaften bedeutsame Arbeiter-Abteilung wurde offiziell Liao Chung-k'ai übertragen. Da dieser jedoch mit seiner Arbeit in der Regierung überlastet war, übte der kommunistische Sekretär Feng Chü-po bald in der Arbeiter-Abteilung den größten Einfluß aus53. An die Spitze der übrigen Abteilungen traten alte Mitglieder der K M T : Tai Chi-t'ao für Propaganda, Tsou Lu::' für Jugendorganisationen, Frau Tseng Hsing für Frauenverbände und Hsü Ch'ung-chih für Militärangelegenheiten. Am 16. Februar wurde noch eine achte Abteilung für Auslandschinesen eingerichtet, deren Leitung Lin Sen übernahm. Dem „Ständigen Ausschuß" der ZEK gehörten Liao Chung-k'ai, Tai Chi-t'ao und der Kommunist T'an P'ing-shan an. Schließlich entschloß man sich, neben der Zentrale in Kanton fünf Zweigbüros des ZEK aufzubauen, und zwar in Peking für Nordchina, in Ch'engtu für Ssuch'uan, in Shanghai für die Ostküste, in Hank'ou für Zentralchina und in Harbin für Tungpei 54 . Bei der ZKK-Wahl setzten sich hingegen jene Kräfte durch, die der Zusammenarbeit mit den Kommunisten skeptisch gegenüberstanden. Keiner der fünf Vollmitglieder — Teng Tse-ju, Wu Chih-hui, Li Shih-tseng*, Chang Chi und Hsieh Ch'ih* — hatte sich mit besonderer Energie für die Politik des „Blocks von Innen" eingesetzt, Teng war sogar als ihr erklärter Gegner hervorgetreten. Diese Personalentscheidungen ließen Spannungen zwischen Sun und dem Z E K einerseits und der Z K K andererseits erwarten, die dann auch bald auftreten sollten.

52

Beschluß des 1. Plenums des I. Z E K KMWH, Bd. VIII, p. 152—155.

53

Vgl. hierzu: Chiang, op. cit., p. 52 f.

34

KMWH, Bd. VIII, p. 154 f.

der K M T über Organisationsfragen,

in:

Der Aufbau der „revolutionären

Der Aufbau der „revolutionären

Basis" 1924

97

Basis" 1924

Während unter den leitenden Mitgliedern der Partei keine Meinungsverschiedenheit darüber entstand, daß die Organisation gestrafft und die revolutionäre Propaganda intensiviert werden müßte, regte sich schon kurz nach dem I. Parteitag erneut Widerstand gegen Suns Bündnis mit der KCT. Bereits am 16. März 1924 sah sich der Parteiführer daher genötigt, in einem Rundschreiben an alle Mitglieder darauf hinzuweisen, daß diese „bedingungslos die Grundsätze der Partei anerkennen und die beschlossenen politischen Richtlinien durchführen" müßten. In der Zeit der Revolution gäbe es, so erklärte er, für die Mitglieder der KMT „keine persönliche Freiheit" 55 . Diese Warnung richtete sich gegen Kräfte, die versuchten, noch jetzt eine Änderung des Kurses herbeizuführen. Sie wandten sich allerdings nicht gegen die Zusammenarbeit mit der UdSSR, sondern nur gegen die KCT und deren Eintritt in die Partei Suns. Am 18. Juni überreichten drei Mitglieder der ZKK — Teng Tse-ju, Chang Chi und Hsieh Ch'ih — dem ZEK eine formelle Anklage gegen die KCT, die mit der Forderung verknüpft war, die Kommunisten in der KMT sollten entweder aus dieser oder aus ihrer eigenen Partei austreten. Die Anklage stützte sich vor allem auf eine Resolution des „Sozialistischen Jugendkorps" vom 25. August 1923 und einen Artikel in dem Rundbrief dieses Verbandes vom 11. April 1924. Darin waren die Mitglieder des Jugendkorps angewiesen worden, innerhalb der KMT kommunistische Gedankengänge zu verbreiten. Das ZKK warf nun den Kommunisten vor, sie betrieben „Fraktionsbildung" und versuchten, der nationalistischen Einheitspartei die Politik der KCT aufzuzwingen. Auch die Bemühungen der Kommunisten um den Aufbau von Bauernverbänden in Kuangtung hatten den Argwohn der ZKK-Mitglieder erweckt56. Ein Gespräch, das Hsieh und Chang, nachdem die Anklage bekannt geworden war, am 25. Juni mit Borodin führten, blieb ergebnislos. Man 55

58

7

Rundbrief Suns an alle Parteigenossen, in: Chung-kuo K M T chung-yao hsüan-yen hsün-ling chi (Bedeutende Proklamationen und Instruktionen der KMT), hrsg. v o n der Politischen Abteilung der Huangpu-Militärakademie der KMT, Huangpu 1925 (hinfort: Huangpu-Sammlung), p. 13—15. Vgl. hierzu audi: Wilbur/How, p. 151. Anklage der Mitglieder der Z K K der K M T gegen die KCT, in: „2 Anklagen", p. 13—23 und in: K M W H , Bd. I X , p. 72—79. Vgl. hierzu u. a.: Wilbur/How, p. 51; Leng/Palmer, p. 73 und Schwartz, op. cit., p. 51. Schwartz nennt allerdings fälschlich Feng Tzu-yü statt Teng Tse-ju. Jener war aber nie Mitglied des ZKK der KMT, hier liegt bei Schwanz offenbar ein Versehen vor. Domes

98

IL Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

einigte sicii nur darauf, daß beide Seiten hofften, eine Spaltung der revolutionären Bewegung könne vermieden werden57. Die in Kanton anwesenden ZEK-Mitglieder behandelten die Anklage auf einer Sitzung am 3. Juli, in der man beschloß, Sun um die Einberufung eines Plenums des ZEK zu bitten, und Wang Ching-wei und Shao Yüan-ch'ung* beauftragte, dem Parteiführer Bericht zu erstatten. Dieser gab dem ZKK im Grunde recht, schob aber die Schwierigkeiten mit der KCT auf das „Ungestüm junger Leute" in jener Partei und wandte ein: „Wenn Rußland mit China zusammengehen will, muß es das mit unserer Partei tun und nicht mit Ch'en Tu-hsiu. Wenn Ch'en unserer Partei nicht gehordit, wird er ausgeschlossen. Die chinesische Revolution hat niemals die Zustimmung der ausländischen Staaten gefunden . . . Sympathie können wir nur von Rußland erwarten. Nicht Ch'en Tu-hsius, sondern Rußlands Gedanke war es, uns zu unterstützen. Wenn wir Rußland gegenüber mißtrauisch sind, weil wir Ch'en nicht trauen, so gehen wir Ch'en in die Falle und helfen ihm . . . die Freundschaft Rußlands allein zu gewinnen 58 ."

Hier wurde Suns Politik besonders deutlich: die Enttäuschung über mangelnde Unterstützung des Westens hatte ihn zur Zusammenarbeit mit der UdSSR geführt, und um diese nicht zu gefährden, war er bereit, den „Block von innen" in Kauf zu nehmen, obgleich er den Motiven der KCT mißtraute. Mit solchen Argumenten konnte er auch durchsetzen, daß das 2. Plenum des I. ZEK der KMT, das am 15. August in Kanton zusammentrat, die Politik des „Blocks von innen" erneut bestätigte, diesmal mit einer Entschließung, die diese Politik zur verbindlichen Richtlinie für alle Mitglieder der KMT machte. Die Partei Suns, so hieß es darin, sei Ausdruck der Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte und vertrete deshalb alle Klassen Chinas. Dies schließe jedoch nicht aus, daß die Arbeiterschaft sich darüber hinaus noch ihre eigene Partei, die K C T nämlich, schaffe. Deren Mitglieder könnten frei in der KMT mitarbeiten, solange sie das Parteistatut und die Beschlüsse des I. Parteikongresses akzeptierten 59 . Diese Niederlage der Kritiker des neuen Kurses bezeichnet bereits den Beginn der Fraktionskämpfe innerhalb der KMT, die dann nach dem Tode des Parteiführers offen ausbrachen. " Protokoll dieses Gespräches in: KMWH, Bd. VIII, p. 80—85. 58 Aus Suns Marginalien in „2 Anklagen", ibid.; deutsche Übersetzung bei BSF, op. cit., p. 51. 59 Instruktion Nr. 10 des ZEK der KMT an die Parteimitglieder, in: HuangpuSammlung, p. 72—74. Vgl.: Wilbur/How, p. 151 f.

Der Aufbau der „revolutionären

Basis" 1924

99

Zunächst aber war die politische Szene in Kuangtung noch ganz vom Beginn der Aufbauarbeit mit Hilfe der sowjetischen Berater bestimmt. Im Mittelpunkt stand dabei in der ersten Hälfte des Jahres 1924 die Gründung der Militärakademie Huangpu (WhampoaJ60. Bereits während der Session des I. Parteikongresses hatte Sun seinen Stabschef Chiang Kai-shek zum Vorsitzenden des Vorbereitungsausschusses für die Schule ernannt 61 . In 32 Sitzungen entwarf dieser Ausschuß die Aufbaupläne für die Akademie, durch welche die K M T zum ersten Mal Streitkräfte erhalten sollte, die nur der Partei verpflichtet waren 62 . An diesen Arbeiten beteiligten sich vor allem sowjetische Militärberater unter der Leitung Galens, und wiederum wurde ein sowjetisches Modell nahezu unverändert rezipiert, diesmal dasjenige der Frunse-Akademie in Moskau 63 . Doch gingen die Vorbereitungsverhandlungen nicht ohne Reibungen ab. Offenbar kränkten die Sowjetoffiziere den überaus empfindlichen Chiang dadurch, daß sie zu sehr versuchten, alleine zu entscheiden. Jedenfalls erklärte er am 21. Februar seinen Rücktritt und zog sich nach Shanghai zurück64. Erst nachdem sowohl das Z E K als audi Sun selbst ihn mehrfach gedrängt und ihm Zusicherungen gegeben hatten, daß seinen Vorstellungen Rechnung getragen würde, kehrte er Mitte März auf seinen Posten zurück und wurde am 20. März außerdem noch zum Vorsitzenden des Prüfungsausschusses für die Aufnahmen an der Akademie berufen 65 . Aus ganz China strömten jetzt jungen Menschen, vor allem Studenten, nach Kanton, um in die Akademie einzutreten und sich damit der K M T für den Aufbau der Parteiarmee zur Verfügung zu stellen. Sie kamen meist aus Familien der neuen Intelligenz, der herkömmlichen Honoratiorenschicht, oder der städtischen Kaufmannschaft und standen durchweg stark unter dem Einfluß der „Bewegung des 4. Mai". 3000 meldeten sich innerhalb von zwei Monaten, und aus ihrer Mitte wurden die 499 Schüler für den ersten Jahrgang ausgewählt 66 . Sun ernannte am 3. Mai Chiang Kai-shek zum ersten Rektor der „Heeresakademie" (Lu-chün chün-kuan hsüeh-hsiao), wie „Huangpu" zu00

Vgl. hierzu: ibid., p. 150 f., vor allem aber: F. F. Liu, Α Military History of Modern China 1924—1949, Princeton 1956, p. 7 — 1 5 ; und: Ch'en Hsün-cheng, „Die Anfänge der Parteiarmee", in: K M W H , Bd. X , p. 1 — 8 .

61

Die Ernennung erfolgte am 24. Januar 1 9 2 4 : Tagebuch Chiang, Bd. VI, p. 2.

62

ibid., p. 3.

63

Vgl. hierzu: T'ang Leang-li, The Foundations of Modern China, London 1928 (hin-

64

Tagebuch Chiang, Bd. VI, p. 6.

65

Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 150 f.

06

Tagebuch Chiang, Bd. X I V , p. 7.

fort: T'ang, Foundations), p. 167 und Tong, op. cit., p. 65.

7*

100

II. Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

nächst offiziell genannt wurde. Ihm stand Liao Chung-k'ai gleichberechtigt als Parteikommissar der Schule zur Seite. Damit war der Grundstein zur Einführung des am sowjetischen Vorbild orientierten Systems der Politischen Kommissare in der neuen Armee der K M T gelegt. Im Mittelpunkt der Erziehung in Huangpu sollte die politische Indoktrinierung der Zöglinge stehen, daneben wurde eine rigorose militärische Disziplin eingeführt. Die Leitung der Politischen Abteilung der Schule übernahm Tai Chi-t'ao, als sein Stellvertreter fungierte der Kommunist Chou En-lai. Das Kadettenkorps kommandierte der Leiter der Abteilung für militärisdie Ausbildung, H o Ying-ch'in!:\ Hu Han-min, Wang Chingwei und Shao Yüan-ch'ung wurden die bedeutendsten politischen Lektoren, während die Ausbilder meist Graduierte der kaiserlich-japanischen Militärakademie in Tokio oder der beiden bekanntesten chinesischen Akademien Paoting und K'unming (Yünnan) waren. Schon diese Besetzung weist darauf hin, welche Bedeutung man der am 8. Mai 1924 eröffneten Huangpu-Akademie beilegte. Hier schuf sich die K M T , die bisher immer darunter gelitten hatte, daß sie sich auf wechselnde Koalitionen mit Militärmachthabern einlassen mußte, die Grundlagen für ein eigenes Machtinstrument, das bald zur Vorhut der bewaffneten Revolution und zugleich auch zur Basis für den Aufstieg Chiangs in der Partei werden sollte 67 . Das von ihm geprägte Motto Huangpus, „Liebe Deine Kameraden mit äußerstem Ernst!" (Ch'in-ai ching-ch'eng!), drückt das Maß an Korpsgeist aus, welches Chiang in der Akademie anstrebte. Die jungen Kadetten gingen für ihren energischen, oft audi pedantischen, aber meist gerechten Chef durchs Feuer, es entstand jene enge Verbindung der „Huangpu-Clique", auf die Chiang sich später in der Regel verlassen konnte 68 . Die Kommunisten aber gingen daran, die K M T in Kuangtung in eine lebendige, wohlorganisierte Massenpartei zu verwandeln. Als Avantgarde wirkte hier das „Jugendkorps", dessen Mitglieder, meist Studenten, in Scharen nach Kanton kamen und dort begannen, für die K M T — und gleichzeitig auch für kommunistisches Gedankengut — unter den Bauern und Arbeitern der Provinz zu werben. Gewiß, sie blieben nicht allein, nationalistisdie Studenten und Jugendliche, welche die K C T ab67

Quellen hierzu vor allem: H u a n g p u chien-chün shih-hua (Historische N o t i z e n über H u a n g p u und die G r ü n d u n g der Armee), 2. Aufl. Ch'ungk'ing 1944, passim., mit den Reden Suns und Chiangs bei der Eröffnungszeremonie a m 16. 6. 1924 und Beiträgen v o n W a n g Po-ling, Ch'ien Ta-chün, Ch'en Hsün-cheng u. a. m. (Zu erheblichen Teilen auch in K M W H , B d . X , p. 1—42, wiedergegeben).

08

Liu, op. cit., p . 10 ff.

Der Aufbau der „revolutionären

Basis" 1924

101

lehnten, folgten schnell ihrem Beispiel. Aber es gelang ihnen doch, die leitenden Positionen in den neu entstehenden Massenorganisationen der Bauern, Arbeiter, Studenten und Frauen zu besetzen. Zentrum dieser Infiltrationsarbeit war die von T'an P'ing-shan geleitete Organisationsabteilung beim Parteihauptquartier der KMT 6 9 . Sie sorgte dafür, daß von den jungen Freiwilligen die KCT-Mitglieder in jene Stellungen gelangten, von denen aus die entstehende revolutionäre Bewegung am besten kontrolliert werden konnte. Die KMT-Propagandisten wurden zwar auch eingesetzt, jedoch nur so, daß es ihnen schwerfiel, sich einen Überblick über die Zusammenhänge in den Massenorganisationen zu verschaffen. Zwar gelang es der K M T , die stärkste Kantoner Gewerkschaft, die „Mechaniker-Union", weiterhin von kommunistischem Einfluß frei zu halten 70 , aber unter den Hafenarbeitern und der gesamten Gewerkschaftsbewegung außerhalb Kuangtungs stieg der Einfluß der K C T , welche die Befehlszentralen kontrollierte, weiter an. Zugleich organisierten junge Kommunisten, allen voran P'eng P'ai und später auch Mao Tse-tung, für die K M T in Kuangtung Bauernverbände. In ihnen sammelte man die armen Bauern, Pächter und Landarbeiter, die bereits jetzt begannen, örtlich den Grundbesitzern und Steuereinnehmern Zahlungen zu verweigern 71 . Als am 1. Mai 1925 in Kanton gleichzeitig die zweite nationale Konferenz der Gewerkschaften und die erste Konferenz der Bauernverbände von Kuangtung — beide unter kommunistischer Leitung — stattfanden, umfaßten jene bereits 570 000, diese etwa 180 000 Mitglieder 72 . Während so Partei und Massenorganisationen schnell wuchsen, machten die zur Stärkung der Position Suns notwendigen Reformen im Regierungsapparat und in der Gesetzgebung nur langsame Fortschritte. Immerhin gelang es Sun, mit der Gründung der „Zentralbank" (Chungyang yin-hang) am 2. August 1924 den Grundstein zur Errichtung der Staatskontrolle über das Geldwesen zu legen73, und im November begann mit der Verkündung eines „Gewerkschaftsgesetzes", das Garantien für die Koalitionsfreiheit schuf, der erste Schritt zu einer chinesischen Sozialgesetzgebung74. 89

Vgl. T'ang, Revolution, p. 183 und Brandt, op. cit., p. 47 f.

70

Ma, op. cit., Bd. II, p. 2 8 3 — 3 2 7 .

71

Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 67 f.

72

ibid., p. 69.

73

Proklamation des Generalissimus über die Erriditung der Zentralbank vom 7. 8.

74

Wilbur/How, p. 153.

1924 in: K M W H , Bd. X X , p. 1525—1530.

102

II. Kapitel: Das Bündnis mit den Kommunisten

Dennoch hatte Sun weiter mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen. Nahezu zwei Drittel der Provinz Kuangtung befanden sich immer noch in der Hand Ch'en Ch'iung-mings. Die ihm offiziell unterstehenden Streitkräfte bestanden aus Truppen von Yünnan, Kuangsi und Kueichou unter Yang Hsi-min und Liu Chen-huan und aus der Kuangtung-Armee Hsü Ch'ung-chihs und unterschieden sich kaum von den Verbänden anderer Militärmachthaber 75 . Yang und Liu verweigerten zum Beispiel der Huangpu-Akademie einen Beitrag an den Armeefinanzen, und diese war deshalb für den größten Teil ihres Budgets und nahezu die gesamte Ausrüstung auf sowjetische Lieferungen angewiesen, die nur langsam zu fließen begannen 76 . Die Einkünfte aus der Provinz, die noch 1921 31,8 und 1922: 24 Millionen Yüan (Silberdollar) betragen hatten, sanken 1923 auf 13,6 und 1924 gar auf 9,3 Millionen Yüan 77 . Vor allem aber gelang es nicht, die Widerstände gegen den neuen Kurs innerhalb der Partei ganz zu überwinden. Zwar setzten sich Sun selbst und mit ihm vor allem Wang Ching-wei, Liao Chung-k'ai, T'an Yenk'ai, Tai Chi-t'ao und Wu Ch'ao-shu mit Nachdruck für das Bündnis mit der UdSSR und den „Block von innen" ein, aber schon Suns Stellvertreter als „Generalissimus" der Südregierung, der Gouverneur von Kuangtung Hu Han-min, und sein eigener Sohn Sun K'e, Oberbürgermeister der Hauptstadt, meldeten manche Vorbehalte gegen die Mitarbeit der Kommunisten in der Partei an. Sie stellten diese jedoch aus Loyalität zu Sun zurück. Eine recht starke Gruppe im Z E K hingegen — darunter Lin Sen, Tsou Lu und Shao Yüan-ch'ung — und drei der fünf ZKK-Mitglieder standen in deutlicher Opposition zum „Block von innen". Bereit, die sowjetische technische Hilfe anzunehmen, widersetzten sie sich doch dem steigenden Einfluß der K C T . Diese Oppositionsgruppe bestand meist aus langjährigen Mitgliedern der Partei, die sich durch das Einströmen neuer Kräfte, und zwar nicht nur der Kommunisten, sondern auch vieler nationalistischer Studenten, beiseite gedrängt sahen78. Um den neuen Kurs gegen diese Widerstände abzusichern, entschloß sich Sun am 11. Juli 1924, ein neues, dem Z E K praktisch übergeordnetes Leitungsorgan zu schaffen, das im Parteistatut nicht vorgesehen war: den „Politischen R a t " (Cheng-chih hui-i, zuweilen auch Cheng-chih wei75

Vgl. T'ang, Revolution, p. 149 f. und 184.

'· ibid., p. 183. 77

Finanzbericht Sung Tzu-wens auf dem II. Parteikongreß der K M T am 14. 1. 1926,

78

Vgl. hierzu u. a.: ibid., p. 184.

in: K M W H , Bd. X X , p. 1615—1622. Vgl. audi: T'ang, Revolution, p. 237.

Der Aufbau der „revolutionären

Basis" 1924

103

yüan-hui genannt; hinfort: PR). Er sollte dem ZEK für die Leitung der Parteiangelegenheiten verantwortlich sein, wobei er entweder diesem Maßnahmen vorschlagen oder auch nachträglich dessen Zustimmung für seine Entschlüsse einholen konnte. Außerdem hatte er den Auftrag, die Entscheidungen des Parteiführers auszuführen. Sun übernahm selbst den Vorsitz, und er ernannte zwölf Mitglieder: Wang Ching-wei, Hu Han-min, Liao Chung-k'ai, T'an Yen-k'ai, Tai Chi-t'ao, T'an P'ingshan (alle sechs Vollmitglieder des ZEK), Dr. Wu Ch'ao-shu, General Hsü Ch'ung-chih, Dr. Ch'en Yu-jen"', Sun K'e, Dr. Sung Tzu-wen* (T. V. Soong) und Ku Ying-fen*. Angehörige der ZKK wurden bei der Bildung des neuen Gremiums kurzerhand übergangen79. Damit begann ein Prozeß der Machtkonzentration in Kanton auf immer kleinere Gruppen, der mit der fortschreitenden Ausschaltung des rechten Flügels der KMT aus den politischen Entscheidungsvorgängen Hand in Hand ging. Unter der Führung des PR wurde Kanton in den folgenden Monaten immer mehr zu einem Mekka der Revolutionäre aus aller Welt. Außer den inzwischen über 50 sowjetischen Beratern kamen Kommunisten, Anarchisten, radikale Demokraten und auch mancher Abenteurer, um der revolutionären Bewegung ihre Dienste anzubieten. Einer von ihnen, Andre Malraux, hat in seinem Roman „Les Conquerants" 80 die Atmosphäre, die damals in der Stadt herrschte, meisterhaft geschildert. Fast ebenso plastisch ist die Darstellung, die Richard Huelsenbeck gegeben hat81. Junge Menschen voller Elan drängten sich um Sun, die verschiedensten Ideologien und Theoreme wurden gepredigt, die Nädite vergingen schnell im Wechsel von Diskussionen und Liebe, und man 79

Liste der Mitglieder des PR nach: Rundbrief an die Parteiorganisationen in Kanton über die Bildung des PR vom 1 1 . 7 . 1 9 2 4 (KMT-Archiv). Diese Namensliste bestätigte Sun K'e in einem Interview mit dem Verfasser in Laguna Beach, Calif., am 3. April 1965. Wilbur/How, p. 152 und 501, nennen ebenfalls die Zahl von 12 Mitgliedern (Quelle dort: Ch'ien Tuan-sheng, Sa Shih-ch'iung u. a., Min-kuo cheng-chih shih (Politische Geschichte der Republik), 2 Bde. Shanghai 1946, Bd. I, p. 165 und 193). T'ang Leang-li hingegen gibt an zwei Stellen (Revolution, p. 184 und Wang, p. 97) nur sieben Mitglieder an, u. zw.: Sun selbst, Wang, Hu, Liao, Tai Chi-t'ao, Dr. Wu Ch'ao-shu und T'an P'ing-shan. A n einer anderen Stelle spricht er selber allerdings von neun Mitgliedern und zwei Kandidaten (Foundations, p. 169).

80

Deutsche Ausgabe: D i e Eroberer, Stuttgart 1953. Dieser Bericht von Malraux, romanhaft verschlüsselt, spielt zwar erst im Sommer 1925, die dort geschilderte Atmosphäre existierte aber in Kanton auch schon ein Jahr zuvor. Vgl.: Richard Huelsenbeck, China Frißt Menschen, Ullstein-Taschenbuch N r . 160, Berlin 1957.

81

104

II. Kapitel: Das Bündnis mit den

Kommunisten

spürte offenbar buchstäblich das Anwachsen der „revolutionären Flut". Mitten in dieser Gärung aber arbeiteten kühl, sachlich und zielbewußt die Funktionäre der Komintern und ihre chinesische Gefolgschaft.

Der Durchsetzungskampf der KMT in Kuangtung bis März 1925

Die wachsende Revolutionierung der Arbeiterschaft wurde von den Kaufleuten und Industriellen Kantons mit Sorge beobachtet. Sie sahen sich jetzt doppelt bedroht: auf der einen Seite verlangten die mit Sun zusammenarbeitenden Militärmachthaber Yang und Liu immer neue Steuern für ihre Söldner, andrerseits pochten die KMT-Gewerkschaften auf ihre Rechte. Um diesen Gefahren zu begegnen, hatte Kantons Großbürgertum sich Anfang 1924 unter der Bezeichnung „Freiwilligenkorps der Kaufleute" (Shang-t'uan) eine eigene bewaffnete Organisation geschaffen, die schnell das Interesse Ch'en Ch'iung-mings und der britischen Behörden in Hongkong erweckte. Hier glaubten die Gegner Suns und der KMT, endlich eine Waffe gefunden zu haben, mit deren Hilfe sie die „revolutionäre Basis" liquidieren könnten. An der Spitze des Verbandes stand seit Juni 1924 der Kantoner Komprador der britischen „Hongkong and Shanghai Bank", Ch'en Lien-po, ein energischer und geschickter Kaufmann mit militärischer Ausbildung. Er verstand es, genügend finanzielle Mittel zu mobilisieren, um die Stärke seines „Freiwilligenkorps" erheblich zu vermehren, so daß es Anfang August 1924 bereits bis zu 50 000 Mann umfaßte 82 . Mit britischer Unterstützung kaufte er im Ausland 10 000 Gewehre und 3 Millionen Schuß Munition, die an Bord des norwegischen Frachtdampfers „Havn" am 10. August in Kanton ankommen sollten83. Am 9. August erbat und erhielt Ch'en von einem Beamten des Kantoner Waffenamtes eine Importgenehmigung für die Sendung. Als jedoch Sun Yat-sen dies erfuhr, gab er noch am gleichen Abend Chiang Kai-shek den Befehl, das Schiff mit den Waffen festzuhalten 84 . Dies geschah in den frühen Morgenstunden des 11. August. Ch'en floh, als ihn die Nach82

85 84

So: P'ing Tzu, „Bericht über den Zwischenfall mit dem Kantoner Freiwilligenkorps der Kaufleute" in: Hsien-tai shih-liao (Materialien zur Zeitgeschichte), 4 Bde. Shanghai 1934/35, Bd. III, p. 19. Vgl. auch: Ch'en Hsün-cheng, „Der Zwischenfall mit dem Kantoner Freiwilligenkorps der Kaufleute", in: KMWH, Bd. X, p. 42—45. T'ang, Revolution, p. 185. Vier Briefe Suns an Chiang Kai-shek, in: KMWH, Bd. X, p. 45 f.

Der Durchsetzungskampf

in

Kuangtung

105

rieht von der Aktion Chiangs erreichte, nach Hongkong. Darauf begann Sun am 14. August Verhandlungen mit Vertretern der Kaufleute, denen er die Freigabe der Waffen anbot, sofern sie sich von Ch'en lösten und bereit wären, die Regierung loyal zu unterstützen 85 . Das Korps antwortete jedoch am 20. August mit der Ausrufung eines Streiks, den die Mehrheit der Kaufleute in der Stadt befolgte. Als sich nun die aus zwei Kanonenbooten bestehende KMT-Marine anschickte, die vom Korps kontrollierten westlichen Stadtbezirke zu beschießen, intervenierte Großbritannien: Am 26. August überreichte dessen Konsul in Kanton, Sir Bertram Giles, Sun ein Memorandum, in dem Gewaltmaßnahmen der in Shamien stationierten ausländischen Kanonenboote für den Fall einer Beschießung der Stadt angedroht wurden 86 . Sun antwortete am 1. September mit einem „Manifest an alle ausländischen Staaten" 87 und einem gleichzeitig abgesandten Schreiben an den britischen Premierminister Ramsay Macdonald 88 . Er erhob schärfsten Protest gegen das Vorgehen Großbritanniens. Dennoch sah er sich bald gezwungen, nachzugeben. Die meisten seiner Verbände hatten sich inzwischen nach Nord-Kuangtung in Marsch gesetzt, um von dort aus einen Angriff auf die Anhänger Wu P'ei-fus und der „Chihli-Clique" in Hunan zu unternehmen. In der Umgebung Kantons waren nur die Kadetten von Huangpu und einige andere, schwache Einheiten geblieben, und man befürchtete, daß sie dem Korps und gar erst den auf Shamien stationierten ausländischen Verbänden im Ernstfalle nicht gewachsen sein würden. Als daher die Kaufmannschaft Anfang September anbot, die beschlagnahmten Waffen mit einer Zahlung von einer Million Yüan auszulösen, gab er Chiang am 12. September Anweisung, sie freizugeben89. Diese Ereignisse veranlaßten die KMT, die Aufstellung eigener militärischer Einheiten zu beschleunigen. Am 7. Oktober traf endlich die erste sowjetische Waffenlieferung — 8000 Gewehre und 4 Millionen Schuß Munition 90 — in Huangpu ein91, wo es bisher nur 500 Gewehre gegeben hatte 92 . Sun, der in Shaokuan (Nord-Kuangtung) die Offen85 β

Brief Suns an die Kaufmannschaft von Kanton, in: K M W H , Bd. X , p. 46 f. · T'ang, Revolution, p. 186.

87

88

eo M M

Chinesischer Text in: K M W H , Bd. X , p. 51 ff.; Englisdi in Auszügen bei: T'ang, Revolution, p. 187 f. Chinesischer Textentwurf in: K M W H , Bd. X, p. 53. Brief an Chiang v o m 12. 9. 1924: ibid. Zwei Briefe Suns an Chiang vom 3. und 7. 10. 1924, ibid., p. 53 f. Liu, op. cit., p. 14 f. Chang Ch'i-yün, Tang-shih kai-yao (Grundriß der Geschichte der KMT), 2 Bde. T'aipei 1951/53, Bd. Ι Ι , ρ . 464.

106

Π. Kapitel: Das Bündnis mit den Kommunisten

sive gegen Wu P'ei-fus Armee vorbereitete, gab Chiang am 9. Oktober Anweisung, die Waffen und möglichst auch die Kadettenverbände von Huangpu dorthin zu senden93. Dieser weigerte sich jedoch, da er befürchtete, daß während der Abwesenheit der Parteiverbände Ch'en Ch'iung-ming und Ch'en Lien-po versuchen würden, Kanton zu besetzen. Als dann tatsächlich einen Tag später, am 10. Oktober, das Korps einen Aufstand begann und sich im Westteil der Stadt verbarrikadierte, änderte Sun seine Meinung94. In der Nacht vom 10. zum 11. Oktober ernannte er Wang Ching-wei, Liao Chung-k'ai, Hsü Ch'ung-chih, Chiang Kai-shek, Ch'en Yu-jen und T'an P'ing-shan zu Mitgliedern eines „Revolutionskomitees", das unter seinem Vorsitz als höchstes politisches Entscheidungsgremium fungieren sollte95. Seinen eigenen Stellvertreter und Gouverneur von Kuangtung, Hu Han-min, Schloß er aus diesem Kreis aus, weil, wie er an Chiang schrieb, „unsere Revolution dem russischen Modell folgen muß und Hu Han-min den Glauben daran verloren hat". Auch Wang Ching-wei sei „im Grunde kein Revolutionär russischen Typs", er wurde aber doch in das Revolutionskomitee aufgenommen96. Diese neue Führungsgruppe unterstellte am 14. Oktober die Huangpu-Kadetten, die Kadetten der Militärschule der YünnanArmee in Kanton, die im Aufbau begriffenen „Arbeiter- und Bauernmilizen" und eine Reihe kleinerer Einheiten — insgesamt etwa 3000 Mann — als „Neue Armee" (Hsin-chün) dem Kommando Chiang Kaisheks97. Der Anfang zum Aufbau parteieigener Einheiten war damit gemacht. Bereits am 15. Oktober griffen Chiangs Truppen das Freiwilligenkorps der Kaufleute an, Verbände der Kuangtung-Armee unter Hsü Ch'ung-chih kamen ihnen zu Hilfe, und am 17. Oktober war ganz

M

Telegramm Suns in: Tagebudi Chiang, Bd. VIII, p. 8 f. und K M W H , Bd. X , p. 54.

M

Wilbur/How, p. 155.

95

Das„Revolutionskomitee" umfaßte nach T'ang (Revolution, p. 189) nur fünf Mitglieder, u. zw. Wang, Liao, Hsü, Ch'en und Chiang. T'an wird hier — absichtlich? — ausgelassen. Wilbur/How, p. 156, nennen dagegen sieben Mitglieder, u. zw. die von T'ang genannten zuzüglidi Sun selbst und T'an (Ihre Quelle: Tagebudi Chiang, Bd. VIII, p. 15). Diese Mitteilung wird bestätigt durch: Instruktion N r . 1 und Instruktion N r . 8 des Revolutionskomitees vom 14. 10. 1924 (KMT-Archiv).

"

Zu Suns Bewertung von H u und Wang: Brief Suns an Chiang vom 9. 10. 1924 in: Sun Chung-shan hsien-sheng shou-cha mo-chi (Faksimiles von Herrn Sun Chungshans Briefen), o. O. 1926, p. 6 f. Vgl. hierzu u. a.: Wilbur / How, p. 156. Hervorhebungen im T e x t : d. Verf.

97

ibid., p. 155 und Dokument 11, p. 1 7 1 — 1 7 3 (Bericht Borodins über die Sitzung des Revolutionskomitees vom 14. 10. 1924); sowie: Tagebuch Chiang, Bd. VIII, p. 23.

Der Durchsetzungskampf

in

Kuangtung

107

Kanton in der Hand der K M T . Das Korps ergab sich und wurde entwaffnet 98 . So war es der Partei Suns endlich gelungen, sich die Herrschaft über die Hauptstadt zu sichern. Inzwischen wuchs aber eine neue Bedrohung ihrer Position heran: Ch'en Ch'iung-ming, immer noch im Besitz des Osten und Südostens der Provinz Kuangtung, begann, sich zum Angriff auf Kanton vorzubereiten. Die KMT-Führung, die jetzt beim „Revolutionskomitee" konzentriert war, antwortete damit, daß sie aus den Verbänden der „Neuen Armee", deren Bewaffnung sich durch die Beutewaffen vom Freiwilligenkorps wesentlich verbessert hatte, am 11. November eine etwa 1500 Mann starke „Parteiarmee" (Tang-chün) unter dem Kommando Chiangs bildete. Politischer Kommissar wurde Wang Ching-wei, dem Liao Chungk'ai, T'an P'ing-shan und Chou En-lai als Stellvertreter zur Seite traten". Als Ch'en Anfang Januar 1925 die Offensive gegen Kanton begann, wurde am 15. Januar vom „Revolutionskomitee" beschlossen, unter Chiangs Oberbefehl eine „Ostexpedition" (Tung-chen) gegen Ch'en einzuleiten100. Am 31. Januar schritt Chiang zum Angriff, am 10. Februar hatten seine Verbände bereits die Kanton-Kowloon-Eisenbahn freigekämpft, am 15. Februar eroberten sie Tanshui, am 20. wurden Ch'ens Truppen in der Schlacht bei P'ingshan geschlagen, und am 24. zog Chiang in Haifeng ein. Ch'en rettete sich mit den Resten seiner Verbände nach Shant'ou (Swatow), von wo er dann später noch einmal eine Offensive gegen Kanton unternahm. Zunächst aber hatte die K M T in ihrer revolutionären Basis größere Bewegungsfreiheit gewonnen. Um die Jahreswende 1924/25 war das Bündnis mit der UdSSR fester Bestandteil ihrer Politik geworden. Der „Block von innen" mit der K C T hatte sich etabliert, und unter dem Einfluß der Kommunisten wuchsen Stärke und Aktionsvermögen der Massenorganisationen. Die K C T baute ihre Machtposition innerhalb der Gewerkschaften und Bauernverbände in Kuangtung immer weiter aus. Sie zählte im Januar 1925 insgesamt 900—1000 Mitglieder, zu denen noch etwa 2000 Angehörige des „Sozialistischen Jugendkorps" traten 101 . •8 Wilbur/How, p. 155 f. Dort wird audi die Rolle Chiangs bei der Niederwerfung des Freiwilligenkorps ausführlich behandelt. " Vgl. Liu, op. cit., p. 15 und 25 und Wilbur / How, p. 171 f. 100 Hierzu: Ch'en Hsün-dieng, „Die erste Ostexpedition", in: KMWH, Bd. X , p. 9 5 — 182 und X I , p. 183—249. Dort findet sich audi eine Sammlung der wichtigen militärischen Telegramme dieses Feldzuges (p. 249—253). Vgl. audi: H o Ying-ch'in, „Erinnerungen an die Schlacht von Mienhu", in: K M W H , ibid., p. 269 ff. 101

Wilbur/How, p. 71 (Dokument 1).

108

II. Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

Auch die Machtbasis Chiang Kai-sheks hatte sich erheblich verstärkt. Die ersten Erfolge der von ihm geführten Truppen erhöhten sein Prestige, in Huangpu erzog er sein neues Offizierskorps. Zwei Zentren der Kaderbildung hatten sich also herauskristallisiert: Auf der einen Seite die unter kommunistischer Leitung stehenden Abteilungen beim Z E K der K M T — Organisation, Bauern und Arbeiter —, deren meist junge Mitarbeiter die Massenorganisationen aufbauten, auf der anderen die Huangpu-Akademie unter Chiang. Die Gegner des Bündnisses mit den Kommunisten waren in Kanton nahezu völlig zum Schweigen gebracht worden. Im Norden Chinas, vor allem in Peking, kontrollierten sie jedoch weiterhin die Parteiorganisation, und ihre Anhänger aus Kanton begannen bereits, sich nach Shanghai zurückzuziehen. Die Ereignisse in Kanton Ende August hatten Suns Konflikt mit den Westmächten so verschärft, daß er fast unüberbrückbar schien. Als Hauptfeind galt hier Großbritannien, und je bitterer die Auseinandersetzung wurde, desto stärker entwickelte sich die sowjetische Position in Kanton. Dennoch unternahm der Parteiführer der K M T jetzt, im letzten halben Jahr vor seinem Tode, noch einen Versuch der friedlichen Einigung Chinas und der Aufnahme einer Zusammenarbeit mit Japan. Vieles deutet darauf hin, daß dieser Versuch zugleich der Emanzipation von der einseitigen Bindung an die UdSSR und die Komintern dienen sollte.

Sun Yat-sens Reise nach Nordchina und sein Tod Uberraschende Veränderungen der Machtverhältnisse in Nordchina gaben Sun Yat-sen die Gelegenheit dazu. Der Beherrscher Tung-peis, Marschall Chang Tso-lin, lose mit der Südregierung verbündet, rüstete sich zum Angriff auf die „Chihli-Clique", die Peking beherrschte. Um ihn zu unterstützen, ließ Sun den größten Teil der ihm unterstehenden Verbände gegen die von Wu P'ei-fu kontrollierte Provinz Hunan aufmarschieren. Er gab diesen Truppen die Bezeichnung „WiederaufbauArmee" (Chien-kuo chün) und begab sich nach Shaokuan, um dort selbst die Leitung der Operationen zu übernehmen. Am 13. September ernannte er Hu Han-min zum „amtierenden Generalissimus", Liao Chungk'ai aber zum Gouverneur von Kuangtung und ging an die Front 102 , 101

Zwei Befehle Suns an Hu Han-min vom 13. 9. 1924: KMWH, Bd. X, p. 76 f.

Sun Yat-sens

Reise nach Nordchina

und sein Tod

109

wo am 18. September die Feindseligkeiten ausbrachen, nachdem Chang bereits am 16. in Nord-Hupei zum Angriff auf Wu angetreten war. Doch plötzlich wandte sich General Feng Yü-hsiang*, ein Armeekommandant der „Chihli-Clique", der an der Großen Mauer kämpfen sollte, mit seinen Truppen am 23. Oktober gegen Peking, eroberte die Hauptstadt im Handstreich und vertrieb Wu und den Präsidenten Ts'ao K'un 103 . Zwei Tage später gab er seinen Verbänden den Namen „Nationalarmee" (Kuominchün). Er schien damit andeuten zu wollen, daß er zur Zusammenarbeit mit der KMT auf der Grundlage der Theorie Sun Yatsens bereit sei104. Am 31. Oktober setzte er sogar vorübergehend ein KMT-Mitglied, Huang Fu*, als amtierenden Premierminister der Zentralregierung ein. Sun, der offenbar jetzt eine Möglichkeit sah, zu einer unblutigen Einigung des Landes zu gelangen, brach am 30. Oktober seinen Feldzug ab und eilte nach Kanton, wo ihn bereits am 1. und 6. November Telegramme der Kuominchün-Generale und auch Tuan Ch'i-juis erreichten, in denen er eingeladen wurde, zu Einigungsgesprächen nach Peking zu kommen108. Am 4. November teilte er ihnen und ebenso Chang Tso-lin mit, daß er sich zur Abreise bereit mache10'. Eine Reihe seiner Mitarbeiter rieten Sun von diesem Schritt ab, und Borodin versuchte, ihn zu einem Besuch in Moskau zu überreden107, er aber blieb bei seiner Entscheidung. Wang Ching-wei ernannte er zum Leiter der Gruppe von KMT-Funktionären, die ihn begleitete, während Hu Han-min die Regierungsgewalt in Kanton übergeben und Liao 103

Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 318 f. und Li, op. cit., p. 471 ff. Auch: Feng Yühsiang, Feng Yü-hsiang jih-chi (F.'s Tagebuch), 2 Bde., 2. Aufl. Peking 1932 (hinfort: Tagebuch F£ng), Bd. I, p. 121 f. 104 Wilbur/How, p. 318 f. und 514, stellen hierzu u. a. folgendes fest: „In seiner Autobiographie, die 1944 veröffentlicht wurde (Feng Yü-hsiang, Wo-te sheng-huo, (Mein Leben), 3 Bde. Ch'ungk'ing 1944, Bd. III, p. 1 f., 5 ff., 18 f.), präsentiert F. seine Interpretation. Er betont, der Putsch sei geplant worden als eine Revolution zur Unterstützung der Grundsätze Sun Yat-sens. Er sei für den Zweck begonnen worden, Sun nach Peking einzuladen, um die Autorität der K M T über Nordchina zu errichten. Zeitgenössische Dokumente widersprechen jedoch dieser Darstellung Fengs." los Telegramm von Kuominchün-Generalen an Sun vom 1 . 1 1 . 1924 in: K M W H , Bd. X , p. 78; Telegramme von Tuan Ch'i-jui und Kuominchün-Generalen an Sun: ibid., p. 80. loo Telegramme Suns an Chang Tso-lin und die Kuominchün-Generale vom 4. 11. 1924: 107

ibid., p. 79. Chiang, op. cit., p. 57.

110

II. Kapitel: Das Bündnis mit den

Kommunisten

Chung-k'ai als Oberster Politkommissar aller Einheiten in Kuangtung eingesetzt wurde 108 . Ehe Sun am 13. November abreiste, erließ er ein Manifest an das chinesische Volk, in dem er die Einberufung eines „ N a tionalkonvents" (Kuo-min hui-i) und die Abschaffung der ungleichen Verträge (Fei-ch'u pu-p'ing-teng-te t'iao-yüeh) als die wichtigsten Aufgaben der Gegenwart bezeichnete. Damit waren seine politischen Nahziele formuliert 109 . Von Kanton reiste er zunächst nach Shanghai, wo er am 17. November eintraf. Völlig überraschend entschloß er sich dort zu einer Reise nach Japan, die er am 22. November antrat. Noch an Bord des Schiffes, mit dem er nach Japan fuhr, gab Sun am 24. November japanischen Journalisten eine Pressekonferenz, in der er Japan aufforderte, China bei der Beseitigung der ungleichen Verträge zu helfen und den Abschluß einer japanisch-chinesischen Militär- und Wirtschaftsallianz als Basis für die Schaffung einer „Groß-Ostasiatischen Wohlstandssphäre" vorschlug. Langfristig gesehen, so sagte er, könne Japan auf diese Weise viel mehr gewinnen, als es im Augenblick durch die Aufgabe seiner Sonderrechte in China vielleicht verlieren würde 110 . Diesen Gedanken wiederholte er in den folgenden Tagen in einer ganzen Reihe von Presseerklärungen und Reden in Japan, vor allem am 28. November in Kobe 111 . Der unerwartete Vorstoß des Parteiführers der K M T traf sofort auf den Widerstand Borodins, der sowjetischen Berater und der K C T . Deren Sorgen schienen durchaus berechtigt zu sein; denn hier ging es um mehr als ein paar freundliche Worte in einem Land, in dem Sun zu Gast war. Er versuchte augenscheinlich, eine Alternative zum Bündnis mit der UdSSR zu schaffen und auf diese Weise seinen politischen Spielraum zu erweitern. Die Vorschläge in Japan müssen im Zusammenhang mit Suns neuerweckten Hoffnungen auf eine friedliche Einigung Chinas gesehen werden. Als er von Shanghai nach Japan reiste, hielt er es für möglich, daß aus den Pekinger Gesprächen mit Tuan Ch'i-jui, Feng Yü-hsiang und Chang Tso-lin die Einberufung des „Nationalkonventes" und die 108

T a n g , Revolution, p. 190.

109

M a n i f e s t Suns an das chinesische V o l k v o m 10. 11. 1924, in: T a - y ü a n - s h o a i kuanyü p e i - f a chih ming-ling chih hsüan-yen (Befehle und M a n i f e s t e des Generalissimus über die N o r d e x p e d i t i o n ) , hrsg. von der P r o p a g a n d a a b t e i l u n g beim Z E K und K M T , o. O., o. J . (Wahrsch. 1925), p. 18—23. Engl, bei: Wang Ching-wei u. a., T h e Chinese N a t i o n a l Revolution, Peking 1931, Anhang, p. 1 8 3 — 1 8 8 .

110

T e x t der Pressekonferenz: K M W H , B d . X , p. 8 3 — 8 6 .

111

T e x t der Pressekonferenz: K M W H , Bd. X , p. 83—86.

Sun Yat-sens Reise nach Nordchina und sein Tod

111

Bildung einer zivilen, von der KMT stark beeinflußten Zentralregierung hervorgehen könnten. Im Bündnis mit Japan hatte — so scheint er überlegt zu haben — diese Regierung eine echte Chance, die ungleichen Verträge zu liquidieren, und damit würde die einseitige Bindung an die UdSSR und die Komintern unnötig werden. Doch Suns Emanzipationsversuch scheiterte. Während er noch auf dem Wege nach Japan war, hatten sich in Peking Chang Tso-lin und die Kuominchün-Generale darauf geeinigt, den Leiter der „Anfu-Clique", Tuan Ch'i-jui, als „Chef der Exekutive" (Chih-cheng) einzusetzen. Tuan, der am 24. November sein Amt antrat, hegte über die Wiedervereinigung Chinas Vorstellungen, die mit denjenigen Suns nicht zu vereinbaren waren112. Sun hatte in seinem Manifest vom 10. November vorgeschlagen, daß neun Gruppen Delegierte zum „Nationalkonvent" entsenden sollen: 1. Industriellen-Vereinigungen; 2. Handelskammern und Kaufmannsverbände; 3. Erziehungsverbände; 4. Universitäten; 5. die Studenten Vereinigungen der Provinzen; 6. Gewerkschaften; 7. Bauernverbände; 8. Armeen, die gegen WuP'ei-fu undTs'aoK'un gekämpft hatten; und 9. politische Parteien mit „klarem Programm". Diese Delegierten sollten von ihren Organisationen frei gewählt werden und über die Zukunft des Landes souverän entscheiden113. Tuan hingegen berief am 24. Dezember durch Dekret eine „Wiederaufbau-Konferenz" nach Peking ein, die sich aus „den großen militärischen Kommandanten, hohen Beamten und rund 30 angesehenen Bürgern, die der ,Chef der Exekutive' ernennt" zusammensetzen sollte114. Auf dieser Konferenz wollte er überhaupt erst über die Frage, ob ein „Nationalkonvent" zusammentreten solle, entscheiden lassen. Audi die Reaktion Japans auf Suns Bündnisvorschlag war äußerst zurückhaltend115. Zwar wurde er von chinafreundlichen Gruppen in Hi-

111

Englisdier Text in: Sun, Vital Problem, op. cit., p. 162—173.

112

Vgl. hierzu: Wilbur / How, p. 319.

113

Dokument: Anm. 109 ibid. Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 192 f.

114

ibid., p. 191.

115

ibid.

112

IL Kapitel: Das Bündnis mit den Kommunisten

roshima und Kobe begeistert empfangen, die japanische Regierung aber ignorierte ihn völlig. Als er am 4. Dezember in T'ienchin ankam, versuchten die Behörden, eine Demonstration von über 100 000 Menschen, die ihn begrüßen wollten, zu verhindern. Dies gelang ihnen nicht; doch der Parteiführer der K M T war bereits bei seiner Ankunft in Nordchina vom Tode gezeichnet. Schwer krank blieb er bis zum 31. Dezember in T'ienchin und reiste dann nach Peking, ohne die Volksmassen, die ihn erwarteten, anreden zu können. Inzwischen hatte Tuan das Datum für den Beginn seiner „Wiederaufbau-Konferenz" auf den 1. Februar festgesetzt. Sun, der zu längeren Verhandlungen nicht mehr fähig war, unternahm am 17. Januar 1925 noch einen letzten Versuch, zur Einigung zu gelangen. In einem Telegramm an den „Chef der Exekutive" erklärte er sich zur Teilnahme an der „Wiederaufbau-Konferenz" bereit, falls Tuan sich bereitfinden würde, zu dieser auch Vertreter der „Volksorganisationen" zuzulassen und die spätere Einberufung des „Nationalkonvents" zu garantieren, der über die Beschlüsse der Konferenz endgültig zu entscheiden hätte 116 . Doch auch dieser Vorschlag wurde von Tuan ignoriert. Verzweifelte Bemühungen Wang Ching-weis, Wu Chih-huis und K'ung Hsianghsis:;', wenigstens Feng Yü-hsiang, der mit seinen Truppen die Hauptstadt kontrollierte, für die Pläne Suns zu gewinnen, blieben ebenfalls erfolglos 117 . Am 1. Februar trat Tuans Konferenz in Peking zusammen, schon am 2. Februar erklärte das Z E K der K M T in einem Zirkulartelegramm 118 , daß die Partei nicht daran teilnehmen werde, in einer Proklamation vom 10. Februar rief das Z E K schließlich das chinesische Volk auf, die Wiederaufbau-Konferenz zu bekämpfen und sich für den Zusammentritt des „Nationalkonvents" einzusetzen119. Damit war der Bruch zwischen der Partei Suns und den nordchinesischen Militärmachthabern endgültig vollzogen. Diese Ereignisse führten zu einer neuen Stärkung der Position Borodins und der Kommunisten innerhalb der K M T . Vor allem die K C T verhehlte ihre ablehnende Haltung gegenüber Suns letztem Einigungsversuch kaum. In einem Manifest vom November 1924 hatte sie zwar keine Einwände gegen die Aktion des KMT-Führers erhoben, wohl aber ge116

T e l e g r a m m Suns an T u a n Ch'i-jui v o m 17. 1. 1925: ibid., p. 91 ff.

118

Z i r k u l a r t e l e g r a m m des Z E K p. 30 f. u n d :

KMWH,

der K M T

Bd. X ,

vom

2.2.1925,

in: H u a n g p u - S a m m l u n g ,

p. 93 f. Zirkulartelegramme (t'ung-tien) waren

in

China bis 1949 bei allen politischen K r ä f t e n ein bedeutsames Mittel der P r o p a g a n d a . 117

W i l b u r / H o w , p. 321.

119

E r k l ä r u n g des Z E K der K M T vom 10. 2. 1925, in: K M W H , Bd. X , p. 95.

Sun Yat-sens Reise nach Nordchina und sein Tod

113

fordert, daß eine „Vorbereitungskonferenz" für den „Nationalkonvent" zusammentreten solle, welche bis zur Eröffnung des Konvents selbst die Funktionen einer provisorischen Regierung ausüben müsse120. Bei den Beratungen in Kanton wandten sich die Vertreter der K C T gegen Suns Reise nach Norden und verlangten, daß zunächst die „Gegenrevolutionäre" in Kuangtung vernichtet und die „revolutionäre Basis" weiter konsolidiert werden müsse. Am 7. Januar 1925 erschien gar in der kommunistischen Wochenzeitschrift „Hsiang-tao chou-pao" ein Artikel von Ch'en Tu-hsius engem Mitarbeiter P'eng Shu-chih, in dem Sun offen der „Schwäche und Unklarheit" gegenüber Tuan Ch'i-jui bezichtigt wurde121. Auf ihrem IV. Parteitag in Kanton im gleichen Monat verabschiedete die K C T eine Resolution, die für jede Zusammenarbeit mit Militärmachthabern Bedingungen stellte, welche für diese unannehmbar waren122. So hatten die Kommunisten alles versucht, um Suns Verhandlungen in Peking zu erschweren. Die Militärmachthaber des Nordens aber erwiesen ihnen den Gefallen, sich über die Vorschläge des Führers der KMT hinwegzusetzen. Dieser wandte sich daher in den letzten Wochen seines Lebens wieder ganz dem Bündnis mit den Kommunisten zu. Am 21. Januar hatte sich seine Krankheit so verschlimmert, daß er ins Krankenhaus gehen und am 26. Januar operiert werden mußte. Die Operation aber kam zu spät. Sie konnte nur noch Gewißheit darüber verschaffen, daß Sun unheilbar an Leberkrebs erkrankt war. Als sich diese Nachricht verbreitete, eilten viele leitende Mitglieder der K M T nach Peking, um ihren Führer noch einmal zu sehen123. Wang Chingwei, der in diesen Wochen den engsten Kontakt zu Sun hatte, wurde von den Ärzten am 24. Februar 1925 darüber informiert, daß dieser nur noch eine kurze Zeit zu leben habe. Noch am gleichen Tage versammelten sich Wang, K'ung Hsiang-hsi, Sung Tzu-wen, Sun K'e und Tsou Lu an Suns Krankenbett. Wang bat ihn, den Mitgliedern der K M T ein politisches Testament zu hinterlassen und legte ihm diesen Entwurf vor: 120

Viertes Manifest der K C T zur gegenwärtigen Lage, in: Chung-kuo K C T wu-nienlai chih cheng-diih chu-diang (Politische Richtlinien der K C T in den letzten fünf Jahren), 2. Aufl. o. O. 1926 (hinfort: KCT-Riditlinien), p. 64 ff.

Wilbur / How, p. 320. 122 Vgl. hierzu auch: Warren Kuo, „The C C P 4th National Congress", in: „Issues and Studies", Bd. I, Nr. 7 v. April 1965, p. 28—45 (dort audi Resolutionstext). 1 2 3 Der eindrucksvollste Bericht über die letzten Lebenstage Suns findet sich bei: T'ang, Revolution, p. 190—197. Ich folge ihm hier, weil er sowohl von Sun K'e (3. 4. 1965 in Laguna Beach, Calif.) als audi von K'ung Hsiang-hsi (12. 9. 1964 in T'aichung, T'aiwan) in Interviews mir gegenüber als zutreffend bezeichnet wurde.

121

8

Domes

II. Kapitel: Das Bündnis mit den Kommunisten

114

„Vierzig J a h r e lang habe ich midi für die Volksrevolution eingesetzt, deren Ziel es ist, China die nationale Freiheit und die internationale Gleichberechtigung zu erkämpfen. Die Erfahrungen dieser vierzig J a h r e haben midi zu der Erkenntnis gebradit, daß es nur einen Weg gibt, dieses Ziel zu erreichen: die Volksmassen zu erwecken und denjenigen Völkern in der Welt die H a n d zu reidien, die uns in unserem K a m p f für die gemeinsame Sadie als Gleichberechtigte behandeln. Die Revolution ist immer noch unvollendet. Deshalb fordere ich die Genossen in der Partei auf, den K a m p f für die Verwirklichung unserer Ziele fortzusetzen, bis der Sieg errungen ist. Dies soll in Übereinstimmung mit dem „Plan des Nationalen Aufbaus" (Chien-kuo fang-lüeh), den „Grundsätzen des Nationalen Aufbaus" (Chien-kuo ta-kang), den „Drei Grundlehren vom V o l k " (San Min Chu Y i ) und dem Manifest des I. Parteikongresses geschehen. V o r allem aber müssen meine Pläne für die Einberufung eines Nationalkonvents und die Abschaffung der ungleichen Verträge so schnell wie möglidi verwirklicht werden. Dies ist mein letzter Wille 1 2 4 ."

Sun stimmte dem Entwurf ohne Änderungswünsche zu, weigerte sich aber, jetzt schon zu unterschreiben. Gleichzeitig bat er Ch'en Yu-jen, der sich ebenfalls in Peking aufhielt, eine Grußbotsdiaft an das Zentrale Exekutivkomitee des Rätekongresses der UdSSR zu entwerfen: „Liebe Genossen! Während idi hier an einer Krankheit leide, gegen die Menschen machtlos sind, gehen meine Gedanken zu Euch, und sie wenden sich dem Schicksal meiner Partei und meines Volkes zu. Ihr steht an der Spitze einer Union freier Republiken, jenes Erbes, daß der unsterbliche Lenin den unterdrückten Völkern der Welt hinterlassen hat. Mit der H i l f e dieses Erbes werden die O p f e r des Imperialismus unvermeidlich die Befreiung von jenem internationalen Regime erringen, das seit jeher auf Sklaverei, Krieg und Ungerechtigkeit gegründet war. Ich hinterlasse eine Partei, die — wie ich immer gehofft habe — mit Euch in der historischen Aufgabe der Befreiung Chinas und anderer ausgebeuteter Nationen vom Joch des Imperialismus verbunden sein wird. Das Schicksal will, daß ich mein Werk unvollendet in die Hände derer legen muß, die, weil sie den Grundsätzen und Lehren meiner Partei treu bleiben, meine wirklichen Gefolgsleute sind. Deshalb beauftrage ich die K M T , die Arbeit für die nationalrevolutionäre Bewegung fortzusetzen, auf daß China, das von den Imperialisten zu einem halbkolonialen Land gemacht worden ist, frei werde. Mit diesem Ziel habe ich die Partei angewiesen, ständige Verbindung mit Euch zu halten. Ich glaube fest daran, daß Ihr die Unterstützung, die Ihr meinem Land bisher gegeben habt, fortsetzen werdet. Indem ich midi von Euch verabschiede, möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, daß der Tag, an dem die U d S S R ein mächtiges, freies China als Bundesgenossen willkommen heißen kann, bald kommen möge, und daß diese beiden Bundesgenossen Hand in H a n d vorangehen mögen zum großen K a m p f um die Befreiung der unterdrückten Völker der Welt. Mit brüderlichen Grüßen . . .»«»«

124

Übersetzt aus dem englischen T e x t bei Woo, op. cit., p. 253.

125

Chinesisch bei: H u Hua, op. cit., p. 55 f.; Englisch bei Leng/Palmer, op. cit., p. 83.

Sun Yat-sens Reise nach Nordchina und sein Tod

115

In Gegenwart von Wang Ching-wei, Sung Tzu-wen, Sun K'e, Shao Yüan-ch'ung, Tai En-sai126, Wu Chih-hui, Frau Ho Hsiang-ning*, Tai Chi-t'ao und Tsou Lu unterschrieb Sun am Nachmittag des 11. März sowohl sein politisches Testament als auch die Grußbotschaft an die Führer der UdSSR. Als später Borodin, der ebenfalls nach Peking gekommen war, ihn aufsuchte, war er bereits bewußtlos. Der Tod kam am 12. März 1925 um 9.30 Uhr morgens. Suns Tod erweckte in ganz China eine Welle der öffentlichen Trauer, gegen welche die Militärmachthaber nichts zu unternehmen vermochten. Als sein Leichnam am 20. März in Peking aufgebahrt wurde, begleiteten weit über 100 000 Menschen den Trauerzug. Für einen Augenblick ruhten die Kämpfe im Land, und alle Beobachter berichten übereinstimmend, daß das Volk sich verhalten habe, als sei sein Vater gestorben. Bald aber trat die Tagespolitik wieder in den Vordergrund. Zunächst galt es, eine Entscheidung über Suns Nachfolge in der Partei zu treffen. Plötzlich tauchte der Militärmachthaber von Yünnan, T'ang Chi-yao, der bis 1922 mit Sun zusammengearbeitet hatte, wieder auf und erklärte am 18. März, daß er jetzt das Amt des „Generalissimus" der Südregierung übernähme127. Bereits am 26. März wies die KMT-Führung dieses Ansinnen jedoch energisch zurück und schuf sich so unter den regionalen Militärmachthabern einen neuen Feind128. Inzwischen hatten am 21. März die in Kanton zurückgebliebenen Parteiführer der KMT in einem Zirkulartelegramm erklärt, daß sie „die nationale Revolution weiterführen und das Testament Sun Yat-sens als (für sie) verbindlich ansehen" wollten129. Vom 18. bis zum 23. Mai trat dann das ZEK der KMT in Peking, wo die meisten führenden Anhänger Suns sich inzwischen versammelt hatten, zu seinem 3. Plenum zusammen130. Man beschloß, den Posten des Parteiführers (Tsung-li) nicht wieder zu besetzen, wohl aber die einschlägigen Bestimmungen über dessen Position zum Andenken an Dr. Sun Yat-sen im Parteistatut unverändert zu lassen (Kapitel IV, Art. 19—24). An der Spitze der Partei sollte hinfort das ZEK als kollektives Führungsgremium stehen, das 120

Ein Verwandter von Tai Chi-t'ao, der jedoch keine leitende politische Rolle gespielt hat.

127

Zirkulartelegramm T'ang Chi-yaos vom 18. 3. 1925 (KMT-Archiv).

128

Zirkulartelegramm des Z E K der K M T vom 26. 3 . 1 9 2 5 (KMT-Archiv).

120

Zirkulartelegramm Kantoner KMT-Führer vom 2 1 . 3 . 1 9 2 5 , in: K M W H , Bd. X I , p. 153.

,3e

Wilbur/How, p. 158.

116

II. Kapitel:

Das Bündnis mit den

Kommunisten

sich zur Regelung der Geschäftsordnung einen Vorsitzenden wählte. Wang Ching-wei übernahm dieses Amt. Im übrigen erließ das 3. Plenum ein Manifest, in dem es das Testament Suns als verbindlich für alle Mitglieder der KMT erklärte 131 , und es betonte in einer „Stellungnahme zur gegenwärtigen Lage"132 sein Festhalten an der Politik des Bündnisses mit der UdSSR und des „Blocks von innen" mit der KCT. Schließlich wurde beschlossen, die Sitzung im Juni in Kanton fortzusetzen. Dort hatte Hu Han-min vorläufig das Amt eines „amtierenden Generalissimus" übernommen. So war die Frage der Nachfolge Suns zugunsten Wang Ching-weis entschieden worden, man hatte allerdings dessen Funktionen gleichzeitig so begrenzt, daß sie mit denen des verstorbenen Parteiführers nicht verglichen werden konnten. Die wirklichen Kämpfe um die Führung unter den bisherigen Mitarbeitern Suns sollten aber erst später beginnen. In ihren Mittelpunkt trat die Frage der Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Kommunisten.

131

isf

Manifest des ZEK der KMT über die Annahme des Testaments des „Tsung-li" v. 24. 5.1925: ibid., p. 264—269 und: Huangpu-Sammlung, p. 37—41. Chinesischer Text: ibid., p. 58—60.

III. Kapitel Die Konsolidierung in Kuangtung und der Aufstieg Chiang Kai-sheks Die Errichtung der „Nationalregierung"

in Kanton

Im Frühjahr 1925 hatte sich die Lage für die K M T in Kuangtung trotz der Erfolge während der „ersten Ostexpedition" ungünstig entwickelt. Die „revolutionäre Basis" war nach dem Tode Suns von den Kräften regionaler Militärmachthaber bedroht. Der Yünnan-General T'ang Chi-yao bereitete sich vor, mit seinen Verbänden durch Nordkuangsi auf Kanton vorzustoßen. Im Osten von Kuangtung stand Ch'en Ch'iung-ming, und wartete darauf, bei einer günstigen Gelegenheit eine neue Offensive gegen Kanton zu beginnen. Schon im April gelang es ihm, der K M T die Stadt Haifeng wieder zu entreißen. Noch gefährlicher aber war, daß die Generale Yang Hsi-min und Liu Chen-huan, die mit ihren Truppen die Stadt Kanton selbst kontrollierten, jetzt begannen, Verbindungen mit T'ang und Ch'en und auch mit der Pekinger Zentralregierung anzuknüpfen. Sie schienen sich auf eine Aktion zum Sturz der Parteiherrschaft in der Stadt vorzubereiten1. Diesem Aufmarsch feindlicher oder unzuverlässiger Streitkräfte hatte die K M T nur die Kuangtung-Armee Hsü Ch'ung-chihs, die Reste der „Nordexpeditionsarmee" im Grenzgebiet von Kuangtung und Hunan und die jetzt etwa 3000 Mann starke „Parteiarmee" Chiang Kai-sheks 2 entgegenzustellen. Um den Einfluß der K M T in diesen Verbänden zu verstärken, ordnete das ZEK noch von Peking aus am 25. Mai an, daß die zivilen Partei- und Regierungsinstanzen gegenüber dem Militär das Weisungsrecht erhalten, und daß in allen Einheiten Politkommissare, die den gleichen Rang wie die jeweiligen Kommandeure bekleideten, eingesetzt werden sollten3. 1 2 3

Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 198 ff. So Liu, op. cit., p. 25. T'ang, Revolution, p. 202.

118

III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg Chiang

Kai-sheks

Hoffnungsvoller stellte sich die Situation für die K M T in Kuangsi dar. Hier hatten die jungen Generale Li Tsung-jeir", Pai Ch'ung-hsi:;" und Huang Shao-hsiung im August 1924 den Militärmachthaber Lu Jungt'ing aus dem Norden der Provinz und bald auch aus Kueichou vertrieben und sich im Oktober jenes Jahres, mindestens nominell, der Führung Sun Yat-sens unterstellt, der Li am 24. November zum Oberbefehlshaber in Kuangsi ernannte4. Als T'ang nun im Mai 1925 in Kuangsi einbrach, um von dort auf Kanton vorzustoßen, wurde er von den Truppen der dortigen Generäle geschlagen und in seine Heimatprovinz Yünnan zurückgeworfen. Li und Pai säuberten ihr Herrschaftsgebiet von den Gegnern, und im September 1925 war ganz Kuangsi in ihrer Hand 5 . In Kuangtung selbst aber verschärfte sich jetzt der Konflikt mit Yang Hsi-min und Liu Chen-huan. Die Offensive Tangs gegen Kuangsi gab ihnen den Vorwand, am 3. Mai die Errichtung einer „Verteidigungsregion", die Kanton und Umgebung umfaßte, zu proklamieren und auf diese Weise ihre Machtbefugnisse in der Stadt weiter auszudehnen. Liao Chung-k'ai bemühte sich jetzt, jene Truppe, deren Loyalität zur K M T außer Zweifel stand, gegen Yang und Liu zu mobilisieren. In Shant'ou (Swatow) traf er Hsü und Chiang, die sich auf die Fortsetzung der Offensive gegen Ch'en Ch'iung-ming vorbereiteten. Nachdem Ende Mai auch Wang Ching-wei und T'an Yen-k'ai in Shant'ou angekommen waren, fand dort eine Konferenz statt, auf der man Chiangs Ernennung zum Chef der „Parteiarmee" bestätigte und Pläne zur Ausschaltung von Yang und Liu diskutierte6. Der Zusammenstoß kam früher, als ursprünglich erwartet worden war. Denn am 2. Juni verkündete der „amtierende Generalissimus" Hu Han-min, daß hinfort die Haushalte aller Streitkräfte und zivilen Einrichtungen in der Provinz Kuangtung unter der Kontrolle der Regierung vereinigt werden sollten7. Diese Anordnung forderte den Widerstand Yangs und Lius heraus, die bereits einen Tag später alle Militärbefehlshaber zu einer Konferenz nach Kanton einluden, um Gegenmaßnahmen gegen die „Arroganz" der Zivilbehörden zu beraten. A m 4. Juni besetzten ihre Soldaten die Gebäude des Finanzministeriums und der Provinzregierung und errichteten Straßensperren in der Stadt. A m 5. erklärte das Z E K die beiden für abgesetzt

4

Telegramm Suns an L i Tsung-jen vom 24. 11. 1924 ( K M T - A r c h i v ) .

5

V g l . T'ang, Revolution, p. 227.

6

Vgl. Wilbur/How, op. cit., p. 162.

7

Erklärung des amtierenden Generalissimus über die Vereinigung der militärischen und zivilen Haushalte vom 2. 6.1925, in: K M W H , Bd. X I , p. 283 f.

Die Errichtung der „Nationalregierung"

in Kanton

119

und am 7. veröffentlichte Hu Han-min ein Zirkulartelegramm, in dem er Yang und Liu offen der Rebellion bezichtigte. Er teilte darin mit, daß sie sich mit T'ang Chi-yao, Ch'en Ch'iung-ming und den Machthabern in Peking gegen die Partei und die nationale Revolution verschworen hätten, sie müßten deshalb jetzt „bestraft" werden 8 . Inzwischen waren die Truppen Chiangs und Hsüs in den Vororten von Kanton angekommen und gingen am 9. Juni zum Angriff über. In dreitägigen Straßenkämpfen gelang es ihnen, die Stadt von den Verbänden Yangs und Lius zu säubern. Chiang, der zum Garnison-Kommandanten von Kanton ernannt worden war 9 , ließ am 12. Juni 20 000 Yünnan-Soldaten in der Nähe der Stadt einschließen, und nach deren Kapitulation und Entwaffnung floh Yang am 14. Juni nach Hongkong 10 . In Kanton befanden sich jetzt nur noch solche Truppenverbände, auf die sich die KMT verlassen konnte. Unter ihrem Schutz begann in der südchinesischen Hauptstadt schon am 13. Juni der zweite Teil der 3. Plenarsitzung des ZEK. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand dabei die Reorganisation des Regierungsapparates. Die von der KMT getragene Regierung in Südchina war bis dahin mit dem Hauptquartier (Ta-pen-ying) des „Generalissimus" identisch, bei dem verschiedene Abteilungen oder audi „Ministerien" und eine Reihe anderer Ämter errichtet worden waren 11 . Dieses System war ganz auf den persönlichen Regierungsstil Sun Yat-sens zugeschnitten und erschien nach dessen Tod als nicht mehr praktikabel. Außerdem trug das Hauptquartier in Kanton zwar den Charakter einer Gegenregierung gegen Peking, es konnte aber jederzeit nach einer Einigung mit dem Norden in eine gesamtchinesische Herrschaftsordnung eingegliedert werden. Schon am 30. Januar 1924 hatte der I. Parteikongreß der KMT eine Entschließung verabschiedet, in der die Errichtung einer „Nationalregierung der Republik China" (Chung-hua-min-kuo kuo-min cheng-fu) gefordert worden war 12 . Jetzt nahm das ZEK diese Forderung auf und entschloß sich damit gleichzeitig, den endgültigen Bruch mit den Macht8

Zirkulartelegramm des amtierenden Generalissimus über die Rebellion Yang Hsimins und Liu Chen-huans vom 7. 6. 1925, ibid., p. 284 f.

• Wilbur/How, ibid. 10

Vgl. T'ang, Revolution, p. 201 ff.

11

Vgl. KMWH, Bd. X, p. 76.

12

Resolution des I. Parteikongresses der KMT über die Bildung einer Nationalregierung vom 30. 1. 1924, in: KMWH, Bd. VIII, p. 105. Vgl. dazu: Entschließung des 1. Plenums des ZEK der KMT vom 13. 2.1924, ibid., Bd. X X , p. 1513 ff.

120

111. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

habern in Peking zu vollziehen13. Auf Antrag Liao Chung-k'ais, der von Wang Ching-wei, Hsü Ch'ung-chih und Chiang Kai-shek unterstützt wurde, entschied es am 14. Juni, einen „Nationalregierungsrat" (Kuo-min-cheng-fu wei-yüan-hui) zu bilden14, der als kollektives Führungsgremium arbeiten sollte. Er hatte jedoch nur exekutive Befugnisse, und zwar als Organ des ZEK. Die politischen Entscheidungen sollten weiterhin vom PR gefällt werden, an dessen Weisungen die Nationalregierung fortan gebunden war 15 . Die Kontrolle und Leitung aller Streitkräfte der Nationalregierung übernahm die Partei, für die ein „Militärrat" (Chün-shih wei-yüan-hui) als Ausführungsorgan des ZEK und des PR der KMT die Verwaltungsarbeit zu leisten hatte. Nachdem auch dies am 22. Juni beschlossen worden war, stellte sich noch die Frage, ob der „amtierende Generalissimus" Hu Han-min bereit sein würde, sich den Entscheidungen des ZEK zu unterwerfen, durch die sein Amt beseitigt und damit auch seine Autorität erheblich geschmälert wurde. Hu verhielt sich loyal gegenüber der Partei. Schon am 24. Juni teilte er der Öffentlichkeit in einem Zirkulartelegramm mit, daß er zurücktrete und die neu zu bildende Nationalregierung seine bisherigen Funktionen übernehme 16 . Das „Gesetz über die Organisation der Nationalregierung der Republik China" 17 bestimmt, daß die Nationalregierung der KMT für die „politischen Angelegenheiten des ganzen Landes verantwortlich" ist (Art. 1). Der „Nationalregierungsrat" wird vom ZEK der KMT gewählt und ernennt aus seiner Mitte einen Vorsitzenden und einen „Ständigen Ausschuß" von fünf Mitgliedern (Art. 2 und 3). Wichtige Angelegenheiten müssen vom Rat in seiner Gesamtheit entschieden werden. Sind weniger als die Hälfte der Ratsmitglieder anwesend, so entscheidet der „Ständige Ausschuß" (Art. 5). Nach den Weisungen des Rates arbeiten zunächst drei Ministerien: für Heeresverwaltung, für Auswärtige Angelegenheiten und für Finanzen. Wenn es sich als notwendig er13

14

Vgl. zum folgenden Absatz u . a . : T'ang, Revolution, p. p. 107 ff. und Wilbur/How, p. 162 ff. Chung-kuo kuomintang ti-i-chieh chung-yang chih-hsing ch'üan-t'i hui-i hui-i-k'an (Protokoll des 3. Plenums des tographiert o. O. 1925 (KMT-Archiv). Hierzu auch: T'ang,

204—207; Ders., Wang, wei-yüan-hui ti-san-tz'u I. ZEK der KMT), hekRevolution, p. 204.

15

Nach Wilbur/How, p. 163, wurde die Nationalregierung durch einen Beschluß des P R errichtet. Die Quelle ist hier: Ch'ien, Sa u. a. op. cit., p. 165 ff. Dies trifft jedoch mindestens formell nicht zu; denn der Beschluß wurde eindeutig auf der Plenarsitzung des ZEK gefaßt.

16

Zirkulartelegramm H u Han-mins vom 24. 6. 1925, in: K M W H , Bd. X X , p. 1545. Chinesischer Text: ibid., p. 1549 f. und bei Wang/Ch'ien, op. cit., p. 279.

17

Die Errichtung der „Nationalregierung"

in

Kanton

121

weist, kann der Rat weitere Ministerien erriditen (Art. 6). Höchstes Leitungsorgan der Armee ist hinfort der P R der K M T . Er entscheidet über Krieg und Frieden, ernennt den Vorsitzenden und die Mitglieder des Militärrats, den Generalinspekteur (Tsung-chien) sowie den Minister für Heeresverwaltung und bestimmt den Haushalt und die Stärke der einzelnen Einheiten. In seinem Namen und unter seiner Kontrolle wird der Militärrat tätig 18 . Mit diesen Beschlüssen wurde nun also audi für die Regierung das sowjetische Organisationsmodell übernommen, das man zuvor schon auf die Parteiführung und den Aufbau der Militärakademie angewandt hatte. Am 28. Juni wählte man Wang Ching-wei, Hu Han-min, General Hsü Ch'ung-chih, Hsü Ch'ien, Tai Chi-t'ao, General Chu P'ei-te*, Chang Ching-chiang, Yü Yu-jen*, Lin Sen, Dr. Wu Ch'ao-shu, General Ch'eng Ch'ien*, T'an Yen- k'ai, Chang Chi, Liao Chung-k'ai, Ku Ying-fen und Sun K'e zu Mitgliedern des Nationalregierungsrates 19 . Sie teilten am 1. Juli dem chineschischen Volk in einer Proklamation die Errichtung der Nationalregierung mit und verkündeten dabei, daß die nationale Revolution unter ihrer Führung für die Wiedervereinigung des Landes auf der Grundlage der Lehren Sun Yat-sens und für die Abschaffung der ungleichen Verträge kämpfen werde 20 . Wang, Hu, Liao, T'an und Hsü bildeten den „Ständigen Ausschuß", und bei der Wahl zum Vorsitzenden der N a tionalregierung errang Wang Ching-wei die meisten Stimmen, obgleich die Provinzorganisation der K M T vonKuangtung sich für Liao eingesetzt hatte 21 . Am 3. Juli wurde dieser Vorsitzender der neu errichteten Pro18 19

Vgl. Wilbur/How, Dokument 19, p. 205. T'ang Leang-li nennt als Mitglieder nur: Wang Ching-wei, H u Han-min, Liao Chung-k'ai, T'an Yen-k'ai, Hsü Ch'ung-chih, Chu P'ei-te, Tai Chi-t'ao, Sung Tzuwen, Sun K ' e und Wu Ch'ao-shu (Revolution, p. 206 und Wang, p. 109). Nach Sun K ' e dagegen gehörten außer diesen noch Lin Sen, Teng Tse-ju, Tsou Lu und K u Ying-fen dem Nationalregierungsrat an („The People's Tribune", Shanghai, Jahrg. I, N r . 4 vom Juni/Juli 1931, p. 128). Die hier wiedergegebene Liste folgt folgenden Quellen:

1. Bekanntmadiung Nr. 1 der Nationalregierung vom 28. 6.1925, in: K M W H , Bd. X X , p. 1552 f.; 2. „Min-kuo jih-pao", Kanton, vom 29. 6. 1925; 3. Kuo-min dieng-fu fa-ling ch'ao-pien (Sammlung der Gesetze und Verordnungen der Nationalregierung), Kanton 1926, p. 1; 4. K M W H , Bd. X X I I , p. 206 ff.; und 5. KMT-Chronik, Bd. I, p. 315. 10 Erklärung über die Errichtung der Nationalregierung vom 1.7. 1925, in: K M W H , Bd. X X , p. 1553—1555. " Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 206 f. und Wilbur/How, p. 505 f.

122

III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

vinzregierung22, und am 4. Wu Ch'ao-shu Oberbürgermeister von Kanton23. Der Militärrat, zu dessen Mitgliedern man Wang, Hu, Liao, T'an, Hsü, Dr. Wu und die Generale Chiang Kai-shek und Chu P'ei-te bestellt hatte, trat am 6. Juli zu seiner ersten Sitzung zusammen24. Dabei legte Chiang Vorschläge über die Vereinigung aller Streitkräfte in Kuangtung unter der Führung der Partei vor und forderte die Ausarbeitung von Plänen für den Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Großbritannien, die in jenen Tagen in Kanton erwartet wurde 25 . Durch die Reorganisation der Regierung war die Stellung HuHan-mins erheblich geschwächt worden. Er fand sich jetzt nur noch als einer unter fünf Mitgliedern des „Ständigen Ausschusses" der Nationalregierung und übernahm das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, während Liao Finanzminister und General Hsü Heeresminister wurden. Der Autoritätsverlust Hus ist weitgehend darauf zurückzuführen, daß er in Kanton keine Machtmittel in der Hand hatte. Vier Persönlichkeiten traten jetzt in den Mittelpunkt des politischen Geschehens: Wang Ching-wei, der als Vorsitzender des ZEK, des PR, der Nationalregierung und des Militärrats offiziell an der Spitze der Partei stand und zugleich starke Unterstützung von deren Organisation erwarten konnte; Liao Chung-k'ai, als Finanzminister, Gouverneur von Kuangtung, Finanzkommissar der Provinzregierung und Oberster Politkommissar der Militärakademie und der „Parteiarmee"; Hsü Ch'ung-chih, als Heeresminister und Kommandant der Kuangtung-Armee; und Chiang Kai-shek, der als neu ernanntes Mitglied des Militärrats zum erstenmal in einem Führungsgremium Sitz und Stimme gewonnen hatte 26 . Chiang konnte sich auf die Kadetten von Huangpu und die von ihnen geleitete „Parteiarmee" stützen. Je stärker diese Verbände wurden, desto mehr Einfluß mußte er gewinnen. Die Bedrohung Kantons durch innere und äußere Gegner in den folgenden neun Monaten führte dazu, daß seine Macht weiter wuchs. 22

KMWH, Bd. X X , p. 1555—1558. ibid., p. 1558—1562. 24 ibid., p. 1562 f. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 162 f. und Dokumente 14 und 15, p. 183—185. 25 Text in: KMWH, Bd. XI, p. 291—300. " Vgl. Wilbur/How, p. 164.

23

Die antiimperialistische

Die antiimperialistische

Massenbewegung

im Sommer 1925

123

Massenbewegung im Sommer 1925

Die neue Nationalregierung in Kanton übernahm ihr Amt zu einer Zeit, als Chinas Städte unter dem Eindruck einer Massenbewegung standen, welche die Beseitigung der fremden Sonderrechte zum Ziel hatte. Hier wurde fortgesetzt, was in Peking am 4. Mai 1919 begonnen hatte: große Teile der Bevölkerung entwickelten revolutionäre Aktivität. Diesmal aber war die Bewegung, wenn sie audi nicht weniger spontan entstand, besser organisiert, und sie erfaßte mehr Menschen und mehr Regionen des Landes als 1919. Shanghai, das Zentrum westlichen Einflusses in China, die Hochburg des ausländischen und auch des nationalen Kapitals, wurde zum Ausgangspunkt der revolutionären Welle. Die Stadt hatte sich schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber seit der Zeit des ersten Weltkrieges, zur Metropole der im Aufbau begriffenen Industrie entwickelt. So bestanden in Shanghai 1924 insgesamt 87 ausländische Fabriken mit 100.804 Arbeitern und 186 chinesische mit 53.114 Arbeitern. Investitionen hatten hier besonderen Reiz, da die Löhne außerordentlich niedrig waren. Jugendliche Arbeiter erhielten im Monat 16—30 Schillinge, Frauen am Tag 2V2 bis 6 Pence, und für Kinder wurden den Familien, aus denen sie stammten, monatlich 2 USDollar Lohn gezahlt. Die durchschnittliche Arbeitszeit schwankte zwischen 12 und 13 Stunden pro Tag 27 . Weil Frauen und Kinder besonders billige Arbeitskräfte waren, stellte man sie vorzugsweise ein. Seit 1921 hatte in Shanghai die Aktivität der Gewerkschaften erheblich zugenommen, und diese waren vom Frühjar 1922 an immer mehr unter die Leitung von Kommunisten gekommen, unter denen vor allem Li Li-san* und Liu Shao-ch'r" hervortraten 28 . Von den Gewerkschaften und den Studentenverbänden führend bestimmt, nahm die Agitation gegen die ungleichen Verträge, die sich schon zur Zeit der Versailler Friedenskonferenz 1919 verbreitet hatte, seit der Washingtoner Konferenz 1922 weiter zu. Mit dem Manifest Sun Yat-sens vom 10. November 1924 hatte sich auch die K M T endgültig auf die Forderung, alle ungleichen Verträge abzuschaffen, festgelegt, ein Verlangen, daß sie im Winter 1924/25 in den Mittelpunkt ihrer Propaganda stellte. In den Fabriken Shanghais gab es nun seit 1920/21 häufig Streitigkeiten zwischen chinesischen Arbeitern und ausländischen, vor allem japanischen, Meistern, wobei es nicht selten zu Gewalttätigkeiten kam. 27 28

T'ang, China, p. 224 f. Vgl. hierzu: Ma, op. cit., Bd. II, p. 289 f., 302 ff. und 341 ff.

124

III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

So führte die Mißhandlung einer 12jährigen Arbeiterin durch einen japanischen Vorarbeiter in den Nagai-Wata-Kaisha-Textilwerken im Februar 1925, zu einem Streik, der aber schon nach einer Woche am 26. Februar zusammenbrach, weil die japanischen Arbeitgeber zur Aussperrung schritten 2 ". Wegen der fortgesetzten Bürgerkriege in N o r d - und Zentraldiina waren seit 1922 immer mehr Menschen an die Küste geflohen, und so gab es in Shanghai ein übergroßes Angebot an Arbeitskräften. Die Fabrikherren erkannten die Wirksamkeit der Aussperrung als Waffe im Arbeitskampf. Ein weiterer Streik in japanischen Textilfabriken wurde am 14. Mai 1925 mit der Aussperrung von 20.000 Arbeitern beantwortet, und als daraufhin Demonstrationen stattfanden, eröffneten japanische Fabrikwachen am 15. Mai auf chinesische Demonstranten das Feuer, wobei ein Arbeiter getötet und zwölf weitere verwundet wurden 3 0 . Dieser Zwischenfall führte dazu, daß nun auch die Studenten- und Schülerorganisationen sich an die Seite der Gewerkschaften stellten und vom 18. Mai an täglich in verschiedenen Teilen Shanghais Protestmärsche veranstalteten. Während einer dieser Demonstrationen wurden am 30. Mai in der „Internationalen Niederlassung" einige Demonstranten verhaftet. Als dann Studenten und Arbeiter vor einer Polizeiwache die Freilassung dieser Gefangenen forderten, ließ deren Kommandant, Inspektor Everson, in die Menge schießen. Zwölf Demonstranten fielen, etwa 40 wurden verwundet und rund 100 festgenommen 31 . Im ganzen Land brach nach diesen Ereignissen ein Sturm der Entrüstung aus. Bereits am 31. Mai gründeten alle Gewerkschaften Shanghais einen föderativ organisierten „Allgemeinen Gewerkschaftsbund" (Shanghai tsung-kung-hui), dessen Leitung Li Li-san übernahm und der schnell zum Mittelpunkt der Protestbewegung wurde 32 . Li rief noch am gleichen Tage den Generalstreik aus. Die Arbeiterschaft ganz Shanghais befolgte den Aufruf ohne Zögern, die Arbeitsruhe war total, selbst Hausangestellte in ausländischen Familien verließen die Wohnungen ihrer Arbeitgeber 33 . In sechs aufeinanderfolgenden Noten protestierte das Außenministerium der Zentralregierung in Peking beim dortigen Diplomatischen Corps 29

30 31

32 33

„Shen pao" und „Hsin wan-pao", beide Shanghai, vom 1 9 . 2 . 1 9 2 5 . Vgl. audi: T'ang, China, p. 226. „Shen pao" v o m 16. 5. 1925. „Shen pao" v o m 3 1 . 5 . 1 9 2 5 . Vgl. hierzu u . a . audi: Isaacs, op. cit., p. 70; T'ang, China, p. 229; Wilbur/How, p. 160 und Brandt, op. cit., p. 52 f. Brandt, ibid. Isaacs, ibid.

Die antiimperialistische

Massenbewegung

im Sommer 1925

125

gegen das Vorgehen der britischen Niederlassungs-Polizei. Es forderte die Einleitung einer Untersuchung durch eine gemischte Kommision ausländischer und chinesischer Vertreter und die strenge Bestrafung der Schuldigen84. Nach einem ersten, kurz gefaßten Protest des 2EK der KMT aus Kanton am 2. Juni 85 übernahm die Shanghaier Organisation der Partei zunächst die Führung der Protestbewegung, soweit nicht die Gewerkschaften direkt beteiligt waren. Sie hatte bereits am 1. Juni eine Erklärung abgegeben, in der sie die Vorgänge vom 30. Mai als „Beleidigung der Würde Chinas" bezeichnete, und versprach, die KMT werde „den Patrioten im Lande helfen, für die Freiheit, Gleichberechtigung und Unabhängigkeit Chinas zu kämpfen, um die Menschenrechte und die Würde unserer Nation wiederherzustellen" 36 . In den folgenden Tagen kamen Proteste aus allen Teilen Chinas und von allen politischen Gruppen und sozialen Schichten. Unter ihnen befanden sich Erklärungen Chang P'ing-lins und Liang Ch'i-ch'aos — sonst geschworene Feinde der KMT —, des „Allchinesischen Verbandes der Handelskammern" (Chung-hua ch'üan-kuo shang-hui lien-he-hui), der Chinesischen Handelskammer von Shanghai, des „Allgemeinen Gewerkschaftsbundes", von 12 kulturellen Organisationen und Instituten in Shanghai u. v. a. m.37. Mitte Juni erhoben die Professoren der „Pei-ta" in Peking ihren Protest 38 , Anfang Juli sogar mongolische Stammesfürsten aus der Provinz Ch'inghai 39 und am 30. Juli veröffentlichte der Senior der intellektuellen Erneuerungsbewegung, Ts'ai Yüan-p'ei, der gerade Europa bereiste, einen Brief an alle europäischen Zeitungen, in dem er in leidenschaftlichen Worten Vorwürfe, daß die Bewegung in Shanghai kommunistisch beeinflußt sei, zurückwies und die Völker Europas aufforderte, für die Abschaffung der ungleichen Verträge zu wirken 40 . 34

35

ae

37 38

39 40

1. Note des Außenministeriums der Republik China vom 1.6.1925, in: KMWH, Bd. XVIII, p. 2 f.; 2. Note vom 4. 6.1925, ibid., p. 9; 3. Note vom 12. 6. 1925, ibid., p. 22; 4. Note vom 20. 6. 1925, ibid., p. 25 f.; 5. und 6. Note, beide vom 24. 6. 1925; ibid., p. 26 ff. Erklärung des ZEK der KMT zum Massaker von Shanghai vom 2. 6. 1925, ibid., P· 3. Erklärung des Exekutivbüros Shanghai der KMT (Tai Chi-t'ao) vom 1.6.1925, ibid., p. 3—5. Diese Erklärungen sind ibid., p. 5—21, gesammelt. Stellungnahme von Professoren der „Pei-ta" zum Shanghai-Zwischenfall, ibid., p. 42 f. „Hsin wan-pao", Shanghai, vom 14. 7. 1925. Chinesischer Text: ibid., p. 36—41.

126

III. Kapitel: Durchsetzungskampf

und Aufstieg Chiang

Kai-sheks

Inzwischen hatten die Mächte, vor allem Großbritannien, Flotteneinheiten nach Shanghai und in den Yangtzu geschickt und in der „Internationalen Niederlassung" Marineinfanterie gelandet. Der Konflikt verschärfte sich weiter, als am 7. Juni die Shanghaier „Vereinigung der Arbeiter-, Kaufmanns- und Studentenverbände" (Shanghai kung-shanghsüeh lien-he-hui) ihre Forderungen zur Beilegung des Zwischenfalls stellte, die kurz darauf auch von der K M T übernommen wurden. Ehe Verhandlungen beginnen sollten, verlangte man die Aufhebung des Kriegsrechts in der „Internationalen Niederlassung" und der Französischen Konzession von Shanghai, den Abzug der Marineinfanterie und die Auflösung des europäischen „Selbstverteidigungskorps", die Freilassung aller Verhafteten und die Freigabe der Schulen und Universiäten, die in den Shanghaier Konzessionen von ausländischen Truppen besetzt worden waren. Als Mindestforderungen für die Verhandlungen selbst stellten die Shanghaier Massenorganisationen die Bestrafung der für den Zwischenfall vom 30. Mai Schuldigen durch chinesische Gerichte, die Zahlung von Entschädigungen an die Hinterbliebenen der Opfer und eine offizielle Entschuldigung des britischen und des japanischen Gesandten in Peking bei der chinesischen Regierung auf 41 . Das waren Bedingungen, denen die Mächte nicht zustimmen wollten. Diese hatten allerdings am 10. Juni die Bildung einer Untersuchungskommission mit drei chinesischen und je einem britischen, japanischen, amerikanischen, französischen, italienischen und belgischen Vertreter gebilligt, die am 12. Juni ihre Arbeit in Shanghai begann. Doch schon am 18. Juni erklärten die sechs ausländischen Mitglieder der Kommission, sie hätten so viele einander widersprechende Aussagen bekommen, daß sie sich nidit imstande sähen, den Fall zu entscheiden42. Dies rief wiederum den Protest der drei chinesischen Vertreter hervor, die ihre ausländischen Kollegen am 19. Juni bezichtigten, die Untersuchung sabotiert zu haben 43 . Die K M T begann jetzt, die immer mächtiger werdende Protestbewegung gründlich auszunützen. Sie intensivierte ihre Agitation gegen die ungleichen Verträge überall in China und benutzte zugleich die Gelegenheit, um die nördlichen Militärmachthaber als „Werkzeuge des Auslandes" anzugreifen. Am 7. Juni veröffentlichte der „amtierende Generalissimus" in Kanton, Hu Han-min, eine offizielle Stellungnahme, in der es u. a. hieß:

41

Resolution der Shanghaier Vereinigung der Arbeiter-, K a u f m a n n s - und Studenten-

42

E r k l ä r u n g der V e r t r e t e r der sechs Mächte v o m 18. 6. 1 9 2 5 : ibid., p. 3 2 .

43

E r k l ä r u n g der drei chinesischen V e r t r e t e r v o m 19. 6. 1 9 2 5 : ibid., p. 2 4 .

verbände vom 7. 6. 1 9 2 5 : ibid., p. 1 3 — 1 6 .

Die antiimperialistische

Massenbewegung

im Sommer

1925

127

„Um dieses Problem zu lösen, brauchen wir nicht nur Entschuldigungen, Bestrafung der Verantwortlichen und Entschädigung. Eine grundlegende Lösung können wir nur erreichen, wenn alle ungleichen Verträge abgeschafft und die Konzessionen zurückgegeben werden 4 4 ."

Das 3. Plenum des Z E K der K M T wandte sich am 25. Juni mit einem Zirkulartelegramm an die chinesische Öffentlichkeit und forderte zur Unterstützung der streikenden Arbeiter und zu einer „das ganze Land umfassenden Bewegung mit dem Ziel, die ungleichen Verträge abzuschaffen" auf 46 . Unterdessen war es am 11. Juni in Hank'ou zu einem weiteren schweren Zwischenfall gekommen. Auch hier hatten antibritische Demonstrationen stattgefunden, auf die eine Abteilung britischer Marineinfanterie das Feuer eröffnete. Dabei starben acht Demonstranten, und zwölf wurden verwundet 46 . Jetzt griff die Streikbewegung auf fast alle Städte des Landes über. Besonders in Peking, Chiukiang, Hank'ou, K'aifeng, Hsiamen (Amoy) und T'ienchin nahm sie außerordentlich heftige Formen an 47 . Im ganzen wurden als unmittelbare Folge des Shanghaier Zwischenfalls vom 30. Mai in China 135 Streiks mit über 400.000 Beteiligten registriert 48 . Diese Aktionen führten bald zu einem offenen Zusammenstoß der Mächte — vor allem Großbritanniens — mit der K M T . Am 18. Juni traten die chinesischen Matrosen auf den britischen Schiffen in Hongkong in den Streik, einen Tag später rief die K M T in Kanton zum Generalstreik auf. Dies veranlaßte die britische Kolonialregierung in Hongkong am 20. Juni, eine Blockade Kantons zu verkünden. Dort wurde am 23. Juni eine Massendemonstration veranstaltet, und als diese an der Shachi-Brücke gegenüber der Insel Shamien vorbeizog, eröffneten britische und französische Marineinfanteristen das Feuer mit Maschinengewehren. Sie töteten 52 Demonstranten — darunter 46 Kadetten der Huangpu-Akademie — und verletzten weitere 117 49 . Mit die44

Erklärung des amtierenden Generalissimus zum Shanghai-Zwischenfall vom 7. 6. 1 9 2 5 : ibid., p. 12 und in: „Lu-hai-chün ta-yüan-shoai ta-pen-ying kung-pao" (Bulletin des Hauptquartiers des Generalissimus der Land- und Seemacht), N r . 11 vom 7. 6. 1925.

45

Zirkulartelegramm des 3. Plenums der Z E K der K M T an alle Publikationsorgane, Dienststellen und Gewerkschaftsorganisationen

in China, in: „Tang-sheng

chou-

k'an" (Stimme der Partei) vom 25. 6. 1925 und in: K M W H , Bd. X V I I I , p. 29. 46

Vgl. hierzu: H . Owen Chapman, The Chinese Revolution of 1926—27,

London

1928, p. 14 f. und K M W H , ibid., p. 4 9 — 5 3 . 47

Wilbur/How, p. 160.

48

So Isaacs, op. cit., p. 70.

49

Vgl. hierzu: Ch'ien Yi-chang, „Bitterer Bericht

von Shachi", in: K M W H ,

p. 5 4 — 8 2 ; T'ang, Revolution, p. 207 ff. und Isaacs, ibid.

ibid.,

128

III. Kapitel: Durchsetzungskampf

und Aufstieg Chiang

Kai-sheks

sem Ereignis näherte sich die antiimperialistische Massenbewegung ihrem Höhepunkt. Bereits am 23. Juni abends rief die Parteizentrale in Kanton die Bevölkerung zum Kampf gegen Briten, Franzosen und Japaner auf. Sie betonte aber gleichzeitig, daß die Chinesen nicht „fremdenfeindlich" seien, sondern sich nur gegen die „Imperialisten" wendeten. Russen, Deutsche, Österreicher und audi die für den Zwischenfall nicht verantwortlichen Amerikaner, Holländer und Portugiesen genössen vielmehr den Schutz der revolutionären Regierung, und außerdem würde man alles versuchen, den Konflikt friedlich beizulegen50. Am nächsten Tag berief Hu Han-min eine Versammlung von über 80 Vertretern der Kantoner Studenten-, Arbeiter- und Frauenorganisationen, Handelskammern, Bauernverbände und Streitkräfte ein, an der audi der deutsche und der amerikanische Konsul teilnahmen. Hier erklärte Hu wiederum sein Interesse an einer friedlichen Regelung, betonte aber, daß die Chinesen — im Gegensatz zu den Behauptungen der Briten — nicht zuerst geschossen hätten, und verlangte angemessene Entschädigung und eine Bestrafung der Schuldigen51. Ein Notenwechsel Hus mit dem britischen Generalkonsul in Kanton, Sir James Jamieson, blieb ergebnislos, weil dieser jede chinesische Beteiligung an einer Untersuchung des Zwischenfalls auf Shamien kategorisch ablehnte52. Jetzt ging die Partei einen Schritt weiter. Am 28. Juni forderte das ZEK in feierlicher Form die einseitige Kündigung aller ungleichen Verträge, während man sich bis dahin noch mit dem Verlangen nach deren Abschaffung auf dem Verhandlungswege zufriedengegeben hatte53, und am 11. Juli richtete Hu Han-min einen „Offenen Brief an die Völker der Welt", in dem er diese aufforderte, von ihren Regierungen die Abschaffung der Verträge zu verlangen54. Doch es gab noch wirksamere Waffen für die revolutionäre Bewegung in China als Papier. Vom 25. Juni an wurde, zunächst in Kuangtung, ein vollständiger Boykott aller britischen Waren verkündet, der fast auf das ganze Land übergriff. Gleichzeitig begann in Hongkong und auf Shamien ein Generalstreik. Uber 250.000 Chinesen legten die Arbeit nieder, und 50

Aufruf der Parteizentrale der K M T an die Bevölkerung von Kanton vom 23. 6.

51

Protokoll einer Konferenz der Provinzregierung mit den Volksorganisationen am

52

Text des Notenwechsels: ibid., p. 89 ff.

53

Resolution des Z E K der K M T vom 28. 6. 1925, in: „Lu-hai-chün ta-yüan-shoai ta-

54

H u Han-min, „Offener Brief an die Völker der Welt" vom 11. 7 . 1 9 2 5 : ibid., p. 130

1925, in: K M W H , ibid., p. 8 3 — 8 6 . 24. 6. 1925: ibid., p. 96 f.

pen-ying kung-pao", N r . 14 vom 28. 6 . 1 9 2 5 und in: K M W H , ibid., p. 1 2 8 — 1 3 0 . bis 134.

Die antiimperialistische Massenbewegung

im Sommer 1925

129

der Ausstand dauerte ungefähr 15 Monate 55 . Ein europäischer Augenzeuge berichtet über die Wirkung dieser Aktionen: „Der Boykott britischer Waren in Kanton wird von einem Streikkomitee kontrolliert, das mit Hilfe von Milizen Verstöße gegen ihn zu verhindern h a t . . . W o audi immer in Kuangtung Waren umgeschlagen werden, sind die Milizen zur Stelle. Sie prüfen Ladungen, öffnen Pakete, durchsuchen Personen . . . Ausländer werden genauso durchsucht wie Chinesen . . . Regel des Streiks ist, daß keinerlei Waren, nicht einmal Lebensmittel, aus Shamien heraus, oder dorthin gebracht werden dürfen . . . Wenn der Boykott irgendwo gebrochen wird, dann werden die hierfür Verantwortlichen von einem Standgericht bestraft . . . Der Boykott ist vollständig . . . und er muß als Krieg gegen Hongkong und Großbritannien und die Milizen als Soldaten dieses Krieges betrachtet werden. Es gibt keine andere Interpretation für die Vollständigkeit und Rücksichtslosigkeit, mit der er durchgeführt wird 5 6 ."

Generalstreik und Boykott führten schnell zu schweren Schädigungen des Wirtschaftslebens in Hongkong. Während ζ. B. von August bis Dezember 1924 monatlich zwischen 160 und 240 Schiffe diesen Hafen anliefen, waren es in der gleichen Periode des Jahres 1925 nur zwischen 2 und 27. Man schätzte die Verluste der Hongkonger Wirtschaft auf 250.000 £ Sterling 57 an jedem Tag. In Kanton selbst wurden etwa 2.000 Mann Arbeitermilizen bewaffnet, die nicht nur den Boykott zu kontrollieren hatten, sondern darüber hinaus auch bald zu einer wirksamen Waffe der radikalen Kräfte bei Auseinandersetzungen innerhalb der K M T wurden. Die antiimperialistische Massenbewegung des Sommers 1925 führte zu einer erheblichen Verstärkung des Einflusses der K C T in China. Deren Mitglieder hatten überall mit großer Hingabe die Demonstrationen und Streiks organisiert und dadurch auch für ihre Partei große Erfolge erzielt. Während die K C T noch im Mai 1925 nur etwa 1.000 Mitglieder hatte, waren es im November desselben Jahres bereits 10.000, und die Mitgliedschaft des „Sozialistischen Jugendkorps" stieg von 2.000 im Mai auf etwa 10.000 im September an 58 . Im Mai 1925 sammelten sich in den von der K C T — offiziell im Namen der K M T — organisierten Gewerkschaften 540.000 Arbeiter, in den Bauernverbänden unter ihrem Einfluß rd. 400.000 Bauern 58 . Ein Jahr später, im Mai 1926, hatten die Gewerkschaften bereits 1.000.000 Mitglieder und die Bauernverbände 950.000"°. So gelang als Folge der „Bewegung des 30. Mai" der K M T jetzt end55 56 57 58 59

9

Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 70 ff. In: China Year Book, 1926, p. 969 f., zitiert nach: Isaacs, op. cit., p. 71. Zahlen nach: ibid., p. 72. Wilbur/How, p. 90 f. und Dokument 1, p. 74. ibid., p. 90. Domes

130

Hl. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

lieh der Durchbruch zu den Massen. Da jedoch dieser Durchbruch wenigstens in vielen Städten des Landes auf der unermüdlichen agitatorischen Arbeit der Kommunisten beruhte, wuchs die K C T gleichzeitig zu wirklicher nationaler Bedeutung in China heran. Für die folgenden zwei Jahre galt, daß man das Wachstum der KMT-Massenorganisationen von demjenigen der K C T kaum mehr zu trennen vermochte. Die Politik des „Blocks von innen" begann, für die chinesischen Kommunisten Früchte zu bringen. Diese Entwicklung weckte andererseits aber auch das Mißtrauen vieler Mitglieder der K M T , in der jetzt Fraktionskämpfe auszubrechen begannen, die von der Auseinandersetzung über die Nachfolge Sun Yatsens ebenso wie von der Verstärkung des Einflusses der K C T in der nationalistischen Einheitspartei bestimmt wurden.

Opposition von rechts — Fraktionskämpfe

in der KMT

Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit mit der K M T hatten die chinesischen Kommunisten auf dem I. Parteikongreß im „Li Ta-chao-Memorandum" verbindlich zugesagt, sich jeder Fraktionsarbeit und der Propaganda kommunistischen Gedankengutes innerhalb der nationalistischen Einheitspartei zu enthalten. Sie bezogen dieses Versprechen jedoch offenbar nicht auf die von der K M T geleiteten Institutionen und Massenorganisationen; denn hier begannen sie schon im Laufe des Jahres 1924, für ihre eigenen Ziele zu agitieren und Zellen zu bilden. Dies geschah auch in der „Gesellschaft zum Studium des Sunyatsenismus" (Sun-wen-chu-yi hsüeh-hui), einer Vereinigung der Lehrer und Kadetten an der Huangpu-Akademie. Chiang Kai-shek, der die Verstärkung des kommunistischen Einflusses dort mit Unruhe beobachtete, setzte im Januar 1925 den Ausschluß der KCT-Mitglieder aus der „Gesellschaft" durch. Die Kommunisten gründeten daraufhin am 25. Januar einen eigenen Verband für ihre Anhänger in Huangpu, die „Liga der militärischen Jugend" (Ch'ing-nien chün-jen lien-he-hui) 61 , während der Chiang besonders nahestehende Ausbildungsoffizier Ch'en Ch'eng* und seine Freunde die „Gesellschaft" reorganisierten und sie in eine Gegenkraft gegen die kommunistische Agitation an 60

T a n g , China, p. 282.

61

Vgl. hierzu: Chiang, op. cit., p. 57 f. Bei Liu, op. cit., p. 21 f., ist die Gründung der „Liga" fälsdilich auf Januar 1926 datiert. Diese setzte jedoch schon 1925 ihre Unterschrift unter Dokumente: Grußbotschaft von Volks- und Militärorganisationen an die neue Nationalregierung vom 2. 7. 1925 (KMT-Archiv).

Opposition

von rechts — Fraktionskämpfe

in der

KMT

131

der Akademie verwandelten. Der Vereinigung durften hinfort nur Mitglieder der KMT angehören, die nicht gleichzeitig in der KCT waren. Das Nebeneinander dieser beiden Gruppen bedrohte zwar zunächst noch nicht die Einheit der Parteiarmee, aber ein erster Ansatz zur späteren Spaltung war damit doch schon gegeben. Die ausgesprochenen Gegner der Zusammenarbeit mit dem Kommunismus regten sich bis zum Spätsommer 1925 kaum. Nur Teng Tse-ju unternahm am 30. Juni, einen Tag bevor die Nationalregierung ihr Amt antrat, noch einen Versuch, die in den Beschlüssen des 3. Plenums des ZEK deutlich werdende Vorherrschaft des linksgerichteten PR zu brechen: Er klagte in einem Brief an das ZEK, daß der PR von einer Minderheit beherrscht werde und sich einfach über das ZEK hinwegsetze62. Sein Vorstoß blieb jedoch ohne Erfolg. Schon am 1. Juli antworteten ihm Wang Ching-wei, Liao Chung-k'ai, T'an Yen-k'ai und Hsü Ch'ung-chih, der PR habe allerdings die Beschlüsse über die Bildung der Regierung veröffentlicht, dieses Recht stünde ihm aber kraft der ihm von dem verstorbenen Parteiführer verliehenen Autorität zweifellos zu63. Mit der Bildung der Nationalregierung und der Errichtung der Parteikontrolle über die Streitkräfte hatten jene KMT-Führer, die damals noch mit Entschiedenheit für das Bündnis mit dem Kommunismus eintraten — so Wang, Liao, Hsü Ch'ung-chih und Chiang Kai-shek —, in Kanton eindeutig die Oberhand gewonnen. Obgleich Wang an der Spitze aller Leitungsgremien von Partei, Armee und Regierung stand, war Liao Chung-k'ai zweifellos die stärkste Persönlichkeit der „Kantoner Linken". Seine engen Beziehungen zur Stadtbevölkerung und seine Stellung als Oberster Politkommissar der Streitkräfte ließen ihn immer mehr zum tatsächlichen Führer der KMT werden. Deshalb richtete sich auch die Feindschaft der zwar geschlagenen, aber immer noch präsenten Gegner der Partei in Kanton zuerst gegen ihn. Hu Han-min hatte sich zwar dem Beschluß des ZEK über die Abschaffung seines Amtes als „amtierender Generalissimus" aus Loyalität gebeugt, sein jüngerer Bruder aber, der Journalist Hu Yi-sheng, konnte diese Entscheidung nicht verwinden und bemühte sich — anscheinend ohne das Wissen des Außenministers — von Ende Juli an, die Stellung Wangs und Liaos zu unterminieren. Als Mittel dazu diente ihm seine Zeitung „Kuo-min hsin-wen" (Nationale Nachrichten), 62

83



Anklagebrief gegen den PR vom 3 0 . 6 . 1925, in: Teng Tse-ju, Chung-kuo kuomintang erh-shih-nien shih-chi (Historische Berichte über die KMT aus den letzten 20 Jahren), Shanghai 1948, p. 289 ff. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 164. Text bei: Teng, op. cit., p. 291 f.

132

HI- Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

in der immer wieder Angriffe gegen die beiden Führer der KMT erschienen64. Daraufhin entschlossen sich Wang, Liao und Chiang Kai-shek, private Nachforschungen anzustellen, die Anfang August zu dem Ergebnis führten, daß Hu Yi-sheng zusammen mit Offizieren der Kuangtung-Armee Hsü Ch'ung-diihs, vor allem dem Divisionsgeneral Liang Hung-k'ai, eine Geheimgesellschaft mit dem Namen „Kulturzirkel" (Wen-hua t'ang) gegründet hatte 65 . Diese Untersuchungen waren eben abgeschlossen6®, als Liao Chungk'ai am Morgen des 20. August von sechs oder sieben im Eingang des Gebäudes der Parteizentrale verborgenen Attentätern ermordet wurde 67 . Wang, Hu, Chiang und auch Borodin eilten sofort zum Tatort, wo einer der Attentäter, der bei dem entstehenden Feuergefecht verletzt worden war, dingfest gemacht werden konnte. Bei ihm fand man eine Nachricht mit dem Namen eines Mannes, der als Mitglied von Hu Yi-shengs „Kulturzirkel" bekannt war und der drohenden Verhaftung entfloh. Noch am Nachmittag des 20. August traten nun der PR der KMT, der Nationalregierungsrat und der Militärrat zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen, um die einzuleitenden Maßnahmen zu beraten. Sie wählten ein aus Wang, Hsü Ch'ung-chih und Chiang bestehendes „Spezialkomitee" (T'epieh wei-yüan-hui), dem die Untersuchung des Attentats übertragen und das dafür mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet wurde. In den folgenden drei Tagen ergab sich, daß Hu Yi-sheng offenbar von dem Komplott gegen Liao gewußt hatte, wenn er nicht sogar daran beteiligt war. Das „Spezialkomitee" verkündete nun am 24. August den Ausnahmezustand und entschloß sich zu energischem Vorgehen. Während einer Besprechung, an der auch Borodin teilnahm, wurde vereinbart, Hu Yi-sheng verhaften zu lassen. Hsü und Borodin schlugen vor, darüber hinaus auch Hu Han-min, dessen Teilnahme am Komplott sie als erwiesen ansahen, festzunehmen, doch wurde dies von Wang und Chiang abgelehnt.' 8 Hu M 65

•e 17

68

Vgl. T'ang, Revolution, p. 211 f. ibid., p. 215 und: Wang Ching-wei, Liao Chung-k'ai und Chiang Kai-shek, Bericht über eine Untersuchung der Tätigkeit H u Yi-shengs an den PR v o m 1 1 . 8 . 1 9 2 5 (KMT-Archiv). Vgl. audi: Wang Ching-wei, Politischer Bericht auf dem II. Parteikongreß der K M T am 6. 1. 1926, in: K M W H , Bd. X X , p. 1608 f. ibid. Vgl. hierzu u . a . : T'ang, Revolution, p. 216 if.; Derselbe, Wang, p. 114 ff.; Wilbur/ H o w , p. 165 f.; Chiang, op. cit., p. 59 und Isaacs, op. cit., p. 84. Isaacs behauptet, daß H u Han-min und H s ü Ch'ung-diih in das Komplott gegen Liao verwickelt gewesen seien. Diese Behauptung kann jedoch zumindest auf Grund des heute verfügbaren Quellenmaterials nicht aufrechterhalten werden. Das Protokoll der Besprechung des „Spezialkomitees" vom 2 4 . 8 . 1925 (KMT-

Opposition

von rechts — Fraktionskämpfe

in der

KMT

133

Yi-sheng hatte sich aber der Verhaftung bereits durch die Flucht nach Hongkong entzogen, und audi Hu Han-min hielt sich verborgen. In Hu Yi-shengs Haus fand man jedoch Beweismaterial genug, um General Liang Hung-k'ai und einige andere Mitglieder des „Kulturzirkels" verhaften zu lassen. Hu Han-min selbst war nicht in das Komplott verwickelt, doch wurde gegen ihn in jenen Tagen in Kanton so scharf agitiert, daß Wang und Chiang übereinkamen, ihm in der Huangpu-Akademie Zuflucht zu geben69. Am 23. September legte er sein Amt als Außenminister nieder und begab sich, einer Einladung Borodins folgend, auf eine Reise in die UdSSR, wo er als gefeierter Ehrengast am 6. Plenum des EKKI teilnahm70. Zuvor hatte man ihn bereits zum Mitglied des Exekutivkomitees der kommunistisch gelenkten Bauerninternationale, der „Krestintern", gewählt 71 . Eine weitere Schwächung des rechten Flügels der KMT in Kanton erfolgte, als der Leiter der Jugendabteilung beim ZEK und Rektor der Kantoner Universität, Tsou Lu, Anfang September 1925 seine Ämter niederlegte und die Stadt verließ, um auf diese Weise gegen die Aufhebung der finanziellen Selbständigkeit seiner Hochschule und dagegen zu protestie-

69 70

71

Archiv) bestätigt vollauf die Version T'ang Leang-lis (Revolution, ibid.), die sich offenbar vor allem am Politischen Bericht Wangs auf dem II. Parteikongreß orientiert. Vgl. hierzu auch: Tagebuch Chiang, Bd. X I , p. 65 bis 68 u n d : Lei, op. cit., p. 191. H i e r z u u. a.: Isaacs, op. cit., p. 86 f. Isaacs zitiert in Auszügen den Bericht über das Auftreten H u Han-mins in Moskau auf dem 6. E K K I - P l e n u m in „Inprecor" vom 4. 3. 1926: „Die Andrejew-Halle, der frühere Thronsaal der Zaren, gab ein unvergeßlidies Bild ab, als der Generalissimus der Kanton-Armee in U n i f o r m die Tribüne betrat. Mehrere Minuten lang konnte der Redner wegen des immer von neuem aufbrausenden Beifalls seine Ansprache nicht beginnen . . . Diese enthusiastischen Demonstrationen dauerten mehrere Minuten und unterstrichen dann weiter fast jeden Satz des Redners, ,1m N a m e n des chinesischen Volkes, der chinesischen Arbeiter und Bauern, der unterdrückten chinesischen Massen', sagte H u , .möchte ich meiner D a n k b a r k e i t d a f ü r Ausdruck verleihen, d a ß ich persönlich an dieser internationalen Session teilnehmen darf. Es gibt nur eine Weltrevolution, und die chinesische Revolution ist ein Teil dieser Weltrevolution. Die Parole unseres großen Führers ist identisch mit der Parole des Marxismus-Leninismus. N i e m a n d hat mehr Vertrauen zur Zweiten Internationale. Der Einfluß der Dritten Internationale in China ist in der letzten Zeit sehr gewachsen . . . Ich fühle midi als einer der K ä m p f e r der Weltrevolution, und ich grüße die Session der Kommunistischen Internationale. Es lebe die Solidarität des Weltproletariats! Lang lebe der Sieg der Weltrevolution! Lang lebe die D r i t t e Internationale! Lang leben alle kommunistischen Parteien der Welt! Lang leben die Genossen hier!' " Katsuji Fuse, Soviet Policy in the Orient, Peking 1927, p. 304.

134

III• Kapitel: Durchsetzungskamp}

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

ren, daß deren Absolventen seit etwa einem Jahr keine Positionen in der Partei oder im Regierungsapparat mehr bekamen, weil sie den kommunistischen Personalmanagern nicht als zuverlässig genug erschienen72. Bald sollte es auch innerhalb des „Spezialkomitees" zu Auseinandersetzungen kommen. ZEK und PR hatten im Juni beschlossen, zunächst alle Streitkräfte, die zivile Verwaltung und die gesamten Finanzen im Herrschaftsbereich der Nationalregierung unter der Leitung des PR zu vereinigen, in allen Einheiten der Armee die politische „Schulung" durch Parteikommissare einzuführen und dann die Provinz Kuangtung von den noch vorhandenen gegnerischen Kräften zu säubern. Erst wenn dies alles geschehen war, konnte mit dem Versuch begonnen werden, weitere Teile des Landes unter die Kontrolle der KMT zu bringen73. Am 26. August ordnete der Militärrat nun auf Antrag Chiangs an, daß sämtliche ihm unterstehenden Streitkräfte unter der Bezeichnung „Nationale Revolutionsarmee" (Kuo-min ke-ming chün; hinfort: NRA) einheitlich organisiert werden sollten: Die bisherige „Parteiarmee" wurde jetzt das 1. Armeekorps unter Chiang selbst, die Hunan-Truppen unter T'an Yen-k'ai bildeten das 2. Armeekorps, die Yünnan-Truppen unter Chu P'ei-te das 3., die von Hsü Ch'ung-chih unabhängigen Kanton-Verbände Li Chi-shens* das 4. und die Fukien-Armee Li Fu-lins das 5. Armeekorps 74 . In allen Verbänden wurden Politkommissare eingesetzt, die der Leiter der PolitAbteilung beim Militärrat, Ch'en Kung-po, ernannte. Die so reorganisierten Truppen umfaßten Ende August annähernd 60.000 Soldaten. Hsü Ch'ung-chih jedoch war es gelungen, seine Kuangtung-Armee in Stärke von rund 25.000 Mann von der Reorganisation ausnehmen zu lassen75. Als Heeresminister unterstanden ihm offiziell alle Streitkräfte, aber die Neuordnung hatte seinen Einfluß praktisch auf seine eigene Armee begrenzt. Dort führte die Übernahme der Finanzverwaltung durch den PR zur Unzufriedenheit seiner Unterbefehlshaber, von denen einige begannen, ohne Hsüs Wissen mit Ch'en Ch'iung-ming Kontakte aufzunehmen. Am 15. September überließen sie diesem Shant'ou (Swatow). Chiang, der mit Wang zusammen gegen Hsü Front machte, handelte schnell. In der Nacht vom 19. auf den 20. September ließ er durch seine Eliteverbände n 73 74

75

Tsou Lu, „Eine Antwort an Fu Mu", in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 77—81. Wang, Politischer Bericht, loc. cit., p. 1605 f. Tagebuch Chiang, Bd. X I , p. 68 f. Vgl. hierzu auch: Wilbur/How, p. 163; Tong, op. cit., p. 52; und T'ang, Revolution, p. 210 f. T'ang setzt jedoch fälschlich das Datum der Reorganisation bereits Anfang August an und spricht nur von drei Armeekorps. T'ang, ibid.

Opposition

von rechts — Fraktionskämpfe

in der

KMT

135

drei Divisionskommandeure Hsüs überraschend verhaften und deren Truppen entwaffnen 76 . Damit war Hsüs Position innerhalb der KMTFührung so geschwächt, daß er sich entschloß, am 23. September seine Ämter niederzulegen und über Hongkong nach Shanghai zu gehen. Die letzte selbständig gebliebene Truppeneinheit, Reste der Ssuch'uan-Armee unter Hsiung K'e-wu*, einem regionalen Militärmachthaber par excellence, wurde schließlich am 3. Oktober aufgelöst, nachdem man ihren Befehlshaber der Zusammenarbeit mit den Pekinger Machthabern überführt und verhaftet hatte". Die Vereinigung der Streitkräfte unter der Führung der KMT war vollendet. Die Auseinandersetzungen im August und September 1925 hatten jedoch dazu geführt, daß außer Hu Han-min, Hsü Ch'ung-chih und Tsou Lu noch andere leitende Persönlichkeiten des rechten Flügels und der gemäßigten Gruppen der KMT Kanton verließen, unter ihnen die Mitglieder der ZKK Hsieh Ch'ih, Chang Chi und Wu Chih-hui und zeitweilig audi der Sohn Sun Yat-sens, Sun K'e78. An Stelle von Liao Chungk'ai und Hsü Ch'ung-chih traten jetzt Teng Tse-ju und Dr. Sung Tzu-wen in den Nationalregierungsrat ein. Dieser übernahm das Finanzministerium, während T'an Yen-k'ai als Nachfolger Hsüs Heeresminister und Dr. Wu Ch'ao-shu anstelle von Hu Han-min Minister des Auswärtigen wurde. Ende September 1925 lag so die Führung von Partei, Regierung und Armee fest in den Händen Wangs und Chiangs, neben denen Borodin immer größere Bedeutung für die politischen Entscheidungen gewann. So gelangte ein Prozeß der Konzentration innerhalb der ursprünglich kollektiven Führung zum Abschluß, der begonnen hatte, als im Juni 1924 der 12 Mitglieder umfassende PR dem 24 Mitglieder zählenden ZEK einen Teil seiner Funktionen abnahm, nur um im Oktober 1924 wiederum seine Macht zugunsten des siebenköpfigen „Revolutionskomitees" geschmälert zu sehen. Dieses hatte man praktisch am 20. August durch das dreiköpfige „Spezialkomitee" ersetzt. Jetzt blieben — nach dem Rücktritt Hsüs — Wang Ching-wei und Chiang Kai-shek übrig. Dieser konnte sich nach der Neuordnung der militärischen Befehlsstruktur auf den größten Teil der Armee verlassen, während jener von der Parteiorganisation, und besonders von den dort aktiven Kommunisten, ge76

77 78

Tagebuch Chiang, Bd. X I I , p. 21—23 und Wang, Politischer Bericht loc. cit., p. 1611 f. Vgl. Wilbur/How, p. 165, Tong, ibid. und T a n g , Revolution, p. 223. Wang, ibid., p. 1613 f. Vgl.: T a n g , Revolution, p. 223 f. ibid., p. 230. Der dort genannte Lin Sen blieb jedoch nodi bis Mitte N o v e m b e r 1925 in Kanton.

136

III. Kapitel: Durchsetzungskampf

und Aufstieg Chiang

Kai-sheks

stützt wurde. Der „Ausscheidungskampf" um die Nachfolge Suns war also schon sechs Monate nach dessen Tod recht weit fortgeschritten. Noch arbeiteten Wang und Chiang eng zusammen, aber auch zwischen ihnen waren Reibungen zu erwarten. Nur die Auseinandersetzung mit einer jetzt beginnenden starken Oppositionsbewegung unter den außerhalb von Kuangtung lebenden Mitgliedern und Führern der Partei zwang die beiden Kantoner Chefs noch für einige Zeit zur Fortsetzung ihrer Kooperation, die von Borodin und der K C T energisch unterstützt wurde. Der Leiter des Shanghaier Büros des Z E K , Tai Chi-t'ao, Mitglied des Z E K , des P R und des Nationalregierungsrates und bis zu seiner Versetzung nach Shanghai audi Leiter der Propagandaabteilung beim Z E K , einer der dezidierten Befürworter der Reorganisation von 1924 und auch jetzt noch ein Anhänger des Bündnisses mit der UdSSR, gab das Signal zum Widerstand gegen die Kantoner Politik des „Blocks von innen". Im Juli 1925 erschien in Shanghai seine Schrift „Die Nationale Revolution und die K M T " (Kuo-min ke-ming yü Chung-kuo Kuomintang). Tai betonte darin, daß die Drei Grundlehren vom Volk die einzige für die Rettung Chinas brauchbare Theorie und die K M T die einzige Partei sei, die wirklich für die Rettung Chinas arbeite. Alle, die bereit seien, an diesem Rettungswerk teilzunehmen, sollten auf ihre eigenen Ideen und Utopien verzichten und „reine" Mitglieder der K M T werden, die nicht noch außerdem anderen Theorien anhingen. So wandte sich Tai direkt an die Mitglieder der K C T und forderte sie auf, entweder ehrliche KMT-Anhänger zu werden, und also die eigenen Ziele ihrer Partei ein für allemal aufzugeben, oder aber aus der K M T auszuscheiden und offen als Kommunisten unter der Bevölkerung zu arbeiten. Die K M T könne dann mit ihnen eine Koalition eingehen, aber es dürfe ihnen nicht länger erlaubt sein, die Organisation der K M T „für die Propaganda kommunistischer Gedanken und die Ausbreitung ihrer eigenen Organisation zu mißbrauchen" 79 . China solle, so fuhr Tai fort, unbedingt weiterhin ein enges Bündnis mit der UdSSR aufrechterhalten, dabei müsse jedoch die Unabhängigkeit des Landes gewahrt werden. Keinesfalls dürfe man blind und unreflektiert den Sowjets folgen, vor allem dann nicht, wenn sie weiterhin versuchen sollten, die Infiltrationsarbeit der K C T innerhalb der K M T zu unterstützen 80 . 79

Tai Chi-t'ao, Kuo-min ke-ming yü Chung-kuo kuomintang (Die Nationale Revolution und die K M T ) , Shanghai 1925, p. 5 0 — 6 7 . Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 2 0 6 ; Schwartz, op. cit., p. 54 und Brandt, op. cit., p. 57 f.

80

Tai, op. cit., p. 7 0 — 7 2 .

Opposition von rechts — Fraktionskämpfe

in der

KMT

137

Die Kommunisten, die sich offenbar von Tais Angriff getroffen fühlten, reagierten schnell. Sie hatten schon seit Mai 1925 immer wieder darauf hingewiesen, daß sich in der K M T ein linker und ein rechter Flügel herausbildeten. Damals formulierte Ho Shen in einem Leitartikel der „Hsiang-tao chou-pao" folgende vier grundlegenden Kriterien, an denen man den linken Flügel der K M T erkennen könne: „1.

Grundsätzlich dem Imperialismus und allen seinen Anhängern, den Militärmadithabern, Kompradoren . . . zu widerstehen;

2.

Sun Yat-sens Politik der Zusammenarbeit mit der K P d S U zu folgen;

3. Alle Verbindungen mit dem antirevolutionären rechten Flügel abzubrechen; 4.

Die Generallinie der Zusammenarbeit mit den Arbeitern und Bauern als Machtbasis der Partei zu befolgen 81 ."

Der linke Flügel der K M T sei, so führte Ho aus, keineswegs identisch mit den Kommunisten in der Partei. Diese unterstützten ihn zwar, aber alle, die echte Anhänger Sun Yat-sens seien, gehörten zu ihm. Hier wurde bereits die Politik der K C T i n der Folgezeit deutlich bezeichnet: Fraktionskämpfe innerhalb der K M T sollten ausgenutzt werden, wobei die Kommunisten dem linken Flügel — oder jenen Leuten, die sie als linken Flügel betrachteten — ihre Unterstützung zuteil werden ließen. Dabei durften sie sich aber nicht selbst als „linker Flügel" der K M T konstituieren; denn das hätte sie isoliert. Deshalb kam ihnen Tais Buch äußerst ungelegen. Schon am 30. August antwortete ihm Ch'en Tu-hsiu selbst in einem offenen Brief, in dem er versuchte, die Redlichkeit der K C T in ihrer Politik des „Blocks von innen" nachzuweisen. Er erklärte, daß nur wenige Mitglieder der K M T sich bisher zugleich der K C T angeschlossen hätten, während viele Kommunisten Mitglieder der K M T geworden seien. Außerdem wies er auf die Leistungen der Kommunisten bei der Reorganisation der K M T und dem Aufbau der „revolutionären Basis" in Kuangtung hin. Er äußerte die Befürchtung, daß Tais Buch von den „Gegenrevolutionären" zur Propaganda benutzt werden könnte 82 . Die Sorgen, welche sich die Kommunisten machten, kamen auf dem 1. Erweiterten Plenum des I V . Z K der K C T , das Anfang Oktober 1925 in Peking zusammentrat, noch deutlicher zum Ausdruck. Ch'en Tu-hsiu hat 1929 nach seinem Ausschluß aus der Partei behauptet, er habe damals bereits den Vorschlag gemacht, den Austritt der K C T aus der K M T „vor81

H o Shen, „Was ist der linke Flügel der K M T " , in: „Hsiang-tao chou-pao", vom 3. 5. 1925, auch: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 52—54.

82

Ch'en Tu-hsiu, Brief an Tai Chi-t'ao vom 30. 8. 1925, in: „Hsiang-tao chou-pao" vom 18. 9. 1925.

138

III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

zubereiten", dies sei aber am Widerstand des ZK und vor allem auch des anwesenden Komintern-Vertreters gescheitert 83 . Brandt betrachtet diese Darstellung Ch'ens zu Recht mit einiger Skepsis, aber auch er weist darauf hin, daß es auf dem Oktober-Plenum Stimmen gegeben haben müsse, die für größere Vorsicht im Umgang mit der K M T plädierten, und daß die K C T jetzt mehr Wert auf die Demonstration ihrer Unabhängigkeit legte als zuvor 84 . Jedenfalls beschlossen die Kommunisten, hinfort dem Aufbau ihrer eigenen Organisation mehr Aufmerksamkeit zu widmen und die Gründung von Zellen der K C T in den Massenorganisationen und in der K M T zu intensivieren 85 . Dies verstieß gegen die von Li Ta-chao im Januar 1924 abgegebenen Versicherungen, aber inzwischen war die K C T wesentlich stärker geworden, so daß anscheinend bereits jetzt damit begonnen wurde, f ü r den Fall eines späteren Bruchs zu planen. N u r lag den Kommunisten natürlich daran, selbst den Zeitpunkt der Beendigung des Bündnisses mit der K M T zu bestimmen und nicht etwa vorzeitig, also ehe man im Schutze der KMT-Organisation stark genug geworden war, den Kampf gegen den bisherigen Bundesgenossen zu beginnen. Genau dies aber beabsichtigten die Führer des rechten Flügels der K M T , und deshalb entschlossen sie sich, sofort zu handeln. Ihre Anhängerschaft wuchs vor allem in den Parteiorganisationen N o r d - und Ostchinas, und sie fühlten sich bald stark genug, um offen gegen die Kantoner Führungsgruppe Front zu machen. Am 23. November 1925 versammelten sich am Grab Sun Yat-sens in den „Westbergen" (Hsi-shan) bei Peking zehn Vollmitglieder des ZEK der K M T — Lin Sen, Shao Yüan-ch'ung, Yeh Ch'ucheng*, Chü Cheng*, T'an Cheng*, Shih Ch'ing-yang*, Tai Chi-t'ao, Tsou Lu, Shen Ting-i* und Shih Ying* —, zwei Kandidaten des ZEK — Fu Ju-lin und Mao Tzu-ch'üan — und zwei Mitglieder der Z K K — Hsieh Ch'ih und Chang Chi — und erklärten das „4. Plenum des ZEK der K M T " f ü r eröffnet. Das Vollmitglied des ZEK, Li Lieh-chün*, der Z E K Kandidat Chang Chih-pen* und das ZKK-Mitglied Wu Chih-hui erklärten telegrafisch ihr Einverständnis mit der Einberufung der Konferenz 8 6 . 85

84 85 86

Ch'en Tu-hsiu, Kao ch'üan-tang t'ung-chih shu (Ein Brief an alle Genossen der Partei), Shanghai 1929, p. 3 und audi in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 427—444, hier: p. 429. Brandt, op. cit., p. 59 ff. Wilbur/How, Dokument 2, p. 100—103. „Bedeutende Dokumente der Westberg-Konferenz über den Ausschluß der K o m munisten aus der KMT", in: „Kuo-wen chou-pao" (Nationale Wochenzeitung), T'ienchin, v o m 17. 4. 1927, Vgl. zum folgenden Absatz: Lei, op. cit., p. 2 9 — 3 2 ; T'ang, Revolution, p. 229—234; Tong, op. cit., p. 53 f. und Wilbur/How, p. 209— 212.

Opposition

von rechts — Fraktionskämpfe

in der KMT

139

Diese begann mit der Veröffentlichung eines Manifests, in dem der Ausschluß aller Mitglieder der K C T aus der KMT verkündet wurde. Gleichzeitig erklärten die Konferenzteilnehmer allerdings ihre Bereitschaft, weiterhin in der Form eines „Blocks von außen" mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten und das Bündnis mit der UdSSR fortzusetzen, sofern der K M T dadurch keine Nachteile entstehen würden 87 . Das war die Sprache Tai Chi-t'aos, der an diesem Beschluß führend mitgearbeitet hatte. Die konservativeren Kräfte in der Gruppe bekamen jedoch während der Konferenz, die bis zum 5. Dezember dauerte, die Oberhand, und die Schlußresolution war bedeutend radikaler: Sie proklamierte die Entlassung Borodins als Berater der KMT, die Auflösung des PR in Kanton und die Übernahme aller Gewalt durch ZEK und ZKK, die Aussetzung der Parteimitgliedschaft Wang Ching-weis für sechs Monate und die Verlegung des Parteihauptquartiers nach Shanghai 88 . Jetzt löste Tai seine Verbindungen zu der „Westberg-Konferenz" (Hsi-shan hui-i), und auch Wu Chih-hui und Chang Chih-pen betonten, daß sie mit den Beschlüssen gegen den PR und Wang nicht einverstanden seien und weiter mit Kanton kooperieren würden. Die Leitung der „Westberggruppe" (Hsi-shan hui-i p'ai), zu der sich in Shanghai, wo sie ihr Hauptquartier eröffnete, noch Hsü Ch'ung-chih und Hsiung K'e-wu gesellten, während Shao Yüanch'ung und Yeh Ch'u-cheng im Januar 1926 wieder austraten, übernahmen Tsou Lu, Hsieh Ch'ih, Lin Sen, Chü Cheng und Chang Chi. In einer Stellungnahme des Pekinger Parteibüros der K C T vom 25. November 192589 und einem Artikel Ch'en Tu-hsius, „Was ist der linke und der rechte Flügel der KMT?" 90 , der am 3. Dezember erschien, wiederholten die Kommunisten ihre Erklärung, daß sie den linken Flügel — zu dem Ch'en auch H u Han-min, Wu Chih-hui und Chiang Kai-shek zählte — gegen den rechten unterstützen würden. Diesen linken Flügel erkenne man daran, daß er nicht nur deklamatorisch gegen die Imperialisten und Militärmachthaber auftrete, sondern bereit sei, gegen sie aktiv tätig zu werden und so tatsächlich Revolution zu machen, während die „Rechten" nur von ihr redeten, in Wahrheit aber jederzeit zu Kompromissen bereit seien. 87 88

88 90

„Bedeutende Dokumente", ibid., p. 14. ibid., p. 15 f. und: „Brief an alle Genossen der KMT über die Liquidierung der kommunistischen Fraktion in unserer Partei" vom 4. 1. 1926, in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 220—228. Wilbur/How, Dokument 21, p. 238—244. Im: „Hsiang-tao chou-pao" vom 3. 12. 1925, audi in: KCT-Dokument, Bd. I, p. 54 bis 57.

140

III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg Chiang

Kai-sheks

Die Kantoner KMT-Führung reagierte ebenso schnell wie die Kommunisten. Bereits am 25. November warf Wang Ching-wei der „Westberggruppe" vor, sie hätte mit ihrer Konferenz „das Grab des Parteiführers beschmutzt" 91 , am 4. Dezember erklärte das Z E K der K M T in einem Zirkulartelegramm an alle Parteimitglieder, daß die Partei sich mit der UdSSR, den Bauern und Arbeitern und der K C T weiterhin fest verbünden müsse, weil sie sonst isoliert werde und die Revolution dann zum Scheitern verurteilt sei92. Auch Chiang Kai-shek wandte sich in drei ausführlichen Stellungnahmen — einem am 5. Dezember geschriebenen Vorwort zum Jahrbuch der Huangpu-Akademie, einer Tischrede in seinem Hauptquartier in Shant'ou (Swatow) am 11. Dezember und einem Rundbrief an die Mitglieder der K M T vom 25. Dezember 93 — mit großer Entschiedenheit gegen die „Westberggruppe". Die K M T verdanke, so sagte er dabei u. a., nahezu alles der Politik des Bündnisses mit den Kommunisten. Sie sei die Politik Sun Yat-sens, auf die man nicht verziditen könne, und die Drei Grundlehren vom Volk seien mit dem Kommunismus auf das engste verbunden. Die „Westberggruppe" fand nennenswerte Unterstützung aus den Kreisen der KMT-Mitglieder, aber ihr fehlten die Machtmittel, über die Kanton verfügte. Sie hatte keine eigene Armee, keine territoriale Basis. So konnte sie noch in Shanghai Anfang April 1926 ihren eigenen „II. Parteikongreß" abhalten und ihr eigenes „II. Z E K " unter der Führung von Tsou Lu, Lin Sen und Hsieh Ch'ih mit 25 Mitgliedern wählen 94 , doch dann geriet das Shanghaier „Parteihauptquartier der K M T " schnell in Vergessenheit. Erst 1927 bot sich der „Westberggruppe" wieder eine Gelegenheit, auf die Politik der K M T Einfluß zu nehmen — nachdem Chiang und Wang beide ihre Beziehungen zum Kommunismus abgebrochen hatten. Vorläufig blieb Kanton der Vorort der chinesischen Revolution. 81

Zirkulartelegramm Wang Ching-weis an alle Parteiorganisationen vom 25. 11. 1925 (KMT-Archiv).

92

Zirkulartelegramm des Z E K der K M T vom 4. 12. 1925, in: Huangpu-Sammlung, p. 9 5 — 9 7 .

83

Vorwort zu: Min-kuo shih-ssu-nien Huangpu chün-hsiao nien-chi (Jahrbuch 1925 der Huangpu-Akademie), Huangpu 1926 (Englisch in Auszügen bei: T'ang, Revolution, p. 232 f.;) Rede in Shant'ou am 11. 12. 1925, in: Chiang Chieh-shih tsui-diin chih yen-lun (Chiang Kai-sheks Reden aus der jüngsten Zeit), Peking 1926, p. 7 — 1 4 . Auch: Tagebuch Chiang, Bd. X I V . p. 1 8 — 2 2 ; und „Rundbrief an die Genossen der K M T « vom 25. 12. 1925, ibid. p. 1—6.

94

Lei, op. cit., p. 33.

Der Sieg des linken Flügels auf dem II. Parteikongreß der KMT

141

Der Sieg des linken Flügels auf dem II. Parteikongreß der KMT

Die Stellung des linken Flügels in Kanton hatte sich in den letzten drei Monaten des Jahres 1925 weiter verstärkt; denn in dieser Zeit gelang es der Armee, die Herrschaft der Partei über die ganze Provinz Kuangtung auszudehnen. Noch Mitte September eroberte — wie wir gesehen hatten — Ch'en Ch'iung-ming Shant'ou zurück und rüstete sich, während die KMT durch Fraktionskämpfe gelähmt wurde, zu einer neuen Offensive auf Kanton. Nachdem aber Wang und Chiang ihre Führungsposition konsolidiert hatten, ging die NR Α sofort zum Gegenangriff über: am 28. September begann unter Chiangs Kommando die „Zweite Ostexpedition" 95 . Bereits Anfang Oktober war das Gebiet südöstlich von Kanton vom Gegner gesäubert, am 14. Oktober eroberten die Huangpu-Kadetten unter Chiangs persönlicher Führung Ch'ens Hochburg, Huichou, und bis zum 16. November war der ganze Osten der Provinz vom Feinde frei. Die Reste der Truppen Ch'en Ch'iung-mings flohen nach Fukien. Inzwischen hatten das 4. und 5. Armeekorps der NRA Anfang November begonnen, audi den Süden Kuangtungs zu säubern. Am 11. November meldete Li Fu-lin die Besetzung des Heimatkreises von Sun Yat-sen, Hsiangshan, der jetzt diesem zu Ehren „Chung-shan" genannt wurde", vom 7. Dezember an kooperierten die NRA-Verbände und KuangsiTruppen unter Li Tsung-jen bei der Aufgabe, den südlichsten Teil der Provinz der KMT-Herrschaft zu unterwerfen. Dies war bereits kurz vor dem Jahreswechsel geschehen, und vom 15. Januar bis Anfang Februar 1926 besetzte das 4. Armeekorps unter Li Chi-shen schließlich audi die Insel Hainan, so daß jetzt die gesamte Provinz Kuangtung mit rund 25 Millionen Einwohnern fest in der Hand der KMT und deren erbitterster Gegner, Ch'en Ch'iung-ming, nach dreieinhalbjährigem Kampf aus dem politischen Kräftespiel ausgeschieden war. Die Uberreste der gegnerischen Verbände wurden unter neuen Offizieren und Ch'eng Ch'iens Kommando als 6. Armeekorps in die NRA eingegliedert, die jetzt — Ende 1925 — insgesamt 85.000 Soldaten umfaßte, von denen bereits über 30.000 unter Offizieren dienten, die in Huangpu ausgebildet worden waren 97 . 85

Vgl. zum folgenden Absatz: Ch'en Hsün-cheng, „Die zweite Ostexpedition", in: KMWH, Bd. XI, p. 305—320 (dort audi Sammlung der bedeutendsten militärischen Telegramme dieses Feldzuges); T'ang, Revolution, p. 227 und Tong, op. cit., p. 53. · · Telegramm Li Fu-lins an den Militärrat vom 11. 11. 1925, in: KMWH, Bd. XI, p. 327. 07 Liu, op. cit., p. 25.

142

HI- Kapitel:

Durchsetzungskamp}

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

Der II. Parteikongreß der KMT, der vom 4. bis zum 19. Januar 1926 in Kanton stattfand, begann so in einer optimistischen Atmosphäre. Vor zwei Jahren konnten die Teilnehmer am I. Parteikongreß noch nicht einmal der in der Stadt selbst stationierten Truppen sicher sein, jetzt war die ganze Provinz von militärischen Verbänden beherrscht, die der unmittelbaren Kontrolle der Partei unterstanden. Die Massenorganisationen der KMT hatten in den vergangenen 12 Monaten einen großen Aufschwung genommen, die britischen Gegner in Hongkong und Shamien litten immer mehr unter der Last des erfolgreichen, langandauernden Generalstreiks, ohne wirksame Gegenaktionen zu wagen, und der Nationalregierung war es gelungen, die Verwaltung in Kuangtung zu einem gut funktionierenden Instrument der Partei zu machen. Von den insgesamt 256 Delegierten des Parteikongresses gehörten 90 der K C T an, deren Vertretung also von etwas über 7 °/o der Delegierten des I. Parteikongresses auf jetzt etwa 35 % angestiegen war, obgleich immer noch den 12.000 KCT-Mitgliedern weit über 200.000 Mitglieder der KMT gegenüberstanden98. Nur 67 Delegierte waren gewählt, 189 dagegen ernannt, unter ihnen 78 Kommunisten. Zusammen mit 78 Delegierten, die zur „Linken" gezählt werden konnten, kontrollierte der „linke Flügel" also mit 168 Delegierten die überwiegende Mehrheit des Kongresses". Dies machte sich bei den Ergebnissen der Tagung deutlich bemerkbar. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen der politische Bericht, den Wang Ching-wei abgab100, und Chiang Kai-sheks militärischer Bericht101. Beide wurden am 6. Januar erstattet, und beide betonten, die Bedeutung der Politik des Bündnisses mit der UdSSR und den Kommunisten. Sung Tzu-wen, der den Finanzbericht vorlegte, konnte mit Stolz darauf hinweisen, daß die Einnahmen der Kanton-Regierung von 9,3 Millionen Yüan im Jahre 1924 auf 48,5 Millionen Yüan im Jahre 1925 gestiegen seien — die Monatseinkünfte von zwei Millionen im Januar auf sechs Millionen im Dezember 1925 —, und daß es gelungen sei, die ge68

99

100 101

Delegiertenliste des II. Parteikongresses der KMT vom 4. 1. 1926 (KMT-Archiv). Beschlußprotokolle in: Parteitagsmaterialien KMT, p. 49—102, 148 ff. und 189 ff. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 213—215; T'ang, Revolution, p. 234—236 und Tong, op. cit., p. 56 f. So T'ang, Revolution, p. 334. T'ang gibt hier allerdings fälsdilich die Delegiertenzahl mit 278 an, von denen 65 dem „Zentrum" und 45 dem „rechten Flügel" angehört haben sollen. Wang, „Politischer Bericht", in: KMWH, Bd. X X , p. 1595—1614. Chiang Kai-shek, Militärischer Bericht auf dem II. Parteikongreß der KMT, in: KMWH, Bd. XI, p. 328—335.

Der Sieg des linken Flügels auf dem II. Parteikongreß

der KMT

143

samte Finanzverwaltung, einschließlich des Haushalts der militärischen Verbände, bei der Nationalregierung zu zentralisieren102. Das am 19. Januar veröffentlichte Manifest des II. Parteikongresses macht die eindeutige Vorherrschaft der Linken und der K C T auf dem Kongreß besonders deutlich. Es soll deshalb im folgenden auszugsweise wiedergegeben werden: „. . . China hat wegen der ungleichen Verträge, die ihm von den ausländischen Imperialisten aufgezwungen wurden, seine Freiheit und Gleichberechtigung verloren. Deshalb ist es die wichtigste Aufgabe unserer Nationalen Revolution, mit den Imperialisten fertig zu werden. Um dies zu erreichen, müssen wir, wie Dr. Sun Yat-sen in seinem Testament sagte, mit allen Völkern in der Welt zusammenarbeiten, die uns als Gleichberechtigte behandeln. Zu diesen Völkern gehört vor allem die UdSSR, die ihre Gleichberechtigung errungen hat, indem sie die Imperialisten besiegte, und die uns jetzt als Gleichberechtigte behandelt, und alle anderen unterdrückten Völker, die Kolonien und Halbkolonien . . „Deshalb verschmilzt die nationale Bewegung mit der internationalen, der Nationalismus wird eins mit der Weltrevolution. Unter dieser Voraussetzung arbeiten wir ernsthaft und zuverlässig mit der U d S S R zusammen, und dies ohne Zögern, was auch immer die Imperialisten, Militärmachthaber, Kompradoren und Dorftyrannen sagen mögen. Andrerseits wird auch unsere Zusammenarbeit mit allen anderen unterdrückten Völkern in der Welt immer enger . . ." „Die schnelle Entwicklung der Industrie in den Kolonien und Halbkolonien hat eine Arbeiterklasse geschaffen, die immer mehr ein starkes Element der Nationalen Revolution wird und dabei ist, die Führung der nationalen Befreiungsbewegungen zu übernehmen . . . " „Die Nationale Revolution Chinas bedeutet innenpolitisch die Selbstbefreiung des chinesischen Volkes, international aber die Befreiung einer großen Gruppe von Völkern in diesem Teil der Welt. So wird die Nationale Revolution Chinas zum bedeutsamsten Teil der Weltrevolution. Wir stehen dabei mit der UdSSR und allen unterdrückten Völkern in einer Front."

Dann proklamiert das Manifest im einzelnen die Solidarität der KMT mit den „Befreiungsbewegungen" in Mexiko, Elsaß-Lothringen, Mazedonien, Bessarabien, der Bukowina, Schlesien, Kroatien, Algerien und Ägypten, der Bürgerrechtsbewegung in den USA, den Rif-Kabylen unter Abdel-Krim, der indischen Kongreßpartei, den Indonesiern, mit der arabischen Nationalbewegung in Palästina und der „Befreiungsbewegung" in Syrien und zieht aus dieser Liste den Schluß: „Die unterdrückten Völker beginnen, ihre ungleiche Stellung in der Welt zu erkennen, die eine Folge der häßlichen und schmutzigen Aktionen der Imperialisten ist. Deshalb sind nationale Bewegungen in der heutigen Welt eine universale Erscheinung. Einige von ihnen stehen im offenen Krieg gegen die Imperialisten, wie im R i f und in Syrien, eine von ihnen hat bereits ihr Ziel erreicht: in der T ü r k e i . . . Und es sollte zur

102

Sung Tzu-wgn, Finanzbericht auf dem II. Parteikongreß der K M T , K M W H , Bd.

X X , p. 1615—1622.

144

111. Kapitel: Durchsetzungskampf

und Aufstieg Chiang

Kai-sheks

Kenntnis genommen werden, d a ß in dem K a m p f zwischen den nationalen Bewegungen und den Imperialisten das Proletariat immer größere Bedeutung gewinnt und beginnt, die Führung zu übernehmen. D e r E r f o l g der N a t i o n a l e n R e v o l u t i o n ist von der Unterstützung der Massen, v o r allem der Arbeiter und Bauern, abhängig. E i n i g e nationale Bewegungen sind gescheitert, weil sie nur die Intelligentsia erfaßten . . . "

Sich der Situation in China zuwendend, bezeichnet das Manifest die Militärmachthaber, Bürokraten, Kompradoren und „Dorftyrannen" als vom Imperialismus gekaufte Feinde der Revolution, die es zu überwinden gelte, rezitiert die von Sun Yat-sen in seinem Testament als programmatisch kodifizierte Liste von „Schriften" und schließt, abgesehen von einer Serie von Hochrufen, von denen einer die Weltrevolution feiert, mit einer deutlichen Warnung an eventuelle „Abweichler": „Wer immer der Partei der R e v o l u t i o n angehört, muß der Partei loyal sein und ernsthaft seine Pflicht tun, er muß seine Fehler rasch berichtigen, den Genossen gegenüber freundlich sein und alle müssen sich gegenseitig helfen u n d einander ermahnen. Diejenigen aber, die in ihren Fehlern beharren, wird die eiserne Disziplin der Partei treffen. D i e Partei w i r d keine G n a d e walten lassen; denn wir wollen unsere R e v o l u t i o n gut organisieren 1 0 3 ."

Daß es sich hierbei nicht nur um leere Drohungen handelte, bekamen die Anhänger der „Westberggruppe" zu spüren. Der Parteikongreß schloß Hsieh Ch'ih und Tsou Lu aus der K M T aus. Zwölf weitere leitende Mitglieder der „Westberggruppe" — darunter Chang Chi, Lin Sen, Shen Ting-i, Shao Yüan-ch'ung und Chü Cheng — wurden aufgefordert, innerhalb von zwei Monaten ihre Vergehen zu gestehen und die Erklärungen der „Westberg-Konferenz" zu widerrufen, widrigenfalls könne das Z E K sie ohne die Möglichkeit des Appells aus der K M T ausschließen. Tai Chit'ao allerdings kam mit einer Verwarnung davon, die man ihm erteilte, weil er „gegen seinen Willen zum Instrument reaktionärer Kräfte wurde" 104 . Dies deutet darauf hin, daß trotz der eindeutigen Vorherrschaft des linken Flügels die Kommunisten, die auf dem Parteikongreß als eine erst von T'an P'ing-shan und später von Chang Kuo-t'ao geleitete einheitliche Fraktion auftraten 105 , nicht alleine dominierten. Wenn auch der Kon103

Chinesischer T e x t des Manifestes in: Parteitagsmaterialien K M T , p. 4 9 — 7 2 ;

und

in: C h u n g - k u o k u o m i n t a n g li-tz'u tai-piao ta-hui hsüan-yen (Manifeste aller P a r teikongresse der K M T ) , T'aipei 1952, p. 19—44. 104

Chinesischer T e x t der Beschlüsse des II. Parteikongresses über die Mitglieder der „ W e s t b e r g g r u p p e " in: Parteitagsmaterialien K M T , p. 7 5 — 7 7 und bei Lei, op. cit., p. 3 1 — 3 3 .

105

Wang Wei-lien, „ D i e Wahlen des Z E K auf dem II. Parteikongreß", in: „Hsien-tai shih-liao", Bd. I, p. 9 4 — 9 8 . V g l . : W i l b u r / H o w , p. 213 und 507.

Der Sieg des linken Flügels auf dem II. Parteikongreß

der

KMT

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greß Resolutionen zur Unterstützung der inzwischen weitgehend unter ihrem Einfluß stehenden Massenorganisationen der Bauern, Arbeiter, Frauen und Jugend verabschiedete, so versagte er doch andrerseits einem Verlangen Borodins, die entschädigungslose Enteignung der Grundbesitzer zugunsten landloser Bauern zu beschließen, seine Zustimmung108. Schließlich wurde sogar — wie es heißt, auf Drängen Chiangs107 — Tai Chi-t'ao wieder zum Vollmitglied des ZEK gewählt, wobei er allerdings vom dritten Platz in der Rangfolge des I. ZEK auf den 20. im II. ZEK absank. Im übrigen wurden auch die personellen Entscheidungen unter dem Eindruck der Vorherrschaft des linken Flügels gefällt. Von den 36 Vollmitgliedern des II. ZEK 108 waren sieben Kommunisten109, unter den 48 Kandidaten gar 24110. 14 weitere ZEK-Vollmitglieder gehörten damals zum linken Flügel der KMT, unter ihnen — jetzt zum ersten Mal in dieses Gremium gewählt — auch Chiang Kai-shek. Stärker nach rechts tendierte die neue ZKK, unter deren elf Vollmitgliedern sich nur ein Kommunist fand: Kao Yü-han, auf der anderen Seite aber Persönlichkeiten wie Wu Chih-hui, Chang Ching-chiang und Ts'ai Yüan-p'ei. Am letzten Sitzungstag, dem 19. Januar, beschloß der Parteikongreß noch, alle Militärschulen in Kanton in einer „Zentralen Militärischen und Politischen Akademie" (Chung-yang chün-shih cheng-chih hsüeh-hsiao) zu vereinigen, deren Kern die bisherige Huangpu-Akademie darstellen sollte und zu deren Rektor Chiang berufen wurde. Dieser gab darauf das Kommando des 1. Armeekorps an Ho Ying-ch'in ab und wurde statt dessen wenige Tage später, am 8. Februar, „Generalinspekteur" (Tsung-chien) und so praktisch bereits Oberbefehlshaber der NRA. Er hatte damit seinen Einfluß in der Armee erheblich verstärkt. Auf dem vom 21. bis zum 28. Januar dauernden 1. Plenum des I I . ZEK bauten die Kommunisten ihre Position in der Parteiführung weiter aus. Neben Wang Ching-wei, T'an Yen-k'ai, Hu Han-min, Chiang Kai-shek, Ch'en Kung-po und Kan Naikuang* wurden die KCT-Mitglieder T'an P'ing-shan, Lin Tsu-han und Wu Yü-chang in den „Ständigen Ausschuß des ZEK" gewählt. T'an blieb Leiter der Organisationsabteilung, Lin der Bauernabteilung, während die 106 107 108 109

110

10

Tong, op. cit., p. 57. Wang Wei-lien, op. cit., p. 97. „Liste des II. ZEK und der II. 2KK", in: Parteitagsmaterialien KMT, p. 189—191. Li Ta-diao, T'an P'ing-shan, Yü Shu-te, Lin Tsu-han, Wu Yü-chang, Yang Paoan und Yün Tai-ying. Darunter u.a.: Mao Tse-tung, Han Lin-fu, Ch'ü Ch'iu-pai, Yü Fang-chou, Hsia Yi und Frau Teng Ying-di'ao. Domes

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III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

Arbeiterabteilung — wie schon seit der Ermordung Liao Chung-k'ais — wiederum kommissarisch von Feng Chii-po übernommen wurde und neben Wang Ching-wei, der jetzt die Propagandaabteilung formell leitete, Mao Tse-tung als amtierender Leiter trat. Zum Leiter des Sekretariats beim ZEK berief man den Kommunisten Liu Fen. Audi die Stellen der Sekretäre der Abteilungen für Frauen, Jugend und Auslandschinesen erhielten Mitglieder der KCT 111 . Unter den fünf Lehrern der Ausbildungsschule für höhere Parteikader befanden sich drei Kommunisten, weitere Mitglieder der KCT dienten als stellvertretende Leiter des Lehrinstituts der Frauenbewegung und als Leiter des Lehrinstituts der Bauernverbände (Mao Tse-tung)112. In der Organisationsabteilung waren damals unter den höheren Kadern 31 Kommunisten und fünf Nichtkommunisten, in der Verwaltung von 29 Angestellten 26 Kommunisten113. Ähnlich sah es in den anderen Abteilungen der KMT-Parteizentrale aus, wenn audi zuweilen nicht ganz so kraß wie gerade in der einflußreichen Organisationsabteilung. Die kommunistische Infiltration war also in den Leitstellen der nationalistischen Einheitspartei schon recht weit gediehen. Während der Kongreß noch tagte, wurde ein Ereignis vorbereitet, durch welches sich die territoriale Basis der revolutionären Bewegung erheblich erweiterte: die Vereinigung von Kuangtung und Kuangsi unter der Kantoner Nationalregierung. Die Kuangsi-Generale, Li Tsung-jen, Huang Shao-hsiung, Pai Ch'unghsi — und ihr politischer Berater T'ien T'ung hatten sich im Laufe des Jahres 1925 immer mehr der KMT genähert, und nachdem der II. Parteikongreß Huang und Li zu Kandidaten der ZKK wählte, ergab sich bald eine Chance, diese Beziehung zu formalisieren. Am 25. und 26. Januar 1926 trafen sich Wang Ching-wei, der erneut zum Vorsitzenden des ZEK gewählt worden war, Heeresminister T'an Yen-k'ai und Finanzminister Dr. Sung mit Li, Huang und Pai in Wuchou an der Grenze zwischen Kuangtung und Kuangsi, um dort grundsätzlich die Vereinigung der beiden Provinzen zu besprechen. Am 30. Januar wurde dann in Kanton ein 111

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Beschlußprotokoll des 1. Plenums des II. ZEK der K M T v o m 21. bis 28. 1. 1926 (KMT-Archiv). Chou Ts'ui-fen, „Die Parteizentrale während der Kanton-Periode", in: Hsien-tai shih-liao, Bd. II, p. 40—48. Vgl. auch: Wilbur/How, p. 217 und Snow, op. cit., p. 160. So: Ch'en Kuo-fu, „Ein Stück Parteigeschidite in den Jahren 1926/27", in: „Chungyang jih-pao", T'aipei, vom 15. 11. 1950; und in: Pen-tang yü fei-tang po-tou shihshih (Historische Berichte über den Kampf unserer Partei gegen die Rebellenpartei), T'aipei 1951, p. 61— 74.

Der Sieg des linken Flügels auf dem IL Parteikongreß

der KMT

147

„Vereinigungsausschuß" (Liang-kuang t'ung-i wei-yüan-hui) gebildet, dem Wang, T'an, Chiang, Chu P'ei-te, Li Chi-shen und Pai Ch'ung-hsi angehörten und der die Aufgabe hatte, die Modalitäten der Vereinigung beider Provinzen zu regeln114. Entscheidendes Gremium für die Einigungsverhandlungen wurde nun der vom ZEK neugewählte PR, dem unter dem Vorsitz von Wang Chingwei elf weitere Mitglieder angehörten: T'an Yen-k'ai, Hu Han-min, Chiang Kai-shek, Dr. Wu Ch'ao-shu, Chu P'ei-te, Sun K'e, Dr. Sung Tzuwen, Hsü Ch'ien und Dr. Ch'en Yu-jen von der KMT, T'an P'ing-shan und Wu Yü-chang von der KCT 115 . Auf einer Sitzung am 17. Februar, an der auch die Sowjetberater Kisanko und Galen-Blücher teilnahmen, legte man zusammen mit Pai Ch'ung-hsi die Modalitäten der Vereinigung fest, am 13. März erklärten Li und Huang im Namen der Provinzregierung und der Armee von Kuangsi, daß sie sich der Nationalregierung anschlössen116, und am 19. März endlich gab diese die Bedingungen des Zusammenschlusses bekannt 117 . Armee, Finanzen und Verwaltung Kuangsis wurden der Nationalregierung genau so unterstellt, wie das bisher bei Kuangtung der Fall gewesen war, doch garantierte die Nationalregierung den Kuangsi-Truppen eine ausreichende finanzielle Versorgung. Huang Shao-hsiung wurde Gouverneur der Provinz Kuangsi, Li Tsung-jen Oberbefehlshaber des neuen 7. Armeekorps — der früheren Kuangsi-Armee, die jetzt in die N R A aufging — und Pai Ch'ung-hsi dessen Generalstabschef. So verstärkte sich die NRA um die etwa 25.000 Mann starken Kuangsi· Verbände, und weitere 12 Millionen Menschen traten offiziell unter die Jurisdiktion der Nationalregierung. Die Stellung der KMT wurde auf diese Weise zweifellos verstärkt. Gleichzeitig aber begann damit eine Entwicklung, die sich später als äußerst problematisch erweisen sollte: Die KMT nahm zum ersten Mal seit der Reorganisation von 1924 ganze Truppenverbände mit ihren bisherigen Kommandanten auf! 114

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Angaben Pai Ch'ung-hsis in einem Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964 in T'aipei. Liste der Mitglieder des PR der KMT vom 27. 1. 1926 (KMT-Archiv). Μ. N . Roy, Revolution und Konterrevolution in China, Berlin 1930, p. 360, nennt nur neun Mitglieder: Wu Yü-diang, Lin Tsu-han, Hsü Ch'ien und Ch'en Yu-jen fehlen bei ihm. Zirkulartelegramm Li Tsung-jens und Huang Shao-hsiungs vom 13. 3. 1926, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao" (Bulletin der Nationalregierung), Nr. 27 vom März 1926 und in: KMWH, Bd. XX, p. 1629. Instruktion Nr. 124 der Nationalregierung, ibid. (KMWH, Bd. X X , p. 1630— 1632). Auch: KMWH, Bd. XII, P. 22—24.

148

III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

Chiang Kai-sheks

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

Staatsstreich vom 20. März 1926

Während die sowjetischen Berater in Kanton sich bis zum Herbst 1925 zumeist im Hintergrund gehalten hatten, begannen sie seither, unmittelbar Leitungspositionen zu übernehmen. Neben Borodin, der weiter als Berater der K M T wirkte, trat im November 1925 Kisanko als Leiter der sowjetischen Gruppe in Kanton. Ihm unterstanden vor allem die russischen Militärberater, von denen General Rogatschew das Amt des Generalstabschefs der N R A übernahm, während Admiral Smirnow an die Spitze des Marinekommandos und ein anderer Russe, Remi, an diejenige der im Aufbau begriffenen Luftwaffe trat 118 . Auch in einer Reihe von Eliteverbänden des Heeres übernahmen jetzt sowjetische Offiziere direkt die Führung. Mit ihrer Unterstützung bemühten sich die chinesischen Kommunisten seit dem II. Parteikongreß der K M T , audi die Kader der N R A zu infiltrieren. Kisanko hatte bereits im Dezember 1925 empfohlen, mehr Politkommissare in der Armee einzusetzen119. Nachdem Chou Enlai das Amt des Leiters der Politischen Abteilung in Chiangs 1. Armeekorps übernommen hatte, wurden dort vorwiegend Mitglieder der K C T als Politkommissare eingesetzt. Im Februar 1926 waren die Leiter der Politischen Abteilungen in vier der fünf Divisionen dieses Armeekorps Kommunisten, während im ganzen von den Politkommissaren der unteren Ränge ein Drittel der K C T angehörte120. Der Leiter der Politischen Abteilung der Marine, Li Chih-lung, der stellvertretende Leiter der Politischen Abteilung in der Militärakademie, Lu I und dessen Sekretär, Nieh Jung-chen, gehörten ebenfalls der K C T an 121 . Diese Versuche der Kommunisten, in seinen eigenen Machtbereich einzudringen, wurden von Chiang mit wachsender Sorge beobachtet. Hinzu kam, daß die oftmals schroffe Haltung der sowjetischen Berater Konflikte zwischen ihnen und Chiang entstehen ließ 122 . In seinem Tagebuch erscheinen vom 19. Januar 1926 ab häufig verärgerte Bemerkungen über die Russen, denen Chiang vorwirft, daß sie ihn betrögen und lächerlich zu machen versuchten123. Die Auseinandersetzungen des Generalinspekteurs der N R A mit seinen sowjetischen Mitarbeitern verschärften sich, als diese ihre Skepsis geVgl. hierzu: Wilbur/How, p. 212 f. und Dokument 15, p. 184 und 16, p. 196. ibid., p. 218 und Dokument 16, p. 191. 1 2 0 ibid., Dokument 24, p. 259. 1 2 1 Wilbur/How, p. 218. 122 v g l . z u diesem Absatz: ibid., p. 215 f. 1 2 3 Tagebuch Chiang, Bd. X I I I , p. 7 und X I V , p. 43, 59 f. und 61. 118

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Chiang Kai-sheks Staatsstreich vom 20. März 1926

149

genüber den Plänen der KMT, einen „revolutionären Nordfeldzug" (Kerning pei-fa) zur Eroberung Chinas zu beginnen, nicht verhehlten. Bereits am 27. Januar 1926 hatte Wang Ching-wei auf einer Sitzung des PR erklärt, daß die finanziellen Mittel der Provinz Kuangtung nicht ausreichten, um die Streitkräfte der KMT auf die Dauer zu unterhalten. Außerdem seien die nördlichen Militärmachthaber durch ihre ständigen Kämpfe untereinander geschwächt124. In Nordchina hatten inzwischen Wu P'ei-fu, Chang Tso-lin und der Militärmachthaber von Shantung, Chang Tsungch'ang, ein Bündnis gegen Feng Yü-hsiangs „Kuominchün" abgeschlossen, den sie von drei Seiten anzugreifen begannen125. Daraufhin verabschiedete der PR der KMT am 16. Februar ein Manifest, in dem er Wu und Chang Tso-lin als „Landesfeinde" bezeichnete und das chinesische Volk aufforderte, sich zu erheben, um der Nationalregierung bei der „Unterwerfung dieser beiden Verbrecher" Hilfe zu leisten128. Dieses Manifest wurde jedoch erst am 25. Februar veröffentlicht, nachdem der PR auf einer weiteren Sitzung am 24. Februar Chiangs Vorschlag, den „Nordfeldzug" so früh wie möglich zu beginnen, angenommen hatte127. Der Vorstoß Chiangs im PR erfolgte vor allem, weil die sowjetischen Berater jetzt gemeinsam mit der KCT den Versuch unternahmen, den Beginn der militärischen Operationen zu verzögern128. Trotz ihrer beachtlichen Erfolge bei der Durchdringung der KMT mit kommunistischen Kadern brauchten sie offenbar noch einige Zeit, um ihre Machtstellung in Kuangtung, die sich nicht zuletzt auch auf die bewaffneten Arbeitermilizen stützte, weiter auszubauen. Ein zu schneller Erfolg der KMT hätte ihren Plänen womöglich Abbruch getan und andererseits die Stellung Chiangs erheblich gestärkt. So versuchten sie, ihren Einfluß im Interesse einer Verschiebung des Beginns kriegerischer Handlungen gegen die nördlichen Militärmachthaber geltend zu machen. Mit diesen Konflikten zwischen Chiang und den Sowjetberatern, unter ihnen vor allem Kisanko und Rogatschew, liefen Versuche des rechten Flügels und der gemäßigten Kreise in der KMT parallel, Chiang auf ihre Seite zu bringen. Schon am 11. Januar traf Sun K'e, der gerade aus Shanghai, der Hochburg des rechten Flügels, nach Kanton zurückgekehrt war, mit Chiang zusammen. Dieser erklärte während des Gesprächs, er wolle 124

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Protokoll der Sitzung des PR vom 27. 1. 1926 (KMT-Archiv). Vgl. audi: T'ang, Revolution, p. 240. Tagebuch Chiang, Bd. X X , p. 108. Vgl. Wilbur/How, p. 328. Erklärung des ZEK der KMT gegen Tuan Ch'i-jui vom 27.2. 1926, in: KMWH, Tagebuch Chiang, Bd. XIV, p. 67 f. Wilbur/How, p. 215 f.

150

III. Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

versuchen, den Parteikongreß dazu zu bringen, daß die geplanten Maßnahmen gegen die „Westberggruppe" verschoben würden 129 , was ihm jedoch nicht gelang. Außer Sun bemühte sich vor allem Chang Ching-chiang darum, Chiang zu Maßnahmen gegen die Kommunisten zu veranlassen. Dieser einflußreiche ältere Parteiführer wurde in jener Zeit zum bedeutsamsten Sprecher des Zentrums der KMT. T'ang Leang-li behauptet, Chang sei im Februar in geheimer Mission von Shanghai nach Kanton gekommen und dort geblieben, um Chiang gegen Wang Ching-wei aufzuwiegeln 130 . Dies ist jedoch nicht ganz richtig. Chang nahm zwar am Parteikongreß teil und führte am 26. Januar auch eine Unterredung mit Chiang. Er fuhr dann aber nach Shanghai zurück und benutzte bis zu seiner Rückkehr nach Kanton Ende März eine Reihe von Zwischenträgern, um Chiang seine Vorstellungen nahezubringen, unter ihnen vor allem Sun K'e 131 . Außerdem mehrten sich im Laufe des Februar die Anzeichen für das Entstehen einer Rivalität zwischen Chiang und Wang. Diese beiden Persönlichkeiten waren aus den Auseinandersetzungen des Jahres 1925 als Sieger hervorgegangen, und ihr Kampf um die alleinige Führung in der K M T konnte seither erwartet werden. Als Chiang im Februar 1926 begann, den Einfluß der Sowjets in der N R A zurückzudrängen, indem er einige von ihnen wieder auf reine Beraterfunktionen beschränkte, unterstützte Wang ihn nur zögernd 132 und riet dem Konkurrenten sogar am 12. März, Kanton vorübergehend zu verlassen, um so einer Verschärfung des Konflikts mit den Russen aus dem Wege zu gehen133. Zu dieser Verschärfung trug vor allem die Tatsache bei, daß der konziliante Borodin Anfang Februar nach Nordchina gereist war, wo er den Versuch einleitete, Feng Yü-hsiang für eine Zusammenarbeit mit der K M T und der UdSSR zu gewinnen 184 . Kisanko benutzte Borodins Abwesenheit dazu, die von diesem nur vorsichtig betriebene direkte Unterstützung der K C T durch die sowjetische Beratergruppe erheblich zu intensivieren. So war eine Auseinandersetzung zwischen Chiang einerseits und den Sowjetberatern, Wang und den chinesischen Kommunisten andererseits kaum noch zu vermeiden. Wang wurde " · Tagebuch Chiang, Bd. XIII, p. 17. T'ang, Revolution, p. 241 ff. 131 Angaben Sun K'es im Interview mit dem Verfasser am 3. April 1965 in Laguna Beach und: Tagebuch Chiang Bd. X I V , p. 55. 132 Vgl. Wilbur/How,p.217. 133 Tagebuch Chiang, Bd. X I V , p. 78, bestätigt in den Interviews des Verfassers mit Sun K'e am 3. April 1965 und Pai Ch'ung-hsi am 11. September 1964. ,S4 Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 329 ff. 180

Chiang Kai-sheks

Staatsstreich

vom 20. März

1926

151

am 17. März krank und zog sich für einige Tage in seine Privatwohnung zurück. Noch während seiner Krankheit kam es zu Ereignissen, durch welche die Machtverhältnisse in Kanton grundlegend verändert wurden. In den frühen Morgenstunden des 20. März erklärte Chiang den Ausnahmezustand in der Stadt. Die Wohnungen der sowjetischen Berater wurden von Huangpu-Kadetten umstellt, der kommunistische Politkommissar der Marine, Li Chih-lung und alle Angehörigen der K C T in der Politischen Abteilung des 1. Armeekorps verhaftet und die Arbeitermilizen entwaffnet 135 . Diese Aktion ist in der Literatur unterschiedlich gedeutet worden. Isaacs betrachtet sie als einen unprovozierten Staatsstreich Chiangs, der auf diese Weise seinen Wunsch, Kanton alleine zu beherrschen, wahrgemacht und damit den revolutionären Kräften in der K M T einen schweren Sdilag versetzt habe. Tang sieht darin einen Erfolg des rechten Flügels der K M T und meint, Chiang habe vor allem die Absicht gehabt, Wang auszuschalten und den Einfluß der KMT-Linken zurückzudrängen. Chiang selbst und sein Biograph Tong hingegen behaupten, die Kommunisten hätten einen Putsch gegen den Militärbefehlshaber geplant, der ihnen durch sein energisches Eingreifen zuvorgekommen sei. Es fällt schwer, heute die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Die verfügbaren Quellen reichen kaum aus, um eine Entscheidung zugunsten einer der dargestellten Versionen zu fällen. Es erscheint als sicher, daß das Kanonenboot „Chung-shan" unter dem Kommando von Li Chih-lung am 18. März von Kanton nach Huangpu fuhr und dort ankerte. Li behauptete, dies sei auf eine ihm telefonisch mitgeteilte Anweisung Chiangs geschehenden das Schiff an Bord nehmen sollte. Chiang selbst befand sich jedoch in Kanton und als Li dies feststellte, ließ er das Kanonenboot am 19. nachmittags dorthin zurückfahren, hielt es aber weiter unter Dampf 136 . Der Ursprung jenes mysteriösen Anrufs bei Li ist bis heute nicht geklärt. Li bestand auf seiner Version, daß dieser Befehl ihn erreicht und er ihn als eine Anweisung des Generalinspekteurs 135

Vgl. hierzu u . a . : T'ang, Revolution, p. 244—247; Wilbur/How, p. 2 1 8 — 2 2 1 ; Isaacs, op. cit., p. 9 3 — 9 6 ; Chiang, op. cit., p. 59 f. Tong, op. cit., p. 58 f.; Brandt, op. cit., p. 71 f.; und Schwartz, op cit., p. 54 f.. Isaacs beruft sich bei seiner Darstellung auf eine angeblich 1927 in Wuhan erschienene Sdirift v o n Li Chih-lung (Der Rücktritt des Vorsitzenden Wang Ching-wei). Diese Schrift konnte v o m Verfasser in keiner der von ihm durchgesehenen Sammlungen festgestellt werden, sie wird audi in der sonstigen diinesischen und westlidien Literatur nicht zitiert. "« Bericht Chiangs an den Militärrat vom 25. 3. 1926, in: KCT-Dokumente, Bd. I p. 113 f.

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III· Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

der N R Α aufgefaßt habe, Chiang hingegen erklärte, er habe den Befehl nie gegeben. Es seien vielmehr Gerüchte aufgetaucht, denen zufolge die leitenden Sowjetberater und die Kommunisten beabsichtigt hätten, ihn an Bord des Schiffes zu locken, dort festzunehmen und als Gefangenen nach Wladiwostok zu bringen. Im übrigen sei auch für ihn die Angelegenheit äußerst unklar, vor allem könne er nicht verstehen, warum er am 19. März abends dreimal nacheinander telefonisch gefragt worden sei, ob er nicht mit dem Kanonenboot nach Huangpu fahren wolle, es stehe dazu bereit137. Die „Evidenzen", die von den Vertretern der Theorie, daß ein kommunistischer Putsch gegen Chiang im Gang war, vorgebracht würden, sind allzu fadenscheinig. Andererseits spricht die Tatsache, daß im Stab Chiangs eine Anzahl von russischen Beratern und chinesischen Kommunisten arbeiteten, gegen die Behauptung, Chiang habe den Staatsstreich seit längerer Zeit geplant. Es ist kaum anzunehmen, daß die in diesem Fall notwendigen Vorbereitungen ihnen entgangen wären. Sie wurden aber von der Aktion am 20. März völlig überrascht. Von besonderer Bedeutung war für Chiang die Entwaffnung der Arbeitermilizen. Auf diese Weise schaltete er den einzigen Waffenträger in Kanton aus, der nicht unter seiner Kontrolle stand. Nach dem Staatsstreich agierte Chiang mit großem Geschick. Zuerst spielte er den ob seines „übereilten Vorgehens" Betrübten. So teilte er bereits am Nachmittag des 20. März Wang im Gespräch mit, daß er bereit sei, Strafe zu empfangen, weil er ohne die Zustimmung des PR-Vorsitzenden den Ausnahmezustand verhängt habe138. Am 21. März trat der PR in der Wohnung Wangs zu einer Sitzung zusammen und beschloß dabei, T'an Yen-k'ai und Chiang mit der Untersuchung des „Zwischenfalls" zu beauftragen. Wang bat gleichzeitig um Urlaub und forderte den PR auf, an seiner Stelle andere Vorsitzende der Nationalregierung, des ZEK, des PR und des Militärrats zu ernennen. Dies wurde jedoch abgelehnt139. In den folgenden Tagen versuchten Chang Ching-chiang, der jetzt von Shanghai nach Kanton eilte140, und andere Anhänger des rechten Flügels und des Zentrums der KMT, Chiang zu energischen Schritten gegen die Linke und die Kommunisten zu veranlassen. Dieser beschränkte sich aber darauf, die Entfernung einer Reihe von sowjetischen Beratern durchzusetzen. Bereits am 22. März er137

138 139

140

Rede Chiangs vor den Politkommissaren in Huangpu vom 22. 3. 1926, ibid., p. 100 bis 108. T'ang, Revolution, p. 245 f. Stichwortprotokoll der Sitzung des PR am 21. 3. 1926 (KMT-Archiv). Vgl. hierzu auch T'ang, ibid., dessen Version durch das Protokoll weitgehend bestätigt wird. Ch'en Kuo-fu, op. cit., p. 62.

Chiang Kai-sheks

Staatsstreich

vom 20. März 1926

153

klärte sich der sowjetische Attache Solowjew in einem Gespräch mit Chiang damit einverstanden. Noch am gleichen Abend beschloß der PR, Kisanko, Rogatschew und Admiral Smirnow zu entlassen, die Kanton bereits am 24. März verließen141. Die UdSSR und die Komintern leugneten zunächst überhaupt, daß es in Kanton einen Staatsstreich gegeben habe. Von Mitte April an hieß es dann in ihren Püblikationsorganen, die Aktion am 20. März habe der „Stärkung der revolutionären Kräfte" gedient142. Moskau bemühte sich offenkundig darum, einen Bruch mit Chiang unter allen Umständen zu vermeiden, weil es die Auffassung vertrat, daß Chiangs Position in der KMT sehr stark sei und es deshalb günstiger wäre, weiterhin mit ihm zusammenzuarbeiten. Chiang selbst verdeutlichte seine Stellungnahme in einem Brief an dasZEK vom 3. April. Er schlug vor, eine Plenarsitzung des ZEK einzuberufen, um die „Disziplin in Partei und Armee wiederherzustellen". Vor allem müßten die Kommunisten ihre Fraktionstätigkeit innerhalb der KMT einstellen und der Parteizentrale genaue Listen über alle KCT-Mitglieder in der nationalistischen Einheitspartei übergeben. Gleichzeitig sollten die Politkommissare in der N R A zwar im Amt bleiben, aber eine „bessere Ausbildung" erhalten, also wohl stärker im Sinne der KMT-Theorie indoktriniert werden. Das Bündnis mit der UdSSR sei jedoch genauso fest wie bisher und wenn „Gegenrevolutionäre" in Kanton auftauchten, müsse man sie verhaften 143 . Damit hatte sich Chiang nach beiden Seiten abgesichert. Die Kommunisten gaben rasch nach. Am 10. April zogen sie von sich aus ihre Mitglieder aus der Politischen Abteilung des 1. Armeekorps zurück, und sie veranlaßten die Selbstauflösung der „Liga der militärischen Jugend" 144 , was Chiang dazu bewog, am 14. April seinerseits in einem Brief an die Kadetten der Militärakademie lobende Worte über die KCT zu finden145. Bereits am 4. April hatte er in einem Zirkulartelegramm den von der „Westberggruppe" nach Shanghai einberufenen „Parteikongreß" verurteilt 146 . Einen Tag später ließ er eine von Mitgliedern des rechten Flügels der KMT geplante Demonstration verbieten147, und Ende April begann er, noch energischer als bisher gegen rechtsgerichtete Parteimitglie141

142 143 144 145 14< 147

Tagebuch Chiang, Bd. XIV, p. 81—83. Vgl. hierzu u.a.: Wilbur/How, Dokument 23, p. 248—253. Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 97 ff. Tagebuch Chiang, Bd. X V , p. 7—11. ibid., p. 21. Brief Chiangs an die Kadetten von Huangpu vom 14. 4. 1926, ibid., p. 30. ibid., p. 2 f. ibid., p. 15.

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Hl- Kapitel:

Durchsetzungskampf

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

der vorzugehen. Der Polizeikommandant von Kanton, General Wu T'ieh-ch'eng*, der über gute Verbindungen zur „Westberggruppe" verfügte, wurde am 24. April entlassen und unter Hausarrest gestellt148, und Anfang Mai zwang man den Außenminister Dr. Wu Ch'ao-shu zum Rücktritt. An seine Stelle trat Dr. Ch'en Yu-jen, ein führender Vertreter des linken Flügels. Hu Han-min, der am 29. April zusammen mit Borodin nach Kanton zurückgekommen war, unternahm noch einen Versuch, die Kräfte der KMT-Rechten in Kanton zu sammeln, doch audi ihm gelang es nidit, Chiang zu gewinnen. Chiang lehnte es vielmehr am 8. Mai ab, Hu überhaupt zu einem Gespräch zu empfangen. Dieser verließ daraufhin am nächsten Tag Kanton und begab sich über Hongkong nach Shanghai149. Schon Mitte April war es Chiang gelungen, seinen bedeutsamsten Rivalen, Wang Ching-wei, auszuschalten. Wang hatte seine Amtsgeschäfte seit dem 20. März nicht mehr wahrgenommen, sondern sich in ein Dorf in der Nähe von Kanton zurückgezogen. Am 16. April erklärte er in einem Brief an eine gemeinsame Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK der KMT und des Nationalregierungsrats den Rücktritt von seinen Ämtern. T'an Yen-k'ai wurde an seiner Stelle Vorsitzender des PR, Chiang übernahm den Vorsitz im Militärrat 150 . Wang selbst erklärte sich für krank und reiste am 9. Mai zur „Erholung" nach Europa ab. Er begab sich so jeder Möglichkeit, auf die kommende Entwicklung in der KMT Einfluß zu nehmen, und Chiang hatte jetzt freie Bahn. Die Komintern unterstützte ihn in den folgenden Wochen vor allem dadurch, daß sie Widerstände, die wegen der Ereignisse am 20. März in der KCT gegen die Fortsetzung der Politik des „Blocks von innen" aufgetreten waren, überwand. Ihr Vertreter in China, Woitinski, und Borodin selbst zwangen die chinesischen Kommunisten, den Gedanken einer Trennung von der KMT aufzugeben, weil man sich in Moskau entschlossen hatte, unter allen Umständen die Arbeit innerhalb der nationalistischen Einheitspartei, wenn nötig, audi unter erschwerten Bedingungen, fortzusetzen 151 . Obgleich diese Entscheidung später vielfach, vor allem von Trotzki 152 , kritisiert worden ist, 148 Wilbur/How, p. 223 und Dokument 25, p. 266. " · ibid. 150 Besdilußprotokoll der gemeinsamen Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK

151

der KMT, des PR und des Nationalregierungsrates v o m 16. 4 . 1 9 2 6 (KMT-Ardiiv). Vgl. hierzu: Tagebuch Chiang, Bd. X V , p. 36 und 61 und Wilbur/How, p. 224. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 224—227; Isaacs, op. cit., p. 102 ff. und Brandt, op. cit., p. 73 ff. Leon Trotzki, Problems of the Chinese Revolution, N e w York 1932, p. 270 ff.

Chiang Kai-sheks Staatsstreich vom 20. März 1926

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scheint es, daß die Entwicklung innerhalb der KMT im Herbst und Winter 1926/27 zunächst ihre Richtigkeit bestätigte. Am 15. Mai begann nun in Kanton das 2. Plenum des IL ZEK der KMT, das bis zum 22. Mai dauerte. Die Vorschläge Chiangs zur Neuregelung des Verhältnisses zwischen Nationalisten und Kommunisten in der KMT wurden schon am 17. Mai ohne Widerspruch angenommen. Das ZEK verlangte von der KCT, sie solle ihre Anhänger anweisen, die Drei Grundlehren vom Volk nicht zu kritisieren und der Parteizentrale eine vollständige Liste der Mitglieder der KCT in der KMT übergeben. Weiter wurde bestimmt, daß hinfort nur noch solche KMT-Mitglieder, die nicht gleichzeitig der KCT angehörten, Leiter von Abteilungen beim ZEK sein dürften, und daß alle Anweisungen der KCT und der Komintern in China von einem gemeinsamen Ausschuß aus Vertretern beider Parteien gebilligt werden müßten 153 . Die KMT wurde in diesem Ausschuß von Chiang, Chang Ching-chiang, T'an Yen-k'ai, Wu Chih-hui und Ku Meng-yü*, die K C T von Ch'en Tu-hsiu, T'an P'ing-shan und Lin Tsu-han vertreten. Chiang selbst übernahm an Stelle von T'an P'ing-shan die Leitung der Organisationsabteilung und ernannte dort Ch'en Kuo-fu*, einen jungen Mitarbeiter Chang Ching-chiangs, zu seinem Stellvertreter. Ku Meng-yü löste Mao Tse-tung an der Spitze der Propagandaabteilung ab, die Leitung der Bauernabteilung ging von Lin Tsu-han an Kan Nai-kuang über und Yeh Ch'u-cheng, der sich von der „Westberggruppe" losgesagt hatte, wurde an Stelle des Kommunisten Liu Fen erster Sekretär beim ZEK. Ein anderes ehemaliges Mitglied der „Westberggruppe", Shao Yüan-ch'ung, ernannte man zum Leiter der Jugendabteilung 164 . Von großer Bedeutung war weiterhin die Entscheidung, den PR als selbstständiges Organ aufzulösen und statt dessen jeweils gemeinsame Sitzungen der am Ort der Parteizentrale anwesenden Mitglieder des ZEK und der ZKK entweder als „Politische Konferenz" (Cheng-chih hui-i) oder als „Konferenz über Parteiangelegenheiten" (Tang-wu hui-i) abzuhalten. Die „Politische Konferenz" sollte hinfort von T'an Yen-k'ai, der auch den Vorsitz der Nationalregierung übernommen hatte, die „Konferenz über Parteiangegelegenheiten" von Chang Ching-chiang geleitet werden155. Chiang selbst wurde als 15

® Beschluß des 2. Plenums des II. ZEK der KMT zur Regelung der Parteiangelegenheiten vom 15. 5.1926, in: KMWH, Bd. IX, p. 94 f.; Tagebuch Chiang, Bd. XV, p. 64 f. Vgl. Wilbur/How, p. 228 f. Engl. Text bei: Woo, op. cit., p. 176—178. und: KMWH, Bd. XVI, p. 4—10. 184 Ch'en, op. cit., p. 63 und Tagebuch Chiang, Bd. XV, p. 77. Vgl. Wilbur/How, p. 229. 155 Ch'en, op. cit., p. 65.

156

III. Kapitel:

Durchsetztingskampj

und Aufstieg

Chiang

Kai-sheks

Nachfolger Wang Ching-weis am 19. Mai zum Vorsitzenden des ZEK gewählt156. Die KCT nahm die Beschlüsse des ZEK in einem vom Ch'en Tu-hsiu unterzeichneten „Offenen Brief" an die KMT vom 4. Juni 1926 an157. Inzwischen hatte auch Borodin, der seit seiner Rückkehr nach Kanton ständigen Kontakt zu Chiang hielt, seinen Widerstand gegen den Beginn des „Nordfeldzuges" aufgegeben. Obgleich das ZK der KCT auf seiner 2. Plenarsitzung, die vom 12. bis zum 18. Juli in Shanghai stattfand, die organisatorische Selbständigkeit der chinesischen Kommunisten erneut betonte und den Parteimitgliedern in einer Reihe von Resolutionen Anweisungen für die Infiltrationsarbeit in allen Schichten der Bevölkerung gab, beugten sich so die Kommunisten vorläufig den Forderungen Chiangs158. Dies hinderte sie zwar nicht daran, die Vorbereitungen zur Übernahme der Führung der Revolution aus den Händen der KMT weiter zu betreiben, aber sie bemühten sich in den nächsten Monaten doch darum, wenigstens den Eindruck der Loyalität zu erwecken. Mit der Übernahme der Organisationsabteilung beim ZEK durch Anhänger Chiangs hatte dieser sich die Möglichkeit geschaffen, jetzt im zivilen Parteiapparat eigene Kader heranzubilden. Vorläufig gab es in Kanton niemanden mehr, den er als ernsthaften Rivalen hätte fürchten müssen. Jetzt bereitete er den Beginn des „Nordfeldzuges" vor, durch den er die Macht der KMT unter seiner Führung auf ganz China auszudehnen hoffte. Dabei entstand allerdings für Chiang und die nationalistische Einheitspartei die Gefahr, daß die Kommunisten die organisatorischen Rückschläge, welche sie erlitten hatten, ausglichen, während die Parteiführung sich auf militärische Probleme konzentrierte. Trotz des Nachgebens der Komintern im Mai und Juni wußten Chiang und die Kommunisten seit dem 20. März 1926 zweifellos, was sie voneinander zu halten hatten. Das 1923/24 geschlossene Bündnis, dessen Partner davon ausgingen, den jeweils anderen für ihre eigenen Ziele auszunutzen und dann zu elimieren, mußte über kurz oder lang auseinanderbrechen. Die Frage war nur, wer von beiden Partnern zuerst und mit dem größten Geschick handeln würde. 156 157

158

Tagebuch Chiang, Bd. X V , p. 67. Chinesischer Text in: „Hsiang-tao chou-pao" vom 9. 6. 1926; Auszüge in englisch bei: Isaacs, op. cit., p. 100 f. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 282—317 (vor allem Dokumente 28—35, p. 288—317). Ch'en, op. cit., p. 63—68.

IV. Kapitel Der „Nordfeldzug" und der Kampf der Linken gegen Chiang im Winter 1926/27 Der Vorstoß bis zum Yangtzu Im Frühsommer 1926 beherrschte die Nationalregierung der KMT, nachdem die seit dem 26. J a n u a r 1926 vorbereitete Vereinigung der Provinzen Kuangtung und Kuangsi am 19. M ä r z durchgeführt worden war, eine für die Eroberung weiterer Gebiete ausreichende Basis. Das übrige China aber stand unter der Kontrolle regionaler Militärmachthaber. In Honan, Hupei, dem größten Teil Hunans und einigen Gebieten von Ssuch'uan und Kueichou herrschte Wu P'ei-fu mit einer Armee von über 250.000 Mann. Er w a r von der K M T als erster Gegner ausgewählt worden. Sun Ch'uan-fang beherrschte an der Spitze von etwa 200.000 Soldaten die ostchinesischen Provinzen Fukien, Kiangsi, Chekiang, Anhui und Kiangsu, in Tungpei regierte Chang Tso-lin und in Shantung Chang Tsung-ch'ang, die zusammen mehr als eine halbe Million Mann unter ihrem Kommando hatten und gemeinsam seit einiger Zeit auch die Provinz Hopei, in der Peking liegt, kontrollierten. Im Südwesten Chinas teilten sich mehrere kleinere Potentaten die Macht, und Shansi stand schon seit bald 15 Jahren unter der Herrschaft von Yen Hsi-shan 1 . Er war der K M T freundlich gesonnen, schien aber nicht geneigt, jetzt bereits an ihre Seite zu treten; denn er wollte seine Heimatprovinz nicht gefährden. Dagegen boten sich der Kantoner Regierung Möglichkeiten, in der „Kuominchün" Feng Yühsiangs einen Bundesgenossen zu gewinnen. Dieser hatte seit seinem Putsch in Peking im Oktober 1924 2 Kontakte zur K M T und auch zur U d S S R aufgenommen. Feng kam aus einer Kleinbauernfamilie und hatte sich durch hervorragende militärische Leistungen bis zum Armeegeneral unter Wu P'ei-fu emporgearbeitet 3 . Seine Truppen waren verhältnis1

Vgl. Chiang, op. cit., p. 64 und Tong, op. cit., p. 62. Siehe oben, Seite 1 0 9 !

2 :i

Feng Yü-hsiang, W o - t e sheng-huo (Mein 1 9 4 4 . Vgl. T a n g , Revolution, p. 342 f.

Leben),

3

Bde.,

2.

Aufl.

Ch'ungk'ing

158

IV. Kapitel:

„Nordfeldzug"

und Kampf

der Linken

gegen

Chiang

mäßig gut diszipliniert. Er bemühte sich darum, auch Unterstützung aus der Bevölkerung der von ihm beherrschten Gebiete in Kansu, Shensi und der Inneren Mongolei zu gewinnen; dennoch konnte man ihn kaum als einen Anhänger der K M T bezeichnen. Nach seinem Staatsstreich hatte er Tuan Ch'i-jui als Regierungschef unterstützt 4 und noch am 27. März 1925 wies er seine Gefolgsleute an, der Regierung Tuans in Peking vollen Gehorsam zu leisten 5 . Dennoch versuchte die K M T , Feng mit sowjetischer Hilfe für sich zu gewinnen. Bereits am 21. und 22. April 1925 führten Borodin, der sowjetische Militärattache in Peking, Gecker, und ein Mitglied des Z E K der K M T — wahrscheinlich Pai Wen-wei* — ausführliche Gespräche mit Feng, in denen vereinbart wurde, daß dieser der K M T die Agitation in den von ihm beherrschten Gebieten gestatten und dafür aus der UdSSR Waffen und militärtechnische Berater erhalten sollte 6 . Dennoch legte sich Feng nicht eindeutig fest. Einer Aufforderung Borodins, der K M T beizutreten, versagte er die Zustimmung 7 . Von Dezember 1925 an schaltete sich die UdSSR jedoch stärker als zuvor in die Ausbildung der Verbände Fengs ein. Unter dem Einfluß einer über 30 Offiziere umfassenden sowjetischen Beratergruppe entstand bei der Kuominchün eine Reihe von Militärschulen 8 , und ein enger Mitarbeiter Fengs, der im Sommer 1925 eine Studienreise in die UdSSR angetreten hatte, erstattete nach seiner Rückkehr im November einen ausgesprochen positiven Bericht 9 . Inzwischen hatte die mit Fengs Armee verbundene „2. Kuominchün" unter General Yüeh Wei-chün seit August 1925 unter ihren Offizieren auch eine Reihe von Huangpu-Kadetten 10 , und Massendemonstrationen von Arbeitern und Studenten in Peking gegen die dortige Regierung am 28. November 1925 scheinen ihren Eindruck auf Feng nicht verfehlt zu haben 11 , obgleich dieser noch einmal die Regierung Tuans unterstützt hatte. Im Januar 1926 aber verbündeten sich Chang Tso-lin, Chang Tsung-ch'ang und Wu P'ei-fu gegen die Kuominchün, die in Hopei und Honan geschlagen wurde 12 . Die Regierung Tuan Ch'i-juis brach zu4

Vgl. Wilbur/How, p. 319—321.

5

Tagebuch Feng, Bd. II, p. 37.

6

Wilbur/How, p. 322 und Dokument 36, p. 336 f.

7

So: Li T'ai-fen, Kuominchün shih-kao (Kurze Geschichte der Kuo-minchün), o. O. 1930, p. 301 ff.

8 9 10

Wilbur/How, Dokument 38, p. 344—354, und 39, p. 355. ibid., p. 351 und Tagebudi Fang, Bd. II, p. 126. Tagebuch Chiang, Bd. X I , p. 52.

11

ibid., Bd. X I I I , p. 74. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 326 f.

12

ibid., p. 328 f. und: Tagebuch Chiang, Bd. X X , p. 108 und 112.

Der Vorstoß

bis zum

Yangtzu

159

sammen. Im Juni 1926 trat das letzte zivile Kabinett in Peking zurück und seither fungierte dort Chang Tso-lin unverhüllt als Militärdiktator. Feng hatte sich inzwischen am 20. März 1926 auf eine Reise in die Äußere Mongolei und die UdSSR begeben. Am 9. Mai kam er in Moskau an, wo er sich unter dem Eindruck seiner Gespräche mit der sowjetischen Führung endlich entschloß, der KMT beizutreten 13 . Der „Nordfeldzug" war schon im Gange, als am 22. August die Kuominchün-Generale Li Ming-chung und Liu Chi in Kanton eintrafen, um dort Einzelheiten der Zusammenarbeit Fengs mit der Nationalregierung zu besprechen14. Dieser wurde zum Parteivertreter der KMT in Nordwestchina ernannt und als Mitglied in den Nationalregierungsrat und den Militärrat aufgenommen. Die Operationen der NRA und der Kuominchün sollten hinfort koordiniert werden15. So konnten die Verbände der KMT auf die Unterstützung einer Streitmacht von fast 200.000 Soldaten in Nordchina rechnen, falls es ihnen gelingen würde, die regionalen Militärmachthaber im Süden und im Zentrum des Landes zu überwinden. Doch dies allein schien schon schwierig genug. Im Juni 1926 standen Chiang Kai-shek insgesamt 115.000 Mann zur Verfügung, unter ihnen etwa 40.000, die von Absolventen der Huangpu-Militärakademie befehligt wurden 16 . Zwar stellte der Aufbau einer solchen Streitmacht eine erhebliche Leistung dar, angesichts der Tatsache, daß die Parteiarmee noch zwei Jahre früher gerade 1.000 Mann umfaßt hatte. Aber für den Angriff nach Norden konnten dennoch nur etwa 90.000 Soldaten eingesetzt werden, und diese mußten mit einem Gegner rechnen, der über mehr als eine halbe Million Mann verfügte. Nur eiserne Disziplin in den eigenen Reihen und massive psychologische Kampfführung konnten hier Erfolge bringen. Auch schon die kleinste Befehlsverweigerung in der NRA wurde mit dem Tode bestraft, und weit vor den kämpfenden Truppen arbeiteten starke Einsatzgruppen von Agitatoren, um den Gegner propagandistisch „sturmreif" zu machen. Bei der Vorbereitung des „Nordfeldzuges" der NRA (Kuo-min kerning chün pei-fa) spielte der unter dem Oberbefehl von Wu P'ei-fu stehende Hunan-General T'ang Sheng-chih* eine ausschlaggebende Rolle. Er 13

14 15 w

Tagebuch Fing, Bd. II, p. 24 f.; und: Feng, op. dt., Bd. III, p. 82. Vgl. hierzu: Ch'ang-jen, „Fing Yü-hsiangs Wandlungen", in: Hsien-tai shih-liao, Bd. III, p. 56 und 78 und Wilbur/How, p. 333 und 521. Li, op. dt., p. 305 und: Tagebuch Chiang, Bd. X X , p. 78. ibid., Bd. XVI, p. 121. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 334. Zahlen nach: Liu, op. dt., p. 25 und Tong, op. dt., p. 63. Tong nennt die Zahl von 100.000, übersieht dabei aber, daß auch in Kuangsi Garnisontruppen bleiben mußten. ibid., p. 63 und Liu, op. cit., p. 13.

160

IV.

Kapitel:

„Nordfeldzug"

und Kampf

der Linken

gegen

Chiang

hatte bereits im September 1925 mit Hilfe der Kuangsi-Generale Li Tsung-jen und Huang Shao-hsiung Kontakte zur K M T aufgenommen17 und sich im Januar 1926 mit Wang Ching-wei getroffen, um mit diesem seinen Eintritt in die Partei zu besprechen18. Anfang März wurde T'angs Verbindung mit der Nationalregierung jedoch von Wu entdeckt, der seinen Gouverneur in Hunan, Chao Heng-t'i, beauftragte, T'ang zu entlassen und damit unschädlich zu machen1®. Dies veranlaßte den HunanGeneral zum Aufstand. Er besetzte am 16. März die Provinzhauptstadt Ch'angsha und bereitete offen seinen Anschluß an die K M T vor. Im Mai wurde er jedoch von den Truppen Wu P'ei-fus wieder aus Ch'angsha vertrieben und geriet im äußersten Süden Hunans in schwere Bedrängnis. Als sich die K M T am 2. Juni 1926 entschloß, T'angs Truppen als „8. Armeekorps" der N R Α einzugliedern, entschied sie damit gleichzeitig über den Beginn des „Nordfeldzuges" 20 . Am 4. und 5. Juni trat in Kanton ein „Sonderplenum" des ZEK zusammen, auf dem die endgültigen Beschlüsse über den Beginn des revolutionären Krieges gegen die nördlichen Militärmachthaber gefällt wurden. Auf Vorschlag Chiangs entschied man, zunächst Wu P'ei-fu anzugreifen und zu versuchen, Sun Ch'uan-fang vorläufig ungeschoren zu lassen21. Chiang wurde zum Oberbefehlshaber (Tsung-ssu-ling) der N R A ernannt und der Militärrat so reorganisiert, daß er hinfort kaum noch Bedeutung für die Leitung der KMT-Streitkräfte hatte 22 . Am 28. Juni nun befahl Chiang den von Chang Fa-k'uei* geführten Divisionen des 4. Armeekorps, T'ang zu Hilfe zu eilen, am 4. Juli erklärte die K M T den „Nordfeldzug" feierlich für eröffnet 23 , am 6. Juli übernahm Chiang als Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des ZEK formell die Parteiführung 24 und am 9. Juli endlich wurden die 17

T'ang, Revolution, p. 2 2 7 f.

18

ibid., p. 2 4 1 .

19

ibid., p. 2 4 8 f.

20

Vgl. hierzu u . a . : Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 5 1 5 f.; Yin Shih, Li-Chiang kuan-hsi yü Chung-kuo (Die Beziehungen zwischen Li und Chiang und

China),

Hongkong 1954, p. 1 2 — 1 9 ; und: Li Tsung-jen, Li tsung-ssu-ling yen-lun-chih (Reden und Aufsätze Li Tsung-jens), Kueilin 1934, p. 2 0 . 21

Besdilußprotokoll des „Sonderplenums"

des Z E K der K M T v o m 4 . / 5 . Juni 1926

( K M T - A r d i i v ) . Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 2 3 0 und: Tong, op. cit., p. 6 2 . 22

Tagebuch Chiang, Bd. X V , p. 78. Vgl. hierzu: T'ang, Foundations, p. 174 und Liu, op. cit., p. 30.

23

Erklärung des 2 E K

über den Beginn des Nordfeldzuges

Archiv). 24

Tagebuch Chiang, Bd. X V , p. 7 9 und 91.

vom 4. 7. 1926 ( K M T -

Der Vorstoß bis zum Yangtzu

161

Truppen, die jetzt den Nordfeldzug begannen, in Kanton vereidigt. Chiang reiste an die Front und übernahm den Befehl über die Kampfverbände 25 . Gleichzeitig trat er jetzt auch, zusammen mit fünf anderen Generalen, in die Nationalregierung ein. Bereits am 11. Juli rückten die Verbände der N R A in die Hauptstadt von Hunan, Ch'angsha, ein. Dort wurde eine Provinzregierung für Hunan gebildet, an deren Spitze T'ang Sheng-chih trat 26 . Die Vorhut der N R A wurde von den Feldtruppen des 4. und 7. Armeekorps unter Ch'en Ming-shu*, Chang Fa-k'uei und Pai Ch'ung-hsi übernommen. Außer ihnen drang auch T'angs 8. Armeekorps in Hunan vor, während das 2., 3. und 6. Armeekorps vorläufig die Flanke gegen Sun Ch'uan-fang in Kiangsi absicherten und Chiang sein eigenes 1. Armeekorps zunächst in Reserve hielt 27 . Die in Hunan kämpfenden Verbände der Militärmachthaber waren Elitetruppen und außerdem den Einheiten der N R A an Zahl mindestens doppelt überlegen. Diese wurde aber äußerst wirksam von der Bevölkerung unterstützt, die — meist aus Kommunisten bestehende — Agitationstrupps seit langem auf den Nordfeldzug vorbereitet hatten. So gelangten die Truppenbewegungen des Gegners jeweils schnell zur Kenntnis der KMT-Befehlshaber, und nicht selten störten primitiv bewaffnete Bauerntrupps die Nachschublinien der Soldaten Wus. Am 27. und 28. August wurde die Armee Wus nach äußerst blutigen Kämpfen in der Schlacht von Tingssuch'iao in Hupei vernichtend geschlagen. Hier brachte erst das Eingreifen von Teilen des 1. Armeekorps unter dem persönlichen Befehl Chiangs die Entscheidung zugunsten der N R A , obgleich auch die Verbände des 4. und 7. Armeekorps erheblichen Anteil am Siege hatten 28 . Mit diesem Sieg war der Widerstand Wus in Süd-Hupei gebrochen. Die Reste seiner Verbände zogen sich auf die Dreierstadt Wuhan (Wuch'ang-Hank'ou-Hanyang) am Yangtzu zurück. Bereits am 25

Reden Chiangs und Wu Chih-huis anläßlich der Eideszeremonie zum Nordfeldzug, in: K M W H , Bd. X I I , p. 5 5 — 5 8 bzw. 54 f. Vgl.: Ch'en Hsün-cheng, Vereidigung der Armee, ibid., p. 1 — 3 7 . Zum Nordfeldzug audi: Sdiwartz, op. cit., p. 5 6 — 5 8 und 62 f.

29

Ch'en Hsün-ciieng, „Die Eroberung von Ch'angsha", in: K M W H , Bd. X I I , p. 75 bis 85 und Angaben Pai Ch'ung-hsis im Interview mit dem Verfasser in T'aipei am 11. 9. 1964 und Chang Fa-k'ueis im Interview mit dem Verfasser am 20. 8 . 1 9 6 4 in Hongkong. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 367 und T'ang, Revolution, p. 255. Wilbur/ H o w nennen den 11. Juli, T'ang den 17. Juli, den Tag der feierlichen Hissung der Nationalflagge, als Tag der Eroberung Ch'angshas.

27

Chiang, op. cit., p. 65 und Tong, op. cit., p. 65.

28

Telegramm Chiangs an die Nationalregierung vom 28. 8 . 1 9 2 6 (KMT-Archiv). Vgl. dazu: Tong, op. cit., p. 67.

11

Domes

162

IV. Kapitel:

„Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen

Chiang

6. September fiel Hanyang in die Hand der N R A , und einen Tag später eroberte sie auch Hank'ou. In Wuch'ang setzte sich der Gegner jedoch noch fest, und es gelang ihm zunächst, die Angriffe der Nationalisten abzuschlagen29. Die N R A Schloß darauf die Stadt ein, wobei zum erstenmal in der chinesischen Kriegsgeschichte Flugzeuge — damals noch mit sowjetischen Piloten bemannt — eingesetzt wurden 30 , und nach einer Belagerung von über vier Wochen Dauer kapitulierte Wuch'ang am 10. Oktober 1926, genau 15 Jahre, nachdem in derselben Stadt der Aufstand gegen die Mandschu-Dynastie ausgebrochen war 31 . Inzwischen hatten auch die Kampfhandlungen gegen die Armeen Sun Ch'uan-fangs begonnen. Chiang nahm zunächst an, daß es möglich sein würde, diesen kampflos für die Sache der K M T zu gewinnen. Er hatte bereits am 3. Februar 1926 einen Vertreter Suns in Kanton empfangen und mit diesem Verhandlungen über die Möglichkeit einer Zusammenarbeit geführt. Ein zweites Gespräch dieser Art fand am 12. August statt 32 , und zu jener Zeit hoffte der Oberbefehlshaber der N R A immer noch auf eine Übereinkunft mit Sun. Dieser hatte jedoch Anfang August die Parteiorganisationen der K M T in seinem Machtbereich aufgelöst und eine Anzahl von Parteimitgliedern verhaften lassen. Am 18. August ordnete er die Verteidigung Kiangsis gegen „jeden Angreifer" an und nachdem Chiang noch einmal vergeblich versucht hatte, mit ihm zu einer friedlichen Einigung zu kommen 33 , begann jetzt am 17. September der Angriff der N R A , und zwar vor allem des 3. und des 6. Armeekorps unter Chu P'ei-te und Ch'eng Ch'ien, auf die Armeen Suns 34 . Bereits am 19. September erhoben sich in der Hauptstadt Kiangsis, Nanch'ang, Studenten und Arbeiter, vertrieben die Soldaten Suns und übergaben die Stadt den Truppen der N R A . Doch jetzt führte der Militärmachthaber Ostchinas seine Eliteeinheiten heran und eroberte Nanch'ang zwei Tage später zurück. Die Truppen der N R A hatten einen schweren Stand in Kiangsi, bis sich Chiang entschloß, zwei Divisionen seines eigenen 1., und je eine des 2. und 7. Armeekorps zur Verstärkung heranzuführen und mit allen dort 29

Ch'en Hsün-cheng, „Die Kampagne von Wuhan und Ch'angsha", in: K M W H , Bd. X I I , p. 89—155 und: Telegramm Teng Yen-tas an die Nationalregierung vom 1 0 . 1 0 . 1 9 2 6 , ibid., Bd. X I I I , p. 241. Vgl. hierzu: Tong, op. cit., p. 69 f.

30

Telegramm Chiangs an die Nationalregierung vom 7. 9. 1926 (KMT-Archiv). Tagebuch Chiang, Bd. X V I I , p. 16 und 20, Bd. X V I I I , p. 37. ibid., Bd. X I V , p. 58 und Bd. X V I , p. 76 ff. Vgl.: Wilbur/How, p. 368. Telegramm Chiangs an Sun Ch'uan-sang vom 1 3 . 9 . 1926, in: KMWH, Bd. X I I I , p. 261 f.

31 32 33

34

Tagebuch Chiang, Bd. X V I , p. 106 und 124 f.

Der Vorstoß bis zum Yangtzu

163

stationierten Kräften am 16. Oktober selbst den Generalangriff gegen Sun zu beginnen35. Jetzt wichen die Truppen Suns vor dem Anprall der N R A zurück. Nachdem noch einmal letzte Verhandlungen fehlgeschlagen waren 36 , eroberte Chiang am 8. November Nanch'ang. Schnell fiel auch Nord-Kiangsi in die Hände der NRA 3 7 . Sun floh nach Nanking. Bereits am 9. Oktober waren Teile des 1. Armeekorps unter Ho Yingch'in in Fukien eingebrochen und trieben dort die Truppen der Militärmachthaber vor sich her. Mitte Dezember war die ganze Provinz von ihnen besetzt38. In der Zwischenzeit hatten die Kuangsi-Truppen des 7. Armeekorps, die jetzt von Wuhan entlang des Yangtzu nach Osten vorstießen, am 5. November die Hafenstadt Chiukiang besetzt. So war es der N R A gelungen, im Laufe von fünf Monaten die Provinzen Hunan, Hupei, Kiangsi und Fukien, also ein Gebiet mit mehr als 100 Millionen Einwohner, unter die Kontrolle der KMT zu bringen. Die regionalen Militärmachthaber des Nordens hatten schwere Niederlagen erlitten und bemühten sich jetzt darum, ihre Differenzen untereinander zu bereinigen, um gemeinsam gegen die Revolutionsarmee auftreten zu können. Wu P'ei-fus Verbände waren bereits in alle Winde zerstreut. Auch die Truppen Suns erlitten in Kiangsi so schwere Verluste, daß sie dringend einer Reorganisation bedurften. Nur die nordchinesischen Armeen waren noch voll intakt. Auf einer Konferenz in T'ienchin vom 20. bis zum 24. November 1926 einigten sich Chang Tso-lin, Sun Ch'uan-fang und Chang Tsung-di'ang, ihre Streitkräfte in der „Armee der Nationalen Befriedung" (Ankuochün) zusammenzufassen. Chang Tso-lin übernahm den Oberbefehl, die beiden anderen Militärmachthaber fungierten als seine Stellvertreter 39 . Zwar war die N R A durch das Uberlaufen einer Anzahl von Unterbefehlshabern Wus — der sich jetzt zurückzog — und Suns inzwischen auf eine Stärke von über 350.000 Mann angewachsen, aber der Zuwachs konnte nicht als allzu verläßlich gelten. Den Kern der Streitkräfte stellten immer noch die knapp 100.000 Soldaten des 1. bis 8. Armeekorps dar. Ihnen standen, nachdem Chang Tsolin in den Bürgerkrieg aktiv eingegriffen hatte, fast eine Million gegnerischer Truppen gegenüber. Nur die Fortsetzung der massiven Propaganda, die sich bisher als so wirksam erwiesen hatte, konnte weitere Erfolge 35

ibid., Bd. X V I I I , p. 51. Vgl. hierzu: K M W H , Bd. X I I I , p. 345 f.

36

Telegramm Chiangs an Sun Ch'uan-fang vom 2 7 . 1 0 . 1 9 2 6 , ibid., p. 392.

37

Tong, op. cit., p. 72.

38

Angaben H o Ying-ch'ins im Interview mit dem Verfasser am 11. 9 . 1 9 6 4 in T'aipei. Vgl. ibid., p. 72.

39

11*

Tagebuch Chiang, Bd. X I V , p. 75 und 92 f. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 373.

164

IV. Kapitel: »Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen

Chiang

bringen. Doch bereits im Oktober begannen im Lager der Revolutionäre schwere Auseinandersetzungen zwischen Chiang und seinen Anhängern einerseits und dem linken Flügel der K M T und den Kommunisten andererseits. Sie entzündeten sich zunächst an Fragen der militärischen Strategie, griffen aber bald auch in den Bereich politischer Entscheidungen über.

Chiang Kai-shek und die Kommunisten, Mai bis November

1926

Die Aktion vom 20. März 1926 und in ihrer Folge die Entschließungen des 2. Plenums des I I . Z E K der K M T gaben Chiang endlich die schon seit dem Herbst 1925 angestrebte Möglichkeit, audi auf den zivilen Parteiapparat maßgeblichen Einfluß zu nehmen. Chang Ching-chiang wurde bald nach dem Märzputsch zum Hauptexekutoren dieser Politik. Er war es, der Ch'en Kuo-fu zum Stellvertreter des Militärbefehlshabers in der Leitung der Organisationsabteilung beim Z E K vorschlug. Neben ihm traten jetzt als Anhänger Chiangs im zivilen Parteiapparat vor allem der neue Erste Sekretär des Z E K , Yeh Ch'u-cheng, und der neue Leiter der Jugendabteilung, Shao Yüan-ch'ung, in den Vordergrund. Alle drei kamen Anfang Mai von Shanghai nach Kanton 4 0 , und schon damals offenbarte Chang im Gespräch mit Ch'en seine Gegnerschaft gegen die Politik des „Blocks von innen": „Wir waren blind gegenüber der wahren Natur der Kommunisten . . . wenn sie weiter in der K M T bleiben, dann ist die Partei dem Ruin ausgeliefert."

Chang und Ch'en begannen sofort mit der organisatorischen Gegenarbeit. Hier lag die Verantwortung vor allem bei Ch'en. Dieser hatte bis April 1926 in Shanghai als Anwerber für die Huangpu-Militärakademie gewirkt und war nicht als Gegner der K C T bekannt; so galt er, nach eigener Aussage, den Kommunisten als unverdächtig und gerade deshalb als besonders geeignet für die Position des Leiters der Aktionen Chiangs zur Durchsetzung des Parteiapparats mit seinen Anhängern. Am 1. Juni nahm er seine Arbeit in der Organisationsabteilung beim Z E K auf. Zunächst sorgte er dafür, daß Wang Le-p'ing* und Tuan Hsi-p'eng 41 , zwei fähige Nichtkommunisten, leitende Stellungen in der Organisationsabteilung erhielten, und zugleich veranlaßte er eine Untersuchung der Situa40 41

Ch'en Kuo-fu, op. cit., p. 62. Zu Tuan Hsi-p'eng: siehe oben, Seite 39, Anm. 92!

Chiang Kai-shek und die Kommunisten,

Mai bis November

1926

165

tion in den unteren Parteikadern. Sie führte zu dem Ergebnis, daß weit über die Hälfte der Mitglieder in den Exekutivkomitees der Provinzen und Großstädte der K C T angehörten 42 . Hier zeigten sich die Wirkungen der Politik T'an P'ing-shans, der sich, als er vom Januar 1924 bis zum Mai 1926 mit der Leitung der Organisationsabteilung betraut war, vor allem auf die Durchdringung der mittleren Organisationsebene mit Kommunisten konzentrierte. Als Chiang am 5. Juni im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für den Nordfeldzug zum Chef der Militärabteilung beim Z E K ernannt wurde, übernahm Ch'en auch offiziell die Leitung der Organisationsabteilung. Neben ihm traten jetzt als bedeutsamste Anhänger Chiangs im Parteiapparat Tseng Yang-fu* und Ting Wei-fen in den Vordergrund. Sie suchten in den nächsten Monaten die Mitglieder der Exekutivkomitees der Provinzen und Großstädte aus. Außerdem wurde ein neues Prüfungssystem für Kader benutzt, um bis zum Herbst über ein Drittel der im Parteiapparat tätigen Kommunisten auszuscheiden. In einzelnen Fällen versuchte die K C T , gegen die Ernennung von Anhängern Chiangs oder Absetzung ihrer eigenen Mitglieder Widerstand zu leisten, und zuweilen gelang dies auch43. Meist aber blieb die Chiang-Gruppe in der Organisationsabteilung erfolgreich, und so ging der kommunistische Einfluß in den Provinzverh'inden der K M T merklich zurück. Die Bemühungen Chiangs und seiner Mitarbeiter um die Durchsetzung des zivilen Parteiapparates vollzogen sich in zwei Richtungen: Einmal galt es, durch die Organisationsabteilung die Provinz- und Großstadt-Komitees der Partei in die Hand zu bekommen, und zum zweiten aber, wenigstens Teile der Gewerkschaftsbewegung auf seine Seite zu bringen. Dabei spielte die „Medianikerunion" eine ausschlaggebende Rolle. Mit ihrer Hilfe wurde in Kanton im Juli ein „Zentraler Gewerkschaftsverband" (Chung-yang lao-kung lien-he-hui) gegründet, der sich von kommunistischen Einflüssen weitgehend freihalten konnte 44 . Außerdem hatte die 42 43 44

Ch'en Kuo-fu, op. cit., p. 63. Ch'en Kuo-fu, op. cit., p. 67, berichtet von zwei solchen Fällen in Kanton. Ma, op. cit., Bd. II, p. 546 ff. Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 105. Isaacs meint, die K M T habe im „Zentralen Gewerkschaftsverband" die „Gangster" von Kanton organisiert. Hier stoßen wir auf ein Phänomen, das dem Beobachter der Ereignisse des Jahres 1927 immer wieder in der Literatur begegnet: Propagandabeflissene KMTAutoren und ihre ausländischen Gesinnungsgenossen behaupten, die Kommunisten hätten in den von ihnen geführten Massenorganisationen vor allem „Banditen, Verbrecher" und „den Abschaum der Städte und Dörfer" vereinigt; die ebenso in propagandistischen Vorurteilen festgefahrenen Gegner der KMT, unter ihnen ζ. B. Isaacs, erheben diesen Vorwurf in der umgekehrten Richtung. Auf den wohl nicht

166

IV. Kapitel:

„Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen Chiang

Entwaffnung der Arbeitermilizen am 20. März die Machtmittel der kommunistisch geführten Gewerkschaften in Kanton erheblich eingeschränkt, und weitere Restriktionen wurden möglich, als der Beginn des Nordfeldzuges Chiang einen Vorwand zur Verhängung des Kriegsrechts in der Stadt gab, die am 29. Juli erfolgte 45 . So erließ die Nationalregierung am 6. August Bestimmungen über die Einführung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit bei Arbeitskonflikten, die auch ein Verbot des Waffenbesitzes und der Massendemonstrationen durch die Gewerkschaften umfaßten 46 . Die Beschränkung des Einflusses der kommunistisch geleiteten Gewerkschaften in Kanton erleichterte die seit dem 9. April laufenden Gespräche der Nationalregierung mit den britischen Kolonialbehörden über die Beendigung des Hongkonger Hafenarbeiterstreiks. Diese Gespräche waren zunächst von dem britischen Emissär Kemp mit dem Kantoner Außenminister, Dr. Wu Ch'ao-shu, geführt worden, aber ohne Ergebnis geblieben47. Erst im Juli kamen ernsthafte Verhandlungen zustande48. Sie führten schließlich dazu, daß Kanton den Streik am 10. Oktober für beendet erklärte, ohne aktuelle Konzessionen der Briten zu erlangen. So schien es zunächst, als habe dieser bisher längste Streik der Geschichte mit einem Fehlschlag geendet. Es erwies sich aber als bedeutsam, daß Großbritannien durch ihn gezwungen wurde, die Kantoner Nationalregierung als Verhandlungspartner anzuerkennen. Damit begann eine Änderung der Haltung der Mächte gegenüber der KMT, die nach manchen chinesischen Verhandlungsniederlagen schließlich im Jahre 1943 zur Abschaffung aller ungleichen Verträge führen sollte. So wurden schon im Sommer und Herbst 1926 zwei Charakteristika der späteren KMTPolitik erkennbar: 1. Die chinesischen Nationalisten bemühten sich darum, eine Verständigung mit den Westmächten einzuleiten und die zwischen diesen und China ganz fernliegenden Gedanken, daß vor allem die städtischen Arbeiter, aber auch politisch aktivierte Bauern, in zwei große Gruppen etwa gleicher sozialer Zusammensetzung hätten gespalten sein können, kommt keiner von beiden. Gerade dies dürfte aber der tatsächlichen Situation in China 1927 nodi am nächsten kommen. 45

46

47 48

Erklärung des Kriegsrechts in Kanton durdi die Nationalregierung-Proklamation vom 2 9 . 7 . 1 9 2 6 (KMT-Archiv). Auch in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao" Nr. 42 vom August 1926. Bestimmungen über die Schiedsgerichtsbarkeit, vom 6. 8.1926, in: KMWH, Bd. X X , p. 1653 f. Isaacs, ibid., datiert den Erlaß dieser Bestimmungen fälschlich auf den 9. August. „China Weekly Review" vom 24.4. 1926. Vgl. Isaacs, op. cit., p. 107. Vgl. hierzu: „The China Year Book, 1926, p. 989 ff.

Chiang Kai-shek und die Kommunisten,

Mai bis November

1926

167

bestehenden Streitfragen durch Verhandlungen zu regeln. Die nationale Revolution in China brauchte Partner. Schon zu Lebzeiten Sun Yat-sens gab es hier Alternativen, entweder: man einigte sich mit den Westmächten, oder: man arbeitete mit der UdSSR zusammen, dies aber bedeutete gleichzeitig ein innenpolitisches Bündnis mit der KCT. Die intransigente Haltung der Mächte hatte Sun in das Bündnis mit dem Kommunismus getrieben. Chiang begann jetzt, zunächst noch vorsichtig, sich von diesem Bündnis zu emanzipieren. Dafür aber war es nötig, die Westmächte davon zu überzeugen, daß es audi für sie sinnvoll sei, ihn zu unterstützen. Vor allem mußten weitere Konflikte mit den Mächten vermieden werden. So setzte sich Chiang schon Anfang September für den Schutz der Ausländer ein, die in den von der NRA eroberten Gebieten lebten49. 2. Die KMT war unter Chiangs Führung durchaus an innenpolitischen Reformen interessiert und bemühte sich, sie schon während des Nordfeldzuges in die Wege zu leiten. So forderte Chiang die Einführung einer einheitlichen Währung in allen von der N R A besetzten Gebieten, eine Maßnahme, die für den Wiederaufbau der vom Bürgerkrieg arg in Mitleidenschaft gezogenen Wirtschaft unerläßlich war 50 . Am 2. September veröffentlichte die Nationalregierung Richtlinien über die Organisation der Lokalverwaltungen in den eroberten Gebieten, denen zufolge vom Chef der „Politischen Abteilung an der Front" mit Genehmigung der „Politischen Abteilung des Hauptquartiers der N R A " Landräte und Bürgermeister ernannt werden sollten, denen jeweils Parteikommissare beigeordnet wurden 51 . In der Provinz Kuangtung erließ man am 23. Juli eine Verordnung über die Registrierung des Landbesitzes, die als Auftakt zur Bodenreform gedacht war und im September begann52. Aufgrund der Ergebnisse dieser Registrierung sollten dann die Bodensteuern im Sinne der Ideen Sun Yat-sens geordnet und so eine Neuverteilung des Ackerlandes eingeleitet werden. Am 7. September schließlich versprach die Nationalregierung der Bevölkerung von neuem die Einberufung eines 49

Telegramm Chiangs an Außenminister Dr. Ch'en Yu-jen vom 3 . 9 . 1 9 2 6 , KMWH, Bd. XIII, p. 227. Telegramm Chiangs an T'ang Sheng-chih vom 1 7 . 1 0 . 1 9 2 6 , ibid., p. 244.

50

ζ. B. Telegramme Chiangs an die Nationalregierung vom 14. 8. und 12. 9.1926, ibid., p. 169 bzw. 234.

51

Richtlinien der Nationalregierung über den Aufbau der Lokalverwaltung in den besetzten Gebieten, ohne Datum, ibid., p. 186 f.

52

Verordnung der Nationalregierung über die Landregistrierung in der Provinz Kuangtung vom 23. 7. 1926, in: KMWH, Bd. X X , p. 1646—1653.

in:

168

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen

Chiang

Nationalkonvents unmittelbar nach der Eroberung des ganzen Landes durch die NRA 5 3 . Während sich Chiang und seine Mitarbeiter also durchaus reformfreudig zeigten, setzten sie gleichzeitig alles daran, die Ausbreitung der Massenorganisationen zu beschränken und deren Tätigkeit von der Zentrale her zu kontrollieren. Dies gelang allerdings nur teilweise, denn während Chiang mit dem Nordfeldzug beschäftigt war und seine zivilen Anhänger die Emanzipation von der UdSSR und die Übernahme der Kontrolle über die zentrale Organisation und die Provinzverbände der Partei vorbereiteten, bemühte sich die K C T vom Frühsommer 1926 an immer mehr um den Aufbau der Massenverbände. Die Kommunisten hatten ihren Einfluß in der Organisationsabteilung beim Z E K eingebüßt, in den Provinzkomitees der K M T wurde er eingeschränkt. Dies führte zu einer bedeutsamen Änderung der kommunistischen Infiltrationstaktik. Von jetzt an stand die Arbeit in den Gewerkschaften und vor allem den Bauernverbänden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die neue taktische Linie wurde auf dem 2. Erweiterten Plenum des ZK, das in Shanghai vom 12. bis zum 18. Juli 1926 stattfand, klar erkennbar 54 . Bis zu diesem Zeitpunkt gehörten bereits 1,2 Millionen Arbeiter den von der K C T unmittelbar geleiteten Gewerkschaften und 800.000 Landleute ihren Bauerverbänden 55 an. Von nun an lag das Schwergewicht der organisatorischen Arbeit der Kommunisten bei der Infiltration örtlicher Parteizellen der K M T , dem Ausbau der Gewerkschaften in Shanghai und Wuhan und vor allem bei dem Aufbau der Bauernverbände. Hier hatten sich, wie es in einer der Resolutionen des 2. Erweiterten Plenums heißt, „linksabweichlerische Tendenzen" bemerkbar gemacht 56 und man empfahl deshalb, hinfort die Parteikontrolle über die Bauernverbände zu intensivieren und eine „landwirtschaftliche Einheitsfront" von Eigentumsbauern, Pächtern, Landarbeitern und auch kleineren Grundbesitzern gegen den Großgrundbesitz zu schaffen. Wo es noch keine Bauernverbände gab, sollte die K C T diese hinfort als eigene Organisationen aufbauen, also nicht mehr im Auftrag der K M T handeln. Ein 53

54 55

56

Aufruf der Nationalregierung an das chinesische Volk vom 7 . 9 . 1 9 2 6 , in: „Kuomin cheng-fu kung-pao", N r . 44 vom September 1926 und in: K M W H , Bd. X I I I , p. 228—231. Siehe oben, Seite 156! Chung-kuo K C T tui-yü shih-diü-te diu-chang (Manifest der K C T zur gegenwärtigen Lage), o. O., 12. 7 . 1 9 2 6 , p. 24. Wilbur/How, Dokument 26, p. 277.

Chiang Kai-shek und die Kommunisten,

Mai bis November

1926

169

schwieriges Problem stellte sich den Kommunisten in den Dörfern durch die Existenz der traditionellen Bauernmilizen (Min-t'uan). Sie bestanden nahezu ausschließlich aus Kleinbauern und Pächtern und wurden meist von lokalen Grundbesitzern aus der Honoratiorenschicht geführt, zu denen sie nicht selten ein gutes persönliches Verhältnis unterhielten. Die K C T entschloß sich jetzt, im „aufgeklärten Kleinbürgertum" nach neuen Führern für die „Min-t'uan" Ausschau zu halten 57 . Zum Zentrum der KCT-Arbeit auf dem Lande hatte sich das „Bauerninstitut der K M T " in Kanton entwickelt, das seit seiner Gründung 1924 von Mao Tse-tung geleitet wurde. Hier wurden von 1924 bis 1926 sechs Seminare für Kader neu zu gründender Bauernverbände abgehalten. Das sechste Seminar dauerte von Mai bis Oktober 1926 und umfaßte 327 Studenten aus 18 Provinzen Chinas, von Yünnan im Süden bis Jehol im Norden. Unter den Dozenten befanden sich außer Mao u. a. Chou En-lai, Li Li-san, P'eng P'ai und Hsiao Ch'u 58 . Die Absolventen des Bauerninstituts gingen sofort ans Werk, und mit dem Marsch der N R A nach Norden wuchs die Bauernbewegung buchstäblich von Tag zu Tag. Bereits im November 1926 bestanden in 45 der 75 Landkreise Hunans Bauernverbände mit insgesamt mehr als einer Million Mitgliedern, im Januar 1927 waren es zwei Millionen 59 . Obgleich sich der Nordfeldzug für die K C T bei der Ausbreitung ihrer Massenorganisationen als außerordentlich hilfreich erwies, hatte sie sich nur schwer dazu entschließen können, ihn zu unterstützen, und stand ihm weiterhin skeptisch gegenüber. Vor dem Beginn des Feldzuges zog sie das Verbleiben in der Provinz Kuangtung vor, um dort zunächst ihre Machtstellung auszubauen und gegebenenfalls die Führung in der K M T zu übernehmen. Hinzu kam die Einsicht, daß mit dem Nordfeldzug zwangsläufig eine weitere Zunahme des militärischen Einflusses in der nationalistischen Einheitspartei verbunden war. So hatte Chang Kuo-t'ao am 30. Juni darauf hingewiesen, daß Kuangtung noch nicht vollständig von „Banditen und korrupten Bürokraten" 57

ibid., Dokument 29, p. 298 ff.

58

„Bericht über das sechste Bauernseminar in Kanton", in: „Chung-kuo nung-min" (Chinas Bauern), N r . 9 vom November

1926; auch in: KCT-Dokumente, Bd. I,

p. 1 3 3 — 1 3 6 . In diesem äußerst aufschlußreichen Dokument finden sich Stundentafeln des Instituts, Angaben über die regionale Herkunft der Absolventen und eine Reihe anderer interessanter Einzelheiten, die einer besonderen Analyse wert wären. 59

Zahlen nach: Isaacs, op. cit., p. 113. Dort wird „Hsiang-tao chou-pao", allerdings ohne Datenangabe, zitiert.

170

IV- Kapitel:

„Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen

Chiang

gesäubert sei und deshalb immer noch nicht als stabilisiert angesehen werden könne 60 . Ch'en Tu-hsiu selbst schrieb am 7. Juli, die Zeit für den Nordfeldzug sei im Grunde noch nicht gekommen, denn die Kampfkraft und das revolutionäre Bewußtsein der N R A reichten dafür noch nicht aus. Es gelte vielmehr, Kuangtung gegen den Angriff Wu P'ei-fus zu verteidigen und vor allem, die subversive Tätigkeit des rechten Flügels in der Provinz zu bekämpfen: Λ „Nicht ,Nordfeldzug' muß unsere Losung heißen, sondern: ,Verteidigt unsere revolutionäre Basis — Kanton 6 1 !*"

In einer weiteren Stellungnahme vom 10. August schließlich klagte Ch'en darüber, daß das Militär im Verlauf des Nordfeldzuges zu stark werde und die Nationalregierung nur noch ein „Spezialorgan der militärischen Führung" sei; die Massen müßten sich, stärker als bisher, in den Nordfeldzug einschalten, um diesen, da er nun einmal begonnen habe, zu „revolutionieren" 62 . Diese letzte Stellungnahme Ch'ens deutet bereits eine Wandlung in der kommunistischen Einstellung zum Nordfeldzug an. Die Führung der K C T hatte sich, dem Druck Borodins und der Komintern nachgebend, endlich zur Unterstützung der militärischen Operationen durchgerungen. Sie begann nun, alles einzusetzen, um ihren Einfluß auch innerhalb der N R A zu verstärken. Zu diesem Zweck benutzte sie neben dem Aufbau der Bauernverbände und der Gewerkschaftsbewegung vor allem die Unterstützung des linken Flügels der K M T , für den sie jetzt Basisorganisationen aufzubauen begann. Die KMT-Linke hatte bisher im wesentlichen aus „Generalen ohne Armee" bestanden, ihre leitenden Politiker verfügten kaum über eigene Gefolgschaft unter den Parteimitgliedern. Organisationen der Linken, wie ζ. B. die „Fortschrittsgesellschaft" (Chin-pu hui), konnten sich entweder nie recht entfalten, oder sie gingen schnell in die Hände der Kommunisten über 63 . Jetzt halfen der Kader der K C T dem linken Flügel der K M T , eigene Zellen zu errichten. Diesem Ziel diente vor allem eine Kampagne, welche die 60

Chang Kuo-t'ao, „Die Lage Kuangtungs in den Augen der Massen", in: „Hsiang-

01

Ch'en Tu-hsiu, „Über den Nordfeldzug der Nationalregierung", in: „Hsiang-tao

tao chou-pao" vom 30. 6. 1926, audi in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 1 7 2 — 1 7 4 . chou-pao" vom 7. 7 . 1 9 2 6 , auch in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 1 7 5 — 1 7 7 . Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 231 und Schwartz, op. cit., p. 57. Schwartz datiert diesen Artikel fälschlich auf den 30. 6. 1926. 02

Ders., „Was geht uns der Nordfeldzug an?", in: „Hsiang-tao chou-pao" vom 10. 8.

63

Vgl. hierzu: Li Shih, „Organisationen des linken Flügels vor der Parteisäuberung in

1926. der K M T " , in: Hsien-tai shih-liao, Bd. I, p. 8 6 — 9 0 und: Wilbur/How, p. 209.

Chiang Kai-shek und die Kommunisten,

Mai bis November

1926

171

Rückkehr Wang Ching-weis in die Parteiführung veranlassen sollte. Die „Bewegung zum Willkommen Wangs" (Ying Wang yün-tung) wurde von den Kommunisten bereits kurz nach dem 15. Mai 1926 eingeleitet64. Sie richtete sich gleichzeitig, zunächst noch verhüllt, gegen die Machtstellung, die Chiang Kai-shek seit dem 20. März errungen hatte. Chiang selbst berichtet, daß er bereits um den 20. August Nachricht von der Agitation der Kommunisten für die Rückkehr Wangs bekommen hätte 65 , entschloß sich dann aber doch im September, auch seinerseits Wang telegraphisch um die Rückkehr nach China zu bitten 66 . In Hsü Ch'ien, der im September als Vertreter Feng Yü-hsiangs nach Kanton kam, fand der linke Flügel einen vorläufigen Führer. Er und andere leitende Persönlichkeiten der Linken, unter ihnen vor allem Ch'en Kung-po, Kan Naikuang und Ku Meng-yü, dominierten auf einer „Gemeinsamen Konferenz" des ZEK mit Delegierten der Provinz- und Auslandsorganisationen der KMT, die vom 15. bis zum 28. Oktober in Kanton stattfand. Den auf dieser Konferenz mit großem Geschick agierenden Kommunisten gelang es, die Mehrheit der Versammelten für die „Bewegung zum Willkommen Wangs" zu gewinnen. Die Konferenz forderte in einer Reihe von Resolutionen die „Demokratisierung der Parteiführung" und die energische Weiterentwicklung der Massenorganisationen. Außerdem verabschiedete sie ein Sofortprogramm, in dem u. a. die Einführung von Schutzzöllen, das Verbot des Einziehens rechtswidriger Steuern, die Senkung der Landpachten um 25 °/o, die Beschränkung der Zinsrate auf höchstens 20 % im Jahr und eine Garantie des Streikrechts gefordert wurden87. Schließlich wurden am 13. November in der Nationalregierung 64

So: Ch'ü Ch'iu-pai, Chung-kuo ke-ming yü KCT (Die chinesische Revolution und die KCT), o. O. (wahrsch. Moskau), 1928, p. 39. Diese Sdirift ist der erweiterte Bericht Ch'üs auf dem VI. Parteitag der K C T in Moskau 1928. Vgl. dazu: Li Ang, Hung-sS wu-t'ai (Die rote Bühne), Ch'engtu 1942, p. 11 und: Ch'en Kuo-fu, op. cit., p. 68. Diese Quellen sind insgesamt audi bei Wilbur/How, p. 524, zitiert.

65

Tagebuch Chiang, Bd. XIII, p. 137.

66

ibid., Bd. XVII, p. 95 f. und XVIII, p. 5. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 523 und T'ang, Revolution, p. 261. T'ang führt Chiangs Wunsch auf eine Intervention Chu P'ei-tes zurück, er gerät dabei jedoch mit der Chronologie durcheinander. Das bei ihm erwähnte Gespräch Chiangs mit Chu kann erst einige Wochen später stattgefunden haben. Liste der Beschlüsse der Gemeinsamen Konferenz des ZEK der KMT mit den Auslands- und Provinzorganisationen vom 15. bis zum 28. Oktober 1926 (KMT-Archiv); und: H u Hua, Chung-kuo hsin min-chu chu-yi ke-ming shih (Geschichte der neudemokratischen Revolution in China), 2 Bde., Shanghai 1940, Bd. I, p. 81. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 371 und T'ang, Revolution, p. 260.

67

172

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen Chiang

zwei neue Ministerien, für Justiz und Verkehr geschaffen. Hsü Ch'ien wurde zum Justizminister ernannt, Sun K'e, der sich jetzt einmal wieder dem linken Flügel zur Verfügung stellte, übernahm die Leitung des Verkehrsministeriums68. So hatte sich, während Chiang mit den militärischen Operationen beschäftigt war, in Kanton der linke Flügel erneut durchgesetzt. Hsü Ch'ien und mit ihm Borodin und die KCT schoben sich von neuem in die leitenden Positionen innerhalb der KMT-Führung. Die Komintern registrierte diese Entwicklung sehr aufmerksam. Chinesische Probleme standen im Mittelpunkt der Diskussionen auf dem VII. Plenum des EKKI in Moskau vom 22. November bis zum 16. Dezember 1926. Dabei wurde die chinesische Revolution zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Trotzki und Stalin, die den Kampf um die Leitung der KPdSU und der kommunistischen Weltbewegung führten. Trotzki sah in den Erfolgen der KCT bei der Organisation der Bauernverbände und Gewerkschaften eine Chance, schon jetzt zur „Umwandlung der chinesischen Revolution" zu schreiten. Deshalb schlug er vor, die KCT solle ihre Trennung von der KMT vorbereiten und mit Hilfe der Massenorganisationen umgehend die Führung der Revolution zu übernehmen, um deren „zweites, sozialistisches Stadium" schnell herbeizuführen. Stalin äußerte sich weitaus skeptischer über die Möglichkeiten selbständiger kommunistischer Arbeit in China und bestand daher auf einer Fortsetzung der Politik des „Blocks von innen". In einer „These über die Lage in China" akzeptierte das EKKI Stalins Argumentation. Zwar sprach man von der Unzuverlässigkeit des „Großbürgertums" und davon, daß die chinesische Revolution, obgleich sie in ihrer gegenwärtigen Phase eine „bürgerlich-demokratische Revolution" sei, doch den Charakter einer „breiten sozialen Bewegung" annähme und ihre Zukunft „vor allem von der Rolle des Proletariats" abhinge, aber die K C T wurde doch angewiesen, ihre Arbeit innerhalb der KMT fortzusetzen und sich darüber hinaus an der Nationalregierung zu beteiligen. Dabei solle sie, so hieß es, mit der Linken eng zusammenarbeiten, den rechten Flügel der KMT bekämpfen und ihre Kritik des Zentrums — gemeint war hier offenbar Chiang Kai-shek — fortsetzen 69 . So versetzte die Komintern die chine68

69

Bekanntmachungen der Nationalregierung vom 13. 11. 1926, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", Nr. 45 vom November 1926, auch in: K M W H , Bd. X X , p. 1669—1674. „Thesis on the Situation in China by the Seventh Extraordinary Plenum of the ECCI, November 22—December 16, 1926", Englisdi u. a. bei: Robert C. North und Xenia J. Eudin, Μ. N . Roy's Mission to China, Berkeley und Los Angeles 1963, p. 131—145 (hinfort: North/Eudin). Vgl. hierzu: Schwartz, op. cit., p. 59 f. und

Der Konflikt

über die Strategie

des

Nordfeldzuges

173

sischen Kommunisten in ein Dilemma: einerseits verlangte sie von ihnen die Fortsetzung der Politik des „Blocks von innen", andererseits aber sollten sie mit Hilfe der Massenorganisationen die Revolution weiter vorantreiben. Dies schloß sich zwar gewiß nicht gegenseitig aus, mußte aber doch dann zu großen Schwierigkeiten für den chinesischen Kommunismus führen, wenn Teile der KMT-Führung ihr Mißtrauen gegenüber den chinesischen Kommunisten weiter entwickelten, wie dies vor allem bei den Anhängern Chiangs in der Folgezeit geschah.

Der Konflikt über die Strategie des Nordfeldzuges und den Sitz der revolutionären Zentrale Die offene Auseinandersetzung zwischen Chiang und den Kommunisten kam schneller zum Ausbruch, als zu Beginn des Nordfeldzuges angenommen werden konnte. In Wuhan hatten schon zur Zeit der Eroberung durch die NRA die Kräfte des linken Flügels der KMT, an der Spitze die Kommunisten, die Kontrolle übernommen. Instrumente ihrer Machtausübung waren vor allem die sich rasch entwickelnden Gewerkschaften und deren bewaffnete Arbeitermilizen, die jetzt, nach dem Kantoner Vorbild des Jahres 1925, in dem zentralchinesischen Industriezentrum gebildet wurden 70 . In den Tagen der Eroberung Wuhans gelang es Truppenverbänden, die unter demEinfluß kommunistischer Politkommissare standen, sich des Arsenals von Hanyang zu bemächtigen und die dort erbeuteten Waffen unter den Arbeiterverbänden zu verteilen71. So hatte sich hier eine „linke" Kräftekonstellation gebildet, die sich vor allem auf die Arbeitermilizen und das 4. Armeekorps — in seinem Verband besonders auf die Division des der K C T angehörenden Generals Yeh T'ing, die ehemalige Streikmilizen aus Kanton umfaßte — stützen konnte. In diesen Einheiten war der Einfluß der Politkommissare besonders groß, und deren Chef, der Leiter der Politischen Abteilung beim Hauptquartier der NRA, Teng Yen-ta::", hatte Wuhan praktisch unter seiner Kontrolle 72 . Außerdem entwickelte der im Juni zur NRA übergetretene Militärmachthaber T'ang Sheng-chih, Kommandant des 8. Armeekorps, den Ehrgeiz, an Stelle von Chiang die Führung der revolutionären Armeen zu über89 f.; Brandt, op. cit., p. 9 5 — 1 0 0 und 107 f.; Isaacs, op. cit., p. 117 ff. und Wilbur/ H o w , p. 380 f. 70 71 72

Vgl. hierzu u. a.: ibid., p. 379 f.; Isaacs, op. cit., p. 112 f.; North/Eudin, p. 29. Liu, op. cit., p. 38. Vgl. hierzu: Liu, op. cit., p. 43 f.

174

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen

Chiang

nehmen 73 . Der offene Terror, den vor allem die Arbeitermilizen in den Straßen von Wuhan ausübten, wurde im Hauptquartier der N R A mit Sorge beobachtet 74 , zumal die militärischen Verbände der K M T trotz der sowjetischen Unterstützung in erheblichem Maße auf finanzielle Zuwendungen aus Kreisen des städtischen Großbürgertums angewiesen waren. Chiang hoffte zunächst, die Aktivität der K C T und des linken Flügels der K M T in Wuhan dadurch einschränken zu können, daß mindestens Teile der Parteizentrale und der Nationalregierung dorthin verlegt würden. Schon am 9. September telegraphierte er daher an die Nationalregierung in Kanton: „ . . . da Wuhan das politische Zentrum des Landes ist und ich andererseits jetzt nach Kiangsi g e h e . . . muß die Regierung jemanden senden, um die Situation in Wuhan unter Kontrolle zu bringen." E r schlug vor, man solle T'an Yen-k'ai mit dieser Aufgabe betrauen 75 . Am 18. und am 25. September wiederholte er diese Aufforderung, die offenbar in Kanton zunächst auf wenig Gegenliebe stieß 76 . Besonders dringlich faßte Chiang das Telegramm vom 25. September, in dem er darum bat, daß T'an Yen-k'ai, Hsü Ch'ien und Ku Meng-yü sofort nach Zentralchina abreisen möchten. Einen Monat später, am 22. Oktober, rief Chiang von neuem nach einer Verlegung der leitenden Organe der Partei nach Wuhan, diesmal wollte er sogar entweder die ganze Nationalregierung oder die Parteizentrale nach Wuhan bekommen 77 . Da die Parteiführung offenbar kein besonderes Interesse daran hatte, sich in die Nähe der Front zu begeben, schickte Chiang Ende Oktober General Chang Fa-k'uei und Teng Yen-ta mit dem Auftrag nach Kanton, die dortigen Politiker von der Notwendigkeit der Ubersiedlung nach Wuhan zu überzeugen 78 . 73

Wilbur/How, p. 369 f. 393 f. und Dokument 44, p. 413 ff. Vgl. auch: Tong, op. cit., p. 80 f. T'ang, Revolution, p. 228 f., beschreibt T'ang Shcng-chih als einen ehemals korrupten Militärmachthaber, der nach seinem Eintritt in die K M T das Opiumrauchen aufgegeben und seine Konkubinen entlassen habe. Dergleichen „Bekehrungsgeschichten" gibt es jedoch für viele Militärmachthaber, die sich der K M T anschlössen. Sie treffen meist nicht in dem Maße zu wie bei Chu Te, von dem man das gleiche zu Recht berichtet. T'angs Verhalten nach 1928 läßt diesen Bericht als bezweifelbar erscheinen.

74

Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 113.

75

Telegramm Chiangs an die Nationalregierung vom 9. 9 . 1 9 2 6 , in: K M W H , Bd. X I I I , p. 232, auch in: Tagebuch Chiang, Bd. X V I I , p. 22. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 369.

78

Telegramme Chiangs an die Nationalregierung vom 18. und 25. 9. 1926, in: K M W H , Bd. X I I I , p. 238.

77

Telegramm Chiangs an die Nationalregierung vom 22. 10. 1926, ibid., p. 389.

78

Tong, op. cit., p. 81, bestätigt von Chang Fa-k'uei im Interview mit dem Verfasser am 20. August 1964 in Hongkong.

Der Konflikt

über die Strategie des

Nordfeldzuges

175

Diese Mission hatte endlich Erfolg. Am 10. November entschloß sich die Nationalregierung, grundsätzlich die Verlegung des Regierungssitzes nach Wuhan ins Auge zu fassen und kurz darauf entsandte sie eine aus Sun K'e, Dr. Sung Tzu-wen, Frau Sun Yat-sen (Sung Ch'ing-ling)* und Borodin bestehende Kommission nach Wuhan, um die Übersiedlung vorzubereiten. Diese Gruppe, die stark unter dem Einfluß Borodins stand, erkannte die Chancen, welche sich dem linken Flügel der KMT mit der Errichtung des Regierungssitzes in dem von den Gewerkschaften kontrollierten Industriezentrum am Yangtzu boten und setzte sich energisch für die baldige Verlegung des Regierungssitzes ein78. In den nächsten Wochen folgte ihnen eine Reihe meist dem linken Flügel nahestehender Mitglieder der leitenden Gremien der KMT nach Wuhan. Dort konstituierte sich am 13. Dezember 1926 ein „Vorläufiger Zentraler Vereinigter Rat" (Chung-yang ling-shih lien-he hui-i; hinfort: Vereinigter Rat), der bis zur endgültigen Durchführung der Verlegung des Regierungssitzes als gemeinsames Organ des ZEK und der Nationalregierung tätig werden sollte80. Seinen Vorsitz übernahm Hsü Ch'ien. Weitere Mitglieder waren Sun K'e, Dr. Ch'en Yu-jen, Frau Sun Yat-sen, Teng Yen-ta, die Kommunisten Lin Tsu-han und Wu Yü-chang sowie Borodin, der hier zum erstenmal Sitz und Stimme in einem Führungsgremium der KMT erhielt. Die außerdem in den Vereinigten Rat delegierten gemäßigten KMT-Führer Pai Wenwei, Wang Fa-chin und Chiang Tso-ping traten ihr Amt in Wuhan nicht an, so daß dieses Gremium ausschließlich aus Kommunisten und Anhängern der KMT-Linken bestand. Die Bildung des Vereinigten Rats stellte einen, mit Sicherheit von Borodin inszenierten, genialen Handstreich des linken Flügels dar, durch den der Nationalregierungsrat, die „Politische Konferenz" und das ZEK, die alle einzeln für die K C T nicht sicher waren, auf einen Schlag mattgesetzt wurden. Chiang, der diese Entwicklung mit Sorge beobachtete, hatte inzwischen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Borodin und den Kommunisten über die weitere Strategie des Nordfeldzuges begonnen. Die sowjetischen Berater und die K C T vertraten die Ansicht, man solle gegen Sun Ch'uan-fang nur Flankensicherungen aufmarschieren lassen und zunächst entlang der Peking-Hank'ou-Bahn direkt auf die Haupt79 80

Vgl. Tong, ibid. Chung-yang ling-shih lien-hS hui -i hui-i-lu (Protokolle des Zentralen Vereinigten Rates), Wuhan 1926/27, p. 1 ff.; Tagebuch Chiang, Bd. X X , p. 33. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 381; Isaacs, op. cit., p. 113; Woo, op. cit., p. 226; T'ang, Wang, p. 142 f. und: Tong, op. cit., p. 82.

176

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen Chiang

Stadt Chinas vorstoßen 81 . Auf diese Weise würde sich rasch eine militärische Zusammenarbeit mit der Kuominchün Feng Yii-hsiangs, die in Nordwestchina stand, ergeben. Borodin hielt diesen General damals für „prokommunistischer" als Chiang 82 . Wäre man dieser von Borodin entwickelten Strategie gefolgt, dann hätte sich eine vom linken Flügel der KMT wesentlich beeinflußte Vereinigung der N R A und der Kuominchün ergeben. Die so entstandene militärische Kraft hätte über eine direkte Landverbindung zur UdSSR verfügt und hätte besser als bisher mit sowjetischen Waffen versorgt werden können. Unterstützt von den inzwischen mit Hilfe der KCT stärker ausgebauten Massenorganisationen, hätte man schließlich die Lunghai-Bahn und den Yangtzu abwärts zum Meer vorstoßen, die Armeen Sun Ch'uan-fangs vernichten und damit ganz China erobern können 83 . Außerdem wäre durch den direkten Vorstoß auf Peking das militärische Prestige der in Zentralchina stationierten 4. und 8. Armeekorps, die unter dem Einfluß der KMT-Linken standen, im Vergleich mit den unmittelbar von Chiang befehligten Truppen erheblich gewachsen. Chiang dagegen drängte vom September 1926 an darauf, zunächst einen Generalangriff über Kiangsi und Fukien auf Chekiang und Kiangsu zu führen. Diese strategische Konzeption hatte sich in der zweiten Dezemberhälfte in seinem Hauptquartier vollends durchgesetzt. Am 20. Dezember kündigte der Oberbefehlshaber sie in einer Rede an die meist aus Huangpu-Kadetten bestehende 2. Division offiziell an84. Drei wesentliche Überlegungen haben bei Chiang den Ausschlag für den Befehl zur Offensive nach Osten gegeben: 1. Auf diese Weise wurde es möglich, die von Sun Ch'uan-fang und seinen starken Armeen dargestellte Flankenbedrohung zu beseitigen, die für eine direkte Offensive auf Peking hätte gefährlich werden können. 2. Wesentliche Träger der Offensive nach Osten mußten nach Lage der Dinge das 1., 3., 6. und 7. Armeekorps sein, die stärker als die bei Wuhan stationierten Einheiten unter dem Einfluß Chiangs standen. So hätten Chiangs „eigene Truppen" gegenüber den „Wuhanverbänden" militärisches Prestige gewonnen. 81 82

83

84

Liu, op. cit., p. 36 f. So Sun K'e im Interview mit dem Verfasser am 3. April 1965. Audi Chang Fak'uei vertrat im Interview mit dem Verfasser am 20. August 1964 die Auffassung, Borodin habe 1926 so gedacht. Vgl. hierzu: Anna Louise Strong, China's Millions, N e w York 1935, p. 352 und Woo, op. cit., p. 221 ff. Rede Chiangs an die 2. Division vom 20. 12. 1926, in: KMWH, Bd. X I V , p. 539 f.

Der Konflikt über die Strategie des Nordfeldzuges

177

3. Von entscheidender Bedeutung aber war die Überlegung, daß eine erfolgreiche Offensive nach Osten Chiangs Verbände in den Besitz der größten Arsenale Chinas in Lunghua bei Shanghai und in Nanking bringen mußte. A u f diese Weise konnte die N R A von den sowjetischen W a f fenlieferungen unabhängig werden. Außerdem erwartete Chiang von dem finanzkräftigen

Großbürgertum in Shanghai Unterstützungen, die auch

im finanziellen Bereich die sowjetische H i l f e abzulösen vermochten 85 . Es nimmt daher nicht wunder, daß, von Galen abgesehen, die sowjetischen Berater durchweg gegen die Offensive nach Osten Stellung nahmen86. Gegen ihren Rat setzte Chiang jedoch seine Konzeption durch. Man wird wohl zu Recht vermuten dürfen, daß schon jetzt die grundlegende Entscheidung Chiangs für den Bruch mit der K C T gefallen war. D i e Offensive auf Shanghai und Nanking, die um die Jahreswende 1926/ 1927 begann, muß so bereits als ein wesentlicher Teil der Emanzipationsbewegung v o m kommunistischen Einfluß betrachtet werden. M i t dem Konflikt über die Strategie, den Chiang gegen erhebliche Widerstände der Kommunisten und Sowjetberater noch zu seinen Gunsten entscheiden konnte, verband sich eine zweite Auseinandersetzung über den Sitz der revolutionären Zentrale. Unter dem Eindruck der Entwicklungen in Wuhan trat Chiang seit Ende Dezember dafür ein, die Nationalregierung nicht mehr in die zentralchinesische Metropole, sondern in die Hauptstadt Kiangsis, Nanch'ang, zu verlegen, w o sich auch sein Hauptquartier befand. Eine Anzahl der gemäßigten Mitglieder der Nationalregierung reisten über Nanch'ang nach Wuhan, und am 1. Januar 1927 fand beim Hauptquartier der N R A eine Konferenz der leitenden Militärbefehlshaber mit Mitgliedern des Z E K und sowjetischen Beratern statt, in deren Verlauf noch einmal die Fragen der Strategie des N o r d feldzuges und des Sitzes der Führungsgremien ausführlich erörtert wurden. Wiederum konnte Chiang seine strategische Konzeption gegen den Widerstand der Sowjetberater und Teng Yen-tas durchsetzen87, seine Bemühungen, die Nationalregierung zur Übersiedlung nach Nanch'ang zu bewegen, blieben jedoch vergeblich. Bereits Ende Dezember 1926 hatte in Hunan, Hupei und Teilen von Kiangsi eine von den Kommunisten stark beeinflußte Bewegung gegen Chiang eingesetzt88. Dieser begab sich 85

Liu, op. cit., p. 38.

86

Vgl. hierzu: Yin Shih, op. cit., p. 20—23, zitiert bei Liu, ibid.

87

Wilbur/How, p. 382 f. und: Ch'en Ming-shu, „Warum wir die K C T niederwerfen wollen", in: Ke-ming yü fan-ke-ming (Revolution und Gegenrevolution), hrsg. von Lang Hsin-shih, Shanghai 1928, p. 365 f.

88

12

T'ang, Revolution, p. 262. Domes

178

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen Chiang

am 11. Januar noch einmal für eine Woche nach Wuhan, um dort für seine Vorschläge zu werben, blieb aber ohne Erfolg 89 . Der Konflikt verschärfte sich nicht zuletzt dadurch, daß es in Wuhan zu einem offenen Zusammenstoß zwischen Chiang und Borodin kam 90 , der den überaus empfindlichen Oberbefehlshaber veranlaßte, am 18. Januar frühzeitig nach Nanch'ang abzureisen. Die Auseinandersetzung zwischen Chiang und den Kommunisten war jetzt nicht mehr aufzuhalten. In Nanch'ang sammelten sich um ihn die gemäßigten Kreise in der KMT und Anhänger des rechten Flügels. Militärisch konnte er sich mit Sicherheit nur auf Teile des 1. und 3. Armeekorps und die Kuangsi-Truppen des 7. Armeekorps stützen, ebenso auf Li Chi-shen, der seit der Abreise der Nationalregierung mit seinen Verbänden Kanton kontrollierte 91 . Auf der anderen Seite standen, von Borodin gelenkt, in Wuhan die führenden Persönlichkeiten der KMT-Linken, und in ihrem Gefolge wuchs der Einfluß einiger leitender Kommunisten, vor allem T'an P'ing-shans, Lin Tsu-hans und Wu Yü-changs. Die K C T hatte diese drei Politiker mit der Durchführung der Zusammenarbeit mit der KMT-Zentrale beauftragt, ihr eigenes ZK blieb dagegen in Shanghai und bemühte sich darum, vom linken Flügel der KMT unabhängig zu bleiben. Dieser stützte sich innerhalb der N R A auf das 4. und 8. und Teile des 2. und 6. Armeekorps. Aber auch in Chiangs eigenem 1. Armeekorps gab es Kommunisten, die hier einige der bedeutsamsten Positionen in der Politischen Abteilung besetzten. Außerdem griffen jetzt die meist von Kommunisten geführten Bauernverbände in den Provinzen Hunan und Kuangtung und die Gewerkschaften in Wuhan noch stärker als zuvor in das politische Geschehen ein. Von den beiden großen Kadergruppen der chinesischen Revolution, den Huangpu-Kadetten und den Parteifunktionären der KMT, stand nur die Mehrheit der ersten auf Chiangs Seite. Trotz aller Bemühungen seiner Anhänger in der Organisationsabteilung beim ZEK, vor allem Ch'en Kuo-fus 92 , gab es bisher nur wenige zivile Parteikader, die zu Chiang hielten. Er hätte noch mehrerer Jahre bedurft, um sich im Parteiapparat gegen den Willen der Kommunisten stärker festzusetzen. Angesichts der Entwicklung der Massenorganisationen in Südchina stand ihm diese Zeit aber nicht mehr zur Verfügung. Die Auseinandersetzung mit den Kom89

Wilbur/How, p. 383, dort zitiert: Bericht des US-Generalkonsuls Lockhart, Hank'ou, an den Secretary of State vom 22. Januar 1927, in: State Department Archives, Washington D. C., 893.00/8342. 80 North/Eudin, p. 47 und Isaacs, op. cit., p. 126. " ibid., p. 109 f. 82 Vgl. hierzu: Ch'en Kuo-fu, op. cit., p. 69 f.

Koalition gegen Chiang Kai-shek

179

munisten, im Grunde ein Kampf um die Kader der chinesischen Revolution, mußte bald ausgefochten werden, wollte Chiang sie überhaupt noch zu seinen Gunsten entscheiden.

Koalition gegen Chiang Kai-shek Auf zwei Ebenen entwickelte sich in den ersten Monaten des Jahres 1927 der Kampf des linken Flügels der K M T gegen den Oberbefehlshaber der N R A : Einerseits versuchte man, ihn innerhalb der Armee zu isolieren, andererseits entfaltete sich von Januar an eine im wesentlichen von den Kommunisten getragene massive Agitation gegen Chiang in der Partei und den Massenorganisationen. T'ang Sheng-chih wurde bald zur Schlüsselfigur der Versuche, eine militärische Koalition gegen Chiang aufzubauen. Wir hatten gesehen, daß sich seit dem August 1926 Streitigkeiten zwischen ihm und Chiang entwickelten 93 . Bereits damals war T'ang maßgeblich an der Gründung einer „Vereinigung der Graduierten von vier Militärakademien" beteiligt, die sich eindeutig gegen die Chiang besonders verpflichtete Huangpu-Gruppe richtete und in der neben T'ang auch andere Absolventen der Militärakademie von Paoting eine leitende Rolle spielten 94 . Diese Offiziersclique wurde jetzt als Instrument benutzt, mit dessen Hilfe man sich bemühte, möglichst viele Verbände der N R A in eine Front gegen Chiang zu bringen. Im Januar und Februar 1927 hatte die Wuhaner Linke mit diesen Bemühungen teilweise Erfolg. Das 4. und das 8. Armeekorps standen schon seit längerer Zeit auf ihrer Seite, jetzt begann auch Ch'eng Ch'iens 6. Armeekorps Wuhan zuzuneigen. Besonders umworben war der Kommandant des in Hupei stationierten 11. Armeekorps Ch'en Ming-shu. Dieser wies jedoch alle Versuche, ihn für die Anti-Chiang-Koalition zu gewinnen, ab und so zwang man ihn schließlich am 6. März, Wuhan zu verlassen und ließ sein Armeekorps von Einheiten T'angs umstellen 95 . Erfolgreicher dagegen war dieser mit seinen Bemühungen, die ehemaligen Militärmachthaber-Truppen des 9. und 10. Armeekorps auf seine Seite zu 93

Pai Shan, „Die Spaltung zwischen Wuhan und Nanch'ang und T'ang Sheng-chih", in: Hsien-tai shih-liao, Bd. I., p. 34. Vgl. dazu: Wilbur/How, p. 369, 393 und 530.

94

ibid., Dokument 43, p. 411; und: Pai Shan, op. cit., p. 34 ff.

95

Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 359 und 531. Dort weitere Quellen verweise, vor allem auf: Liu Lu-yin, „Revolution und Gegenrevolution", in: Ke-ming yü fan-ke-ming, p. 494.

12*

180

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen Chiang

ziehen; sie unterstellten sich Ende Februar endgültig seiner Leitung 96 . Ein sowjetischer Militärberater erklärte in einem Geheimbericht an die Botschaft der UdSSR in Peking am 5. März, auch das 3. und 11. Armeekorps und die unter dem Befehl von Li Chi-shen stehenden Truppen der N R A in Kuangtung hätten sich der Militärfronde gegen Chiang angeschlossen97. Diese Beurteilung war aber zu optimistisch, wie schon wenig später deutlich werden sollte. Um die Monatswende Februar/März 1927 stellte sich die militärische Lage in den von der K M T beherrschten Gebieten etwa folgendermaßen dar: Der Nordfeldzug war am Yangtzu vorläufig zum Stehen gekommen. Die Chiang besonders verbundenen Einheiten der N R A — das 1., 2. und 7. Armeekorps — befanden sich, ebenso wie das 6., im Angriff auf Nanking und Shanghai. Die Loyalität des 6. Armeekorps erschien in jenen "Wochen immer problematischer, und selbst im 1. Armeekorps machte sich der starke Einfluß kommunistischer Politkommissare bemerkbar. Das 3. Armeekorps unter Chu P'ei-te in Kiangsi und die Verbände Li Chi-shens in Kuangtung hielten zum Oberbefehlshaber der N R A , während das 4., 8., 9. und 10. Armeekorps in Hunan und Hupei eindeutig gegen Chiang Stellung bezogen hatten und das 11. Armeekorps dort vorübergehend ausgeschaltet worden war 98 . Wenn man berücksichtigt, daß die sich ständig verstärkende Bauernbewegung in Nord-Hunan, die Gewerkschaften in Wuhan und Shanghai und der größte Teil der Parteiorganisationen in Kiangsi von den Kommunisten kontrolliert wurden, so schien die Situation für Wuhan wesentlich günstiger als für Chiang und seine Anhänger zu sein. T'ang Sheng-chih war seit der Jahreswende zu einer engeren Zusammenarbeit mit der K C T übergegangen, die jetzt seine Propaganda gegen Chiang tatkräftig unterstützte 99 . Außerdem hatte sich die Position der Führung des linken Flügels der K M T in Wuhan im Laufe des Januar und Februar 1927 durch außenpolitische Erfolge erheblich verbessert. Bereits seit dem Herbst 1926 gab es Anzeichen für eine Änderung der Politik der Mächte, allen voran Großbritanniens, gegenüber der K M T . Die betonte Feindseligkeit des Jahres 1925 begann Tendenzen zur de-facto-Anerkennung zu weichen. Anfang Dezember 1926 hatte der britische Gesandte in China, Sir Miles Lampson, 96 97 98 99

ibid., p. 394. ibid., Dokument 49, p. 435 f. Vgl. ibid., p. 531 f. Vgl. hierzu u. a.: Tong, op. cit., p. 80 f.; Woo, op. cit., p. 149; Isaacs, op. cit., p. 194 und Pai Shan, ibid.

Koalition

gegen Chiang

Kai-shek

181

einen Besuch in Wuhan abgestattet, um dort Möglichkeiten für einen Kompromiß mit der KMT auszukundschaften 100 . Am 18. Dezember sandte die britische Regierung ein Memorandum an die Signatarmächte des Washingtoner Abkommens von 1922, in dem sie den Vorschlag machte, man solle die ausländischen Sonderrechte in China schrittweise aufgeben. Diese Aktion Londons rief allerdings in den britischen Kolonien in China erbitterte Proteste hervor, die auch im Parlament in London ihren Widerhall fanden und die Regierung zu einem vorsichtigeren Vorgehen veranlaßten 101 . Dennoch konnte die KMT in den folgenden Wochen in ihrem Kampf gegen die ungleichen Verträge einen ersten Erfolg erzielen. Als am 3. Januar 1927 antiimperialistischeMassendemonstrationen an der Grenze der britischen Konzession in Hank'ou stattfanden, zogen sich die dort stationierten Marineinfanteristen auf ihre Schiffe zurück, um einer Wiederholung der Vorgänge in Shanghai und Kanton im Mai und Juni 1925 aus dem Wege zu gehen. Daraufhin besetzten am nächsten Tage Arbeitermilizen die britische Konzession, und am 6. Januar wiederholte sich dieser Vorgang auch in der britischen Konzession in Chiukiang 102 . Die Reaktion Großbritanniens war erstaunlich zurückhaltend. Am 12. Januar begab sich der britische Charge d'affaires O'Malley nach Wuhan, um dort die Rückgabe der beiden Konzessionen zu verlangen. Dies stieß jedoch auf den Widerstand des Außenministers Dr. Ch'en Yu-jen, der in einer Erklärung der Nationalregierung vom 22. Januar die Forderung nach der Abschaffung aller ungleichen Verträge bekräftigte und betonte, daß die Regierung in Wuhan die einzige legitime Vertretung Chinas darstelle, gleichzeitig allerdings auch feststellte, daß eine Änderung des Status der Ausländer in China nur auf dem Verhandlungswege geplant sei103. Daraufhin erhielten beide chinesische Regierungen in Wuhan und Peking am 27. Januar gleichlautende britische Noten, in denen die Vorschläge des Memorandums vom 18. Dezember 1926 wiederholt wurden. Zum erstenmal hatte London die Nationalregierung als gleichberechtigt mit der Regierung der Militärmachthaber in Peking behandelt. Gleichzeitig allerdings traf man Vorbereitungen zur Verlegung von 16.000 britischen Soldaten nach Ostasien und verband so die Verhandlungsbereitschaft mit einer eindeutigen militärischen Machtdemonstration 104 . Ende Januar wurden die Grundzüge der 100

Isaacs, op. cit., p. 125. Vgl. hierzu u. a.: „North China Daily News" vom 20. bis 2 7 . 1 2 . 1 9 2 6 . loa Vgl. Chapman, op. cit., p. 34 f. und Isaacs, op. cit., p. 123 f. 103 Erklärung der Nationalregierung zur britischen N o t e vom 18. 12.1926, 22. Januar 1927, in: KMWH, Bd. XIV, p. 570—574. 104 Vgl.: „The Times" und „The Daily Telegraph" vom 2 5 . 1 . 1 9 2 7 . 101

vom

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IV. Kapitel: „Nordfeldzug'

und Kampf der Linken gegen Chiang

neuen britischen Chinapolitik deutlicher. London war bereit, mit Wuhan über den zukünftigen Status der Konzessionen in Hank'ou und Chiukiang zu verhandeln und auch sonst kleinere Zugeständnisse zu machen, Shanghai aber sollte unbedingt gehalten und grundsätzliche Lösungen des Problems der ungleichen Verträge bis zur Klärung der innenpolitischen Lage in China hinausgezögert werden. O'Malleys Verhandlungen in Wuhan führten schließlich zu einem für die Nationalregierung befriedigenden Abschluß. In einem Notenwechsel vom 19. Februar wurde die britische Konzession in Hank'ou und in einem weiteren Notenwechsel vom 2. März audi diejenige in Chiukiang an China, hier durch die Nationalregierung vertreten, zurückgegeben105. Andererseits verstärkte man jedoch die ausländischen Truppen in Shanghai, in der Mehrzahl Briten, zur gleichen Zeit auf etwa 30.000 Mann 106 . Der außenpolitische Erfolg unterstützte die Propaganda des linken Flügels der KMT gegen Chiang, die sich von Ende Februar an voll entfaltete. Motor der Kampagne waren die Kommunisten, die ihre propagandistische Generallinie bereits auf einer Sonderkonferenz des ZK der K C T am 13. Dezember 1926 in Hank'ou festgelegt hatten. Hier wurde zum erstenmal formell der später fälschlich Sun Yat-sen in den Mund gelegte Begriff der „Drei Großen Politischen Maßnahmen" — Zusammenarbeit mit der UdSSR, mit der KCT, mit den Arbeitern und Bauern — gebraucht. Man beschloß, daß die Kommunisten hinfort noch stärker als bisher die Führer des linken Flügels der KMT unterstützen und ihnen bei der Schaffung einer Machtbasis in den lokalen Parteiorganisationen Hilfe leisten sollten. Darüber hinaus wollte die Partei sich vor allem der Förderung der Massenbewegung widmen. Die Bauernverbände und Gewerkschaften müßten unbedingt von der K C T aufgebaut und möglichst ausschließlich von Kommunisten geführt werden, in den Parteizellen aber sollten die Kommunisten sich darum bemühen, an der Bildung von Gruppen des linken Flügels teilzunehmen 107 . 105

106 107

Eine umfassende Zusammenstellung aller relevanten Dokumente über die Aufgabe der britischen Konzessionen in Hank'ou und Chiukiang findet sich in: The China Year Book, 1928, p. 739—742, 756 ff., 761, 764 und 983. Chinesischer Text des Ch'en-O'Malley-Abkommens in: KMWH, Bd. XIV, p. 582 f. Englische Texte audi in: Great Britain, Foreign Office, China No. 3 (1927): Papers Respecting Agreements Relative to the British Concessions at Hankow and Kiukiang, London 1927. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 384; und: Isaacs, op. cit., p. 125. ibid., p. 147. Resolutionen über das Problem des linken Flügels der KMT, Geheime Regionalkorrespondenz Nr. 7, in: Wu Chih-hui, „Eine weitere Diskussion mit Wang Ching-

Koalition gegen Chiang

Kai-shek

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Während Chiang anscheinend bereits unmittelbar nach seiner Rüdkkehr aus Wuhan am 18. Januar begann, in einigen Orten Kiangsis die lokalen Parteizellen von Kommunisten zu „säubern"108, entfachte der linke Flügel jetzt eine „Bewegung zur Wiederherstellung der Parteimacht" (Hui-fu tang-ch'üan yün-tung). Sie kulminierte am 24. Februar in einer Massenversammlung von 15.000 KMT-Mitgliedern in Wuhan, auf der Hsü Ch'ien, Teng Yen-ta, Sun K'e und andere Führer des linken Flügels massive Angriffe gegen Chiang Kai-shek richteten, ohne diesen allerdings jetzt schon namentlich zu nennen. Es wurde gefordert, sofort eine Plenarsitzung des ZEK nach Wuhan einzuberufen, die Macht der Parteizentrale als einziges Leitungsgremium der Revolution zu stärken und Wang Ching-wei dringend zur Rückkehr nach China und zur erneuten Übernahme der Parteiführung aufzufordern 109 . Wang wurde jetzt immer mehr als Führer des linken Flügels und Gegenfigur zu Chiang „aufgebaut", zumal er inzwischen Europa verlassen hatte und auf dem Rückweg nach China war. Als Hauptgegner hatte die Propaganda des linken Flügels zunächst Chang Ching-chiang und Ch'en Kuo-fu ausgewählt, es war aber deutlich genug, daß man in Wahrheit Chiang selbst meinte. Dieser wandte sich am 21. Februar in Nanch'ang zum erstenmal offen gegen die Linke in Wuhan. Er warf dem Vereinigten Rat in Wuhan vor, kein ordentliches Mandat der Partei zu haben und deshalb selber viel eher „diktatorisch" zu sein als der Oberbefehlshaber der NRA, der regulär vom ZEK berufen worden sei. Zwar wies Chiang noch die Beschuldigung, er sei „anti-kommunistisch" zurück, betonte aber doch, daß die Kommunisten im Grunde keine ehrlichen Anhänger der Drei Grundlehren vom Volk seien110. Zugleich bemühte er sich darum, Wang für sich zu gewinnen, indem er diesen in mehreren Telegrammen aufforderte, schnell zurückzukommen und sogar mit seinem Rücktritt drohte, falls Wang sich nicht bereit finden würde, bald wieder seine Pflichten zu übernehmen111. In einer zweiten Rede in Nanch'ang am 7. März wurde Chiangs Ton bereits noch schärfer. Jetzt beschuldigte er die Sowjetberater der Tyrannei und erklärte, daß sie die

108 109

110 111

wei auf der Grundlage klaren Beweismaterials", in: Ke-ming yü fan-ke-ming, p. 69—77. Vgl. dazu: Wilbur/How, p. 378 f. und 587. So Tung Pi-wu in: Wales, op. cit., p. 42. Vgl. Wilbur/How, p. 386. Dokumente über die Konferenz der Parteimitglieder von Wuchang, Hanyang und Hsiak'o vom 2 4 . 2 . 1 9 2 7 , in: „Kuo-wen chou-pao" vom 1.5.1927. Vgl. hierzu: Wilbur/How, ibid. f. und T'ang, Revolution, p. 262. Rede Chiangs in Nanch'ang vom 21. 2.1927, in: KMWH, Bd. XVI, p. 10—17. Wilbur/How, p. 528.

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IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen

Chiang

Freundschaft zwischen China und der UdSSR, auf die er, Chiang, großen Wert lege, durch ihr Verhalten bedrohten112. Die sowjetische Position in China sollte personell durch die Ankunft eines neuen Komintern-Delegierten verstärkt werden, des Inders Μ. N. Roy, der die Einhaltung der China-Resolutionen des EKKI zu überwachen hatte. Roy geriet bald in einen Gegensatz zu Borodin, weil er die Unabhängigkeit der K C T stärker betonte, während jener weiterhin an der Politik des Blocks von innen festhielt und sich darum bemühte, alle Belastungen des linken Flügels der KMT durch allzu massive Aktionen der Kommunisten zu vermeiden. Schon am 27. Februar schlug Roy in einem von ihm verfaßten Aufruf der KCT und einer Reihe von Massenorganisationen in Kanton wesentlich schärfere Töne an, als man sie bisher von den Kommunisten gewohnt war113. Diese stellten jetzt Vorwürfe, daß Chiang von Nanch'ang aus sowohl mit Chang Tso-lin als auch mit den Japanern Verhandlungen aufgenommen habe, in den Mittelpunkt ihrer Agitation114. Tatsächlich liegen aus japanischen Quellen Hinweise darüber vor, daß durch die Vermittlung des Pekinger Diplomaten Huang Fu Gespräche zwischen Chiang und dem Direktor des Vertragsbüros im japanischen Außenamt, Sadao Saburi, stattfanden115, doch haben "Wilbur und How überzeugend nachgewiesen, daß keinerlei Beweise für die Behauptung ins Feld geführt werden könne, es seien schon damals geheime Abmachungen zwischen Chiang und Vertretern der Mächte getroffen worden116. Vom 10. bis zum 17. März 1927 trat nun in Wuhan das 3. Plenum des II. 2EK der KMT zusammen117. Der linke Flügel dominierte hier abso112

113 114

115 118 117

Rede Chiangs im Hauptquartier in Nanch'ang vom 7. 3. 1927, in: „Ch'ing-tang yün-tung (Die Parteisäuberungs-Bewegung)", o. O. 1927,p . 19—26. North/Eudin, Dokument 3, p. 150—155. So vor allem: Ch'en Tu-hsiu, „Innere Konflikte der K M T und die chinesische Revolution", in: „Hsiang-tao chou-pao" vom 6. 3. 1927. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 389 f. Wilbur/How, p. 528. ibid., p. 390 f. Zum folgenden Absatz: Resolution des 3. Plenums des II. Z E K der K M T zur Vereinigung der Parteiführung, in: K M W H , Bd. X V I , p. 18 f.; Organisationsstatut des Militärrates vom März 1927, ibid., p. 1 9 — 2 2 ; K M W H , Bd. X X I I , p. 2 0 8 ; K M T Chronik, Bd. I, p. 426 f.; „Min-kuo jih-pao", Wuhan, und „The People's Tribune", Wuhan, Ausgaben vom 8. bis zum 22. März 1927. Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 397 ff. und 533 f.; T'ang, Revolution, p. 263 f., Isaacs, op. cit., p. 127 f.; Liu, op. cit., p. 39 f.; North/Eudin, p. 53; und: Chou Mu-chia, Hsin Chung-kuo fa-chan shih (Geschichte der Entwicklung des neuen China, Shanghai, 1939, p. 114).

Koalition gegen Chiang

Kai-shek

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lut. Man beschloß, die bisher von Chiang besetzte Position des Vorsitzenden des ZEK, ebenso wie diejenigen des Vorsitzenden der Nationalregierung und des P R abzuschaffen und kollektive Vorstände an die Spitze aller Leitungsorgane der K M T zu stellen. Chiang hatte sich bereitgefunden, in einem Telegramm an das Plenum vom 15. März seinen Rücktritt von den genannten Ämtern bekanntzugeben 118 ; er selbst nahm an der Konferenz jedoch nicht teil. Der im Sommer 1926 abgeschaffte Militärrat wurde wieder eingerichtet; er sollte hinfort aus sechs Mitgliedern oder Kandidaten des Z E K und neun leitenden Militärs bestehen, und in seinem Präsidium mußten mindestens drei Angehörige der zivilen Parteiorgane vertreten sein. Zentrum der Macht wurde das „Präsidium des P R " (Chengchih wei-yüan-hui chu-hsi t'uan), in das man Wang Ching-wei, T'an Yenk'ai, Sun K'e, Ku Meng-yü, Hsü Ch'ien, Dr. Sung Tzu-wen und den Kommunisten T'an P'ing-shan wählte. Von den insgesamt 16 Mitgliedern des P R konnten zehn zum linken Flügel gerechnet werden, vier waren Gemäßigte und zwei gehörten der K C T an. Der Ständige Ausschuß des Nationalregierungs-Rates bestand aus vier Vertretern der Linken und einem Gemäßigten 119 . Zum erstenmal wurde die K C T offiziell an der Regierungsverantwortung beteiligt: T'an P'ing-shan übernahm das neu geschaffene Landwirtschaftsministerium und der kommunistische Gewerkschaftsführer Su Chao-cheng das Arbeitsministerium. Damit nahm die N a tionalregierung den Charakter einer Zwei-Parteien-Koalition an, da die beiden kommunistischen Minister offiziell als Vertreter der K C T berufen wurden. Außerdem gründete man drei weitere neue Ministerien, eines für Erziehung unter Ku Meng-yü, eines für Industrie unter Ch'en Kung-po und eines für öffentliche Gesundheit unter Frau Sun Yat-sen. Chiang blieb zwar Mitglied des Ständigen Ausschusses des ZEK, des P R , des Präsidiums des Militärrates und des Nationalregierungs-Rates, man wählte ihn jedoch nicht in das Präsidium des P R , und seine Funktionen als Oberbefehlshaber der N R A wurden erheblich beschnitten. Seine Anhänger Chang Ching-chiang und Ch'en Kuo-fu tauchten nicht einmal mehr im Nationalregierungs-Rat auf, der jetzt auf 28 Mitglieder erweitert wurde; außerdem mußte Ch'en die Leitung der Organisationsabteilung beim Z E K an Wang Ching-wei abgeben. So schien der Sieg des linken Flügels der K M T über die Anhänger Chiangs vollständig zu sein. Dieser hatte jedoch inzwischen bedeutsame

118

Englischer Text in: „The People's Tribune", Wuhan, v. 15. 3. 1927.

119

Wang Ching-wei, T'an Yen-k'ai, Hsü Ch'ien, Sun K'e und Dr. Sung Tzu-wen.

186

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen

Chiang

militärische Erfolge erzielt, die sein Prestige erheblich erhöhten und ihm eine neue Machtbasis verschafften. Schon Ende Dezember 1926 begannen im Süden der Provinz Chekiang von neuem Kämpfe mit den Truppen Sun Ch'uan-fangs. Dieser unternahm vom 26. Dezember an den Versuch, die N R A nach Fukien zurückzutreiben 120 , doch sein Angriff scheiterte, und Ende Januar 1927 ging die N R A zur Gegenoffensive vor. Chiang konzipierte seinen Vorstoß nach Osten als eine große Zangenbewegung. Das 6. und 7. Armeekorps griffen südlich und nördlich des Yangtzu flußabwärts in Richtung auf Nanking an, während das 1. Armeekorps und Teile der Kuangsi-Truppen unter Pai Ch'ung-hsi durch Chekiang auf Shanghai vorgehen sollten. Den Oberbefehl über die hier als „östliche Feldarmee" (Tung-lu-chün) zusammengefaßten Einheiten übernahm Ho Ying-ch'in, während Pai die Fronttruppen führte 121 . Schon Ende Februar war ganz Chekiang in der Hand der NRA 1 2 2 , die hier dafür sorgte, daß auch die Zivilverwaltung von zuverlässigen Anhängern Chiangs übernommen wurde: In Hangchou bildete sich bereits am 1. März ein „provisorischer P R " für Chekiang, dessen Vorsitz Chang Ching-chiang übernahm. Seit dem September 1926 hatte in Shanghai die Aktivität der Gewerkschaftsbewegung noch einmal beträchtlich zugenommen 123 . Während eine ununterbrochene Serie meist erfolgreicher Streiks einen Teil der ausländischen Fabriken lahmlegte, rangen zwei Gruppen um die Führung der Arbeiterbewegung in der Stadt: das lokale Komitee der K C T , als dessen aktivste Mitglieder Li Li-san und Ch'ü Ch'iu-pai hervortraten und das KMT-Parteibüro unter der Leitung von Chiangs Freund Niu Yung-chierr". Obgleich in den Gewerkschaften der Einfluß der Kommunisten eindeutig überwog, gab es audi dort einige anti-kommunistische Gruppen, vor allem unter den Postangestellten und den Arbeitern der Maschinenfabriken 124 . In der zweiten Oktoberhälfte 1926 planten Mitglieder der K M T und unzufriedene Militärs in Chekiang einen Aufstand gegen Sun Ch'uan-fang, und Niu hatte die Absicht, mit ihrer Aktion eine Arbeitererhebung in Shanghai zu koordinieren, die auf seinem Befehl hin am 24. Oktober ausbrach, aber 120 Telegramm H o Ying-ch'ins an Chiang vom 26. 12. 1926 (KMT-Archiv). 121

So Pai Ch'ung-hsi im Interview mit dem Verfasser in Taipei am 11. September 1964.

122

Telegramm H o Ying-ch'ins an Chiang vom 19. 2. 1927 (KMT-Archiv).

123 Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 130 f. 124 vgl. Ma, op. cit., Bd. II, p. 637 ff. und Isaacs, p. 142 ff. und 175 f. Isaacs bezeichnet wiederum die KMT-Gewerksdiaftler als „Gangster".

Koalition gegen Chiang Kai-shek

187

schnell niedergeschlagen wurde, weil der Aufstandsversuch in Chekiang bereits gescheitert war 125 . Als nun die Truppen Chiangs Hangchou eroberten, schlugen die Gewerkschaften in Shanghai erneut los. Am 19. Februar begann in der ganzen Stadt ein Generalstreik, an dem sich mindestens 350.000 Arbeiter beteiligten. Vom 21. Februar an tobten vier Tage lang Straßenkämpfe zwischen bewaffneten Arbeitermilizen und den Truppen Suns126. Doch der Aufstand wurde wiederum blutig niedergeschlagen. Während der Kämpfe zwischen den meist von Kommunisten geführten Arbeitermilizen und den Soldaten der Militärmachthaber in Shanghai blieb die Vorhut der N R A unter der Führung Pai Ch'ung-hsis untätig in der Nähe von Hangchou stehen, was zu bitteren Protesten der Gewerkschaften beim Oberbefehlshaber der N R A führte. Die vielfach ausgesprochene Annahme, daß die Armee abwarten wollte, bis sich die Kommunisten und ihre Anhänger in Shanghai verblutet hätten, scheint nicht unberechtigt zu sein. Es hätte den Truppen Pais kaum allzu große Schwierigkeiten bereitet, die etwa 300 km von Hangchou bis Shanghai in einem schnellen Vorstoß zu überwinden, zumal die Bahnlinie dort intakt war und die Verbände Suns der NRA kaum noch Widerstand leisteten. Pai selbst erklärte 1964 sein Zögern damit, daß unter seinen Truppen die kommunistische Agitation zu jener Zeit sehr stark gewesen sei und er deshalb befürchten mußte, daß seine Soldaten beim Vormarsch auf Shanghai der offiziellen militärischen Führung entgleiten und zu den Gewerkschaften übergehen würden 127 . Inzwischen bemühte sich Chiang zunächst darum, die in Shanghai stationierte Marine unter der Führung des Admirals Yang Shu-chuang für die KMT zu gewinnen. Dies war von besonderer Bedeutung, weil sie das große Arsenal von Lunghua kontrollierte. Schon am 25. November 1926 forderte Chiang in einem Telegramm an die Nationalregierung die Summe von 350.000 Yüan, um „die dringendsten Bedürfnisse der Marine zu befriedigen" 128 . Am 30. Dezember wurde H o Ying-ch'in offiziell mit der Führung der Verhandlungen beauftragt. Jetzt boten auch Sun Ch'uan-fang und Chang Tso-lin erhebliche Geldsummen, doch Chiang gelanges offenbar, noch mehr zu zahlen129; denn am 14. März ging die Marine endgültig zur KMT 125

ibid., p. 131. H o Shen, „Drei chinesische Aufstände", in: Hsien-tai shih-liao, Bd. III, p. 169 ff. Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 133—136. 127 So Pai Ch'ung-hsi im Interview mit dem Verfasser am 11. 9. 1964. 128 Telegramm Chiangs an die Nationalregierung vom 2 5 . 1 1 . 1 9 2 6 , in: KMWH, Bd. X I V , p. 535. 12» Telegramm Chiangs an H o Ying-ch'in vom 3 0 . 1 2 . 1 9 2 6 , ibid., p. 544. 128

188

IV. Kapitel:

„Nordfeldzug'

und Kampf

der Linken gegen

Chiang

über und sicherte sofort die gesamten Bestände des Lunghua-Arsenals für die N R A . Damit war Chiangs Stellung so gestärkt, daß er jetzt die Offensive wieder aufnehmen konnte. Pai Ch'ung-hsis Truppen stießen von Süden her auf Shanghai vor und erreichten am 20. März Lunghua. Dort blieben sie allerdings auf Bitten des Shanghaier KMT-Büros noch einmal stehen, weil Niu Yung-chien Hoffnungen hegte, daß der Stadtkommandant von Shanghai kampflos zur N R A übergehen würde130. Doch am nächsten Morgen, am 21. März, erhoben sich in der Stadt von neuem die jetzt nahezu ausschließlich von Kommunisten geführten und inzwischen weit besser organisierten Arbeitermilizen, und sie eroberten noch am selben Tage die ganze Stadt, mit Ausnahme der „Internationalen Siedlung" und der französischen Konzession, die man ungeschoren ließ. So war Shanghai bereits in der Hand der Gewerkschaftsverbände, als am Abend des 22. März die stark von der K C T durchsetzte 1. Division der N R A unter dem Kommando von General Hsüeh Yüeh* in die Stadt einzog131. Auch der Vorstoß auf Nanking, der vor allem vom 6. Armeekorps unter Ch'eng Ch'ien durchgeführt wurde, hatte unterdessen Erfolg. Am 24. März zogen die Soldaten der N R A in die Stadt ein. Hier kam es jedoch zu jenem Konflikt mit den Mächten, den Chiang unbedingt vermeiden wollte. Am Nachmittag des 24. März begannen Leute, die zum Teil Uniformen der N R A trugen und von denen Augenzeugen berichteten, sie hätten Hunan-Dialekt gesprochen — also vermutlich Angehörige des 6. Armeekorps —, die Häuser von Ausländern, vor allem Briten, zu plündern und in Brand zu stecken und schwere Ausschreitungen gegen Ausländer zu unternehmen. Die auf dem Yangtzu vor der Stadt ankernden amerikanischen Kriegsschiffe eröffneten daraufhin das Feuer und setzten Marine-Infanterie an Land, um den Schutz der Ausländer zu übernehmen. Truppen der N R A gelang es, im Laufe der Nacht und am Morgen des 25. März die Unruhen niederzuschlagen. Das Außenministerium in Wuhan entsandte eine Untersuchungskommission, die aber keine eindeutige Erklärung für den Zwischenfall finden konnte. Zwei Interpretationen standen einander gegenüber: Wuhan behauptete, die Ausschreitungen seien von 130

131

Isaacs, op. cit., p. 137, dessen Angaben von Pai Ch'ung-hsi im Interview mit dem Verfasser bestätigt wurden. ibid., p. 137—141. Eine romanhafte Sdiilderung, die manche Einzelheiten der Ereignisse in Shanghai im März und April 1927 in dichterischer Freiheit verändert, andere wieder sehr korrekt wiedergibt und vor allem ein außerordentlich plastisches Bild der Stimmung in der Stadt gibt, findet sich bei: Andre Malraux, La Condition Humaine, deutsche Fassung: So lebt der Mensch, Fischer-Bücherei Nr. 257, Frankfurt/Main—Hamburg 1959.

Koalition

gegen Chiang

Kai-shek

189

marodierenden Soldaten der Militärmachthaber begangen worden, während Chiang und seine Anhänger die Kommunisten zu Schuldigen erklärten. Diese hätten, so wird behauptet, einen Konflikt zwischen der N R A und den Mächten provozieren wollen, um Chiangs Offensive auf Shanghai zu hintertreiben. Die heute vorliegenden Berichte berechtigen zu der Annahme, daß die zweite Version eher zutreffe, zumal es in den am Yangtzu stationierten Verbänden der Militärmachthaber keine Soldaten aus der Provinz Hunan gab, wohl aber die meisten Kommunisten im 6. Armeekorps von dort stammten132. Am 31. März entschuldigte sich Außenminister Dr. Ch'en offiziell bei den Vertretern der Mächte in Wuhan, wies aber zugleich darauf hin, daß die Beschießung der Stadt durch Kriegsschiffe schweres Unrecht darstelle. Während nur ein Ausländer von den Marodeuren ermordet worden sei, seien über hundert Chinesen der Beschießung zum Opfer gefallen133. Die Reaktion der Mächte auf den Zwischenfall von Nanking ließ erneut darauf schließen, daß diese sich jetzt darum bemühten, zur KMT ein besseres Verhältnis zu gewinnen. Zwar entschuldigte man sich nicht für die Beschießung der Stadt, man ergriff aber auch keine weiteren militärischen Maßnahmen, wie dies noch ein Jahr früher mit Sicherheit geschehen wäre. Am 29. März verhandelte der amerikanische Gesandte in China, MacMurray, mit dem japanischen Gesandten Yoshizawa und dem Vertreter Großbritanniens, Lampson. Dabei schlug Lampson vor, der Regierung in Wuhan die Regelung des Zwischenfalls zu überlassen, während Yoshizawa anregte, man solle sich an Chiang als Oberbefehlshaber der NRA wenden, da dieser eher in der Lage sei, die Schuldigen zu bestrafen. Schließlich einigte man sich darauf, der Regierung in Wuhan und Chiang gleichzeitig die Forderung der Mächte zur Beilegung des Konfliktes zu überreichen, was am 11. April geschah134. Der Verlauf dieser Konsulta132

Bericht Ch'eng Ch'iens über den Nanking-Zwischenfall vom 25. 3. 1927, in: „Tungfang tsa-chih" (Magazin des Ostens), Shanghai, vom 10. 4. 1927 und in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 236 f. Die Texte der westlichen N o t e n finden sich in: Great Britain, Foreign Office, China N o . 4 (1927): Papers Relating to the Nanking Incident of March, 24 and 2 5 , 1 9 2 7 , London 1927; und: Dass., China N o . 1 (1928): Papers Relating to the Settlement of the Nanking Incident of March 24, 1927, London 1928. Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit. p. 144 f.; Wilbur/How, p. 390; Chiang, op. cit., p. 68 f. und: Warren Kuo, „The CCP Intrigue in the Northward Expedition", Teil II, in: „Issues and Studies", T'aipei, 1. Jahrg. Nr. 10 vom Juli 1965, p. 33—35. 133 Telegramm von Außenminister Dr. Ch'en Yu-jen an Chiang vom 31. März 1927 (KMT-Archiv). 134

So: Wilbur/How, p. 528 f., gestützt auf eine Reihe amerikanischer diplomatischer Berichte aus dem Archiv des State Department, die im Text nachgewiesen sind.

190

IV. Kapitel: „Nordfeldzug"

und Kampf der Linken gegen Chiang

tionen der Mächte läßt darauf schließen, daß Japan sich Ende März 1927 bereits dazu entschlossen hatte, Chiang gegen Wuhan zu stützen, während Großbritannien noch stärkeres Interesse an Wuhan hatte. Die Haltung Japans wird verständlich, wenn man berücksichtigt, daß Chiang zu jener Zeit durch Mittelsmänner bereits Kontakte zu Tokio aufgenommen hatte, und daß der japanische Nachrichtendienst offenbar schon von Plänen Chiangs, das Bündnis mit den Kommunisten zu lösen, wußte. Chiang ging es darum, eine Intervention der Mächte am Yangtzu, durch die der Nordfeldzug unterbrochen worden wäre, unter allen Umständen zu vermeiden und sich gleichzeitig durch die Herstellung eines besseren Verhältnisses zu Großbritannien, den USA und Japan jenen außenpolitischen Spielraum zu verschaffen, dessen er für eine Trennung von Moskau bedurfte. Am 26. März traf er selbst in Shanghai ein, das immer noch unter der Kontrolle der bewaffneten Arbeitermilizen stand, in deren Führungsgremien einige Leute seine Ermordung planten 135 . Dennoch bewegte er sich frei in der Stadt und nahm Verbindung mit den gemäßigten KMTKreisen auf, deren leitende Persönlichkeiten, unter ihnen vor allem Wu Chih-hui, Ts'ai Yüan-p'ei und Hu Han-min, sich in Shanghai versammelt hatten. In wenigen Tagen organisierte sich hier das Zentrum der KMT, das zum rechten Flügel der „Westberggruppe" ebenso im Gegensatz stand wie zur Führung des linken Flügels in Wuhan. Von der Linken unterschied sich diese Gruppe, die sich jetzt eindeutig hinter Chiang stellte, dadurch, daß sie den Bruch mit den Kommunisten verlangte, von der Rechten hingegen trennte sie die Anerkennung der Beschlüsse des II. Parteikongresses der KMT, an dem die „Westberggruppe" nicht mehr teilgenommen hatte. Die Theorie des KMT-Zentrums wurde von der Auffassung Tai Chi-t'aos bestimmt, daß die chinesische Revolution ausschließlich der Verwirklichung der Drei Grundlehren vom Volk dienen solle. Ihr konkretes politisches Programm richtete sich zuerst auf die Wiederherstellung der nationalen Einheit Chinas. Erst nachdem sie erreicht sein würde, sollten innen- und sozialpolitische Reformen durchgeführt und die Abschaffung der ungleichen Verträge erkämpft werden. Hauptgegner waren für das KMT-Zentrum nicht die „Imperialisten", sondern die Militärmachthaber. Mit diesem Programm bereiteten sich Chiang und seine Anhänger jetzt in Shanghai und Nanking auf den endgültigen Bruch mit den Kommunisten vor.

135

Isaacs, op. cit., p. 142.

V. Kapitel Der Bruch der KMT mit den Kommunisten Die Aktion vom 12. April 1927 Bereits vor dem Einzug Chiang Kai-sheks in Shanghai kam es in dem von dessen Truppen besetzten Gebiet zu vereinzelten Aktionen gegen die von der K C T geführten Parteizellen und Massenorganisationen, vor allem gegen Gewerkschaftsverbände. So wurde am 17. März 1927 in Nanch'ang das Stadtbüro der K M T von Soldaten besetzt, man verhaftete Mitglieder der K C T und löste die lokalen Gewerkschaften sowie den Studentenverband auf 1 . Am gleichen Tage fanden auch in Chiukiang Aktionen antikommunistischer Arbeiterverbände und des Militärs gegen die Büros der Massenorganisationen statt, wobei es zu Feuergefechten kam 2 . So begann eine Folge von Ereignissen, welche die Entwicklung der politischen Situation in China für zwei Jahrzehnte maßgeblich beeinflussen sollten. Zunächst stellte sich die Lage der KMT-Linken und der K C T weitaus günstiger dar als diejenige, in der Chiang sich mit seinen Anhänger befand. Die militärischen Verbände seiner Gegner waren stärker als die ihm ergebenen Einheiten der NRA, in Hunan und Süd-Hupei wurden die Dörfer von den Bauernverbänden, die unter dem Einfluß der K C T standen, kontrolliert, Shanghai befand sich in der Hand bewaffneter kommunistischer Arbeitermilizen. In der Stadt standen nur 3.000 Soldaten von Chiangs 1. Division unter General Hsüeh Yüeh, und unter ihnen waren viele Kommunisten, die audi das Offizierskorps dieses Verbandes durchsetzt hatten 3 . Die Politische Abteilung der in der Mehrheit aus HuangpuKadetten bestehenden 2. Division, welche die Eisenbahnlinie ShanghaiNanking kontrollierte, wurde von KCT-Mitgliedern beherrscht, obgleich die kämpfende Truppe hier für Chiang als verläßlich gelten konnte. Ganz 1 2

3

Isaacs, op. cit., p. 143. ibid., p. 144; und: „North China Herald" vom 2. 4 . 1 9 2 7 , auf den sidi Isaacs ebenfalls stützt. ibid., p. 146 und 170 f.

192

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den Kommunisten

sicher waren ihm jedoch nur die 20. Division unter Liu Shih* und die von Pai Ch'ung-hsi geführten Kuangsi-Truppen, die das Arsenal vonLunghua kontrollierten 4 . Doch bei den Kommunisten bestand erhebliche Unklarheit über die jetzt einzuschlagende politische Linie. Einig waren sie sich im Grunde nur darüber, daß es für sie von Vorteil wäre, wenn es ihnen gelänge, einen offenen Konflikt zwischen den im unteren Yangtzu-Tal stehenden Armeen Chiangs und den Mächten herbeizuführen, und daß es gelte, sich intensiv einer stärkeren Infiltration der N R A zu widmen. Gemeinsames Ziel blieb dabei die schrittweise Übernahme der Führung der chinesischen Revolution aus den Händen der KMT. Aber über die Methoden, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte, standen die unterschiedlichsten Meinungen einander gegenüber. Die Thesen des 7. EKKI-Plenums, in denen gleichzeitig die Erhaltung des „Blocks von innen" mit der ganzen KMT, die Stärkung des linken Flügels der nationalistischen Einheitspartei, die Bewaffnung der „armen und mittleren Bauern", die Durchführung von Agrarreformen und der weitere Aufbau der von den Kommunisten geführten Arbeiterbewegung gefordert wurde 5 , hatten die Lage keineswegs geklärt. Zwar war die wohl bedeutsamste Entscheidung jener Komintern-Konferenz deutlich genug: Das Bündnis mit der KMT sollte fortgesetzt werden, um diese immer stärker unter kommunistischen Einfluß zu bringen. Aber in China gab es die unterschiedlichsten Interpretationen darüber, wie dies zu geschehen hätte. Das Fernostbiiro der Komintern, das unter Grigori Woitinskis Leitung in Shanghai arbeitete, versuchte, audi Chiang Kai-shek in der Allianz festzuhalten und verlangte daher von der Shanghaier Arbeiterbewegung, sie solle der N R A die Kontrolle der Stadt überlassen. Borodin setzte ganz auf die Führungsgruppe in Wuhan, die unter seiner leitenden Mitwirkung zustande gekommen war, und wollte die KMT-Linke gegen Chiang stärken. Ihm folgten in dieser Auffassung vor allem T'an P'ing-shan und andere Vertreter der KCT in der Wuhaner KMT-Führung. Inzwischen befand sich jedoch eine neue Delegation der Komintern, der unter der Führung von Μ. Ν. Roy, Jacques Doriot, Tom Mann und Earl Browder angehörten, auf der Reise von Kanton nach Wuhan, wo sie, von 4

Angaben H o Ying-di'ins im Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964 in T'aipei, ähnlich auch: Isaacs, ibid.

5

North/Eudin, p. 39. Vgl. hierzu: ibid., Dokument 1, p. 131—145; Brandt, op. cit., p. 99 f. und Schwartz, op. cit., p. 59 f.

Die Aktion vom 12. April 1927

193

Pawel Mif erwartet, am 1. April eintraf. Roy drängte darauf, die Übernahme der Führung in der KMT durch die Kommunisten zu beschleunigen und zu diesem Zweck die Massenorganisationen zu verstärken und die Bauern zu bewaffnen. Eine Delegation der Kommunistische Jugendinternationale in Shanghai — Nassonow, Fokin und Albrecht — empfahl, in dieser Stadt die Massenbewegung als „Gegengift" gegen den rechten Flügel der KMT energisch anzufachen. Der Generalsekretär der KCT, Ch'en Tu-hsiu, arbeitete darauf hin, schrittweise die organisatorische Selbstständigkeit der Partei von der KMT wiederzugewinnen, wollte aber zunächst das Bündnis noch nicht auflösen. Eine vor allem von Ch'ü Ch'iu-pai, Li Li-san und Chang Kuo-t'ao geführte Fraktion innerhalb der K C T schließlich schlug vor, man solle auf „revolutionärem Wege", also wohl durch Aktionen der Bauernverbände, Gewerkschaften und der von den Kommunisten beeinflußten Militäreinheiten, die Führung in der KMT übernehmen®. Auch der linke Flügel der KMT in Wuhan war sich nicht einig, wie man vorgehen solle. Hsü Ch'ien, Frau Sun Yat-sen, Teng Yen-ta und T'ang Sheng-chih empfahlen, alle Kräfte auf den Kampf gegen Chiang zu konzentrieren und diesen aus der Partei und der Führung der NRA zu verdrängen. Die Mehrheit der Führungsgruppe in Wuhan wollte jedoch zunächst die Rückkehr Wang Ching-weis abwarten, bevor man irgend etwas unternahm. Sie hoffte, es werde Wang gelingen, Chiang aus der Verbindurig mit Wu Chih-hui, Chang Ching-chiang und Ts'ai Yüan-p'ei zu lösen und ihn zum Gehorsam gegenüber der Parteiautorität zu veranlassen7. Neben der Unklarheit und Unentschlossenheit in den Reihen seiner Gegner gab es für Chiang trotz aller Schwächen seiner Position in Shanghai noch eine Reihe weiterer positiver Aspekte. 6

Die Literatur zu den unterschiedlichen Auffassungen über die Chinapolitik in den Jahren 1926/27 im Lager der Kommunisten ist so umfangreich, daß hier nur auf einige der wichtigsten Stellungnahmen hingewiesen werden kann. Abgesehen von den Äußerungen der Akteure selbst, die durchweg apologetischer oder polemischer Natur sind und sich deshalb oft widersprechen — so ζ. B. Stalin, Trotzki, Μ. N. Roy, Ch'en Tu-hsiu, Ch'ü Ch'iu-pai und Ts'ai Ho-shen — sei vor allem hingewiesen auf: Sdiwartz, op. cit., p. 4 8 — 8 5 ; Wilbur/How, p. 401—403 und 4 6 0 — 4 6 5 ; North/Eudin, p. 4 4 — 6 4 ; Brandt, op. cit., p. 102—118 und 154—178; Warren Kuo, op. cit., passim; und: Isaacs, op. cit., insbesondere p. 157—172. Isaacs erwähnt allerdings bei seiner Beurteilung der Haltung der Kominterndelegation Μ. N. Roy fast gar nicht, obgleich dieser sie leitete.

7

Diese Auffassung wird deutlidi bei: T'ang, Revolution, p. 265 ff.

13

Domes

194

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

In vielen lokalen Parteiorganisationen, vor allen in den Provinzen Kuangtung, Fukien, Chekiang, Kiangsu und Anhui, aber selbst an manchen Orten im unmittelbaren Herrschaftsbereich Wuhans, war trotz der kommunistischen Infiltrationstätigkeit seit Anfang 1927 der Einfluß antikommunistischer Kräfte im Wachsen begriffen. Schon am 26. Januar 1927 hatte das ZK der KCT in einem „Politischen Bericht" für die Botschaft der UdSSR in Peking darauf hingewiesen, daß „der rechte Flügel der KMT täglich stärker wird" 8 . In diesem Zusammenhang wird man berücksichtigen müssen, daß trotz der Erfolge der K C T in den Massenorganisationen die Mitgliedschaft der KMT immer noch mindestens zur Hälfte aus Familienoberhäuptern bestand, die aus den Resten der Honoratiorenschicht und aus Kreisen der städtischen Kaufleute und Handwerker sowie des Großbürgertums kamen 0 . Außerdem waren gerade im Yangtzu-Tal die Geheimgesellschaften, die maßgeblichen Anteil am Entstehen der revolutionären Bewegung in China gehabt hatten 10 und zu denen Chiang enge Verbindungen unterhielt, sehr stark und gut organisiert. Alle diese Kräfte waren der KCT gegenüber skeptisch, teilweise sogar feindlich gesonnen. Bisher hatte ihnen jedoch die Führung gefehlt, die Chiang anbieten konnte, wenn er gegen die Kommunisten vorging. Hinzu kam, daß die chinesischen Industriellen, Großkaufleute und Bankiers in Shanghai, von denen viele aus Chiangs Heimatprovinz Chekiang stammten, bereit waren, ihn zu unterstützen. Schon am 4. April brachten sie eine Zahlung in Höhe von 3 Millionen Yüan und wenige Tage später eine weitere von 7 Millionen Yüan für seine Truppen auf, nach manchen Quellen insgesamt in den ersten Tagen des April sogar 15 Millionen Yüan 11 . Schließlich zeigte es sich, daß die Mächte offenbar bereit waren, auf eine Intervention gegen das weitere Vorrücken der von Chiang geführten Teile der NRA zu verzichten und damit die Stellung der gemäßigten Kräfte in der KMT stärkten 12 . Der Oberbefehlshaber der NRA nutzte diese Hal8

8

10 11

12

Chinesischer Text u. a. in: K M W H XV, p. 45—48. Englischer Text: Wilbur/How, Dokument 48, p. 432. Vgl. hierzu: North/Eudin, p. 48 f. „Bericht über die Herkunft der Parteimitglieder", erstattet von der Organisationsabteilung beim ZEK der KMT an den Ständigen Ausschuß des ZEK, vom Juni 1926 (KMT-Archiv). Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 142 f. und T'ang, Revolution, p. 4—9. Isaacs, op. cit., p. 151 f., gestützt auf „China Weekly Review" vom 9. 4. 1927 und „New York Times" vom 15. 4. 1927. Vgl. die Zitate aus der westlichen Presse in Shanghai, ibid., p. 150.

Die Aktion vom 12. April 1927

195

tung mit erheblichem Geschick: ohne die Forderung nach der Abschaffung der ungleichen Verträge zu modifizieren, betonte er in einer Serie von Interviews mit westlichen Journalisten — vor allem am 31. März — sein Interesse an einer „Verständigung auf der Grundlage der Gleichberechtigung und gegenseitigen Freundschaft" 13 . Es bot sich ihm auch ein organisatorisches Instrument, mit dessen Hilfe er seine geplante Aktion gegen die Kommunisten innerhalb der K M T vorantreiben konnte: die 2 K K der Partei, die maßgeblich von Wu Chih-hui, Ts'ai Yüan-p'ei, Chang Ching-chiang und Li Shih-tseng beeinflußt wurde. Diese vier KMT-Politiker und ihr Kollege Ku Ying-fen versammelten sich bereits am 28. März in Shanghai zu einer ZKK-Konferenz, auf der Wu Chih-hui den Antrag stellte, die Kommission solle zu einer „Bewegung für den Schutz der Partei und die Rettung der Nation" (Hu-tang chiu-kuo yün-tung) aufrufen; Borodin und die anderen Sowjetberater seien zu entlassen und die KCT-Mitglieder aus der K M T auszuschließen. Wu, dem Ch'en Tu-hsiu auf einer KCT-Versammlung am 27. März mit der Bemerkung, China werde in 20 Jahren kommunistisch sein, einen brauchbaren Vorwand in die Hand gespielt hatte, nahm so das alte Programm der „Westberg-Konferenz" vom November 1925 auf. Außerdem schlug er vor, die Z K K solle vorläufig, bis nämlich die „Säuberung" der Partei von den Kommunisten beendet sei, die Funktionen des Z E K mit übernehmen. Die fünf versammelten ZKK-Mitglieder einigten sich schnell auf dieses Programm, da aber kein Quorum der insgesamt elf Vertreter umfassenden Kommission erreicht war, berief man auf den 2. April eine neue Sitzung nach Shanghai ein 14 . Unterdessen begann Chiang, sich schrittweise die Kontrolle über Shanghai zu sichern. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft in der Stadt, am 28. März, verhängte er den Ausnahmezustand und verbot „unautorisierten Personen" den Waffenbesitz. Die Polizei wurde zuverlässigen Offizieren aus seiner Umgebung unterstellt und Pai Ch'ung-hsi zum Garnisonkommandanten von Shanghai ernannt 15 . Am 30. und 31. März ließ er audi 15 14

So ζ. B. zitiert in „North China Herald" vom 2. 4 . 1 9 2 7 . Protokoll der Konferenz von Mitgliedern der Z K K der K M T in Shanghai am 28. 3. 1927, in: K M W H , Bd. X V I I , p. 128 f.

15

Proklamation des Oberbefehlshabers der N R A nahmezustandes in Shanghai vom

28. März

über die Verhängung des Aus-

1927

(KMT-Archiv).

Vgl.

hierzu:

Isaacs, op. cit., p. 152. Pai Ch'ung-hsi erklärte dem Verfasser im Interview am 11. September 1964 in T'aipei, daß er schon an jenem Tage von Chiang mit dem ausdrücklichen Auftrag ernannt worden sei, eine Aktion gegen die kommunistisch geführten Arbeitermilizen und Gewerkschaften vorzubereiten. 13»

196

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

in der Hauptstadt Chekiangs, Hangchou, die Büros der von Kommunisten geführten Gewerkschaften besetzen und deren Führer verhaften. Als die K C T daraufhin einen Generalstreik in Hangchou proklamierte, fanden sich nur die Postangestellten bereit, diesem Aufruf Folge zu leisten16. Gleichzeitig betonte Chiang jedoch in Interviews mit Pressekorrespondenten am 27. März, es gäbe keine Spaltung in der KMT, und es werde sie auch in Zukunft nicht geben17; und am 28. März versicherte er einem Vertreter der „Prawda", daß er „ohne jeden Vorbehalt die Autorität des ZEK in Wuhan" anerkenne 18 . Offenbar hoffte Chiang in jenen Tage, es werde ihm gelingen, Wang Ching-wei für den Bruch mit den Kommunisten zu gewinnen und mit dessen Hilfe die überwiegende Mehrheit der KMT zur Unterstützung seines Vorgehens zu veranlassen. Wang kam am 1. April aus Europa in Shanghai an, und schon am 2. April traf er im Shanghaier Haus Sung Tzu-wens, wo er sein Quartier aufgeschlagen hatte, mit Chiang, Wu Chih-hui, Chang Ching-chiang und Li Shih-tseng zusammen. Der Oberbefehlshaber der NRA führte bewegte Klage über die Führungsgruppe in Wuhan, vor allem aber über Hsü Ch'ien, und schlug vor, man solle zwar das Bündnis mit der UdSSR aufrechterhalten, aber Borodin nach Moskau zurückschicken und die Kommunisten umgehend aus der Partei ausschließen. Wang fragte darauf, auf welche Weise dies denn geschehen könne. Wu antwortete ihm, die ZKK solle die notwendigen Beschlüsse fassen und die militärischen Befehlshaber mit deren Ausführung beauftragen. Dem hielt Wang jedoch entgegen, nach dem Parteistatut müsse das ZEK die Entscheidungen der ZKK bestätigen und ausführen, und er sei nicht bereit, von dieser Regel abzugehen19. Noch am Abend desselben Tages traten unter dem Vorsitz von Ts'ai Yüan-p'ei sechs Mitglieder und zwei Kandidaten der ZKK zu einer offiziellen Sitzung zusammen. Das Quorum war erreicht, und jetzt konnten verbindliche Beschlüsse gefaßt werden. Wu Chih-hui legte der Kommission eine Anklageschrift gegen die KCT vor, deren Kernpunkt die Beschuldigung war, daß die Kommunisten die KMT mißbrauchen wollten, um ihre eigenen Ziele in China zu erreichen. Dies widerspreche aber dem Sun-Joffe16

Isaacs, op. cit., p. 152 f. nach Berichten in der „Hsin-wen pao", Shanghai, vom 5. 4. 1927. 17 ibid., p. 154, dort zitiert: „North China Daily News" vom 28. 3. 1927. 18 ibid., gestützt auf Zitate aus der „Prawda" in „New York Times" vom 1. 4. 1927. Wang Ching-wei, „Wuhans Bruch mit den Kommunisten", Vortrag in der Sun Yatsen-Universität in Kanton am 5. 11. 1927, in: KMWH, X V I , p. 86 f. " Vgl.: T'ang, Revolution, p. 265 f.

Die Aktion vom 12. April 1927

197

Kommunique ebenso wie der Erklärung Li Ta-chaos auf dem I. Parteikongreß 1924, und nur auf Grund dieser beiden Dokumente habe man Mitglieder der K C T in die K M T aufgenommen 20 . Nach kurzer Beratung beschloß die Z K K der K M T einstimmig, die Entscheidungen des Vereinigten Rates und des 3. ZEK-Plenums in Wuhan für ungültig zu erklären, die der K C T angehörenden Mitglieder des Z E K der K M T ihrer Ämter zu entheben, alle Kommunisten aus der K M T auszuschließen und vorübergehend in Shanghai ein eigenes, vom Z E K unabhängiges Sekretariat zu errichten21. Diese Beschlüsse wurden jedoch erst am 10. April der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Zuvor unternahmen Chiang und seine Anhänger noch einen Versuch, Wang Ching-wei für ihre Sache zu gewinnen. Jener sandte am 3. April ein Zirkulartelegramm an alle Befehlshaber der N R A , in dem er die Offiziere aufforderte, Wang unbedingten Gehorsam zu leisten und ihn bei der Durchführung seiner Aufgaben „tatkräftig zu unterstützen" 22 . Wang lehnte jedoch den mit dieser Erklärung angebotenen modus vivendi auf der Grundlage jener Formen der Zusammenarbeit, die sich im Winter 1925/26 in Kanton zwischen den beiden KMT-Führern entwickelt hatten, ab. Er betrachtete Chiangs Telegramm als eine „Amtsanmaßung" und brachte dies auch deutlich in Gesprächen mit leitenden Parteimitgliedern in den folgenden Tagen zum Ausdruck23. Schon am 4. April traf Wang mit dem Generalsekretär der K C T , Ch'en Tu-hsiu, zu Gesprächen über die weitere Zusammenarbeit zwischen K M T und K C T zusammen. Am 5. April veröffentlichten sie eine gemeinsame Erklärung, in der die Einigkeit von K M T und K C T betont wurde. Ch'en behauptete später, die Komintern habe ihn gezwungen, diese Erklärung zu unterschreiben, in der es u. a. heißt: „Die K C T weiß, daß die KMT mit ihren Drei Grundlehren vom Volk genau das ist, was die chinesische Revolution braucht. Nur wer den Vormarsch der Revolution nidit

20

Antrag Wu Ching-hengs (Chih-huis) an die Z K K vom 2. April 1927, in: K M W H , Bd. I X , p. 95—100.

21

Protokoll der Sitzung der Z K K der K M T in Shanghai am 2. April 1927, in: KMWH, Bd. X V I I , p. 129—132. Die Beschlüsse dieser Sitzung werden erst am 10. April veröffentlicht: Offener Brief der Z K K an das Z E K über die Kontrolle der Kommunisten, in: KMWH, Bd. I X , p. 100 f.

22

23

Vgl. hierzu: Wilbur/How, p. 10 f. Zirkulartelegramm Chiangs vom 3. April 1927, in: KMWH, Bd. X V I , p. 25 f. Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 154 f. und T'ang, Revolution, p. 266. ibid.

198

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

will, möchte die KMT und die Drei Grundlehren vom Volk beseitigen. Die KCT, ganz gleich welche Fehler sie auch sonst begangen haben mag, hat niemals daran gedacht, ihre Freundespartei, die KMT . . . niederzuschlagen, um dem Feind zu helfen . . . . . . Die Mehrheit der KMT-Mitglieder wird, solange sie die Revolutionstheorie der K C T und deren aufrechte Haltung gegenüber der KMT versteht, Dr. Suns Politik des Bündnisses mit den Kommunisten nicht in Zweifel ziehen. . . . das höchste Organ der KMT hat durch die Resolution seines letzten Plenums der ganzen Welt gezeigt, daß es nicht die geringste Absicht hat, eine Freundespartei auszuschließen und Gewerkschaften zu unterdrücken. Die militärischen Führer in Shanghai haben ihren Gehorsam gegenüber den zentralen Behörden der KMT proklamiert. Selbst wenn es einige Meinungsverschiedenheiten und Mißverständnisse gibt, so werden sie schließlich beigelegt werden können 24 ."

Wu Chih-hui und die anderen Mitglieder der ZKK gaben trotz der Veröffentlichung dieser Erklärung ihren Versuch, Wang für sich zu gewinnen, noch nicht auf. Inzwischen hatten sie ein neues Argument gefunden: In Nanch'ang stürmten am 2. April Gewerkschaftler unter der Führung von KCT-Mitgliedern das Provinzbüro der KMT von Kiangsi und plakatierten die Parole „Nieder mit den Drei Grundlehren vom Volk!" (Ta-tao san-min-chu-yi!). Dies veranlaßte am 3. April Chu P'eite und Li Lieh-chün, mit dem Militär gegen die Kommunisten in Nanch'ang vorzugehen25. Daraufhin unternahmen Wu Chih-hui, Ts'ai Yüan-p'ei und Li Shih-tseng einen neuen Vorstoß bei Wang. Sie beschwerten sich über „mißverständliche Formulierungen" in der Wang-Ch'en-Erklärung und forderten Wang noch einmal auf, der Ausführung der ZKK-Beschlüsse vom 2. April zuzustimmen 28 . Wang lehnte dies zwar ab, fand sich jetzt aber dazu bereit, die Einberufung eines 4. Plenums des II. ZEK und ZKK der KMT, auf dem alle Probleme in der Partei geregelt werden sollten, für den 15. April nach Nanking zuzusagen27. Die Einberufung dieser Konferenz in Nanking wurde von Wang am 6. April in einer RundfunkM

Chinesischer Text in: „Hsin-wen pao" vom 5. 4. 1927; „Kuo-wen chou-pao" vom I. 5.1927 und in: KMWH, Bd. XVI, p. 26—28. Englisch bei: Warren Kuo, op. cit., II, Anhang II, p. 49 f. Vgl. hierzu: North/Eudin, p. 58; Wilbur/How, p. 11; Schwanz op. cit., p. 60; Brandt, op. cit., p. 119; Tong, op. cit., p. 83; T'ang, Revolution, p. 267; und: Isaacs, op. cit., p. 165. North und Eudin datieren allerdings fälschlich auf den 6. April. iS Zirkulartelegramm Li Lieh-chüns, Chu P'eit-tes u. a. vom 3. 4. 1927, in: KMWH, Bd. XVI, p. 25. 28 Bericht über die Konferenz von Mitgliedern der ZKK und des ZEK der KMT in Shanghai am 5. April 1927, in: „Kuo-wen chou-pao" vom 1. 5. 1927 und in: KCTDokumente, Bd. I, p. 272 f. " „Kuo-wen chou-pao", ibid.; Ch'ing-tang yün-tung, op. cit., p. 33 f. Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 267 und Ders., Wang, p. 147.

Die Aktion vom 12. April 1927

199

rede öffentlich vorgeschlagen28, und noch am selben Tage reiste er nach Wuhan ab, wo er am 10. April eintraf. Dort hatte schon am 8. April der Ständige Ausschuß des ZEK beschlossen, die Parteizentrale und den Sitz der Nationalregierung nach Nanking zu verlegen2®. So schien noch einmal eine Möglichkeit zur Einigung zu bestehen. Unterdessen aber entschlossen sich Chiang und das Zentrum der KMT in Shanghai, auch ohne Wangs Unterstützung zu handeln. Diese Entscheidung wurde durch eine Aktion Chang Tso-lins gegen die Botschaft der UdSSR in Peking am 6. April beeinflußt. Soldaten der Nordregierung drangen in das Botschaftsgebäude ein, verhafteten dort den KCT-Führer Li Ta-chao und beschlagnahmten Hunderte von Dokumenten 30 , darunter Niederschriften über das Budget des sowjetischen Nachrichtendienstes in China, Geheimberichte der Sowjetberater bei der KMT und Archivmaterialien der chinesischen Kommunisten. Zwar wurden die ersten dieser Dokumente erst am 20. April veröffentlicht, einige von ihnen, die über die kommunistische Infiltrationsarbeit in der NRA Auskunft gaben, gelangten jedoch Chiang bereits am 9. April zur Kenntnis. Dieser hatte zwar noch am 8. April gegen die Razzia in Peking öffentlich Protest erhoben, benutzte aber jetzt die Gelegenheit, seine Aktion gegen die Kommunisten schneller als bisher voranzutreiben 31 . Schon am 7. und 8. April hatte er die für ihn unzuverlässigen Verbände der 1. Division in Shanghai durch die 20. Division Liu Shihs, Kuangsi-Truppen unter Pai Ch'ung-hsi und das 26. Armeekorps unter Chou Feng-ch'i32 ersetzt und sie mit der Bahn nach Nanking verlegt, wo Li Tsung-jen mit dem 7. Armeekorps bereitstand. Unter dem Schutz von Lis Truppen ließ er am 9. April die kommunistischen Politkommissare und Offiziere in der 1. und 2. Division verhaften 33 , und einen Tag später löste er die von KCT-Mitgliedern beherrschte Politische Abteilung beim Hauptquartier der NRA auf 34 . Damit war es ihm gelungen, in raschen Schlägen den Einfluß der K C T in seinen 28 29

30

31 32 33 34

ibid., p. 268. Protokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK der KMT am 8. April 1927 in Wuhan (KMT-Archiv). Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 269. Die fünfzig bei Wilbur/How, passim, gesammelten englischen Übersetzungen geben Dokumente aus den Funden dieser Razzia wieder. Dazu selbst: ibid., p. 8 ff. Vgl. hierzu: Warren Kuo, op. cit., II, p. 38 ff. und 48 f. Isaacs, op. cit., p. 171. Yin Shih, op. cit., p. 24—30 und Liu, op. cit., p. 47. Zirkulartelegramm Chiangs über die Auflösung der Politischen Abteilung beim Hauptquartier des Oberbefehlshabers der N R A vom 1 0 . 4 . 1 9 2 7 , in: KMWH, Bd. IX, p. 101 f.

200

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

Streitkräften zu eliminieren. Inzwischen hatte am 9. April die Z K K in Shanghai ein Zirkulartelegramm veröffentlicht, in dem alle Beschlüsse des Vereinigten Rates in Wuhan für ungültig erklärt wurden 35 , und zugleich in einem Manifest die Öffentlichkeit aufgerufen, die „Bewegung für den Schutz der Partei und die Rettung der Nation" zu beginnen. Am nächsten Tag übergab die Z K K auch ihre Forderung, alle Kommunisten aus der K C T auszuschließen, der Öffentlichkeit. Jetzt war Chiang zum entscheidenden Schlag gegen die K C T in Shanghai bereit. In den frühen Morgenstunden des 12. April begann er zu handeln: Uberall in der Stadt tauchten bewaffnete Anhänger antikommunistischer Arbeiter- und Gildenverbände auf, welche die Büros und Quartiere der kommunistisch geführten Gewerkschaften und ihrer Arbeitermilizen umstellten, die Kommunisten entwaffneten und festnahmen. Wo Widerstand auftrat, wurde das Militär eingesetzt. Am Nachmittag kontrollierte Chiang die ganze Stadt. Uberall begannen Massenhinrichtungen von Kommunisten und Gewerkschaftlern. Als sich am 13. April die Gewerkschaften endlich zu größeren Demonstrationen aufrafften, wurden diese blutig niedergeschlagen. Im Laufe von zwei Tagen ließ Chiang über 700 Kommunisten und Linksradikale erschießen und 1.200 weitere verhaften. Die Organisation der K C T und der Gewerkschaften in Shanghai wurde liquidiert. Gleichartige Aktionen führte Li Chi-shen am 14. April in Kanton durch, und in den folgenden drei Tagen zerschlug die N R A auch die kommunistischen Parteigruppen und die von ihnen beeinflußten Gewerkschaftsverbände in Hsiamen (Amoy), Shant'ou (Swatow), Ningpo und Fuchou8". Zirkulartelegramm des Z K K der K M T vom 9 . 4 . 1 9 2 7 , in: KMWH, Bd. X V I , p. 29—34. s® Einen ausführlichen, wohldokumentierten, wenn audi in der Tendenz äußerst einseitig gefaßten Bericht über die Aktion Chiangs vom 12. April 1927 gibt Isaacs, op. cit., p. 175—185. Vgl. hierzu audi: North/Eudin, p. 60; T'ang, Revolution, p. 269; Tong, op. cit., p. 84; Schwartz, op. cit., p. 60; Chiang selbst (op. cit., p. 69) widmet seinem Vorgehen ganze zwei Sätze: „Am 12. April entwaffneten die revolutionären Truppen mit Hilfe der lokalen Gewerkschaften und Handelskammern die roten Arbeiter-Streikposten und hielten die kommunistischen Saboteure unter Aufsicht. Erst dann war die Lage in Shanghai endlich wieder unter Kontrolle." Dokumente über die Aktion, deren Härte und Gewalttätigkeit sidi mit derjenigen kommunistischer Aufstände in den folgenden Monaten durchaus messen konnte, sind bis heute kaum verfügbar, wohl aber eine Anzahl von Augenzeugenberichten, die Isaacs zum großen Teil verarbeitet, allerdings auch in vielen Fällen — vorsichtig formuliert — sehr eigenwillig interpretiert hat. In K M W H findet sich nur die Bekanntmachung Pai Ch'ung35

Die Aktion vom 12. April 1927

201

Die Komintern und die Wuhan-Regierung schienen jedoch in den ersten Tagen nach dem 12. April immer nodi auf eine Versöhnung mit Chiang zu hoffen. Dem wollte Roy wohl Rechnung tragen, als er am 13. April in einem Telegramm an Chiang diesen wegen seines Vorgehens nur recht milde kritisierte und ihn gleichzeitig aufforderte, den „Rat" der Komintern-Delegation anzunehmen und die revolutionäre Bewegung nidit zu spalten37. Chiang aber ließ sich nicht mehr auf Kompromisse ein. Schon am 14. April telegraphierte die Z K K an die im Juni 1926 ernannten Mitglieder des Ständigen Ausschusses der Nationalregierung und forderte sie auf, sich nach Nanking zu begeben, wo jetzt der Sitz der Nationalregierung errichtet werde. Die Z K K verwies dabei auf Wang Ching-weis Zusage, daß am 15. April in Nanking das 4. Plenum der Z E K abgehalten werden sollte und verlangte auch von den Mitgliedern der Nationalregierung in Wuhan, nach Nanking zu kommen38. Die gleiche Aufforderung wurde am folgenden Tage auch an die Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Z E K gerichtet, und am 16. April teilte das Sekretariat der Z K K dem Z E K in Wuhan offiziell mit, man habe ein kommunistisches Komplott in der KMT entdeckt3». Mit diesen Aufrufen der Z K K sollte die Bildung einer Gegenregierung, die schon am 17. und 18. April in Nanking vollzogen wurde, legitimiert werden. hsis über die Auflösung der Arbeitermilizen vom 12. April 1927 (Bd. X V I , p. 36). Ein Bericht, der die KMT-Darstellung der Ereignisse wiedergibt und der so mit seiner Einseitigkeit diejenige von Isaacs zu balancieren vermag, findet sich bei: Ma, op. cit., Bd. II, p. 637 ff. Leider liegt er bisher noch nicht in Übersetzungen in westliche Sprachen vor, sie wären als Ergänzung des verbreiteten Bildes, das stark von Isaacs' Darstellung bestimmt ist, zu begrüßen. " Englischer Text des Telegramms bei North/Eudin, p. 60 f., Auszüge auch bei: Isaacs, p. 183. North und Eudin zitieren indirekt eine Behauptung Roys, daß Chiang dies Telegramm nicht beantwortet habe. Das ist jedoch unrichtig. Chiangs telegrafische Antwort vom 22. April, in der er Roy vorwirft, nur eine Seite zu hören, nämlich Wuhan, liegt vor: KCT-Dokumente, Bd. I., p. 289. Sogar noch am 2. Mai sandte Chiang ein Telegramm an Galen nach Wuhan, in dem er diesen von seinen weiteren Plänen für den Nordfeldzug unterrichtete und ihm gleichzeitig für „drei Jahre unschätzbarer Dienste" dankte, ibid., p. 290. 58

Telegramm der Z K K der K M T an den Ständigen Ausschuß der Nationalregierung vom 14. 4. 1927, in: KMWH, Bd. X V I I , p. 135.

'* Telegramm der Z K K an den Ständigen Ausschuß des Z E K der K M T vom 15. 4. 1927, ibid., p. 135 f. und: Brief des Sekretariats der Z K K an das Z E K vom 16. 4. 1927, ibid., p. 136 f.

202

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

Nanking und Wuhan im April und Mai 1927 Am Nachmittag des 17. April versammelten sich in Nanking sechs Mitglieder der ZKK, fünf Vollmitglieder und ein Kandidat des ZEK der KMT 40 zu einer Konferenz, die als „73. und 74. Sitzung des PR des ZEK der KMT" bezeichnet wurde, um die organisatorischen Konsequenzen aus Chiangs Aktion vom 12. April zu ziehen. Sie beschlossen offiziell die,, Verlegung des Sitzes der Nationalregierung" nach Nanking, das mit Wirkung vom 18. April zur „Hauptstadt der Republik China" erklärt wurde. Chiang wurde von ihnen zum Vorsitzenden des Nationalregierungs-Rates gewählt, in den sie insgesamt 24 Mitglieder beriefen. Die Teilnehmer der Nankinger Konferenz waren offenbar darum bemüht, ihrerseits die Spaltung der KMT nicht zu betonen; unter den von ihnen gewählten Mitgliedern des Nationalregierungs-Rates befanden sich acht Persönlichkeiten, die in Wuhan leitende Stellungen einnahmen41. Von den restlichen 16 waren sechs Generale auch auf dem 3. Plenum in Wuhan in den National regierungs-Rat berufen worden; sie gehörten aber jetzt der Nankinger Gruppe an42. In den „Ständigen Ausschuß der Nationalregierung" berief die Konferenz Hu Han-min, Chang Ching-chiang, Dr. Wu Ch'ao-shu und Ku Ying-fen. Alle vier hatten diesem Gremium schon von Juni 1926 bis zum März 1927 offiziell angehört 43 . Man schuf zunächst nur drei Ministerien: für Auswärtige Angelegenheit unter Dr. Wu Ch'ao-shu; für Finanzen unter Ku Ying-fen; und für Militärangelegenheiten unter General Ho Ying-ch'in. Niu Yung-chien wurde zum Generalsekretär der Nationalregierung ernannt. An die Stelle der Abteilungen beim ZEK sollten hinfort ein „Zentrales Propaganda-Komitee" (Chung-yang hsüan-ch'üan wei-yüan-hui) unter dem Vorsitz von Wu Chih-hui und ein „Zentrales Organisationskomi tee" 40

Von der Z K K : Wu Chih-hui, Ts'ai Yüan-p'ei, Chang Ching-chiang, Teng Tse-ju, Li Shih-tseng und Ch'en K u o - f u ; v o m ZEK: Chiang Kai-shek, H u Han-min, Kan Nai-kuang, Pai Wen-wei, Hsiao Fu-ch'eng (Vollmitglieder) und Ch'en Ming-shu (Kandidat).

41

Wang Ching-wei, T'an Yen-k'ai, Sun K'e, Dr. Sung Tzu-wen, H s ü Ch'ien, Y ü Yu-jen, T'ang Shlng-dhih und Chu P'ei-te. Chiang Kai-shek, Li Chi-shen, Ch'eng Ch'ien, Li Tsung-jen, H u a n g Shao-hsiung und Yang Shu-chuang.

42

43

Liste der Mitglieder des Nationalregierungsrates in N a n k i n g vom 1 8 . 4 . 1927, in: K M W H , Bd. X X I I , p. 208.

Nanking und Wuhan im April und Mai 1927

203

(Chung-yang tsu-chih wei-yüan-hui) unter demjenigen Hu Han-mins treten. Wu Chih-hui wurde Leiter des „Allgemeinen Politischen Amtes der NRA" (Kuo-min ke-ming chün tsung-cheng-chih-pu), zu seinem Stellvertreter berief man Ch'en Ming-shu44. Es war jedoch nur in begrenztem Umfange gelungen, die Mitglieder der KMT-Führungsgremien um die neue Regierung in Nanking zu sammeln. Im ganzen schlossen sich 11 der 36 Vollmitglieder und 8 der 48 Kandidaten des ZEK Chiang Kai-shek an45, von der ZKK stellten sich dagegen 8 der 11 Vollmitglieder und 4 der 7 Kandidaten hinter ihn46. Schon am gleichen Tage trat in Wuhan der Ständige Ausschuß des ZEK zusammen und beschloß, alle an der Bildung der Gegenregierung in Nanking beteiligten Parteimitglieder ihrer Ämter zu entheben und aus der KMT auszuschließen47. Auch die Komintern wandte sich jetzt offen gegen Chiang. Während am 16. April die französische Ausgabe ihrer Pressekorrespondenz noch einen Artikel von Ernst Thälmann abgedruckt hatte, in dem die „Illusionen der Imperialisten" über einen Abfall Chiangs von der Einheitsfront zurückgewiesen wurden 48 , erschien am 20. April eine Sonderausgabe desselben Organs mit der Überschrift „Chiang Kai-sheks Verrat" 49 . Am 22. April endlich entschloß sich audi die Komintern-Delegation in Wuhan, einen von Roy entworfenen Aufruf zu veröffentlichen, in dem Chiang zum „Verräter des Volkes und Werkzeug des Imperialismus" erklärt und festgestellt wurde, eine „ganze Klasse", die „FeudalBourgeoisie" — was immer man darunter verstehen sollte — habe „sich gegen die nationale Revolution gewandt" 50 . 44

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Protokolle der 73. und 74. Sitzung des PR des ZEK der KMT in Nanking am 17. April 1927, ibid., p. 171—175. Außer den in Anm. 43 genannten: Ch'eng Ch'ien, Li Chi-shen, Li Lieh-chün, Tai Chi-t'ao, Dr. Wu Ch'ao-shu und Ting Wei-fen (Vollmitglieder); H o Ying-ch'in, Wu T'ieh-ch'eng, Wang Po-eing, Lu Yu-yü, Liu Ting, Chou Fu-hai und Li Chün-p'ei (Kandidaten). Außer den in Anm. 43 genannten: Dr. Wang Ch'ung-hui und Ku Ying-fen (Vollmitglieder) und Li Tsung-jen, Huang Shao-hsiung, Li Fu-lin und Teng Mou-hsiu (Kandidaten). Erklärung des Ständigen Ausschusses des ZEK und KMT, Wuhan, vom 17. 4. 1927, in: „Min-kuo jih-pao", Wuhan, vom 1 8 . 4 . 1 9 2 7 ; Englisch in: „The People's Tribune", Wuhan, vom 19. 4.1927. Vgl.: T'ang, Revolution, p. 269. Ernst Thälmann, „La Revolution Chinoise et les täches du proletariat", in: „La Correspondence Internationale" vom 16. 4. 1927, zitiert bei Isaacs, op. cit., p. 184. ibid., p. 185. Englischer Text bei: North/Eudin, Dokument 8, p. 183—185.

204

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

Damit war die Spaltung der KMT vollzogen. Chiangs Gegenregierung trat am 18. April in Nanking zusammen und versprach in einem Manifest, sie werde die „Nationale Revolution" weiterführen, um die Drei Grundlehren vom Volk zu verwirklichen51. Auf einer Massenversammlung in seiner neuen Hauptstadt verlas der Oberbefehlshaber der N R A am gleichen Tage einen „Brief an das ganze Volk", in dem er seine neue Politik erläuterte. Wie das Sun-Joffe-Kommunique vom 26. Januar 1923 offiziell den Beginn der Zusammenarbeit zwischen der KMT und dem Kommunismus bezeichnet, so symbolisiert dieses Dokument deren Ende. Seine wesentlichsten Absätze seien daher im Wortlaut wiedergegeben: „Seit meiner Vereidigung als Oberbefehlshaber des Nordfeldzuges habe ich zu keiner Zeit persönliche Gefahren berücksichtigt. Das policische Vermächtnis Dr. Sun Yat-sens vor Augen, bin ich mir meiner Pflicht bewußt, die Not der Massen zu lindern und die Revolution einem erfolgreichen Ende entgegenzuführen . . . Während wir aber an der Front gegen unsere Feinde kämpften, wurden in unserem Rücken verräterische Intrigen der Kommunisten entdeckt. Wenn diese Situation von den wahren Anhängern der Kuomintang nicht ernst genommen wird, dann steht nicht nur der Zusammenbruch der gesamten Revolution als Möglichkeit vor uns, sondern darüber hinaus die Vernichtung unserer Nation mitsamt der Kuomintang. Nach schmerzlichen persönlichen Erfahrungen muß ich nunmehr unseren getreuen Parteimitgliedern über die wahre Lage berichten. Im Hinblick auf die gegenwärtige revolutionäre Bewegung bestehen zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas die folgenden grundlegenden Differenzen: Unsere vornehmste Pflicht gilt einer Hebung der Lebensbedingungen der arbeitsamen Massen unserer Bevölkerung. Denn unsere Revolution dient dem Volk. D a die Mehrheit des chinesischen Volkes sich aus Bauern und Arbeitern zusammensetzt, ist die Revolution um ihretwillen unternommen worden. Wenn ihre Not gesteigert anstatt gemildert wird, verliert die Revolution ihren Sinn. Das wichtigste Problem der Gegenwart besteht nun darin, den Bauern und Arbeitern dabei zu helfen, bessere Lebensbedingungen zu erringen und dabei gleichzeitig ihren guten Willen und ihre Unterstützung zu gewinnen. Wenn wir anders handeln, würden wir ihre Feinde sein. Viele unserer politisch kurzsichtigen Genossen haben ein großes Interesse, den Regierungsapparat zu kontrollieren und verkennen dabei die politische Bedeutung der Massen, während die Kommunisten ganz im Gegenteil die Leitung der Massenbewegungen für sich monopolisiert haben. Wir aber dürfen uns um keinen Preis durch die Kommunisten von einer Beteiligung an den Bauern- und Arbeiterbewegungen ausschließen lassen. Um das zu verhindern, müssen die loyalen Parteimitglieder die Bauern und Arbeiter über den Inhalt der Drei Grundlehren vom Volk aufklären . . . Während wir für den großen Zusammenschluß der Bauern, Arbeiter, Kaufleute, Studenten und Soldaten oder, mit anderen Worten, für die Zusammenarbeit aller Klas51

Manifest der Nationalregierung (Nanking) vom 18. 4. 1927, in: „Kuomin cheng-fu kung-pao", Nanking, Nr. 1 vom 1. 5. 1927, auch in: KMWH, Bd. XVI, p. 37 f.

Nanking und Wuhan im April und Mai 1927

205

sen der Bevölkerung eintreten, agitieren die Kommunisten für die Diktatur des Proletariats, die unter den gegenwärtigen Umständen nichts anderes bedeuten kann als eine Art Mob-Herrsdiaft. Wir müssen diesen Unterschied sehr klar erkennen . . . Dr. Sun Yat-sen hat uns gelehrt, daß revolutionäre Methoden in China nur zur Lösung der politischen, nicht aber zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme angewendet werden können. Nachdem in Sowjetrußland Hunderttausende von Menschen (bei dem ersten Versuch zur Einführung einer kommunistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung) getötet worden sind, mußte man dort dennoch zu der Neuen ökonomischen Politik übergehen. Chinas Bevölkerung übersteigt die Rußlands zahlenmäßig um ein Mehrfaches, und wir können es nicht dulden, daß die Kommunisten China zu einem Experimentierfeld des Kommunismus machen und dabei Millionen unserer Brüder sinnlos sterben lassen. Diejenigen unserer Anhänger, die bisher mit den Kommunisten eng zusammengearbeitet haben und sich von ihnen führen ließen, wurden seitens der Kommunistischen Partei Chinas als loyale Revolutionäre betrachtet, während man die anderen als altmodisch und unfähig darstellte. Dadurch, daß die Kommunisten im Zentralen Exekutivkomitee der Partei und in ihren unteren Organisationen die Oberhand gewinnen konnten, haben sie mit der finanziellen Unterstützung einer ausländischen Großmacht sowie unter der Leitung erfahrener ausländischer Berater überall unsere Partei zurückdrängen und ihre Mitglieder entmachten können. Die Kommunisten fürchten nämlich die Macht der reaktionären Provinzgenerale viel weniger als die Kuomintang; sie gilt ihnen deshalb als der Hauptgegner, weil sie ein neues China aufbauen und den Wohlstand des chinesischen Volkes heben will. In den Parlamenten Deutschlands und Frankreichs haben die Kommunisten beispielsweise oft aus dem gleichen Grunde mit Rechtsextremisten zusammengearbeitet und diese Taktik audi in anderen Ländern wiederholt. Denn die Kommunisten haben aus der siegreichen Entwicklung des Nordfeldzuges die Lehre gezogen, daß es leicht sein wird, die reaktionären Provinzgenerale des Nordens aus dem Feld zu schlagen. In dieser Stunde, in der der Sieg der Revolution in Sichtweite gerückt ist, empfinden sie mehr denn je, daß die Kuomintang ihr Hauptgegner ist und nicht die Provinzgeneräle, und haben deshalb ihre Feindseligkeiten vornehmlich gegen uns gerichtet. Auch befürchten ihre ausländischen Berater, von denen die meisten zuvor in der Türkei tätig waren, daß sich im Falle eines frühen Sieges der Kuomintang ihre in der Türkei gemachten Erfahrungen in China wiederholen könnten. Was nun die Frage unserer Außenpolitik betrifft, so ist es die Taktik der nationalrevolutionären Regierung, den Kampf jeweils nur gegen eine der Kolonialmächte zu führen. Obwohl uns alle imperialistischen Mächte verhaßt sind, dürfen wir ihnen dennoch keine Gelegenheit bieten, sich zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen uns zusammenzuschließen. Wir sind einerseits nicht das Werkzeug ausländischer Mächte, dürfen es aber andererseits nicht zulassen, daß China von ausschließlich feindlichen Staaten umgeben wird. In Fragen der auswärtigen Politik vertritt die revolutionäre Regierung das Volk, und das Volk muß seinerseits die Regierung unterstützen. Die Ausschreitungen und Unruhen, die von den chinesischen Kommunisten unternommen worden sind, bringen die Gefahr mit sich, die Bildung einer gegen uns gerichteten vereinigten Koalition der Kolonialmädite herauszufordern, nach deren Entstehung wir dann vollständig auf die Unterstützung einer einzigen besonderen ausländischen Organisation angewiesen wären . . . Es ist richtig, daß Dr. Sun Yat-sen Kommunisten in die Kuomintang aufgenommen hat, jedoch nur als Einzelmitglieder und nicht als geschlossene Partei. Daher bedeutet es eine falsche Auslegung der Tatsachen, wenn die Kommunisten nun von einer „Koali-

206

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den Kommunisten

tion der beiden Parteien" sprechen. D r . Sun Yat-sen verfolgte mit seiner Maßnahme zwei Ziele: erstens die Kommunisten an der Verwirklichung kommunistischer Ideen in China zu hindern, sie zum Glauben an die Drei Grundlehren vom Volk zu bekehren, und zweitens ihnen eine Gelegenheit zur Teilnahme an der nationalen Revolution zu gewähren. Jedoch hat er all das nicht getan, damit die Kommunisten die Macht in unserer Partei an sich reißen, die Politik unserer Partei diktieren und seine Drei Grundlehren vom Volk mißachten. D r . Sun Yat-sens Politik einer Zusammenarbeit mit Rußland war nur denkbar, weil uns Sowjetrußland die „Behandlung unseres Volkes auf der Basis der Gleichberechtigung" versprach. W i r haben den Genossen Borodin nicht dazu eingeladen, den revolutionären Fortschritt unserer Partei zu behindern . . . V o r dem chinesischen Volk liegen jetzt drei alternative Wege in die Zukunft: der eine ist die Rückkehr zu jenem Regime der Provinzgenerale, die Instrumente des ausländischen Imperialismus sind und einander pausenlos um egozentrischer Ziele willen bekämpfen. Der zweite Weg wäre, den chinesischen Kommunisten unter der Direktion einer besonderen ausländischen Organisation (Kommunistische Internationale) Folge zu leisten und ohne Rücksicht auf die bestehenden Umstände eine rote Herrschaft des Terrors und der Zerstörung zu errichten. Der dritte Weg besteht aber darin, Sun Yat-sens Drei Grundlehren vom Volk zu folgen, wodurch sich das Volk durch bewußte politische Aktion selbst befreien und die politische Selbstbestimmung erlangen kann. Wenn unser Volk nicht dazu bereit ist, China dem Regime der Imperialisten und den mit ihnen verbündeten Provinzgeneralen auf der einen Seite oder der roten Schreckensherrschaft auf der anderen Seite zu unterstellen, so muß es der Kuomintang folgen, um die nationale Revolution zu vollenden, das chinesische Volk zu emanzipieren und an der Weltrevolution teilzunehmen 5 2 ."

Mit dieser Erklärung Chiangs begann die „Partei-Säuberungs-Bewegung" in der KMT (Ch'ing-tang yün-tung), die praktisch am 12. April in Shanghai ihren Anfang genommen hatte, jetzt in aller Form. Am 20. April fand in Nanking eine Konferenz aller mit Chiang kooperierenden Militärbefehlshaber statt, die in einem Zirkulartelegramm der Öffentlichkeit mitteilten, daß sie die „Partei-Säuberung" und die Bildung der Nanking-Regierung unterstützten53. Aus diesem Dokument geht hervor, auf welche Einheiten der N R A Chiang sich jetzt stützen konnte: Es waren in Kuangtung die Truppen des 4. und 5. Armeekorps, in Kiangsu, Anhui, Chekiang und Fukien hingegen von den „alten" NRA-Streitkräften das 1., 6., 7., die (neu gebildeten) 33., 40. und 42. Armeekorps und die aus ehemaligen Militärmachthaber-Truppen bestehenden Einheiten des 10., 14., 15., 17., 20., 22., 26., 27. und 37. Armeekorps. Chu P'ei-tes 3. Armeekorps hielt offiziell weiter zu Wuhan, blieb aber mit Chiang in Kontakt. 52

Chinesischer T e x t : ibid., p. 38—48). Deutsche Übersetzung bei: Kindermann, K o n fuzianismus, op. cit., p. 150—153, danach hier zitiert.

33

Zirkulartelegramm von Generalen der N R A vom 20. 4. 1927, in: K M W H , Bd. X V I , p. 4 8 — 5 0 .

Nanking und Wuhan im April und Mai 1927

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Die Wuhan-Regierung wurde jetzt noch vom 2., Teilen des 4. und 11. Armeekorps, den im 8., 9., 35. und 36. Armeekorps organisierten Truppen T'ang Sheng-chihs und den aus Soldaten der Militärmachthaber gebildeten 12., 13., 18., 24., 28. und 30. Armeekorps unterstützt. Die Spaltung ging also auch mitten durch die Armee: Hinter Nanking und Wuhan standen jeweils etwa 150.000 Soldaten der NRA. Den Kern der von Nanking ausgehenden Bewegung gegen die KMTFührung in Wuhan bildeten Chiang mit den ihm eng verbundenen Generalen der alten „Parteiarmee" von 1925, eine Gruppe führender chinesischer Intellektueller um Wu Chih-hui, Ts'ai Yüan-p'ei, Hu Han-min und Tai Chi-t'ao, Chang Ching-chiang mit seinen meist aus der Provinz Chekiang stammenden Anhängern, unter ihnen vor allem die Brüder Ch'en Kuo-fu und Ch'en Li-fu* sowie die Kuangsi-Generale Li Tsungjen und Pai Ch'ung-hsi, deren Verbände einen wesentlichen Teil von Chiangs Streitkräften darstellten. Chiang und seine Anhänger begannen bald, die „Parteisäuberung", systematisch überall in ihrem Herrschaftsbereich zu betreiben54. Am 5. Mai traten die Mitglieder der neuen Parteizentrale mit Vertretern von Provinzorganisationen der KMT in Nanking zu einer Konferenz zusammen, auf der die Methoden der Bewegung festgelegt wurden: Während der Periode der „Parteisäuberung" sollten keine neuen Mitglieder in die KMT aufgenommen werden; erst nach einer dreimonatigen Überprüfungszeit wollte man den bisherigen Mitgliedern neue Parteiausweise ausstellen; „Reaktionäre, Opportunisten, korrupte Beamte und andere verdorbene Elemente" sollten aus der Partei ausgeschlossen werden; und hinfort mußte jedes Mitglied alle 14 Tage seiner Parteizelle einen schriftlichen Bericht über seine Tätigkeit geben, geschah dies drei Monate lang nicht, so drohte der Ausschluß aus der KMT. Teng Tse-ju, Wu Chih-hui und Tuan Hsi-p'eng traten an die Spitze einer „Zentralen Säuberungskommission" (Chung-yang ch'ing-tang weiyüan-hui), welche den Auftrag erhielt, die Richtlinien für die „Säuberung" im einzelnen auszuarbeiten 55 . Dies geschah in einer Proklamation, die am 21. Mai veröffentlicht wurde. Man bestimmte, daß in allen regionalen und lokalen Parteiorganisationen „Säuberungskommissionen" gebildet 54

55

Vgl. hierzu u.a.: Ch'en Hsün-cheng, „Parteisäuberung", in: KMWH, Bd. X V , p. 633—636 und: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 554 f. und 622—642. Dokumente und Einzelberichte zur „Säuberungsbewegung" vor allem in: Ch'ing-tang yün-tung, op. cit., passim, und in: Ke-ming yü fan-ke-ming, op. cit., passim. Chang, op. cit., p. 640 f.

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V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den Kommunisten

werden sollten, die sich vor allem dem Ausschluß der KCT-Mitglieder widmeten, darüber hinaus wollte man aber auch Anhänger der nördlichen Militärmachthaber in der K M T aufspüren und aus der Partei entfernen. Diese Bestimmung gab den „Säuberungs"-Kommissaren Nankings die Möglichkeit, über den Kreis der Kommunisten hinaus mißliebige oder als unzuverlässig angesehene Politiker ebenfalls zum Objekt ihrer Inquisition zu machen. Außerdem diente sie der Absicht Chiangs, seine Zentrums-Position zu betonen. Es muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß die Aktion vom 12. April wesentlich von den gemäßigten Politikern und Militärs des Zentrums der K M T bestimmt wurde. Als außerordentlich folgenreich erwies sich, daß die „Zentrale Säuberungskommission" in ihren Richtlinien den Einsatz von Truppen für den Fall vorsah, daß „reaktionäre Elemente" — also in der Sprache Nankings auch die Kommunisten! — die Bewegung behinderten58. In der Praxis verhaftete man alle bekannten Mitglieder der K C T , deren man habhaft werden konnte, und ließ sie entweder erschießen oder zwang sie zum Austritt aus ihrer Partei. Die lokalen Zweige der Massenorganisationen wurden meist aufgelöst oder der Leitung von KMT-Mitgliedern unterstellt, die als loyal galten, deren organisatorische und propagandistische Fähigkeiten aber oft sehr begrenzt waren. Bis Mitte Juli war die „Säuberungsbewegung" in Kiangsu südlich des Yangtzu, in Chekiang, Fukien und Kuangtung abgeschlossen, die Organisation der K C T in diesen Provinzen zerschlagen und die lokalen Zellen der K M T unter die Kontrolle Nankings gestellt. Es ging also von Anfang an nicht nur um den Ausschluß der Kommunisten aus der nationalistischen Einheitspartei, sondern vielmehr um die Liquidierung der kommunistischen Parteigruppen und die Ausschaltung ihrer Führer. So erließ die Nanking-Regierung im Mai den Befehl, 193 Mitglieder der K C T und der äußersten Linken der K M T zu verhaften, sobald man ihrer habhaft würde, unter ihnen befanden sich außer allen bekannten Kommunisten auch Borodin und von der Wuhan-Gruppe Hsü Ch'ien, Teng Yen-ta und P'eng Tse-min 57 . Die Funktionsfähigkeit von Chiangs Nationalregierung in Nanking hing vor allem davon ab, ob es ihr gelingen würde, genügend finanzielle Mittel zu mobilisieren. Die umfangreichen sowjetischen Kredite, die bisher erhebliche Teile der N R A und des KMT-Apparates getragen hatten, Richtlinien für die Parteisäuberung in der K M T vom 21. 5. 1927, in: KMWH, Bd. XVI, p. 55 f. " ibid., p. 53—55. 56

Nanking und Wuhan im April und Mai 1927

209

fielen seit dem 12. April fort. Ersatz kam von den chinesischen Industriellen und Bankiers in Shanghai, und bald auch indirekt von den Westmächten. Zwischen dem 15. und 25. April brachte das Shanghaier Großbürgertum — allerdings nur unter massivem militärischem Druck — eine „Anleihe" in Höhe von 30 Millionen Yüan auf 58 . Um die gleiche Zeit erhielt die Nanking-Regierung aus den Überschüssen der von den Mächten kontrollierten „Chinesischen Seezollverwaltung" drei Millionen Yüan 59 . Bisher hatten jene regionale Militärmachthaber, die jeweils die Stadt Peking und damit die „Zentralregierung" kontrollierten, die Seezoll-Uberschüsse unter sich teilen können. Die Zahlung an Nanking zeigte an, daß die Mächte zu einer Politik der Unterstützung gemäßigter Kreise in der K M T gegen die Kommunisten übergegangen waren und sich anschickten, die bisher von ihnen unterhaltenen nördlichen Militärmachthaber fallenzulassen. Diese Unterstützung kostete Chiang wenig. E r hatte schon immer betont, daß die K M T nicht „fremdenfeindlich", sondern nur „antiimperialistisch" sei. In den von ihm beherrschten Gebieten wurden deshalb die Ausländer und ihre Missionseinrichtungen geschützt. Dies hinderte ihn und seine Anhänger jedoch nicht daran, weiter für die Abschaffung der ausländischen Sonderrechte in China einzutreten, ein politisches Prinzip, dem er treu blieb, bis es 1943 völlig verwirklicht wurde. Hier ging Chiang den Weg der Revision durch Verhandlungen, nicht denjenigen der „direkten Aktion". Eine wesentliche Vorbedingung für die Abschaffung der ausländischen Sonderrechte war eine moderne, an westlichen Vorbildern orientierte Straf-, Zivil- und Handelsgesetzgebung, beruhte doch das Recht der Extrajurisdiktion theoretisch darauf, daß die Mächte Chinas alte Gesetze als „unzumutbar" für ihre Staatsangehörigen empfanden. Schon kurz nach der Bildung der Nanking-Regierung ging man deshalb daran, die Reform des chinesischen Rechtssystems einzuleiten. Am 7. Mai bildete der Nankinger „ P R " ein „Zentrales Gesetzgebungskomitee" (Chung-yang fa-chih wei-yüan-hui) unter dem Vorsitz Hu Han-mins, das den Auftrag erhielt, Vorlagen für die Reform des Rechtswesens auszuarbeiten 00 . Doch Nanking stand im April und Mai 1927 noch vor weit drängenderen Problemen. 58

Isaacs, op. cit., p. 181 f. und Liu, op. cit., p. 48.



ibid.

60

Richtlinien für die Organisation des Zentralen Legislativkomitees vom 7. 5. 1927, in: K M W H , Bd. X X I I , p. 176. Weitere Mitglieder des Komitees waren u. a.: Ting Wei-fen, Tai Chi-t'ao, Dr. Wu Ch'ao-shu, Niu Yung-chien und Dr. Lo Chia-lun.

14

Domes

210

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

Hierzu gehörte vor allem, daß sich seit dem Ausschluß der Kommunisten aus der KMT ein großer Mangel an zivilen Kadern bemerkbar machte. Die Massenorganisationen, deren Bedeutung für die Revolution auch von Chiang immer wieder betont wurde, waren fast überall in seinem Herrschaftsbereich praktisch aufgelöst. Nur in einigen größeren Städten — so in Kanton, Shanghai, Hangchou, Ningpo und Chiukiang — bestanden noch Gewerkschaften der KMT, die Bauernverbände hingegen liefen allerorts auseinander. Auch viele lokale Parteiorganisationen waren lahmgelegt, weil sich niemand fand, der ihre Leitung übernehmen wollte. Hier machte sich zum ersten Mal eine grundlegende Schwäche der KMT bemerkbar, die sich später verhängnisvoll auswirken sollte: Nach dem Bruch mit den Kommunisten fehlten der Partei hinreichend ausgebildete, zur Organisation und zu wirksamer Propaganda befähigte Kader. Nanking versuchte allerdings, dieser Gefahr zu begegnen. Unter der Leitung der Gebrüder Ch'en und Ting Wei-fens wurde am 20. Mai in der Hauptstadt eine „Zentrale Parteischule" (Chung-yang tang-wu hsüehhsiao) gegründet, auf der in sechs-Monats- und zwei-Jahres-Kursen administrative und politische Kader ausgebildet werden sollten und deren Rektorat Chiang selbst übernahm81. In Wuhan sammelten sich um Wang Ching-wei jene Mitglieder des ZEK, die zum linken Flügel der KMT gehörten, und einige, die man, wie T'an Yen-k'ai, Wang Fa-chin, Sung Tzu-wen und Yü Yu-jen, besser als „linke Mitte" der Partei bezeichnen sollte. Im ganzen unterstützten 15 ZEK-Mitglieder, die nur der KMT angehörten, die Wuhan-Regierung62, hinzu kamen noch sechs der sieben Kommunisten aus dem Führungsgremium der KMT 63 , so daß Wuhan mit 21 von 35 Mitgliedern über ein 61

82

es

Vgl. hierzu: Chang, op. cit., Bd. II, p. 555 f., und: Min-kuo wu-shih-erh-nien kuo-li cheng-chih ta-hsüeh nien-chien (Jahrbuch der Nationalen Chengchih-Universität 1963), T'aipei 1963, p. 7 f. Die „Zentrale Parteischule" erhielt 1929 den Namen „Zentrales Politisches Institut" (Chung-yang cheng-chih hsüeh-hsiao) und wurde gleidizeitig auf Vier-Jahres-Kurse umgestellt. 1947 wurde das Institut dann von der Nationalregierung übernommen und in eine reguläre Universität verwandelt, die bis 1949 in Nanking blieb und die man 1956 in Mushan bei T'aipei mit „Colleges" für Geisteswissenschaften, Politik und Recht, und für Volkswirtschaft wieder eröffnete. Diese Sdiule war von 1929 bis 1949 Hauptausbildungsstätte des politischen und administrativen Nachwuchses der Republik China und galt damals zu Recht als Hochburg der „CC-Clique". Wang Ching-wei, T'an Yen-k'ai, Hsü Ch'ien, Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü, Sun K'e, Sung Tzu-wen, Chen Yu-jen, Frau Sun Yat-sen, Frau Liao Chung-k'ai, Ching Hing-yi, Wang Fa-chin, Yü Yu-jen, Chu Ch'i-hsün und P'eng Tse-min. T'an P'ing-shan, Lin Tsu-han, Wu Yü-chang, Yang Pao-an, Yün Tai-ying und Yü

Nanking

und Wuhan

im April

und Mai

1927

211

Quorum im II. 2 E K der K M T verfügte, das jedoch nur durch die Unterstützung der K C T gesichert war. Die Wuhan-Regierung kontrollierte die Provinzen Hunan und Hupei, und, nachdem sich Chu P'ei-te mit dem 3. Armeekorps unter Vorbehalten auf ihre Seite gestellt hatte, zumindest nominell auch Kiangsi. Die Yangtzu-Provinz Anhui war südlich des Flusses je zur Hälfte von Wuhan- und Nanking-Truppen besetzt. Hier vor allem entstand die Gefahr eines offenen militärischen Zusammenstoßes, die noch dadurch verschärft wurde, daß in Wuhan die Kommunisten und eine Gruppe der KMT-Linken um Frau Sun Yat-sen, Hsü Ch'ien und Teng Yen-ta darauf drängte, zunächst mit allen Kräften Chiang Kai-shek anzugreifen, ehe man den Nordfeldzug fortsetzte 64 . Inzwischen aber waren die von Nord-Hupei aus vorgestoßenen Einheiten der Wuhaner N R A in Honan auf die gut bewaffneten und ausgebildeten Berufssoldaten Chang Tso-lins getroffen und hatten im Kampf mit ihnen schwere Rückschläge erlitten. So entstand die unmittelbare Gefahr einer Offensive der Divisionen Changs gegen Wuhan. Um ihr zu begegnen, besdiloß der Wuhaner P R auf der Sitzung am 19. April, Chiang zunächst nicht anzugreifen, sondern den Nordfeldzug mit einer Offensive entlang der Peking-Hank'ou-Bahn durch Honan und Hopei in Richtung auf Peking fortzusetzen. Zum Oberbefehlshaber der geplanten Operation berief man T'ang Sheng-chih, und die kampffähigen Truppen unter Wuhans Kommando wurden in zwei Armeen — der 1. unter T'ang selbst und der 2. unter dem Kommando Chang Fa-k'ueis — nach Norden in Marsch gesetzt. Chu P'ei-te erhielt den Auftrag, unterdessen in Kiangsi und Anhui gegen Nanking zu sichern65. Am 29. April begann der erneute Angriff der Wuhan-Truppen auf Honan"®. Auch in Nanking hatte man inzwischen den Beschluß gefaßt, den Nordfeldzug fortzusetzen. Chiang gab am 1. Mai die Operationsbefehle an die von ihm geführten Teile der N R A : eine „1. Feldarmee" unter dem Kommando H o Ying-ch'ins sollte über Ch'ingkiang und Yangchou an die Küste vorstoßen und Nord-Kiangsu besetzen, eine „2. Feldarmee", die offiziell vom Oberbefehlshaber selbst, im Felde aber von Pai Ch'ung-hsi geführt wurde, erhielt den Auftrag, entlang der T'ienchin-P'uk'ou-Bahn

64 65

68

14»

Shu-te. Li Tao-chao wurde am 28. April von Soldaten Chang Tso-lins in Peking hingerichtet. Vgl. hierzu: North/Eudin, Dokument 8, p. 185 und T'ang, Revolution, p. 276 f. Beschluß des P R der K M T , Wuhan, zur Wiederaufnahme des Nordfeldzuges vom 19. 4. 1927 (KMT-Archiv). Vgl. hierzu: T'ang, ibid. Ders., Wang, p. 153 f. und: Ch'en Hsün-cheng, „Der Nordfeldzug der westlichen Heeresgruppe an der Peking-Hank'ou-Bahn", in: K M W H , Bd. X V , p. 696—701.

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V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

anzugreifen, während eine „3. Feldarmee" unter Li Tsung-jen von Wuhu aus auf P'engp'u vorzugehen hatte, um sich dort mit Pais Verbänden zum gemeinsamen Angriff auf das vorläufige Hauptziel der Offensive zu vereinen, den bedeutenden Bahnknotenpunkt Hsüchou, an dem sich die T'ienchin-P'uk'ou-Bahn und die Lunghai-Bahn vom Meer nach Loyang kreuzen67. Auf diese Weise schien sich ein Wettlauf der Nanking- und WuhanTruppen auf Peking zu entwickeln. Dabei war das erste Ziel beider Armeen die Lunghai-Bahn, welche Chiang bei Hsüchou, T'ang Sheng-chih aber bei Chengchou erreichen wollten. Dieser hatte es mit Truppen Chang Tsolins selbst zu tun, während die Nanking-Armeen gegen die ShantungArmee unter Chang Tsung-ch'ang kämpfen mußten, deren Rückgrat kampfgewohnte weißrussische Söldnertruppen bildeten. Sie wurde durch die Reste der Verbände Sun Ch'uan-fangs verstärkt, die nach dem Fall von Nanking und Shanghai in Nord-Kiangsu Zuflucht gefunden hatten. Die Schlüsselposition in dieser militärischen Kräftekonstellation nahm die Kuominchün ein, die in Stärke von 150.000 Mann in Shensi und Kansu bereitstand. Feng war, wie wir gesehen hatten, seit dem Sommer 1926 zur Zusammenarbeit mit der KMT bereit, zu der in Nanking jetzt auch der Gouverneur Shansis, Yen Hsi-shan, offizielle Kontakte herzustellen versuchte. Feng wollte zunächst mit Wuhan kooperieren. Dort hatte man den Plan entwickelt, daß die Kuominchün von Tungkuan aus über Loyang auf Chengchou durchbrechen und sich dort mit den Truppen T'ang Sheng-chihs treffen solle. Gleichzeitig wurde erwartet, daß Yen Hsi-shan die Armee Chang Tso-lins durch einen Vorstoß auf Peking von ihrer Basis in Tungpei abschnitte68. Während jedoch dieWuhan-Truppen schon Anfang Mai auf die Hauptmacht Chang Tso-lins trafen, blieb Yen in Shansi stehen, und die Kuominchün begann ihre Offensive erst am 20. Mai mit einem Durchbruch in die Ebene des Huanghe. Unterdessen arbeiteten sich die Verbände T'angs und Chang Fa-k'ueis gegen erbitterten Widerstand langsam entlang der Peking-Hank'ou-Bahn nach Norden vor. Die Entscheidung gegen Chang Tso-lin fiel in der Schlacht bei Chumat'ien, in der Chang Fa-k'uei vom 22. bis zum 28. Mai die Elitetruppen der Tungpei-Armee vernichtend schlug, dabei aber von seinen knapp 70.000 Soldaten über 14.000 an Toten 67

68

Ders., „Kämpfe beim ersten Vorstoß des Nordfeldzuges über den Yangtzu", ibid., p. 636—688 (hier: p. 638 ff. und 681 f.), dort auch Sammlungen bedeutsamer militar i s i e r Telegramme, Marschbefehle usw. Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 277 f.; Isaacs, op. cit., p. 254 und Liu, op. cit., p. 49.

Die Krise in Wuhan im Frühsommer

1927

213

und Verwundeten verlor 69 . Nach dieser Niederlage gab Chang Tso-lin seinen Verbänden den Befehl zum Rückzug hinter den Huanghe. Am 30. Mai besetzte die Kuominchün Chengchou, wo sie sich am 31. mit den von Süden heranrückenden Wuhan-Truppen traf, und am l . J u n i fiel K'aifeng, die Hauptstadt Honans, in die Hände der vereinigten revolutionären Armeen 70 . Ganz Honan war jetzt in der Hand der WuhanK M T , aber die Kämpfe im Mai hatten die Wuhan-Truppen erheblich geschwächt und deshalb trotz aller militärischen Erfolge nicht zur Stärkung des linken Flügels der K M T geführt. Inzwischen erreichten auch die Nanking-Truppen ihre vorläufigen Operationsziele. Am 12. Mai hatte ihre Offensive in Nord-Kiangsu und Anhui begonnen. Am 2. Juni fiel Hsüchou in die Hand der 2. Feldarmee 71 . Ho Ying-ch'ins 1. Feldarmee besetzte am 9. Juni Haichou. Unter dem Eindruck dieser Erfolge der N R A zog sich Chang Tsung-ch'ang mit seinen Soldaten über die Lunghai-Bahn nach Shantung zurück, so daß jetzt ganz Anhui und Kiangsu unter der Kontrolle Nankings standen. Die nördlichen Militärmachthaber, gegen welche die N R A im Juli 1926 von Kuangtung und Kuangsi aus zu Felde gezogen war, beherrschten Anfang Juni 1927 nur noch Hopei, Shantung und die Tungpei-Provinzen. Yen Hsi-shan aber hatte sich am 25. Mai der Nanking-Regierung unterstellt und seine Truppen am 6. Juni als „Nordarmee der N R A " (Kuo-min keming chün pei-fang-chün) in die Nankinger KMT-Streitkräfte eingegliedert 72 . So hatte es den Anschein, als werde Nanking den „Wettlauf auf Peking" gewinnen. Jetzt aber nahm die Krise der K M T und ihrer revolutionären Politik einen so schwerwiegenden Verlauf, daß sich der Sieg im Nordfeldzug um über ein Jahr verzögerte.

Die Krise in Wuhan im Frühsommer

1927

Seit der Rückkehr Wang Ching-weis nach Wuhan am 10. April entstanden auch dort Konflikte der KMT-Führung mit der K C T und den 69

Ein Bericht von der SAlacht findet sich in: „The People's Tribune" vom 19. 6 . 1 9 2 7 . Vgl. hierzu u. a.: Isaacs und T'ang, ibid.

70

Ch'en Hsün-cheng, „Die Nordwest-Armee vereinigt sich mit dem Nordfeldzug im Zentrum Chinas", in: K M W H , Bd. X V , p. 702—714. Telegramm der Politischen Abteilung des 10. Armeekorps über die Eroberung Hsüchous vom 3. 6 . 1 9 2 7 , ibid., p. 695. Telegramm Yen Hsi-shans an die Nationalregierung in Nanking vom 6. Juni 1927 (KMT-Archiv).

71

72

214

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

Sowjetberatern, und zwar vor allem in den Bereichen der auswärtigen Politik, des Verhältnisses zu den Gewerkschaften und der Agrarpolitik. Im Laufe des April hatten sich Auseinandersetzungen zwischen Wuhans Außenminister Dr. Ch'en Yu-jen und Borodin über den gegenüber den Mächten einzuschlagenden Kurs entwickelt. Borodin begann im Laufe des März 1927, auf die Herausbildung einer Entente der UdSSR, Chinas und Japans gegen Großbritannien hinzuarbeiten. Er folgte dabei anscheinend einem Plan, den man damals auch in Moskau ins Auge gefaßt hatte 73 . Ch'en hingegen war seit der Rückgabe der britischen Konzessionen in Hank'ou und Chiukiang eher geneigt, gegenüber Großbritannien eine konziliante Haltung einzunehmen. Diese Politik versuchte Borodin zu durchkreuzen, indem er die K C T veranlaßte, in Wuhan Ausschreitungen gegen Briten und Amerikaner anzufachen. Das Ergebnis solcher Aktionen ließ nicht lange auf sich warten: Am 17. Mai wurde der britische Charge d'affaires aus Wuhan zurückgezogen, ein Schritt, der vermutlich mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und der UdSSR am 26. Mai 1927 zusammenhing74. Doch audi Borodins Versuche, mit Japan in ein besseres Verhältnis zu kommen, hatten keine Aussichten auf Erfolg. Der neue japanische Premierminister, Baron Giichi Tanaka, der am 20. April sein Amt angetreten hatte, kündigte die Rückkehr seines Landes zu einer „aktivistischen" Chinapolitik an75. Seine Regierung war nicht bereit, mit Wuhan zusammenzuarbeiten. So wurde die Führung des linken Flügels der KMT diplomatisch immer mehr isoliert. Gleichzeitig verstärkte sich das militärische Engagement der Mächte im Yangtzu-Tal, allein vor Wuhan ankerten Ende April 35 westliche Kriegsschiffe, darunter ein britischer 10.000-Tonnen-Kreuzer. Wang Ching-wei war über diese Entwicklung, für die er Borodin verantwortlich machte, außerordentlich verärgert. Nach Angaben seines Biographen T'ang Leang-li behandelte man von nun an den leitenden sowjetischen Repräsentanten in Wuhan „nur noch als Ehrengast und nicht mehr als vertrauten Berater" 76 . In der Stadt Wuhan selbst war es seit März zu einer schweren wirtschaftlichen Krise gekommen. Bewaffnete Arbeitermilizen, die das zentralchinesische Industriezentrum kontrollierten, trugen Arbeitskonflikte 73

74 75 75

Vgl. hierzu vor allem: T'ang, Revolution, p. 274—276, audi: Isaacs, op. cit., p. 205 f. „Chinese Correspondence", Wuhan, vom 1. 5. 1927. T'ang, ibid., und: Isaacs, op. cit., p. 206. Vgl. hierzu u. a.: Linebarger u. a., op. cit., p. 413 und 423. T'ang und Isaacs, ibid.

Die Krise in 'Wuhan im Frühsommer

1927

215

aus und schritten schließlich zur gewaltsamen Übernahme von 15 chinesischen Fabriken in Hanyang. Dies führte zu einer verstärkten Kapitalflucht nach Shanghai, die eine Reihe von Bankzusammenbrüchen zur Folge hatte. Außerdem stiegen die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter rapide an, Läden und Fabriken wurden von ihren Besitzern geschlossen, und die Furcht der Bauern vor der Geldentwertung gefährdete die Nahrungsmittelversorgung der Stadt 77 . Angesichts der katastrophalen Arbeitsbedingungen waren die Forderungen der Gewerkschaften gewiß zum größten Teil berechtigt78, aber der Zeitpunkt, zu dem sie gestellt wurden, schien mit großem Ungeschick gewählt worden zu sein, wenn man berücksichtigt, daß die KCT gleichzeitig alles versuchen wollte, um einen Zusammenbruch der Wuhan-Regierung zu verhindern. Am 20. April kam schließlich auf Grund energischer Vorstellungen Wang Ching-weis und auch Borodins eine Übereinkunft zwischen den Parteiführungen der KMT und der KCT über die Regelung von Arbeitskonflikten zustande, deren Bestimmungen von den Kommunisten am 25. April bei der Gewerkschaftsleitung der Provinz Hupei durchgesetzt wurde. Sie sah vor allem für ausländische Unternehmen im Herrschaftsbereich der Wuhan-Regierung Schutzmaßnahmen vor und verlangte von den Arbeitern „strikte revolutionäre Disziplin" 79 . Am 20. Mai endlich trat das Wuhaner ZEK mit einem Manifest an die Öffentlichkeit, in dem es darauf hinwies, daß es „wesentlich von der Unterstützung durch die Kaufleute und Fabrikanten" abhänge, ob die Revolution erfolgreich sein werde. Die Gewerkschaften und Bauernverbände sollten aus diesem Grunde hinfort auf „übertriebene Forderungen" verzichten80. Es entstanden also im Frühjahr 1927 für die KMT-Linke in Wuhan ähnliche Schwierigkeiten mit den kommunistisch geführten Massenorganisationen, wie zuvor schon in Kanton und Shanghai. Auf dem Lande war dies noch deutlicher. Hier nahm die Krise Formen an, an denen schließlich auch die Zusammenarbeit Wuhans mit den Kom77

78 79

60

Vgl. T'ang, ibid., p. 271 und Isaacs, p. 208. Isaacs führt diese Entwicklung der wirtschaftlichen Lage in Wuhan „planvolle Sabotage" durch das Großbürgertum zurück. Der Gedanke, daß Mißwirtschafl infolge dogmatisch-„revolutionärer" Politik die Ursache sein könne, liegt ihm offenbar allzu fern. Vgl. ibid., p. 209 f. Stenografisches Protokoll der 14. Sitzung des PR in Wuhan am 20. April 1927 (KMT-Archiv). Die KCT-Vereinbarung vom 25. April liegt in englischer Übersetzung bei North/Eudin, Dokument 9, p. 186 f., vor. Manifest des ZEK der KMT (Wuhan) über den All-Klassen-Charakter der Revolution vom 2 0 . 5 . 1 9 2 7 , in: „Min-kuo jih-pao" vom 2 1 . 5 . 1 9 2 7 . Englisch in: „The People's Tribune" vom 21. 5.1927 (Auszüge bei: Isaacs, op. cit., p. 211 f.).

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V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

munisten zerbrechen sollte. Seit dem Januar 1927 war Hunan zum Schauplatz einer Bauernbewegung geworden, welche die Grundfesten der herkömmlichen Sozialstrukturen in den Dörfern zu erschüttern begann. Die von den Kommunisten organisierten und geführten Bauernverbände gingen an vielen Orten dazu über, sich gewaltsam in den Besitz des Landes zu setzen. Von ihnen organisierte Bauernwehren übernahmen die Kontrolle in den Dörfern. Hunderte von Grundbesitzern und „reichen Bauern" wurden öffentlich hingerichtet, mehr noch verhaftet 81 . Seit langer Zeit war die Situation der Pächter und Landarbeiter in Hunan und Hupei noch ungünstiger als im übrigen China. So hatten sich Ressentiments angesammelt, die jetzt durch die Propaganda der K C T und der von ihr geführten Bauernverbände freigesetzt wurden. Die Bauernbewegung stellte Wuhan vor ein schwieriges Problem. Da die meisten Offiziere im 8. Armeekorps T'ang Sheng-chihs und anderen bedeutsamen Einheiten der Wuhan-Truppen aus Grundbesitzerfamilien in Hunan stammten, wurde seit April 1927 die Gefahr, diese Verbände und damit wesentliche Teile der Armee zu verlieren, immer größer, vor allem, wenn sich die KMT-Führung entschließen würde, die Bauernbewegung wirksam zu unterstützen. Diese war jedoch trotz ihrer lokalen Stärke in Süd-, Zentral- und Nord-Hunan und in Süd-Hupei im ganzen gesehen selbst im Frühjahr 1927 noch zu schwach, um als wesentliche Kraft der Revolution überall in China eingesetzt werden zu können. Mao Tsetungs „Bericht über eine Untersuchung der Bauernbewegung in Hunan" 81

Vgl. hierzu: Mao Tse-tung, „Hunan nung-min yün-tung k'ao-ch'a pao-kao" (Bericht über eine Untersuchung der Bauernbewegung in Hunan), ursprüngliche Fassung in: „Hsiang-tao chou-pao" vom 20. März 1927, in dieser Fassung auch in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 143—149. Eine an der Originalfassung und nicht an späteren, geänderten Fassungen orientierte deutsche Übersetzung findet sich bei BSF, p. 58—68, sie ist jedoch etwas gekürzt. Vgl. zu diesem Dokument vor allem: Schwartz, op. cit., p. 7 3 — 7 8 ; Schräm, op. cit., p. 29 ff. und: Karl August Wittfogel, „The Legend of,Maoism'", in: „The China Quarterly", 1. Jahrgang, Nr. 1 vom Januar/März 1960, p. 72—86. Zwei einander völlig entgegengesetzte Darstellungen der Bauernbewegung in Hunan geben: Isaacs, op. cit., p. 221—226 und T'ang, Revolution, p. 272 f. T'ang behauptet, in den Bauernverbänden hätten sich die „Vagabunden und Herumtreiber" gesammelt, bei Isaacs unterstützten diese jedoch die Grundherren. Wir stießen auf solche widerstreitenden Interpretationen schon häufiger, die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen. Jedenfalls scheint es dringend an der Zeit, daß in der westlichen Politikwissenschaft eine Versachlichung der bisherigen, im wesentlichen von Isaacs, Chapman und aus Maos Schrift stammenden, Beurteilung der Bauernbewegung in Hunan in Angriff genommen wird. Diese Aufgabe verlangt jedoch eine Monographie.

Die Krise in Wuhan im Friihsommer

1927

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(Hunan nung-min yün-tung k'ao-ch'a pao-kao) vom März 1927 beruhte auf unmittelbaren Eindrücken, die in nur fünf Landkreisen (Hsien) in Nord-Hunan gesammelt wurden und darüber hinaus auf umfassenden Informationen aus sieben weiteren Landkreisen, die meist in Zentral- und Süd-Hunan lagen. Im April 1927 waren in 63 der insgesamt 75 Landkreise Hunans Bauernverbände organisiert. Sie umfaßten 4,5 Millionen Mitglieder und kontrollierten insgesamt rund 10 Millionen Anhänger. In Hupei hatten die Bauernverbände 2,5 Millionen Mitglieder, im ganzen restlichen China zusammen jedoch nur 2,1 Millionen, insgesamt also 9,1 Millionen82. Dies sind Zahlen aus einer Zeit, in der die Bauernbewegung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Dodi selbst damals war der Westen Hunans von ihr fast gar nicht erfaßt 83 , und schon in Süd-Hupei war sie schwächer als in Hunan. In Kuangtung bestanden nur in einigen Landkreisen im Osten der Provinz funktionsfähige Bauernverbände, in Kiangsi und Anhui gab es — außer in einigen wenigen Orten — überhaupt keine Organisationen der Bauern84. So stark die revolutionären Eindrücke, die man in Hunan gewann, audi sein mochten, im ganzen konnte die Bauernbewegung auf absehbare Zeit für Wuhan die Armee im revolutionären Prozeß noch nicht ersetzen. Deswegen sahen sich die KMTLinke und bald audi die KCT genötigt, die Bauern vor einem allzu radikalen Vorgehen zu warnen und die Bewegung zu bremsen. Ihre Versuche, eine Lösung der Agrarprobleme herbeizuführen, blieben im Stadium der einleitenden Diskussionen stecken. Das 3. Plenum des II. ZEK der KMT hatte im März 1927 eine „Landkommission" (T'u-ti 82

83 84

Angaben nach: Hunan nung-min yün-tung-te dien-shih ch'ing-hsing (Die wirkliche Lage der Bauernbewegung in Hunan), hrsg. von der Provinzvereinigung der Bauernverbände Hunans, o. O. (Ch'angsha oder Wuhan) 1927, audi in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 152—161. Diese Schrift, deren Autor nidit bekannt ist, gibt weithin, in einzelnen Sätzen sogar wörtlich, den Bericht Mao Tse-tungs wieder, führt aber mehr Daten an als dieser. Audi: H o Kan-chih, Chung-kuo hsien-tai ke-ming shih (Geschichte der modernen chinesischen Revolution), 1. Aufl. Hongkong 1958, p. 102. KCT-Dokumente, ibid., p. 152. Vgl. hierzu: Ch'ien Hsi, „Kommentar über die Resolution zur Bauernfrage" (auf dem 3. Plenum des II. ZEK der KMT, d. Verf.), in: „Kuo-wen diou-pao" vom 1 0 . 4 . 1 9 2 7 (audi in: KCT-Dokumente Bd. I, p. 168—171); und: Hunan Hupei liang-sheng nung-min yün-tung-te ch'ing-hsing (Die Lage der Bauernbewegung in Hunan und Hupei), Wuhan 1927 (KMT-Archiv), eine kurze Übersicht, vom Standpunkt des linken Flügels der KMT her geschrieben und anscheinend zur Verteilung unter leitenden Parteimitgliedern bestimmt. Diese Schrift erhebt gegen Maos Bericht den Vorwurf, er habe die Bedeutung der Bewegung ganz erheblich übertrieben. Sie selbst versucht sich im Gegenteil. Beide Quellen zusammen aber dürften ein einigermaßen realistisches Bild der Situation vermitteln.

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V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

wei-yüan-hui) eingesetzt, der Hsü-Ch'ien, Ku Meng-yü, Teng Yen-ta und die Kommunisten T'an P'ing-shan und Mao Tse-tung angehörten. Diese Kommission hielt vom 27. April bis zum 9. Mai drei geschlossene und fünf erweiterte Sitzungen ab. An den letzteren beteiligten sich Parteivertreter aus 14 Provinzen Chinas. Man hörte Berichte über die Besitzverteilung in der Landwirtschaft in den verschiedensten Regionen des Landes, ließ sich von Sowjetberatern über die Agrarpolitik der russischen Revolution berichten und diskutierte intensiv die Frage der Lösung des Agrarproblems in China. Schließlich wurde beschlossen, grundsätzlich die Beschlagnahme allen Landbesitzes, der 500 mu (33,3 ha) überstieg, ins Auge zu fassen. Dies sollte jedoch, ebenso wie die geplante Herabsetzung der Pachten auf 25 % der Jahreshaupternte, erst „nach dem endgültigen Sieg der Revolution und der Einigung des Landes" geschehen. Vorläufig gab man sich mit der Festsetzung eines maximalen Pachtzinses auf 40 °/o der Jahreshaupternte zufrieden und versicherte den Offizieren der N R A , daß der Landbesitz ihrer Familien auf keinen Fall beschlagnahmt werden würde, ganz gleich, wie groß er sei85. Es erscheint wichtig, festzustellen, daß diese vorsichtige Agrarpolitik mit den Vorstellungen Sun Yat-sens weitgehend übereinstimmte. Die K M T war audi im Bereich der WuhanRegierung nie eine agrarrevolutionäre, sondern eine agrarreformerische Partei. Wie zu erwarten war, führten die Bauernunruhen in Hunan und Hupei zu Schwierigkeiten Wuhans mit seinen eigenen Streitkräften. Am 13. Mai erhob sich die 14. selbständige Division der N R A unter General Hsia Tou-yin gegen die Regierung der KMT-Linken. Hsia stellte sich in einem Zirkulartelegramm öffentlich auf die Seite Chiangs und marschierte mit seinen Truppen von Westen her auf Wuhan 86 . Schon am 17. Mai erreichten seine Verbände, denen kaum Widerstand entgegengesetzt wurde, die Vororte von Wuch'ang. Versuche der Kommunisten, die Bauern in SüdHupei gegen Hsia zu mobilisieren, schlugen fehl 87 . In Wuhan brach eine 85

86

87

Bericht der Landkommission an das ZEK der KMT vom 9. 5. 1927, in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 163—165. Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 214—216. Isaacs Darstellung der Diskussion ist sehr lebendig, sie nimmt allerdings teilweise romanhafte Formen an und stimmt nicht immer mit dem Bericht überein. So läßt er z.B. Wang Ching-wei und T'an Yen-k'ai sprechen, die an den Sitzungen der Kommission gar nicht teilnahmen. Für solche Fehler sind aber offenbar die von ihm benutzten Quellen verantwortlich, vgl. ibid., p. 356. Zirkulartelegramm Hsia Tou-yins u. a. über die Säuberung Wuhans von Kommunisten, vom 13. Mai 1927, in: KMWH, Bd. X V I , p. 51—53. Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 216 f.; T'ang, Revolution, p. 278 und: North/Eudin, p. 98 ff. Ch'ü Ch'iu-pai, op. cit., p. 112.

Die Komintern

und die KCT im April und Mai 1927

219

Panik aus, und erst den, meist aus linksorientierten Huangpu-Kadetten bestehenden, Truppen des kommunistischen Generals Yeh T'ing gelang es, am 18. Mai den Angriff Hsias am Stadtrand abzuschlagen und ihn nach Westen zurüdkzuwerfen 88 . Zur gleichen Zeit begannen überall in Hupei und Hunan Geheimgesellschaften, die von Grundbesitzern geführt wurden, und antikommunistische Bauerngruppen, gewaltsam gegen die Bauernverbände vorzugehen. Ein wütender Gegenterror entwickelte sich, dem allein in der Provinz Hupei 4.700 Mitglieder der Bauernverbände zum Opfer fielen89. Schließlich rebellierte am 21. Mai auch der Garnisonkommandant von Ch'angsha, Hsü K'e-hsiang, und ging gewaltsam gegen die Gewerkschaften und Bauernverbände vor. In den folgenden Tagen wurden in ganz Zentral-Hunan Mitglieder der K C T und der Bauernverbände in großer Zahl erschossen'0. Die Führung des linken Flügels der KMT sandte ihren Militärbefehlshaber T'ang Sheng-chih nach Ch'angsha, um, wie es hieß, „die Vorgänge zu untersuchen". T'ang erklärte in seinem telegraphischen Bericht an die Wuhan-Regierung am 26. Juni, Hsü habe zwar „die Grenzen von Gesetz und Disziplin überschritten", dies sei aber aus „Passion für die Gerechtigkeit" geschehen, man solle ihn deshalb nur milde bestrafen. Die Bauernverbände hingegen hätten mit ihren Terroraktionen das Vorgehen Hsüs herausgefordert, sie bedürften dringend einer Reorganisation 91 . Der Bericht T'angs, den die KMT-Linke sofort akzeptierte, verschärfte noch deren Konflikt mit den Kommunisten, der zu jener Zeit — Ende Juni — bereits offen ausgebrochen war. Dieser Konflikt entwickelte sich aus einer Wandlung der Politik der Komintern und der KCT gegenüber dem linken Flügel der chinesischen Nationalisten, die sich im Laufe des Mai 1927 abzuzeichnen begann.

Die Komintern

und die KCT im April und Mai 1927

Die Führung der Komintern stand im Frühjahr 1927 unter dem Eindruck der letzten Phase des Machtkampfes zwischen Stalin und Trotzki. Diese Auseinandersetzung bestimmte maßgeblich die Chinapolitik der 88 89 90

91

Vgl. Isaacs, op. cit., p. 216 f. ibid., p. 227 f. Vgl. hierzu: ibid., p. 234 ff.; North/Eudin, p. 101; T'ang, Revolution, p. 273 f. und: Chiang, op. cit., p. 72. Bei Chiang sind die Soldaten Hsü K'e-hsiangs „Bauern". Englischer Wortlaut des Telegramms von T'ang Sheng-chih in: „The People's Tribune" vom 2 9 . 6 . 1 9 2 7 , audi bei: North/Eudin, p. 120 f. Vgl. dazu: Isaacs, op. cit., p. 248 ff. und T'ang, Revolution, p. 274.

220

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

kommunistischen Bewegung. Der Unterschied in den Auffassungen der beiden kommunistischen Führer ist vor allem darin zu sehen, daß bei Trotzki die Mobilisierung der Massen größere Bedeutung hatte als die Politik der Unterstützung der Nationalregierung und des „Blocks von innen", während Stalin die Akzente umgekehrt setzte. Die Kontroverse wird besonders deutlich, wenn man Stalins und Trotzkis Gedanken zur Chinapolitik der Komintern um die Monatswende April/Mai 1927 einander gegenüberstellt. Am 21. April erschien in der „Prawda" ein Artikel Stalins unter dem Titel „Die Fragen der chinesischen Revolution", in dem er betonte, die Ereignisse in Shanghai hätten eindeutig die Korrektheit der Generallinie der Komintern bewiesen. Es gebe jetzt in Südchina zwei Zentren: das „revolutionäre" Zentrum in Wuhan und das „gegenrevolutionäre" in Nanking. Das Großbürgertum habe zusammen mit Chiang Kai-shek das revolutionäre Lager verlassen, und so sei aus einem „VierKlassen-Block" ein „Drei-Klassen-Block" der Arbeiter, Bauern und Kleinbürger geworden. Diesen Block gelte es zu stärken, man solle daher die Arbeiter und Bauern zu seinem Schutz bewaffnen, die Führung der Nationalen Revolution müsse aber weiterhin noch in der Hand des linken Flügels der KMT bleiben. Deshalb könne man wohl die Massenorganisationen weiter ausbauen, die Errichtung von Sowjets (Räten) sei jedoch inopportun; denn die Staatsgewalt liege in der Hand der WuhanRegierung, und die Bildung von Sowjets würde diese nur mit Mißtrauen gegen die Kommunisten erfüllen. Trotzki übergab am 7. Mai der „Prawda" einen Gegenartikel „Die Chinesische Revolution und die Thesen des Genossen Stalin", der jedoch vom Zentralorgan der KPdSU nicht veröffentlicht wurde. In dieser Schrift forderte er, daß jetzt Sowjets der Arbeiter, Bauern und der „städtischen kleinbürgerlichen Massen" die Führung der Revolution übernehmen sollten. Man müsse in China umgehend ein radikales Agrarprogramm durchführen und so einen „echten Bruch mit den Großgrundbesitzern und der Bourgeoisie" herbeiführen. Zwar verlangte auch Trotzki noch nicht unmittelbar das Ausscheiden der K C T aus dem Block der KMT, die von ihm vorgeschlagene Sowjetbewegung hätte aber praktisch die Trennung der chinesischen Kommunisten vom „Block von innen" bedeutet92. Bei den Vertretern der UdSSR und der Komintern in Wuhan hatte sich Stalins Linie durchgesetzt. „Trotzkistische" Töne sind in ihren Argumenten zu jener Zeit kaum festzustellen. Über die Ausführung der von Stalin 92

Vgl. hierzu: Isaacs, op. cit., p. 1 9 0 — 1 9 5 ; North/Eudin, p. 65 und: Trotzki, op. cit., p. 23 ff.

Die Komintern und die KCT im April und Mai 1927

221

bestimmten und vom 7. EKKI-Plenum offiziell festgelegten Generallinie der Chinapolitik kam es jedoch zu einem Konflikt zwischen Borodin und Roy. Jener legte Wert darauf, die KMT-Linke weiter zu unterstützen, man solle sie deshalb auf keinen Fall durch radikale Aktionen der Massenorganisationen Chiang in die Arme treiben, und da es notwendig sei, die Wuhan-Regierung an die Spitze des ganzen Landes zu bringen, müßten militärische Operationen gegen Peking den Vorrang behalten. Roy hingegen wollte vor allem die Arbeiter und Bauern bewaffnen, die agrarrevolutionäre Bewegung verstärken und zunächst Nanking angreifen oder wenigstens Li Chi-shen aus Kuangtung vertreiben, um diese Provinz wieder unter die Kontrolle Wuhans zu bringen93. Brandt hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Roy meinte, er könne sich vor einem größeren Gremium chinesischer Kommunisten eher gegen Borodin durchsetzen, und daß er deshalb Ch'en Tu-hsiu drängte, umgehend den fälligen V. Parteitag der KCT einzuberufen. Dieser, obgleich skeptisch gegenüber Roys Wunsch, gab nach94. Die etwa 80 Delegierten des V. Parteitags, von dem man bedeutsame Entscheidungen für die weitere Politik des chinesischen Kommunismus erwartete85, hielten vom 27. April98 bis zum 9. Mai in Wuhan ihre Sitzungen ab. Die KCT konnte auf eindrucksvolle organisatorische Erfolge hinweisen. Seit dem IV. Parteitag im Januar 1925, also im Laufe von wenig mehr als zwei Jahren, war die Zahl der KCT-Mitglieder von 950 auf 57.900 gestiegen97, zwei Kommunisten hatten Ministerämter der Nationalregierung übernommen, die Partei übte starken Einfluß auf die KMTFührung in Wuhan aus, und in den von ihr geleiteten Massenorganisationen sammelten sich jetzt 12 bis 15 Millionen Chinesen. 9S

North/Eudin, Dokument 5, p. 160—175, und p. 76. Vgl. audi: Brandt, op. cit., p. 119 f. und: Chiang, op. cit., p. 72.

94

Brandt, ibid.

95

Zum Verlauf und den Beschlüssen des V. Parteitages der K C T vgl. u . a . : North/ Eudin, p. 76—83 und Dokumente 10—17, p. 188—274 und 19, p. 2 7 9 — 2 8 2 ; Warren Kuo, „CCP's Fifth National Congress and Opportunism", in: „Issues and Studies", 1. Jahrgang, T e i l l : Nr. 11 vom August 1965, p. 44—50, und Teil II: Nr. 12 vom September 1965, p. 3 4 — 5 7 ; Brandt, op. cit., p. 120—123 und 125; Schwartz, op. cit., p. 73 und Isaacs, op. cit., p. 217 f.

ββ

Warren Kuo (I, p. 47) setzt den offiziellen Beginn des Parteitages mit dem l . M a i an, Brandt (p. 120) spridit vom 28. April. Dagegen datieren North/Eudin, Isaacs und Sdiwartz übereinstimmend den Beginn der Sitzungen auf den 27. April. Dies wird audi durch eine Notiz in der „Min-kuo jih-pao" vom 2 8 . 4 . 1 9 2 7 bestätigt.

97

Vgl. Warren Kuo, ibid.

222

V- Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

Aber diese ansehnliche Fassade täuschte, die K C T war in großer Gefahr. Unter den Schlägen von Chiangs „Säuberungsbewegung" brach ihre Organisation in Shanghai, Kanton und den ostchinesischen Küstenprovinzen zusammen. Hinzu kam, daß die Session des Parteitages von Widersprüchen und Unklarheiten über den jetzt einzuschlagenden Kurs überschattet wurde. Zur Eröffnungssitzung erschienen als Vertreter der KMTFührung T'an Yen-k'ai und Hsü Ch'ien98, und am 4. Mai, dem Tag, an dem Roy seinen Bericht über die Thesen des 7. EKKI-Plenums vortrug, nahm auch Wang Ching-wei an den Diskussionen teil". Die Diskussionen wurden von Ch'en Tu-hsiu mit einem „Politischen Bericht" eingeleitet, in dem er erklärte, die Revolution könne sich in Kanton, Shanghai und auch in Wuhan nur unter größten Schwierigkeiten entwickeln, weil hier die Stellung des Imperialismus und der Bourgeoisie zu stark sei. Deshalb solle man im Nordwesten Chinas eine neue revolutionäre Basis aufbauen, diese zunächst konsolidieren und erst dann die „Hochburgen des Imperialismus" an der Küste von neuem angreifen100. Diese Theorie Ch'ens sollte jedoch nicht in dem Sinne verstanden werden, daß er bereits damals eine Politik vorgeschlagen habe, die von Mao acht Jahre später durchgeführt wurde. Er setzte seine Hoffnungen vielmehr auf Feng Yühsiang, den er für einen „wahrhaft revolutionären" General hielt. Ch'en konnte sich mit seiner Auffassung gegen Roy, der ihm am 30. April lebhaft widersprach101, nicht durchsetzen. Dieser wiederum mußte auch von seiner Forderung, sofort auf eigene Faust zur Verstaatlichung des Landbesitzes zu schreiten, abgehen, weil die K C T nicht das Mißtrauen der KMT erwecken wollte102. In ihrer Darstellung der Diskussionen des Parteitages haben North und Eudin zum Ausdruck gebracht, daß hier die entscheidende Konzession Roys zu suchen sei. Sie weisen darauf hin, daß seit dem II. Kongreß der Komintern ein Widerspruch zwischen den Versuchen bestand, in Asien Revolutionen „von oben" — also in Zusammenarbeit mit nationalistischen Regierungen — oder „von unten" — in Zusammenarbeit mit organisierten Massen — zum Sieg zu führen103. Audi der V. Partei98

North/Eudin, p. 76.

99

ibid. und p. 231, audi: Kuo, op. cit., I, p. 47 f. Wang erstattete noch am gleichen Tage der KMT-Führung über seine Eindrücke vom Parteitag der K C T Beritht (Stenografisches Protokoll der 18. Sitzung des P R in Wuhan am 4. Mai 1927 — K M T Archiv).

100

North/Eudin, op. cit., p. 76.

101

Vgl. ibid., Dokument 10, p. 190 ff.

102

Vgl. ibid., p. 81, Dokument 12, p. 229 und 13, p. 231 f.

103

ibid., p. 5 f., 13 und 81.

Die Komintern und die KCT im April und Mai 1927

223

tag der K C T zog den ersten Weg vor. Man wollte die K M T eines Tages ganz unter Kontrolle bekommen. Um sie jedoch in Sicherheit zu wiegen, ehe man dies erreichen konnte, zog man es vor, vorläufig auf die Durchsetzung radikaler Maßnahmen zu verzichten. Diese Grundentscheidung wird in den Beschlüssen des Parteitages deutlich, die in drei Dokumenten niedergelegt wurden, den „Thesen zur politischen Lage und über die Aufgaben der K C T " , einer „Resolution zur Agrarfrage" und dem „Manifest des V. Parteitages der KCT" 1 0 4 . Die „Thesen" bestätigten, daß die Politik der Unterstützung des Nordfeldzuges korrekt gewesen sei, die Partei jedoch die Rolle des Großbürgertums überschätzt und diejenige des Kleinbürgertums zu gering bewertet habe. Man hätte in dem Maße, in dem sich die Revolution „verbreiterte", den Klassenkampf in den Städten und Dörfern „vertiefen" müssen. Dies solle jetzt unbedingt geschehen, und deshalb gelte es, radikale Agrarreformen in die Wege zu leiten. Der Landbesitz müsse aus diesem Grunde verstaatlicht und seine gleichmäßige Verteilung sichergestellt werden. Andererseits beschloß man jedoch, diese radikal anmutende Grundentscheidung dadurch zu modifizieren, daß man den Besitz kleiner Grundeigentümer und der Offiziere der „revolutionären Armee" von der Beschlagnahme ausnehmen wollte105. Edgar Snow hat später Mao Tse-tungs Behauptung zitiert, daß ein von diesem ausgearbeitetes Agrarprogramm dem Parteitag nicht zur Diskussion vorgelegt worden sei, man habe über konkrete Maßnahmen zur Lösung der Agrarfrage überhaupt nicht gesprochen. Dies trifft jedoch nicht zu. Der Parteitag verabschiedete vielmehr im Rahmen seiner „Resolution zur Agrarfrage" ein „Agrarprogramm der Nationalen Revolution", in dem die Beschlagnahme allen Landbesitzes der Tempel, Kirchen, Ahnenverehrungsgemeinschaften und Schulen sowie des gesamten Pachtlandes, abgesehen vom Besitz der Offiziere, gefordert wurde106. Roy faßte die 104

„Thesen zur politischen Lage und über die Aufgaben der K C T " , Englische Übersetzung: ibid., Dokument

15, p. 2 4 3 — 2 5 3 ;

„Resolution

zur Agrarfrage":

ibid.,

Dokument 16, p. 2 5 4 — 2 6 3 ; „Manifest des V.Parteitages der K C T " : ibid., Dokument 17, p. 2 6 4 — 2 7 4 . Auszüge in Englisch audi bei Warren Kuo, op. cit., I, p. 4 7 — 5 0 . Kuo behauptet in Obereinstimmung mit H o , op. cit., p. 108 f., der Parteitag habe kein Manifest erlassen, und bringt stattdessen eine Botschaft des Parteitages zum 1. Mai in Auszügen in Englisch: ibid., II, p. 56 f. (Anhang). Die Edition bei North/Eudin erscheint jedoch als ausreichend dokumentiert, so daß man davon ausgehen kann, daß alle drei dort in englischen Übersetzungen

zugänglichen

sächlich verabschiedet wurden. 103

Diese Zusammenfassung folgt vor allem North/Eudin, p. 81 f.

106

ibid., Dokument 16, p. 262, gegen: Snow, op. cit., p. 161 f.

Dokumente

tat-

224

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

Ergebnisse des Parteitages in einer Rede vor dem wiedergewählten Generalsekretär Ch'en Tu-hsiu und den Mitgliedern des neuen ZK der KCT in drei Losungen zusammen: »Nieder mit dem Imperialismus!": dies bleibe das Ziel der chinesischen Revolution; „Es lebe die revolutionäre Allianz des Proletariats, der Bauernschaft und des Kleinbürgertums!"; „Es lebe die KMT, das Organ der demokratischen Diktatur dieser drei Klassen!": die KCT hielt also an der Allianz mit Wuhan vorläufig weiter fest107. Die Praxis, die sich aus diesen Parteitagsbeschlüssen ergab, war weit weniger radikal, als ihre Formulierungen den Anschein gaben. Borodin trat weiterhin energisch für die Unterstützung der KMT ein. Während des Parteitages stand Ch'en Tu-hsiu völlig auf seiner Seite. Aber selbst diejenigen Parteiführer, von denen man eine radikalere Politik hätte erwarten können, traten jetzt für die von Moskau empfohlene Generallinie ein. So nahm Ch'ü Ch'iu-pai davon Abstand, oppositionelle Thesen zu vertreten 108 . Li Li-san hielt sich sogar etwas „rechts" von der Moskauer Linie, er gestand später, jedoch noch vor seinem Sturz, daß er die Thesen des 7. EKKI-Plenums „nicht völlig verstanden" habe109. Selbst Mao Tsetung machte hier keine Ausnahme. Sein „Hunan-Bericht" vom März hatte auf eine Radikalisierung der kommunistischen Agrarpolitik gedrängt. Man muß aber davor warnen, die aktuelle Bedeutung dieses Dokuments zu überschätzen. Es ist zwar von hohem literarischem Wert und gibt gewiß auch manchen Aufschluß über einen Teil der damaligen Überlegungen Maos, aber Berichte dieser Art kamen zu jener Zeit nicht selten bei der Parteizentrale in Wuhan an. Daß Maos Schrift stärkere Publizität erhielt als andere Dokumente ähnlichen Inhalts, ist vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, daß er zu jener Zeit als Vollmitglied des ZK der KCT in besonderem Maße für die Organisation der Bauernverbände verantwortlich war. Schon im Mai hatte er sich völlig an die zurückhaltende Politik der Parteiführung gegenüber der Bauernbewegung angepaßt. Kurz nach dem V.Parteitag stellte man ihn an die Spitze eines neu gegründeten „Allchinesischen Bauernverbandes" (Ch'üan-kuo nung-min lien-he-hui), der die Aufgabe 107

North/Eudin, Dokument 18, p. 278.

108 Vgl. hierzu: Li Ang, op. cit., p. 16 f., dem Schwartz, op. cit., p. 69 ff., zustimmt. 109 Li Li-san, „Lehren der Großen Chinesischen Revolution", Vorwort zu: Kung-di'an kuo-dii tui Chung-kuo ke-ming diüeh-yi-an (Resolutionen der Komintern zur chinesischen Revolution), Shanghai 1930, p. 38.

Die Komintern

und die KCT im April und Mai 1927

225

hatte, „Exzesse" der lokalen Bauern Vereinigung zu verhindern, „für Schutz der Offiziersfamilien zu sorgen, deren Wohlergehen bedroht" sei, und darauf hinzuwirken, daß die Bauern die „Einheit des revolutionären Lagers" nicht störten 110 . Einige Wochen danach, am 13. Juni, erklärte er gar gegenüber Wang Ching-wei sein Einverständnis damit, gegen die Unterdrückung der Bauernvereinigungen in Hunan durch das Militär nicht gewaltsam vorzugehen. Wang berichtete am gleichen Tage dem P R der K M T : „Ich will jetzt meine Gespräche mit den Genossen Ch'eng Ch'ien, T'an Yen-k'ai und Mao Tse-tung, die ich gerade eben während der Sitzung des Militärrates geführt habe, wiedergeben. Genösse Mao sagte, daß die Bauernverbände während des Zwischenfalls (Revolte Hsü K'e-hsiangs am 21. Mai in Ch'angsha, d. Verf.) die Angehörigen der Soldaten belästigt hätten . . . Nach dem Bericht des Genossen Mao wurden die Bauernverbände in Hunan von lokalen Banden beherrscht, die nichts von der K M T oder der K C T wüßten, was sie verstünden, seien nur Gewaltakte wie Mord und Brandstiftung . . . Genösse Mao wandte sich auch gegen die Anwendung von Gewalt. E r ist damit einverstanden, daß die Zentralbehörden darüber entscheiden, daß T'ang Sheng-chih nach Hunan gehen soll, um den Zwischenfall in Ubereinstimmung mit den Beschlüssen der Zentralbehörden zu regeln 1 1 1 ."

So war die gesamte Führung der K C T auf jene Linie des „Opportunismus" eingeschwenkt, die drei Monate später Ch'en Tu-hsiu allein zum Vorwurf gemacht wurde. Die Politik der Restriktionen gegenüber der Bauernbewegung war tatsächlich nicht von diesem allein vertreten worden, sie war vielmehr aus einem Konsens aller damals maßgeblichen Persönlichkeiten der K C T einschließlich Mao Tse-tungs erwachsen. Die chinesischen Kommunisten blieben also weiter im Dilemma zwischen der Unterstützung der Agrarrevolution und der Bewaffnung von Arbeitern und Bauern einerseits, und dem Festhalten an der Einheitsfront mit der KMT-Linken andererseits befangen. Roy drängte auch nach dem Parteitag darauf, die „revolutionären" Komponenten der Beschlüsse des 7. EKKI-Plenums stärker zu betonen, Borodin und die Führer der K C T stellten sich ihm entgegen. Das 8. Plenum des E K K I , das vom 18. bis zum 30. Mai 1927 in Moskau stattfand, sollte jetzt eine Entscheidung bringen. Trotzki und seine Anhänger gingen noch einmal zum Angriff gegen die bisherige, von Stalin inspirierte, Kominternlinie vor: die Bauernbünde, so argumentierten sie, seien inzwischen stark genug geworden, deshalb sei es an der Zeit, daß die K C T sich von der KMT-Linken lossage, mit Hilfe 110

Brandt, op. cit., p. 126. Vgl. Snow, op. cit., p. 162.

111

Stenografisches Protokoll der 28. Sitzung des P R in Wuhan am 13. Juni (KMT-Archiv). Vgl. dazu auch: Warren Kuo, op. cit., II, p. 38.

15

Domes

1927

226

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

der von ihr beeinflußten Verbände der Nationalarmee die Bauern bewaffne, die Wuhan-Regierung stürze und dann die Nationale Revolution in China unter ihrer eigenen Führung vollende. Dabei solle sie sich im wesentlichen auf die Arbeiter und Bauern stützen und die Organisationsform der Sowjets wählen. Es gelang jedoch Stalin, auf dieser Sitzung des EKKI, die im Gegensatz zu den vorhergehenden unter strenger Geheimhaltung tagte, sich wiederum gegen die Opposition durchzusetzen. Zwar erklärte auch er jetzt, daß die chinesische Revolution sich eines Tages auf Sowjets (Räte) stützen müsse, die Zeit dazu sei aber noch nicht reif. Daher könne die Revolution in China zur Zeit nur gemeinsam mit dem Kleinbürgertum zum Erfolg geführt werden. Die erst am 11. und 15. Juni veröffentlichte „Resolution zur chinesischen Frage", des 8. EKKI-Plenums nahm zwar die Forderungen nach einem sofortigen Beginn der Agrarrevolution und der Bewaffnung der Arbeiter und Bauern auf, diese sollten jedoch innerhalb der K M T verwirklicht werden112. Stalin hatte sich wiederum für die Politik der Machtübernahme in der K M T und gegen ein selbständiges Vorgehen der K C T entschieden. Die von ihm im E K K I Plenum durchgesetzten Anweisungen machten aber, wie sich schnell zeigen sollte, gerade diese Politik unmöglich; denn die K M T enttäuschte Stalins Hoffnung darauf, daß sie sich als Erfüllungsgehilfe ihrer eigenen Hinrichtung betätigen würde. Die Entscheidungen Moskaus wurden vor allem dadurch beeinträchtigt, daß man dort nur unzureichend über die tatsächliche Lage in China informiert war. Dies gilt für Trotzki ebenso wie für Stalin. Aber auch die zahlreichen Vertreter der UdSSR und der Komintern im Lande selbst scheinen meist nur recht unklare Vorstellungen über die dortigen historischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten gehabt zu haben. Selbst viele der führenden chinesischen Kommunisten wurden offenbar durch ihre ideologische Orthodoxie an der Herstellung brauchbarer Analysen und der Entwicklung praktikabler Konzeptionen gehindert. Diejenigen unter ihnen, die nach der „Agrarrevolution" riefen, überschätzten die tatsächliche Stärke der Bauernverbände und unterschätzten diejenige des Militärs. Wer andererseits zu vorsichtigem Vorgehen riet, übersah, daß die K M T trotz ihrer Spaltung 1927 in China so großes Prestige genoß, daß es nach weiteren militärischen Erfolgen der NRA im 112

„International Press Correspondence" (Inprecor) vom 11. und 1 5 . 6 . 1 9 2 7 . Eine ausführliche, vorzüglich belegte Darstellung der Debatten zur Chinapolitik auf dem 8. EKKI-Plenum geben: North/Eudin, p. 86—94. Vgl. dazu u. a. audi: Brandt, op. cit., p. 132 und 136 f.; Schwartz, op. cit., p. 89 f. und 121; Isaacs, op. cit., p. 238—244; und: Cheng, op. cit., p. 142.

Wuhan bricht mit den Kommunisten

227

Nordfeldzug noch schwieriger werden mußte, die nationalistische Einheitspartei von innen her zu erobern. Um die Situation zu verstehen, reichten offenbar marxistisch-leninistisdie Kategorien — wie etwa die Theorie, daß es in China »vier Klassen" gäbe, — hier ebensowenig aus wie in anderen Teilen der Welt. Die Problematik einer auf wirklichkeitsfremden Ansätzen beruhenden sozialen und politischen Analyse mußte die K C T bitter erfahren, als jetzt auch Wuhan mit den Kommunisten brach.

Wuhan bricht mit den

Kommunisten

Der Aufstand Hsü K'e-hsiangs in Ch'angsha am 21. Mai stellte die K C T vor die Alternative, entweder, wie die Provinzleitung der Partei für Hunan vorschlug113, einen Bauernaufstand gegen die Armee zu entfachen oder aber in Ubereinstimmung mit der auf dem V. Parteitag beschlossenen Politik der Unterstützung Wuhans ebenso wie der linke Flügel der KMT untätig der Liquidierung der Bauernverbände in deren Hochburg zuzusehen. Die Führung der K C T neigte dazu, die zweite Alternative zu akzeptieren, nicht jedoch Roy, der jetzt Moskau um Instruktionen bat, von denen er hoffte, sie würden seine Position gegenüber Borodin und den KCT-Führern stärken. Die erbetenen Anweisungen trafen am 1. Juni in der Form dieses Telegramms von Stalin an Roy und Borodin in Wuhan ein: „Ohne eine Agrarrevolution ist der Sieg unmöglich. Ohne sie wird sich das Z K der K M T in ein nutzloses Spielzeug unzuverlässiger Generale verwandeln. Exzesse müssen bekämpft werden, aber nidit mit H i l f e der Truppen, sondern durch die Bauernverbände. Wir unterstützen mit Entschiedenheit, daß das Land von den Massen von unten her beschlagnahmt wird. Die Befürchtungen, die T'an P'ing-shans Besuch betreffen, sind nicht ohne Grund. Ihr dürft Euch keinesfalls von der Arbeiter- und Bauernbewegung trennen, sondern müßt sie in jeder Weise unterstützen. Sonst werdet Ihr unsere Sache ruinieren. Einige der alten Führer des Z K der K M T haben Angst vor dem, was geschieht. Sie schwanken und schließen Kompromisse. Eine große Zahl neuer Führer der Bauern- und Arbeiterklasse aus den unteren Rängen muß in das Z K der K M T hineingebracht werden. Ihre kühne Stimme wird den alten Führern entweder den Rüdcen stärken, oder sie über den Haufen werfen. Die gegenwärtige Struktur der K M T muß geändert werden. Die Führung der K M T muß durch neue Führer, die in der Agrarrevolution hervorgetreten sind, aufgefrischt und verstärkt werden; die lokalen Organisationen müssen vergrößert werden, indem man die Millionen, die zur Arbeiterklasse und den Bauernverbänden gehören, in sie hineinbringt. Wenn dies nicht geschieht, riskiert die K M T , sich

113

15'

North/Eudin, p. 106.

228

V. Kapitel: Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

von der Wirklichkeit zu entfernen und audi das letzte Atom an Autorität zu verlieren. Diesem sich Auf-„Verläßlidie"-Generale-Verlassen muß ein Ende gesetzt werden (in der Fassung Ch'en Tu-hsius: „Es ist notwendig, unzuverlässige Generale zu liquidieren.") Mobilisiert ungefähr 20 000 Kommunisten und ungefähr 50 000 revolutionäre Arbeiter und Bauern aus H u n a n und Hupei, bildet verschiedene neue Armeecorps, benutzt d a f ü r die Studenten der Kommandeurschule und organisiert Eure eigene zuverlässige Armee, ehe es zu spät ist. Sonst gibt es keine Garantie gegen Fehlschläge. Dies ist schwierig, aber es gibt keinen anderen Weg. Organisiert ein Revolutionstribunal, das von prominenten nicht-kommunistischen KMT-Mitgliedern geleitet wird. Bestraft die Offiziere, die immer noch Kontakt mit Chiang Kai-shek halten oder die Soldaten auf das Volk, die Arbeiter und Bauern loslassen. Überredung ist nicht genug. Jetzt muß gehandelt werden. Die Schurken müssen bestraft werden. Wenn die KMT-Leute nicht lernen, revolutionäre Jakobiner zu sein, dann werden sie sowohl für das Volk als auch für die Revolution verloren gehen 114 ."

Trotz dieser radikalen Töne blieb das Telegramm, dessen Inhalt nicht gerade von unbegrenzter Einsicht in die chinesischen Verhältnisse zeugt, also immer noch im Rahmen der Politik des „Blocks von innen" — wenigstens so, wie Stalin sie jetzt offenbar verstanden wissen wollte. Instrument der neuen „aktivistischen" Politik sollte weiterhin die KMT bleiben, an einen Austritt der KCT aus dem Block dachte man in Moskau noch nicht. Borodin erkannte deutlich, wie illusionär die neue Politik war. Er soll gesagt haben, das beste sei, die Anweisungen ad acta zu legen. Die KCT-Parteiführung vertrat sofort die Meinung, es sei unmöglich, sie zu befolgen 115 . Zunächst antwortete man nur sehr kurz nach Moskau: „Anweisungen erhalten. Werden sie befolgen, sobald wir dies können!11®" Roy hingegen glaubte anscheinend, daß er Wang Ching-wei 114

115 118

Englische Fassung des Telegramms bei: Josef W. Stalin, Marxism and the National and Colonial Question, N e w York 1935, p. 249, auch bei: North/Eudin, p. 106 f. und (übersetzt nach Ch'en Tu-hsiu, Kao ch'üan-tang . .., op. cit., p. 6, einer Zusammenfassung des Inhalts) bei: Warren Kuo, op. cit., II, p. 40 f. Der Text bei Stalin, ibid., ist nach Brandt, op. cit., p. 212, vermutlich redigiert wiedergegeben. Eine weitere Inhaltsangabe findet sich bei: Wang Ching-wei, „Bericht über das Problem der Trennung von den Kommunisten", in: Stenografisches Protokoll der 20., erweiterten Sitzung des Ständigen Ausschusses des Z E K der K M T in Wuhan am 15. Juli 1927 (KMT-Archiv), audi in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 349—351 (hinfort: Wang, Bericht). Wang bestätigt in kontroversen Punkten die Fassung, die Ch'en Tu-hsiu zusammenfassend später anbot. Vgl. hierzu u. a.: T'ang, Revolution, p. 280 f.; Tong, op. cit., p. 88; Cheng, op. cit., p. 142 f.; Brandt, op. cit., p. 133 f. und: Schwartz, op. cit., p. 77. Schwanz spricht allerdings von einem „Brief", nicht von einem Telegramm. Brandt, op. cit., p. 135, unter Berufung auf: Ch'en Tu-hsiu, op. cit., p. 7. ibid. und: North/Eudin, p. 107.

Wuhan bricht mit den

Kommunisten

229

für Stalins Anweisungen gewinnen könne. Noch am 1. Juni lud er ihn deshalb zu einem Gespräch ein, über das uns ein Bericht aus der Feder Tang Leang-lis vorliegt. Der Komintern-Delegierte erklärte: „Es ist ein Telegramm von Stalin an Borodin und mich angekommen. Hat Borodin es Ihnen gezeigt?" Als Wang dies verneinte, setzte Roy fort: „Borodin möchte Ihnen das Telegramm nicht zeigen. Es ist eine Geheimresolution des Moskauer Büros. Ich dagegen meine, daß es ratsam ist, daß Sie wissen, worum es geht, und ich bin sicher, daß Sie zustimmen werden. Hier ist es, sehen Sie es sich bitte an." Dann zeigte Roy Wang den russischen Text des Telegramms und die chinesische Übersetzung. Dieser war „sehr erstaunt, von Stalins neuer Haltung gegenüber der K M T zu hören" und sagte sofort, daß seine Partei die Anweisungen keinesfalls akzeptieren könne. Dann bat er Roy um eine Abschrift der Übersetzung, die dieser ihm für den nächsten Tag zusagte. Wang erhielt die Abschrift am 2. Juni und zeigte sie sofort Frau Sun und Dr. Ch'en Yu-jen, der meinte: „Das bedeutet Krieg zwischen der K M T und den Kommunisten!" Am nächsten Tag trafen Roy und Wang erneut zusammen und Roy erklärte: „Ich bin froh, daß ich Ihnen das Telegramm gezeigt habe, das Sie als Ultimatum auffassen können. Wenn Sie es im Grundsatz akzeptieren und seine Durchführung ermöglichen, dann wird die Komintern weiter mit Ihnen zusammenarbeiten. Wenn nicht, so will sie nichts mehr mit der K M T zu tun haben." Wang betonte darauf, daß die Bedingungen für die Zusammenarbeit zwischen der K M T und der Komintern im Sun-JoffeCommunique festgelegt seien, und daß er keinesfalls bereit sei, davon abzugehen 117 . Der Führer der KMT-Linken war also nicht willens, auf der Grundlage der neuen Anweisungen Stalins die Zusammenarbeit mit den Kommunisten fortzusetzen. Über Roys Motive bei der Übergabe einer Abschrift des Telegramms an Wang bestehen Kontroversen. Borodin klagte ihn der „Sabotage" an und soll sofort von Moskau seine Abberufung verlangt haben, Mao Tsetung hat R o y als einen „Narren" bezeichnet118. Roy selbst erklärte später in Gesprächen mit seinen indischen Schülern, Stalin habe gewollt, daß der Inhalt des Telegramms Wang bekanntgegeben würde, und habe es nur „wegen der Kominterndisziplin" nicht direkt an die Wuhan-Regierung gesandt. Borodin soll sich nach dieser Darstellung nur dagegen gewandt 117

Wang Ching-wei; „Wuhans B r u d i . . .", loc. cit., p. 89 f.; T'ang, Revolution, p. 280 bis 282 und Ders., Wang, p. 155—157. Vgl. hierzu u . a . : North/Eudin, p. 112 f.; Isaacs, op. cit., p. 247 ff.; Cheng, op. cit., p. 143; Tong, op. cit., p. 89 und Brandt, op. cit., p. 138 ff.

1,8

So: Snow, op. cit., p. 165.

230

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

haben, Wang den vollen Inhalt des Telegramms direkt zu zeigen, nicht aber dagegen, diesen zu informieren. Zwei der indischen Anhänger Roys aus späteren Jahren begründeten dessen Handlungsweise in einem Interview mit dem Verfasser damit, daß Roy Wang als Verbündeten betrachtet habe, er habe „oft zuviel Vertrauen in die Menschen gesetzt"119. Wir werden schließlich Brandt darin zustimmen können, daß der Kominternvertreter in Wuhan angesichts der Entscheidung Stalins, die Anweisungen seien im Rahmen der KMT durchzuführen, keine andere Wahl hatte, als Wang den Inhalt des Telegramms bekanntzugeben. Wenn man die neue Politik mit der Wuhaner Führung machen wollte, so mußte diese auch informiert werden 120 . Die Illusionen Roys über Wangs Haltung waren mit denen Stalins identisch. Am 4. Juni begab sich Wang zusammen mit T'an Yen-k'ai, Sun K'e, Ku Meng-yü und Hsü Ch'ien nach Chengchou, um dort T'ang Shengchih und Chang Fa-k'uei über die neue Lage zu informieren und die sich hieraus ergebenden Maßnahmen zu beraten121. Er war zu dieser Zeit bereits zum Bruch mit den Kommunisten entschlossen und bemühte sich darum, die anderen Führer der KMT-Linken ebenfalls dafür zu gewinnen. Gleichzeitig wollte er sich jedoch der Unterstützung Feng Yühsiangs versichern. Am 11. und 12. Juni konferierten daher die Wuhaner Führer in Chengchou auch mit dem Befehlshaber der Kuominchün, und es hatte zunächst den Anschein, als sei es ihnen gelungen, diesen auf ihre Seite zu bringen. Der Preis hierfür war die Übergabe Honans an Feng, der von Wuhan zum Vorsitzenden der Provinzregierung ernannt wurde, während T'ang und Chang sich bereit erklärten, sich mit ihren Streitkräften wieder nach Hupei zurückzuziehen. Wuhan hatte alle Veranlassung, sich um neue militärische Unterstützung zu bemühen, denn am 6. Juni war der Kommandant des 3. Armeekorps, Chu P'ei-te, endgültig zur Nanking-Regierung übergegangen und hatte in der von ihm beherrschten Provinz Kiangsi mit der „Säuberung" der Kommunisten begonnen122. Inzwischen bemühte sich Wang, der mit T'an Yen-k'ai und Sun K'e am 13. Juni wieder in Wuhan eingetroffen war, in einer Serie von zehn aufeinanderfolgenden Sitzungen des PR der 119

So P. P. Widia und V. B. Karnik in einem Interview mit dem Verfasser in Bombay am 18. August 1964.

uo m

Brandt, op. cit., p. 138 f. Vgl. u . a . : T'ang, Revolution, p. 282 f.; North/Eudin, p. 114 f. und Isaacs, op. cit., p. 254 f. Wang (loc. cit., p. 90) gibt allerdings den 6. 6. als Abreisedatum an.

182

Zirkulartelegramm Chu P'ei-tes vom 6. 6. 1927 (KMT-Archiv).

'Wuhan bricht mit den

231

Kommunisten

KMT, einen Beschluß der Wuhan-Regierung über den Ausschluß der Kommunisten aus der Partei herbeizuführen 123 . Die Mehrheit dieses Gremiums stellte sich auf seine Seite; Frau Sun Yat-sen, Dr. Ch'en Yujen und Teng Yen-ta hingegen vertraten die Auffassung, man solle mit der Trennung von der KCT noch warten, bis Chiang besiegt worden sei, dann allerdings müsse sie unbedingt durchgeführt werden. Wang befürchtete jedoch, daß es dann zu spät sein könne, und drängte deshalb auf eine schnelle Entscheidung in seinem Sinne. Inzwischen versuchte in Wuhan die Führung der KCT, nun doch die Konsequenzen aus den Anweisungen Stalins zu ziehen. Dabei bemühte sich Ch'en Tu-hsiu, von Borodin unterstützt, möglichst vorsiditig zu verfahren, während Roy jetzt begann, energisch auf ein selbständiges Vorgehen der Kommunisten zu dringen. Widersprüchliche Entscheidungen waren die Folge dieses Gegensatzes. Am 4. Juni erließ das ZK der K C T eine Botschaft an die Bauern, in der es sie aufforderte, „den tyrannischen Militärmachthaber Hsü K'e-hsiang zu stürzen, große Grundbesitzer, lokale Schurken und Unterdrücker zu liquidieren, die politische Macht der KMT und der Nationalregierung in Hunan wiederherzustellen, autonome Ortsregierungen zu bilden und Land an die Bauern und Soldaten zu verteilen"124. Schon einen Tag zuvor hatten die Kommunisten einen „Offenen Brief" an das ZEK der KMT gerichtet, in dem sie Forderungen stellten, die mit den Instruktionen Moskaus übereinstimmten125. Auf einer weiteren Sitzung der Parteiführung der K C T am 9. Juni versuchte Roy den Austritt der Kommunisten aus der KMT durchzusetzen, er blieb aber nochmals ohne Erfolg 126 . Erst am 15. Juni beantwortete die K C T Stalins Telegramm vom 1. Juni offiziell mit einer Botschaft an die Komintern. Darin wiesen die chinesisdien Kommunisten darauf hin, daß Moskaus Instruktionen nur schwer ausführbar seien. Man müsse vielmehr „gute Beziehungen mit den Führern der KMT und der NRA aufrechterhalten, bis wir unsere Aufgaben erfüllt haben". Außerdem gelte es immer nodi, die Furcht der Offiziere vor der Landbeschlagnahme zu überwinden, indem man ihnen ihren Besitzstand garantiere127. Dennoch hat es den An123

Über diese Gespräche berichtet T'ang, Revolution, p. 158.

124

„Hsiang-tao chou-pao" v o m 8. Juni 1927. Englisch bei: North/Eudin, Dokument 27, p. 318—320. Vgl. dazu: Warren Kuo, op. cit., II, p. 42. Offener Brief des ZK der K C T an das ZEK der K M T vom 3. 6. 1927 (KMTArchiv). Englischer Text bei: North/Eudin, Dokument 26, p. 314—317. ibid., p. 115 und Dokument 28, p. 321—337.

125

126 127

p. 283 f. und

ibid., Dokument 29, p. 338—340. Vgl. dazu: Warren Kuo, II, p. 42 f.

Ders.,

Wang,

232

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

schein, als habe Ch'en Tu-hsiu um diese Zeit begonnen, eine Trennung der K C T von der nationalistischen Einheitspartei vorzubereiten. E r versuchte offenbar, den offiziellen Beschlüssen der Partei einen gemäßigten Anstrich zu geben, um nicht verfrühte Aktionen der K M T gegen die Kommunisten in Wuhan zu provozieren, so auch in einem Brief an das im Untergrund arbeitende Shanghaier Komitee der K C T vom 23. Juni, in dem er davor warnte, jetzt den Klassenkampf zu stark zu betonen. Die Kommunisten könnten, so heißt es in diesem Dokument, nur dann Erfolg haben, wenn sie einen „neuen anti-imperialistischen Krieg" zu entfachen vermöchten. Zu diesem Zweck sei die „offene Einnahme von Shanghai, Fuchou, Nanking und so weiter durch die Imperialisten besser, als deren Besetzung durch Chiang Kai-shek oder Li Chi-shen" 128 . Während sich die Kommunisten nicht zu einem Entschluß durchringen konnten, verschlechterte sich ihre Situation in Wuhan immer mehr. Jetzt ging nämlich Feng Yü-hsiang überraschend zur Nanking-Regierung über. Am 20. und 21. Juni traf er sich in Hsüchou mit Chiang Kai-shek, Hu Han-min, Ts'ai Yüan-pei, Wu Chih-hui, Chang Ching-chiang, Li Shihtseng, Li Tsung-jen und Pai Ch'ung-hsi. Man beschloß, daß Feng die Wuhan-Regierung in einem Telegramm auffordern sollte, sich von den Kommunisten zu trennen, und daß man den Nordfeldzug gemeinsam unter dem Oberbefehl Chiangs fortsetzen wolle 129 . Dieser erklärte unmittelbar nach der Konferenz triumphierend in einem Interview mit dem dänischen Korrespondenten Krarup-Nielson: „Eben ist ein Bündnis mit General Feng Yü-hsiang abgeschlossen worden. E r wird sich der Nanking-Regierung anschließen, um gegen die Nordpartei zu kämpfen 1 3 0 ."

Schon am 23. Juni stellte Feng der KMT-Linken in Wuhan sein Ultimatum, in dem esu. a. hieß: „Als ich Sie, verehrte Herren, in Chengchou traf, sprachen wir über die Unterdrückung der Kaufleute . . . , darüber, daß die Arbeiter die Fabrikbesitzer unterdrückten und einige Bauern und Dorfbanden die Landbesitzer. Das Volk will, daß diese Form des Despotismus vernichtet werde . . . Ich sehe nur folgende Lösung: 1. Borodin sollte sofort in sein Land zurückkehren;

128

North/Eudin, Dokument 35, p. 3 6 1 — 3 6 5 , und p. 122.

129

Wu

Ching-heng (Chih-hui),

„Bericht

über

die

Hsüchou-Konferenz"

auf

der

108. Sitzung des P R des Z E K der K M T (Nanking) am 24. Juni 1927, in: K M W H , Bd. X V , 790 f. Vgl. hierzu: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 642 f.; T'ang, Revolution, p. 2 8 9 ; Tong, op. cit., p. 86 f. und Isaacs, op. cit., p. 256 f. 130

Zitiert bei Tong, p. 87.

Wuhan bricht mit den

Kommunisten

233

2. Jenen Mitgliedern des Z E K in Hank'ou, die ins Ausland gehen möchten, um sich auszuruhen, sollte dies gestattet werden, andere können der Nationalregierung beitreten, wenn sie dies wünschen. 3. Alle kommunistischen Führer müssen aus der KMT ausgeschlossen werden; . . . Ich glaube nicht, daß ich die verehrten Herren daran erinnern muß, daß unser Land vor einer schweren Krise steht, aber angesichts dieser Krise fühle ich mich veranlaßt, darauf zu bestehen, daß jetzt ein günstiger Augenblick ist, um die nationale Bewegung im Kampf gegen unsere gemeinsamen Feinde wieder zu einigen. Ich hoffe sehr, daß Sie die von mir vorgeschlagene Lösung annehmen und in diesem Sinne einen sofortigen Entschluß herbeiführen 131 ."

Audi Wuhans eigene Truppen begannen nun offen gegen die Kommunisten vorzugehen. Am 27. und 28. Juni besetzte der Kommandant des 35. Armeekorps, Ho Chien*, mit seinen Truppen Han-k'ou, entwaffnete die Arbeitermilizen und besetzte die kommunistischen Parteidienststellen 132 . Das Politbüro und das Sekretariat der K C T flohen in der Nacht zum 28. über den Yangtzu nach Wuch'ang. Dort beschloß man am 30. Juni, daß die K C T zwar immer noch am Bündnis mit der K M T festhalten, ihre Vertreter in der Nationalregierung jedoch „um Urlaub bitten" sollten 133 . Noch einmal versuchten Ch'en Tu-hsiu und seine Anhänger, den vollständigen Bruch zu verhindern. Sie trennten sich am 3. Juli von Roy, den sie in die UdSSR zurücksenden wollten, und teilten dies dem Z E K der K M T brieflich mit 134 . Am 6. Juli veröffentlichte die letzte Ausgabe der KCT-Wochenzeitung „Hsiang-tao chou-pao" die endgültigen Rücktrittserklärungen der beiden kommunistischen Minister 135 , ein Schritt, der einen Tag vorher von Wang Ching-wei verlangt worden war 138 . Ch'en Tu-hsiu hatte jedoch inzwischen bereits darauf verzichtet, an weiteren Sitzungen der Führungsgremien der K C T teilzunehmen, die sich im Stadium der Auflösung befanden. Während Wang Ching-wei die Trennung Wuhans von den Kommunisten vorbereitete, entschloß sich schließlich auch Moskau zur Aufgabe der Politik des „Blocks von innen". In einem Artikel in der „Prawda" vom 10. Juli entdeckte Bucharin eine „plötzliche Wendung in der chinesischen Revolution". Er war aufgrund 181

Telegramm Feng Yü-hsiangs an Hank'ou vom 23. 6. 1927 (KMT-Archiv). Englisch in Auszügen bei: Isaacs, ibid.

132 vgl. hierzu: Warren Kuo, op. cit., II, p. 44 f. und Isaacs, op. cit., p. 265. 133 134

ibid. Brief des Z K der K C T an das Z E K der KMT vom 3. Juli 1927 (KMT-Archiv). Vgl. hierzu: Chiang, op. cit., p. 73.

135 138

„Hsiang-tao chou-pao" vom 6. 7 . 1 9 2 7 . Brief Wang Ching-weis an das ZK der K C T vom 5. 7. 1927 (Kopie in KMTArchiv).

234

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

seiner „korrekten" Anwendung marxistisch-leninistischer Gesellschaftsanalyse zu der Erkenntnis gekommen, daß „die revolutionäre Rolle Wuhans zu Ende" sei137. Der Kreis, der vom ZK der KCT in Wuch'ang noch übrig war, beschloß am 13. Juli, die offizielle Zusammenarbeit mit der KMT einzustellen, gleichzeitig jedoch die Kommunisten aufzufordern, als Einzelmitglieder in der nationalistischen Einheitspartei zu verbleiben. Diese Entscheidung veröffentlichte man allerdings erst am 16. Juli, einen Tag, nachdem die KMT ihrerseits den Bruch vollzogen hatte 138 . Das EKKI gab am 14. Juli in einer neuen Resolution der Entscheidung der KCT das notwendige Moskauer Placet. Die Unterstützung des Nordfeldzuges und der Wuhan-Regierung, so stellte es fest, war „vollständig korrekt", solange sie der Revolution geholfen hatte, aber die gleiche Taktik sei infolge der „Wendung der Ereignisse" „grundlegend falsch" geworden139. Jetzt handelte die Führung des linken Flügels der KMT. Am 15. Juli beschloß sie auf einer erweiterten Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK, die Kommunisten aus der Partei auszuschließen140. Die mit dieser Maßnahme nicht einverstandenen Mitglieder der Wuhaner Leitungsgremien nahmen an der Konferenz nicht mehr teil, Wang erreichte also einen einstimmigen Beschluß. In einer Proklamation des Präsidiums des PR vom 16. Juli wurde die Entscheidung der Öffentlichkeit mitgeteilt. Dabei zitierte man die Forderungen des Stalin-Telegramms vom 1. Juni und erklärte, daß diese im Widerspruch zu den als Grundlage des Bündnisses der beiden Parteien vereinbarten Richtlinien stünden. Die Proklamation schließt: „Wir haben nidit erwartet, daß das sogenannte ZK der K C T am 13. Juli eine Erklärung abgeben würde, in der es unsere Partei beleidigt. Das ZK der K C T hat auch beschlossen, die KCT-Mitglieder aus der Nationalregierung zurückzuziehen. Dies ist der deutlichste Beweis für die Unterminierung der Politik der Zusammenarbeit. D a die Nationalregierung das höchste Organ für die Ausführung des politischen Programms der Revolution ist, und da sie sich aus ihr zurückgezogen haben, haben sie ihre Beziehungen zu unserer Partei abgebrochen. Es ist ein Widerspruch, wenn sie sich immer noch Mitglieder der K M T nennen, nachdem sie sidi aus der Nationalregierung zurückgezogen haben. Danach ist es für sie nicht mehr nötig, in den unterschiedlichen Ebenen

137

138 130

140

Englischer Text des Artikels: Nikolai Bucharin, „An Abrupt Turn of the Chinese Revolution", in: Inprecor vom 14. 7. 1927. Vgl. hierzu: North/Eudin, p. 123 f. und Isaacs, op. cit., p. 266. „Min-kuo jih-pao" v o m 17. 7. 1927. Vgl.: T'ang, Wang, p. 159. „Resolution of the EKKI on the Present Situation of the Chinese Revolution", in: Inprecor vom 28. 7. 1927. Wang, Bericht, loc. cit., passim.

Wuhan bricht mit den

Kommunisten

235

der Regierung und der N R A zu bleiben; denn die N R A und alle Regierungsorgane gehören unabdingbar zur Nationalregierung selbst. Die Politik der Zusammenarbeit mit den Kommunisten ist von diesen selbst bereits völlig zerstört worden. Wir halten unerschütterlich an Dr. Suns Testament fest, aber wir sind nicht bereit, alles zu ertragen, was die KCT uns antut 141 ."

Zur gleichen Zeit garantierte Wuhan jedoch den Kommunisten in einem offenen Brief, daß man „die K C T als eine freundliche Partei betrachten und die persönliche Freiheit der kommunistischen Genossen schützen" werde. Nur wenn diese versuchen sollten, „die Interessen der KMT zu unterminieren", werde man sich genötigt sehen, gegen sie „scharfe Maßnahmen" zu ergreifen142. Jetzt nahm die Wuhaner Führung auch die Rücktrittserklärung Borodins von seinem Amte als Berater der KMT an, die dieser schon einige Wochen vorher — das genaue Datum ist nicht feststellbar — vorbereitet hatte. Am 27. Juli wurde er von den Führern des linken Flügels der KMT in aller Form verabschiedet, und er begab sich über Nordwestchina zurück in die UdSSR. Frau Sun Yat-sen und wahrscheinlich auch Dr. Ch'en Yujen begleiteten ihn143. Ende Juli oder Anfang August verließ audi Roy Wuhan 144 . Die Kommunisten verfügten jedoch immer noch über eine Basis in der NRA. Das 11. Armeekorps wurde von ihrem Parteimitglied Yeh T'ing, das 20. von Ho Lung geführt, außerdem konnten sie sich auf eine Anzahl von Offizieren im 4. Armeekorps Chang Fa-k'ueis stützen. Die militärischen Einheiten unter ihrer Kontrolle umfaßten insgesamt 16.000 Mann, zu denen jetzt noch vorübergehend die 10. Division (4. Armeekorps) des jungen kantonesischen Generals Ts'ai T'ing-k'ar'' trat. Diese Einheiten sammelten sich auf den Rat des neuen Kominterndelegierten in China, Besso Lominadse, Ende Juli in der Umgebung von Nanch'ang, der Hauptstadt Kiangsis145. Am 1. August eroberten sie die Stadt, „beschlagnahmten" in den dortigen Banken 974.000 Yüan in harter Währung und 800.000 Yüan in Banknoten und setzten ein „Revolutionäres Komitee der 141

142

143 144 145

Proklamation des Präsidiums des PR in Wuhan vom 16.7. 1927, in: KMWH, Bd. XVI, p. 57—60. Brief des ZEK der KMT (Wuhan) an die KCT vom 16. 7. 1927, ibid., p. 60—62. Vgl. hierzu: Warren Kuo, „Adventurism of the Chinese Communist Party in 1927", in: „Issues and Studies", 2. Jahrgang, I: Nr. 1 vom Oktober 1965; p. 19—28; II: Nr. 2 vom November 1965, p. 42—50; III: Nr. 3 vom Dezember 1965, p. 42—56. hier: I, p. 19 (hinfort: Kuo, Adventurism). Isaacs, op. cit., p. 269; T'ang, Revolution, p. 286 f. und Tong, op. cit., p. 89. North/Eudin, p. 126. Kuo, Adventurism, ibid.

236

V. Kapitel:

Der Bruch der KMT mit den

Kommunisten

KMT" (Chung-kuo Kuomintang ke-ming wei-yüan-hui) ein, das den Anspruch erhob, die „neue Führung" der chinesischen Revolution darzustellen. Den Vorsitz übernahm T'an P'ing-shan, Wu Yü-chang wurde Generalsekretär, H o Lung Oberbefehlshaber und Yeh T'ing und Chu Te Kommandanten der einzelnen Truppeneinheiten. Auf der Liste der 28 Komitee-Mitglieder befanden sich audi die Namen von Frau Sun Yat-sen, Dr. Ch'en Yu-jen, Teng Yen-ta und diejenigen der Generale Chang Fa-k'uei und Huang Ch'i-hsiang14". Von ihnen nahm jedoch nur Teng am Aufstand teil. Chang Fa-k'uei hatte, ebenso wie Ts'ai T'ing-k'ai, nichts Eiligeres zu tun, als sich mit seinen Truppen gegen die Kommunisten zu wenden. Gemeinsam mit Chu P'ei-te vertrieben sie schon am 5. August die Aufständischen aus der Stadt 147 . Diese wandten sich jetzt nach Süd-Kiangsi, wo sie in heftigen Kämpfen mit KMT-Verbänden auf 8000 Mann zusammenschrumpften. Am 28. September kamen sie schließlich in der Gegend von Shant'ou (Swatow) in Kuangtung an, das sie für zwei Tage besetzen konnten, bis sie audi hier von der NRA vertrieben wurden. Chu Te hatte sich mit etwa 1000 Mann schon zuvor in das Bergland im Grenzgebiet zwischen Kiangsi, Hunan und Kuangtung zurückgezogen, wo er zum örtlichen Partisanenkampf überging. Im kommunistischen China wird heute der 1. August als Gründungstag der „Volksbefreiungsarmee" gefeiert, die K C T betrachtet den Nanch'angAufstand als den Beginn des Bürgerkrieges mit der KMT. Dennoch sei darauf hingewiesen, daß diese Erhebung noch unter der Fahne der KMT stattfand und daß die an ihr beteiligten Truppen keinesfalls „bewaffnete Arbeiter und Bauern", sondern in der überwiegenden Mehrheit langgediente Berufssoldaten waren. Die Organisation der KCT war im ganzen Lande zerbrochen, und die nun folgenden „Säuberungsaktionen" der KMT forderten das Leben von mindestens 25.000 Kommunisten148. Lominadse 148

147

D e m „Revolutionären Komitee der KMT" in Nandi'ang gehörten außer den Genannten noch Chou En-lai, Kao Yü-han, Yün Tai-ying, Hsia Hsi, H s ü T'e-Ii, Su Chao-cheng, Hsiang Chung-fa, Kuo Mo-jo, H a n Lin-fu, Yang Pao-an, Wang H a o , Lin Tsu-han, Chang Kuo-t'ao, Li Li-san, Fang Wei-hsia, Ching Ch'i-huan und Chang Shih-shu an (so Kuo, ibid.). Telegramm Chu P'ei-tes an die Nationalregierung in Nanking vom August (wahrscheinlich 4., 5. oder 6.) 1927, in: K M W H , Bd. I X , p. 116 f. Vgl. dazu u . a . : Kuo, Adventurism, I, p. 19—21; Isaacs, op. cit., p. 280 f.; T'ang, Revolution, p. 287 ff.; Tong, op. cit., p. 89; Brandt, op. cit., p. 143—145 und Schwartz, op. cit., p. 90 und 92 f.

148

So jedenfalls: Isaacs, op. cit., p. 277, nach Μ. Ν . R o y . Genauere Angaben sind bis heute nicht zu machen, es ist möglich, daß die Zahl der Opfer der „Säuberungsbewegung" in der K M T noch größer ist. Jede Zahl zwischen 20.000 und 35.000

Wuhan bricht mit den

Kommunisten

237

blieb es nur übrig, einen Sündenbock für den vollständigen Fehlschlag der Politik der Komintern in China zu suchen. Er fand ihn in Ch'en Tu-hsiu, der am 7. August auf einer unter strenger Geheimhaltung in Wuhan stattfindenden „Notstandskonferenz" der KCT als Generalsekretär abgesetzt und, ebenso wie T'an P'ing-shan, aus dem ZK ausgeschlossen wurde. Das Amt des Parteiführers übernahm zunächst Ch'ü Ch'iu-pai. Die Konferenz rief zu Bauernaufständen im ganzen Lande auf und proklamierte die völlige Unabhängigkeit der chinesischen Kommunisten149.

dürfte sich im Bereich der Realität befinden. D i e Zahl der O p f e r der Bauernaufstände und der frühen kommunistischen Erhebungen im Jahre 1927 wird ungefähr gleich hoch gewesen sein, i n Vgl. hierzu vor allem: Schwartz, op. cit., p. 93—96.

VI. Kapitel Die Rolle der KMT in der Chinesischen Revolution 1923 bis 1927 Die Abkehr vom Bündnis mit den Kommunisten führte bei den chinesischen Nationalisten zu einer Periode der Desintegration, die über sechs Monate andauerte 1 . Latent vorhandene fraktionelle Gegensätze brachen offen aus, und eine große Zahl lokaler Parteiorganisationen löste sich auf. Da die Kommunisten hier meist die Funktion der hauptamtlichen „Parteiarbeiter" wahrgenommen hatten, fehlten nach deren Ausschluß aus der K M T Kader, die sie ersetzen konnten. Nur das nationalistische Militär wurde von diesen Schwierigkeiten nicht allzu stark beeinflußt, es blieb, von einigen Einheiten — vor allem solchen, die zuvor unter dem Befehl des linken Flügels in Wuhan gestanden hatten — abgesehen, im wesentlichen intakt. Dadurch stieg der Einfluß des Militärs in der Partei, die sich hinfort vor allem auf die N R A stützen mußte, wollte sie ihre Ziele in China noch erreichen. Gerade diese Entwicklung aber hatte Sun Yat-sen mit der Reorganisation der K M T verhindern wollen. Er leitete sie ein, um starke politische Führungskräfte zu schaffen, denen eine Armee, die nur der Partei Gehorsam schuldete, als ein wohlkontrolliertes Machtinstrument dienen sollte.

Die Intentionen der

Bündnispartner

Sun Yat-sens Theorie der Umwandlung von Gesellschaft und Staat bot ein Konzept an, das in wesentlichen Punkten den Vorstellungen der unterschiedlichsten Kräfte in China um 1920 entsprach. Die Grundlehre vom Volkstum gab eine Antwort auf die Wünsche der konfuzianischen Honoratioren, deren herkömmliches Selbstbewußtsein durch die Politik der Mächte seit dem Opiumkrieg gedemütigt worden war. 1

Siehe dazu unten, S. 264—295!

Die Intentionen

der

Bündnispartner

239

Zugleich appellierte sie aber auch an die Hoffnungen der nach der Gleichberechtigung ihres Landes in der Welt verlangenden jungen Intelligenz und des Großbürgertums in den Städten der Küste und des Yangtzu-Tales, das verzweifelt gegen die durch ungleiche Verträge privilegierte ausländische Konkurrenz kämpfen mußte. Die Honoratiorengruppen hatten sich schon bald mit der Herrschaft der regionalen Militärmachthaber abgefunden und mit deren verschiedenen Cliquen in vielen Fällen lokale Arrangements getroffen. Das Großbürgertum und die jungen Intellektuellen hingegen opponierten — wenn auch gewiß aus unterschiedlichen Motiven — gemeinsam gegen die Macht der Generale. Sie riefen nach einer Beteiligung an der Ausübung der Herrschaft, und eben diese versprach ihnen Sun in der Grundlehre von der Volksmacht. Die Arbeitskonflikte der Jahre von 1918 bis 1923, die große antiimperialistische Streikbewegung, die sich nach dem 30. Mai 1925 in China ausbreitete, und schließlich die kräftige Entwicklung der Bauernverbände in Ost-Kuangtung, Hunan und Süd-Hupei 1926/27 setzten darüber hinaus Kräfte frei, die den Forderungen nach einer wirksamen Veränderung der chinesichen Gesellschaftsstruktur erheblichen Nachdruck verliehen. Sun hatte diese Entwicklung frühzeitig erkannt, und er bot in der Grundlehre vom Volkswohl seine Lösungsvorschläge an. Diese sollten nicht durch gewaltsame Revolution, sondern auf dem Wege schrittweiser Reformen verwirklicht werden. Es bedurfte dazu einer konsequenten Entwicklungspolitik, die inneren und äußeren Frieden verlangte. Hier lag ein Dilemma vor, das im Jahre 1927 offenbar wurde: Suns energische Ablehnung des Klassenkampfes entsprach den traditionellen chinesischen Vorstellungen von der gesellschaftlichen Harmonie, sie mußte aber zur Folge haben, daß Änderungen der Sozialstruktur von der KMT als Prozeß und nicht als Ereignis verstanden wurden, daß die nationalistische Einheitspartei also eine reformistische Sozial- und Wirtschaftspolitik vertrat. Im Jahre 1923 stand dies noch nicht zur Debatte. Damals war Sun vor allem am Aufbau einer wirksamen Parteiorganisation und eigener Streitkräfte, die eindeutig der politischen Führung unterstehen sollten, interessiert. Außerdem suchte er materielle Hilfe, um seine Basis in Kuangtung zu stabilisieren und die Ausbreitung der Herrschaft seiner Partei über ganz China vorzubereiten. In der Zeit von 1919 bis 1922 war deutlich geworden, daß die Westmächte und Japan nicht bereit waren, diesen Wünschen Suns entgegenzukommen, sondern es vielmehr vorzogen, weiterhin die regionalen Militärmachthaber zu unterstützen und gegeneinander auszuspielen. In diesem Augenblick bot die UdSSR ihre Hilfe an.

240

V/. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

Der Preis dafür war die „lizenzierte Infiltration" 2 , also die Aufnahme der KCT-Mitglieder in die nationalistische Einheitspartei. Dem zuzustimmen, stellte für Sun zunächst kein besonderes Problem dar; denn er nahm die damals insgesamt 200 bis 300 chinesischen Kommunisten nicht ernst, sondern erwartete vielmehr, daß die K M T sie ohne Schwierigkeiten werde absorbieren können. Audi war er davon überzeugt, daß die UdSSR, sollte sie einmal vor diese Alternative gestellt werden, die Zusammenarbeit mit den Nationalisten derjenigen mit der ungleich schwächer erscheinenden K C T vorziehen würde 3 . Der Führer der KMT hat die Absichten der UdSSR und der Komintern offenbar nicht klar erkannt. Deren Chinapolitik entsprang zwei einander zunächst ergänzenden Motiven. Im diplomatischen Bereich ging es Moskau darum, Großbritannien Schwierigkeiten zu bereiten, indem man seine Interessen in Ost-Asien sowohl wirtschaftlich als auch politisch traf. Außerdem sollte ein stärkeres China geschaffen werden, um als strategisches Glacis und später auch als Gegengewicht gegen Japan zu dienen. Darüber hinaus ist in der sowjetischen Chinapolitik jener Zeit auch eine revolutionäre Komponente erkennbar. Moskaus taktisches Nahziel war hier, für die Kommunisten eine Infiltrationsmöglichkeit in der zentralistisdi organisierten Einheitspartei zu schaffen, um auf diese Weise die Schaltstellen der Macht zu besetzen. Darüber hinaus galt es aber auch, ihnen Zugang zu dem Militärapparat der Nationalisten zu verschaffen, den diese mit Hilfe sowjetischer Berater aufzubauen begannen. Als strategisches Zwischenziel war ins Auge gefaßt, eine zunächst von den Kommunisten zunehmend beeinflußte und später möglichst auch unmittelbar geführte nationalistische Einheitsfront zu schaffen. Mit deren Hilfe sollte dann schließlich eine kommunistische Einparteiherrschaft in China errichtet und so ein wesentlicher Schritt zur Ausbreitung der Weltrevolution vollzogen werden. Die Theorie der stufenweisen Revolution bot für diese Politik die ideologische Rechtfertigung. Im ersten, „nationalrevolutionären" Stadium des Revolutionsprozesses war auf Grund der Entscheidungen des II. Weltkongresses der Komintern für die Kommunisten die Zusammenarbeit mit N a tionalisten auch unter deren Führung möglich. Die K C T verhielt sich dieser 2

3

Den Begriff „lizensierte Infiltration" prägte Ridiard Löwenthal (Entwicklungsländer, op. cit., p. 14) für die mit der Zustimmung nationalistisdier Einheitsparteien erfolgende Mitarbeit der Kommunisten in deren Organisation. Vgl. hierzu nochmals: Sun Yat-sens Marginalien in: „2 Anklagen", op. cit., passim; deutsche Übersetzung bei: BSF, op. cit., p. 50 f.

Die Intentionen

der

Bündnispartner

241

Strategie gegenüber zunächst zurückhaltend, fand sich aber schließlich unter dem Druck der Komintern zur Zusammenarbeit bereit. Nachdem die KMT für ihre Reorganisation und die Gründung der Militärakademie von Huangpu sowjetische Modelle akzeptiert hatte, konnte die kommunistische Infiltrationsarbeit in der nationalistischen Einheitspartei beginnen. Deren erses Ziel war die Zentrale der KMT. Die Organisations-, Bauern-, Arbeiter- und ab 1925 audi die Propagandaabteilung kamen unter kommunistische Leitung. Junge, von ihrer revolutionären Mission überzeugte und zu großen Opfern bereite Funktionäre drangen in den Apparat der Nationalisten ein. Politiker und Militärs der KMT waren dem Geschick der Kommunisten so wenig gewachsen, daß die zivilen Kader der Partei immer stärker von ihnen durchsetzt wurden. Den ersten großen Durchbruch brachte für die K C T die antiimperialistische Massenbewegung des Jahres 1925. Ihre Wirkung provozierte allerdings gleichzeitig auch den ersten Gegenschlag der KMT, den Chiang mit seinem Staatsstreich in Kanton am 20. März 1926 ausführte. Jetzt wurden die Kommunisten aus dem zentralen Parteiapparat verdrängt. Dies führte dazu, daß sie sich fortan auf die Arbeit in den lokalen Parteibüros und in den Massenorganisationen konzentrierten, doch auch in den politischen Abteilungen einiger Einheiten der Parteiarmee wuchs ihr Einfluß bald von neuem. Sie bemühten sich mit Erfolg darum, die KMT-Führung von den Massenorganisationen zu isolieren4. In den Bauernverbänden, die in ihrer Hochburg Hunan von Mitgliedern des „Sozialistischen Jugendkorps" kontrolliert wurden, hatten die Nationalisten kaum einen Einfluß 5 . Nationalistische Studenten mußten, wenn sie sich in den Dienst der revolutionären Bewegung stellen wollten, den Weg über die K C T gehen. So brachte die Politik des „Blocks von innen" der kommunistischen Partei zunächst große Erfolge: Vom Januar 1924 bis zum Mai 1927 stieg ihre Mitgliedschaft von ungefähr 300 auf fast 58.000, die Zahl der in kommunistisch kontrollierten Massenorganisationen zusammengefaßten Arbeiter, Bauern und Jugendlichen von etwas über einer halben Million auf 12 bis 15 Millionen an®. In den Gebieten, die von der KMT beherrscht wurden, konnten die 4

5 8

16

Mandalian, Wei-shen-mo Chung-kuo kung-di'an-tang-te ling-tao p'o-ch'an? (Warum versagte die Führung der KCT?), Obers, aus dem Russischen, Moskau 1927, p. 9 f. Vgl. dazu vor allem: Schwanz, op. cit., p. 52 ff., der mit Recht darauf hinweist, daß die organisatorischen Erfolge der KCT wesentlich größer waren als ihre politisdien, weil man die Kommunisten „mit Händen und Füßen" an ihre „seltsame Allianz mit der KMT fesselte". Vgl. Brandt, op. cit., p. 126 f. Siehe oben, S. 221! Domes

242

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

Kommunisten frei agitieren, und sie übten nach dem II. Parteikongreß im Januar 1926 erheblichen Einfluß in den nationalistischen Führungsgremien aus. Außerdem konnten sie bald durch frisch ausgebildete Offiziere und Politkommissare auch auf manche Einheiten der N R A einwirken. Unterdessen verstärkten sich innerhalb der K M T jedoch jene Kräfte, die gegen die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Kommunisten Widerstand leisteten. Schon im November 1923 hatten die KMT-Provinzleitung von Kuangtung unter Teng Tse-ju und auf dem I. Parteikongreß Feng Tzu-yü ihre Bedenken angemeldet, ebenso im Sommer 1924 die Mehrheit der Z K K . Nach dem Tode Sun Yat-sens und der folgenden weiteren Verstärkung der kommunistischen Positionen schlossen sich Tai Chit'ao und schließlich auf der „Westbergkonferenz" im November 1925 der gesamte rechte Flügel der Nationalisten den Gegnern der Zusammenarbeit mit den Kommunisten an. Die Opposition erweiterte sich nach dem II. Parteikongreß um Chang Ching-chiang und seit Mai 1926 auch um Hu Han-min, Dr. Wu Ch'ao-shu und deren Anhänger. Noch bedeutsamer aber war, daß jetzt Chiang Kai-shek die Bündnispolitik immer skeptischer betrachtete. Im März und April 1927 brachen er und die gemäßigten Kräfte des KMT-Zentrums mit den Kommunisten, im Juni und Juli desselben Jahres schließlich auch der linke Flügel in Wuhan, abgesehen von einer kleinen Gruppe, die in der Partei kaum Einfluß hatte. So geriet die K C T gerade wegen ihrer großen organisatorischen Erfolge politisch in wachsende Schwierigkeiten. Die Ereignisse des Frühjahrs und Sommers 1927 traten nicht plötzlich auf, sie waren das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Zuerst wird hier der Konflikt zwischen Chiang und seinen sowjetischen Beratern, die in ihrer Arbeit auf große Schwierigkeiten trafen, zu erwähnen sein. Meist beherrschten sie die Landessprache nicht, fähige Dolmetscher standen ihnen kaum zur Verfügung 7 . Psychologische Taktlosigkeiten verärgerten nicht nur Chiang, sondern auch andere chinesische Generale, mit denen die Russen zusammenarbeiten sollten. Die Sowjetberater mußten sich in China 1924 bis 1927 also mit ähnlichen Problemen auseinandersetzen, wie heute westliche und östliche „Entwicklungshelfer" in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Ein weiterer Aspekt trat hinzu, der noch schwerwiegendere Auswirkungen haben sollte. Die gesellschaftliche Wirklichkeit in China ist zu vielschichtig, als daß sie mit Hilfe der Kategorien vom Klasseninteresse und 7

Vgl. Wilbur/How, p. 463 f. und Dokument 16, p. 197.

Die Intentionen der

Bündnispartner

243

Klassenkampf, in denen die Kommunisten dachten, erfaßt werden könnte. Im städtischen Großbürgertum unterschieden sich die Interessen der selbständigen Fabrikanten, Bankiers und Großkaufleute einerseits und diejenigen der „Kompradoren" andererseits erheblich voneinander. Handwerker und Kaufleute bildeten streng getrennte Gruppen, die nur schwer zu gemeinsamen Aktionen zu veranlassen waren. Hier wirkte sich die herkömmliche soziale Prestigeskala, welche die „kung" über die „shang" stellte, weiter aus. Auf dem Lande waren die Grundbesitzer seit Jahrzehnten schon nicht mehr mit der Honoratiorenschicht identisch. Außerdem hatten Pächter und Eigentumsbauern nicht selten gegensätzliche Interessen; jene wollten die Pachten, diese viel eher die Steuern herabgesetzt sehen. Die Kommunisten bemühten sich darum, ihre Bauernverbände mit Hilfe des „Landproletariats" zu mobilisieren. Aber audi dieser Begriff ist in China sehr vieldeutig. Er umfaßt nicht nur Landarbeiter, arme Bauern und Kleinpächter, sondern audi jene Mitglieder der Honoratiorenfamilien, die keinen eigenen Besitz hatten und deshalb vorwiegend auf Hilfeleistungen ihrer Sippenverbände angewiesen waren. Tang hat zu Recht darauf hingewiesen, daß gerade die zuletzt genannte Gruppe in der Organisation der Bauernverbände eine bedeutsame Rolle spielte, dies vor allem, weil ihre Angehörigen des Lesens und Schreibens kundig und zur Agitation befähigt waren8. Sie standen jedoch nicht selten im Gegensatz zu den Eigentumsbauern und wurden in ihrer Tätigkeit mancherorts durch Familienfehden behindert. Die chinesische Gesellschaft bestand eben nicht, wie die Kommunisten meinten, aus „vier Klassen". Hier führte die marxistisch-leninistische Theorie zu gefährlichen Irrtümern. Drei Beispiele mögen dies erläutern: Die Kommunisten verstanden nicht, daß die Mehrheit des Großbürgertums dem nationalistischen Programm so stark verpflichtet war, daß sie kaum mit den „Imperialisten" zusammenarbeiten konnte. Sie ging deshalb nach dem 12. April 1927 mit Chiang und nicht Chiang mit ihr. In der Armee folgten die einfachen Soldaten dem Befehl ihrer Offiziere und nicht dem vermeintlichen oder tatsächlichen „Klasseninteresse" der landlosen Bauern, obgleich sie meist aus dieser Gruppe stammten. Die organisatorische Stärke der Geheimgesellschaften überall in Süd- und Zentralchina wurde von den kommunistischen Führern nur ungenügend erkannt. Schließlich wirkte sich der Machtkampf zwischen Trotzki und Stalin in Moskau und die von ihm bestimmte Unsicherheit über den einzuschlagenden Kurs im Sommer 1927 für die Kommunisten verheerend aus. 8

16»

T'ang, Revolution, p. 272 f.

244

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

Die K C T trieb die K M T dazu, das Bündnis aufzukündigen. Solange beide Parteien den Kampf gegen die Mächte und die regionalen Militärmachthaber in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten, blieb die Allianz arbeitsfähig. Als aber die Kommunisten auf dem Lande und in den Großstädten Sozialrevolutionäre Bewegungen auslösten und ihr Machtstreben innerhalb der nationalistischen Einheitspartei immer deutlicher wurde, war der Bruch nicht mehr zu vermeiden. Man wird fragen müssen, ob die K M T Sun Yat-sens Politik „verriet", als sie die Zusammenarbeit mit der UdSSR, der Komintern und der K C T beendete. Sun hatte die Hilfe der UdSSR angenommen und sowjetische Organisationsmodelle akzeptiert. Er war bereit, mit Moskau als gleichberechtigter Partner zusammenzuarbeiten, aber die chinesischen Kommunisten wurden von ihm nur als Einzelmitglieder in die K M T aufgenommen, und er betrachtete den „Block von innen" nie als eine Koalition einander ebenbürtiger Parteien. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß er noch vor seinem Tode erhebliche Anstrengungen unternahm, sich aus der einseitigen Bindung an die UdSSR zu lösen und eine Zusammenarbeit mit Japan und den nördlichen Militärmachthabern zu entwickeln, um so eine Alternative zu gewinnen. Als Chiang und schließlich auch die KMTLinke in Wuhan mit den Kommunisten brachen, konnten sie darauf hinweisen, daß sich die Bedingungen ihrer Bündnispartner erheblich verändert hatten. Die KCT, welche die Massenorganisationen weitgehend kontrollierte, schickte sich 1927 an, zur gewaltsamen Lösung sozialer Probleme überzugehen, sie forderte die Bewaffnung eines Teils ihrer Mitglieder, größeren Einfluß in der Führung der K M T und die Errichtung einer formellen Koalition mit den Nationalisten. Diese Bedingungen hätte audi Sun nicht akzeptiert. Die K M T blieb sich selbst und der politischen Vorstellungswelt ihres Gründers treu, als sie 1927 die Kommunisten ausschloß. Wilbur und How erkennen die ursprüngliche organisatorische Struktur der K M T richtig, wenn sie diese Partei bis 1923 als eine Sammlung von Militärs und Politikern mit unterschiedlichen Machtbasen und zuweilen einander entgegengesetzten regionalen Interessen beschreiben9. Sie blieb audi nach der Reorganisation von 1923/24 im Grunde eine Vereinigung, deren Mitglieder meist Familienälteste aus den Kreisen der Honoratioren, des Großbürgertums, der Kaufleute und Handwerker waren. Erst im Frühjahr 1927 versuchten die Kommunisten, auch städtische Arbeiter und » Wilbur/How, p. 458.

Zur soziologischen

Struktur des I. und II. 2EK der KMT

245

landlose Bauern in die K M T hineinzubringen. Dieser Versuch kam jedoch zu spät. Nach dem Bruch mit den Kommunisten war die K M T eine Partei geworden, die außerhalb der N R A kaum über brauchbare Organisationen verfügte. Dennoch erwies sie sich als fähig, die Krise, in die auch sie durch den Bruch des Bündnisses geriet, im Laufe eines Jahres zu überwinden. Sie nahm allerdings eine in wesentlichen Zügen veränderte Gestalt an, wenn auch der organisatorische Rahmen von 1924 offiziell erhalten blieb. In der revolutionären Periode von 1925 bis 1927 war es ihr zunächst mit Unterstützung der Kommunisten, später aber auch im Kampf gegen diese, gelungen, zur „schrittweisen Mobilisierung des chinesischen Volkes in seinem nationalpolitischen Leben" beizutragen, wie Fairbank festgestellt hat 10 . Jetzt ging es um die Frage, ob sie in der Lage sein würde, die Früchte dieses Erfolges zu ernten. Zum Verständnis ihrer Politik ist es nötig, sich einen Uberblick über die soziale Struktur ihrer Führungskräfte und die in der Partei wirkenden Fraktionen zu verschaffen. Zur soziologischen Struktur des I. und II. ZEK der

KMT11

Eine Untersuchung der Herkunft, der Ausbildung und des Alters der KMT-Führungsgruppen in der Zeit von 1924 bis 1927 vermag für die Zusammensetzung jener Eliten, die an der Spitze der nationalistischen Einheitspartei Chinas standen und deren Politik maßgeblich bestimmten, 10 11

Fairbank, op. cit., p. 177. Die folgenden Angaben über die soziologische Struktur des I. und II. ZEK der K M T beruhen auf einer Fülle von einzelnen Informationen, die aus einem beträchtlichen Teil dieser Studie zugrundeliegenden Quellen und Literatur gesammelt wurden. Neben Biographien einzelner Parteiführer erwiesen sich als besonders nützlich: Chung-kuo tang-tai ming-jen ch'uan (Biographien berühmter Chinesen der Gegenwart), Shanghai 1927; Chung-kuo Kuomintang chung-yang chih-hsing wei-yüan ch'uan (Biographien der Mitglieder des ZEK der KMT), unvollständig, hektographiert Ch'ungk'ing 1942 (KMT-Archiv) und die Kapitel „Who's Who" in: „The China Year Book, mehrere Ausgaben, vor allem aber: 1931/32, Shanghai 1932, p. 705—754; sowie: Perleberg, op. cit., passim. Im Bereich der Untersuchungen zur chinesischen Führungssoziologie im 20. Jahrhundert hat Robert C. North mit seiner Studie: Kuomintang and Chinese Communist Elites, Stanford 1952, Pionierarbeit geleistet. Ich verdanke dieser Schrift einen großen Teil der angewandten Systematik. Die bei North angegebenen Zahlen beruhen jedoch nur auf dem ihm um 1950 zugänglichen Material. Aufgrund vieler zusätzlicher Informationen mußte die Arbeit, die er damals unternahm, nahezu völlig wiederholt werden, und aus dem gleichen Grunde weichen die Ergebnisse hier erheblich von denen North's ab.

246

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

wertvolle Hinweise zu liefern. Deshalb soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, die heute verfügbaren Informationen darüber zu ordnen und gesammelt vorzulegen. Die Auswahl der für eine solche Untersuchung in Frage kommenden Persönlichkeiten fällt nicht leicht. Ich beschränke midi hier auf den Kreis der Vollmitglieder der beiden 1924 und 1926 gewählten ZEK. Das ist gewiß ein mechanisches Kriterium, das als formalistisch angesehen werden mag. Der Gang der chinesischen Revolution bis 1927 führt jedoch zu dem Ergebnis, daß dieser Kreis die bedeutsamsten Führer der Partei umfaßt, von einigen Ausnahmen abgesehen. Wollte man diese noch erfassen, setzte man sich der Gefahr aus, willkürlich gewählte Kriterien anzuwenden. Gewiß haben manche Mitglieder der ZKK die Politik der KMT wesentlich mitbestimmt, ebenso aber auch einige Generale, die offiziell keinem Führungsgremium angehörten. Sie gehören nicht zum untersuchten Personenkreis, weil der Anschein vermieden werden soll, als bestimme der Autor, wer zur Parteiführung zu zählen sei. Das I. ZEK umfaßte 24 Vollmitglieder, von denen 13 im Januar 1926 wiederum in das II. ZEK gewählt wurden, während 23 neue Mitglieder hinzutraten. Dieser verhältnismäßig starke Wechsel sanktionierte die Übernahme der Führung durch eine Gruppe von Politikern, von denen die bedeutendsten bereits seit dem Juni 1924 als Mitglieder des PR am Entscheidungsprozeß in der Partei Anteil hatten. Im ganzen handelte es sich um einen Kreis von 47 Personen, dessen Zusammensetzung, und zwar im Vergleich der beiden ZEK untereinander, im folgenden dargestellt werden soll. In der chinesischen Politik ist es fast immer von erheblicher Bedeutung, aus welchen Provinzen das leitende Personal stammt. Landsmannschaft und gemeinsam besuchte Ausbildungsstätten bestimmten — und bestimmen bis heute — die politischen Entscheidungen in hohem Maße. Das Bild des I. und II. ZEK der KMT stellt sich uns hier wie folgt dar: Tab. 1: Herkunftsprovinzen Provinz: Kuangtung Chekiang Hupei Kiangsu Hunan Shantung Ssuch'uan Kiangsi Hopei

der Mitglieder des I. und II. ZEK I. ZEK 1924 II. ZEK 1927 6 12 3 3 3 — 2 2 1 3 1 1 1 1 1 2 1 2

Zur soziologischen Struktur des I. und II. ZEK der KMT Provinz: Fukien Anhui Shensi Yünnan Innere Mongolei Kuangsi Auslandschinesen unbekannt

247

I. ZEK 1924 II. ZEK 1927 1 — 1 1 1 2 1 1 1 1 — 2 — 1 (12) — 2

Von den 24 Mitgliedern des I. ZEK stammten 16 aus den Gebieten südlich, acht aus jenen nördlich des Yangtzu, im II. ZEK war das Verhältnis 26 :7. Im I. ZEK kamen 14 Mitglieder aus Küstenprovinzen und zehn aus dem Inneren Chinas, im II. hingegen 21 aus Küstenprovinzen und 13 aus dem Inneren. Zählt man jedoch Mitglieder aus dem Yangtzu-Tal bis Wuhan zu denjenigen aus Küstengebieten hinzu, so ergibt sich für das I. ZEK ein Verhältnis von 1 8 : 6 und für das II. ein solches von 22 :12 zugunsten von Vertretern aus Regionen, die stärker als das übrige China in den vorausgegangenen Jahrzehnten westlichen Einflüssen ausgesetzt waren. Wichtig ist auch die Feststellung, daß 25 % der Mitglieder des I. und gar ein Drittel derjenigen des II. ZEK aus Kuangtung, der „revolutionären Basis" und zugleich der Heimat Sun Yat-sens, Wang Ching-weis und Hu Han-mins, stammten. Weit schwieriger ist es, ein Bild der sozialen Herkunft der Mitglieder beider Führungsgruppen zu vermitteln. Hier fehlen für das I. ZEK Hinweise bei zehn der 24, für das II. bei 13 der 36 Mitglieder. Tab. 2: Soziale Herkunft der Mitglieder

des I. und II. ZEK

(soweit bekannt: beim I. ZEK: ca. 58 °/o, beim II.: ca. 63 %>) Herkunftsgruppe: I. ZEK aus Familien der Honoratiorenschicht 6 aus anderen Grundbesitzerfamilien 1 aus Bauernfamilien 3 aus Kaufmanns- und Bankierfamilien 2 aus Handwerkerfamilien 2 aus Arbeiterfamilien — aus Familien westlich erzogener Intelligenz —

II. ZEK 6 4 3 7 1 1 (13) 1 (14).

12

Unter den Mitgliedern des II. ZEK der KMT befanden sich zwei Auslandschinesen: Dr. Ch'en Yu-jen aus Trinidad und Hsiao Fu-di'eng aus Thailand. Dr. Ch'en stammte jedoch aus einer kantonesisdien Familie und verfügte über gute Beziehungen zu landsmannschaftlichen Verbänden der Provinz Kuangtung. Er ist daher bei dieser Provinz mitgezählt.

13

Hsiao Fu-di'eng, dessen Vater als Lohnarbeiter nach Bangkok auswanderte. Von den Kommunisten im I. und II. ZEK stammte keiner aus einer Arbeiterfamilie. Sun K'e, der Sohn Sun Yat-sens.

14

248

VI. Kapitel:

Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

Von den Mitgliedern des I. ZEK, deren soziale Herkunft feststellbar ist, waren also 50 °/o mit Sicherheit ihrer Herkunft nach Grundbesitzerinteressen verbunden, doch lag deren Anteil wahrscheinlich sogar noch etwas höher. Im II. ZEK sank er — soweit erkennbar — auf rund 42 °/o ab, aber auch hier dürfte er tatsächlich etwas höher gelegen haben. Dagegen stieg der Anteil der Angehörigen großbürgerlicher Familien — meist solcher aus Städten mit starken westlichen Einflüssen — vom I. zum II. ZEK von etwa 14 % auf über 30 °/o an. Auf viel sichererem Grunde bewegen wir uns wieder bei der Untersuchung der Ausbildungsstätten der KMT-Führungsgruppe. Hier liegen für fast alle Mitglieder beider ZEK Angaben vor. Tab. 3: Ausbildungsstätten Es absolvierten: eine klassisdi-chin. Ausbildung nur chinesische Mittelschulen nur chinesische Militärakademien nur chinesische Universitäten Ausländische Bildungsanstalten davon: japanisdie Militärakademien japanische Universitäten Universitäten in USA französische Universitäten: deutsche Universitäten: britische Universitäten: sowjetische Universitäten: unbekannt:

der Mitglieder

des 1. und II. ZEK: I. ZEK 3 1 2 2 15 2 9 2 2 1 2 — 1

II. ZEK 4 1 3 4 21 (15) 3 7 7 2 1 2 — 3. —

Rund 62,5 der Mitglieder des I. und fast 60 % derjenigen des II. ZEK hatten also eine Ausbildung im Ausland genossen. Doch ergab sich hier 1926 eine nicht unwesentliche Verschiebung. Während elf der 24 Mitglieder des I. ZEK in Japan studiert hatten und nur sieben auch in westlichen Ländern, war das Verhältnis im II. ZEK bei 36 Mitgliedern 10 :12. Mit dem Anstieg des Anteils Südchinas und der Küstenstädte an der Mitgliederzahl des Führungsgremiums der KMT stieg auch derjenige der Absolventen amerikanischer und europäischer Universitäten. Diese Verschiebung ging mit einem deutlichen „Linksruck" im ZEK Hand in Hand. Auch das Alter der meisten ZEK-Mitglieder bei deren Eintritt in dieses Gremium ist uns unbekannt. Hier sind die folgenden Altersgruppen erkennbar: 15

Die Zahl der Absolventen ausländischer Universitäten ist niedriger als die Summe der Angaben für die einzelnen Länder, weil manche Mitglieder in mehr als einem ausländischen Staat studierten.

2ur soziologischen Struktur des I. und II. ZEK der Tab. 4: Altersgruppen Alter beim Eintritt ins Z E K :

unter den Mitgliedern

KMT

des I. und II. I. Z E K

249

ZEK: II. Z E K

Unter 35 Jahren

1

3

35 bis 40 Jahre

8

15

41 bis 50 Jahre

10

13

51 bis 60 Jahre

1

über 60 Jahren

1 3

3 —

2. — 2.—

Das Durchschnittsalter des I. Z E K betrug bei dessen Wahl im Januar 1924: 43V4 Jahre, dasjenige des I I . Z E K im Januar 1926 rund 42 Jahre, es blieb also nahezu gleich. Da das I. Z E K zwei Jahre amtierte, wird man bei der Wahl des II. eine — allerdings nicht allzu stark ausgeprägte — Tendenz zur Verjüngung feststellen können. Als besonders bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang das starke Anwachsen der Gruppe der 35- bis 40jährigen. Im II. Z E K saßen zum ersten Mal auch zwei Frauen 18 , und in beiden untersuchten Gremien befand sich jeweils ein Vertreter der nationalen Minderheit, und zwar ein Mongole. Der Anteil der Militärs betrug in beiden Z E K mit vier bzw. sechs Vertretern jeweils etwa 16 % . Die in der Einleitung genannten vier Arten der Bildung politischer Eliten 17 sind in den hier untersuchten Führungsgruppen der nationalistischen Einheitspartei Chinas zwischen 1924 und 1927 deutlich feststellbar. Als wichtigste erscheint die Gruppe derjenigen, die auf ausländischen Universitäten studierten. Sie umfaßt mit 13 Personen fast 55 % der Mitglieder des I. und mit 18 genau die Hälfte des II. Z E K . Unter ihnen hatten die meisten Jura, Sozialwissenschaften oder Volkswirtschaft studiert, nur zwei Mitglieder des I. und drei des I I . Z E K erfuhren eine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung. Aus von westlichen Vorbildern bestimmten Militärakademien in China oder Japan kamen vier Mitglieder des I. und sechs des I I . Z E K . In diesem Bereich ist die kaiserlich-japanische Militärakademie in Tokio von besonderer Bedeutung; denn von den insgesamt acht Militärs in beiden Gremien studierten dort vier, und drei weitere absolvierten chinesische Akademien, deren Ausbilder aus Tokio kamen.

18

Die Witwen Sun Yat-sens, Sung Ch'ing-ling, und Liao Chung-k'ais, H o Hsiangning.

17

Siehe oben, S. 8 f.!

250

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen Revolution

Zwei Mitglieder des I. und vier des II. Z E K haben chinesische Universitäten besucht, die nach westlichen Modellen organisiert worden waren, während zwei des I. und eines des II. Z E K Kaufleute waren, die selbst entweder in Küstenstädten oder im Ausland engen Kontakt mit der ausländischen Wirtschaft gehabt hatten. Im ganzen kamen aus den genannten vier Gruppen fast 87 % der Angehörigen des I. Z E K , im II. waren es immer noch 80 % . Aus diesen Daten lassen sich einige Charakteristika der nationalistischen Führungsgruppe ableiten, die zum Verständnis der von ihr durchgeführten Politik beizutragen vermögen: 1. Diese Führungsgruppe war in ihrer Mehrheit zivil und zur Hälfte im westlichen Sinne akademisch ausgebildet. 2. Der größte Teil ihrer Mitglieder kam aus Gebieten, in denen starke ausländische Einflüsse wirkten, mit denen sie schon früh in Berührung kamen. Denn gut 75 °/o der Angehörigen beider Z E K erreichten das 20. Lebensjahr zwischen 1893 und 1911, also zu einer Zeit, in der China in besonderem Maße den Wirkungen der Politik und der wirtschaftlichen Offensive Japans und des Westens ausgesetzt war. 3. Mindestens die Hälfte ihrer Mitglieder stammte aus Familien der traditionellen chinesischen Führungssdiichten und stand in enger Verbindung zu den Grundbesitzern. So ist es verständlich, daß der Ubergang der Kommunisten zu agrarrevolutionären Maßnahmen „von unten" hier auf Widerstand stieß. 4. Trotz dieser Verflechtung mit dem ländlichen Grundbesitz handelte es sich nicht um eine Führungsgruppe ruralen Ursprungs. Von den 47 untersuchten Persönlichkeiten wurden mit Sicherheit 28 in großen Städten geboren und erzogen. 5. Zwei Drittel der Mitglieder des I. und ungefähr drei Viertel derjenigen des I I . Z E K kamen aus den südchinesisciien Provinzen, d. h. also aus Regionen mit großer revolutionärer Tradition. Nordchina hingegen war in der Führungsgruppe der K M T ausgesprochen unterrepräsentiert, und es blieb seither im wesentlichen von der Leitung der Geschicke des Landes ausgeschlossen.

Fraktionen und Machtgruppen in der Κ MT-Führung Auch in der Zeit von 1923 bis 1927 blieb die K M T ein komplexes Gebilde, in dem sich die unterschiedlichsten politischen Kräfte vereinigt hat-

Fraktionen

und Machtgruppen in der

KMT-Führung

251

ten. Ihre gemeinsame Basis war der chinesische Nationalismus, der auf die Gleichberechtigung des Landes im Kreis der Mächte drängte, und die Opposition gegen die regionalen Militärmachthaber, der „PeiyangClique". Darüber hinaus gab es jedoch wenig, was alle Mitglieder der nationalistischen Einheitspartei zusammenführte. Man fand unter ihnen chinesische Traditionalisten, europäisch erzogene Liberale, reformistische Sozialisten und Anarchisten, von den Kommunisten ganz abgesehen. So trug die KMT, wenn man die Kategorien von d'Arboussier anwendet18, eher den Charakter eines „parti unifie" als denjenigen eines „parti unique". Sun Yat-sens Grundlehre vom Volkstum konnte von allen Mitgliedern der Partei akzeptiert werden, wenn die Verwirklichung des in ihr enthaltenen Programms für die Kommunisten auch nur ein Zwischenziel darstellte. Das gleiche gilt noch für die in der Grundlehre von der Volksmacht entworfene Regierungsform; aber schon im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik gab es erhebliche Gegensätze. Hier waren sich die nichtkommunistischen Mitglieder der Partei gerade noch darin einig, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse nur auf dem Wege der Gesetzgebung nach der Eroberung der Macht in ganz China verändert werden könnten. Doch über den Umfang der geplanten Veränderungen gab es starke Meinungsverschiedenheiten unter ihnen. Dies nutzte die K C T aus, indem sie die Richtungen innerhalb der Partei gegeneinander ausspielte. So stammen die ersten uns bekannten Definitionen der verschiedenen Flügel in der K M T auch aus kommunistischen Kreisen. Sie gehen jeweils davon aus, daß es bei den chinesischen Nationalisten zwei Gruppen gäbe, einen rechten und einen linken Flügel. Ch'en Tu-hsiu erklärte im Dezember 1925, zur Zeit der Reorganisation der K M T habe der linke Flügel alle Gegner des Imperialismus und der Militärmachthaber umfaßt, der rechte Flügel hingegen alle jene, die nicht bereit gewesen seien, diesen beiden Kräften ernsthaften Widerstand zu leisten. Im Herbst 1925 jedoch sei, so Ch'en, das Problem der Differenzierung schwieriger zu lösen. Tai Chi-t'ao und audi die „Westberggruppe" bekämpften zwar „dem Namen nach", den Imperialismus und die Militärmachthaber, sie seien aber zu wirklichen revolutionären Aktionen nicht bereit. Vor allem bekämpften sie die KCT. Jetzt gelte daher, daß nur der als „links" bezeichnet werden könne, der tatsächlich aktiv für die Revolution arbeite. Dazu rechnete Ch'en damals u. a. Wang Ching-wei, Chiang Kai-shek, Hsü Ch'ien und Ku Meng-yü, 18

Siehe oben, S. 3!

VI. Kapitel:

252

Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

ebenso aber noch Politiker wie Hu Han-min, Wu Chih-hui und Ting Weifen19. Schon im Mai 1925 hatte die K C T einen ähnlichen Differenzierungsversuch unternommen. Damals zählte sie alle, die „echte Sunyatsenisten" seien, zum „linken Flügel". Damit waren jene Persönlichkeiten gemeint, die für die Zusammenarbeit mit der UdSSR und der Komintern, für die Politik des „Blocks von innen" und für die revolutionäre Organisation der Massen eintraten20. Seit Anfang 1927 wurden von den Kommunisten auch Chiang Kai-shek und mit ihm Chang Ching-chiang als Anhänger des „rechten Flügels" bezeichnet, weil sie die Auffassung verträten, es solle im Lande nur eine revolutionäre Partei geben, und weil sie die Klassenharmonie dem Klassenkampf vorzögen21. Nach dem Bruch Wuhans mit der K C T wurden dann schließlich nur noch die Kommunisten selbst und einige wenige Führer der KMT, wie ζ. B. Frau Sun Yat-sen und Teng Yen-ta, als „linker Flügel "anerkannt 22 . Alle anderen Persönlichkeiten und Kräfte galten jeweils als „Rechte". Diese Definitionen sind für eine kritisdie Darstellung unbrauchbar; denn sie laufen alle auf eine einzige, allzu simple Unterscheidung hinaus: wer die Zusammenarbeit mit den Kommunisten und auch deren Führung akzeptiert, ist „links", wer sich dazu nicht bereit findet, „rechts". Dennoch läßt sich hier ein zur Unterscheidung der verschiedenen Richtungen in der KMT nützlicher Hinweis gewinnen. Die Einstellung zum Bündnis mit den Kommunisten in seiner im Sun-Joffe-Kommunique und der Li Ta-chao-Erklärung festgelegten ursprünglichen Form und der von diesem Bündnis bestimmten Reorganisation von 1924 ist zweifellos ein bedeutsames Kriterium. Die kommunistischen Definitionen übersehen jedoch die Tatsache, daß sich innerhalb der K M T schnell ein Zentrum herausbildete, das in die Kategorien Ch'en Tu-hsius und seiner Freunde nicht hineinpaßt. Dieses Zentrum war zusammen mit dem linken Flügel bereit, die Reorganisation von 1924 und bis zu der qualitativen Veränderung des 18

Ch'en Tu-hsiu, „Was ist der rechte und der linke Flügel der K M T ? " , in „Hsiang-tao chou-pao" vom 3. 12. 1925, auch in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 55. Siehe auch oben, S. 2 0 8 !

20

H o Shen, „Was ist der linke Flügel der K M T ? " , in: ibid., Ausg. vom 3. 5. 1925 und

21

Vgl. hierzu: Politischer Bericht des Z K der K C T vom 26. 1. 1927, in: K M W H ,

in: ibid., p. 53. Siehe audi oben, S. 2 0 6 ! Bd. X V , p. 4 5 — 4 8 . Englische Fassung bei: Wilbur/How, Dokument 48, p. 4 3 1 — 4 3 4 (hier: p. 432). 22

Chu P'ei-te, Bericht über eine Rede Yün Tai-yings in Nan-di'ang am 3. August 1927 (KMT-Archiv).

Fraktionen

und Machtgruppen

in der

KMT-Führung

253

Bündnisses, die sich 1926/27 vollzog, auch die Politik des „Blocks von innen" zu unterstützen. Mit dem rechten Flügel hatte es jedoch eine ausgeprägte Skepsis gegenüber den Massenorganisationen als Instrument der Revolution gemeinsam. Das Zentrum war sunyatsenitisch, wandte sich aber immer mehr von den Kommunisten ab. Diese Position entsprach genau derjenigen Chiang Kai-sheks. Dennoch folgte ihm nicht sofort das ganze Zentrum, als er im April 1927 mit der KCT brach. So scheint es sinnvoll zu sein, mindestens in Anbetracht der Periode vom April bis Juli 1927 eine weitere Unterteilung einzuführen, indem diejenigen Anhänger des Zentrums, die sich an der Wuhan-Regierung beteiligten, als „linke Mitte" bezeichnet werden. Die vier hier außer den Kommunisten genannten Machtgruppen — Linke, Rechte und linke und rechte Mitte — gliederten sich wiederum in eine Anzahl von Fraktionen und Richtungen auf. Die „alte Linke" war die treibende Kraft der Reorganisation von 1924 und des Bündnisses mit dem Kommunismus. Durch diese Grundentscheidung beeinflußt, legte sie erheblichen Wert auf das sozialpolitische Programm der Partei. Sun Yat-sen, der unbestrittener Führer dieser Gruppe war, wandte sich nach 1923 immer mehr dem Grundsatz zu, die Frage der Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft auf dem Wege über eine Reformgesetzgebung zu lösen, und vertrat darüber hinaus das Prinzip des Wohlfahrtsstaates 23 . Seine Vorstellungen waren und blieben auch streng reformistisch. Vor allem lehnte er den Klassenkampf ab. Er war nur bereit, diesen Begriff im Sinne einer Auseinandersetzung zwischen „armen" und „reichen" Nationen neu zu interpretieren 24 . Die chinesische Revolution verstand er vor allem als eine anti-imperialistische Bewegung, die sich auf die organisierten Massen des Volkes stützen sollte. Als besonders wichtig erschienen ihm die Errichtung eines zentralisierten Parteiapparates und der Aufbau von Streitkräften, die unter der unbestrittenen Führung der Partei stehen sollten. Neben Sun war Liao Chung-k'ai der profilierteste Vertreter dieser Richtung; ebenso gehörten ihr aber auch Wang Ching-wei und Chiang an. Hu Han-min blieb Sun bis zu dessen Tode treu, ihn band jedoch das nationalistische Programm wesentlich stärker als das sozialpolitische. Die Wuhaner Linke wurde eindeutig von Wang Ching-wei geführt. Wang war es auch, der am 22. August 1925 als erster Nichtkommunist in der 23

24

Vgl. hierzu: Sun, San Min Chu I, op. cit., p. 188 und 201—212 (vor allem p. 212) und: Linebarger, Sun, op. cit., p. 252—258. ibid., p. 259 f.

254

VI. Kapitel:

Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

KMT versuchte, den linken Flügel zu definieren. Alle, die den Imperialismus bekämpften, so sagte er damals, gehörten zur Linken. Wesentlich sei, daß in China die große Auseinandersetzung sich nicht zwischen Kommunismus und Antikommunismus, sondern zwischen Imperialismus und Antiimperialismus vollziehe25. Dieser Grundsatz bestimmte Wangs Politik, bis er sich schließlich im Sommer 1927 selbst zum Bruch mit den Kommunisten gezwungen sah. Der Kreis um Wang hat das politische Problem Sun Yat-sens erheblich präzisiert. Er vertrat die Auffassung, das Problem der nationalen Befreiung müsse „revolutionär", die sozialen und wirtschaftlichen Fragen jedoch „reformistisch" gelöst werden. Das außenpolitische Programm sah vor, daß die KMT die ungleichen Verträge niemals anerkennen, ihre Revision jedoch auf dem Verhandlungswege anstreben solle, wobei notfalls auch der Boykott als Waffe benutzt werden müsse. Alle jene Sonderrechte der Ausländer in China, die nicht auf vertraglichem Wege zustande gekommen waren — so deren Steuerfreiheit und die Jurisdiktion der Mächte über die chinesischen Bewohner der Niederlassungen und Konzessionen — wollte man durch einseitige Akte abschaffen. Die Schaffung einer eigenen, revolutionären Parteiarmee und die Machtausübung in China durch die KMT auf der Grundlage des Prinzips des „Demokratischen Zentralismus" wurden besonders betont. Die Bauern- und Arbeiterbewegung sollte unterstützt werden; jeder gewaltsamen Änderung der Sozialstruktur wollte man jedoch entgegentreten. Im einzelnen verlangte die Wuhaner Linke, daß sofort nach der Eroberung ganz Chinas der Pachtzins um 25 °/o, höchstens aber auf 37,5 % des Ernteertrages herabgesetzt werden sollte. Aller Landbesitz, der 50 mu (31/3 ha) überstieg, sollte zwangsweise von der Regierung aufgekauft und zu günstigen Preisen an die bisherigen Pächter verkauft werden 28 . Hier finden sich im Ansatz bereits jene Grundsätze, welche nach 1949 die Landreform in der Republik China auf T'aiwan bestimmen sollten. In Wuhan selbst ließen sich innerhalb der damaligen „Linken" drei Fraktionen unterscheiden. Den Kern der Wuhaner Kräftekonstellation stellte der Kreis um Wang Ching-wei dar, zu dem vor allem Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü und Ching Heng-yi gehörten. Kan Nai-kuang, der Wang eigentlich sehr nahe stand und später wieder eng mit ihm zusammenarbeitete, hatte sich, 25

Wang Ching-wei, „Lobrede auf Liao Chung-k'ai, um meine Genossen aufzurütteln", in: Wang Ching-wei, Wang Ching-wei hsien-sheng chiang-yen-chi (Gesammelte Reden Wang Ching-weis), Shanghai 1926, p. 53—57. Vgl. hierzu audi: Wilbur/How, p. 166.

28

Vgl. Tang, Revolution, p. 332 f. und: Ders., Wang, p. 188 f.

Fraktionen

und Machtgruppen

in der

KMT-Fiihrung

255

obgleich er zweifellos zum linken Flügel zu redinen ist, im April 1927 Chiang in dessen Kampf gegen die Kommunisten angeschlossen. Nach dem Bruch Wuhans mit der K C T kehrte er jedoch in den Kreis um Wang zurück. Eine zweite Fraktion sammelte sich um die leitenden Persönlichkeiten der „linken Mitte" in Wuhan: T'an Yen-k'ai, Sung Tzu-wen und Yü Yu-jen. Zu ihr wird man für die damalige Zeit auch Sun K'e zählen müssen, der jedoch bis zum Sommer 1926 dem rechten Flügel nahestand, im Winter 1926/27 Positionen vertrat, die denen der Kommunisten verwandt waren und dann vom August 1927 an wieder auf den rechten Flügel zurückkehrte. Frau Sun Yat-sen, Teng Yen-ta und P'eng Tse-min repräsentierten die radikale Linke. Sie unterscheiden sich von Wang im wesentlichen dadurch, daß sie auf jeden Fall zunächst Chiang und erst später, falls sich dies als notwendig erwies, die K C T bekämpfen wollten. Im Juli 1927 Schloß sich ihnen audi Außenminister Dr. Ch'en Yu-jen an, der zuvor jedoch, ebenso wie Hsü Ch'ien, eher geneigt war, die Gedanken Wangs zu vertreten. Chiang Kai-shek, Tai Chi-t'ao und die Militärgruppe: Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Chiang von 1926 an bemüht war, eine mittlere Position zwischen der Linken und der Rechten einzunehmen. Dies versetzte ihn in die Lage, wechselnde Bündnisse abzuschließen und so seine Stellung zu verstärken. Er verfügte jedoch schon jetzt über einen eigenen Anhang, der sich vor allem um die Militärakademie von Huangpu gesammelt hatte. Dort war, wie wir sahen, 1925 die „Gesellschaft zum Studium des Sunyatsenismus" entstanden, die sich die ideologische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zur Aufgabe gestellt hatte. Bald bildeten sich auch in der zivilen Parteiorganisation, vor allem in Chekiang, Shanghai und Nordchina, Zellen dieser Vereinigung. Ihr leitender Theoretiker war Tai Chi-t'ao. Er vertrat die Auffassung, daß die drei Grundlehren vom Volk die einzige in China anwendbare politische Theorie seien. Deshalb müßten alle Chinesen sie annehmen, und es könne also nur eine politische Partei in China geben. Das sozialpolitische Programm Suns wurde von ihm übernommen, er ordnete es jedoch noch stärker als dieser dem Leitgedanken der nationalen Einheit unter. Besonderes Gewicht maß Tai der Theorie Suns vom Kampf zwischen „armen" und „reichen" Nationen bei, den er als den einzigen wesentlichen Gegensatz in der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtete. Tai hat das politische Denken Chiangs maßgeblich beeinflußt. Personell stützte dieser sich vor allem auf die Instruktoren und Kadetten der Huangpu-Akademie. Sie waren ihm gegenüber zu persönlicher Loyalität verpflichtet und hatten schnell einen starken Korpsgeist ent-

256

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

wickelt27. In dem Maße, in welchem die Stärke der militärischen Einheiten unter dem Kommando von Huangpu-Offizieren zunahm, verbesserte sich auch die Stellung Chiangs in der KMT. Seine Militärfraktion sammelte sich vor allem um Ho Ying-ch'in, Ch'ien Ta-chün*, Wang Poling"', Liu Shih und später auch Hsüeh Yüeh, der allerdings Anfang April 1927 in Shanghai noch geschwankt hatte. Zu den Militärs traten seit 1926 unter die Anhänger Chiangs audi eine Reihe junger ziviler Kader, die eng mit Chang Ching-diiang verbunden waren und meist aus Honoratiorenfamilien der Provinz Chekiang stammten. Die einflußreichsten unter ihnen wurden schnell die Gebrüder Ch'en. Mit ihrer Hilfe begann 1927 der Versuch, die militärischen Kader der Partei durch einen Kreis zuverlässiger ziviler Funktionäre zu ergänzen. Doch Chiang hatte in der NRA noch lange Zeit erhebliche Konkurrenz. Leidenschaftlicher Antikommunismus verband die Gruppe der „KuangsiGenerale" — vor allem Li Tsung-jen, Li Chi-shen und Pai Ch'ung-hsi — im Frühjahr 1927 mit ihm. Diese waren jedoch dem sozialpolitischen Programm Sun Yat-sens gegenüber sehr skeptisch und standen deshalb weiter „rechts" als der Oberbefehlshaber der NRA. Die Gruppe der „Alten Genossen", wie sie sich selber bezeichneten, beherrschte seit 1926 die ZKK der KMT. Ihre einflußreichsten Vertreter waren die drei in ganz China geachteten Gelehrten Ts'ai Yüan-p'ei, Wu Chih-hui und Li Shih-tseng, die gleichzeitig als Führer des chinesischen Anarchismus galten. An sozialpolitischen Reformen nicht sonderlich interessiert, hegten sie eine beträchtliche Abneigung gegen Massenorganisationen und wandten sich deshalb schon vor Chiang gegen die Kommunisten. Obgleich sie zu den leidenschaftlichsten Kritikern der traditionellen chinesischen Philosophie gehörten und deshalb im Gegensatz zur „Westberggruppe" standen, waren sie nicht selten bereit, mit regionalen Militärmachthabern zusammenzuarbeiten, sobald sie diese als „aufgeklärte Leute" ansahen. Unter dem Einfluß ihrer vom Anarchismus bestimmten politischen Theorie konnten sie so den Gedanken der Autonomie chinesischer Provinzen und Regionen entwickeln, der sie bald in die Nähe der Kuangsi-Generale brachte. Andererseits veranlaßte sie ihre Loyalität gegenüber der Partei immer wieder dazu, schließlich doch Chiang und nicht die regionalen Militärmachthaber zu unterstützen, wenn sie vor diese Alternative gestellt wurden 28 . 27 28

Vgl. hierzu: Liu, op. cit., p. 55—59. Eine sehr einseitig polemisdie Darstellung der politischen Vorstellungen dieser Gruppe, aus der man dennoch mandies über ihre Ideen entnehmen kann, gibt: T'ang, Revolution, p. 324 ff.

Fraktionen und Machtgruppen in der

KMT-Fiihrung

257

Die „Westberggruppe": Seit dem Dezember 1925 gab es in Shanghai noch eine zweite, aus der „Westberg-Konferenz" entstandene Parteizentrale, die jedoch bis 1927 ein wenig beachtetes Schattendasein führte. Unter der Leitung von Chang Chi, Tsou Lu, Lin Sen, Chü Cheng und Hsieh Ch'ih vertrat sie die Interessen einer Anzahl langjähriger Parteimitglieder, von denen viele schon 1905 an der Gründung des „T'ungmeng-hui" teilgenommen hatten. Sie waren zwar aus Loyalität Sun Yat-sen bei der Entscheidung für das Bündnis mit dem Kommunismus gefolgt und hatten die Reorganisation von 1924 akzeptiert, aber diese Politik niemals aktiv vertreten. Bald nach dem Tode des Parteiführers befürworteten sie einen Bruch mit der KCT, den sie auf der „Westberg-Konferenz" dann vollzogen. Die Beschlüsse und personalpolitischen Entscheidungen des II. Parteikongresses wurden von ihnen deshalb nicht mehr anerkannt. Sozialpolitisch konservativ, fühlten sie sich dennoch aufgrund ihres ausgeprägten Nationalismus weiterhin mit der nationalrevolutionären Bewegung verbunden, und sie söhnten sich mit der Partei aus, als im April 1927 Chiang und im Juli schließlich auch der linke Flügel jene Beschlüsse gegen die Kommunisten durchführten, die sie bereits Ende 1925 gefaßt hatten. Seither stellten sie im engeren Sinne den rechten Flügel der K M T dar. Hu Han-min und Wu Ch'ao-shu arbeiteten vom Frühjahr 1927 an zeitweilig mit ihnen zusammen, ohne sich jedoch ganz der „Westberggruppe" anzuschließen. Im I. ZEK der K M T stellte die „Westberggruppe", und mit ihr zeitweilig auch Tai Chi-t'ao und Li Lieh-chün, den rechten Flügel dar. Außer den Kommunisten und der Gruppe um Wang Ching-wei und Liao Chungk'ai wird man alle anderen Mitglieder dieses Gremiums als Anhänger des Zentrums bezeichnen können. Nach dem Ausscheiden der „Westberggruppe" entstand im II. ZEK unter Hu Han-mins Führung ein neuer rechter Flügel (dem auch die Kuangsi-Generale zuzurechnen sind). Chiang, Tai Chi-t'ao und ihre nächsten Anhänger vertraten die rechte Mitte, während sich die linke Mitte um T'an Yen-k'ai sammelte. Im folgenden soll ein kurzer Überblick noch Auskunft über die Struktur dieser Machtgruppen und die Stärkeverhältnisse unter ihnen geben. Elf der 24 Mitglieder des I. ZEK gehörten dem rechten Flügel an; von ihnen hatten sieben an ausländischen Universitäten studiert, drei absolvierten Militärakademien und einer hatte eine traditionelle Erziehung genossen. Sechs kamen aus dem Inneren des Landes, fünf aus den Küstenprovinzen. Das Zentrum war im I. ZEK durch sieben Mitglieder vertreten (drei Absolventen ausländischer Universitäten, ein Militär, ein Gelehrter traditionellen Stils, bei zweien ist der Ausbildungsgang unbekannt; 17

Domes

258

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen

Revolution

vier von der Küste, drei aus dem Landesinneren), der linke Flügel hingegen durch drei Mitglieder (zwei von ausländischen Universitäten, einer mit traditioneller Erziehung; zwei von der Küste, einer aus dem Inneren des Landes). Von den drei kommunistischen Mitgliedern des I.ZEK hatten zwei auf chinesischen Universitäten studiert, alle drei kamen aus Küstenprovinzen. Im II. ZEK fanden sich erheblich veränderte Stärkeverhältnisse. Fünf seiner Mitglieder kann man zum rechten Flügel zählen, sechs zur rechten Mitte, acht zur linken Mitte, zehn zum linken Flügel, sieben waren Kommunisten. Eine Aufstellung über Bildungsgang und regionale Herkunft der Angehörigen der verschiedenen Machtgruppen mag diese Angaben ergänzen: Rechter Flügel: ausländische Universitäten 2; Militärakademien 2; unbekannt 1; Küstenprovinzen 3; Landesinneres 2; Rechte Mitte: ausländische Universitäten 2; Militärakademien 4; Küstenprovinzen 3; Landesinneres 3; Linke Mitte: ausländische Universitäten 4; traditionelle Erziehung 2; chinesische Mittelschulen 1; unbekannt 1; Küstenprovinzen 4; Landesinneres 4; Linker Flügel: ausländische Universitäten 8; chinesische Universitäten 1 ; unbekannt 1; Küstenprovinzen 7; Landesinneres 2; unbekannt 1; KCT: ausländische Universitäten 4; chinesische Universitäten 1; unbekannt 2; Küstenprovinzen 4; Landesinneres 2; unbekannt 1; Aus dieser Zusammenstellung geht deutlich hervor, daß die Linke einschließlich der Kommunisten ihre Stärke im ZEK aus den Küstenprovin-

Wandlungen der KMT im Jahre 1927

259

zen und der Gruppe der Absolventen ausländischer Universitäten bezog. Ähnliches gilt auch noch für die Angehörigen der linken Mitte, wenngleich sich hier Politiker aus den Küstenprovinzen und aus dem Landesinneren die Waage halten. Die rechte Mitte und der rechte Flügel hingegen stützten sich vor allem auf das Militär. Dies kommt schon darin zum Ausdruck, daß sechs von den insgesamt elf Vertretern dieser beiden Machtgruppen Generale waren. Dennoch muß vor der Annahme gewarnt werden, daß die Streitkräfte schon 1927 eine einheitlich auftretende Macht dargestellt hätten. Es wurde bereits auf die Spaltung hingewiesen, die sich nach Chiangs Aktion vom 12. April 1927 in der NRA vollzog. Für die Entwicklung der K M T in den folgenden Jahren sollte eine weitere Unterscheidung noch größere Bedeutung gewinnen. Ein erheblicher Teil der NRA vertrat die Interessen regionaler Militärmachthaber, die sich der K M T angeschlossen hatten. Ihm stand die Gruppe der alten,, Parteiarmee" unter Chiang gegenüber, die den zentrifugalen Tendenzen der Provinzarmeen zentripetale Kräfte entgegensetzte. So begann sich bereits jetzt im Ansatz eine neue Differenzierung abzuzeichnen, die später zeitweilig die Fraktionsinteressen zu überlagern vermochte. Chiang, die Parteiarmee (später „Zentralarmee" genannt) und die Gruppen um Tai Chi-t'ao und Chang Ching-chiang waren ebenso zentralistisch orientiert wie der linke Flügel. Teile der rechten Mitte hingegen, so vor allem die „alten Genossen" , die Kuangsi-Generale und andere halbselbständige Militärgruppen bildeten über alle sonstigen Gegensätze hinweg fortan nicht selten regionalistische Koalitionen. Die „Zentralisten" waren hierbei weitgehend mit den sozialreformerischen Kräften identisch, die sich hinfort der Unterstützung von Chiangs Militärgruppe zu versichern hatten.

Wandlungen in den Grundsätzen und Methoden der KMT im Jahre 1927 Der Zusammenbruch des Bündnisses zwischen den chinesischen Nationalisten und den Kommunisten führte nicht nur zu einer organisatorischen Krise der KMT, sondern brachte der Partei Sun Yat-sens darüber hinaus qualitative Veränderungen, die für die weitere Entwicklung der chinesischen Revolution höchst bedeutungsvoll wurden. Während schon in den letzten beiden Lebensjahren des Parteigründers, und mehr noch nach seinem Tode, die in der Grundlehre vom Volkswohl 17*

260

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesisclxn

Revolution

in Ansätzen erkennbaren sozialreformerischen Ideen die Theorie der KMT mindestens ebenso stark bestimmten wie die nationalistische Plattform der Grundlehre vom Volkstum, trat diese jetzt eindeutig in den Vordergrund. Der rechte Flügel der Partei hatte hier schon immer die Basis seiner Beteiligung an der revolutionären Bewegung gesehen. Seit 1927 aber stellten audi das Zentrum und die Linke den Gedanken der nationalen Einheit und außenpolitischen Emanzipation Chinas in den Mittelpunkt ihres Programms. Um sie zu erreichen, bedurfte es nach der Auffassung der Führer dieser Gruppen — Wang Ching-wei nicht ausgeschlossen! — zunächst der Einigkeit möglichst großer Teile des chinesischen Volkes. Die Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen mußte, so meinten sie, zurückgestellt weren, bis eben diese Einigkeit hergestellt und damit die von ihnen als notwendig angesehene Grundlage für die Erfüllung des nationalistischen Programms geschaffen war. Eine Änderung der sozialen Ordnung „von unten", und gar unter Anwendung von Gewalt, hätte die besitzende Minderheit des Volkes, aus deren Reihen die Mehrheit der politisch aktiven Kräfte kam, der KMT entfremdet. Dies aber wollte man fortan noch weniger riskieren als in den letzten Monaten vor der Trennung von den Kommunisten. Die führenden Köpfe des linken Flügels und auch viele der Anhänger Chiangs erkannten im Prinzip durchaus, daß das Problem der Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft und des ländlichen Kreditwesens in einer Weise gelöst werden mußte, welche die Lebensbedingungen der Pächter, Kleinbauern und Landarbeiter spürbar verbesserte29. Aber dies konnte nach ihrer Meinung nur durch Dekret und Gesetz — also „von oben" — geschehen, und diese „Revolution von oben" hatte die außen- und innenpolitische Handlungsfreiheit der nationalistischen Einheitspartei zur Voraussetzung. Solange China nicht souverän sein eigenes Finanzwesen bestimmen konnte, sondern noch unter dem Druck der ausländischen Kontrolle bedeutsamer Einnahmequellen stand, und solange es der nationalistischen Führung nicht möglich war, Anweisungen der Zentrale überall im Lande durchzusetzen, glaubten die maßgeblichen Persönlichkeiten der KMT nicht, daß sie grundlegende soziale Reformen veranlassen könnten. Wir werden noch sehen, wie sie diese dennoch vorbereiteten. Der weitere Kampf gegen die regionalen Militärmachthaber und die Errichtung eines wirksamen Regierungsapparats, die in den folgenden Jahren die Kräfte der KMT absorbierten, waren für Chiang,Wang und ihre Anhänger bereits ein Teil der chinesischen Revolution, auf deren Verwirklichung auch sie nicht verzichten wollten. " Vgl. dazu u. a.: ibid., p. 332.

Wandlungen

der KMT im Jahre

1927

261

Sie haben nach 1927 diese Revolution jedoch vertagt, um zunächst jene Vorbedingungen zu schaffen, die sie für erforderlich hielten. Dazu gehörte neben der Befriedung des Landes u. a. eine sichere Kontrolle der Partei über die Verbände der Arbeiter, Bauern, Studenten und Frauen. D a ß diese zwischen 1924 und 1927 in die Hand der Kommunisten gefallen waren, hatte bei fast allen Gruppen der K M T zu tiefem Mißtrauen gegenüber den Massenorganisationen als Instrumenten der Revolution überhaupt geführt. Vor allem das Zentrum und die Rechte waren hinfort nicht mehr bereit, eine selbständige Entwicklung dieser Verbände zu dulden. Auf dem 4. Plenum des II. Z E K Anfang Februar 1928 in Nanking zogen Chiang Kai-shek und seine engsten Mitarbeiter im Parteiapparat die organisatorischen Konsequenzen aus den Ereignissen des Jahres 1927. Auf ihren Antrag hin wurden die Abteilungen für Bauern, Arbeiter, Frauen und Jugend in der Parteizentrale und den regionalen und lokalen K M T - A p paraten abgeschafft. In Zukunft durften in den Massenorganisationen nur nodi solche leitenden Kader tätig werden, die unter der Leitung der Parteizentrale oder der Provinz-Parteihauptquartiere ausgebildet wurden. Die Einberufung von Versammlungen der Arbeiter und Bauern und den Aufbau ihrer Vereinigungen machte man davon abhängig, daß an den betreffenden Orten bereits Parteizellen bestanden 30 . In der Praxis wirkten sich diese Entscheidungen so aus, daß örtliche Verbände der Massenorganisationen nur noch dort aktiv blieben, wo die K M T ausgebildete Leitungskräfte zur Verfügung hatte. Diese aber fehlten ihr in den meisten Orten. Die „Parteisäuberung" von 1927 führte zu einem schwerwiegenden Mangel an zivilen Kadern in der nationalistischen Einheitspartei. Bis dahin war die K M T genötigt, sich auf jene Offiziere, die in Huangpu ausgebildet worden waren, zu stützen, und darüber hinaus bald auch für jüngere, vom Studium im Ausland zurückgekehrte Beamte. Diese fanden jedoch besonders zu den Bauern nur schwer Kontakt, und die Militärs brachten selten die Voraussetzungen für eine erfolgreiche organisatorische und vor allem propagandistische Arbeit unter der Bevölkerung mit. Ihr Interesse an Ordnung und Disziplin war auf Grund ihrer Erfahrungen in der N R A größer als dasjenige an der politischen Aktivierung der Massen. 30

Vorschläge von Chiang Chung-dieng (Kai-shek) u. a. zur Regelung der Parteiangelegenheiten auf dem 4. Plenum des II. Z E K der KMT, in: K M W H , Bd. X V I I , p. 182 und 184. Siehe dazu auch unten, S. 2 9 8 !

262

VI. Kapitel: Die Rolle der KMT in der Chinesischen Revolution

In den chinesischen Dörfern bot sich für die K M T die herkömmliche Honoratiorenschicht — oder jene Kräfte, die von ihr noch übriggeblieben waren — als Partner an. Die Partei begann, sich noch stärker auf sie zu stützen, als dies auch in der Periode der Zusammenarbeit mit den Kommunisten mancherorts geschehen war. So sah sich die Parteiführung, die selbst durchaus gewillt blieb, an der Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnungsformen teilzunehmen, mit lokalen Apparaten konfrontiert, in denen meist solche Eliten den Ton angaben, die den herkömmlichen Führungsschichten und deren ökonomischen Interessen verbunden waren. Dieser Gegensatz zwischen den Intentionen der Zentrale und der politischen Praxis in den Dörfern und Landstädten Chinas konnte nur überwunden werden, wenn es der K M T gelang, in ausreichender Zahl aktivistische Kader heranzubilden. Die Partei aber konzentrierte sich in den folgenden Jahren weiterhin auf die Ausbildung des militärischen Nachwuchses. Er nahm die lebendigsten und einsatzbereitesten Kräfte der jungen Generation des chinesischen Nationalismus auf. Man brauchte ihn, weil man die Herstellung der Einheit des Landes und dessen Verteidigung gegen ausländische Ubergriffe für die Voraussetzung eines Erfolges der „Revolution von oben" hielt, für die man sich in allen Fraktionen der K M T entschieden hatte. Um für diese Politik einen Konsens der Regierten zu erlangen, bedurfte es jedoch gerade der politischen Mobilisierung der Arbeiter, Handwerker, Kaufleute und vor allem der Bauern. Die Frage, wie diese Mobilisierung mit Hilfe der vorhandenen Kaderstruktur bewerkstelligt werden könnte, stellte sich den chinesischen Nationalisten seit 1927 in noch stärkerem Maße als in der Periode der revolutionären Aktion.

Zweiter Teil Konsolidierung der Herrschaft — Die KMT von 1927 bis 1931

VII. Kapitel Die Krise und der militärische Sieg der KMT 1927/ 28 Chiang Kai-sheks Rücktritt und die Bildung des „Spezialkomitees" Als der linke Flügel der KMT in Wuhan das Bündnis mit den Kommunisten aufkündigte, war in China eine Kräftekonstellation entstanden, die Möglichkeiten für unterschiedliche Koalitionen bot. In Peking hatte Chang Tso-lin am 18. Juni 1927 als „Generalissimus" die Leitung der Exekutive übernommen. Er kontrollierte unmittelbar Tungpei, Hopei und Teile der Inneren Mongolei. Darüber hinaus unterstellten sich audi Chang Tsung-ch'ang, der die Provinz Shantung beherrschte, und Sun Ch'uan-fang, der mit den Resten seiner Truppen im Küstengebiet an der Grenze von Shantung und Kiangsu stand, seinem Oberbefehl. Die drei nördlichen Militärmachthaber verfügten zusammen über Truppenverbände in Stärke von mehr als 500.000 Mann 1 . Die Provinz Shansi war weiterhin in der Hand Yen Hsi-shans. Dieser hatte sich zwar entschlossen, mit der Nanking-Regierung zu kooperieren, er nahm aber weiterhin gegenüber Peking eine abwartende Haltung ein2. Feng Yü-hsiang befand sich mit seiner „Kuominchün" im sicheren Besitz der Provinzen Shensi, Kansu, Ninghsia und Suiyüan. Außerdem kontrollierte er jetzt, nachdem sich die Wuhan-Truppen wieder nach Hupei zurückgezogen hatten, den größten Teil Honans. Die Wuhan-Regierung hatte, als Chu P'ei-te Anfang Juni begann, gegen die Kommunisten und Massenorganisationen in seinem Herrschaftsbereich vorzugehen, die Kontrolle über den größten Teil von Kiangsi verloren. Um dieselbe Zeit Schloß sich Ch'eng Ch'ien mit dem 6. Armeekorps Wuhan an, so daß Chiukiang wieder in den Herrschaftsbereich der KMT-Linken geriet. Daraufhin stießen Teile des 7. Armeekorps unter Li Tsung-jen von Wuhu aus gegen Chiukiang vor. Eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Nanking und Wuhan schien unvermeidlich zu 1

2

Vgl. hierzu audi: Liu, op. cit., p. 50 f. (Quelle: „Hsin-wen pao", Shanghai, vom 19. 6.1927.) Chapman, op. cit., p. 236 f.

266

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

sein, zumal Chiang Kai-shek gleichzeitig versuchte, mit Hsia Tou-yin, der sich nach Nord-Hupei zurückgezogen hatte, in Verbindung zu treten, um ein gemeinsames Vorgehen gegen Wuhan in die Wege zu leiten 3 . Unter dem Eindruck dieser Gefahr beschloß der Wuhaner Militärrat am 23. Juni, daß T'ang Sheng-chih und Ch'ang Fa-k'uei mit dem 4. und Teilen des 8. Armeekorps die Offensive gegen Nanking eröffnen sollten. Diese Stadt wurde nur vom 7. Armeekorps geschützt, da die Hauptmacht der Nanking-Truppen unter Chiang, von Hsüchou entlang der T'ienchin-P'uk'ou-Bahn auf Chinan vorstoßend, den Nordfeldzug fortsetzte 4 . Anfang Juli fielen die Truppen T'ang Sheng-chihs in Anhui ein. Gleichzeitig entschloß sich Japan, in das Geschehen in Shantung einzugreifen, um den weiteren Vormarsch der N R A nach Norden zum Stehen zu bringen. Am 7. Juli wurden 3.000 Mann japanischer Marineinfanterie von Ch'ingtao nach Chinan gebracht, welche die Stationen der ShantungBahn besetzten 5 . Chiang befand sich in einer außerordentlich schwierigen Lage. Seine Truppen standen in einer Gegend, die über 500 km von seiner Basis entfernt lag. Außerdem geriet er in große finanzielle Schwierigkeiten. Die Löhnung für seine Armee blieb aus, Nachschub an Munition und Verpflegung erreichte sie nur unregelmäßig. Sein Versuch, eine 60-Millionen-Yüan-Anleihe aufzulegen, die durch die Salzsteuer gesichert werden sollte, scheiterte am 12. Juli am Protest der Mächte, weil diese Steuer bereits einmal für einen ausländischen Kredit verpfändet worden war®. Die neue Offensive der Wuhan-Truppen bedrohte Chiangs Flanke, und gleichzeitig verstärkte Chang Tso-lin die Shantung-Armee mit frischen Elitetruppen aus Nordchina, während Sun Ch'uan-fang von neuem die Reste seiner Armee sammelte und diese im Schutz der Japaner in SüdShantung reorganisierte 7 . Am 21. Juli begannen Sun und Chang Tsungch'ang, Chiang anzugreifen. Dieser wurde von den Nordtruppen fast umzingelt und vom 3. bis zum 5. August in der Schlacht bei Hsüchou geschlagen. Die N R A ging fluchtartig auf den Yangtzu zurück8, den sie 3 4

Vgl. ibid., p. 228 f.; T'ang, Revolution, p. 289; und Tong, op. cit., p. 90. Beschlußprotokoll der Sitzung des Militärrates der Nationalregierung (Wuhan) am 23. Juni 1927 (KMT-Ardiiv).

5

Vgl. hierzu: Chapman, op. cit., p. 221 ff.

β

ibid., p. 230. Vgl.: Ch'en Hsün-cheng, „Der Nordfeldzug wird wegen des Rüdetritts des Oberbefehlshabers Chiang unterbrochen", in: K M W H , Bd. X V , p. 717—790 (mit Marschbefehlen und Kampfberichten aus der Zeit vom 1 8 . 7 . bis zum 1 3 . 8 . 1 9 2 7 ) ; und: Chapman, op. cit., p. 226 und 229. So Ch'en, ibid. Vgl. dazu: Tong, op. cit., p. 91 und T'ang, Revolution, p. 290.

7

8

Chiang Kai-sheks Rüdetritt und die Bildung des

„Spezialkomitees"

267

unter Verlust von etwa 30.000 Mann um den 10. August erreichte9. Diese schwere Niederlage und die zur gleichen Zeit von den Wuhan-Truppen in Anhui errungenen Erfolge gefährdeten die Position Nankings in erheblichem Maße. Innerhalb der Nanking-Regierung führte die Schwächung der militärischen Machtbasis Chiangs dazu, daß die Kuangsi-Generale ihren Einfluß weiter verstärken konnten. Li Tsung-jen und Pai Ch'unghsi begannen jetzt, eine Annäherung Nankings an Wuhan zu betreiben. Durch den Bruch des linken Flügels der K M T mit den Kommunisten war die Grundlage für eine Einigung geschaffen worden, die Rolle des Vermittlers übernahm zunächst Feng Yü-hsiang. Wang Ching-wei, der sich am 30. Juli von Wuhan nach Chiukiang begeben hatte, berichtete am 3. August Feng in einem Telegramm von der Säuberung der Kommunisten in seinem Herrschaftsbereich und vom kommunistischen Aufstand in Nanch'ang. Der Oberbefehlshaber der Kuominchün gab diese Nachricht nach Nanking weiter. Daraufhin sandte die Nanking-Gruppe am 8. August ein an Wang Ching-wei, T'an Yen-k'ai und andere leitende Politiker und Militärs der KMT-Linken adressiertes Telegramm nach Wuhan. Sie beglückwünschte die Wuhaner Führung zu deren Aktionen gegen die K C T und entschuldigte sich zugleich dafür, daß sie „den Fehler begangen" hätte, „ . . . zu rasch zu handeln". Der Konflikt in der K M T , so stellten die Nankinger Führer fest, könne jetzt beigelegt werden, und um dies zu erreichen, schlugen sie die Einberufung „einer Plenarsitzung" nach Nanking vor 10 . Dieses Verhandlungsangebot erhielt dadurch besondere Bedeutung, daß in der Liste der Unterschriften der Name Chiangs erst an vierter Stelle hinter denjenigen Li Tsung-jens, Pai Ch'ung-hsis und Ho Ying-ch'ins erschien11. Schon diese Tatsache wies auf den Machtverlust hin, den der Oberbefehlshaber der N R A nach seiner Niederlage bei Hsüchou erlitten hatte. Wuhan antwortete am 10. August mit einem von Wang, T'an Yen-k'ai, Ch'eng Ch'ien, Sun K'e, Ch'en Kung-po, T'ang Sheng-chih und Ku Meng-yü unterzeichneten Telegramm. Die Führer des linken Flügels der K M T drückten ihr „Bedauern" darüber aus, daß sie „so spät" gegen die Kommunisten vorgegangen seien, sie bestanden aber darauf, daß das Z E K in Wuhan weiterhin die höchste Auto9 10

Chapman, op. cit., p. 230. Telegramm Li Tsung-jens u. a. an Wang Ching-wei u. a. vom 8. 8. 1927, in: „Shanghai shih-shih hsin-pao" (Shanghaier Neueste Nachrichten) vom 1 0 . 9 . 1 9 2 7 ; auch in: K M W H , Bd. X V I I , p. 146. Vgl. T'ang, Revolution, ibid. und: Ders., Wang, p. 161.

11

Außer von ihnen ist das Telegramm noch von H u Han-min, Li Lieh-chün, Chang Ching-chiang, Niu Yung-chien, Ts'ai Yüan-p'ei, Wu Chih-hui und Li Shih-tseng unterschrieben. Vgl. hierzu: T'ang, ibid., und: Tong, op. cit., p. 91.

268

VII. Kapitel: Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

rität in der K M T darstelle. Um alle persönlichen und sachlichen Probleme zu regeln und eine neue Regierung zu bilden, sollte möglichst schnell das „4. Plenum" des ZEK zusammentreten 12 . So wurde also gefordert, daß Nanking nachträglich die Legitimität des 3. Plenums des ZEK in Wuhan im März 1927 anerkennen solle. Im übrigen aber bestand offenbar auf beiden Seiten Bereitschaft zur Einigung. Als größtes Hindernis für die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit zwischen Nanking und Wuhan erschien die Person Chiangs. Es gibt H i n weise darauf, daß die Wuhaner Führungsgruppe in Nanking seinen Rücktritt forderte 13 , doch fehlen uns dafür bis heute dokumentarische Belege. Jedenfalls begannen die Kuangsi-Generale darauf zu drängen, daß Chiang sich — mindestens vorübergehend — zurückziehe. Dieser gab schließlich nach und erklärte am 13. August seinen Rücktritt als Vorsitzender der Nanking-Regierung, Oberbefehlshaber der N R A und Vorsitzender des Militärrats. In einer Abschiedsansprache vor dem N a n kinger Militärrat verlangte er, daß Nanking und Wuhan sich umgehend einigen sollten, daß der Nordfeldzug mit der Stoßrichtung auf T'ienchin und Peking fortgesetzt, und daß die „Parteisäuberung" in den Provinzen Hunan, Hupei und Kiangsi energisch in Angriff genommen werden müsse14. Schon am 14. August verließ er Nanking und begab sich in seinen Heimatkreis Fenghua in Chekiang 15 . Einen Tag später, am 15. August, legten auch H u Han-min, Chang Ching-chiang, Ts'ai Yüanp'ei, Wu Chih-hui, Li Shih-tseng und Tai Chi-t'ao ihre Ämter nieder. N u r Li, Pai und H o Ying-ch'in blieben in der Hauptstadt zurück und übernahmen an der Spitze des Militärrates zunächst formell das Kommando der N R A l e . Am 17. August gaben sie allen Truppeneinheiten den Befehl zum Rückzug über den Yangtzu. Sun Ch'uan-fang besetzte das 12

Telegramm Wang Ching-weis u. a. an Li Tsung-jen u. a. in Nanking vom 10. 8. 1927, in: „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 1 0 . 9 . 1 9 2 7 ; audi in: KMWH, ibid., p. 146 f. Vgl. T a n g , Revolution, p. 291.

13

So Chapman, op. cit., p. 239. Dies bestätigte auch H o Ying-ch'in im Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964 in T'aipei.

14

Erklärung des Oberbefehlshabers Chiang über seinen Rücktritt und die Zusammenarbeit zwischen Nanking und Wuhan, vom 13. 8.1927, In: K M W H , Bd. X V , p. 791 bis 797. Auszugsweise in Englisch bei: Tong, op. cit., p. 92—95. Vgl. dazu audi: Chapman, ibid. und: T'ang, Revolution, p. 292.

15

Tong, op. cit., p. 95, und: T'ang, ibid. T'ang spricht von einer „Leibwache" von 400 Soldaten, die Chiang begleitet hätte.

18

Erklärung des Militärrates (Nanking) über den Oberbefehl der N R A vom 16. 8. 1927 (KMT-Archiv).

Chiang Kai-sheks Rücktritt

und die Bildung des „Spezialkomitees"

269

Nordufer des Flusses, während die Wuhan-Truppen gleichzeitig den größten Teil von Anhui unter Kontrolle nahmen. Die Nankinger Führung stand vor dem Zusammenbruch. Der Rücktritt Chiangs löste unter der Bevölkerung eine Protestwelle von unerwarteter Intensität aus. In den chinesischen Zeitungen jener Tage findet sich eine Fülle von Resolutionen der verschiedensten Verbände und von Leserbriefen, in denen er aufgefordert wurde, das Amt des Oberbefehlshabers wieder zu übernehmen17. Die KMT-Parteiorganisation der Stadt Nanking verlangte schon am 17. August die Rückkehr Chiangs, und am 3. September wurde diese Forderung während einer Massendemonstration wiederholt 18 . Li, Pai und Ho, die also auch in ihrer eigenen Hauptstadt in Schwierigkeiten gerieten, baten jetzt telegraphisch Wuhan um Hilfe gegen die Truppen Sun Ch'uan-fangs 19 . Diese begannen bereits, Nanking zu beschießen. So war im Laufe weniger Tage für Wang Ching-wei und dessen Anhänger überraschend die Möglichkeit entstanden, sich wieder an die Spitze der nationalistischen Bewegung zu stellen. Doch Streitigkeiten im eigenen Lager schwächten die Linke und die „linke Mitte", so daß die Chance, die sich Wuhan bot, verspielt wurde. Zunächst galt es, die schwere militärische Bedrohung abzuwehren, die entstand, als Sun Ch'uan-fang den Angriff über den Yangtzu auf Nanking vorbereitete. Am 17. August eroberten seine Truppen P'uk'ou 20 , und am 25. versuchte er mit 70.000 Soldaten, den Fluß zu überschreiten. Der Übergang gelang ihm zwar, er wurde jedoch dann von den Verbänden Pai Ch'ung-hsis wieder zurückgeworfen, wobei er 10.000 Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen verlor. Am folgende Tage unternahm er einen neuen Versuch zur Überquerung des Yangtzu. Diesmal hatte er mehr Erfolg: Bei Lungt'an setzte er zum entscheidenden Stoß auf Nanking an. Zunächst gelang es ihm auch, die Verbindung zwischen Nanking und Shanghai zu unterbrechen. Dann aber gingen Ho, Pai und Li zum Ge17

So u. a. in: „Hsin-wen pao", „Shen-pao" und „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 14., 15. und 16. 8. 1927.

18

So Tong, op. cit., p. 95 f., bestätigt durch Meldungen in: „Kuo-min jih-pao", Nanking, vom 18. 8. bzw. 4. 9.1927.

w

T'ang, Revolution, p. 292. Pai Ch'ung-hsi hat diese Mitteilung im Interview mit dem Verfasser bestätigt, ebenso H o Ying-di'in, der jedoch behauptete, man habe von Nanking aus nur „gemeinsame Operationen" gegen die Truppen Suns vorgeschlagen. Der Text des von T'ang erwähnten Telegramms stand nicht zur Verfügung.

20

Chapman, op. cit., p. 240.

270

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT 1927/28

genangriff über und brachten Sun am 29. und 30. August eine vernichtende Niederlage bei. Über 30.000 Nordsoldaten ergaben sich, etwa 15.000 Tote und Verwundete mußte Sun auf dem Feld zurücklassen, die Reste seiner Armee flohen in Panik nach Nord-Kiangsu. Schon am 1. und 2. September überschritten die Armeen Hos und Lis den Yangtzu von neuem. Die unmittelbare Bedrohung der nationalistischen Hauptstadt war damit abgewendet, außerdem hob der Sieg bei Lungt'an die Moral der NRA beträchtlich, und er festigte besonders das Selbstbewußtsein der KuangsiGenerale21. Der Erfolg stärkte Nankings Stellung in den Einigungsgesprächen mit Wuhan, die unterdessen bereits begonnen hatten. Am 19. August erteilte der Wuhaner PR Wang Ching-wei, T'an Yen-k'ai, Yü Yu-jen, Sun K'e, Ku Meng-yü und T'ang Sheng-chih den Auftrag, nach Chiukiang zu gehen und von dort aus mit Nanking Fühlung aufzunehmen22. Diese Delegation traf am 21. August in Chiukiang ein, wo sie von Ch'en Kung-po, Chu P'ei-te und Ch'eng Ch'ien erwartet wurde. Schon am 22. kam es dort zu einer Begegnung mit Li Tsung-jen, der die Wuhaner Führer aufforderte, nach Nanking zu gehen, um eine neue Parteizentrale und Regierung zu errichten, da die bisherigen Nankinger Behörden sich im Stadium der Auflösung befänden. Man beauftragte T'an und Sun K'e, mit Li zusammen nach Nanking vorauszueilen. Außerdem erhielt T'ang Sheng-chih auf Wunsch Lis die Anweisung, nicht weiter nach Osten vorzugehen, um neue militärische Konflikte zwischen Wuhan und Nanking zu vermeiden. Noch unter dem Feuer der Geschütze der Nordtruppen trafen Li, T'an und Sun am 24. August in Nanking ein. Schon zwei Tage später bildete T'an dort eine Übergangsregierung, in der er selbst den Vorsitz und Wu Ch'ao-shu das Außenministerium übernahm, während Sun K'e Verkehrsminister, Sung Tzu-wen Finanzminister, Wang Ch'ung-hui Justizminister und Ho Ying-ch'in Minister 21

Vgl. hierzu: Ch'en Hsün-cheng, „Die Schlacht bei Lungt'an", in: K M W H , Bd. X V I , p. 8 0 5 — 8 5 7 ; und: Liu, op. cit., p. 50 und 57 f. Die Frage, wer maßgeblich für den Sieg von Lungt'an verantwortlich sei, bleibt unklar. Sowohl H o Ying-di'in als auch Pai Ch'ung-hsi deuteten im Interview mit dem Verfasser (beide — nacheinander — am 11. September 1964 in T'aipei) an, daß jeweils sie die Schlacht entschieden hätten. Liu, ibid., gibt Li Tsung-jen, seinen früheren Chef, als wesentlichsten Kommandanten an und schreibt, Pai und H o seien ihm zu Hilfe gekommen. Nach den vorhandenen Marschbefehlen (bei Ch'en, ibid.) entwarf offenbar Pai den Schladitplan, während H o und Li die Kampftruppen führten. Man wird also wohl in allen drei Generalen gleichermaßen die Sieger von Lungt'an sehen müssen, der Sieg war ein Ergebnis der Zusammenarbeit von alter „Parteiarmee" und Kuangsi-Truppen.

22

Stenogr. Protokoll der 37. Sitzung des P R

der K M T (Wuhan) vom

19. 8. 1927

(KMT-Ardiiv). Vgl. zum folgenden Absatz auch: T'ang, Revolution, p. 293 f.

Chiang Kai-sheks

Rücktritt und die Bildung des „Spezialkomitees"

271

für Militärangelegenheiten wurden23. Dieses Notkabinett trat allerdings nie in Aktion. Seine Bildung war dennoch von Bedeutung; denn hier ergab sich bereits ein Ansatz zur Spaltung der Wuhaner Gruppe. T'an und Sun nahmen gegen den Willen Wang Ching-weis schon jetzt die Zusammenarbeit mit den Kuangsi-Generalen und den Politikern der ehemaligen Nanking-Regierung auf. Die Politik der K M T wurde um den Monatswechsel August/September 1927 im wesentlichen von vier Kräftegruppen bestimmt: Der Kern der Wuhaner Führung befand sich mit Wang Ching-wei, Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü und Frau Ho Hsiang-ning an der Spitze in Chiukiang. Er stütze sich auf die Truppen T'ang Sheng-chihs und Ch'eng Ch'iens, ebenso aber auch auf die Armee Chang Fak'ueis, der in Süd-Kiangsi die aus Nanch'ang fliehenden Kommunisten verfolgte. Die Kuangsi-Generale kontrollierten mit den Verbänden Li Tsungjens und Pai Ch'ung-hsis den Raum von Nanking und Shanghai, wo sie allerdings die Herrschaft mit der alten „Parteiarmee" unter Ho Yingch'in teilen mußten, während Li Chi-shen für ihre Fraktion die Provinz Kuangtung verwaltete. T'an Yen-k'ai und Sun K'e versuchten jetzt gemeinsam mit Li und Pai, eine Einigung aller Gruppen der K M T herbeizuführen. Der Kreis der „Alten Genossen" und die zivilen Führer der „rechten Mitte" um Chang Ching-chiang und Tai Chi-t'ao hatten sich nach Shanghai zurückgezogen. Dort führte seit dem Frühjahr 1926 das Hauptquartier der „WestbergGruppe" mit Chang Chi, Hsü Ch'ung-chih und einer Reihe anderer Politiker des rechten Flügels ein wenig beachtetes Dasein. Jetzt nahmen die Führer der „Westberg-Gruppe" Kontakte zu Sun K'e auf, während T'an sich um eine engere Zusammenarbeit mit der Gruppe der „Alten Genossen" bemühte. Chiang Kai-shek aber hielt sich aus dem Kampf der Fraktionen heraus und blieb in Fenghua, wo er die weitere Entwicklung zunächst abwartete. T'an und Sun waren daran interessiert, eine Koalition aller Fraktionen der K M T unter Einschluß der seit 1925/26 in Opposition stehenden „Westberg-Gruppe" zu bilden, und deshalb die aus dem ZEK ausgeschlossenen KCT-Mitglieder durch Anhänger des rechten Flügels zu ersetzen. Wang Ching-wei hingegen wollte die Wuhaner Leitungsgremien, die nach seiner Auffassung die einzig legitime Parteiführung darstellten, nach 23

„Kuo-min jih-pao" vom 27. 8.1927. Vgl. Gustav Amann, Chiang Kai-shek, op. cit., p. 36 (hinfort: Amann, Chiang).

272

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

Nanking verlegen und nur einzelne Persönlichkeiten der Nanking-Regierung in diese Gremien aufnehmen24. Als er mit der Delegation Wuhans am 5. September in Nanking eintraf, waren T'an und Sun, ohne ihn vorher zu informieren, bereits nach Shanghai abgereist, wo sie mit den „Alten Genossen" und der „Westberg-Gruppe" verhandeln wollten. Schon am 26. August hatte Sun in Chiukiang einen Vertrauensmann Hsü Ch'ung-chihs mit Wang in Verbindung gebracht. Dieser verlangte im Gespräch von der „Westberg-Gruppe" die vorbehaltlose Anerkennung der Reorganisation von 1924 und des II. ZEK, Bedingungen, auf welche der rechte Flügel nicht einzugehen bereit war. Da jedoch Suns Bemühungen in Shanghai zunächst von Chang Ching-chiang und den „Alten Genossen" boykottiert wurden, versuchte er von neuem, die „Westberg-Gruppe" für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Am 6. September verhandelte er ausführlich mit Hsü Ch'ung-chih, der ihm vorschlug, man solle die „drei ZEK" von Wuhan, Nanking und Shanghai auflösen und an ihrer Stelle ein „Zentrales Spezialkomitee" (Chung-yang t'e-pieh wei-yüan-hui) bilden, in das alle drei Führungsgruppen ihre Vertreter entsenden könnten. Auf diese Weise wurde also die „Westberg-Gruppe" wieder ins Spiel gebracht, und damit entstand ein neuer Gegensatz: Wang und seine Anhänger arbeiteten auf die Einberufung des 4. Plenums des I I . ZEK hin, während Sun und bald audi T'an und die „Alten Genossen", unterstützt von den Kuangsi-Generalen, die bisherigen konkurrierenden Leitungsgremien durch das „Spezialkomitee" ersetzen wollten. Wang rief T'an und Sun sofort nach Nanking zurück, wo diese am 7. September ankamen. Am folgenden Tage trat die Delegation Wuhans in der Hauptstadt zu Besprechungen mit Li Tsung-jen, Pai Ch'ung-hsi und Li Lieh-chün zusammen. Man beschloß, Wang, T'an Sun, Chu P'ei-te, Li Tsung-jen und Li Lieh-chün nach Shanghai zu entsenden. Sie sollten dort die „Alten Genossen" zur Rückkehr nach Nanking und zur Teilnahme am „4. Plenum" bewegen. Nach ihrem Eintreffen in 24

Eine ins Einzelne gehende Schilderung der Verhandlungen vom 5. bis zum 15. September 1927, die zur Bildung des „Spezialkomitees" führten, gibt: T'ang, Revolution, p. 2 9 2 — 3 0 3 ; und: Ders., Wang, p. 1 6 5 — 1 7 0 . Ihr folgt dieser Darstellung weitgehend, da die Berichte in der chinesischen Presse jener Tage (vor allem: „Hsin-wen pao", „Shanghai shih-shih hsin-pao" und „Min-kuo jih-pao", Wuhan, vom 7. bis 23. 9. 1927) sie bestätigen. Dokumente über diese Verhandlungen waren dem Verfasser nicht zugänglich. Man wird aber bei T'angs Schilderung im Auge behalten müssen, daß er einseitig den Standpunkt der Gruppe um Wang Ching-wei vertritt. Die von ihm mitgeteilten Fakten sind für diesen Abschnitt jedodi offenbar zuverlässig; denn audi Sun K'e bestätigte sie dem Verfasser im Interview am 3. April 1965 in Laguna Beach.

Chiang Kai-sheks Rücktritt und die Bildung des „Spezialkomitees"

273

Shanghai, am A b e n d des 9. September, nahmen sie sofort Fühlung mit T s ' a i Y ü a n - p ' e i , Li Shih-tseng und C h a n g Ching-chiang auf. H u H a n min und W u Chih-hui, die eine bittere persönliche Feindschaft von W a n g trennte, lehnten es hingegen ab, mit diesem zusammenzutreffen. A u f A n raten Suns f a n d sich W a n g schließlich bereit, statt dessen H s ü C h ' u n g chih und C h a n g C h i als V e r t r e t e r der „ W e s t b e r g - G r u p p e " zu den G e sprächen hinzuzuziehen, die am 11. September in Shanghai begannen. Gleich zu A n f a n g erklärten die „Alten Genossen", sie seien keineswegs bereit, die Beschlüsse des 3. Plenums in W u h a n von M ä r z 1 9 2 7 anzuerkennen, und auch L i Tsung-jen Schloß sich ihnen an. W a n g erwiderte, die O r d n u n g der P a r t e i müsse unbedingt erhalten bleiben, und f ü r sie sei das S t a t u t von 1 9 2 4 bestimmend. D a sich die M e h r h e i t der Mitglieder des rechtmäßig gewählten I I . Z E K am 3. Plenum beteiligt hätten, könne j e t z t nur das 4. Plenum einberufen werden. Sondergremien widersprächen der Parteiverfassung. D i e K o n f e r e n z wurde am 12. September fortgesetzt. J e t z t schlug Sun offiziell die Bildung des „Spezialkomitees" v o r ; er wurde dabei von H s ü Ch'ung-chih, C h a n g C h i , C h a n g Ching-chiang, Li Shih-tseng, T s ' a i Y ü a n - p ' e i und Li Tsung-jen unterstützt, ebenso aber auch von T ' a n Y e n k'ai. W a n g , der diesen Vorschlag mit Entschiedenheit ablehnte, verließ unter Protest die Sitzung. A m nächsten T a g e t r a f sich noch einmal im Hause Sung Tzu-wens, der selbst an dem Gespräch nicht teilnahm, die Verhandlungsdelegation der W u h a n - G r u p p e , doch blieben beide Seiten bei ihren S t a n d p u n k t e n . D a m i t w a r die W u h a n - G r u p p e endgültig gespalten. W a n g erklärte sofort in einem Telegramm an das „ Z E K der K M T " 2 ä und in einem Zirkulartelegramm „an alle Genossen der P a r t e i " 2 6 seinen Rüdktritt v o m A m t des Z E K - V o r s i t z e n d e n . N o c h am A b e n d desselben Tages, des 13. September, verließ er mit dem Schiff Shanghai und begab sich über C h i u k i a n g am 14. September nach W u h a n , um dort den W i d e r stand gegen das „Spezialkomitee" zu organisieren. D e r T e x t der beiden Rücktrittstelegramme, in denen das „4. P l e n u m " unerwähnt blieb, steht in deutlichem Widerspruch zu der Politik, die W a n g in den folgenden M o n a t e n betrieb. E i n e E r k l ä r u n g für diesen Widerspruch würde sich ergeben, wenn W a n g zunächst nur die Absicht gehabt hätte, einen R u f nach N a n k i n g zu provozieren. D a s entspräche dem in der chinesischen P o l i t i k

25

Telegramm Wang Ching-weis an das Z E K der K M T (in Wuhan?, d. Verf.) vom

2e

Telegramm Wang Ching-weis an alle Genossen der K M T vom 1 3 . 9 . 1 9 2 7 ,

13. 9 . 1 9 2 7 , in: „Shen-pao" vom 15. 9 . 1 9 2 7 ; auch in: K M W H , Bd. X V I I , p. 147 f. ( K M W H p. 148). 18

Domes

ibid.

274

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT

1927/28

durchaus gebräuchlichen Verfahren, durch eine Rücktrittserklärung Unterstützung für das Verbleiben in eben jener Position zu gewinnen, die man aufzugeben entschlossen scheint. Chiang Kai-shek hat diese Methode mehrmals mit Erfolg angewandt, Wang allerdings mußte erfahren, daß man ihn zwar wieder rief, jedoch nicht mit solchem Nachdruck, daß er seine alte Führungsposition von neuem übernehmen konnte. Schon am 15. September traten sieben Vollmitglieder und zwei Kanditaten des II. ZEK 27 , sowie drei Vollmitglieder und ein Kandidat der II. ZKK der KMT 28 in Nanking mit Vertretern der „Westberggruppe" zu einer „Provisorischen Vereinigten Konferenz des ZEK und ZKK" zusammen. Sie forderten zunächst Wang auf, in sein Amt als Vorsitzender des ZEK zurückzukehren 29 und bildeten dann das von Sun K'e vorgeschlagene „Spezialkomitee". Dieses sollte 32 Mitglieder und neun Kandidaten umfassen: es wurde vereinbart, daß die Führungsgremien in Wuhan, Nanking und Shanghai — also die „Westberggruppe" — jeweils sechs Mitglieder und drei Kandidaten benennen sollten30, während 14 Mitglieder „gemeinsam ernannt" 31 wurden 32 . Die Zusammensetzung des „Spezialkomitees" zeigte eine deutliche Verschiebung des politischen Schwergewichts auf den rechten Flügel. Die Linke war in der Liste mit drei Vollmitgliedern und drei Kandidaten, die „linke Mitte" mit sechs Vollmitgliedern, die „rechte Mitte" mit neun Vollmitgliedern und drei 27

28

29

30

31

32

T'an Yen-k'ai, Sun K'e, W u Ch'ao-shu, Li Lieh-diün, Ch'eng Ch'ien, Chu P'ei-te, Yü Yu-jen (Vollmitglieder), Ch'u Min-yi und Miu Ping (Kandidaten). Ts'ai Yüan-p'ei, Li Shih-tseng, Chang Ching-chiang (Vollmitglieder) und Li Tsungjen (Kandidat). Telegramm der Provisorischen Vereinigten Konferenz des 2 E K und ZKK der K M T in N a n k i n g an Wang Cliing-wei, in: K M W H , Bd. X V I I , p. 148. Von Wuhan: T'an Yen-k'ai, Sun K'e, Frau H o Hsiang-ning, Yü Yu-jen, Chu P'ei-te, Ch'eng Ch'ien (Vollmitglieder); Ku Meng-yü, Ch'en Kung-po und Kan Nai-kuang (Kandidaten). Von N a n k i n g : Li Tsung-jen, Li Shih-tseng, Ts'ai Yüan-p'ei, Wang Pe-diün, Wu Ch'ao-shu, Li Lieh-chün (Vollmitglieder); Ch'u Min-yi, Miu Ping und Yeh Ch'udieng (Kandidaten). Von Shanghai: Lin Sen, H s ü Ch'ung-chih, Hsieh Ch'ih, Chü Cheng, T'an Cheng, Tsou Lu (Vollmitglieder); Mao Tzu-ch'üan, Liu Ch'i-hsüeh und Fu Ju-lin (Kandidaten). Wang Ching-wei, H u Han-min, Chang Chi, Wu Chih-hui, Tai Chi-t'ao, Chang Ching-chiang, Chiang Kai-shek, T'ang Sheng-chih, Feng Yü-hsiang, Yen Hsi-shan, Yang Shu-chuang, Li Chi-shen, H o Ying-ch'in und Pai Ch'ung-hsi. Manifest des Zentralen Spezialkomitees der K M T v o m 1 7 . 9 . 1 9 2 7 , in: K M W H , Bd. X V I , p. 7 3 — 7 5 ; Erklärung Hsieh Ch'ihs u . a . über die Bildung des „Sepzialkomitees" vom 6 . 1 2 . 1927, ibid., Bd. X V I I , p. 9 8 — 1 0 3 (hier: p. 102).

Chiang Kai-sheks Rücktritt

und die Bildung des

„Spezialkomitees"

275

Kandidaten vertreten. Da jedoch der linke Flügel der KMT einmütig die Zusammenarbeit mit dem „Spezialkomitee" verweigerte und auch beide Mittelgruppen nur zum Teil kooperierten, verfügte der rechte Flügel mit dreizehn der 25 Mitglieder des „Spezialkomitees", die tatsächlich ihre Funktionen wahrnahmen, über die Mehrheit in diesem Gremium. Das „Spezialkomitee" wählte am 17. September 46 Mitglieder eines neuen Nationalregierungsrates, unter ihnen auch Wang, Chiang, Sung Tzu-wen und Ch'en Kung-po, die dieses Amt nicht antraten. Wang, T'an Yen-k'ai, Hu Han-min, Li Lieh-chün und Ts'ai Yüan-p'ei wurden in den „Ständigen Ausschuß der Nationalregierung" berufen, das Amt des Vorsitzenden übernahm T'an 33 . Am gleichen Tage ernannte man 67 Politiker und Militärs der KMT zu Mitgliedern des Militärrates, 14 von ihnen, darunter alle bedeutenden Armeebefehlshaber, sollten dessen Präsidium bilden34. Wu Ch'ao-shu blieb Außenminister, das Finanzministerium übertrug man Sun K'e, während Wang Pe-chün* zum Verkehrsminister und Wang Ch'ung-hui::" zum Justizminister ernannt wurden. Noch am selben Tage forderte die neu gebildete Nationalregierung Chiang telegraphisch auf, das Amt des Oberbefehlshabers der NRA wieder zu übernehmen35. Er erklärte sich jedoch nicht zur Zusammenarbeit mit dem „Spezialkomitee" bereit, sondern begab sich am 28. September über Shanghai in ein selbstgewähltes Exil nach Japan. So gelang es ihm, sich aus den Fraktionskämpfen der nächsten Monate, durch die andere Führer der Partei diskreditiert wurden, herauszuhalten und dann im Dezember in der Rolle des über den Gruppen stehenden Schiedsrichters nach China zurückzukehren. Formell war zwar eine Koalitionsregierung entstanden, sie fand jedoch nur die Unterstützung eines Teils der nationalistischen Einheitspartei. Bald traten jene Militärgruppen, die Zentralchina und Kuangtung beherrschten, in Opposition zum „Spezialkomitee", und mit ihnen wandten 33

34

35

18*

Erklärung des Zentralen Spezialkomitees über die Bildung der Nationalregierung vom 17. 9.1927, ibid., p. 149; und: Manifest der Nationalregierung vom 20. 9. 1927, ibid., Bd. XVI, p. 77—79. Mitteilung des Spezialkomitees über die Bildung des Militärrates vom 17. 9. 1927, ibid., Bd. XVII, p. 149 f. In das Präsidium des Militärrates berief man: Pai Ch'ung-hsi, Chu P'ei-te, Li Tsungjen, Wang Ching-wei, H o Ying-di'in, Hu Han-min, T'ang Sheng-chih, Feng Yühsiang, Ch'eng Ch'ien, Yang Shu-diuang, Chiang Kai-shek, Yen Hsi-shan, T'an Yen-k'ai und Li Chi-shen. Telegramm der Nationalregierung an Chiang vom 17. 9.1927, in: „Kuo-min diengfu kung-pao", Nr. 12 vom 30. 9.1927, audi in: KMWH, Bd. XV, p. 797.

276

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

sich Wang und seine Anhänger — ebenso wie schließlich audi Chiang — gegen die Einigungsformel von Shanghai. An ihrem Widerstand mußte die neue Regierung im Winter 1927/28 scheitern.

Kommunistische Aufstände im Herbst und Winter 1927 Während die konkurrierenden Fraktionen in der K M T nach einem Ausweg aus der Krise ihrer Partei suchten, unternahm die K C T verzweifelte Anstrengungen, neue Aufstände anzufachen. Die von dem neuen Kominterndelegierten Besso Lominadse beherrschte „Notstandskonferenz" vom 7. August 1927 hatte Ch'en Tu-hsiu zum Hauptverantwortlidien für die Katastrophe in Wuhan erklärt und Ch'ü Ch'iu-pai, der schon vorher zuweilen durch radikalere Töne aufgefallen war, an seiner Stelle zum Parteiführer ernannt 36 . In einem „Brief an alle Parteimitglieder" erklärte die Konferenz, die Revolution in China sei zwar immer noch eine „bürgerlich-demokratische Revolution", sie neige jedoch überwiegend zum Sozialismus, und in ihrem Mittelpunkt stehe die Agrarrevolution. Dies bedeute die „Beschlagnahme und Verstaatlichung des Grund und Bodens" 37 . Außerdem verabschiedete man eine „Resolution über die politischen Aufgaben der K C T " , in der die Kommunisten weiterhin darauf bestanden, daß die Zeit der proletarisch-sozialistischen Revolution in China noch nicht gekommen sei. Da aber inzwischen alle Gruppen der K M T mit den Kommunisten gebrochen hatten, half man sich, um die Korrektheit der Politik Stalins und der Komintern im Frühjahr und Sommer 1927 nachträglich zu bestätigen, mit einer etwas mühevollen Konstruktion: man unterschied eine „Schein-KMT" und eine „wahre K M T " . Die „Schein-KMT" stelle, so erklärte man, jetzt eine Koalition der „feudalen Klassen" und der „nationalen Bourgeoisie" dar, es sei daher die Aufgabe der „wahren K M T " , die Herrschaft der „Schein-KMT" zu stürzen und die bürgerlich-demokratische Revolution zum Siege zu führen. Diese „wahre K M T " aber müsse von der K C T geführt werden 38 . 36

Siehe oben, Seite 237!

37

Brief der Konferenz vom 7. August an alle Mitglieder der KCT, chinesischer Text in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 4 4 5 — 4 7 4 ; deutsch in Auszügen bei: BSF, op. cit., p. 83—89.

38

Resolution über die politischen Aufgaben der K C T , vom 7. 8 . 1 9 2 7 , in: „Chungyang t'ung-hsün" (Zentralbulletin vom 2 3 . 8 . 1 9 2 7 ; audi in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 4 7 4 — 4 8 4 ; deutsch in Auszügen bei: BSF, op. cit., p. 89—94.

Kommunistische Aufstände im Herbst und Winter 1927

277

D a eine „lizenzierte Infiltration" der K M T nicht länger möglich war, bedeutete dies praktisch den Aufruf zum bewaffneten Aufstand 39 . Schon bald versuchten die Kommunisten ihre neue Generallinie in die Tat umzusetzen. Zwar scheiterten die Bemühungen der Truppen H o Lungs und Yeh T'ings, in Ost-Kuangtung eine revolutionäre Basis zu schaffen, aber man ließ sich dadurch nicht davon abhalten, in Hunan, Hupei, Kiangsi und Kuangtung die Bauern zu „Herbsternteaufständen" aufzurufen 40 . Ende August begann eine Erhebung der Bauernverbände im Kreis Tungcheng in Hupei, es gelang den KMT-Truppen jedoch schnell, diesen Aufstand ebenso wie eine weitere Erhebung, die am 20. September in WestHupei begann, niederzuschlagen41. Am 4. Oktober erhob sich in Südostkuangtung der Bauernführer P'eng P'ai, der in den Landkreisen Haifeng und Lufeng die erste chinesische Räteregierung errichtete. Es gelang ihm mit seinen bewaffneten Bauernmilizen, ein großes Landgebiet unter Kontrolle zu bringen, in dem er radikale agrarrevolutionäre Maßnahmen durchführte. Dabei griffen die Kommunisten — gewiß auch unter dem Eindruck der vorausgegangenen Verfolgungen durch die K M T — zu scharfen Terrormaßnahmen. Am 31. Oktober rühmte sich P'eng P'ai auf einer Versammlung: „Die Grundbesitzer, Dorfbosse, schlechten Honoratioren und die Bourgeoisie haben die meiste Angst vor dem Töten. Wir machen kein Hehl daraus, daß wir töten. Allein in Haifeng haben wir bis jetzt nach genauen Statistiken 1.822 Grundbesitzer, Dorfbosse und schlechte Honoratioren getötet 42 ."

Die Räteregierung in Haifeng konnte sich noch einige Monate behaupten, bis Ende Februar 1928 auch hier Verbände der N R Α dem Aufstand 3>

40

41

42

Vgl. hierzu: Li Li-san, „Tatsachen über die Anweisungen der Resolution vom 7. August", in: „Chung-yang t'ung-hsün" vom 30. 10. 1927; auch in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 4 8 8 — 5 0 3 ; Brandt, op. cit., p. 150—152 und 154; Schwartz, op. cit., p. 9 3 — 9 9 ; Isaacs, op. cit., p. 279 und: Kuo, Adventurism, I, p. 21—24. Resolution des Politbüros der K C T über den Aufstandsplan in Hunan und Hupei, in: „Chung-yang t'ung-hsün" vom 1 2 . 9 . 1 9 2 7 ; auch in: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 503—506. Vgl. dazu: Schwartz, op. cit., p. 99—102 und 104; Isaacs, op. cit., p. 280 f. und Kuo, Adventurism, I, p. 24—28. Bericht des Z K der K C T über die gegenwärtige Situation, in: „Chung-yang t'unghsün" vom 30. 10. 1927 (Archiv des Sicherheitsamtes der Nationalregierung in Hsintien bei T'aipei; hinfort: Hsintien-Archiv). Chung Yi-mo, I-diiu-erh-ch'i-nien Hailufeng nung-min yün-tung (Die Bauernbewegung des Jahres 1927 in Hailufeng), Kanton 1957, passim; auch in Auszügen bei: KCT-Dokumente, Bd. I, p. 506—509. (Direktzitate: p. 3) Englisch bei: Kuo, Adventurism, I, p. 26.

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VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

ein Ende machten, die Bauernmilizen in blutigen Vergeltungsaktionen vernichteten und P'eng P'ai hinrichteten. Mao Tse-tung selbst war in Hunan zunächst weniger erfolgreich. Er führte Anfang September im Landkreis Anyüan rebellierende Bauern und Landarbeiter zum Angriff gegen die Provinzhauptstadt Ch'angsha, aber sein Unternehmen scheiterte am Widerstand der N R A . Es gelang ihm schließlich, sich mit einigen hundert seiner Anhänger in das Bergland im Grenzgebiet zwischen Hunan und Kiangsi zurückzuziehen, wo er in verzweifelter Lage den Winter überstand. Die Parteiführung machte ihn zum Sündenbode für den Fehlschlag der Bauernaufstände. Bereits Ende Oktober wies sie darauf hin, daß die Erhebung in Hunan gescheitert sei, weil „ihre Führer es versäumt haben, die Unterstützung der Bauernmassen zu gewinnen" 43 . Sollte Maos Haltung gegenüber den Bauernverbänden in Hunan während der Sitzung des Militärrates der K M T am Juni in Wuhan allgemein bekannt geworden sein, so ließe sich die Zurückhaltung der Landbevölkerung ihm gegenüber durchaus erklären. Dennoch war er mit Sicherheit nicht der Hauptverantwortliche für die schlechte Vorbereitung und die dilettantische Durchführung der „Herbsternteaufstände". Die Parteiführung schien diese Meinung allerdings zu vertreten; denn auf einer „Erweiterten Sitzung" des „Not-Politbüros" des Z K der K C T , die vom 9. bis zum 14. November zusammentrat, wurde er besonders scharf kritisiert und offenbar auch vorübergehend aus den Führungsgremien der Partei ausgeschlossen44. So waren die Versuche, das Land zum Kampf gegen die nationalistische Einheitspartei zu mobilisieren, fehlgeschlagen. Die K C T wählte jetzt die alte Basis der Revolution, Kanton, zum Schauplatz des letzten größeren Aufstandes im Jahre 1927, und diesmal übernahmen Delegierte der Komintern selbst die Leitung. Auseinandersetzungen unter den Militärs und Politikern der K M T in Kuangtung, über die noch zu berichten sein wird 45 , boten eine Möglichkeit, revolutionäre Aktionen in der südchinesischen Großstadt zu inszenieren, die als Fanal für das ganze Land wirken sollten. Von Mitte November an bereiteten Besso Lominadse und Heinz Neumann den Aufstand vor 46 . Am Morgen des 11. Dezember erhoben sich etwa 4.200 be« Anm. 41, ibid. 4 4 Resolution über die politische Disziplin, angenommen auf der Erweiterten Sitzung des Not-Politbüros des Z K der KCT, vom 19. 11. 1927. Englisch bei: Kuo, Adventurism, III, Anhang I, p. 51—55. Vgl. dazu: Schwartz, op. cit., p. 103—105. 4 5 Siehe unten, Seite 2 8 7 — 2 9 0 ! 4 8 Zur „Kanton-Kommune" vgl. u . a . : T'ien P'eng, „Der Aufstand der K C T in Kan-

Kommunistische

Aufstände

im Herbst und Winter 1927

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waffnete Arbeitermilizen, denen sich schnell auch eine Anzahl von Soldaten der in der Stadt stationierten, relativ schwachen Einheiten der N R A anschlossen. Nach wenigen Stunden war ganz Kanton in ihrer Hand, und sie errichteten eine „Kommune" nach dem Pariser Vorbild von 1871. Den Vorsitz übernahm der frühere Wuhaner Arbeitsminister Su Chao-cheng, die Leitung des Militärausschusses Chang T'ai-lei. Huang P'ing, der 1932 zur KMT übertrat, ernannte man zum Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, P'eng P'ai zum Vorsitzenden des Agrarausschusses, Yün Tai-ying zum Generalsekretär und Yeh T'ing zum Oberbefehlshaber der „Roten Armee". Schon hofften die Kommunisten, das Signal zum Aufstand der „Wahren KMT" in ganz China sei damit gegeben. Aber am 12. Dezember vereinigten sich die Truppen der KMT-Generale Li Chishen, Chang Fa-k'uei und Huang Ch'i-hsiang und griffen gemeinsam die Stadt an. Nach zwei Tagen war der Aufstand niedergeschlagen. Die Schätzungen über die Zahl der Opfer, die von den Kommunisten getötet wurden, schwanken zwischen 60047 und 15.00048, doch dürfte die letzte Zahl auch jene 5.700 Kommunisten einschließen, die dem Gegenterror der KMT zum Opfer fielen49. Am 14. Dezember war die letzte städtische Organisation der KCT zerschlagen, das „Fanal von Kanton" blieb wirkungslos50. Da man bei dem sowjetischen Konsul Kowlok Material fand, das auf eine Beteiligung am Aufstand hindeutete, benutzte die Nationalregierung diese Gelegenheit, um am 14. Dezember die diplomatischen Beziehungen zur UdSSR für abgebrochen zu erklären. So war nun auch das letzte Band zwischen der KMT und Moskau zerschnitten. Der KCT, deren neue Generallinie als gescheitert angesehen werden mußte, blieben nur noch einzelne Zellen in einigen Großstädten, die Reste der aufständischen Truppenverbände Chu Tes, Ho Lungs und Yeh T'ings, und schließlich die kleinen verstreuten Einheiten der Bauerntrupps unter Mao Tse-tung. Als diese sich im Frühjahr 1928 im Bergland des Chingkangshan mit den Soldaten Chu Tes vereinigten und die damals etwa 10.000 Mann starke „4. Rote Armee" bildeten, begann ein neuer Abschnitt in der Getön und der erste Brudi zwischen China und der UdSSR", in: KMWH, Bd. IX, p. 176—178; Ch'en Hsün-cheng, „Der Zwisdienfall von Kanton", ibid., Bd. XVII, p. 1086—1103; Ma, op. cit., Bd. II, p. 751—754; Isaacs, op. cit., p. 282—291; Schwartz, op. cit., p. 105—107; Brandt, op. cit., p. 162 f.; T'ang, Revolution, p. 315 47 48 40 50

bis 317; und: Kuo, Adventurism, II, p. 43—45. Isaacs, op. cit., p. 290. So: Kuo, ibid., p. 45. Isaacs, op. cit., p. 291. „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 13. und 20. 12. 1927; audi in: KCT-Dokumente, B d . I , p. 514—523.

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VII. Kapitel: Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

schichte des chinesischen Kommunismus. Während die weiterhin von der Komintern beeinflußte offizielle Parteiführung ihre Anstrengungen, die Organisation der K C T in den Städten wieder aufzubauen, mit wechselndem, aber nur bescheidenem Erfolg fortsetzte, gingen Mao und Chu dazu über, in den Dörfern Südchinas Räteverwaltungen zu errichten. Sie beschlagnahmten den Landbesitz der Klöster, christlichen Missionen und Grundbesitzer, ließen jedoch das Eigentum der reichen Bauern zunächst noch unangetastet. Das beschlagnahmte Land wurde an Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter verteilt. Besonders in Gebieten, in denen der Lebensstandard der Landbevölkerung sehr niedrig war — und solche Bezirke gab es vor allem in den ärmlichen Regionen der Provinzen Hunan, Kiangsi, Anhui und Hupei in großer Zahl — brachte diese Taktik den Kommunisten bald bedeutsame Erfolge. Die Kämpfe der Fraktionen und Machtgruppen in der KMT vollzogen sich jedoch, ohne daß die K C T in irgendeiner Weise darauf einzuwirken vermochte. Die Politik in der Einheitspartei wurde nur noch durch den Aufstand in Kanton spürbar beeinflußt. Er bewirkte eine Klärung der Machtverhältnisse, die zum Zusammenbruch des „Spezialkomitees" führte, vor allem aber mußte Wang Ching-wei vorübergehend von der politischen Bühne abtreten.

Von der Bildung des „Spezialkomitees" zum Sturz Wang Ching-weis Sofort nach seiner Auseinandersetzung mit T'an Yen-k'ai und Sun K'e begann Wang Ching-wei, von Wuhan aus eine Bewegung gegen das „Spezialkomitee" ins Leben zu rufen. In zwei Punkten bestanden zwischen ihm und der neuen Führung in Nanking wesentliche Meinungsverschiedenheiten. Wang bestand weiterhin darauf, daß das „4. Plenum" umgehend einberufen werden müsse, und wollte mit der „WestbergGruppe" nur dann zusammenarbeiten, wenn diese bereit wäre, nachträglich alle Entscheidungen der Führungsgremien der K M T seit dem II. Parteikongreß anzuerkennen. Zum zweiten verlangte er die Wiederherstellung der unbedingten Kontrolle der Partei über die Streitkräfte und den Wiederaufbau der Massenorganisationen als maßgebliche Träger der Revolution. Darüber, woher man die Kader für diese Verbände jetzt nehmen solle, gab Wang keine Auskunft. Nach seiner Ankunft in Wuhan bildete er am 22. September ein „Zweigbüro des PR der K M T " (Chungkuo KMT cheng-chih hui-i Wuhan fen-hui), dem außer ihm u. a. T'ang Sheng-chih, Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü, Kan Nai-kuang und Frau

Von der Bildung des „Spezialkomitees"

zum Sturz Wang

Ching-weis

281

Ho Hsiang-ning angehörten 51 . Vor diesem Gremium gab er seine erste Stellungnahme gegen das „Spezialkomitee" ab und forderte die bedingungslose Unterordnung aller Politiker und Militärs „unter die Autorität der Partei". Wangs Position zur damaligen Zeit wird besonders in den Schlußsätzen dieser Rede vor dem Wuhaner Zweigbüro des P R deutlich: „Neuerdings scheint man sich entlang des Yangtzu daran zu gewöhnen, daß man behauptet, alle Antikommunisten seien loyale Genossen. Das ist natürlich Betrug. Wir können sagen, daß alle guten Genossen Antikommunisten sein müssen, aber dies heißt noch lange nicht, daß alle Antikommunisten gute Genossen wären 5 2 ."

Ein zweites Zentrum des Widerstandes gegen das „Spezialkomitee" bildete sich in Kanton heraus. Die Stadt selbst und der Westen der Provinz Kuangtung wurden von Li Chi-shen beherrscht, der mit dem Gouverneur von Kuangsi, Huang Shao-hsiung, enge Verbindung hielt. Im Osten Kuangtungs standen hingegen die kampferprobten Verbände des 4. Armeekorps unter Chang Fa-k'uei und seinem Stellvertreter Huang Ch'i-hsiang. Obgleich Li eigentlich zur Kuangsi-Gruppe gehörte, deren Führer das „Spezialkomitee" unterstützten, fürchtete er, er könne von Chang, der enge Beziehungen zu Wuhan unterhielt, aus seiner Provinz vertrieben werden und arrangierte sich deshalb mit ihm. Am 2. Oktober sandten Li und Chang ein gemeinsames Telegramm an Wang, in dem sie ihm mitteilten, daß sie nicht bereit seien, das „Spezialkomitee" anzuerkennen, und ihn zugleich einluden, nach Kanton zu kommen, um dort „die Partei zu reorganisieren" 53 . Noch einmal unternahm jetzt die Nankinger Führung den Versuch, Wang zur Mitarbeit zu gewinnen. Als dieser in Chiukiang Vorträge über die Theorie der K M T und deren Organisation hielt, trafen ihn dort am 4. Oktober Sun K'e, Wu Ch'ao-shu, Hsü Ch'ung-chih, Chang Chi und „ein Vertreter Li Tsung-jens und Pai Ch'ung-hsis". Sie forderten Wang auf, seinen Platz im „Spezialkomitee" und im Ständigen Ausschuß der Nationalregierung einzunehmen. Er lud sie ein, die Verhandlungen in Wuhan fortzusetzen, wo man am 11. Oktober eine vorläufige Einigung erzielte: Das „Spezialkomitee" sollte demnach zwar in Funktion bleiben, 51 52

53

„Min-kuo jih-pao", Wuhan, vom 23. 9 . 1 9 2 7 . Vgl. Tang, Revolution, p. 303. Stenogr. Protokoll der 1. Sitzung des Zweigbüros Wuhan des P R der K M T am 22. September 1927 (KMT-Archiv). Auszüge der Rede Wangs in englischer Obersetzung bei: T'ang, Revolution, p. 304 und: Ders., Wang, p. 172. Telegramm Li Chi-shens und Chang Fa-k'ueis an Wang Ching-wei vom 2 . 1 0 . 1 9 2 7 (Privatarchiv Chang Fa-k'ueis in Hongkong, dort vom Verfasser am 20. 8 . 1 9 6 4 eingesehen). Vgl. T'ang, Revolution, p. 305.

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VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT

1927/28

seine Aufgaben wurden aber auf die Vorbereitung des 4. Plenums beschränkt, während man das ZEK wieder als höchste Autorität in der Partei anerkannte. Diese Beschlüsse wurden in einem Abkommen niedergelegt, das die Vertreter Nankings und Wuhans unterzeichneten54. Noch am 14. Oktober traf in Wuhan ein Telegramm T'an Yen-k'ais und führender Militärs aus Nanking ein, in dem diese das Abkommen bestätigten und vorschlugen, das 4. Plenum für den 1. November in die Hauptstadt der Nationalregierung einzuberufen55. Das Wuhaner Zweigbüro des PR nahm diesen Vorschlag am 16. Oktober an58. Die Einigungsformel stieß jedoch offenbar in Nanking auf heftige Widerstände. Es scheint, als hätten die Kuangsi-Generale, Ch'eng Ch'ien und Chu P'ei-te Einwände gegen T'ang Sheng-chih erhoben. Sie hatten den Wunsch, Wang für sich zu gewinnen, aber eigene Streitkräfte wollte man ihm nicht gewähren. Im einzelnen bleiben die Vorgänge in Nanking um Mitte Oktober bis heute unklar, man wird jedoch annehmen dürfen, daß die Generale in der Hauptstadt vor allem für ihre eigenen Armeen das Waffenmonopol gewinnen wollten 57 . Sie setzten sich schließlich durch. Die 54

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Dieses Abkommen, das — nach T'ang, Revolution, p. 306 — von W a n g Ching-wei, K u Meng-yü, Wang Fa-chin, Chu Chi-ch'ing, Sun K'e und Wu Ch'ao-shu unterzeichnet wurde, findet sich nicht in den Dokumentensammlungen und Archiven, deren Material dieser Studie zugrunde liegt. Eine Inhaltsangabe w u r d e jedoch am 12.10. 1927 sowohl von der „Min-kuo jih-pao" in Wuhan als audi von der „Shanghai shihshih hsin-pao" veröffentlicht. Außerdem schilderte Sun K'e im Interview mit dem Verfasser am 3. April 1965 in Laguna Beach die Verhandlungen so, d a ß T'angs Darstellung im wesentlichen bestätigt wurde. Audi Sun sprach davon, daß ein „Kommunique" unterzeichnet w o r den sei, über dessen Verbleib machte er jedoch keine Angaben. Telegramm von T'an Yen-k'ai, Li Tsung-jen, Ch'eng Ch'ien und H o Ying-ch'in an Wang Ching-wei vom 13. 10. 1927 (KMT-Archiv). Vgl. d a z u : T'ang, ibid. Stenogr. Protokoll der 8. Sitzung des Zweigbüros W u h a n des P R der K M T am 16. Oktober 1927 (KMT-Archiv). Vgl. T'ang, ibid. Über die Vorgänge in N a n k i n g zwischen dem 13. und 17. O k t o b e r konnten keine Quellen aufgefunden werden. Die Akten des „Spezialkomitees" wurden vom K M T Archiv bisher nicht zur Durchsicht freigegeben. In den vom Verfasser durchgeführten Interviews ergaben sich unterschiedliche Lesarten: Sun K'e gab an, er habe auf eine friedliche Einigung mit W u h a n gedrängt, die Kuangsi-Generale, vor allem Li Tsung-jen (!), hätten dies jedoch abgelehnt und ein militärisches Vorgehen gegen T'ang verlangt. Pai Cb'ung-hsi hingegen behauptete, man habe in N a n k i n g „Beweise" f ü r einen Plan T'angs gewonnen, sich mit Chang Tso-lin gegen die N a n k i n g regierung und Wang Ching-wei zu verbünden und hätte deshalb gegen ihn vorgehen müssen. Ho Ying-ch'in schließlich teilte dem Verfasser mit, er sei zu jener Zeit an der Front gewesen und habe an den Diskussionen in N a n k i n g nicht teilgenommen. D e r Angriff Ch'eng Ch'iens auf T'ang habe ihn überrascht, er sei jedoch schon Ende

Von der Bildung des „Speztalkomitees"

zum Sturz Wang

Ching-weis

283

Entscheidung gegen T'ang Sheng-chih wurde nicht zuletzt dadurch erleichtert, daß er zwei Divisionskommandeure der Kuominchün, die mit ihren Truppen desertiert waren, in seine Armee aufnahm und gleichzeitig begann, den in schweren Abwehrkämpfen gegen die Nordtruppen stehenden Feng Yü-hsiang zu bedrohen 58 . Ch'eng Ch'ien handelte als erster. Am 18. Oktober griff er die Truppen T'angs bei Wuhu in Anhui an59. Schon am folgenden Tage beschloß das „ZEK" in Wuhan, zu einer bewaffneten Erhebung gegen das „Spezialkomitee" aufzurufen. Dabei wollte man versuchen, eine Allianz mit den Generalen in Kuangtung, mit T'ang und Chiang Kai-shek abzuschließen, von dem man annahm, daß er dem „establishment" in Nanking kritisch gegenüberstehe und zur Kooperation mit dessen Gegnern bereit sei80. Die Leitung des Kampfes gegen Nanking verlegte Wang jedoch jetzt aus dem bedrohten Wuhan nadi Kanton. Dort hatte Chang Fak'uei am 6. Oktober in einem Zirkulartelegramm sehr scharf gegen das „Spezialkomitee" Stellung genommen und zu „energischem Widerstand" gegen Nanking aufgefordert 61 . Schon am nächsten Tage sandte Wang seinen engsten Mitarbeiter, Ch'en Kung-po, von Wuhan nach Kanton®2; und diesem gelang es, nach seiner Ankunft in der südchinesischen Metropole am 11. Oktober die Rivalität zwischen Li Chi-shen und Chang Fak'uei vorübergehend zu überbrücken. Li und Chang verkündeten am 18. Oktober die Bildung eines Zweigbüros des PR der KMT und eines „Provisorischen Militärrates" (Ling-shih chün-shih wei-yüan-hui) in Kanton. Beide Gremien sollten sich jedoch, wie es in der Ankündigung hieß, „sofort nach dem Zusammentreffen des 4. Plenums wieder auflösen®3.

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82 63

September 1927 dafür eingetreten, daß sich die N R A „von T'ang trennen sollte". Auf dem Telegramm vom 1 3 . 1 0 . 1 9 2 7 sei sein Name ohne seine Zustimmung erschienen. Die tatsächliche Entwicklung ist hier aufgrund des heute zur Verfügung stehenden Quellenmaterials nicht zu erhellen. Vgl. dazu audi: T'ang, Revolution, p. 307. Li T'ai-fen, op. cit., p. 397 f. Vgl. dazu: Amann, Chiang, p. 34. „Min-kuo jih-pao", Wuhan, vom 19. 10. 1927; audi: T'ang, Revolution, p. 306 und: Ders., Wang, p. 173. Beschlußprotokoll der Erweiterten Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK der KMT (Wuhan) vom 19. 10.1927 (KMT-Archiv). Vgl.: T'ang, Revolution, p. 308. Zirkulartelegramm Chang Fa-k'ueis vom 6 . 1 0 . 1 9 2 7 , in: „Min-kuo jih-pao", Wuhan, selbes Datum. Vgl. T'ang, Revolution, p. 305. ibid. Telegramm des Zweigbüros Kanton des PR der KMT über die Errichtung des Zweigbüros des Militärrates für Kuangtung vom 18.10.1927, in: KMWH, Bd. XVII, p. 154 f.

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VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT 1927/28

Als nun der Bürgerkrieg zwischen T'ang und den Nanking-Generalen ausbrach, verließ Wang — zusammen mit Ku Meng-yü, Kan Nai-kuang, Frau Ho Hsiang-ning und Wang Fa-chin — am 20. Oktober Wuhan und begab sich über Shanghai nach Kanton. Am 28. Oktober erreichte die frühere Wuhaner Führungsgruppe diese Stadt, und schon am 30. und 31. Oktober wandte sie sich mit zwei Zirkulartelegrammen an die Öffentlichkeit. Die Führer des linken Flügels der KMT riefen darin alle Mitglieder des ZEK auf, zum „4. Plenum" nach Kanton zu kommen und schlugen der Nanking-Regierung vor, sie solle T'ang noch nicht angreifen, sondern auf die Entscheidungen der Plenarsitzung warten. Erst wenn er sich diesen nicht beuge, könne man den Kampf gegen ihn beginnen64. In Kanton fanden Wang, Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü, Kan Nai-kuang und Frau Ho die Unterstützung der Armee Chang Fa-k'ueis. Audi Li Chi-shen und Huang Shao-hsiung arbeiteten zunächst mit ihnen zusammen, unterhielten aber weiter enge Beziehungen zu den beiden anderen Kuangsi-Generalen in Nanking. Deshalb sah sich Wang genötigt, ihre Kooperation mit einer Distanzierung von T'ang zu bezahlen. Dieser verlor schnell seine Macht in Wuhan. Schon am 20. Oktober forderte das Präsidium des Militärrates in Nanking die Nationalregierung auf, den Krieg gegen ihn zu beginnen'5, und noch am selben Tage enthob diese ihn aller seiner Ämter66. Die Nanking-Truppen stießen, von der nationalistischen Flotte auf dem Yangtzu wirksam unterstützt, schnell auf Wuhan vor. Die Stadt Wuhsieh fiel ihnen am 7. November in die Hand67, am 12. legte T'ang sein Kommando nieder, verließ Wuhan und begab sich ins Exil nach Japan68. Am 14. eroberten die Truppen Li Tsung-jens die Hauptstadt Zentralchinas6". So hatte sich die KuangsiGruppe die Herrschaft über Hupei, Hunan, Anhui und schließlich auch Kiangsi gesichert und war vorübergehend zur stärksten militärischen Kraft in der nationalistischen Bewegung geworden. ' 4 Zirkulartelegramme Wang Ching-weis u. a. vom 30. und 31. 1 0 . 1 9 2 7 , in: „Min-kuo jih-pao", Kanton, selbe Daten. "

Bitte des Militärrates an die Nationalregierung um die Erklärung des Krieges gegen T'ang Sh£ng-chih, vom 2 0 . 1 0 . 1927, in: K M W H , ibid., p. 1077 f.

68

Anweisung der Nationalregierung an den Militärrat über die Amtsenthebung T'ang Sheng-chihs, vom 20. 10. 1927, ibid., p. 1078 f.

"

Vgl. hierzu: Ch'en Hsün-cheng, „Der Wuhan-Zwisdienfall", ibid., p. 1 0 1 8 — 1 0 7 7

88

Ch'en, ibid., p. 1030 f.

(mit Dokumenten); und: Amann, Chiang, p. 40. "

Telegramm des Spezialkommissars Liu an das Präsidium des Militärrates in Nanking vom 16. 11. 1927, in: K M W H , Bd. X V I I , p. 1082.

Von der Bildung des „Spezialkomitees"

zum Sturz Wang

Cbing-weis

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In Zentralchina stand die Kuominchün in erbitterten Kämpfen mit den Nordtruppen. Diese hatten am 27. September eine Offensive gegen die Stellungen Feng Yü-hsiangs in Honan begonnen70. Die Nankinger Militärs erklärten zwar, als Nachrichten über diese Operationen in der Hauptstadt eintrafen, sie würden den Nordfeldzug umgehend von neuem aufnehmen, aber nur Ho schickte sich an, langsam in Nord-Kiangsu auf Hsüchou vorzugehen71. Ein Vorstoß Yen Hsi-shans auf die rückwärtigen Verbindungen des Gegners führte am 12. Oktober zur Eroberung der Stadt Chochou zwischen Peking und Paoting, und am 14. erreichten Yens Vorhuten die Vororte der nördlichen Hauptstadt. Dann jedoch wurde er von Chang Tso-lin bei Shihchiachuang geschlagen. Yen mußte sich in seine Heimatprovinz Shansi zurückziehen, die Nordtruppen besetzten den östlichen Teil der Inneren Mongolei, und nur ein Unterbefehlshaber Yens, Fu Tso-i* hielt sich monatelang, von Changs Truppen eingeschlossen, weiter in Chochou. So wurde Feng gezwungen, sich zunächst allein zur Wehr zu setzen. Erst Ende Okotber konnte die Kuominchün zum Gegenangriff antreten. Jetzt schlug sie die Armee Chang Tsung-ch'angs bei Kueite und eroberte am 31. Oktober und 1. November diese Stadt ebenso wie das Fort von Ch'angshan 72 .Die Nordtruppen wurden überall über den Huanghe zurückgeworfen, Chang Tsung-ch'ang floh mit seinen Verbänden nach Shangtung 73 . Unterdessen war es Ho Ying-ch'in gelungen, die Reste der Armee Sun Ch'uan-fangs im Laufe des Oktober und November schrittweise aus Nord-Kiangsu zu verdrängen 74 . Am 16. Dezember zogen seine Solda70

Zu den Kämpfen der Kuominchün gegen die Nordtruppen: Ch'en Hsün-dieng, „Schlachten der Nordwest-Armee an der Lunghai-Bahn", in: K M W H , Bd. X V I , p. 899—918 (mit Marschbefehlen und Gefechtsberichten); und: Li T'ai-fen, op. cit., p. 403 ff. Vgl. audi: Amann, Chiang, p. 38 ff.

71

Erklärung der Offiziere der Armee und Flotte über die Fortsetzung des N o r d f e l d zuges v o m 3 0 . 9 . 1 9 2 7 , in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", selbes Datum; auch in: K M W H , ibid., p. 998 f. (Diese Erklärung wurde u. a. von Yang Shu-chuang, T'ang Sheng-chih, Ch'eng Ch'ien, Li Tsung-jen, Pai Ch'ung-hsi, Pai Wen-wei, H o Yingch'in und Chu P'ei-te unterzeichnet.)

72

Fünf Zirkulartelegramme der 2. Armeegruppe (Kuominchün) über den Sieg bei KueitS und Ch'angshan, v o m 2.13. November 1927, in: „Ke-ming diün jih-pao" (Zeitung der N R A ) vom 5. 1 1 . 1 9 2 7 ; audi in: K M W H , Bd. X V I I , p. 1013 f. Telegramm des Generalstabs der 2. Armeegruppe an die Nationalregierung v o m 2 7 . 1 1 . 1 9 2 7 , ibid., p. 1015. Hierzu: Ch'en Hsün-dieng, „Schlachten an der Chinp'u-Bahn, nachdem die Armee des Nordfeldzuges zum zweiten Mal den Yangtzu überschritt", ibid., p. 925—998 (mit Dokumenten).

75

74

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VII. Kapitel:

Die Krise und der militärisAe

Sieg der KMT

1927/28

ten schließlich wieder in Hsüchou ein 75 , die N R A hatte das im Sommer 1927 verlorene Terrain zurückerobert. Aber um den Nordfeldzug ernsthaft und bis zum endgültigen Erfolg fortzusetzen, bedurfte es eines Befehlshabers, der in der Lage war, wenigstens vorübergehend alle bedeutenderen Militärgruppen, die für die K M T kämpften oder zu kämpfen vorgaben, zu vereinigen: Man begann, sich um die Rückkehr Chiang Kai-sheks zu bemühen. Dieser hatte sich den Fraktionskämpfen im Herbst 1927 durch seine Reise nach Japan entzogen. Von dort aus griff er zum ersten Male wieder in die chinesische Politik ein, als er am 23. Oktober auf einer Pressekonferenz in Tokio — wenn auch in recht gemäßigtem Ton — gegen das „Spezialkomitee" Stellung nahm und die sofortige Einberufung des „4. Plenums" forderte 76 . Diese Erklärung rief Wang Ching-wei auf den Plan, der jetzt mit der Parole „Vergeßt die Vergangenheit! Arbeitet für die Zukunft!" (Wang-chi kuoch'ü! Nu-li chiang-lai!) auf eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Chiang hinwirkte. Nach einem Briefwechsel zwischen den beiden bedeutendsten Führern der K M T , in dessen Verlauf sie weitgehende Übereinstimmung festgestellt haben sollen, beauftragte Chiang telegrafisch Sung Tzu-wen, nach Kanton zu fahren und dort ein gemeinsames Vorgehen mit Wang gegen das „Spezialkomitee" vorzubereiten 77 . Chiang selbst verließ Japan am 3. November und traf am 10. November in Shanghai ein, wo er in einer improvisierten Pressekonferenz gleich bei seiner Ankunft die sofortige Wiedereinsetzung des II. Z E K als höchstes Organ der Partei forderte 78 . Noch am selben Tage telegrafierte er nach Kanton an Wang und bat diesen, zu „Besprechungen über die Zukunft der Partei" nach Shanghai zu kommen. Falls dies nicht möglich sei, werde er, Chiang, selbst zu Wang reisen 7 '. Dieser entschloß sich, nach Shanghai zu gehen; und um Kanton während seiner Abwesenheit vor Kämpfen der rivalisierenden Militärs zu bewahren, bat er Li Chi-shen und Chang Fa-k'uei, ihn zu begleiten. Chang verließ Kanton am 13. November, am 75

Telegramm

Ho

Ying-ch'ins

an

die Nationalregierung

vom

16.12.1927,

ibid.,

1004 f. 76 77

„ShSn-pao" vom 24. 10. 1927. So: T'ang, Revolution, p. 3 0 9 ; und: Tong, op. cit., p. 106. Die Tatsache des Briefwechsels zwischen Wang und Chiang und die Entsendung Sung Tzu-wens wurden von Chiang Kai-shek im Interview mit dem Verfasser in T'aipei am 31. März 1962 bestätigt.

78

„Shen-pao" und „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 1 1 . 1 1 . 1 9 2 7 .

79

Telegramm Chiangs an Wang Ching-wei vom 1 0 . 1 1 . 1 9 2 7 (KMT-Archiv). Vgl. dazu: T'ang, Revolution, p. 310.

Von der Bildung des „Spezialkomitees"

zum Sturz Wang

Ching-weis

287

14. folgten ihm Wang und Li nach Hongkong, von wo aus sie nach Shanghai Weiterreisen wollten. Doch noch ehe sie sich einschiffen konnten, erreichte sie die Meldung, daß Huang Shao-hsiung in den frühen Morgenstunden des 15. November die in Kanton stationierten Truppen Changs aus der Stadt vertrieben und dort die Macht im Namen der NankingRegierung übernommen hatte. Chang eilte daraufhin sofort zu seinen Truppen zurück, und am 17. November gelang es ihm, gemeinsam mit Huang Ch'i-hsiang die Kuangsi-Truppen Huang Shao-hsiungs aus Kanton zu vertreiben. Ch'en Kung-po und Chang stellten sich an die Spitze des „Zweigbüros" des PR und des Militärrates in der Stadt 80 . Wang ging mit Li Chi-shen nach Shanghai, wo er am Abend des 18. November ankam 81 , und sofort der Presse eine von ihm selbst sowie von Li Chi-shen, Wang Fa-chin, Ku Meng-yü, Ch'en Kung-po, Kan Nai-kuang, Ch'en Shu-jen*, Wang Le-p'ing, P'an Yün-ch'ao, Frau Ho Hsiang-ning, Huang Shao-hsiung — trotz dessen Kantoner Putsches — und Li Fu-lin unterzeichnete Erklärung mit den Vorschlägen der Kantoner Führer für die Uberwindung der Parteikrise übergab. In dieser Erklärung wurde gefordert, daß die Parteizentrale der KMT in ihrer alten Funktion wiederhergestellt, das „Spezialkomitee" aufgelöst und das 4. Plenum sofort einberufen werden sollten. Auf dem Plenum selbst wären dann neun Mitglieder eines „Ständigen Ausschusses des ZEK" und ein neuer PR der KMT zu wählen. Alle nach der Spaltung der Partei im April 1927 verabschiedeten Resolutionen sollten einzeln geprüft und über ihre weitere Gültigkeit entschieden werden. Die „Parteisäuberung" sei, so verlangten die Autoren der Erklärung, fortzusetzen und die Politik der Zusammenarbeit mit den Kommunisten offiziell für beendet zu erklären. Alle Beschlüsse der Partei, die dieser Politik gedient hatten, sollten außer Kraft treten. Von der „Westberggruppe" wurde verlangt, daß sie die Beschlüsse des II. Parteikongresses anerkennen müsse, während man ihr anbot, den Ausschluß ihrer Mitglieder aus der Partei rückgängig zu machen. Weiter verlangten Wang und seine Anhänger in der Erklärung die Reform der Nationalregierung und des Militärrates, dem hinfort nur noch 15 Mitglieder angehören sollten, und schließlich riefen sie dazu auf, umgehend mit der Reorganisation der Arbeiter-, Bauern- und Jugendverbände zu beginnen82. 80

81 82

Brief Chang Fa-k'ueis an Li Chi-shen vom 2 6 . 1 1 . 1 9 2 7 ; und: Brief Huang Shaohsiungs an die Vorbereitungskonferenz des 4. Plenums vom 28. 11. 1927; beide in: KMWH, Bd. XVII, p. 158—164. Vgl. T'ang, ibid., p. 311. „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 19.11.1927. Vorschläge der Mitglieder in Kuangtung für die Zusammenarbeit von Nanking, Wu-

288

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT

1927/28

Schon am 19. November trafen sich Wang und Li Chi-shen zu dem ersten einer Reihe von Gesprächen mit Chiang und T'an Yen-k'ai, der von Nanking nach Shanghai gekommen war, um eine Einigung beider Parteiführer mit dem „Spezialkomitee" herbeizuführen. Wang und Chiang erzielten zunächst Übereinstimmung darüber, daß das „Spezialkomitee" umgehend zum Rücktritt aufgefordert, das 4. Plenum auf den 1. Januar nach Nanking einberufen und die Vorbereitungen für diese Sitzung von beiden gemeinsam durchgeführt werden sollten 83 . Die Nanking-Regierung geriet angesichts der sich anbahnenden Zusammenarbeit von Wang und Chiang in erhebliche Bedrängnis. Immer lauter verlangten die unteren Parteiorganisationen den Rücktritt des „Spezialkomitees". Am 22. November kam es in Nanking selbst zu Studentendemonstrationen, auf denen ebenfalls diese Forderung erhoben wurde. Tsou Lu veranlaßte Einheiten der Kuangsi-Armee, auf die Demonstranten das Feuer zu eröffnen, und so entwickelten sich blutige Straßenkämpfe, die erst endeten, als Tsou ankündigte, daß er das Land verlassen und nach Japan gehen werde 84 . Chiang selbst bezog in einem Rundbrief an alle Parteimitglieder am 30. November noch einmal öffentlich Stellung gegen Nanking 85 . Unter dem Eindruck dieser Bewegung entschlossen sich die Politiker und Militärs in Nanking endlich zum Nachgeben. Zwar unternahmen führende Mitglieder der „Westberggruppe" noch einmal den Versuch, das „Spezialkomitee" zu retten, indem sie in einem offenen Brief die Existenz ihrer Fraktion ableugneten und ihre Loyalität zur K M T beschworen 86 , die Mehrheit der Nankinger Führungsgruppe jedoch erklärte sich zur Mitarbeit bei der Vorbereitung des 4. Plenums bereit. Wu Chih-hui, Ts'ai Yüan-p'ei, Li Shih-tseng, Yü Yu-jen und Chang Ching-chiang wurden nach Shanghai entsandt 87 , um dort am 3. Dezember im Hause Chiangs mit diesem, Wang, T'an Yen-k'ai, Sung Tzu-wen, Li Chi-shen han und Shanghai, in: „Kuo-wen chou-pao" vom 19. 11. 1 9 2 7 ; auch in: K M W H , X V I I , p. 155—158. 83

U . a.: „Shen-pao" vom 2 0 . 1 1 . 1 9 2 7 . T'ang — Revolution, p. 311 f. — gibt als D a -

84

„Shanghai shih-shih hsin-pao" und „Shen-pao" vom 23. 11. 1927.

85

Brief Chiangs an die Mitglieder des Z E K und Z K K und alle Parteimitglieder, vom

tum des ersten Gespräches zwischen Wang und Chiang den 18. November an.

30. 11. 1 9 2 7 ; in: K M W H , Bd. X V I , p. 1 0 3 — 1 0 7 . Vgl. dazu: T'ang,

Revolution,

p. 314 f. 89

Brief Hsieh Ch'ihs u. a. an die Parteimitglieder vom 29. 11. 1927, in: K M W H , ibid., p. 9 4 — 9 8 .

87

„Shen-pao" vom 1 . 1 2 . 1 9 2 7 .

Von der Bildung des „Spezialkomitees"

zum Sturz Wang Ching-weis

289

und Sun K'e zur „1. Vorbereitungskonferenz des 4. Plenums" zusammenzutreten 88 . Die „Alten Genossen" der Mittelgruppen in der K M T begannen sofort nach ihrer Ankunft in Shanghai, auf eine Trennung Chiangs von Wang hinzuarbeiten 89 . Hauptsprecher der älteren ZKK-Mitglieder war Wu Chih-hui, der bereits seit einigen Wochen eine erbitterte Kontroverse mit Wang ausfocht. Dieser hatte sich in einem Vortrag vor Studenten der SunYat-sen-Universität (Chung-shan ta-hsüeh) in Kanton am 5. November dafür zu rechtfertigen versucht, daß Wuhan erst drei Monate nach Nanking mit den Kommunisten gebrochen hatte, indem er auf die militärischen Schwierigkeiten der KMT-Linken im Sommer 1927 verwies, die, wie er sagte, „ein energisches Vorgehen zu einem früheren Zeitpunkt" nicht gerechtfertigt hätten 90 . Wenige Tage darauf bezichtigte ihn Wu Chih-hui der Naivität und warf ihm vor, er hätte die Infiltration der K M T , der Massenorganisationen und vor allem der N R A durch die Kommunisten leichtsinnig geduldet, wenn nicht gar bewußt gefördert 91 . Dies rief Protestbriefe von Frau Ho Hsiang-ning — am 18. November — und bald auch von Wang selbst — am 28. November — hervor, in denen die beiden Führer des linken Flügels Wu vorwarfen, er verdrehe die Tatsachen 92 , was dieser wiederum in einer sehr ironisch gehaltenen Antwort am 29. November zurückwies93. Nachdem die „Alten Genossen" auf der ersten Sitzung der „Vorbereitungskonferenz" am 3. Dezember eine Vertagung um drei Tage durchgesetzt hatten, wiederholten sie die Vorwürfe Wus gegen den linken Flügel auf einer Pressekonferenz am 5. Dezember und erhoben die Forder-

88

Beschlußprotokoll der 1. Vorbereitungskonferenz

des 4. Plenums in Shanghai am

з. Dezember 1927 (KMT-Archiv). 89

So T'ang, Revolution, p. 313 f. T'angs Angaben wurden von Sun K'e im Interview mit dem Verfasser am 3. April 1965 weitgehend bestätigt. Sun bestritt nur, daß je der Plan entstanden sei, mit militärischer Gewalt gegen Wang und seine Anhänger vorzugehen, wie T'ang behauptet.

90

Wang Ching-wei, „Wuhans Bruch mit den Kommunisten", loc. cit., p. 79 — 9 3 ; mit einem Aufsatz Wangs („Nach dem Bruch mit den Kommunisten") im Anhang auch in:

Ke-ming yü

fan-ke-ming,

p. 5 9 0 — 6 1 1 ;

und

in:

KCT-Dokumente,

Bd. I,

p. 3 6 2 — 3 8 3 . 91

Wu Chih-hui, „Mein Kommentar zu Herrn Wangs ,Bruch mit den Kommunisten* и. a.: ibid., p. 3 8 3 — 4 0 3 . (auch in: „Kuo-min jih-pao" vom 1 8 . 1 1 . 1 9 2 7 ) .

92

Briefe Frau H o Hsiang-nings und Wang Ching-weis an Wu Chih-hui vom 18. bzw. 2 8 . 1 1 . 1 9 2 7 : ibid., p. 403 f.

95

19

Antwortbrief Wu Chih-huis an Frau H o und Wang vom 29. 1 1 . 1 9 2 7 : ibid., p. 404. Domes

290

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

ung, daß dessen Führer — Wang- Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü und Kan Nai-kuang — von der Teilnahme am 4. Plenum auszuschließen seien, da sie die Verantwortung für die kommunistische Unterwanderung der KMT trügen94. In den folgenden Tagen bemühten sich Wu, Ts'ai, Li und Chang in einer Serie von Gesprächen mit Chiang, diesen für sich zu gewinnen. Um dies zu erreichen, erklärten sie sich bereit, auf die weitere Mitarbeit der meisten Führer der „Westberggruppe" zu verzichten. So entstand die Formel: „Das 4. Plenum ohne den ,Westberg' und die Linke 95 !" Chiang ließ sidi jedoch zunächst auf die Ratschläge der Nankinger Politiker nicht ein. Dann aber führten die Ereignisse in und um Kanton zu einer weiteren Verschlechterung der Position Wangs. Am 2. Dezember hatte sidi die Nationalregierung des „Spezialkomitees" in Nanking dem Druck der Kuangsi-Generale gebeugt und die Eröffnung von Kriegshandlungen gegen Chang Fa-k'uei angeordnet96. Li Chi-shen, der von Shanghai bereits wieder nach Kuangtung abgereist war, wurde zum Oberbefehlshaber der Operation ernannt, in deren Vollzug die Truppen Pai Ch'ung-hsis, Ch'en Ming-shus und Huang Shao-hsiungs von drei Seiten Kanton angreifen sollten97. Chang wurde gezwungen, seine Eliteverbände aus Kanton abzuziehen, um sich gegen den Angriff der NRA-Truppen zur Wehr zu setzen, und diese Gelegenheit benutzte die K C T zu ihrem Aufstand in der Stadt 98 . Die kommunistische Erhebung kam jedoch nicht völlig unerwartet. Wang Ching-wei scheint schon im November Informationen darüber bekommen zu haben, daß vom sowjetischen Konsulat in Kanton aus kommunistische Propaganda getrieben und dort auch ein Waffenlager für den Aufstand angelegt wurde99. Jedenfalls telegrafierte er am 9. Dezember — einen Tag vor dem Ausbruch der Erhebung — an seinen Kantoner Repräsentanten Ch'en Kung-po den Befehl, den sowjetischen Konsul auszuweisen, das Konsulat zu durchsuchen und alle bekannten Kommu94 95

96

07 98 99

U. a.: „Shen-pao" und „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 6. 12. 1927. So Sun K'e im Interview mit dem Verfasser am 3. April 1965. Suns Äußerungen werden von der Entwicklung bis zum 4. Plenum tatsächlich bestätigt. U. a. in: „Sh£n-pao" vom 8. 12. 1927. Befehl der Nationalregierung zum Krieg gegen Chang Fa-k'uei und Huang Chihsiang vom 2. 12. 1927, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", selbes Datum; audi in: KMWH, Bd. X V I I , p. 164 f. Brief des Militärrates an die Nationalregierung vom 2. 1 2 . 1 9 2 7 , ibid., p. 165 f. Siehe oben, Seite 278 f.! So T'ang, Revolution, p. 315 f.

Von der Bildung des „Spezialkomitees"

zum Sturz Wang Ching-weis

291

nisten in der Stadt zu verhaften 100 . Noch am selben Tage wiesen die Führer des linken Flügels in Shanghai in einem zweiten, u. a. von Wang, Ku Meng-yü, Wang Fa-chin, Kan Nai-kuang und Ch'en Shu-jen unterzeichneten Telegramm an Ch'en Kung-po und Chang darauf hin, daß Huang Ch'i-hsiang in leichtsinniger Weise die kommunistische Subversion in seinen Verbänden geduldet habe und forderten „eine strikte Untersuchung, wenn nötig, auch die Bestrafung" Huangs 101 . Noch ehe Ch'en und Chang handeln konnten, brach der Aufstand aus. Er führte zunächst dazu, daß Chang und Li Chi-shen die Kampfhandlungen gegeneinander einstellten und gemeinsam gegen die Kommunisten vorgingen, wobei sie ständig in telegrafischem Kontakt mit Wang blieben 102 . Aber nach dem Zusammenbruch der „Kanton-Kommune" waren Lis Truppen in der Stadt. Chang zog sich mit seinen Soldaten in das Innere der Provinz Kuangtung zurück103, die letzte Hochburg des linken Flügels war verlorengegangen. In jenen Tagen fiel audi in Shanghai die Entscheidung. Wang trat wieder einmal in einem bedeutsamen Augenblick den Rückzug an. Die Stellung der Gegner des „Spezialkomitees" in Kanton schien schwer gefährdet, Chiangs verläßliche Truppen der alten „Parteiarmee" standen in Nord-Kiangsu im Kampf gegen Chang Tsung-ch'ang, der Raum um Nanking und Shanghai aber wurde von Kuangsi-Verbänden und ihrem Anhang kontrolliert. In dieser Situation hielt es Chiang offenbar für opportun, von neuem die Zusammenarbeit mit den „Alten Genossen" aufzunehmen, um auf diese Weise das „Spezialkomitee" auszuschalten und zum 4. Plenum, das er weiterhin wünschte, zu gelangen. Seine eigene Stellung wurde einen Tag vor der vierten Sitzung der „Vorbereitungskonferenz", auf der endgültige Beschlüsse gefaßt werden sollten, am 9. Dezember dadurch gestärkt, daß jetzt Yen Hsi-shan, Feng Yü-hsiang, H o Ying-ch'in und andere Befehlshaber der Kampfverbände an der Front in einem Telegramm an Nanking verlangten, er solle den Oberloo Telegramm Wang Ching-weis an Ch'en Kung-po u. a. vom 9. 12. 1927, in: K M W H , Bd. X V I I , p. 166. ιοί Telegramm Wang Ching-weis u. a. an Ch'en Kung-po und Chang Fa-k'uei vom 9. 1 2 . 1 9 2 7 , ibid., p. 166 f. 102

Telegramm Wang Ching-weis an Ch'en Kung-po u. a. vom 1 0 . 1 2 . 1 9 2 7 , ibid., p. 167. Telegramm Li Chang-tas an Wang Ching-wei vom 12. 12. 1927, ibid. Telegramm Chang Fa-k'ueis an Wang Ching-wei vom 1 3 . 1 2 . 1 9 2 7 , ibid., p. 168. Telegramm Wang Ching-weis an Chang Fa-k'uei u. a. vom 1 4 . 1 2 . 1927, ibid., p. 168 f. Vgl. zu diesem Absatz audi: T'ang, Revolution, p. 316.

103

19»

Amann, Chiang, p. 46.

292

VII. Kapitel: Die Krise und der militärische Sieg der KMT 1927J28

befehl der NRA wieder übernehmen104. Als am 10. Dezember die „Vorbereitungskonferenz" zusammentrat, forderten die „Alten Genossen" sofort Chiang auf, wieder an die Spitze der Streitkräfte zu treten. Ein gleichlautender Antrag wurde von Wang Ching-wei, Frau Ho Hsiang-ning, "Wang Fa-chin, Kan Nai-kuang, Ku Meng-yü, Chu Ch'i-hsün, Ting Weifen, Wang Le-p'ing, Ch'en Shu-jen, Frau Wang Ching-wei (Ch'en Pichün) und P'an Yün-ch'ao im Namen der Gegner des „Spezialkomitees" gestellt. Das Bemerkenswerte an diesem Antrag war, daß Wang einen nur von ihm unterzeichneten Zusatz machte, in dem er zum ersten Male seit September Rücktrittsabsichten durchblicken ließ: „Chao-ming (Wang, d. Verf.) ist bereit, zurückzutreten, um die Streitigkeiten zu beenden, falls einige Genossen sich nidit mit Chao-ming versöhnen können 105 ."

Die Konferenz beschloß daraufhin einstimmig, Chiang aufzufordern, er solle sofort wieder den Oberbefehl über die NRA übernehmen. Dieser erklärte sich unter der Bedingung, daß das „Spezialkomitee" sich auflöse und das 4. Plenum auf den 1. Januar 1928 nach Nanking einberufen werde, hierzu bereit, und die Konferenz nahm seine Forderung an106. Auf einer Pressekonferenz am 13. Dezember teilte Ts'ai Yüan-p'ei diese Entscheidungen der Öffentlichkeit mit107. Gleich nach ihm aber sprach Chiang, und er ließ dabei offen, ob er gewillt sei, wieder an die Spitze der NRA zu treten. Von besonderer Bedeutung war die Bemerkung Chiangs, daß die gegenwärtige Situation „neue Systeme und eine neue Politik" verlange, weil „die alten, in Kanton festgelegten Systeme der Lage nicht mehr gerecht werden können"108. Wang hatte — gewiß nicht zu Unrecht — den Eindruck, als habe Chiang mit dieser Rede seinen Übergang zum Nankinger Lager vollzogen. Nachdem Wu Chih-hui am 14. Dezember auch noch begann, ihm vorzuwerfen, er sei im November in Kanton nicht wachsam genug gegen104

Telegramm Yen Hsi-shans, Feng Yü-hsiangs und H o Ying-ch'ins an die National-

105

Antrag Wang Ching-weis u. a. auf der 4. Sitzung der Vorbereitungskonferenz des

106

Brief des Vorsitzenden der Vorbereitungskonferenz des 4. Plenums des Z E K , Y ü

regierung vom 9 . 1 2 . 1 9 2 7 (KMT-Archiv). 4. Plenums am 1 0 . 1 2 . 1927, in: K M W H , Bd. X V I , p. 107 f. Yü-jen, an Chiang, vom 10. 1 2 . 1 9 2 7 , ibid., p. 108. 107

Ansprache Ts'ai Yüan-p'eis

auf einer Pressekonferenz

über das 4. Plenum

des

II. Z E K der K M T in Shanghai am 13. Dezember 1927, in: K M W H , Bd. X V I I , p. 169 f. 108

Rede Chiangs auf der Pressekonferenz in Shanghai am 1 3 . 1 2 . 1 9 2 7 , in: K M W H , Bd. X V I , p. 108—113.

Von der Bildung des „Spezialkomitees" zum Sturz Wang Chirtg-weis

293

über den Kommunisten gewesen und trage daher ebenfalls Verantwortung für den Aufstand 109 , zog sich Wang endgültig zurück. Am 17. Dezember schiffte er sich in Shanghai nach Europa ein und erklärte in einem am 26. Dezember veröffentlichten Telegramm an die Mitglieder des ZEK und der ZKK sowie Chiang seinen Rücktritt von allen Ämtern. Er trete zurüdk, um den Weg für Chiang und für die Einheit der Partei frei zu machen. Warnend Schloß Wang seine Erklärung mit dem Aufruf: „Idi habe noch ein Wort mehr zu sagen: Die Säuberung der Partei ist wichtig, wichtiger aber die Rettung der Partei. Das 4. Plenum muß zusammentreten, das Spezialkomitee muß aufgelöst werden, und wir dürfen den korrupten Elementen bei uns keine Chance geben 110 !"

Doch Nanking war mit Wangs Rücktritt noch nicht zufrieden. Am 20. Dezember beauftragte die Nationalregierung Teng Tse-ju und Ku Ying-fen, zwei Anhänger Hu Han-mins, der jetzt nach wochenlangem Schweigen wieder aktiv in das politische Geschehen einzugreifen versuchte damit, zu untersuchen, ob Wang und seine Anhänger im ZEK und in der ZKK für den Kantoner Aufstand mitverantwortlich seien und die „Rebellion Chang Fa-k'ueis und Huang Ch'i-hsiangs" gefördert hätten111. Sdion am 31. Dezember klagten sie Wang an, Chang Fa-k'uei, der jetzt als „Rebell" galt, unterstützt zu haben112, und am 7. Januar 1928 beschloß der wieder amtierende Ständige Ausschuß des ZEK, Wang, Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü und Kan Nai-kuang die Beteiligung am 4. Plenum zu untersagen113. Der linke Flügel der KMT war damit aus dem politischen Entscheidungsprozeß in der Partei zunächst ausgeschlossen. Wangs Sturz hatte die Möglichkeit beseitigt, zu einer umfassenden Einigung im nationalistischen Lager zu gelangen und die volle Autorität der Parteiführung wiederherzustellen. Chiang blieb alleine zurück, und er bemühte sich nun, erneut die Kräfte der Mitte und der gemäßigten Rechten zusammeln, um die Krise der KMT zu überwinden. ίο»

Ching-heng (Chih-hui), „Zwei Telegramme", in: „Shanghai shih-shih hsinpao", vom 14. 12.1927; auch in: KMWH, Bd. XVII, p. 170—175.

W u

110

Telegramm Wang Ching-weis vom 17.12.1927, in: „Min-kuo jih-pao", Kanton, vom 2 6 . 1 2 . 1 9 2 7 ; audi in: KMWH, Bd. XVII, p. 176 f.

111

Befehl der Nationalregierung vom 20. 12. 1927, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao", selbes Datum, audi in: KMWH, ibid., p. 177 f.

112

„Sh£n-pao" vom 1. 1.1928.

113

Besdilußprotokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK der KMT am 7. Januar 1928 (KMT-Archiv).

294

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

Chiangs Rückkehr zur Macht und das 4. Plenum des II. ZEK Chiang Kai-shek, der — wie wir sahen — die Auseinandersetzungen der Fraktionen im Herbst 1927 gemieden hatte, war der Mann der Stunde. Der siegreiche Führer der ersten Phase des Nordfeldzuges genoß im Lande erhebliches Ansehen. Die Offiziere und Soldaten der alten „Parteiarmee" brachten ihm unbedingte Loyalität entgegen, die KuangsiGenerale, Feng Yü-hsiang und Yen Hsi-shan respektierten ihn. Ehemals enger Mitarbeiter Sun Yat-sens, achtete man ihn auch in der zivilen Parteiorganisation, wo er sich nach der Trennung von Wang mit Sicherheit auf Chang Ching-diiang und die jungen Chekiang-Politiker stützen konnte. Nach seiner Rückkehr hatte er sich außerdem am 1. Dezember 1927 durch seine Heirat mit Sung Mei-ling, der Schwester Sung Tzuwens und der Witwe Sun Yat-sens sowie der Schwägerin von K'ung Hsiang-hsi, der über gute Verbindungen zu Feng Yü-hsiang verfügte, gleichzeitig der Unterstützung des Shanghaier Großbürgertums — dem seine Frau entstammte — und wesentlicher Kräfte der ehemaligen „linken Mitte" der KMT versichert114. Gustav Amann schilderte Chiangs Möglichkeiten um die Jahreswende 1927/28 zutreffend, als er schrieb: „Jedes politische Spiel fordert, j e nach seinem inneren Wesen, einen Regisseur von ganz bestimmten Gaben und Fertigkeiten, eine Persönlichkeit besonderer E i g n u n g . . . Das chinesisch-demokratische Programm (Amann meint hier das Programm der K M T , d. Verf.) verlangte in diesem Augenblick nadi einem Führer, der unter den Generalen viel galt, aber nicht so sehr Militär war, daß er, zur Macht gekommen, selbst zum Militaristen altchinesischer Sorte umschlagen würde. Es mußte ein Mann sein, der aus den inneren Voraussetzungen seiner Persönlichkeit die Parteiunterstützung suchen würde, weil er sie wollte und brauchte: und dabei ein Mann von ungewöhnlicher Geriebenheit im Ziehen der Schnüre. Nicht genug damit, er mußte auch einen Hauptdarsteller mitbringen, der dem Spiel Inhalt und körperliche Wirklichkeit gab. Einen solchen Mann hatte China in Chiang Kai-shek, und ihn rief die politische Darstellergesellschaft auch im richtigen Augenblick zurück. E r brachte seinen Hauptdarsteller Τ . V . Soong (Sung Tzu-wen, d. Verf.) mit, den er sich soeben

durch Verheiratung mit seiner jungen

Schwester eng verbunden hatte . . , 1 1 5 ."

114

„Shen-pao"

vom

1.12.1927.

Vgl.

hierzu:

Tong,

op.

cit.,

p. 9 8 — 1 0 4 ;

und:

F . T . Ishimaru, Chiang Kai-shek ist groß!, dtsche. Ausgabe Berlin 1938, p. 8 7 — 9 2 . (Bei diesem Buch mit deklamatoristhen Titel handelt es sich um die Übersetzung einer höchst aufschlußreichen Studie des Leiters der China-Abteilung im Nachrichtendienst der japanischen Marine, die 1937 erschien und eine Fülle interessanten Materials bietet, das sich in allen Fällen, in denen es überprüft werden konnte, als stichhaltig erwies.) 115

Amann, Chiang, p. 47.

Chiangs Rückkehr zur Macht und das 4. Plenum des II. ZEK

295

Zunächst allerdings ließ Chiang sich noch mehrmals bitten, ehe er wieder an die Spitze der nationalistischen Partei und Armee trat. Nachdem Wang und seine Anhänger das Feld geräumt hatten, galt es, den Einfluß der Rechten — vor allem der „Westberggruppe", des Kreises um Hu Han-min und der Kuangsi-Generale — zurückzudrängen; denn deren Vorstellungen über den Fortgang der chinesischen Entwicklung stimmten mit denen Chiangs nicht überein. Vor allem deshalb zögerte dieser noch fast vier Wochen, bis er schließlich das ihm schon am 10. Dezember wiederum angebotene Amt des Oberbefehlshabers der N R A von neuem übernahm 118 . Die Armee selbst drängte immer stärker darauf hin. Am 20. Dezember 1927 sandten der Kuominchün-General Lu Chunglin:;", Ho Ying-ch'in und 16 weitere Kommandanten der Fronttruppen ein Telegramm an die Parteizentrale und die Nationalregierung in Nanking, in dem sie dringend die Übernahme des Oberbefehls durch Chiang verlangten 117 . Gleichzeitig forderte Ho Ying-ch'in in einem Zirkulartelegramm, daß das 4. Plenum des Z E K sofort zusammentreten solle, „um die Parteigewalt wiederherzustellen" 118 . Derart von den Streitkräften unterstützt, wurde Chiang mit seinen Bedingungen präziser. Er verlangte in einem Zirkulartelegramm am 23. Dezember den sofortigen Rücktritt des „Spezialkomitees", das immer noch versuchte, die Einberufung des 4. Plenums zu verzögern, und die Vorbereitung des Plenums durdi den Ständigen Aussdiuß des Z E K , dessen in Nanking oder Shanghai anwesende Mitglieder wieder in ihre Funktionen einzusetzen seien119. Dabei machte er unmißverständlich klar, daß er den auf dem 3. Plenum in Wuhan gewählten „Ständigen Ausschuß" meinte und übernahm so die Forderung, die Wang seit September immer wieder gestellt hatte. Das Verlangen Chiangs führte in Nanking zu einem Konflikt innerhalb der „Westberggruppe". Chang Chi, Lin Sen und Hsü Ch'ung-chih waren bereit, seine Bedingungen zu akzeptieren und sich nicht am 4. Plenum zu beteiligen, Hsieh Ch'ih, Chü Cheng und Tsou Lu bestanden weiterhin auf einem Zusammenschluß aller Gruppen — ohne die Linke! 118

Vgl. hierzu: ibid., p. 4 9 — 5 3 ; und: Ch'en Hsün-cheng, „Chiang übernimmt erneut den Oberbefehl—Seine Strategie", in: KMWH, X V I I I , p. 1—10.

117

Telegramm Lu Chung-lins, H o Ying-ch'ins u . a . an Nanking vom 20. 12. 1927, in: K M W H , Bd. X V I I I , p. 10 f.

118

Zirkulartelegramm H o Ying-di'ins vom 2 0 . 1 2 . 1 9 2 7 , 21. 12. 1927.

119

Zirkulartelegramm Chiangs vom 2 3 . 1 2 . 1 9 2 7 , u. a. in: „Shen-pao" vom 24. 12. 1927.

u.a.

in: „Shen-pao"

vom

296

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT 1927/28

— auf der Grundlage der Beschlüsse vom September120. Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen und zogen sich schließlich zurück. Am 28. Dezember 1927 erklärte sich das „Spezialkomitee" für aufgelöst121, und am 2. Januar 1928 forderte die Nationalregierung Chiang noch einmal auf, den Oberbefehl der NRA wieder zu übernehmen122. Jetzt endlich folgte er dem Ruf, doch nicht, ehe die Nanking-Regierung seinen Schwager Sung Tzu-wen zum Finanzminister berufen hatte, während für Sun K'e, den bisherigen Finanzminister, das Amt eines Ministers für Aufbau (Chien-she pu) geschaffen wurde123. Am 4. Januar 1928 begab sich Chiang von Shanghai nach Nanking. Zwei Attentatsversuche auf den Zug, in dem er reiste, wurden vereitelt, und in der Hauptstadt empfing ihn die Bevölkerung mit jubelnden Massendemonstrationen 124 . Nachdem er am 5. Januar die Mitglieder des ZEK telegrafisch aufgefordert hatte, zum 4. Plenum in die Hauptstadt zu kommen, trat er am 6. sein Amt als Oberbefehlshaber der N R A wieder an125. Einen Tag später begann der Ständige Ausschuß des ZEK — von dem Chiang, T'an Yen-k'ai, Sun K'e und Sung Tzu-wen übriggeblieben waren — seine Arbeit in Nanking mit der offiziellen Einberufung des 4. Plenums zum 1. Februar 192812®. Noch ehe das Plenum zusammentrat, gelang es Chiang, auch die maßgeblichen Führer des rechten Flügels der Partei zeitweilig auszuschalten. Er setzte es durch, daß die Nationalregierung den in den von Kräften des linken Flügels beherrschten lokalen Parteiorganisationen unbeliebten Außenminister Wu Ch'ao-shu mit ihrer Vertretung in den USA betraute. Daraufhin erklärte Hu Han-min, er werde Wu begleiten, um „eine weitere Spaltung der Partei zu verhindern". Auch der inzwischen zum rechten Flügel übergewechselte Sun K'e begab sich, zusammen mit Hu und Wu, für einige Monate „auf eine Studienreise ins Ausland" 127 . Damit waren die Führer der Rechten ebenso zur Seite gedrängt wie zuvor Wang und seine Anhänger vom linken Flügel. Chiang beherrschte 120 121

122

129 124 125 126

127

So: „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 2 7 . 1 2 . 1 9 2 7 . Bericht des Sekretariats des Zentralen Spezialkomitees über das Ende seiner Funktionen, vom 2 8 . 1 2 . 1 9 2 7 , in: KMWH, Bd. XVII, p. 179. Telegramm der Nationalregierung an Chiang vom 2. 1. 1928, in: KMWH, Bd. XVIII, p. 12. „Kuo-min jih-pao", Nanking, vom 3 . 1 . 1 9 2 8 . ibid. und „North China Daily News" vom 5 . 1 . 1 9 2 8 . Liu, op. cit., p. 51. Aufruf des Ständigen Ausschusses des ZEK zur Einberufung des 4. Plenums des II. ZEK der KMT vom 7 . 1 . 1 9 2 8 (KMT-Archiv). Amann, Chiang, p. 52, bestätigt durch Sun K'e im Interview mit dem Verfasser am 3. April 1965.

Chiangs Rückkehr zur Macht und das 4. Plenum des II. ZEK

297

mit dem Zentrum der Partei alleine das Feld, mit den Kuangsi-Generalen vermochte er sich Ende Januar offenbar so zu einigen, daß diese der „Parteiarmee" die Kontrolle der Provinzen Kiangsu, Chekiang, Anhui, Kiangsi und Fukien überließen, während ihnen die Herrschaft über Hupei, Hunan, Kuangtung und Kuangsi garantiert wurde 128 . In einem Vortrag vor der „Zentralen Parteischule" in Nanking, deren Rektorat Chiang jetzt wieder übernahm, verkündete er am 16. Januar sein politisches Programm 129 . Das politische System des Landes, so begann Chiang, müsse sich an Sun Yat-sens Schrift „Grundlagen des Nationalen Aufbaus" 130 orientieren. In Übereinstimmung mit den vom I. Parteikongreß verabschiedeten Grundsätzen bleibe die Abschaffung der ungleichen Verträge und die „volle Gleichberechtigung Chinas in der Familie der Völker" das erste Ziel der auswärtigen Politik. Dies solle jedoch, wenn immer möglich, auf dem Verhandlungswege erreicht werden. Nur wenn Verhandlungen ergebnislos blieben, könne man an eine einseitige Kündigung der Verträge denken. Chiang forderte, daß die Nationalregierung in aller Form die Beendigung der Zusammenarbeit mit der UdSSR erkläre, die diplomatischen Beziehungen zu Moskau sollten erst wieder aufgenommen werden, „wenn die Sowjetregierung überzeugend bewiesen hat, daß sie hinfort auf jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas verzichtet". Dennoch müsse China weiterhin den „Befreiungskampf der unterdrückten Völker in den Kolonien nach bestem Vermögen unterstützen". Was die chinesische Innenpolitik angehe, so sei es wünschenswert, daß nach der Vollendung des Nordfeldzuges ein „Nationalkonvent" (Kuomin hui-i) einberufen werde. Die KMT werde sich im übrigen an die Stufenfolge des politischen Aufbaus halten und nach dem Sieg über die Militärmachthaber umgehend die Periode der Erziehungsdiktatur einleiten. Intensiv beschäftigte sich Chiang mit den Massenorganisationen. Er bejahte deren „Nützlichkeit" als Instrumente der Revolution, doch wurde sein offenbar tief verwurzeltes Mißtrauen gegen diese Verbände deutlich, als er verlangte, daß „Fehler der Vergangenheit korrigiert und von den Zentralbehörden neue Richtlinien über Massenbewegungen aufgestellt" 128 129

130

ibid. Rede Chiangs vor der Zentralen Parteischule in Nanking am 16. Januar 1928, in: KMWH, Bd. X X I I , p. 197—201. Einen Überblick über den als Manifest erschienenen ersten Teil der Rede in Englisch gibt: Tong, op. cit., p. 109 f. Siehe oben, Seite 53 und 56!

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VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT 1927/28

werden müßten. Von den Kadern der Partei forderte er, daß sie sich mit der gleichen Leidenschaft wie die Kadetten von Huangpu „in den Dienst der Revolution stellen" sollten. Mit diesen Vorstellungen ging Chiang in das 4. Plenum des II. ZEK, das endlich am 2. Februar 1928 in Nanking zusammentrat 131 . Unter dem Präsidium von Chiang, Τ'an Yen-k'ai und Yü Yu-jen versammelten sich 21 Mitglieder des ZEK und acht der ZKK, es war also trotz des Ausfalls der Führer des linken und rechten Flügels gelungen, das Quorum zu erreichen, allerdings nur, weil beim ZEK die sieben früher von Kommunisten eingenommenen Sitze durch nachrückende Kandidaten besetzt worden waren, von denen vier an der Konferenz teilnahmen. Die „Zentristen" dominierten: 13 der 21 ZEK-Mitglieder und sechs der acht Vertreter des ZKK gehörten zu den verschiedenen Gruppen der Mitte. Einem Antrag Chiangs, Ting Wei-fens und Ch'en Kuo-fus folgend, beschloß das Plenum am 6. Februar jene neuen Richtlinien zur Restriktion der Massenorganisationen, über die oben bereits gehandelt wurde 132 . Außerdem verschärfte man die Parteidisziplin und bemühte sich, Wege zur Straffung der Organisation in der Zentrale zu finden. In einer „Resolution zur Aufrechterhaltung der Parteidisziplin" wurde die Konsequenz aus den Ereignissen des Jahres 1927 gezogen, indem man allen Mitgliedern der KMT verbot, als Einzelne Stellungnahmen für die Partei abzugeben, ohne dazu durch einen offiziellen Beschluß der regulären Leitungsgremien autorisiert zu sein, und die Zugehörigkeit „zu allen Organisationen und Parteien außerhalb der KMT" untersagte133. Das Plenum erklärte die Beschlüsse der Parteiorgane, welche die Politik der Zusammenarbeit mit den Kommunisten bestätigt hatten, für ungültig und hob außerdem die Disziplinarmaßnahmen gegen die Mitglieder der „Westberggruppe" auf 134 . Beim ZEK, das wiederum als „Konferenz über Parteiangelegenheiten" ebenso wie als „Politische Konferenz" (oder: „Politischer Rat", d. Verf.) zusammentreten konnte, blieben nur drei Abteilungen — für Organisation, Propaganda und Ausbildung — bestehen, während die früheren Zentralstellen der Massenbewegung aufgelöst wurden. Deren Aufgaben 131

132 133

134

Teilnehmerliste des 4. Plenums des II. ZEK der KMT, 2 . - 8 . 2 . 1 9 2 8 (KMTArchiv). Siehe oben, Seite 261! Resolution des 4. Plenums des II. ZEK der KMT über die Aufrechterhaltung der Parteidisziplin, vom 6. 2. 1928, in: KMWH, Bd. XVII, p. 195. Resolution des 4. Plenums des II. ZEK der KMT über die Gültigkeit der Beschlüsse in Nanking und Wuhan, vom 6. 2. 1928, ibid.

Chiangs Rückkehr zur Macht und das 4. Plenum des II. ZEK

299

verteilte man über diese drei Dienststellen 135 , eine Entscheidung, die nicht unerheblich zum weiteren Verfall der KMT-Massenorganisationen beitrug, obgleich von ihren Initiatoren eher das Gegenteil beabsichtigt wurde: diese Organisationen sollten zwar unter strikte Kontrolle genommen, aber eben dadurch verstärkt werden. Das ließ sich jedoch mit Hilfe des vom 4. Plenum entwickelten institutionellen Instrumentariums nicht erreichen. Bereits am 4. Februar beschloß das Plenum eine Reorganisation der Organe der Nationalregierung 136 . In den Grundzügen behielt man zwar das Organisationsstatut vom Sommer 1925 bei, aber der Nationalregierungsrat, dessen Mitgliederzahl seither um das Dreifache zugenommen hatte, erhielt stärker ornamentalen Charakter, und die Befugnisse seines Ständigen Ausschusses wurden erweitert. Das revidierte Organisationsstatut sah die Bildung von Ministerien für Auswärtige Angelegenheiten, Inneres, Finanzen, Verkehr, Justiz, Landwirtschaft, Handel und Industrie, sowie einer Anzahl anderer Ämter vor. Neben den Militärrat sollten jetzt als bedeutsame Gremien der Nationalregierung eine „Aufbaukommission der Republik China" (Chung-hua-min-kuo chien-she wei-yüan-hui), deren Vorsitz Chang Ching-chiang übernahm, und ein „Universitätsamt" (Ta-hsüeh-yüan) unter Ts'ai Yüan-p'ei treten. (Art. 7 des revidierten Statuts). Am 7. Februar wählte das Plenum 49 Mitglieder des neuen Nationalregierungsrates, wobei man auch Politiker aufnahm, die als Mitglieder der „Westberggruppe" oder des linken Flügels nicht an der Konferenz teilnahmen. So sollten Bemühungen um die Einheit der Partei demonstriert werden. Von der Linken wurden außer Wang Ching-wei noch vier weitere Politiker in den Nationalregierungsrat gewählt, die „Westberggruppe" sollte durch Chang Chi, Hsü Ch'ung-chih, Lin Sen und Hsiung K'e-wu vertreten werden. Von den Anhängern Hu Han-mins und Sun K'es standen sechs auf der Liste des Rates, von der Gruppe der KuangsiGenerale fünf, von den „Alten Genossen" vier, von der „linken Mitte" um T'an Yen-k'ai ebenfalls vier, von den Militärs und Politikern aus Chiangs nächster Umgebung hingegen zwölf. Yen Hsi-shan und die Kuominchün Feng Yü-hsiangs waren mit acht Mitgliedern im Rat vertreten, dem insgesamt 19 Militärs und 30 Zivilisten angehörten, darunter 19 Mitglieder des Z E K und sechs der Z K K . 135

Tsou Lu, op. cit., p. 65 ff. (Dort audi ein Organisationsschema).

138

Resolution des 4. Plenums des II. Z E K der K M T über die Organisation der Nationalregierung der Republik China, vom 4 . 2 . 1 9 2 8 , in: K M W H , Bd. X X I I , p. 203 f.

300

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT

1927/28

Zum Vorsitzenden des Nationalregierungsrates wurde T'an Yen-k'ai bestimmt, außer ihm wählte man noch Ts'ai Yüan-p'ei, Chang Chingchiang, Yü Yu-jen und Li Lieh-chün in den Ständigen Ausschuß. Justizminister blieb Wang Ch'ung-hui, bis ihn am 10. März 1928 Ts'ai Yüanp'ei ablöste, da jener wegen seiner früheren Zusammenarbeit mit der Peking-Regierung in den Parteiorganisationen scharf kritisiert wurde. Der Finanzminister Sung Tzu-wen und der Aufbauminister Sun K'e behielten ebenfalls ihre Ämter. Zum Außenminister ernannte man Huang Fu, einen Vertrauten Feng Yü-hsiangs, zum Verkehrsminister Wang Pechün, den Schwager H o Ying-ch'ins, und mit Dr. K'ung Hsiang-hsi als Minister für Handel und Industrie trat ein Volkswirt von hohem Rang in die Nationalregierung ein. Die Ministerien für Inneres und Landwirtschaft blieben vorläufig unbesetzt. In den Militärrat, dessen Vorsitz Chiang übernahm, wählte das Plenum 73 Generale und Politiker. Der Ständige Ausschuß dieses Gremiums, der den Auftrag erhielt, zusammen mit dem Oberbefehlshaber die N R A zu leiten, bestand außer Chiang jetzt aus Pai Ch'ung-hsi, Li Tsung-jen, Li Chi-shen, H o Ying-ch'in, Chu P'ei-te, Ch'eng Ch'ien, Feng Yü-hsiang, Yen Hsi-shan, T'an Yen-k'ai und Admiral Yang Shuchuang137. Zu Mitgliedern des Ständigen Ausschusses des ZEK wurden schließlich Chiang Kai-shek, Ting Wei-fen, Yü Yu-jen, Tai Chi-t'ao und T'an Yen-k'ai berufen, die gemeinsam auch das frühere Amt des Vorsitzenden wahrnehmen sollten138. Hier waren also Chiang und einige seiner treuesten Anhänger unter sich. Das Manifest des 4. Plenums, das am 8. Februar veröffentlicht wurde, übernahm weitgehend die von Chiang in seiner Rede am 16. Januar entwickelten Thesen. Für die Innenpolitik der KMT wurde die Ablehnung der Theorien des Klassenkampfes und der gewaltsamen Änderung der sozialen und ökonomischen Strukturen als bestimmend bezeichnet: „Unsere Partei kämpft für die Interessen des Volkes. Diese aber riditen sich auf den Bestand der chinesischen Nation und ihre Unabhängigkeit und Gleichberechtigung, sie sind nicht die Interessen irgendeiner einzelnen Klasse . . . Die chinesische Revolution hat sich schrittweise von der Periode der theoretischen Propaganda und der militärischen Eroberung zu einer Periode entwickelt, in der poli-

137

138

Hierzu: Listen der Mitglieder des Nationalregierungsrates und Militärrates vom 7. bzw. 17. 2.1928, ibid., p. 206 f. bzw. 209 f. und: KMWH, Bd. XVIII, p. 21 f. Vgl. u. a.: Amann, Chiang, p. 52 ίί. Beschluß des 4. Plenums des II. ZEK der KMT über den Ständigen Ausschuß des ZEK, vom 7. 2. 1928 (KMT-Archiv).

Chiangs Rückkehr zur Macht und das 4. Plenum des IL ZEK

301

tische und wirtschaftliche Entscheidungen gleichermaßen Bedeutung gewinnen . . . Alle vorläufigen Einrichtungen, welche den nationalen Aufbau fördern sollen, müssen sich an den ,Grundsätzen des nationalen Aufbaus' orientieren. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, zunächst die Grundsätze des Geistes der Verfassungstreue festzulegen . . . In den vergangenen Jahren richtete sich alle Aufmerksamkeit und Energie unserer Partei auf die militärische Entwicklung und die Propaganda unter den Massen. Deshalb waren die politischen Einrichtungen meist aus den Erfordernissen des Augenblicks entstanden, es gab kein wohlgeplantes System für sie. Und wegen der vaterlandslosen kommunistischen Propaganda wurde das Volk dazu gebracht, mehr an die sozialen Kämpfe als an die Wirksamkeit des Geistes der Verfassungstreue und Vaterlandsliebe zu glauben . . . Es ist die Aufgabe der KMT, die Massen zu erwecken, aber es ist ebenso ihre Aufgabe, die Wohlfahrt und Ordnung im Lande zu sichern."

Besondere Aufmerksamkeit widmete das Manifest den Problemen der Jugenderziehung: „Nach dem Kriege in Europa wurde die junge Generation Chinas sich immer mehr der sozialen und politischen Probleme bewußt. Je mehr sie die Welt sieht, desto unzufriedener wird sie mit der bestehenden politischen Ordnung und unseren Erziehungseinrichtungen. Studentenbewegungen brachen vielerorts aus, weil die bestehende Ordnung die Wünsche und Ansprüche der Studenten nicht zu befriedigen vermochte. Diese Schwäche unserer Gesellschaft nutzen die Kommunisten aus, und sie benutzen die Jugend als Werkzeug für ihre unklugen Aufstände. So wird die Jugend für den politischen Kampf mißbraucht... Um dieses Problem zu lösen, muß die Unabhängigkeit der Erziehung gesichert. . . , das nationale Erziehungswesen erheblich verbessert, und das Einsichtsvermögen der Massen verstärkt werden, so daß wir gute Staatsbürger bekommen und mit ihnen das Ziel des nationalen Aufbaus erreichen . . ."

Im Bereich der Wirtschaftspolitik wollte man hinfort vor allem auf evolutionäre Methoden bauen: „Von jetzt an wird sich unsere Partei mit Energie und Entschlossenheit um die Entwicklung der Landwirtschaft und Industrie Chinas bemühen, um so den Lebensstandard des Volkes zu heben und die Fundamente einer starken Nation zu errichten. So werden wir den großen Plan des Parteiführers (Tsung-li), den er in den .Grundlagen des Nationalen Aufbaus' entwarf, verwirklichen, indem wir die Möglichkeiten unserer Menschen, unseres Bodens und unserer wirtschaftlichen Potenzen auf die beste mögliche Weise nutzen 139 ."

Im Manifest wird besonders deutlich, wie sich die KMT jetzt den Fortgang der chinesischen Revolution vorstellte: Die Macht im Lande sollte gewaltsam errungen, der internationale Status Chinas aber möglichst auf dem Verhandlungswege verbessert werden; Reformen der politischen und sozialen Ordnung wollte man nur durch Gesetz und Dekret, also als „Revolution von oben", vollziehen; " · Manifest des 4. Plenums des II. ZEK der KMT, vom 8.2. 1928, in: KMWH, Bd. X V I , p. 115—124.

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VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927j28

Evolutionäre Entwicklungspolitik wurde zum Instrument der Verbesserung der sozialen und ökonomischen Bedingungen; und Massenbewegungen sollten hinfort nur noch als Werkzeug der zentralisierten Parteiführung der Erziehung des Volkes dienen, nicht aber dynamische Wirkungskräfte der Revolution darstellen. Angesichts dieser Grundsätze scheint es, als sei die These zulässig, daß die K M T unter dem Eindruck der Ereignisse des Jahres 1927 von einem in den äußeren Kennzeichen kommunistischen Organisations- und Entwicklungsmodell, das im Inhalt als „sunyatsenistisch" bezeichnet werden mag, zu einem solchen „kemalistischen" Typs überging. „Revolution von oben" — oder besser: Wandel durch administrative Herrschaftsakte statt durch Massenmobilisierung — wurde zum neuen Führungsprinzip. Damit blieb zwar der Weg der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung offen, aber die Mehrheit der Bevölkerung wurde so vom politischen Willensbildungsprozeß ausgeschlossen. Militär und Bürokratie gaben vor, die chinesisdie Revolution, die in der Tat vertagt wurde, stellvertretend zu vollziehen, ebenso, wie nach 1949 die Kader der K C T diese Stellvertretung für sich in Anspruch nahmen.

Die zweite Phase des

Nordfeldzuges

Durch die Entscheidungen des 4. Plenums war die äußere Einheit der nationalistischen Bewegung wiederhergestellt und formaliter, wenn auch keineswegs realiter, die Autorität der Partei über die Streitkräfte wiedererrichtet worden. Die Kerngruppe des linken Flügels und die orthodoxen Mitglieder der „Westberggruppe" hatten sich zunächst zurückgezogen, alle militärischen Fraktionen ihre Bereitschaft zum gemeinsamen Kampf gegen die nördlichen Militärmachthaber bekundet. Parteizentrale und Nationalregierung begannen sofort mit den Vorbereitungen für die zweite Phase des Nordfeldzuges. A m 9. Februar begab sich Chiang nach Hsüchou, um sich ein eigenes Bild von der Lage an der Front zu verschaffen, am 13. verkündete Nanking offiziell die Wiedererrichtung des Hauptquartiers des Oberbefehlshabers der N R A , 4 ° . Auch gelang es jetzt, Feng Yü-hsiang und Yen Hsi-shan dazu zu bewegen, sich Chiangs Befehl — wenigstens für die Dauer des Nordfeldzuges — zu unterstellen. So konnte der Militärrat am 28. Februar beschließen, den Nordfeldzug innerhalb

140

Veränderte Richtlinien für die Organisation des Hauptquartiers des Oberbefehlshabers der N R A , vom 13. 2.1928, in: K M W H , Bd. X V I I I , p. 14.

Die zweite Phase des

Nordfeldzuges

303

der folgenden Wochen wieder aufzunehmen. Die Streitkräfte der N R A wurden in vier „Heeresgruppen" (T'uan-chün) eingeteilt, von denen die ersten drei unmittelbar an der Offensive gegen Peking beteiligt sein sollten141: I. Heeresgruppe (im Kern die Verbände der alten „Parteiarmee" und neue, mit ihnen eng verbundene Einheiten): Oberbefehlshaber: Chiang Kai-shek; 1. Armee (Chün-t'uan): General Liu Shih 2. Armee: General Ch'en T'iao-yüan* 3. Armee: General H o Yao-tsu* 4. Armee: General Fang Chen-wu Allgemeine Einsatzreserve: General Chu P'ei-tä II. Heeresgruppe (Kuominchün): Oberbefehlshaber: Fing Yü-hsiang; 1. Armee (Fang-mien-chün): General Sun Liang-dien 2. Armee: General Sun Lien-diung 5. Armee: General Yüeh Wei-chün 8. Armee: General Liu Chen-hua 9. Armee: General Lu Chung-lin (später trat noch eine 3. Armee unter General H a n Fu-diü hinzu) III. Heeresgruppe (Shansitruppen): Oberbefehlshaber: Yen Hsi-shan Rechter Flügel: General Hsü Yung-di'ang Zentrale Feldarmee (Lu-chün): General Shang Chen Linker Flügel: General Yang Ai-yüan IV. Heeresgruppe (Kuangsi-Truppen und Einheiten aus H u n a n und Hupei): Oberbefehlshaber: Li Tsung-jen. (Keine Einteilung in Armeen, sondern 16 Armeekorps unmittelbar unter dem Oberbefehlshaber).

Hinzu traten noch eine „8. Feldarmee" unter dem Kommando Li Chishens und die formell der Nationalregierung unterstellten, aber praktisch ihrer Kontrolle völlig entzogenen Provinztruppen von Ssuch'uan, Yünnan und Kueichou142. Ursprünglich beabsichtigte Chiang, Ho Ying-ch'in zu seinem Generalstabschef zu ernennen. Dann erschien es ihm jedoch als sicherer, Li Chishen aus Kuangtung nach Norden in sein Hauptquartier zu holen, und so wurde dieser zum „Chef des Generalstabes des Nordfeldzuges der NRA" (Kuo-min ke-ming chün pei-fa tsan-mo tsung-chang) ernannt, während H o als sein Stellvertreter fungierte. Insgesamt unterstanden jetzt 700.000 Mann Feldtruppen dem Befehl Chiangs. Doch nur 150.000 141

142

Beschluß des Militärrates über die Fortsetzung des Nordfeldzuges vom 28. 2.1928 (KMT-Archiv). Vgl. dazu: Ch'en Hsün-cheng, „ C h i a n g . . . " , loc. cit., p. 6—8; Tong, op. cit., p. 110 f. und: Ishimaru, op. cit., p. 95. „Organisationstafel der N R A " , in: „Chung-yang jih-pao" (Zentralzeitung; hinf o r t : CYJP), Shanghai, vom 22. 7.1928; auch in: K M W H , Bd. X X I , p. 1673—1684.

304

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927J28

von ihnen gehörten zu seiner eigenen I. Heeresgruppe, die jetzt auch schon häufig als „Zentralarmee" (Chung-yang chün) bezeichnet wurde. Sie sollte von Nord-Kiangsu aus entlang der T'ienchin-P'uk'ou-Bahn über Chinan auf Hopei vorstoßen, ihre Verbände kontrollierten außerdem die Garnisonen in Kiangsu, Chekiang, Fukien und Teilen von Kiangsi, während das 11. Armeekorps unter dem mit Chiang eng verbundenen Ch'en Ming-shu gemeinsam mit Kuangsi-Truppen in Kuangtung stand. Fengs I I . Heeresgruppe übernahm die Aufgabe, die geplante Offensive von Chengchou aus an der Peking-Hank'ou-Bahn nach Norden voranzutreiben, während Yen mit der I I I . Heeresgruppe direkt in die Flanke des Gegners auf Peking vorstoßen sollte. Die Kuangsi-Truppen Li Tsungjens hingegen begnügten sich zunächst mit der Kontrolle Hunans, Hupeis, Anhuis und großer Teile von Kiangsi und hielten sich in Reserve. Auf der Gegenseite befehligte Chang Tso-lin als „Generalissimus" der Nordtruppen sieben Armeen mit Frontverbänden in einer Stärke von 400.000 Mann, von denen die wichtigsten unter dem Befehl Chang Hsüeh-liangs* — des damals 30 Jahre alten Sohnes von Chang Tsolin —, Yang Yü-t'ings, Sun Ch'uan-fangs und Chang Tsung-ch'angs standen 143 . Um die Finanzverwaltung der N R A , deren Beziehungen zu Ausländern, die Propaganda im gegnerischen Gebiet und den Aufbau eigener Behörden in eroberten Bezirken zu leiten und zu überwachen, wurde am 6. März beim Hauptquartier des Oberbefehlshabers ein „Politisches Frontkomitee" (Chan-ti cheng-wu wei-yüan-hui) gebildet, dessen Vorsitz Chiang Tso-ping übernahm und dem u. a. auch Dr. Lo Chia-lun angehörte 144 . Im übrigen verzichtete man jedoch darauf, außerhalb der „Zentralarmee" in den Einheiten der N R A Politkommissare der Partei zu ernennen. Das „Politische Frontkomitee" richtete schon am Tage seiner Gründung einen offenen Brief „an das Volk Nordchinas", in dem es erklärte, die N R A werde „binnen kurzem die Menschen im Norden unseres Landes von den Militärmachthabern befreien" 145 . 143

Tagesbefehle der gegnerischen Armeen, gesammelt bei: Chang Tzu-shen, „Die Geschidite des Nordfeldzuges der N R A " , in: „Tung-fang tsa-chih" vom 1 0 . 9 . 1 9 2 8 (hier: p. 59—61). Vgl. audi: Tong, op. cit., p. 111; und: Ishimaru, ibid.

144

Organisations-Richtlinien

für

das Politische

Frontkomitee,

vom

6.3.1928,

in:

C Y J P vom 6. 3 . 1 9 2 8 ; audi in: KMWH, X V I I I , p. 26 f. 145

Offener Brief des Politischen Frontkomitees an das Volk Nordchinas, ibid. ( K M W H p. 27 f.).

Die zweite Phase des

Nordfeldzuges

305

Ehe die Offensive begann, wurde Chiang am 7. März noch zum Vorsitzenden des PR gewählt und trat damit auch an die Spitze des in den nächsten Monaten bedeutendsten Führungsorgans der nationalistischen Einheitspartei. Auf der gleichen Sitzung aber fällte der PR eine Entscheidung, die sich bald verhängnisvoll auswirken sollte. Man bildete vier „Zweigbüros" (fen-hui) des PR, die in ihren Regionen die Kontrolle über alle administrativen Institutionen übernehmen sollten: in Kanton (für Kuangtung und Kuangsi) unter Li Chi-shen; in Wuhan (für Hupei, Hunan, Anhui und Kiangsi) unter Li Tsung-jen; in K'aifeng (für Honan, Shensi, Kansu und Ninghsia) unter Feng Yühsiang; und in T'aiyün (für Shansi und den Osten der Inneren Mongolei) unter Yen Hsi-shan146. Damit hatte die KMT die Existenz von „Vizekönigtümern" ratifiziert. Mit ihrem Placet versehen, begann sich ein gar nicht so neuer Typ des militärischen Regionalismus in China herauszubilden. Im Lager des Gegners war die Situation alles andere als günstig. Seit drei Jahren wurden Shantung und der Süden von Hopei von einer Hungersnot heimgesucht, die bereits Millionen Menschen zur Auswanderung nach Tungpei getrieben hatte. Im Hinterland der Nordtruppen wirkten die Propagandatrupps der KMT und die Bauernmilizen des Geheimbundes der „Roten Speere" beunruhigten die rückwärtigen Verbindungen 147 . Schon sah sich Chang Tso-lin gezwungen, die desorganisierten Truppen Chang Tsung-ch'angs aus der ersten Frontlinie herauszuziehen und durch seine eigenen Elitedivisionen aus Tungpei unter dem Kommando Sun Ch'uan-fangs und seines Sohnes zu ersetzen. Am 4. April begann Yen Hsi-shan seinen Vorstoß über die Grenze von Shansi nach Hopei hinein, doch er stieß auf starke gegnerische Verbände, welche die Offensive der III. Heeresgruppe Mitte April zeitweilig zum Stehen brachten148. Chiangs I. Heeresgruppe war in Süd-Shantung erfolgreicher149. Nachdem die Parteiführung am 7. April offiziell die Fortsetzung des Nordfeld146

Stenogr. Protokoll der 131. Sitzung des PR des ZEK der KMT am 7. März 1928 (KMT-Ardiiv). Vgl.: Ishimaru, op. cit., p. 117. 147 Vgl. hierzu: Amann, Chiang, p. 58. us Vgl. : Ch'en Hsün-dieng, „Schlachten der III. Heeresgruppe im Grenzgebiet von Shansi und Hopei", in: KMWH, Bd. X X , p. 1451—1509 (mit Militärtelegrammen und Marschbefehlen). "» Vgl.: Ders., „Schlachten in Süd-Shantung", in: KMWH, Bd. XVIII, p. 37—98 (mit Dokumenten). 20

Domes

306

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärisAe

Sieg der KMT

1927/28

zuges proklamiert hatte 150 , gab er den Befehl zum Angriff an der ganzen Front. Am 10. April durchbrachen seine Truppen die gegnerischen Abwehrstellungen, eroberten T'aierhchuang 151 und drangen über den nördlichsten Punkt, den sie im Sommer 1927 erreicht hatten, hinaus nach Norden vor. Vom 16. bis zum 18. April wurden die Elitetruppen Sun Ch'uan-fangs und Chang Hsüeh-liangs beiderseits der Bahnlinie bei Tenghsien und Chiehshou in erbitterten Kämpfen geschlagen und unter dem Verlust von über 30.000 Gefangenen und 16.000 Toten und Verwundeten auf Chinan zurückgeworfen, am 28. April fiel T'aian 1 5 2 . Inzwischen durchbrach Feng Yü-hsiangs II. Heeresgruppe ebenfalls die Front der Nordtruppen 153 . Die Nordtruppen flohen über den Huanghe nach Norden, und am 1. Mai zog die Vorhut von Chiangs Armee unter Fang Chen-wu in die Hauptstadt Shantungs ein 154 . Hier aber vollzog sich in den folgenden Tagen der erste große Zusammenstoß zwischen der K M T und Japan 1 5 5 . Wir hatten gesehen, daß bereits im Sommer 1927 japanische Truppen von Ch'ingtao aus die ShantungBahn und Chinan besetzten, als sich damals die N R A dieser Stadt näherte 156 . Dieser Vorgang wiederholte sich jetzt. In Chinan lebten etwa 2.000 Japaner, und das dort investierte japanische Eigentum wurde auf einen Wert von 150 Millionen Yen (damals ungefähr 2 Millionen USDollar) geschätzt157. Um Menschen und Werte zu „schützen" und gewiß auch, um ein weiteres Vordringen der N R A auf Peking von neuem zu behindern, kündigte das an einer „aktivistischen" Chinapolitik interessierte 150

Manifest des Z E K der K M T über die Fortsetzung des Nordfeldzuges, in: C Y J P vom 7. 4 . 1 9 2 8 .

151 Telegramm Chiangs an die Nationalregierung vom 11. 4. 1928, ibid. K M W H , p. 99. 152

Ch'en Hsün-cheng,

ibid., p. 43 ff.; Amann,

Chiang, p. 59

und:

Tong,

op. cit.,

p. 112 f. 153 Telegramm Feng Yü-hsiangs an die Nationalregierung vom 16. 4. 1928, in: K M W H , Bd. X V I I I , p. 101. 154

Telegramm Chiangs an die Nationalregierung vom 1. 5. 1928, in: K M W H , Bd. X I X , p. 1247 f. Vgl.: Ch'en Hsün-cheng, „Die Eroberung von Chinan", ibid., p. 1225 bis 1245 (mit Dokumenten); und: Amann, Chiang, p. 60.

155

Die Darstellung im folgenden Absatz stützt sidi vor allem auf: Ch'en Hsün-cheng, „Der Zwischenfall von Chinan", in: K M W H , Bd. X I X , p. 1 2 5 0 — 1 4 0 3 . Dort findet sich audi eine Sammlung aller relevanten chinesischen und japanischen Dokumente über den Chinan-Zwischenfall. Vgl. dazu u . a . audi: Tong, op. cit., p. 114 f.; Amann, Chiang, p. 6 1 — 6 4 ; Liu, op. cit., p. 60 f. und: Ishimaru, op. cit., p. 9 5 — 1 0 0 .

156

Siehe oben, Seite 2 6 6 !

157

Amann, Chiang, p. 61.

Die zweite

Phase des

Nordfeldzuges

307

Kabinett des Barons Tanaka am 12. April an, daß 5.000 japanische Soldaten aus dem Mutterland nach Ch'ingtao und Chinan verlegt würden 158 . Schon am 21. April hatte die Nankinger Nationalregierung scharfen Protest gegen das japanische Vorgehen erhoben und versichert, Ausländer und ausländisches Eigentum würden von der NRA während ihres Vormarsches überall geschützt werden159. Dies hinderte Japan jedoch nicht, seine Streitkräfte in Shantung weiter zu verstärken, so daß Ende April bereits ein ganzes japanisches Armeekorps (15.000 Mann) in dieser Provinz stand, davon eine Brigade in Chinan selbst. Nach dem Einmarsch der N R A in die Stadt kam es am 3. Mai zwischen chinesischen und japanischen Soldaten zu Streitigkeiten, in deren Verlauf die Japaner das Feuer eröffneten. Chiang, dem jetzt nichts an einem Konflikt mit Japan lag, weil er weiter auf Peking vorstoßen wollte, ließ darauf die Innenstadt räumen, zog seine Truppen in die Vororte zurück und gab den Befehl, an Chinan vorbei weiter vorzugehen. Diese Konzilianz forderte den japanischen Kommandanten offenbar heraus; denn in der Nacht vom 6. zum 7. Mai griff er die noch in der Innenstadt stehenden Einheiten der Kuominchün, etwa 7.000 Mann, an und ließ sie entwaffnen. Am 8. und 9. Mai tobten um die Stadt heftige Kämpfe zwischen japanischen und chinesischen Truppen, während gleichzeitig in Shanghai, Kanton, Nanking, Wuhan und anderen Städten des Landes antijapanische Demonstrationen stattfanden und eine Boykottbewegung gegen japanische Waren in Gang kam. Die japanische Regierung befahl nun die Entsendung eines weiteren Armeekorps nach Shantung, und täglich mußte mit dem Ausbruch größerer Feindseligkeiten gerechnet werden. Schon am 7. Mai hatte General Fukuda ultimativ die Räumung einer 30-km-Zone um Chinan durch die N R A gefordert, während die Nationalregierung sich um ein Eingreifen des Völkerbundes bemühte und am 13. Mai Sonderbotschafter nach Washington, London und Paris entsandte, um die Westmächte zu veranlassen, Japan zum Rückzug seiner Truppen zu zwingen. Chiang selbst stand vor der Entscheidung, ob er jetzt eine umfassende bewaffnete Auseinandersetzung mit Japan riskieren sollte oder nicht. Angesichts der Fortdauer des Bürgerkrieges und der hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit Chinas gegenüber Japan entschloß er sich am 11. Mai zum Nachgeben. Die Truppen der NRA räumten Chinans Vorstädte und überließen sie den Japanern, die jetzt den ganzen Bezirk um die Stadt besetzten. Die japanische Regierung gab die Verluste ihrer Truppen bei dem Zwischen158

Deutsdie Übersetzung der japanischen Erklärung v o m 12. 4 . 1 9 2 8 bei: Ishimaru, op cit., p. 96. 15» Deutsche Obersetzung der chinesischen Protestnote v o m 2 1 . 4 . 1 9 2 8 ibid., p. 96—98. 20*

308

VII. Kapitel: Die Krise und der militärische Sieg der KMT

1927/28

fall mit 60 Toten und 143 Verwundeten an und teilte mit, es seien 13 japanische Zivilisten getötet, neun verletzt worden und 28 vermißt160. Die Chinesen hatten dagegen nach ihren eigenen Angaben den Verlust von 3.625 Toten und 1.455 Verwundete zu beklagen161. Doch die Japaner gaben sich mit ihrem Erfolg in Chinan noch nicht zufrieden. Schon am 18. Mai ließ Tokio Chang Tso-lin in Peking, der Nankinger Nationalregierung, Yen Hsi-shan und Feng Yü-hsiang eine Note überreichen, in der es mitteilte, daß es sich gezwungen sähe, „zum Schutze der Ordnung in der Mandschurei (Tungpei, d. Verf.) wirksame Maßnahmen zu ergreifen"162. Erst nadidem der Völkerbund sich einschaltete, zeigte sich Japan zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes bereit. Der Außenminister der Nationalregierung, Huang Fu, war am 31. Mai 1928 zurückgetreten. Seinem Nachfolger, Dr. Wang Cheng-t'ing*, gelang es, nach langwierigen Verhandlungen, die sich mit dreimaliger Unterbrechung über mehrere Monate hinzogen, eine Regelung zu erreichen. Nachdem die Nationalregierung am 6. Dezember 1928 zur Beendigung des antijapanischen Boykotts — eine der wesentlichsten Forderungen Tokios! — aufgerufen hatte, erklärte Japan am 19. Januar 1929 seine Bereitschaft, Chinan zu räumen. Damit war die Basis für eine Einigung gegeben, die am 28. März 1929 durch ein in Nanking unterzeichnetes Abkommen zustande kam. China verzichtete darin auf die ursprünglich geforderte Entschädigung, und im Mai 1929 zog Japan seine Streitkräfte — abgesehen von einem kleinen Detachement Marineinfanterie in Ch'ingtao — aus der Provinz Shantung ab.

Chang Tso-lin bemühte sich, den Konflikt zwischen der N R A und den Japanern zu nutzen. Von Peking aus rief er in einem „Manifest an alle Patrioten" zur Einigung gegen den äußeren Feind auf, offenbar bestrebt, auf diese Weise einen Waffenstillstand mit den Nationalisten zu erreichen163. Diese ließen sich jedoch dadurch ebensowenig wie durch die japanische Intervention selbst von der Fortsetzung des Nordfeldzuges abbringen. Am 18. Mai beriet Chiang mit Feng Yü-hsiang in Chengchou das weitere Vorgehen der NRA, zwei Tage später gelang es ihm, auch die Kuangsi-Gruppe zur Beteiligung am letzten Abschnitt der Offensive zu bewegen: Pai Ch'ung-hsis 13. Armeekorps wurde nach Norden verlegt und griff in die Kämpfe ein164. Die Nordtruppen hatten sich im 160

Amann, Chiang, p. 63. Lo Chia-lun, „Bericht des Politischen Frontkomitees an die Nationalregierung über die Entwicklung des Chinan-Zwischenfalls", vom 14. 6. 1928, in: KMWH, Bd. XIX, p. 1343—1355. 162 Deutsche Übersetzung der japanischen Note vom 18. 5. 1928 bei: Ishimaru, op. cit., p. 101. Vgl. ibid. f. 163 „North China Daily News" vom 26. 5. 1928. Vgl. Amann, Chiang, p. 65 f. ιβ4 Vgl. Ch'en Hsün-cheng, „Die I. Heeresgruppe verfolgt den Feind über den Huanghe", in: KMWH, Bd. XX, p. 1415—1440 (mit Dokumenten). 101

Die zweite

Phase des

Nordfeldzuges

309

Süden von Hopei in drei hintereinander gestaffelten Bunkerstellungen, die von Chang Tso-lin als uneinnehmbar bezeichnet wurden, verschanzt. Unter schweren eigenen Verlusten gelang es jedoch den Verbänden der I. Heeresgruppe, am 29. Mai die erste Stellung bei Techou zu durchbrechen und am 2. und 3. Juni die Linien der Armee Chang Tso-lins bei Changchou aufzurollen. Inzwischen waren audi Fengs Truppen gut vorangekommen. Bereits Mitte Mai stießen sie nach Hopei vor. Die Nordtruppen gerieten vor der Front der Kuominchün in Panik. Den entscheidenden Schlag aber führte die Armee Yen Hsi-shans von Shansi aus 165 . Nach der Eroberung von Changchiak'ou am 25. Mai 166 überwanden die Soldaten der I I I . Heeresgruppe den letzten Widerstand Chang Tso-lins und zogen am 31. Mai in Paoting ein 167 . Damit war der Kampf entschieden. Als sich Chiang, Feng und Yen am 1. Juni zu einer weiteren Konferenz in Shihchiachuang trafen, diskutierten sie bereits über die Machtverteilung nach der Eroberung Pekings und T'ienchins. Man einigte sich darauf, daß Yen vorläufig die Kontrolle über Hopei übernehmen sollte, jedoch unter Beteiligung der Verbände Pai Ch'ung-hsis und einiger Einheiten der „Zentralarmee" und der Kuominchün. In der alten chinesischen Hauptstadt entschloß sich Chang, die Reste seiner eigenen Truppen durch einen eiligen Rückzug hinter die Große Mauer nach Tungpei zu retten. Am 3. Juni legte er sein Amt als „Generalissimus" der nördlichen Militärregierung nieder und reiste nach Shenyang (Mukden) ab. Unterwegs fiel er am folgenden Tage, dem 4. Juni, einem Bombenanschlag auf seinen Sonderzug zum Opfer. Sein Sohn Chang Hsüeh-liang übernahm die Leitung der Verwaltung Tungpeis mit einer Erklärung, daß er nicht in die militärischen Auseinandersetzungen südlich der Großen Mauer eingreifen werde 168 . 165

Ders., „Schlachten der III. Heeresgruppe...", loc. cit., passim. Vgl. Amann, Chiang, p. 67.

1 6 6 Zirkulartelegramm Yen Hsi-shans vom 26. 5 . 1 9 2 8 , KMWH, ibid., p. 1515. U7 Telegramm des Hauptquartiers des Oberbefehlshabers der N R A an die Nationalregierung vom 31. 5 . 1 9 2 8 , ibid., p. 1516. lee Yg] hierzu; Ishimaru, op. cit., p. 103. Chinesische Autoren geben im allgemeinen

den Japanern die Schuld an der Ermordung Chang Tso-lins, so z . B . : Mo Shen (ShSn Mo), Japan in Manchuria, Manila 1961, p. 287 f.; und: V. K. Wellington Koo (Ku Wei-chün), Memoranda Presented to the Lytton Commission, Baltimore/New York 1932, p. 356—358. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch: Paul S. Dull, „The Assassination of Chang Tso-lin", in: „The Far Eastern Quarterly", 11. Jahrgang, Nr. 4 vom August 1952.

310

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der Κ MT

1927/28

Die nationalistischen Armeen näherten sich jetzt T'ienchin und Peking. Am 4. Juni ernannte die Nationalregierung Yen zum Oberbefehlshaber der Garnisonen dieser beiden Städte, zwei Tage später nahm er das Amt an 109 . Gleichzeitig sah man in Peking die ersten Fahnen der nationalistischen Bewegung, die überall in der Stadt die Streifenflagge der ersten chinesischen Republik ablösten, und am 8. Juni, ein Jahr und elf Monate nach dem Beginn des Nordfeldzuges im Grenzgebiet von Kuangtung und Hunan, zogen die Truppen der N R A in die alte Hauptstadt ein 170 . Am 12. Juni wandte sich die Nationalregierung in einem Zirkulartelegramm an alle Armeebefehlshaber und Provinzverwaltungen Chinas, in dem sie ankündigte, sie werde „in Ubereinstimmung mit Gesetz und Recht das Land regieren", mit dem „Banditentum" aufräumen, ein geordnetes System des öffentlichen Dienstes errichten, alle Sondersteuern abschaffen und für eine spürbare Verringerung der Stärke der Streitkräfte Sorge tragen 171 . Chiang wurde beauftragt, im Namen Nankings nach Peking zu gehen und dort am vorläufigen Grab Sun Yat-sens feierlich den Vollzug des Nordfeldzuges zu proklamieren. Am 20. Juni beschloß der P R der K M T , Peking („Nördliche Hauptstadt", korrekt romanisiert: Peiching) in „Peip'ing" („Nördlicher Friede") umzubenennen und deutete mit der erneuten Einführung dieses Namens, den die Stadt audi in der Frühzeit der Ming-Dynastie im 14. Jahrhundert getragen hatte, bereits an, daß Nanking Hauptstadt des ganzen Landes sein würde, während Peking und T'ienchin als „provinzfreie Städte" unmittelbar der neuen Zentrale am Yangtzu unterstehen sollten 172 . Li Shih-tseng wurde am 25. Juni zum Vorsitzenden des „Zweigbüros" Peking des P R ernannt, seine Stellvertretung übernahm Yen Hsi-shan, während der Shansi-General Shang Chen an die Spitze der neuen Provinzregierung für Hopei trat 1 7 3 . 169

Telegramm Yen Hsi-shans an die Nationalregierung vom 6. 6. 1928, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao", N r . 65 vom Juni 1928; audi in: K M W H , Bd. X X I , p. 1597.

170

„Die N R A kommt in Peking an", ungez. Artikel in: „Kuo-wen diou-pao" vom 15. 6 . 1 9 2 8 ; audi in K M W H , ibid., p. 1597—1602. Zirkulartelegramm der Nationalregierung an das Inland vom 1 2 . 6 . 1928, ibid., p. 1628—1630 (audi: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", Nr. 67 vom Juni 1928). Briefe Changs an die Nationalregierung und den P R der K M T vom 9. bzw. 1 1 . 6 . 1928, in: K M W H , Bd. X X I , p. 1623 f. bzw. 1631; und: Briefe der Nationalregierung und des P R der K M T an Chiang vom 16. bzw. 15. 6. 1928, ibid., p. 1638 f. Protokoll der 145. Sitzung des Zentralen P R (hinfort: Z P R ) am 20. 6. 1928, im Auszug ibid., p. 1644.

171

172

173

Besdilußprotokoll der Sondersitzung des Z P R am 25. 6 . 1 9 2 8 , ibid., p. 1645.

Die „Periode der Erziehungsdiktatur"

beginnt

311

Chiang kam, von der Bevölkerung enthusiastisch begrüßt, am 3. Juli zusammen mit Li Tsung-jen in Peking, an, wo er Feng und Yen traf 174 . Er begann sofort, auf eine Demobilisierung der Armeen zu drängen, offiziell, um die Lasten der Bevölkerung zu erleichtern, tatsächlich jedoch auch, um die Position der „Zentralarmee" und damit der Nationalregierung gegenüber den anderen militärischen Einheiten der NRA und Kuominchün zu stärken175. Auf einer Pressekonferenz am 13. Juli erklärte er, die Demobilisierung aller „revolutionären Streitkräfte", mit deren Hilfe eine Verringerung der Stärke des Militärs auf höchstens die Hälfte des derzeitigen Standes erreicht werden solle, werde von den vier Heeresgruppenbefehlshabern und dem Marinekommando vorberaten und solle dann auf dem demnächst einzuberufenden 5. Plenum des II. ZEK der KMT endgültig zur Diskussion stehen178. Daß sich der Oberbefehlshaber der NRA dennoch nicht allzu großen Illusionen über die Entwicklung Chinas in den folgenden Jahren hingab, wurde in einer Rede deutlich, die er am 17. Juli vor Pekinger Intellektuellen im Hof der „Pei-ta" hielt. Hier betonte Chiang, die Revolution habe mit dem Ende des Nordfeldzuges ihr Ziel noch lange nicht erreicht. Noch gelte es, „den Imperialismus in China niederzuschlagen" und die ungleichen Verträge abzuschaffen. Vor allem aber müsse das Land jetzt von den letzten Militärmachthabern und den „alten Politikern" gesäubert werden. Die Intellektuellen aber seien die „stärkste Kraft der Revolution und deren Vorhut" 177 . Chiang versuchte offenbar bereits, seine Ausgangspositionen für die zu erwartenden Machtkämpfe im nationalistischen Lager zu verbessern.

Die „Periode der Erziehungsdiktatur"

beginnt

Das siegreiche Ende des Nordfeldzuges hatte dazu geführt, daß zunächst niemand in China mehr in der Lage war, die Herrschaft der KMT ernsthaft zu bedrohen. Jetzt mußte man sich den brennenden Fragen des 174

CYJP und „North China Daily News" vom 4. 7. 1928. Zirkulartelegramm Chiangs an Feng Yü-hsiang, Yen Hsi-shan und Li Tsung-jen vom 5. 7. 1928, in: CYJP vom 7. 7.1928, audi in: KMWH, Bd. XXI, p. 1650. ΐ7β CYJP und „Ta-kung pao" (Allgemeine Zeitung), T'ienchin, vom 14.7.1928; auch: „Kuo-wen diou-pao" vom 22. 7. 1928. Vgl.: Liu, op. cit., p. 71 f. 177 Rede Chiangs vor Peip'inger Intellektuellen in der „Pei-ta" am 17. 7. 1928, in: CYJP vom 18. 7. 1928; auch in: KMWH, ibid., p. 1671 f. 175

312

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT

1927/28

Wiederaufbaus und der Errichtung einer dauerhaften politischen Ordnung zuwenden. Dabei ging es zuerst um die Reorganisation der Streitkräfte und darum, ein praktikables Finanzsystem zu schaffen. Schon am 2. Juli beschäftigte sich der Militärrat in Nanking mit der Frage der Demobilisierung. Chiangs Erklärungen nach seiner Ankunft in Peking am 5. Juli waren das Ergebnis dieser Beratungen, die mit einem Bericht Ho Ying-ch'ins über die derzeitige Lage der Armee begannen178. H o wies darauf hin, daß die N R A — gemeint waren alle Streitkräfte in China mit Ausnahme der Reste der alten Nordarmeen — jetzt 48 Armeekorps mit 2,2 Millionen Soldaten umfasse179, die insgesamt im Monat 60 Millionen, im Jahre also 720 Millionen Yüan kosteten180. Die tatsächlichen Einkünfte aller Provinzen beliefen sich jedoch nur auf rund 500 Millionen Yüan. Im Einverständnis mit Chiang schlug H o vor, die Armee zunächst auf höchstens 1,2 Millionen Soldaten zu verrringern, die Militärausgaben dürften nicht mehr als 60 % des Staatshaushalts, also maximal 300 Millionen Yüan, betragen. Sung Tzu-wen war noch radikaler. Der Finanzminister verlangte eine weitere Herabsetzung der Truppenzahl, da, wie er sagte, keineswegs mehr als 200—250 Millionen Yüan, also im äußersten Fall die Hälfte der Staatseinnahmen, für die Streitkräfte ausgegeben werden dürften 181 . Unter seinem Einfluß entschloß sich der Militärrat, eine Verringerung der Streitkräfte auf 600.000 Mann Kampftruppen und 200.000 Mann Gendarmerie vorzuschlagen. Alle Befehlshaber bis hinunter zum Regimentskommandeur wollte man hinfort von der Zentrale ernennen lassen und das Land in zwölf Militärregionen einteilen, deren Kommandanten keine politischen Ämter innehaben dürften182. Es zeigte sich jedoch schnell, daß diese Vorstellungen der Realität nicht gewachsen waren. Schon am 5. Juli belehrte ein Zirkulartelegramm Feng Yü-hsiangs die Nationalregierung darüber, daß langwierige und mühselige Verhandlungen mit den regionalen Machthabern bevorstanden. 178

178

180 181 182

Bericht H o Ying-di'ins über Fragen der Demobilisierung auf der Sitzung des M i l l · tärrates in N a n k i n g am 2 . 7 . 1928 (KMT-Ardiiv). Vgl. dazu: Amann, Chiang, p. 90 f.; und: Liu, op. cit., p. 72 f. Amann, Chiang, p. 90 nennt die Zahl von zwei Millionen, Chang Ch'i-yün (op. cit., Bd. II, p. 669) die wohl etwas glaubhaftere v o n 1,5 Millionen. H o Ying-di'in erklärte im Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964, er habe damals die Zahl der Truppen einschließlich der Versorgungsverbände pp. im Auge gehabt, w ä h rend Chang Ch'i-yün die Kampftruppen meine. Amann, ibid., spricht v o n 800 Millionen Yüan. Chang, op. cit., Bd. II, p. 669 f. Beschluß des Militärrates der Nationalregierung Vgl. auch: Chang, ibid., und: Liu, op. cit., p. 73.

vom

2 . 7 . 1928

(KMT-Archiv).

Die „Periode der Erziehungsdiktatur"

beginnt

313

Feng, der — wohl zu Recht — vermutete, daß Chiang die Demobilisierung als Mittel zur Verstärkung der „Zentralarmee", die jetzt kaum 10 % aller Streitkräfte umfaßte, benutzen wolle, warnte davor, das militärische Reorganisationsprogramm als „Instrument zur Vergrößerung der persönlichen Macht einzelner Führer" zu mißbrauchen183. So blieb von diesem ersten Ansatz nicht mehr übrig als die Gründung einer „Kommission für Demobilisierung und Wiederaufbau" (Ts'aiping shan-hou wei-yüan-hui) bei der Nationalregierung am 10. Juli 184 und die Entlassung von 36.000 Soldaten aus Chiangs I. Heeresgruppe, eine Geste, mit deren Hilfe der Oberbefehlshaber die Bedenken der anderen militärischen Führer erfolglos zu zerstreuen versuchte. Die Bemühungen Chiangs und der Nationalregierung fanden jedoch die Unterstützung des Großbürgertums der Ostküste, dessen maßgeblichste Vertreter auf einer „Nationalen Finanzkonferenz" (Kuo-min ts'aicheng hui-i) vom 2. bis zum 6. Juli in Nanking energisch gegen die finanziellen Ansprüche der Militärs auftraten. Sung Tzu-wen wurde zur bestimmenden Persönlichkeit dieser Konferenz. Er verlangte in einer programmatischen Rede die Vereinheitlichung des Haushaltswesens unter der Leitung der Nationalregierung. Die Binnenzölle (li-chin), bisher eine der wesentlichsten Einnahmequellen der Provinzverwaltungen, sollten abgeschafft, die Umsatz- und Konsumsteuern, Salzabgaben und Seezölle ausschließlich der Zentrale zur Verfügung gestellt werden. Schließlich forderte Sung die Gründung einer Zentralbank und ein absolutes Münzmonopol für Nanking 185 . So gab es Konfliktstoff genug, als das 5. Plenum des II. ZEK der Κ MT am 8. August in Nanking zusammentrat. Die Sitzung begann mit einem Bericht der Nationalregierung über die politische und militärische Lage, in dem bereits die Demobilisierung, die Abschaffung der ungleichen Verträge und die Vorbereitung des Uberganges zur Periode der Erziehungsdiktatur in Ubereinstimmung mit den Theorien Sun-Yat-sens als zentrale Probleme der nächsten Zeit bezeichnet wurden18®. Zunächst bemühten 183

Zirkulartelegramm Fing Yü-hsiangs an den Militärrat vom 5. 7. 1928, in: C Y J P vom 6. 7 . 1 9 2 8 . Vgl. Liu, ibid.

184

Organisationsstatut der Kommission für Demobilisierung und Wiederaufbau vom

185

Rede Sung Tzu-wens auf der Nationalen Finanzkonferenz in Nanking am 3. 7.

10. 7. 1928, in: „Ke-ming diün jih-pao" vom 13. 7. 1928. 1928, in: Kuo-min ts'ai-cheng hui-i hui-i-lu (Protokoll der Nationalen Finanzkonferenz), Nanking 1928, p. 18—31. Vgl. hierzu: Amann, Chiang, p. 89 f. 188

Bericht der Nationalregierung über militärische und politische Angelegenheiten vor dem 5. Plenum des II. Z E K der K M T am 8. 8. 1928, in: K M W H , Bd. X X I , p. 1692 bis 1696.

314

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische Sieg der KMT 1927/28

sich die wenigen übriggebliebenen Vertreter des linken Flügels, massiv unterstützt von vielen lokalen Parteiorganisationen, wieder Einfluß auf die politischen Entscheidungsgremien zu bekommen. Als ihr Sprecher trat auf dem Plenum Feng Yü-hsiang auf, der weder dem Z E K noch dem Z K K angehörte, aber dennoch an der Sitzung teilnehmen konnte. Er verlangte die sofortige Auflösung der „Zweigbüros" des P R — eine Forderung, die zuvor in Shanghai von dem amtierenden Führer der Linken, Ch'en Kung-po erhoben worden war — und die Aufhebung des Verbotes für Ch'en, Wang Ching-wei, Ku Meng-yü und Kan Nai-kuang, an den Sitzungen des Z E K teilzunehmen. Um das Plenum unter Druck zu setzen, sprengten Anhänger des linken Flügels am 9. August eine Massenversammlung der K M T in Nanking, und sie plakatierten in den Straßen der Hauptstadt die Parole „Nieder mit Chiang! Nieder mit der Militärdiktatur!" (Ta tao Chiang Chung-cheng! Ta-tao chün-ch'üan!). Damit hatte sich die Linke jedoch zu weit vorgewagt. Chiang und das Zentrum verbündeten sich jetzt mit dem rechten Flügel und der Kuangsi-Gruppe. Der Antrag Fengs wurde abgelehnt und statt dessen beschlossen, die „Zweigbüros" des P R bis zum Beginn des I I I . Parteikongresses der K M T , den man zunächst für den 3. Januar 1929 nach Nanking einberief, bestehen zu lassen. Feng verließ daraufhin die Sitzung und Ch'en Kung-po verkündete den Abbruch der Beziehungen der Linken zu Nanking 187 . Das bedeutsamste Publikationsorgan des linken Flügels, die am 15. Dezember 1927 in Shanghai gegründete „Ke-ming p'ing-lun" (Revolutionäre Kritik), eine Wochenzeitung, die in kurzer Zeit eine Auflage von 30.000 Exemplaren erreicht hatte 188 , wurde verboten 189 . Der Konflikt mit der Linken führte zu einer Verstärkung der Position des rechten Flügels. Seine Anfang des Jahres ins Ausland gegangenen Führer Hu Han-min, Sun K'e und Wu Ch'ao-shu forderten in einem Telegramm aus Paris vom 5. Plenum den Beschluß, zur Periode der Erziehungsdiktatur überzugehen und, der Theorie Sun Yat-sens von der „Fünf-Funktionen-Verfassung" entsprechend, bereits jetzt fünf unabhängige Regierungsorgane zu errichten1"0. Die Konferenz folgte diesem 187

Stichwortprotokoll des 5. Plenums des II. Z E K der K M T vom 8. bis 15. 8 . 1 9 2 8 in

188

T'ang, Revolution, p. 340.

189

Stichwortprotokoll, ibid.

Nanking (KMT-Ardiiv). Vgl. u. a.: Amann, Chiang, p. 9 5 — 9 7 .

ιβο Telegramm H u Han-mins, Sun K'es und Wu Ch'ao-shus aus Paris an das 5. Plenum des II. 2 E K der K M T vom 7. 8. 1928, in englischer Sprache Vgl.: Amann, Chiang, p. 9 5 ; und: W . Y .

(KMT-Archiv).

Tsao, The Constitutional Structure of

Modern China, Melbourne 1947, p. 8. Zur „Fünf-Funktionen-Verfassung" oben, Seite 9 6 !

siehe

Die „Periode der Erziehungsdiktatur"

beginnt

315

Antrag und berief Hu und Sung gleichzeitig anstelle von Yü Yu-jen und Ting Wei-fen in den Ständigen Ausschuß des ZEK, dem außer ihnen noch Chiang, Τ'an Yen-k'ai und Tai Chi-t'ao angehörten. Dieser Ausschuß erhielt den Auftrag, sich mit der Reorganisation der Regierung und den Grundsätzen für die Politik der Partei in der Periode der Erziehungsdiktatur zu befassen und entsprechende Richtlinien und Verordnungen zu beschließen191. Schließlich forderte das Plenum alle militärischen Führer auf, sich so schnell wie möglich zu einer Demobilisierungskonferenz zu entschließen. Man setzte fest, daß die Militärausgaben hinfort nicht mehr als 50 °/o des Staatshaushalts umfassen und alle Militärschulen zu einer Zentralen Akademie vereinigt werden sollten, um den Offiziersnachwuchs unter die Kontrolle Nankings zu bringen 192 . Chiang hatte sich also für seine Reorganisationspläne die Unterstützung der Parteigremien gesichert. Die politische Macht mußte er allerdings in der Zentrale in Zukunft mit den Führern der Rechten teilen. Dies war auch deren Intention, als sie den Ubergang zur „Fünf-Funktionen-Verfassung", die bei Sun Yat-sen erst in der Periode des Verfassungsstaates gelten sollte, schon jetzt verlangten. Am 3. September kehrten Hu Han-min und Sun K'e aus Europa nach China zurück193, und damit begann die Zusammenarbeit von Chiang und Hu, die für zweieinhalb Jahre die politischen Entscheidungen von Parteizentrale und Nationalregierung maßgeblich bestimmte. Chiang übernahm außer der Armeeführung auch die Leitung des Verwaltungsapparates — zunächst noch in Kooperation mit T'an Yen-k'ai —, während Hu an die Spitze des legislativen Organs trat und sich darüber hinaus als führender Theoretiker der K M T etablierte. Schon am 15. September gab er in einem Vortrag in Nanking eine „Erklärung der Grundsätze der Erziehungsdiktatur". Nur mit großen Opfern und hartnäckigen Bemühungen, so erklärte Hu, werde es gelingen, die Ziele, die Sun Yat-sen formulierte, in China zu erreichen. Zwar seien die nördlichen Militärmachthaber geschlagen, aber die Revolution gehe weiter. Jetzt habe die Partei die Aufgabe, das Volk zur Ausübung seiner politischen Rechte zu erziehen, und um dies zu gewährleisten, müsse die K M T in der Periode der Erziehungsdiktatur allein im Namen des Volkes die Regierungsgewalt ausüben. Ziel der Erziehungs191

Resolutionen des 5. Plenums des II. Z E K der K M T zu politischen Fragen,

vom

14. 8 . 1 9 2 8 , in: K M W H , Bd. X X I , p. 1696. 192

Resolutionen des 5. Plenums des II. Z E K der K M T zu militärischen Fragen, vom

193

Amann, Chiang, p. 102.

1 4 . 8 . 1 9 2 8 , ibid., p. 1696 f.

316

VII. Kapitel:

Die Krise

und der militärische

Sieg der KMT

1927128

diktatur sei dieErrichtung eines Verfassungsstaates, dessen politische Wirklichkeit von den Drei Grundlehren vom Volk bestimmt sein müsse. Um dies zu erreichen, gelte es, das Vertrauen des Volkes für die K M T durch einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufbau zu gewinnen. Das könne aber nur geschehen, wenn die Herrschaft der Partei gegen alle Opposition durchgesetzt werde 194 . Auf einer Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK am 19. September wurden Hu, Tai Chi-t'ao und Wang Ch'ung-hui beauftragt, den Entwurf eines neuen Organisationsstatuts der Nationalregierung auszuarbeiten. Ein erster Vorentwurf war bereits am folgenden Tage fertiggestellt, eine zweite, revidierte Fassung am 23. September 195 . Nachdem noch einige Änderungen vorgenommen worden waren, verabschiedete der Zentrale PR am 3. Oktober das „Organisationsstatut der Nationalregierung der Republik China" (Chung-hua min-kuo kuo-min cheng-fu tsu-chih fa) 196 und am selben Tage beschloß der Ständige Ausschuß des ZEK die „Grundsätze der Erziehungsdiktatur" (Hsün-cheng kang-ling) 197 . Beide Dokumente traten mit ihrer Veröffentlichung am 4. Oktober 1928 in Kraft. Die Präambel des Organisationsstatuts, das mit einigen Änderungen — und 1931 durch eine provisorische Verfassung modifiziert — bis 1947 in Kraft blieb, hat stark programmatischen Charakter: „Um die Republik China auf der Basis der Drei Grundlehren vom Volk und der Fünf-Funktionen-Verfassung, den Prinzipien unserer Revolution, zu errichten, hält die KMT Chinas, nachdem sie mit militärischer Gewalt alle Opposition überwunden und so die Revolution von der Periode der Militärregierung zur Periode der Erziehungsdiktatur geführt hat, es für nötig, den Rahmen einer Fünf-Funktionen- (oder: Gewalten-, d. Verf.) Verfassung zu errichten. Sie will damit die Fähigkeit des Volkes, seine politische Macht auszuüben, heranbilden, damit die Errichtung eines Verfassungsstaates und die Übergabe der politischen Macht an das Volk so schnell wie möglich verwirklicht werden. Deshalb erläßt sie kraft der ihr bisher übertragenen Verantwortung für die Leitung und Überwachung der Regierung dieses Organisationsstatut der Nationalregierung." Hu Han-min, „Erklärung des Entwurfs der Grundsätze der Erziehungsdiktatur", Vortrag vom 15. 9. 1928, in: „Chung-yang chou-pao" (Zentrale Wochenzeitung) vom 24. 9. 1928; audi in: KMWH, Bd. XXII, p. 301—307. 1 , 5 So Wang Ch'ung-hui, ohne Quellenangabe — offenbar aus einem Artikel oder einer Vorlesung — zitiert bei: Tsao, op. cit., p. 8 f. lee Organisationsstatut der Nationalregierung der Republik China vom 4. Oktober 1928. Chinesischer Text in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao" Nr. 99 vom Oktober 1928; audi in: KMWH, Bd. XXII, p. 317—328 und bei: Wang Shih-chieh, op. cit., p. 280 ff. 191

1,7

Grundsätze der Erziehungsdiktatur, am 4. Oktober 1928, in: C Y J P , selbes Datum; audi in: KMWH, ibid., p. 316 f. Eine englische Übersetzung findet sich bei: Tsao, op. cit., p. 14.

Die „Periode der Erziehungsdiktatur"

beginnt

317

Nach dem Statut übt die Nationalregierung die Gewalt im Lande aus, sie leitet alle Streitkräfte, erklärt Krieg, schließt Frieden und erläßt Amnestien (Art. 1—4 des Statuts). Die Nationalregierung umfaßt fünf „Yüan" (Art. 5), an ihrer Spitze steht ein „Staatsrat" (Kuo-min cheng-fu kuo-wu hui-i), der aus dem Vorsitzenden der Nationalregierung und 12 bis 16 Mitgliedern besteht (Art. 6, 11 und 12). Die Präsidenten der fünf „Yüan" und ihre Stellvertreter müssen aus der Mitte des Staatsrates ernannt werden (Art. 7). Der Vorsitzende der Nationalregierung (Kuo-min cheng-fu chu-hsi) vertritt den Staat nach außen und ist Oberbefehlshaber aller Streitkräfte (Art. 8 und 9). Der Exekutivyüan (Hsing-cheng yüan) errichtet Ministerien und Kommissionen (Art. 17), deren Leiter vom Staatsrat auf Vorschlag des Präsidenten des Exekutivyüan (Ministerpräsidenten) ernannt werden (Art. 18). Ordentliche Mitglieder des Exekutivyüan sind dessen Präsident und Vizepräsident, die Minister und Kommissionsvorsitzenden (Art. 21). Höchstes gesetzgebendes Organ ist der Legislativ yüan (Li-fa yüan), der aus einem Präsidenten, seinem Stellvertreter und 49 bis 99 Mitgliedern besteht, die für eine Dauer von zwei Jahren vom Staatsrat ernannt werden und in dieser Zeit kein anderes Amt ausüben dürfen. Von ihm verabschiedete Gesetzentwürfe treten nach der Ratifizierung durch den Staatsrat in Kraft, sobald der Vorsitzende der Nationalregierung und die Präsidenten der fünf „Yüan" sie unterzeichnet haben (Art. 13 und 25—31). Der Justizyüan (Ssu-fa yüan) überwacht als höchstes judikatives Organ der Nationalregierung alle Gerichte und die Justizverwaltung des Landes, er bildet ein Disziplinar- und ein oberstes Verwaltungsgericht. Seine Mitglieder werden ebenfalls vom Staatsrat berufen (Art. 33 und 34). Der Prüfungsyüan (K'ao-shih yüan) hat die Verantwortung für die öffentlichen Prüfungen, aus denen alle Beamte des Landes hervorgehen Die Überwachung aller Behörden im Lande und die Rechnungsprüfung (Art. 37). Die Überwachung aller Behörden im Lande und die Rechnungsprüfung liegt in der Hand des Kontrollyüan (Chien-ch'a yüan), der aus einem Präsidenten, seinem Stellvertreter und 19 bis 29 Mitgliedern bestehen soll, die sonst kein öffentliches Amt ausüben dürfen (Art. 41 bis 45). So ging man vom reinen Komiteesystem der Organisationsstatute von 1925 und Februar 1928 zwar ab, aber der Staatsrat blieb doch das Zentrum der Regierungsgewalt, wenn auch praktisch der Vorsitzende der Nationalregierung häufig an seiner Stelle handelte. Die Funktionen der

318

VII. Kapitel:

Die Krise und der militärische

Sieg der KMT

1927/28

Nationalregierung wurden allerdings durch die ,,Grundsätze der Erziehungsdiktatur" erheblich eingeschränkt. Sie bestimmten, daß während der Periode dieser Herrschaftsform der Parteikongreß der KMT die Stelle einer Nationalversammlung einnehmen und für das Volk handeln solle (Art. 1 der Grundsätze). Wenn der Parteikongreß nicht tagte, trat das ZEK an seine Stelle (Art. 2). In der Periode der Erziehungsdiktatur sollte das Volk „schrittweise gelehrt werden, die Rechte der Wahl, der Abberufung, der Initiative und des Volksentscheids auszuüben" (Art. 3), während die fünf Regierungsfunktionen von der Nationalregierung ausgeübt werden müßten (Art. 4). Diese wiederum erhielt ihre wesentlichen Anweisungen vom „Zentralen Politischen Rat" (Chung-yang cheng-chih hui-i; ZPR) des 2 E K der KMT (Art. 5), der die Richtlinien der Politik bestimmte. Dem ZPR gehören offiziell alle Mitglieder des ZEK und der ZKK der KMT an, darüber hinaus kann das ZEK noch weitere Mitglieder ernennen, die seit mindestens zehn Jahren in der Partei sind. Die Staatsräte der Nationalregierung sind ex officio Mitglieder des ZPR, aber die Zahl aller nicht dem ZEK oder der ZKK angehörenden Mitglieder darf nicht größer sein als die Hälfte der „regulären" Mitgliederzahl des Rates, der aus seiner Mitte seinen eigenen Vorsitzenden wählt198. Die Beschlüsse vom Oktober 1928 substituieren also für die Zeit der Erziehungsdiktatur konsequent das Volk durch die Partei, und die für den Verfassungsstaat vorgesehenen politischen Entscheidungsorgane durch die KMT-Führungsgremien, ein Modell der Herrschaftsordnung, das in dieser Strenge — und zugleich auch Redlichkeit — sonst in Einparteisystemen nicht zu finden ist. Auf die pseudokonstitutionelle Tarnung der Parteidiktatur wird verzichtet. Am 8. Oktober wählte der Ständige Ausschuß des ZEK Chiang Kaishek, T'an Yen-k'ai, Hu Han-min, Tai Chi-t'ao, Ts'ai Yüan-p'ei, Wang Ch'ung-hui, Feng Yü-hsiang, Sun K'e, Ch'en Kuo-fu, Ho Ying-ch'in, Li Tsung-jen, Yang Shu-chuang, Yen Hsi-shan, Li Chi-shen, Lin Sen und — in der berechtigten Hoffnung, diesen bald für den Anschluß an die KMT zu gewinnen —, Chang Hsüeh-liang zu Mitgliedern des Staatsrates. Am 17. Oktober trat noch Chang Chi und am 17. Dezember Chang Ching-chiang hinzu. Vorsitzender der Nationalregierung und gleichzeitig auch des ZPR wurde Chiang Kai-shek. Der bisherige Vorsitzende, T'an Yen-k'ai, übernahm das Amt des Präsidenten des Exekutivyüan (Miniιβθ Vorläufige Richtlinien des ZPR, verabschiedet auf der 179. Sitzung des Ständigen Ausschusses des II. Z E K der K M T am

25. 10. 1928,

ibid. p.

337—339.

Die „Periode der Erziebungsdiktatur"

beginnt

319

sterpräsidenten), an die Spitze des Legislativyüan trat Hu Han-min. Tai Chi-t'ao wurde zum Präsidenten des Prüfungsyüan, Wang Ch'ung-hui zum Präsidenten des Justizyüan und Ts'ai Yüan-p'ei zum Präsidenten des Kontrollyüan berufen 199 . Im Staatsrat saßen also acht Militärs und acht, später zehn, zivile Politiker. Sechs Staatsräte waren Mitglieder des ZEK und vier der ZKK der KMT. Der 2 P R trat am 19. Oktober zusammen, um die Minister und Kommissionsvorsitzenden zu ernennen. Dabei machte man den Versuch, die Generale des Nordwestens und Nordens enger an die Nationalregierung zu binden, indem man Feng Yü-hsiang zum Vizeministerpräsidenten und Minister für Militärangelegenheiten und Yen Hsi-shan zum Innenminister berief. Außenminister blieb Wang Cheng-t'ing, Finanzminister Sung Tzu-wen, Verkehrsminister Wang Pe-chün, Minister für Industrie und Handel K'ung Hsiang-hsi. Sun K'e übernahm statt des aufgelösten Aufbauministeriums das neu gebildete Eisenbahnministerium, zum Erziehungsminister wurde Dr. Chiang Meng-lin*, zum Landwirtschaftsminister Yi P'ei-chi und zum Gesundheitsminister Hsüeh Tu-pi ernannt 200 , Yi und Hsüeh galten als Anhänger der Kuangsi-Gruppe, sonst waren sie bisher kaum sonderlich hervorgetreten. China hatte also wieder eine geordnete Regierung, die nicht zu Unrecht den Anspruch erhob, das ganze Land zu vertreten. Offiziell endete audi der Bürgerkrieg noch im Jahre 1928. Im September gelang es den Verbänden Pai Ch'ung-hsis, Hopei von den Resten der Truppen Chang Tsung-ch'angs zu säubern201, und am 29. Dezember endlich unterstellte sich Chang Hsüeh-liang, nachdem er heftigen japanischen Widerstand gegen diese Entscheidung überwunden hatte, in Tungpei formell der Nationalregierung. Er hißte in seiner Hauptstadt Shenyang die Fahne der nationalistischen Einheitspartei und trat selbst der KMT bei202. Die Aufgaben, welche sich die Partei für die nächsten Jahre stellte, wurden von Chiang in einer Rede am 10. Dezember 1928 deutlich umrissen. Dabei entwickelte er einen Präferenzkatalog, in dem er die Abschaffung der ungleichen Verträge an die erste Stelle setzte. Es folgten die 199

Resolution des Ständigen Ausschusses des ZEK der K M T über die Ernennung der Mitglieder des Staatsrates der Nationalregierung und der Präsidenten der fünf Yüan, v o m 8 . 1 0 . 1 9 2 8 , in: CYJP v o m 9 . 1 0 . 1 9 2 8 ; auch in: K M W H , Bd. X X I , p. 1720. Vgl. dazu: Amann, Chiang, p. 107—109. 200 c Y j p v o m 20. 10. 1928. 201

Zirkulartelegramm Pai Ch'ung-hsis v o m 26. 9 . 1 9 2 8 , in: „ K u o - w i n chou-pao" v o m 30. 9 . 1 9 2 8 ; auch in: K M W H , Bd. X X I . , p. 1715 f. 202 Telegramm Chang Hsüeh-liangs u. a. v o m 2 9 . 1 2 . 1 9 2 8 , ibid., p. 1735.

320

VII. Kapitel:

Die Krise

und der militärische

Sieg der KMT

1927/28

Demobilisierung und Reorganisation der Streitkräfte, und an dritter Stelle der wirtschaftliche Aufbau und die soziale Entwicklung 203 . Die Ereignisse der folgenden Jahre zwangen die KMT aber dazu, die Fragen der Zentralisierung der Herrschaft in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stellen. Der Sieg über die nördlichen Militärmachthaber bedeutete, wie sich bald herausstellen sollte, noch nicht den Sieg der zentripetalen Kräfte. Weitere Jahre des Bürgerkireges waren nötig, um diesen schließlich zu erringen.

203

Rede Chiangs in der Parteizentrale der K M T in Nanking am 1 0 . 1 2 . 1928, ibid., p. 1724—1735.

VIII. Kapitel Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen Kräfte 1929—1931 Der Sieg im Nordfeldzug konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die nationalistische Einheitspartei noch keine der Aufgaben, die sie sich stellte, wirklich gelöst hatte. Nach über zehn Jahren des Bürgerkrieges erschien Chinas ökonomische Situation noch unbefriedigender als um 1920. Alle Versuche zum Ausbau eines brauchbaren Eisenbahn- und Straßennetzes waren seit 1924/25 im Ansatz steckengeblieben1. Noch immer fehlten daher die zum Entstehen von wirtschaftlich miteinander in ausreichendem Maße kooperierenden größeren Regionen notwendigen Verkehrsverbindungen. Die Vernachlässigung der Deiche am Yangtzu, Huaihe und Huanghe vergrößerte Jahr um Jahr die Gefahr von Flutkatastrophen, militärische Auseinandersetzungen machten darüber hinaus den Transport von Getreide und anderen Nahrungsmitteln in solche Gebiete, in denen durch Witterungsschäden Hungersnöte auftraten, nahezu unmöglich. Wirren und Kriegshandlungen im Inneren des Landes führten zur Kapitalflucht in die großen Städte an der Küste, was wiederum zur Folge hatte, daß die Zinssätze ins Astronomische stiegen2. Im April 1928 hatten sie zum Beispiel in vielen Gegenden der Provinz Hunan die Höhe von monatlich 25 bis 3 0 % der Kreditsummen erreicht3, andernorts waren sie offenbar kaum niedriger. Wenn auch die Herrschaft der Militärmachthaber alten Typs in großen Teilen Chinas ein Ende gefunden hatte, so blieben doch in Kueichou, Yünnan, Ssuch'uan, Kansu und den Grenzgebieten lokale militärische Führer, die sich formal der K M T unterstellt hatten, weiter an der Macht. Unter dem Eindruck des Nordfeld1

The China Year Book, 1931/32, Shanghai 1932, p. 275 ff. und 2 1 8 ; und: Ch'en Chihhua, op. cit., p. 61 ff.

* Vgl. hierzu u. a., T'ang, Revolution, p. 2 7 1 ; Isaacs, op. cit., p. 2 0 8 ; und: Chapman, op. cit., p. 91 und 163 ff. 5

„Hunan sheng-cheng-fu

ching-dii

chien-she

pao-kao"

(Wirtschaftlicher

bericht der Provinzregierung von Hunan), Ch'angsha 1933, p. 11 f. 21

Domes

Aufbau-

322

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf

gegen die oppositionellen

Kräfte

zuges fürchteten manche von ihnen, bald von der Partei vertrieben zu werden, und sie bemühten sich, die ihnen verbleibende Zeit zu schnellerer persönlicher Bereicherung zu nutzen. Die Steuern, die sie erhoben, stiegen also weiter an und wurden nicht selten für Jahre im voraus eingetrieben. Ähnlich verhielt sich auch Li Tsung-jen in Hunan und Hupei 4 , so daß in großen Teilen Zentral- und Westchinas die Lasten, unter denen die Bauern zu leiden hatten, immer drückender wurden. Dies alles führte zu einer weiteren Verringerung des Anteils der Eigentumsbauern an der Landbevölkerung, der — nach einer fast alle Provinzen umfassenden, wenn auch gewiß nicht vollständigen Untersuchung aus dem Jahre 1934 — in zwei Jahrzehnten seit 1912 von 49 °/o noch einmal auf 46 % abgesunken sein soll5. Die reorganisierte Nationalregierung begann zwar mit Maßnahmen, um die schwersten Belastungen für die Bauern zu erleichtern. Schon am 13. Oktober 1928 wurde die Höhe der Landsteuer auf maximal 1 °/o des Bodenwertes festgesetzt®, was in der Praxis etwa 8 bis 12 % der Jahreshaupternte entsprach, und Mitte Januar 1929 verabschiedete der ZPR der KMT neue Richtlinien für diese Steuer, die vorsahen, daß alte Steuerschulden nicht eingetrieben, die Zahlungen hinfort nicht mehr im voraus entrichtet und die Pächter von Grundbesitzern nicht zusätzlich mit der Steuersumme belastet werden dürften 7 . Doch bereits hier zeigte sich die Schwäche der neuen Führung Chinas: Diese Bestimmungen konnten nur in jenen Gebieten tatsächlich durchgeführt werden, die unter der unmittelbaren Kontrolle der Zentrale standen, und selbst dort stieß die Ausführung der Nankinger Befehle auf Schwierigkeiten. Das Wort der Nationalregierung und der Parteiführung galt im Grunde nur in den Provinzen, deren Besatzungstruppen zur „Zentralarmee" gehörten. Anfang Januar 1929 waren dies Kiangsu, Chekiang, Anhui — das die Kuangsi-Truppen aufgegeben hatten —, Teile von NordKiangsi und der größte Teil von Kuangtung. Fukien führte weiter sein Eigenleben, während die Kuangsi-Generale Hupei, Hunan, Kuangsi und den größten Teil von Kuangtung beherrschten. Außerdem waren sie mit dem Armeekorps Pai Ch'ung-hsis auch in Hopei präsent, das vor allem von Yen Hsi-shan kontrolliert wurde, dem weiter seine Heimatprovinz 4

ibid. p. 17. Statistische Angaben für alle Provinzen sind zitiert bei: Tsao, op. cit., p. 76. • Erlaß des Finanzministeriums über die Landsteuer vom 13. 10. 1928, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", Nr. 99 vom Oktober 1928. 7 Grundsätze der Landsteuer, angenommen auf der 171. Sitzung des ZPR am 16. 1. 1929, in: KMWH, Bd. XXIII, p. 403—409. 5

Der III. Parteikongreß

und der Sieg über die Kuangsi-Gruppe

323

Shansi und der östliche Teil der Inneren Mongolei unterstanden. Feng Yü-hsiang übte mit seiner Kuominchün die Herrschaft über den größten Teil Shantungs, Honan, Shensi und den Westen der Inneren Mongolei aus, Tungpei unterstand Chang Hsüeh-liang, der jüngsten Errungenschaft der K M T . Die im Frühjahr 1926 mit der en-bloc-Aufnahme der KuangsiGruppe und ihrer Armee begonnene Politik der K M T , sich damit zufriedenzugeben, daß die Militärmachthaber der Partei beitraten und deren Flagge hißten, wirkte sich verhängnisvoll aus. In Wahrheit verfügte die Zentrale nur über Chiangs eigene Verbände der „Zentralarmee", die Anfang 1929 mit rund 230.000 Soldaten etwas mehr als 10°/o aller Streitkräfte im Lande ausmachten8. Seit November 1927 von dem ehemaligen deutschen Oberst Dr. Max Bauer beraten, der ein neues, äußerst wirksames Ausbildungssystem eingeführt hatte 9 , waren sie zwar die am besten ausgerüsteten und disziplinierten Truppen Chinas, aber doch noch zu schwach, um die Macht der Zentrale wirksam genug zu stützen. Die Partei selbst litt unter dem Konflikt Chiangs mit dem in den lokalen Zellen sehr starken linken Flügel, der sich weiter verschärft hatte, seitdem der Vorsitzende der Nationalregierung eng mit den Rechtsgruppen um Sun K'e und Hu Han-min zusammenarbeitete. So wurden die folgenden Jahre zu einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen und offener Kämpfe, in deren Verlauf die Herrschaft der K M T sich nur langsam zu konsolidieren vermochte.

Der III. Parteikongreß und der Sieg über die

Kuangsi-Gruppe

Das J a h r 1929 begann mit einem zweiten Versuch, die schon im Sommer 1928 geplante Demobilisierung und Reorganisation der chinesischen Armeen durchzusetzen. Am 1. Januar traten in Nanking alle bedeutenden Militärbefehlshaber auf Einladung der Nationalregierung zu einer „Neuordnungskonferenz der Nationalarmee" (Kuo-chün pien-ch'ien hui-i) zusammen, auf der versucht werden sollte, eine Einigung unter den Generalen zu erzielen. Es wurde zunächst beschlossen, eine „Kommission Ho Ying-ch'in, „Die Entwicklung der Armeen im ganzen Land", in: KMWH, Bd. X X I V , p. 19—23. * Vgl. u . a . : Liu, op. cit., p. 61—70; und: Kurt Bloch, German Interests and Policies in the Far East, New York 1939, p. 12 ff. 10 Ansprachen Wu Chih-huis und Chiangs auf der 1. Vollversammlung der Neuordnungskonferenz der Nationalarmee am 1 . 1 . 1 9 2 9 , in: KMWH, Bd. X X I V , p. 2 f. 8

21»

324

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

für die Neuordnung der Nationalarmee" (Kuo-chün pien-ch'ien weiyüan-hui) zu bilden, die sich am 5. Januar konstituierte 11 . In fünf Vollversammlungen am 5., 8., 11., 17. und 22. Januar 12 beriet man die Vorschläge, die vor allem H o Ying-ch'in für eine Reorganisation der Streitkräfte ausgearbeitet hatte. Er wurde energisch von Finanzminister Sung Tzu-wen unterstützt. In einer sehr nüchtern gehaltenen Rede wies dieser am 11. Januar darauf hin, daß die Militärausgaben im ganzen Lande seit 1925 um nahezu das Dreifache, die Staatseinnahmen jedoch nur um 54 % gestiegen seien, eine radikale Verringerung der Truppenzahl und die Straffung der Armeeorganisation seien deshalb unerläßlich13. Man einigte sich schließlich darauf, daß die Nationalarmee, die zu einer einheitlichen Streitmacht entwickelt werden sollte, nicht mehr als 65 Divisionen mit insgesamt 800.000 Soldaten umfassen dürfe. Das Land wurde offiziell in sechs „Demobilisierungsbezirke" eingeteilt, und man vereinbarte, bis zu einer weiteren Konferenz im Sommer bereits mit der Verringerung der Truppenstärke in diesen Bezirken zu beginnen14. Doch diese Beschlüsse blieben unausgeführt. Die Generale der Kuangsi-Gruppe und der Kuominchün waren ebensowenig wie Yen Hsi-shan bereit, ihre Macht aufzugeben. Dieser hatte schon am 19. Dezember sein Amt als Innenminister der Nationalregierung in Nanking niedergelegt und sich nadi Shansi zurückgezogen. Zwar fand er sich bereit, seinen engen Mitarbeiter Chao Tai-wen als Nachfolger im Innenministerium zur Verfügung zu stellen, aber Chiangs Versuch, Yen durch den Nankinger Posten enger an die Zentrale zu binden, war doch gescheitert. Chiang erhoffte von dem III. Parteikongreß der KMT eine Stärkung der Position Nankings gegenüber den regionalen Madithabern. Diese Versammlung, seit Januar 1928 überfällig, war am 25. Oktober 1928 vom Ständigen Ausschuß des ZEK auf den 1. Januar 1929 einberufen worden. Gleichzeitig beauftragte man Hu Han-min und den Leiter der Organisationsabteilung beim ZEK, Ch'en Kuo-fu, eine Neuregistrierung der Parteimitglieder durchzuführen und beschloß, das Parteihauptquar11

12

13

14

Manifest über den Konferenzbeginn der Kommission für die Neuordnung der N a tionalarmee, vom 5 . 1 . 1 9 2 9 , ibid., p. 15—18. Zeittafel der Neuordnungskonferenz, ibid., p. 190—192. Vgl. hierzu: Tong, op. cit. p. 121 f. Rede Sung Tzu-wSns auf der 3. Vollversammlung der Neuordnungskonferenz am 11.1. 1929 (mit Finanztabellen im Anhang), in: KMWH, ibid., p. 30—50. Richtlinien für die Arbeit der Kommission für die Neuordnung der Nationalarmee, vom 17. 1. 1929, ibid., p. 50—54; und: Zirkulartelegramm über das Ende der Neuordnungskonferenz der Nationalarmee, vom 2 5 . 1 . 1 9 2 9 , ibid., p. 74 f.

Der III. Parteikongreß

und der Sieg über die

Kuangsi-Gruppe

325

tier zur Ernennung der Hälfte der „Delegierten" zu ermächtigen15. Da die Vorbereitungen zum Kongreß nicht schnell genug vorankamen — offenbar infolge von Widerständen des linken Flügels in den lokalen Parteiorganisationen —, wurde das Datum der Einberufung am 16. November auf den 15. März 1929 verschoben16. Die Linke hatte seit Mitte 1928 unter den Parteimitgliedern mit erheblichem Erfolg für eine Bewegung zur Rückberufung Wang Ching-weis in die Führung der KMT geworben, und überall in Süd- und Zentralchina waren Organisationen des linken Flügels entstanden 17 . Chiang, der von der Propaganda der Linken zunächst verschont blieb, stand noch einmal vor der Wahl, entweder mit den Kräften des rechten Flügels — wo sich eine Annäherung zwischen Hu Han-min, Sun K'e und der „Westberggruppe" vollzog — oder mit Wang Ching-wei ein Bündnis einzugehen. Er entschied sich für den ersten dieser beiden Wege. Sein Vertrauter Ch'en Kuo-fu sorgte zusammen mit Hu Han-min rigoros dafür, daß Zentrum und rechter Flügel in den Besitz einer sicheren Mehrheit auf dem Kongreß gelangten. Von den 399 Delegierten wurden 285 oder 71 °/o von der Parteizentrale ernannt und nur 114 von lokalen Organisationen gewählt. Diese Tatsache führte zu leidenschaftlichen Protesten der Linken, deren maßgebliche Vertreter behaupteten, der Kongreß sei von Chiangs Anhängern „vollgepackt" worden 18 . Damit hatten sie zweifellos recht, sie versäumten jedodi, darauf hinzuweisen, daß auf dem von der Linken selbst beherrschten II. Kongreß 189 von 256 Delegierten (oder fast 74 %>) ernannt worden waren. Da dieses Mal nicht der rechte Flügel, sondern sie selbst durch die Manipulationen der Parteizentrale ausmanövriert wurde, schritt die Linke zur Trennung von der Partei. Anfang 1929 bildete sich in Shanghai — offiziell unter der Leitung Wang Ching-weis, den Ch'en Kung-po in China vertrat — die „Vereinigung der Reorganisations-Genossen" (Kai-tsu 15

16

17 18

Besdiluß über die Einberufung des III. Parteikongresses der KMT, angenommen auf der 179. Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK der KMT am 2 5 . 1 0 . 1 9 2 8 , in: CYJP vom 26. 10. 1928. Vgl. dazu: Tong, op. cit., p. 122; und: T'ang, Revolution, p. 346 f. Stenogr. Protokoll der 183. Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK der KMT am 1 6 . 1 1 . 1 9 2 8 (KMT-Archiv). Vgl. Amann, Chiang, p. 150 f.; und: T'ang, Revolution, p. 344. ibid., p. 346. T'ang behauptet, der III. Parteikongreß habe 360 Delegierte umfaßt. Die Liste der anwesenden Delegierten weist jedoch 399 Namen aus: Chung-kuo Kuomintang ti-san-tz'u di'üan-kuo tai-piao ta-hui hui-i chi-lu (Protokoll des III. Parteikongresses der KMT, Nanking 1929, Anhang I.) (Hinfort: Protokoll III).

326

VIII. Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

t'ung-chih hui) als Organisation des linken Flügels der KMT. Sie brachte schon in ihrem Namen zum Ausdruck, daß sie versuchen wollte, den Grundsätzen der Reorganisation von 1924, vor allem der Politik der Zusammenarbeit mit Massenorganisationen und energischer sozialer Reformen, erneut zum Durchbruch zu verhelfen 19 . Mit einem von Wang Ching-wei und elf anderen leitenden Mitgliedern der Linken20 unterzeichneten Manifest traten die „ReorganisationsGenossen" am 12. März 1929 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Darin heißt esu. a.: „Es ist höchst bedauerlich, daß die Partei nach der siegreichen Beendigung des Nordfeldzuges in soldi einen Verfall geraten ist. Opportunisten und altmodische Beamte haben die Partei infiltriert und wichtige Positionen besetzt. Sie genießen so die Früchte der Revolution . . . Die Wünsche, die Hoffnungen und die Wohlfahrt des Volkes gelten nicht mehr; seine Freiheit, Leben und Besitz sind b e d r o h t . . . Inmitten allgemeiner Enttäuschung und der steigenden Unzufriedenheit des Volkes hofften wir immer noch, daß die gegenwärtige Zeitspanne nur ein Übergang sei, und daß mit der Einberufung des III. Parteikongresses der Wille des Volkes sich wieder werde äußern können. Aber das von der Parteizentrale entwickelte Wahlverfahren zeigt, daß die alte Taktik der Mandarine und Militaristen in Parteiangelegenheiten weiter betrieben wird . . . Unsere Hoffnung, die Massenbasis der Partei durch den III. Parteikongreß zurückzugewinnen, ist zerstört worden; denn die Delegierten dieses Kongresses sind keine Volksvertreter, sondern nur Söldlinge im Dienst der Zentralbehörden. Im Namen der Parteimitglieder protestieren wir hiermit gegen diesen Verrat an der Partei. In diesem Augenblick voller Gefahren geloben wir erneut, unser Leben für Partei und Revolution einzusetzen®1."

Trotz des Widerstandes der Linken trat der III. Parteikongreß, von den Anhängern Chiangs, Hu Han-mins und der Gruppe der „Alten Genossen" mit zusammen über 280 Delegierten dominiert22, am 15. März in Nanking zusammen. Hu, neben Chiang die leitende Persönlichkeit der Versammlung, eröffnete den Kongreß. Außer diesen beiden Parteiführern wurden noch T'an Yen-k'ai, Sun K'e, Yü Yu-jen, Ku Ying-fen, Ch'en " So beschrieb Ku Cheng-kang, ein früheres Mitglied der „Kai-tsu t'ung-chih hui", das Programm dieser Vereinigung in Interviews mit dem Verfasser am 6. Oktober 1964 und am 18. September 1965 in T'aipei. 20 Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü, Kan Nai-kuang, Ch'en Yu-jen, Frau Sung Ch'ingling, Frau H o Hsiang-ning, Wang Fa-chin, Ching Heng-yi, Wang Le-p'ing, Chu Chih-ch'ing, und Ku Cheng-kang. 21 Manifest der Vereinigung der Reorganisations-Genossen vom 12. 3.1929, in: „Minhsin chou-k'an" (Stimme des Volkes), Shanghai, — eine Wochenzeitung des linken Flügels der KMT —, selbes Datum. Auszüge aus dem Manifest in englischer Ubersetzung finden sich bei: T'ang, Revolution, p. 347 f. 22 So übereinstimmend „Shen-pao" und „Ta-kung pao" vom 15. bzw. 17. 3. 1929.

Der III. Parteikongreß und der Sieg über die

Kuangsi-Gruppe

327

Kuo-fu, Ch'en Yao-yüan und P'an Kung-chan in das Präsidium des Kongresses gewählt23. P'an, ein Anhänger der Linken, nahm sein Amt jedoch nicht an. A n seine Stelle trat der 36 Jahre alte Dr. Chu Chia-hua*, mit dem zum ersten Mal ein Vertreter einer Chiang eng verbundenen Gruppe von im Westen ausgebildeten Entwicklungspolitikern in die Führung der Partei einzog24. Die Tagung begann am 15. März mit einem ausführlichen Bericht Chiangs über die politische und militärische Entwicklung der vergangenen drei Jahre, in dem er seine Auffassung über die Geschehnisse dieser Zeit und den zukünftigen Weg der Partei darlegte. Er forderte alle Mitglieder der K M T auf, sich zur Unterstützung des I I I . Parteikongresses zu vereinigen, richtete sdiarfe Angriffe gegen die Kuangsi-Generale und bemühte sich offenbar auf diese Weise, dem linken Flügel entgegenzukommen, um ihn wieder zur Mitarbeit zu gewinnen25. Es hat den A n schein, als sei dieser Versuch von Hu Han-min und seinen Anhängern durchkreuzt worden; denn sie setzten am 20. März eine Resolution durch, in der Ch'en Kung-po und Kan Nai-kuang „für alle Zeit" und Ku Mengyü für drei Jahre aus der Partei ausgeschlossen würde, während Wang Ching-wei eine formelle Warnung erhielt. Allen vier Führern des linken Flügels warf man ihre „Verwicklung in den kommunistischen Aufstand in Kanton 1927" vor 28 . Der Ausschluß der Kommunisten aus der nationalistischen Einheitspartei wurde bestätigt27, ebenso die Verringerung der Abteilungen beim Z E K auf drei: für Organisation, Propaganda und Kaderausbildung28. Von besonderer Bedeutung war die Verabschiedung einer Resolution über die Massenbewegungen, in der vier Grundsätze aufgestellt wurden: 1. Der Massenbewegungen müßten organisiert und „den Notwendigkeiten des gemeinsamen Lebens in der Gesellschaft angepaßt" werden; 2. die K M T solle dafür sorgen, daß in den Massenorganisationen die Bauern und Arbeiter „angehalten würden, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse zu erweitern und so zur Besserung ihres Lebensstandards und zur Entwicklung der Volkswohlfahrt beizutragen"; 3. die ländliche Erziehung und das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen seien energisch zu fördern; und 23 24 25 26 27 28

Protokoll I I I , p. 248. Protokoll I I I , p. 32. ibid.,p. 33—71. ibid., p. 81. Vgl. hierzu: China Year Book (1931—32), p. 516. Protokoll I I I , p. 72. ibid., p. 86, 93 und 117.

328

VIII. Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

4. die Jugend solle in den Schulen durch praktische Übung zur Selbstverwaltung erzogen werden28. Die Politik gegenüber den Massenorganisationen blieb also weiter restriktiv, man entwickelte jedoch Ansätze dazu, diesen Verbänden wieder Aufgaben zu stellen, die ihre Arbeit zu fördern imstande waren. Das Manifest des III. Parteikongresses, verkündet am letzten Sitzungstage, dem 28. März, verrrät den Einfluß der nationalistischen Ideologie Tai Chi-t'aos, wenn es beginnt: „Die Entwicklung der Geschichte der Menschheit wird vom Problem der Volkswohlfahrt zentral bestimmt. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich in bezug auf die Mittel und die Ordnung der Existenz der Menschheit ein gewaltiger Wandel vollzogen. Dr. Sun Yat-sen erkannte dies als einer der ersten, und vor über zwei Dutzend Jahren rief er zur Revolution auf, in der Hoffnung, unser chinesisches Volk in Zusammenarbeit mit anderen Völkern zur Lösung der brennendsten Probleme der Wohlfahrt zu f ü h r e n . . . Nationale Revolutionen, die sich im Westen vollzogen, haben einerseits untaugliche religiöse, politische und wirtschaftliche Systeme hinweggefegt, andererseits aber auch den Kapitalismus geboren, der auf dem Egoismus der Menschen gründet, den Imperialismus, der zwangsläufig überall Kolonien sucht und eine heuchlerische Demokratie. In der G e sellschaft wurde der Klassenkampf entfesselt, international entwickelten sich immer mehr die Machtkämpfe. Schwache Völker wurden zur Beute von Aggression und Unterdrückung . . . D i e Drei Grundlehren vom Volk bieten einen Weg für ihre Befreiung . .

Dann rekapituliert das Manifest kurz die Geschichte der nationalistischen Bewegung in China bis zum Nordfeldzug und beschäftigt sich mit der Wirkung des Bündnisses mit den Kommunisten: „Durch die vereinigte Kraft unserer Soldaten, der Mitglieder der K M T und des Volkes im ganzen Land waren wir erfolgreich. Wir konnten viele Provinzen erobern. Aber die Kommunisten, die auf Anweisung der Dritten Internationale in unsere Partei eintraten, versuchten alles, um unseren Vormarsch zu behindern. Als ihnen dies nicht gelang, infiltrierten sie Armee und Parteiorganisation, um ihren Einfluß auszubreiten und hinter dem Rücken der Armee Aufstände zu inszenieren. Soldaten der N R A wurden von ihnen verführt, Massaker unter dem Volk anzurichten und audi gegeneinander zu kämpfen . . . So mußten wir im April (1927, d. Verf.) mit der Parteisäuberung beginnen."

Nachdem der Sieg im Nordfeldzug gepriesen worden ist, wendet sich das Manifest den künftigen Aufgaben zu, unter denen es die Errichtung eines einheitlichen Finanzsystems, die Demobilisierung und Reorganisation der Streitkräfte und den Wiederaufbau des Landes an erster Stelle nennt80. M

ibid., p. 58, 93 und 196 f. Vgl. hierzu: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. I I , p. 689 bis

30

Manifest des I I I . Parteikongresses der K M T vom 28. März 1929, in: Manifeste aller

7 0 2 und 7 0 4 — 7 0 6 ; und: Tsou Lu, op. cit., p. 88 f . Parteikongresse, op. cit., p. 4 6 — 5 6 ; und: Protokoll I I I , p. 173 ff.

Der III. Parteikongreß

und der Sieg über die

Kuangsi-Gruppe

329

So wurde erneut bestätigt, daß die KMT jetzt die Errichtung einer tatsächlichen Kontrolle der Regierung über das ganze Land als ihre wichtigste Aufgabe betrachtete und zur Lösung der sozialen Probleme Chinas den Weg der Evolution zu gehen gewillt war. Entwicklungspolitik zog man weiter der erzwungenen Umwandlung der Gesellschaft vor. Für die Wahl von ZEK und 2 K K am 27. März durften aus der Mitte des Kongresses und vom bisher amtierenden II. ZEK je 48 Kandidaten vorgeschlagen werden 31 . Noch ehe der Parteikongreß seine Sitzung beendete, beschloß er am 27. März, die Kuangsi-Generale Li Tsung-jen, Pai Ch'ung-hsi und Li Chishen aus der KMT auszuschließen. Ein Konflikt zwischen Chiang und der Kuangsi-Gruppe, der sich in den vorangegangenen Wochen entwickelt hatte, war damit offen zum Ausbruch gekommen. Anfang Januar begann der Gouverneur von Hunan, Lu T'i-p'ing*, ein enger Vertrauter T'an Yen-k'ais, die Steuern seiner Provinz an die Nationalregierung in Nanking abzuführen 85 . Dies erweckte das Unbehagen der Kuangsi-Generale, zu deren damaligem Machtbereich Hunan gehörte. Das von ihnen kontrollierte Zweigbüro Wuhan des PR erklärte deshalb am 19. Februar 1929 Lu für abgesetzt und ernannte an seiner Stelle General H o Chien zum Chef der Provinzregierung Hunans 36 . Wenige Tage später vertrieben Verbände der Kuangsi-Armee Lu aus der Provinzhauptstadt Ch'angsha. Nanking bemühte sich zunächst, zu vermitteln. Der ZPR beschloß am 27. Februar, Ts'ai Yüan-p'ei und Li Tsung-jen mit einer „sorgfältigen Untersuchung des Zwischenfalls" zu betrauen und kam den Kuangsi-Generalen so weit entgegen, daß er die Ernennung Ho Chiens bestätigte37. Die Nationalregierung schien sich noch nicht einig darüber zu sein, welche Maßnahmen man ergreifen solle. Hu Han-min und vor allem die Gruppe der „Alten Genossen" dräng31

ibid., p. 109 und 116.

32

ibid., p. 154 und 160 f.

33

Besdilußprotokoll des 1. Plenums des III. ZEK der K M T am 28. März, 4. und 8. April 1929 (KMT-Archiv). Vgl. audi: China Year Book (1931/32), p. 416 f.

34

Protokoll III, p. 195.

35

China Year Book, (1931—32), p. 517. Vgl. dazu: Tong, op. cit., p. 124.

38

Beschluß des Zweigbüros Wuhan des P R der K M T über die Reorganisation der Provinzregierung von Hunan, v o m 19. 2 . 1 9 2 9 , in: „Shen-pao" v o m 21. 2. 1929.

37

Resolution über Probleme des Hunan-Zwisdienfalls, angenommen auf der 177. Sitzung des ZPR der K M T am 27. 2. 1929 (KMT-Archiv). Englische Obersetzung in: China Year Book, ibid.

330

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

ten darauf, die Kuangsi-Generale gewähren zu lassen38. Dem widersprach jedoch Chiang, der am 20. März auf dem I I I . Parteikongreß offen für den Einsatz der Streitkräfte gegen die „Rebellen" eintrat 39 . Es gelang ihm, sich gegen die Widerstände des rechten Flügels durchzusetzen: Am 26. März enthob die Nationalregierung Li Tsung-jen, Pai Ch'ung-hsi und Li Chi-shen aller ihrer Staatsämter, der Parteikongreß folgte mit dem Ausschluß aus der KMT 4 0 . Damit war in China der Bürgerkrieg erneut ausgebrochen. Chiang handelte sdinell. Li Chi-shen, der am Parteikongreß in Nanking teilgenommen hatte, wurde verhaftet 41 . Pai Ch'ung-hsi verließ sein Armeekorps in Hopei und begab sich „auf eine Erholungsreise" nach J a pan 42 . Zur Verstärkung seiner Position Schloß Chiang ein Zweckbündnis mit Militärs, die dem linken Flügel der K M T nahestanden. Chang Fa-k'uei stellte sich mit seinen Truppen der Nationalregierung zur Verfügung, T'ang Sheng-chih wurde aus dem japanischen Exil zurüdkgerufen und übernahm den Befehl über die 5. Feldarmee, die sich zum größten Teil aus den Einheiten seiner alten Hunan-Streitkräfte zusammensetzte 43 . Am 30. März begann der Angriff der „Zentralarmee" von Chiukiang auf Wuhan. Schon am 4. April brach der Widerstand der Kuangsi-Truppen zusammen. Einen Tag später, am 5. April, hielt Chiang triumphal seinen Einzug in Wuhan 44 . Bis Mitte April war ganz Hupei in der Hand der Regierungstruppen; Chiang setzte seinen Vertrauten Ho Ch'eng-chün* als Gouverneur und Lu T'i-p'ing als Kommandanten der Garnisonverbände in dieser Provinz ein 45 . Der amtierende Gouverneur von Hunan, Ho 38

So Tong, op. cit., p. 126. Diese Information wurde von Sun K'e, Pai Ch'ung-hsi

39

Vgl. u. a.: China Y e a r Book, ibid.

40

Erklärung der Nationalregierung über die Absetzung Li Tsung-jens, Pai Ch'ung-

41

Tong, op. cit., p. 123; und: Amann, Chiang, p. 154.

42

ibid., und: „Ta-kung pao" vom 29. 3. 1929. Ishimaru, op. cit., p. 120, behauptet da-

und H o Ying-ch'in übereinstimmend in den Interviews mit dem Verfasser bestätigt.

hsis und Li Chi-shens, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao; vom 26. 3. 1929.

gegen, Pai sei nach Kuangsi geflüchtet. Dies läßt sich jedoch angesichts der Nachrichten aus der damaligen Tagespresse nicht aufrechterhalten. Pai selbst bestätigte dem Verfasser im Interview am 11. September 1964, daß er zunächst nach Japan gereist sei. 43

Vgl. T'ang, Revolution, p. 356 f.

44

Telegramme Chiangs an die Nationalregierung und die Parteizentrale der K M T vom 5 . 4 . 1929 (KMT-Archiv).

Vgl. hierzu u. a.:

Ishimaru, op. cit., p. 1 2 0 ;

Amann,

Chiang, p. 154 f.; Tong, op. cit., p. 126; und: China Year Book, op. cit., p. 518. 45

Befehl des Vorsitzenden der Nationalregierung über die Neuordnung der Provinzregierung von Hupei, vom 16. 4. 1929, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", gleiches Datum.

Konflikte

mit der Kuominchiin und anderen Militärgruppen

1929

331

Chien, erklärte jetzt seinen Übertritt zur Nationalregierung, so daß sich Li Tsung-jen genötigt sah, mit seiner Armee nach Kuangtung zurückzugehen. In dieser Provinz hatten jedoch inzwischen die Generale Ch'en Ming-shu und Ch'en Ch'i-t'ang* die Macht übernommen. Ein gemeinsamer Angriff Lis und Huang Shao-hsiungs auf die Verbände der Nationalarmee, der am 5. Mai begann, scheiterte kläglich46. Li ernannte sich selbst noch zum Oberbefehlshaber einer „Nationalen Rettungs- und Parteischutzarmee" (Hu-tang chiu-kuo chün)47, aber in der zweiten H ä l f t e des Mai drangen Chiangs Divisionen in seine Heimatprovinz Kuangsi ein und eroberten am 3. Juni Kueilin 48 . Am 25. Juni schließlich, dem Tag, an dem die Vorhut der Nationalarmee ihren Einzug in die Provinzhauptstadt Nanning hielt, trat Huang Shao-hsiung von seinem Amt als Gouverneur Kuangsis zurück und floh nach Hongkong 49 . Li Tsung-jen selbst sammelte seine schwer angeschlagenen Verbände im Südwesten seiner Heimatprovinz und brauchte zunächst einige Zeit, um sie zu reorganisieren. Damit war die Kuangsi-Gruppe vorläufig aus dem machtpolitischen Spiel in China ausgeschaltet. Hupei, Hunan und zeitweilig auch Kuangtung kamen unter die direkte Kontrolle der Zentrale, und die KuangsiGenerale errangen seither nie wieder eine so starke Position, wie sie sie von 1927 bis 1929 gehalten hatten. Außerdem konnte Chiang, der am 8. Mai wiederum zum Vorsitzenden des ZPR berufen worden war, jetzt die Auflösung der „Zweigbüros des P R " überall im Lande erzwingen. Der Regionalismus erlitt so seine erste schwere Niederlage nach der Beendigung des Nordfeldzuges. Doch während in Kuangsi nodi gekämpft wurde, begann in Nordchina bereits eine neue bewaffnete Auseinandersetzung, diesmal zwischen der „Zentralarmee" und der Kuominchün Feng Yü-hsiangs.

Konflikte mit der Kuominchiin und anderen Militärgruppen,

1929

Bei der Eroberung Wuhans durch die „Zentralarmee" wurden in den Archiven des dortigen „Zweigbüros" des PR angeblich Briefe Feng Yühsiangs gefunden, in denen dieser Kontakte mit den Kuangsi-Generalen 46 47

48 40

Vgl. hierzu: China Year Book, op. cit., p. 518; und: Tong, op. cit., p. 126 f. Zirkulartelegramm Li Tsung-jens aus Nanning vom 5. 5. 1929, in: „Shanghai shihshih hsin-pao" vom 7. 5. 1929. „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 4. 6. 1929. Zirkulartelegramm Huang Shao-hsiungs vom 25. 6.1929, in: „Min-kuo jih-pao", Kanton, vom 27. 6. 1929.

332

VIII. Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

vorgeschlagen haben soll, um gemeinsam gegen Nanking vorzugehen50. Dies nahm Chiang zum Anlaß, seinen Verbänden in Hupei und NordKiangsu die Vorbereitung einer Zangenbewegung gegen die Kuominchün in Honan zu befehlen: T'ang Sheng-chih sicherte Nord-Hupei, während Ch'en Tiao-yüan nach dem Rückzug der japanischen Besatzungstruppen aus Chinan in Shantung einrückte und das Amt des Gouverneurs dieser Provinz übernahm. Unter dem Eindruck dieser Vorgänge erließen am 15. Mai 1929 drei Generale der Kuominchün — Liu Yü-fen, Sun Liangdien und Han Fu-chü — ein Zirkulartelegramm aus Loyang, in dem sie zur Erhebung gegen die Zentrale in Nanking aufriefen und Feng Yühsiang baten, den Oberbefehl über eine „Nordwestliche Nationale Rettungs- und Parteischutz-Armee" (Hsi-pei hu-tang chiu-kuo chün) zu übernehmen51. Schon einen Tag später begannen ihre Truppen, an der Peking-Hank'ou- und der Lunghai-Bahn Brücken zu sprengen, Schienen aufzureißen und Bahnhöfe zu zerstören52. Feng selbst erklärte am 19. Mai mit einem Manifest, in dem er den III. Parteikongreß nachträglich als unrechtmäßig verurteilte, der Nationalregierung formell den Krieg 53 . Jetzt rührte sich auch der linke Flügel der KMT. Am 20. Mai veröffentlichte er in seiner Wochenzeitung „Kung-sheng" eine Proklamation, die noch einmal die Entscheidungen des III. Parteikongresses als „ungesetzlich" bezeichnete. Gegenüber den kämpfenden Armeen nahm die Linke jedoch immer noch eine neutrale Haltung ein. Sie begnügte sich hier mit der Feststellung, das Volk werde „am Verhalten der Soldaten feststellen können, wer sein Freund ist". Da Chiang weiter gegen die KuangsiGruppe kämpfte, mit der die KMT-Linke tief verfeindet war, wollte man ihn offenbar zu jener Zeit noch nicht allzu scharf angreifen54. Chiangs Konflikt mit dem Oberbefehlshaber der Kuominchün vollzog sich zunächst vor allem im Bereich der psychologischen Kriegführung. Die Nationalregierung hatte den 1. Juni als den Tag festgesetzt, an dem 50

So Amann, Chiang, p. 156 fi. H o Ying-ch'in erwähnte die Korrespondenz zwischen Feng und den Kuangsi-Generalen ebenfalls im Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964, während Pai bestritt, daß Li Tsung-jen oder er selbst mit Fing damals in Kontakt gestanden hätten. Dokumentarische Unterlagen sdieinen hierüber bis heute nicht zugänglich zu sein.

51

Zirkulartelegramm Liu Yü-fens, Sun Liang-chens und Han Fu-chüs vom 15. 5 . 1 9 2 9 , in: „Shanghai shih-shih hsin-pao" und „Ta-kung pao" vom 16. 5 . 1 9 2 9 . Vgl. hierzu u. a.: Tong, op. cit., p. 128; und: Amann, Chiang, p. 159.

52

„North China Daily News" vom 18. 5 . 1 9 2 9 . Manifest des Oberbefehlshabers Fing über den Schutz der Partei und die Rettung der Nation, vom 19. 5 . 1 9 2 9 , in: „Min-hsin chou-k'an" vom 20. 5. 1929. ibid. Auszüge in englischer Obersetzung bei: T'ang, Revolution, p. 359 f.

53

54

Konflikte

mit der Kuomincbün

und anderen Militärgruppen

1929

333

die sterblichen Uberreste Sun Yat-sens in einem neu errichteten Mausoleum bei Nanking beigesetzt werden sollten. Die Uberführung aus Peking begann am 22. Mai, und ausgerechnet in jenen Tagen, als sich der Trauerkondukt über T'ienchin nach Nanking bewegte, verwüsteten Verbände der Kuominchün einige Landstriche in Nordchina 55 . Diese Ungeschicklichkeit seiner Gegner nutzte Chiang aus: Schon am 23. Mai wurde Feng durdi einen Beschluß des Ständigen Ausschusses des ZEK aus der KMT ausgeschlossen, am folgenden Tage enthob ihn die Nationalregierung aller seiner Ämter. Lu Chung-lin, ein Kuominchün-General, der seine Loyalität gegenüber Nanking bekundet hatte, übernahm das Ministerium für Militärangelegenheiten, und Sung Tzu-wen trat an Fengs Stelle in den Staatsrat ein56, wo bereits am 26. März Wang Cheng-t'ing und Wang Pe-chün die Kuangsi-Generale Li Tsung-jen und Li Chi-shen ersetzt hatten 57 . Während bei der Bildung dieses höchsten Gremiums der Nationalregierung im Oktober 1928 acht zivile Politiker dort ebenso vielen Militärs gegenübergestanden hatten, war jetzt das Verhältnis 1 3 : 5 zugunsten der Zivilisten. Noch einmal forderte Chiang am 25. Mai Feng auf, den Frieden im Lande unbedingt zu wahren 58 , und gleichzeitig trat er mit dessen Unterbefehlshabern in Verbindung, um sie zum Ubertritt zu bewegen. Dieses Vorgehen blieb nicht ohne Erfolg; denn Ende Mai gingen Han Fu-chü und Shih Yu-san mit ihren Armeekorps zur Nanking-Regierung über59. Han, den die Nationalregierung zum Gouverneur von Honan ernannte, besetzte, einem Befehl Chiangs folgend, die Stadt K'aifeng. Von mehreren Seiten bedroht, zog sich Sun Liang-chen mit der Hauptmacht der Kuominchün nach Tungkuan an der Grenze zwischen Honan und Shensi zurück, Feng selbst aber begab sich nach T'aiyüan unter den „Schutz" Yen Hsi-shans, den er bat, zwischen ihm und Chiang zu vermitteln. Der Vorsitzende der Nationalregierung hatte am 3. Juni die Einberufung des 2. Plenums des III. ZEK auf den 10. Juni nach Nanking 55 58

57 58 59

Vgl. Amann, Chiang, p. 160. Beschluß des Staatsrats der Nationalregierung über die Amtsenthebung Feng Yühsiangs vom 24. 5. 1929, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao", selbes Datum. CYJP vom 27. 3.1929. Telegramm Chiangs an Feng Yü-hsiang vom 25. 5. 1929, in: CYJP vom 26. 5. 1929. Tong, op. cit., p. 128 f., führt die Sinneswandlung der beiden Kuominchün-Generale auf eine „bewegende Botschaft" Chiangs an sie zurück. Amann, Chiang, p. 160 f., hält sie eher für ein Ergebnis des Drucks der von Nanking erfolgreidi mobilisierten öffentlichen Meinung und des Wunsches der Generale, zu höheren Ämtern aufzusteigen.

334

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf

gegen die oppositionellen

Kräfte

durchgesetzt60. Diese Sitzung beschäftigte sich vor allem mit Fragen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes. Man beschloß, die Höhe der Bodensteuern in ganz China zu untersuchen, um deren endgültige Senkung vorzubereiten, beauftragte das Erziehungsministerium mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Durchführung der allgemeinen Schulpflicht und bestimmte schließlich, daß die Periode der Erziehungsdiktatur im Dezember 1935 enden solle, bis dahin müßten in allen Städten und Landkreisen Selbstverwaltungsorgane eingesetzt werden 61 . Diese Entscheidungen stellten einen Teil der psychologischen Offensive gegen Feng dar, dessen Ausschluß aus dem ZEK und der Partei bestätigt wurde. Aus dem Kreis der Kandidaten trat Wang Pe-chün an seiner Stelle als Vollmitglied in das ZEK ein, so daß in diesem Gremium jetzt 18 Mitglieder, also die Hälfte der Mitgliedschaft, unmittelbare Anhänger Chiangs waren. Feng versuchte, der Propaganda Nankings zu begegnen, indem er am 16. Juni in einem Telegramm an Yen Hsi-shan erklärte, er sei bereit, um des Friedens willen das Land zu verlassen, wenn Chiang das gleiche tue62. Dieser traf am 23. Juni in Peking ein und nahm von dort aus Kontakt zu Yen Hsi-shan auf, der am selben Tag in einem Zirkulartegramm mitteilte, er werde zusammen mit Feng ins Ausland gehen, und der Nationalregierung den Rücktritt von seinen Ämtern anbot 63 . Jetzt entwickelte sich ein Spiel, das für die traditionelle Art politischer Entscheidungen in China als typisch gelten kann. Nanking erklärte, es sei nicht bereit, Yens Rücktritt anzunehmen und bat ihn, im Lande zu bleiben. Am 30. Juni trafen sich Chiang und Yen. Nachdem man ausgedehnte Höflichkeiten ausgetauscht und in ihrem Schutz wohl auch recht hart verhandelt hatte, kam nach zwei Tagen eine Einigung zustande. Yen und Feng erklärten, sie wollten eine „Studienreise" nach Europa unternehmen, die Kuominchün überließ der „Zentralarmee" die Provinzen Honan und Shantung, während Chiang zusagte, keinen Angriff gegen Shensi zu beginnen. 60

Stichwortprotokoll der 15. Sitzung des Ständigen Ausschusses des III. ZEK der K M T am 3. Juni 1929 (KMT-Archiv). Vgl. zu diesem Absatz: China Year Book (1931—32), p. 518.

61

Beschlußprotokoll des 2. Plenums des III. ZEK der K M T vom 10. bis zum 18. Juni 1929 (KMT-Archiv). Zirkulartelegramm Feng Yü-hsiangs an Yen Hsi-shan vom 1 6 . 6 . 1929, in: „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 18. 6. 1929.

62

63

Zirkulartelegramm Yen Hsi-shans v o m 23. 6 . 1 9 2 9 , u i. in: CYJP, selbes D a t u m ; und: Telegramm Yen Hsi-shans an die Nationalregierung v o m 23. 6. 1929, ibid.

Konflikte

mit der Kuominchün und anderen Militärgruppen

1929

335

Die Auslandsreise der beiden nördlichen Befehlshaber wurde allerdings schnell vergessen; denn Yen „erkrankte" am 2. Juli und fand so einen Vorwand, dodi in China zu bleiben und sich mit seinem „Gast" Feng Yü-hsiang an einen Kurort in der Nähe von T'aiyüan zurückzuziehen. In Nordchina aber schwiegen vorläufig wieder die Waffen. Chiang benutzte die Ruhepause, um die im Januar verabschiedeten Pläne zur Verringerung der Streitkräfte weiter zu verfolgen. Vom 1. bis zum 6. August versammelte sich in Nanking eine zweite Demobilisierungskonferenz, die diesmal jedoch ohne Yen, Feng und die KuangsiGenerale stattfinden mußten. Die Beschlüsse, die man im Januar für die Verringerung der Truppenanzahl gefaßt hatte, wurden bestätigt, und man vereinbarte, noch im Jahre 1929 mit der grundlegenden Reorganisation der Armeen zu beginnen64. Bald aber drohte dem inneren Frieden Chinas eine neue Gefahr, die diesmal vom linken Flügel der KMT ausging. Wang Ching-wei begann wieder, in die chinesische Politik einzugreifen. Von Europa aus teilte er seine bevorstehende Rückkehr mit, und dies veranlaßte Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü, Kan Nai-kuang, Wang Fa-chin, Pai Wen-wei und Chu Chih-ch'ing, sich in der französischen Konzession in Shanghai zu versammeln und dort ein „Korrespondenzbüro des II. 2EK der KMT" als Leitstelle der linken Opposition zu errichten65. Auf ihren Wunsch hin erließ Chang Fa-k'uei am 17. September von Ost-Hupei aus ein Zirkulartelegramm, in dem er forderte, die Beschlüsse des III. Parteikongresses für ungültig zu erklären, einen neuen Kongreß, der sich ausschließlich aus gewählten Delegierten zusammensetzen sollte, einzuberufen und die KMT „von feudalistischen und korrupten Elementen zu säubern". Schließlich verlangte er, daß Wang Ching-wei wieder an die Spitze der Partei und der Nationalregierung gestellt werden müsse66. Nanking antwortete am 20. September mit einer Kriegserklärung gegen Chang 67 , und gleich danach begannen Verbände der „Zentralarmee" unter Liu Shih, • 4 Eine detaillierte Dokumentensammlung zur II. Demobilisierungskonferenz in N a n king vom 1. bis zum 6. August 1929 findet sich in: KM WH, Bd. X X I V , p. 89—187. 65 Dokumente über diese Vorgänge standen nicht zur Verfügung. Die Darstellung in diesem Absatz folgt dem Bericht, den Chang Fa-k'uei dem Verfasser im Interview in Hongkong am 20. August 1964 gab, und: T'ang, Revolution, p. 360. Sie ist mit dem Vorbehalt der Parteilichkeit der Quellen hier wiedergegeben. 68 Zirkulartelegramm Chang Fa-k'ueis vom 17. 9.1929, in: „Shanghai shih-shih hsinpao" vom 18. 9.1929. Vgl. hierzu u. a.: T'ang, Revolution, p. 360 f.; Tong, op. cit., p. 130 f. und: Amann, Chiang, p. 165 f. 67 Befehl der Nationalregierung zur Eröffnung der Kampfhandlungen gegen Chang Fa-k'uei vom 20. 9. 1929, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao", gleiches Datum.

336

VIII.

Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

von Wuhan aus auf Ich'ang vorzustoßen. Unter ihrem Druck räumte Chang Ost-Hupei. In einem nahezu zwei Monate dauernden Gewaltmarsch zog er sidi nach Kuangsi zurück, um dort mit seinen alten Feinden L i Tsung-jen und Pai Ch'ung-hsi gemeinsame Sache gegen Nanking zu machen. Die Entente Changs mit den Kuangsi-Generalen bezeichnete den Beginn einer Koalition des rechten und linken Flügels der K M T und ihrer Hausarmeen gegen Chiang Kai-shek, der sich mit ihnen von nun an zwei Jahre lang auseinandersetzen mußte. Changs Vorgehen bewirkte zunächst den definitiven Abbruch der Beziehungen der Parteizentrale zur KMT-Linken. Der Ständige Ausschuß des Z E K beschloß am 3. Oktober, Wang Ching-wei aus der K M T auszuschließen; Ting Ch'ao-wu* trat an seiner Stelle als Vollmitglied ins Z E K ein. Zugleich erließ die Nationalregierung Haftbefehle gegen Wang, Ch'en Kung-po und Ku Meng-yü®8. A m 28. November folgte schließlich der Parteiausschluß von Wang Fa-chin, Pai Wen-wei, Chu Chih-ch'ing und sechs weiteren Führern des linken Flügels". Während sich nun also in Südchina die Linke und die Kuangsi-Gruppe zum gemeinsamen Kampf gegen Chiang rüsteten, brachen bald auch im Norden des Landes neue Kämpfe mit der Kuominchün aus. A m Gedenktag des Aufstandes von 1911, dem 10. Oktober, der zum Nationalfeiertag der Republik erklärt worden war, veröffentlichten 27 Generale der Kuominchün unter der Führung von Sung Che-yüan und Shih Chingt'ing ein Telegramm an Yen Hsi-shan und Feng Yü-hsiang, in welchem sie die Nationalregierung mit sdiarfen Worten wegen ihrer „Tyrannei" angriffen und die beiden norddiinesischen Führer aufforderten, sich an die Spitze einer militärischen Erhebung gegen „den Despoten Chiang Kai-shek" zu stellen. Yen und Feng aber antworteten, man möge sich ruhig verhalten und „die Angelegenheiten der Nation dem Volk zur Entscheidung überlassen"70. So mußten Fengs Unterbefehlshaber alleine kämpfen. Chiang reagierte wiederum sehr schnell. Schon am 11. Oktober befahl er, eine Reihe von Kuominchün-Generalen — unter ihnen auch den bise8

Beschlußprotokoll der 39. Sitzung des Ständigen Ausschusses des I I I . 2 E K der K M T am 3. Oktober 1929 (KMT-Archiv). Vgl. audi: China Year Book (1931—32), p. 158.

«» KMT-Chronik, Bd. I, p. 563. 70

Telegramm von 27 Generalen der Kuomindiün an Yen Hsi-shan und Feng Yühsiang vom 9.10.1929, in: „Ta-kung pao" vom 10.10.1929; Telegramm Yen Hsishans und Feng Yü-hsiangs vom 10.10.1929, ibid., 11.10.1929. Vgl. dazu: LeiHsiao-ch'en,

op. cit., p. 151; Tong, op. cit., p. 130; Ishimaru, op. cit., p. 119;

Amann, Chiang, p. 164; und: China Year Book, (1931—32), p. 518 f.

Konflikte

mit der Kuominchün und anderen Militärgruppen

1929

337

herigen Minister für Militärangelegenheiten, Lu Chung-lin — zu verhaften. Die Leitung dieses Ministeriums übernahm jetzt Chiangs engster militärischer Mitarbeiter, H o Ying-ch'in, der sie bis 1944 behielt71. Mit einem Vorstoß Sung Che-yüans von Shensi aus nach Honan und Nord-Hupei begannen am 14. Oktober die Kampfhandlungen. Chiang ernannte T'ang Sheng-chih und Ho Ying-ch'in zu Befehlshabern der beiden Heeresgruppen der „Zentralarmee", die sich hier den Aufständischen entgegenstellen sollten. Zunächst gelang es der Kuominchün, sich schon am 12. Oktober Loyangs zu bemächtigen72. Dann aber wandte sich das Blatt zugunsten Chiangs, der am 31. Oktober selber das Kommando über die Einheiten der „Zentralarmee" in Honan übernahm. Es gelang ihm, Yen Hsi-shan für sich zu gewinnen. Dieser erklärte sich am 5. November mit seiner Ernennung zum „Stellvertretenden Oberbefehlshaber der Land-, Luft- und Seestreitkräfte" (Lu-hai-k'ung chün fu-tsung-ssu-ling) einverstanden und rüstete zum Einfall nach Shensi. Durch die Allianz mit Yen gestärkt, begann Chiang noch am selben Tage mit dem Gegenangriff. Die Kuominchün war ihm offenbar nicht gewachsen; denn am 20. zogen die Soldaten der „Zentralarmee" wieder in Loyang ein, und Ende des Monats war ganz Honan von der Kuominchün gesäubert, die jetzt den Kampf einstellte73. Unterdessen entstand jedoch in Südchina eine neue Gefahr: Anfang November traf Chang Fa-k'uei mit seinen Truppen in Nord-Kuangsi ein, wo er sich mit Pai Ch'ung-hsi, der gerade aus dem japanischen Exil zurückgekommen war, und Huang Shao-hsiung auf eine gemeinsame Aktion gegen Kanton einigte. Die drei Generale setzten es sich zum Ziel, die Verbände Nankings aus dieser Stadt zu vertreiben, um dann dort eine Gegenregierung unter der Leitung Wang Ching-weis zu bilden74. Changs Elitetruppen — er befehligte mit seiner „Eisernen Armee" einen der ruhmreichsten und kampfgewohntesten Verbände des Landes — 71

72 73

74

22

Befehl des Staatsrates der Nationalregierung vom 1 1 . 1 0 . 1 9 2 9 , in: ,Kuo-min diengfu kung-pao" vom 1 2 . 1 0 . 1 9 2 9 . KMT-Chronik, Bd. I, p. 561. Vgl. zu diesem Absatz: China Year Book (1931—32), p. 519; Tong, op. cit., p. 132; und: Lei, op. cit., p. 151. China Year Book, ibid.; und: Lei, op. cit., p. 150. Lei geht davon aus, daß Wang Ching-wei bereits wieder in China gewesen sei und in Kuangsi den Aufstand geleitet habe. Dies trifft jedodi nicht zu. Wang traf erst am 7. Mai 1930, aus Europa kommend, in Hongkong ein (Vgl.: T'ang, Wang, p. 215 ff., ebenso audi Chang Fa-k'uei und Pai Ch'ung-hsi in den Interviews, die sie am 20. August bzw. 11. September 1964 dem Verfasser gewährten.) Domes

338

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf

gegen die oppositionellen

Kräfie

stießen tief nach Kuangtung hinein vor. Der Kommandant der Regierungstruppen in dieser Provinz, Ch'en Ch'i-t'ang, erklärte darauf am 22. November Chang und den Kuangsi-Generalen den Krieg75, und am 25. November ernannte Chiang H o Ying-ch'in zum Oberbefehlshaber aller Streitkräfte in Kuangtung, die Nanking Loyalität entgegenbrachten. Darunter waren außer den Soldaten Ch'ens auch die Divisionen der Kuangtung-Generale Chiang Kuang-nai*, Yü-Han-mou* und Ts'ai T'ing-k'ai. An ihrem Widerstand scheiterte kurz vor Kanton die Offensive der „Eisernen Armee", die unter schweren Verlusten nach Kuangsi zurückgehen mußte. Die Regierungstruppen drangen in Kuangsi ein, die Aufständischen zogen sich auf Kueilin und Nanning zurück, und so endeten um die Jahreswende 1929/30 auch hier die Kämpfe mit einem Sieg der Nationalregierung7®. Noch war der Konflikt in Kuangtung in vollem Gange, als T'ang Sheng-chih am 5. Dezember seine 5. Feldarmee in West-Honan zum Aufstand gegen Nanking führte. Er stieß zunächst rasch entlang der PekingHank'ou-Bahn auf Wuhan vor, wurde dann aber an der Grenze zwischen Honan und Hupei von den Regierungstruppen zum Stehen gebracht, während Yen Hsi-shan ihm zur gleichen Zeit von Norden her in den Rücken fiel. Nach erbitterten Kämpfen erlitt T'ang am 4. Januar 1930 eine Niederlage. Er ging ins Exil nach Japan, die Reste seiner Armee wurden Mitte Januar entwaffnet 77 . So hatten im Januar 1930 die Kämpfe in China wiederum ein Ende gefunden. Seit dem März 1929 war es der Nationalregierung gelungen, die Provinzen Hunan, Hupei, Kuangtung, Honan und Shantung ganz unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie beherrschte jetzt ein Gebiet, das mit etwa 250 Millionen Menschen von über der Hälfte der chinesischen Bevölkerung bewohnt war. Es schien, als sei man dem Ziel der Vereinigung des Landes erheblich nähergekommen. Tatsächlich aber war die Stellung Chiangs und der Zentrale unsicher. Noch standen die schwersten Kraftproben mit der Opposition bevor. Die radikalen Reformer des linken Flügels gingen ein Bündnis mit den Kräften des Regionalismus ein, um Chiang zu stürzen.

75

78 77

Zirkulartelegramm Ch'en Ch'i-t'angs v o m 22. 11. 1929, in: „Min-kuo jih-pao", selbes Datum. Tong, op. cit., p. 132; und: T'ang, Revolution, p. 361. Vgl.: K M T - C h r o n i k , B d . I, p. 564—567.

Der große Bürgerkrieg im Frühjahr und Sommer 1930

Der große Bürgerkrieg im Frühjahr und Sommer

339

1930

Während der Auseinandersetzungen im Jahre 1929 hatte Chiang — unterstützt von Hu Han-min — jede Opposition mit harter Hand niedergeschlagen. Die Presse wurde einer strikten Zensur unterworfen, Kritiker der Regierung mußten, auch wenn sie nicht mit aufständischen Truppen kooperierten, mit ihrer Verhaftung rechnen, Hinrichtungen geschahen fast täglich, und bis Anfang 1930 erreichte die Zahl der Opfer angeblich bereits 140.00078. Zweifellos trugen solche repressiven Maßnahmen dazu bei, daß Chiang seine Gegner zu überwinden vermochte, sie brachten ihm andererseits aber auch immer wieder neue Opposition ein. An den Universitäten wuchs die Mißstimmung, Intellektuelle setzten sich für eine Beendigung der Alleinherrrsdiaft der Nankinger KMT ein. Von Shanghai aus führten die leitenden Männer des linken Flügels eine mit großen Geschick eingeleitete Propagandakampagne gegen Chiang durch, die vor allem im Ausland ihre Wirkung nicht verfehlte 79 . Die Nationalregierung hatte schnell feststellen müssen, daß sie nicht auf die sachliche Kompetenz ehemaliger Beamter der machtlosen Zentralregierungen in Peking vor 1928 verzichten konnte. Manche von ihnen, wie ζ. B. Ku Wei-chün und Wang Cheng-t'ing, zwei Völkerrechtler und Außenpolitiker von hohem Rang, traten in ihren Dienst, und dies rief in besonderem Maße die Kritik der innerparteilichen Opposition hervor. Hinzu kam, daß Chiang, der versuchte, möglichst viele Meinungsgruppen zu seiner Unterstützung zu gewinnen, nicht selten die Karriere von Leuten in Nanking duldete, die vorher wegen ihrer engen Verbindung mit den Mächten und den Militärmachthabern oder gar wegen Korruption diskreditiert waren 80 . Diese Schwächen nutzten die Kräfte des linken und rechten Flügels zum Kampf gegen den Vorsitzenden der Nationalregierung und seine Anhänger aus. Zu ihnen gesellten sich Ende 1929 auch die intransigenten Mitglieder der „Westberggruppe", die Chiang seinen Widerstand gegen das „Spezialkomitee" und seine Versuche, mit dem linken Flügel ins Reine zu kommen, nicht verzeihen konnten. Hsü Ch'ung78 78

80 81

22*

So: Isaacs, op. cit., p. 296. Leiter der Auslandspropaganda der Linken war T'ang Leang-li, dessen Schriften — vor allem das wegen seiner in der Regel verläßlichen Darstellung historischer Vorgänge in dieser Studie oft zitierte Buch „The Inner History of the Chinese Revolution", das im Sommer 1930 in London erschien — erheblichen Einfluß auf die öffentliche Meinung im Westen ausübten. Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 353 f. Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 353 f.

340

VIII. Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

chih, Tsou Lu, Chü Cheng und Hsieh Ch'ih begannen im November 1929 von der französischen Konzession und der „Internationalen Siedlung" in Shanghai aus einen Propagandafeldzug gegen Chiang. Ihr Organ war die von Chü Cheng geleitete „Kiangnan wan-pao" (Shanghaier Abendzeitung), die von japanischen Finanzgruppen finanziert wurde 82 . Als sich die Nationalregierung schließlich von ihren Angriffen ernsthaft bedroht fühlte — offenbar, weil dieser Kreis der konservativsten KMT-Politiker jetzt als Avantgarde westlich-liberaler Freiheitsvorstellungen auftrat —, erließ sie am 20. Dezember 1929 Haftbefehl gegen die vier Politiker der „Westberggruppe" 83 . Doch nur Chü fiel der Polizei in die Hand und wurde bis zum Dezember 1931 in Nanking inhaftiert. Hsü, Tsou und Hsieh hingegen konnten sich dem Zugriff Chiangs in die „Internationale Siedlung" entziehen, wo sie Anfang Januar 1930 begannen, Fühlung mit dem linken Flügel der KMT aufzunehmen, um eine gemeinsame Oppositionsfront zu bilden. Die Linke hatte bereits im September 1929 ihren Frieden mit der Kuangsi-Gruppe gemacht, und bald sollten sich auch die nordchinesischen Militärs der großen Koalition gegen Chiang anschließen, die schließlich im Sommer 1930 von Ch'en Yu-jen und Frau Sun Yat-sen bis zu Hsieh Ch'ih und dem ehemaligen Militärmachthaber Sun Ch'uanfang reichte. Yen Hsi-shan gab das Signal zum neuen Angriff gegen Nanking. Im Laufe des Januar 1930 entwickelte sich ein Konflikt zwischen ihm und der Nankinger Führungsgruppe. Es ging um die Person Feng Yühsiangs, der sich seit dem Sommer 1929 bei Yen in Shansi aufhielt. Nanking verlangte, daß FSng das Kommando der Kuominchün niederlegen und sich ins Privatleben zurückziehen solle, Yen hingegen befürchtete, daß die Armee Fengs dann zerfallen und sein eigener politischer Spielraum als autonomer Herrscher in Nordchina, den seine Mittlerrolle zwischen der Zentrale und Feng garantierte, eingeschränkt würde84. Am 10. Februar forderte er Chiang telegrafisch auf, seine Ämter niederzulegen und mit ihm, Yen, zusammen ins Ausland zu gehen, um auf diese Weise der „Einheit des Vaterlandes" zu dienen85. Noch am selben Tage 82

China Y e a r Book, (1931—32), p. 716.

83

Haftbefehl der Nationalregierung gegen Hsü Ch'ung-chih, Tsou Lu, Chü Cheng und

84

Lei, op. cit., p. 153.

85

Telegramm Yen Hsi-shans an Chiang Kai-shek vom 10. 2. 1930, in: „Shanghai shih-

Hsieh Ch'ih vom 20. 12. 1929, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", selbes Datum.

shih hsin-pao" und „Ta-kung pao" vom 11. 2 . 1 9 3 0 . Vgl. hierzu und zu den folgenden Absätzen u. a.: China Y e a r Book, ( 1 9 3 1 — 3 2 ) , p. 519 f.; Tong, op. cit., p. 133; und: Ishimaru, op. cit., p. 119.

Der große Bürgerkrieg im Frühjahr und Sommer

1930

341

antworteten die Präsidenten der fünf „Yüan" der Nationalregierung, die offenbar vorher Informationen über Yens Aktion bekommen hatte, mit einem in vielen tausend Exemplaren in ganz China verteilten „Brief an die Soldaten". Sie forderten alle militärischen Führer auf, sich davor zu hüten, ihre persönlichen Ambitionen zum Maßstab ihres Handelns zu machen und riefen auf, „die Wohlfahrt des Landes über alle anderen Erwägungen zu stellen"88. Es folgte vom 12. bis zum 14. Februar ein Telegrammwechsel zwischen Chiang und Yen, in dem jener für die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen beiden Generalen warb, während dieser seinen Rücktritt ankündigte und damit deutlich machte, daß er seine Allianz mit Chiang aufzukündigen beabsichtigte87. Ein Versuch Hu Han-mins, T'an Yenk'ais und Wang Ch'ung-huis, in einem gemeinsamen Telegramm an Yen vom 15. Februar diesen zu bewegen, seine Posten zu behalten, scheiterte: Yen erhob in seiner Antwort vom 16. Februar gegen Chiang den Vorwurf, „seine persönliche Macht und die des Militärs über die Macht von Partei und Regierung" gestellt zu haben88. Jetzt wurde auch der Ton Chiangs energischer. In einer weiteren Botschaft an Yen forderte er am 19. Februar in nahezu ultimativer Form, daß dieser seine „unehrlichen" Rücktrittsabsichten aufgeben, Feng Yü-hsiang ins Ausland gehen und im Machtbereich Yens unverzüglich mit der Demobilisierung der Truppen begonnen werden solle88. Die Antwort Yens deutete bereits auf den herannahenden vollständigen Bruch hin. Am 23. Februar erließ er zusammen mit Feng Yü-hsiang, Li Tsung-jen, Chang Fa-k'uei, Huang Shaohsiung, Pai Ch'ung-hsi, Hu Tsung-to, Ho Chien, Shih Yu-san, Lu Chunglin, Sun Liang-chen, Liu Yü-fen, Fu Tso-i, Yang Shen aus Ssuch'uan und 34 weiteren Generalen der Kuominchün und der Truppen aus Kuangsi und Shansi ein Zirkulartelegramm, in dem die Forderung erhoben wurde, „die Probleme der Vereinigung des Landes durch einen gewählten 88

87

88

89

H u Han-min, T'an Yen-k'ai, Wang Ch'ung-hui, Ts'ai Yüan-p'ei und Tai Chi-t'ao, Kao diün-jen shu (Ein Brief an die Soldaten), Nanking 1930, passim; in Auszügen audi in: CYJP vom 10. und 11. 2. 1930. Telegramm Chiang Kai-sheks an Yen Hsi-shan vom 1 2 . 2 . 1 9 3 0 , in: CYJP, selbes Datum; Telegramm Yen Hsi-shans an Chiang Kai-shek vom 13. 2.1930, in: „Shenpao" vom 1 4 . 2 . 1 9 3 0 ; Telegramm Chiang Kai-sheks an Yen Hsi-shan vom 14.2. 1930, ibid. Telegramm H u Han-mins, T'an Yen-k'ais und Wang Ch'ung-huis an Yen Hsi-shan, vom 1 5 . 2 . 1 9 3 0 , in: CYJP vom 1 6 . 2 . 1 9 3 0 ; Zirkulartelegramm Yen Hsi-shans an die Nationalregierung vom 16. 2. 1930, u. a. in: „Ta-kung pao" vom 18. 2.1930. Telegramm Chiangs an Yen vom 19. 2.1930, in: CYJP, selbes Datum.

342

VIII. Kapitel: Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen Kräfte

neuen Parteikongreß entscheiden zu lassen"90. Noch am selben Tag erschien in einigen chinesischen Zeitungen ein zweites Zirkulartelegramm, das von Wang Ching-wei aus Europa stammte. Wang verlangte den Rüdstritt Hu Han-mins, Tan Yen-k'ais und Wang Ch'ung-huis, die, wie er schrieb, „die wirklich Verantwortlichen für die Despotie in Nanking" seien, und rief die Streitkräfte Chinas auf, „unter Einsetzung aller Mittel für die Wiederherstellung der Autorität der legalen Parteiführung zu sorgen" (gemeint war das II. ZEK der KMT) 91 . Am 3. März folgte die endgültige Rücktrittserklärung Yens und am 18. März schließlich ließ Yen die kleinen in Peking stationierten Detachements der Regierungstruppen entwaffnen und die Amtsgebäude der alten chinesischen Hauptstadt besetzen92.Während dieses über sieben Wochen andauernden Nervenkrieges rückten die Truppen Yens und der Kuominchün langsam von Shansi und Shensi nach Honan hinein vor, und Feng übernahm wieder das Kommando über seine alte Armee. Chiang benutzte unterdessen das 3. Plenum des III. ZEK, dessen Sitzungen vom 1. bis zum 6. März in Nanking stattfanden, um politischen Druck auf seine Gegner auszuüben. Der Ausschluß Wangs aus der KMT wurde bestätigt, ein von der Nationalregierung im Januar bewilligter 24-Millionen-Yüan-Kredit für die Provinzregierung von Shansi storniert, und man beauftragte Li Shih-tseng, Chang Chi und Yens Mitarbeiter, den Innenminister Chao Tai-wen, mit einer „Untersuchung" der Haltung des Nordgenerals93. Doch die Bemühungen, mit Hilfe der Parteiinstanzen Yen zur Loyalität gegenüber Nanking zu zwingen, scheiterten schnell. Sogar im Kreis der Regierung fand dieser Anhänger. Am 18. März erklärten der Innenminister Chao Tai-wen, der Landwirtschaftsminister Yi P'ei-chi und der Gesundheitsminister Hsüeh Tu-pi ihren Rücktritt und begaben sich nach Peking. Die Nationalregierung vereinigte das Landwirtschaftsministerium mit dem Industrie- und Handelsministerium K'ung Hsiang-hsis und berief Niu Yung-chien zum neuen Innenminister, 90

Zirkulartelegramm von Yen Hsi-shan, F i n g Yü-hsiang, Li Tsung-jen und 45 weiteren Generalen vom 23. 2 . 1 9 3 0 , veröffentlicht am 24. 2 . 1 9 3 0 , u. a. in C Y J P und „Shen-pao"

(audi:

KMT-Ardiiv).

Lei, op. cit., p. 159,

datiert

falsch auf den

23. März, es kann sich dabei jedoch auch um einen Druckfehler handeln. 91

Zirkulartelegramm Wang Ching-weis vom 24. 2. 1930, in: „Jen-min jih-pao" (Volkszeitung), T'ienchin, selbes Datum. Diese „Jen-min jih-pao" war eine Tageszeitung des linken Flügels der K M T , sie ist nicht identisch mit dem heutigen Zentralorgan der K C T gleichen Namens.

» China Y e a r Book, ( 1 9 3 1 — 3 2 ) , p. 520 f. 93

Beschlußprotokoll des 3. Plenums des III. Z E K der KMT, vom 1. bis zum 6. März 1930 (KMT-Archiv). Vgl. dazu: China Y e a r Book, ibid.

Der große Bürgerkrieg

im Frühjahr und Sommer 1930

343

während Dr. Liu Jui-heng die Leitung des Gesundheitsministeriums übernahm 94 . Die offene Auseinandersetzung war nicht mehr zu vermeiden. Am 30. März besetzten Einheiten der Kuominchün K'aifeng und errichteten dort eine von Nanking unabhängige Provinzregierung von Honan; zwei Tage später, am 1. April, verkündete Yen, daß er das Amt eines „Oberbefehlshabers der Land-, See- und Luftstreitkräfte der Republik China" (Chung-hua min-kuo lu-hai-k'ung chün tsung-ssu-ling) übernehme und ernannte Li Tsung-jen und Feng Yü-hsiang zu seinen Stellvertretern 95 . Chiang, der die loyal gebliebenen Generale am 11. April in Hsüchou zum Kriegsrat versammelte, berief Han Fu-chü zum Befehlshaber der 1. Heeresgruppe, die Shantung gegen Shih Yu-san zu verteidigen hatte. Liu Shih übernahm mit der 2. Heeresgruppe den Schutz von Hsüchou und T'angshan, die 3. Heeresgruppe unter H o Ch'eng-chün sollte den erwarteten Angriff des Gegners an der Peking-Hank'ou-Bahn zum Stehen bringen. Die Elitedivisionen der „Zentralarmee" aber, die Chiang zu einem „Armeekorps der Lehrverbände" zusammenfaßte und Ch'en Tiao-yüan unterstellte, wurden in Zentral-Honan südlich des Huanghe eingesetzt, wo sie auf die Hauptmacht der Kuominchün unter Fengs persönlichem Kommando trafen. Ho Ying-ch'in schließlich hatte Hunan und Kuangtung gegen die Kuangsi-Generale und Chang Fa-k'uei zu sichern96. In Nordchina standen etwa 400.000 Soldaten der Kuominchün und der Shansi-Armee rund 250.000 Mann der Regierungstruppen gegenüber97. Am 23. April eroberte Feng Loyang und Chengchou und erklärte der Nationalregierung in Nanking den Krieg98. Kampfhandlungen in größerem Umfang begannen zunächst an der südlichen Front. Anfang Mai brachen Li Tsung-jen und Chang Fa-k'uei mit 30.000 Soldaten in Hunan ein, trieben die Sicherungsverbände der Regierungstruppen zurück und eroberten am 28. Mai Ch'angsha. Chiangs M 85

,e 97

98

C Y J P v o m 19. 3 . 1 9 3 0 . Zirkulartelegramm Yen Hsi-shans v o m 1. 4 . 1 9 3 0 , u. a. in: „Jen-min jih-pao", selbes Datum. Lei, op. cit., p. 160; und: Amann, Chiang, p. 167. China Year Book (1931—32), p. 521. Tong, op. cit., p. 135, beziffert die Stärke der Nordtruppen auf 600.000 Mann, davon 400.000 in der Kuomindiün und 200.000 unter dem Befehl Yen Hsi-shans. D i e Differenz ergibt sidi nach einer Mitteilung H o Ying-di'ins im Interview mit dem Verfasser offenbar daraus, daß Tong im Gegensatz zum „China Year Book" die Versorgungs- und Garnisontruppen mitgeredinet hat. Zirkulartelegramm Feng Yü-hsiangs vom 23. 4. 1930, u. a. in: „Shen-pao" und „Takung pao" v o m 24. 4. 1930.

344

VIII.

Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

Position schien äußerst bedroht, man mußte mit einem weiteren Vorstoß der Aufständischen auf Wuhan rechnen. Doch in diesem Augenblick entzweiten sich Li und Chang über die Besetzung der neuen Provinzregierung Hunans, und dies nutzte H o Ying-ch'in zum Gegenangriff aus. Er umging die Flanke der Gegner und fiel ihnen in den Rücken. L i und Chang erlitten eine schwere Niederlage. Schon am 16. Juni zogen die Regierungstruppen wieder in Ch'angsha ein, und die Kuangsi-Armee floh in Auflösung in ihre Heimatprovinz. Auch Chang gab seinen Widerstand auf. Er erklärte am 20. Juli, daß er sich aus der „Politik" zurückziehen wolle, und ging nach Hongkong. Die Gefahr aus dem Süden war für Nanking gebannt". Dagegen entwickelte sich an der Peking-Hank'ou- und der LunghaiBahn vom 11. Mai an eine Schlacht, die über vier Monate andauerte und von der chinesische Autoren schreiben, daß sie die blutigste in allen Bürgerkriegen seit dem Sturz der Ch'ing-Dynastie gewesen sei100. Die „Zentralarmee" unternahm den Versuch, Feng Yü-hsiangs Kuominchün-Truppen aus Honan zu vertreiben. Es war geplant, daß die Heeresgruppe H o Ch'eng-chüns von Süden und die Eliteformationen Ch'en Tiao-yüans und Liu Shihs von Osten über Kueite und K'aifeng in einer großen Zangenbewegung die Streitkräfte Fengs umzingeln und zur Kapitulation zwingen sollten. Die Hauptlast des Kampfes hatten für die Zentralarmee Ch'en Tiao-yüans und Liu Shihs Truppen zu tragen. Von einer Gruppe deutscher Militärberater unter der Leitung des Oberstleutnants Hermann Kriebel unterstützt101, gelang es Ch'en am 18. Mai, die Kuominchün nach heftigen Kämpfen aus Kueite zu vertreiben. Dann aber brachen die A n griffe der „Zentralarmee" vor K'aifeng zusammen, und es entwickelte sich ein äußerst blutiger Stellungskrieg. Die Kuominchün hielt K'ai-feng und Chengchou mit verbissener Zähigkeit, während in Nord-Shantung ein Angriff der Shansi-Armee von den kantonesischen Verbänden der 19. Feldarmee zurückgeschlagen wurde. Die Entscheidung konnte aber erst fallen, nachdem es Chiang in langwierigen Verhandlungen gelungen war, ein Bündnis mit Chang Hsüehliang abzuschließen. Dieser übernahm am 21. Juni das A m t des Stellvertretenden Oberbefehlshabers der Regierungstruppen102. Nach längeren M

K M T - C h r o n i k , Bd. I, p. 577—579.

V g l . dazu: Tong, op. cit., p. 133 und: China

Year Book, ibid. 100

Lei, op. cit., p. 161; Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. I, p. 721—724; und: Tong, op. cit., p. 135.

ιοί V g ] hierzu: Liu, op. cit., p. 74 f.; und: Amann, Chiang, p. 167. 102

Befehl der Nationalregierung über die Ernennung Chang Hsüeh-liangs zum stell-

Der große Bürgerkrieg im Frühjahr und Sommer 1930

345

Vorbereitungen fielen seine Armeen am 23. September in Hopei ein, und am 2. Oktober eroberten sie Peking103. Zur gleichen Zeit brach auch in Zentral-Honan die Front der Kuominchün zusammen: am 3. Oktober fiel K'aifeng, am 6. Chengchou und am 9. Loyang in die Hand der „Zentralarmee" 104 , die Reste der Streitkräfte Fengs flohen nach Shensi und wurden von dort im Laufe des November nadi Kansu und Ninghsia vertrieben. Die Schlacht in Zentral-Honan hatte die Kuominchün etwa 70.000 Tote und 80.000 Verwundete, die Regierungstruppen 30.000 Tote und 60.000 Verwundete gekostet, weite Gebiete der fruchtbaren Ebene am Huanghe waren verwüstet, die Eisenbahnlinien zwischen Peking und Hank'ou und von Shensi zum Meer unterbrochen105. Der große Bürgerkrieg des Jahres 1930 hatte jedoch dazu geführt, daß fortan im militärischen Bereich die Truppen der Zentralregierung eindeutig dominierten, obgleich sie immer noch nicht mehr als höchstens ein Viertel aller Soldaten in China umfaßten. Die Auseinandersetzung zwischen Chiang und seinen Gegnern verlagerte sich in den Bereich der politischen Propaganda und der Koalitionsverhandlungen verschiedener Fraktionen und Gruppen. Dies wurde schon während der Kämpfe im Frühjahr und Sommer 1930 deutlich. Einen Tag nach dem pronunciamento Yen Hsishans, am 2. April, hatte Ch'en Kung-po im Namen des linken Flügels der KMT von Shanghai aus ein Manifest erlassen, in dem er „alle Bürger des Landes" aufforderte, Yen zu unterstützen. Er selbst werde sich, so teilte er mit, sofort zu Yen nach T'aiyüan begeben und diesem vorschlagen, die Regierungsgewalt in China zu übernehmen. Mit der Führung der Partei solle Wang Ching-wei, mit dem Kommando über die Armeen im Norden und Süden aber Feng Yü-hsiang und Li Tsung-jen betraut werden106. So bereiteten die „Reorganisations-Genossen" eine Koalition mit der Kuangsi-Gruppe und den nordchinesischen Generalen vor, an der sich bald auch die „Westberggruppe" beteiligte. Von seinen Anhängern seit langem erwartet, traf am 7. Mai Wang Ching-wei in Hongkong ein und erließ

103

vertretenden Oberbefehlshaber der Land-, See- und Luftstreitkräfte, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao" vom 2 1 . 6 . 1 9 3 0 . Telegramm Chang Hsüeh-liangs an die Nationalregierung vom 3 . 1 0 . 1930 (KMTArchiv).

104 C Yjp v o m 105

10e

4-)

7. un d 10 . 10.1930.

Bericht des Hauptquartiers des Oberbefehlshabers der Land-, See- und Luftstreitkräfte an die Nationalregierung, vom 1 3 . 1 0 . 1 9 3 0 , in: CYJP vom 14. 10.1930. Vgl. dazu auch: Tong, op. cit., p. 135 f. Ch'en Kung-po u. a., „Manifest an alle", in: „Min-hsin chou-k'an" und „Jen-min jih-pao" vom 2. 4.1930.

346

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf

gegen die oppositionellen

Kräfle

ein „Manifest an das chinesische Volk". In diesem Dokument kündigte er an, daß er nach T'ienchin reisen wolle, um von dort aus mit Yen Hsi-shan Verbindung aufzunehmen, unter dessen Schutz so schnell wie möglich ein „III. Parteikongreß der KMT" zusammentreten sollte, um dem Lande eine neue Führung zu geben107. Am 15. Mai stellten sich auch T a n g Sheng-chih, der aus Japan nach China zurückkam, und der ehemalige Militärmachthaber Sun Ch'uan-fang der Opposition gegen Chiang zur Verfügung 108 , ebenso wenige Tage später Ch'en Yu-jen und die Witwe Sun Yat-sens, Sung Ch'ing-ling. Von T'aiyüan aus bereiteten sie gemeinsam einen Kongreß der Opposition vor. Wang selbst blieb jedoch, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, noch zwei Monate lang in Hongkong. Erst als Yen und Feng ihn am 9. Juli telegrafisch aufforderten, nach Peking zu kommen, machte er sich schließlich auf den Weg109. Seine Bemühungen, einen Parteikongreß einzuberufen, scheiterten angesichts der schweren Kämpfe in Nordchina. Statt dessen trat am 13. Juli 1930 in Peking eine „Erweiterte Konferenz" (K'o-ta hui-i) von Mitgliedern des I., II. und III. 2EK der KMT zusammen, an der sich insgesamt 16 Vollmitglieder und sechs Kandidaten der drei ZEK und vier Mitglieder der betr. ZKK direkt beteiligten oder vertreten ließen, außerdem eine Anzahl von Generalen des Nordens und der Kuangsi-Gruppe, Sun Ch'uang-fang und der ehemalige Premierminister Yüan Shih-k'ais, T'ang Shao-yi. In einem „Allgemeinen Manifest" kündigten sie an, daß sie, „sobald dies nach Lage der Dinge möglich sei", den „III. Parteikongreß" einberufen würden und bis dahin vorläufig die Funktionen des ZEK und der ZKK der KMT übernähmen 110 . 107

108 10,1

110

Wang Ching-wei, „Manifest an das chinesische Volk vom / . M a i 1930", in: „Jenmin jih-pao" vom 8. 5. 1930; audi in: „Min-hsin diou-k'an" v o m 14. 5. 1930. „Jen-min jih-pao" und „North China Herald" vom 16. 5. 1930. Telegramm Yens und Fengs an Wang v o m 9. 7. 1930, in: „Jen-min jih-pao" v o m 10. 7. 1930. Allgemeines Manifest der Erweiterten Konferenz von Mitgliedern des I., II. und III. ZEK der KMT, v o m 1 3 . 7 . 1 9 3 0 , in: „Min-hsin chou-k'an" v o m 1 5 . 7 . 1 9 3 0 . Englische Übersetzung in: Wang Ching-wei u. a., The Chinese National Revolution, p. 101 f. Vgl. dazu und zum folgenden: Lei, op. cit., p. 163—178; T'ang, Wang, p. 215—221; und: China Year Book, op. cit., p. 521 f. An der „Erweiterten Konferenz" beteiligten sich: V o m linken Flügel der K M T : Wang Ching-wei, Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü, Frau Sung Ch'ing-ling, Ch'en Yu-jen, Wang Fa-diin, Ching Heng-yi, Chu Chin-di'ing, Frau Ch'en P'i-chün (Frau Wang), Ch'en Shu-jen, P'an Yün-di'ao, Kuo Chun-t'ao und Kuo Tai-ch'i; v o n der „Westberggruppe": Hsieh Ch'ih, Tsou Lu, T'an Cheng, Hsü Ch'ung-chih, Mao Tzuch'üan, Fu Ju-lin und Chang Chih-pen; außerdem: Yen Hsi-shan, Feng Yü-hsiang,

Der große Bürgerkrieg im Frühjahr und Sommer 1930

347

Von der Bevölkerung enthusiastisch begrüßt, traf am 23. Juli Wang Ching-wei in Peking ein, um die Leitung der Konferenz zu übernehmen111. In einer Pressekonferenz am 25. Juli forderte er die Einberufung eines Nationalkonvents (Kuo-min hui-i) mit frei gewählten Delegierten, und er vertrat die Auffassung, daß die KMT nur dann ihre „Arbeit an der Spitze der Nation" fortsetzen solle, wenn dieser Konvent das Programm der Partei akzeptiere. Andere politische Parteien müßten bereits vor dem Beginn der Periode des Verfassungsstaates Gelegenheit haben, unter der Bevölkerung für ihre Ziele zu werben, sofern sie nicht zum gewaltsamen Umsturz aufriefen 112 . Damit hatte Wang den Grundsatz aufgegeben, daß in der Periode der Erziehungsdiktatur neben der KMT keine andere Partei in China organisiert werden dürfe. Er tat dies offenbar, um für die Opposition gegen Chiang eine breitere Basis zu gewinnen. Vor allem in Nordchina und Shanghai sammelten sich Kritiker der Nationalregierung in einer Anzahl politischer Zirkel und Gruppen, und auf deren Unterstützung hoffte Wang. Nachdem die „Erweiterte Konferenz" Wang Ching-wei, Wang Fachin, Chao Tai-wen, Mao Tzu-ch'üan, Pai Wen-wei, Hsieh Ch'ih und Hsü Ch'ung-chih zu Mitgliedern ihres Ständigen Ausschusses berufen hatte, übertrug sie die Leitung der Organisationsabteilung Wang, während Ku Meng-yü an die Spitze der Propagandaabteilung und Pai Yünt'i an diejenige der Abteilung für Nationale Minderheiten trat. Die Abteilung für Auslandschinesen sollte Ch'en Shu-jen, den „Ausschuß für die politische Ausbildung des Volkes" (Min-chung hsün-lien wei-yüan-hui) General Shang Chen leiten113. Am 1. September schließlich bildete die Konferenz in Peking eine Gegenregierung. Vorsitzender des Nationalregierungsrates wurde Yen Hsishan, außer ihm gehörten dem Führungsgremium Wang Ching-wei, Feng Yü-hsiang, Li Tsung-jen, T'ang Shao-yi und Hsieh Ch'ih an. Auch Chang

111

112

113

Chao Tai-wen, Teng Tse-ju, Liu Shou-diung, Pai Wen-wei, Li Lieh-diün, Sun Ch'uan-fang, T'ang Shao-yi und einige Kuominchiin-Generale. Hsüeh Tu-pi vertrat offiziell Li Tsung-jen, Pai Ch'ung-hsi, Huang Shao-hsiung und H u Tsung-to, Chang Fa-k'uei erklärte sidi telegrafisch zur Mitarbeit bereit (letzteres nach einer Mitteilung Changs an den Verfasser im Interview am 20. August 1964 in Hongkong). „Jen-min jih-pao" vom 24. 7.1930; und: „North China Daily News" vom 25. 7. 1930. Rede Wang Ching-weis auf einer Pressekonferenz in Peking am 25. Juli 1930, in: „Jen-min jih-pao" vom 26. 7. 1930; Englisch in Auszügen in: China Year Book, (1931—32), p. 523. „Jen-min jih-pao" vom 20. 7. 1930.

348

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

Hsüeh-liang wurde zum Mitglied des Nationalregierungsrates gewählt, da man immer noch hoffte, er werde sich mit der Nordkoalition gegen Chiang verbünden. Von den Mitgliedern der Gegenregierung, deren Außenministerium Ch'en Yu-jen übernahm, konnten jedoch nur Yen, Wang und Hsieh Chih ihren Eid leisten114, und als Chang Hsüeh-liangs Truppen sich zum Angriff auf Hopei anschickten, sah sich die „Erweiterte Konferenz" gezwungen, ihren Sitz nach T'aiyüan zu verlegen. Noch ehe die Mitglieder ihres Ständigen Ausschusses Peking verließen, forderten sie am 19. September in einem Zirkulartelegramm: — die Vorbereitung zur Wahl eines Nationalkonvents; — die Einberufung des „III. Parteikongresses" der KMT; und — die Verabschiedung eines „Grundgesetzes" (Yüeh-fa) f ü r die Periode der Erziehungsdiktatur 115 . Auch nach der militärischen Niederlage der aufständischen Armeen setzte der Ständige Ausschuß der „Erweiterten Konferenz" in T'aiyüan seine Arbeit fort. Am 27. Oktober verabschiedete er den Entwurf eines „Grundgesetzes" (Yüeh-fa), in dem die Rückkehr der Nationalregierung zum Komiteesystem von 1925 und der Erlaß eines den Traditionen des europäischen Liberalismus entlehnten Grundrechtskatalogs vorgeschlagen wurden 116 . Doch Chiang drohte, er werde Yen Hsi-shan in seiner Heimatprovinz angreifen, wenn dieser den Führern der politischen Opposition weiterhin Gastredit gewähre, und unter dem Druck dieser Drohung löste sich der Ständige Ausschuß der „Erweiterten Konferenz" am 12. November 1930 auf. Wang Ching-wei und die anderen Führer der Bewegung gegen die Nationalregierung zogen sich in die Konzessionen der Mächte in T'ienchin und Shanghai oder nach Hongkong zurück 117 .

Der Konflikt zwischen Chiang und Hu Han-min Chiang hatte die Opposition im Felde besiegt, doch das schwere Blutvergießen in der Schlacht in Zentral-Honan beeindruckte ihn, wie auch 114

115

118

117

Manifest der Nationalregierung (Peking) vom 1.9. 1930, in: „Jen-min jih-pao", selbes Datum. Vgl. dazu: Lei, op. cit., p. 166; und: China Year Book, op. cit., p. 522. Zirkulartelegramm des Ständigen Ausschusses der „Erweiterten Konferenz" an Chang Hsüeh-liang, vom 19. 9. 1930, in: „Jen-min jih-pao" und „Ta-kung pao", selbes Datum. Entwurf eines Grundgesetzes der Republik China für die Periode der Erziehungsdiktatur, verabschiedet vom Ständigen Aussdiuß der „Erweiterten Konferenz" in T'aiyüan am 27. Oktober 1930 (KMT-Archiv). Lei, op. cit., p. 174.

Der Konflikt

zwischen Chiang und Hu

Han-min

349

seine Kritiker anerkannten 118 , offenbar so stark, daß er sich sofort nach der Niederlage der Kuominchün zu einem politischen Kurswechsel von erheblicher Bedeutung entschloß. Bereits am 3. Oktober 1930 schlug er vom Schlachtfeld aus in einem Telegramm an die Nationalregierung in Nanking vor, zum 1. Januar 1931 eine Amnestie für alle politischen Vergehen zu erlassen, von der nur die Kommunisten, Yen Hsi-shan und Ch'en Ch'iung-ming ausgenommen sein sollten119. In einem weiteren Telegramm an die Parteizentrale, das am selben Tage abgesandt wurde, übernahm Chiang zur Überraschung der Adressaten in Nanking Teile des Programms der Opposition: „ . . . Chung-cheng (Chiang meint sich selbst, d. Verf.) ist der Auffassung, daß es jetzt das Wichtigste sei, so früh wie möglich den IV. Parteikongreß einzuberufen, um Daten für den Zusammentritt des Nationalkonvents und die Verabschiedung einer endgültigen Verfassung (Hsien-fa) festzulegen. Nodi ehe diese endgültige Verfassung verabschiedet wird, in der Periode der Erziehungsdiktatur, sollten wir ein Grundgesetz (Yüeh-fa) benutzen . . . Nach diesem Kampf sind die Militärmachthaber geschlagen, die Bürokraten, rebellischen Minister, Politiker und korrupten Elemente haben keine Möglichkeit zum Aufstand m e h r . . . Deshalb ist es jetzt möglich, das Land zu einigen und die Gesellschaft zu ordnen. Es ist zugleich möglich und auch unbedingt notwendig, daß ein Nationalkonvent einberufen w i r d . . . Auf dem Nationalkonvent muß ein Grundgesetz beraten und verabschiedet werden . . .120."

Hu Han-min, der während des Krieges in Nanking die Politik der Nationalregierung maßgeblich bestimmt hatte, befürchtete — gewiß nicht zu Unredit —, daß dieses Telegramm eine Annäherung Chiangs an den linken Flügel der KMT einleiten könnte. Trotz aller persönlichen Rivalität zwischen Chiang und Wang verband die Führer der Linken und des Zentrums der Partei ihr gemeinsames Interesse an einer Zentralisierung der Herrschaftsordnung und an weitergehenden sozialen Reformen, als Hu und der rechte Flügel einzuleiten bereit waren. Die Koalition Wangs mit der „Westberggruppe", den Regionalmachthabern und Anhängern der alten Zentralregierungen der ersten Republik hatte wenig Aussicht auf Bestand, sobald in der vereinigten Opposition innenpolitische Fragen die gemeinsame Gegnerschaft gegen Chiang überschatten würden. An118

119 120

So: „The Editor of the Peking and Tientsin Times", „Chains", in: „The People's Tribune", Peking, Bd. I, Nr. 1 vom März 1931, p. 7. Diese „People's Tribune" war — im Gegensatz zu der Tageszeitung gleichen Namens in Wuhan im Jahre 1927 — eine Monatsschrift, die in englischer Sprache als Organ des linken Flügels der KMT in vier Folgen vom März bis zum Juni/Juli 1931 erschien, zuerst in Peking, dann ab Mai in Kanton. China Year Book, (1931—32), p. 523. Telegramm Chiangs an die Mitglieder des ZEK in Nanking, vom 3. 10. 1930, im Wortlaut bei: Lei, op. cit., p. 179 f.

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VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

dererseits mußte Hu damit rechnen, daß eine ähnliche Differenzierung zwischen seinen konservativen Anhängern und den Militärs, jungen Politikern und Administratoren aus der Gefolgschaft Chiangs eintreten könne, sobald die Probleme des politischen und sozio-ökonomischen Aufbaus in den Mittelpunkt der Nankinger Diskussion träten. Hus Stellung in der Parteiführung schien ihm zu jener Zeit aber noch stark genug, um eine Annäherung zwischen Chiang und der Linken zu verhindern. Um dies zu erreichen, berief er sich auf die Autorität der Parteiführung gegenüber Chiang, der sein Telegramm als ein einzelnes Mitglied des ZEK verfaßt hatte. Hu untersagte zunächst die Veröffentlichung des Telegramms in Nanking, und er war außerordentlich verärgert, als Chiang daraufhin, ohne Nanking vorher zu informieren, am 6. Oktober den Text seiner Botschaft in K'aifeng der Presse übergab. Gleich nach der Rückkehr Chiangs nach Nanking am 10. Oktober kam es zu einem ersten Zusammenstoß zwischen den beiden nationalistischen Führern. Der Präsident des Legislativyüans wandte sich mit Entschiedenheit gegen den Vorschlag, ein Grundgesetz verabschieden zu lassen. Dies sei, so meinte Hu, in der Periode der Erziehungsdiktatur nicht nötig; denn in dieser Zeit vertrete die KMT das Volk, und ihre Statuten und Beschlüsse reichten aus121. Dennoch gelang es Chiang, die Einberufung des 4. Plenums des III. ZEK der KMT auf den 12. November nach Nanking durchzusetzen. Eine Plenarsitzung war schon deshalb notwendig geworden, weil nach dem Tode des bisherigen Präsidenten des Exekutivyüans, T'an Yen-k'ai, am 22. September122 dieses Amt neu besetzt werden mußte und zugleich eine Reorganisation der Nationalregierung geraten schien. Die Beschlüsse des 4. Plenums bestätigten die dominierende Position Chiangs in Nanking. Das Plenum wählte ihn nicht nur wiederum zum Vorsitzenden der Nationalregierung, sondern es berief ihn jetzt auch zum Präsidenten des Exekutivyüans. Sein Stellvertreter in diesem Amt wurde sein Schwager, der Finanzminister Sung Tzu-wen. Der Nationalregierungsrat (Kuo-min cheng-fu wei-yüan-hui) wurde auf zeremonielle Funktionen beschränkt, als „Staatsrat" (Kuo-wu hui-i) sollte fortan die Versammlung der Minister und Kommissionsvorsitzenden des Exekutivyüans fungieren. Die Vereinigung des Landwirtschaftsministeriums mit dem Ministerium für Handel und Industrie zu einem „Ministerium für Industrien" (Shih-yeh pu) wurde bestätigt und das Gesundheitsministerium 121

ibid., p. 181.

u. a.: CYJP vom 23. 9. 1930.

Der Konflikt zwischen Chiang und Hu

Han-min

351

in das Innenministerium eingegliedert. Chang Ching-chiang, Wang Pechün und Wang Cheng-t'ing schieden aus dem Nationalregierungsrat aus, in den Chu P'ei-te, Yü Yu-jen, Chang Tso-hsiang und Wang Shu-han als neue Mitglieder eintraten. Anstelle von Ts'ai Yüan-p'ei, den man zum Präsidenten der neuerrichteten „Academia Sinica" (Chung-yang yen-chiu yüan) berief, übernahm Yü Yu-jen die Präsidentschaft des Kontrollyüans, der — ebenso wie der Prüfungsyüan — jetzt endgültig organisiert werden sollte123. Am 4. Dezember ernannte Chiang sein Kabinett. Außenminister Wang Cheng-t'ing, Heeresminister H o Ying-ch'in, Marineminister Yang Shu-chuang, Finanzminister Sung Tzu-wen, Industrieminister K'ung Hsiang-hsi, Verkehrsminister Wang Pe-chün und Eisenbahnminister Sun K'e blieben im Amt, an die Stelle des bisherigen Erziehungsministers Chiang Meng-lin, der das Rektorat der „Pei-ta" übernahm, trat ein Mitarbeiter Chang Hsüeh-liangs, der Rektor der Technischen Hochschule von Harbin, Liu Che, ein weiterer Vertreter Tungpeis, Liu Shang-ch'ing, wurde Innenminister, der bisherige Gesundheitsminister Liu Jui-heng trat an die Spitze einer „Kommission zur Bekämpfung des Opiumgenusses"124. Am 18. Oktober hatte Chiang in einem Zirkulartelegramm der Öffentlichkeit bekanntgegeben, daß die „völlige Liquidierung des Kommunismus und des Banditentums", die Neuordnung des Finanzwesens, die Schaffung einer „gesunden und leistungsfähigen Verwaltung", die wirtschaftliche Entwicklung Chinas und die Förderung der lokalen Selbstverwaltung wichtigste Aufgaben der Regierung nach der Beendigung des Bürgerkrieges seien125. Das 4. Plenum folgte diesen Richtlinien, indem es die Formulierungen Chiangs nahezu wörtlich in seine Beschlüsse übernahm, was bis dahin nur bei Botschaften Sun Yat-sens üblich gewesen war. Auf Antrag Chiangs und Sung Tzu-wens beschloß es außerdem, mit Wirkung vom 1. Januar 1931 den Binnenzoll des „li-chin" — eine der bedeutendsten Einnahmequellen der regionalen Machthaber — abzuschaffen und durch Konsumsteuern zu ersetzen, die an die NationalreResolution des 4. Plenums des III. ZEK der KMT über die Änderung des Organisationsstatuts und die Neuorganisation der Nationalregierung vom 18. 11. 1930, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao", selbes Datum. Eine Zusammenfassung dieser Besdilüsse in Englisch findet sich in: China Year Book, (1931—32), p. 524—526. Vgl. hierzu: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 735 f. 124 c Y j p u n d „Shen-pao" vom 5. 12. 1930. 125 Zirkulartelegramm Chiangs, „Uber die Aufgaben der Regierung nadi dem Kriege", in: CYJP und „Shen-pao" vom 18.10.1930. Auszüge in Englisch in: China Year Book, (1931—32), p. 523. Vgl. dazu audi: Tong, op. cit., p. 137 f.

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VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf

gegen die oppositionellen

Kräfte

gierung abgeführt werden sollten, eine Entscheidung, die zweifellos der Zentralisierung der Herrschaftsordnung diente126. Noch wichtiger aber war, daß das Plenum Chiangs Forderung, einen Nationalkonvent einzuberufen, Folge leistete. Der rechte Flügel stimmte diesem Besdiluß zögernd zu, versuchte jedoch, die Position des Vorsitzenden der Nationalregierung in anderer Weise zu schwächen. Nach dem Sieg über Yen, Feng und die Kuangsi-Gruppe hatte Chiang in neun Provinzen — Honan, Shantung, Kiangsu, Chekiang, Anhui, Hupei, Hunan, Kiangsi und Kuangtung — Generale seiner „Zentralarmee" oder Politiker aus seiner engsten Umgebung als Gouverneure einsetzen können, die jetzt einen erheblichen Teil Chinas für ihn verwalteten. Um die Stellung dieser Statthalter Chiangs auszuhöhlen, beantragten Hu und Sun K'e, einer Anregung Wu Ch'ao-shus aus Washington folgend, die Abschaffung der Einteilung Chinas in 18 große Provinzen und mehrere Nebenländer und deren Ersetzung durch über 70 Regierungsbezirke, die von Zivilbeamten unter der Kontrolle der Zentrale geleitet werden sollten. Da es Hu gelungen war, den Nankinger Verwaltungsapparat in erheblichem Maße mit seinen Anhängern zu durchsetzen, hätte die Annahme dieses Antrages seine Position gegenüber derjenigen Chiangs verstärkt. Die Debatte, die dem Vorschlag Hus folgte, endete jedoch mit einem ablehnenden Besdiluß127. Der Präsident des Legislativyüans sah sich in den nächsten Wochen außerdem gezwungen, unter dem Druck Chiangs Maßnahmen zuzustimmen, die den Zusammentritt des Nationalkonvents beschleunigen mußten: Am 24. November bildete der Ständige Ausschuß des ZEK eine Kommission unter dem Vorsitz Chiangs, die Pläne für die Wahl und Organisation des Konvents ausarbeiten sollte. In dieser Kommission saßen neben Chiang noch sieben seiner Anhänger, dagegen nur fünf Angehörige des rechten Flügels128. So scheiterten audi alle Versuche Hus, die Verabschiedung der notwendigen Bestimmungen hinauszuzögern. Schon am 1. Januar 1931 verkündete die Nationalregierung das Wahl129

127

128

Resolution des 4. Plenums des III. ZEK der K M T vom 16. 11. 1930, in: C Y J P v o m 1 7 . 1 1 . 1930. Vgl.: China Year Book, ibid. Stidrwortprotokoll des 4. Plenums des III. ZEK der K M T vom 12. bis zum 18. 11. 1930 (hier: Protokoll der Sitzungen am 12., 14. und 1 5 . 1 1 . 1 9 3 0 ) (KMT-Archiv). Vgl. dazu: Amann, Chiang, p. 193 f. Stenogr. Protokoll der 67. Sitzung des Ständigen Ausschusses des III. ZEK der K M T am 24. November 1930 (KMT-Archiv). Vgl.: China Year Book (1931—32), p. 526. Der Kommission gehörten außer Chiang und H u noch Sun K'e, Tai Chi-t'ao, Ch'en Kuo-fu, Yeh Ch'u-cheng, Yü Yu-jen, Ting Wei-fen, Wang Ch'ung-hui, Lin Sen, Lin Wen-fan, Chao Yi-t'ang und Chu P'ei-te an.

Der Konflikt zwischen Chiang und Hu Han-min

353

gesetz für den Konvent, der aus 520 Delegierten bestehen sollte, von denen 450 die Provinzen, 22 die Städte unter der unmittelbaren Verwaltung der Nationalregierung — Nanking, Shanghai, Peking, Wuhan, T'ienchin, Kanton, Ch'ingtao und Harbin —, zwölf die Mongolei, zehn Tibet und 26 die Auslandschinesen zu vertreten hatten (Art. 1—4 des Gesetzes). Als Wahlkörperschaften waren vorgesehen: Bauernverbände, „die in Ubereinstimmung mit Gesetz und Recht aufgebaut" worden waren; Gewerkschaften; Handelskammern und industrielle Organisationen; Erziehungsvereinigungen, Universitäten und Hochschulen sowie Organisationen der freien Berufe; und die KMT (Art. 5). Personen, die wegen „gegenrevolutionärer Tätigkeit" verurteilt oder gegen die Haftbefehle in Kraft waren, durften nicht zu Delegierten gewählt werden (Art. 8), im übrigen war die Wählbarkeit von der Dauer der Tätigkeit im jeweiligen Beruf abhängig, wobei man für die Bauern eine Mindestfrist von zehn, für alle anderen Berufsgruppen eine solche von fünf Jahren festsetzte (Art. 13)129. Dieses Wahlgesetz ließ der Parteiführung ohne Zweifel genügend Spielraum, um politische Gegner vom Nationalkonvent fernzuhalten. Dennoch stellt es den ersten Versuch dar, über den Kreis der KMT-Mitglieder hinaus auch Vertreter anderer Meinungsgruppen an der Beratung nationaler Fragen Chinas teilnehmen zu lassen. Dies hatte die nationalistisdie Einheitspartei seit der Reorganisation von 1924 nicht mehr unternommen. Hu Han-min, der seine Skepsis gegenüber der Einberufung des Konvents nicht verhehlte, betonte denn audi in einer Rede vor dem Legislativyüan am 10. Januar 1931, daß es die Aufgabe des Nationalkonvents sei, das Programm und die Politik der Partei „richtig zu verstehen und im Namen des Volkes anzunehmen". Der Konvent könne, so erklärte Hu, nur beraten und der Regierung Vorschläge unterbreiten, die politischen Entscheidungen sollten hingegen, wie es Sun Yat-sen in den „Grundsätzen des Nationalen Aufbaus" verlangt habe, bis zum Beginn der Periode des Verfassungsstaates in der Machtvollkommenheit der Parteigremien bleiben. Von dem Plan, daß der Konvent ein Grundgesetz verabschieden sollte, sagte der Präsident des Legislativyüans kein Wort 130 . 129

130

23

Wahlgesetz für den Nationalkonvent, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 1.1. 1931. Englische Übersetzung in: China Year Book, op. cit., p. 527 f. Rede H u Han-mins über das Wahlgesetz zum Nationalkonvent in der Sitzung des Legislativyüans am 10. Januar 1931, in: CYJP vom 1 1 . 1 . 1 9 3 1 . Domes

354

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

Zusammen mit dem Wahlgesetz für den Nationalkonvent verkündete die Nationalregierung am 1. Januar eine Amnestie für alle politischen Straftaten. Von ihr waren allerdings die Kommunisten und „Rädelsführer von Rebellionen" ausgenommen131. Chiangs ursprünglicher Plan, außer den Mitgliedern der K C T nur Yen Hsi-shan und Ch'en Ch'iungming von der Amnestie auszunehmen, scheiterte am Widerstand Hu Hanmins. So war es Hu gelungen, Chiang eine Möglichkeit zur Einigung mit Wang und anderen Führern des linken Flügels zu nehmen. Im gleichen Sinne wirkte auch ein von Hu vorbereitetes, außerordentlich rigoros gefaßtes „Notstandsgesetz über die Bestrafung von Personen, welche die Sicherheit der Republik gefährden", das am 2. Februar 1931 in Kraft gesetzt wurde. Dieses Gesetz sah die Todesstrafe für folgende Vergehen vor: „1. Störungen des öffentlichen Friedens; 2. Die Verschwörung mit fremden Mächten, um den öffentlichen Frieden zu stören; 3. Die Verschwörung oder Vereinigung mit Rebellen, um den öffentlichen Frieden zu stören; 4. Die Aufforderung an die Streitkräfte, ihre Disziplin zu brechen, ihre Pflichten zu vernachlässigen oder mit Rebellen zusammenzuarbeiten (Art. 1)."

„Aufrührerische Propaganda durch Schrift, Bild oder das gesprochene Wort" wurde mit dem Tode oder lebenslänglicher Haft bedroht (Art. 2), das Verbergen von „Rebellen" mit mindestens fünf Jahren (Art. 4), die „Organisation von Vereinigungen... und die Verkündung politischer Lehren, die den Drei Grundlehren vom Volk widersprechen", mit 5 bis 15 Jahren Gefängnis (Art. 6). In allen Gebieten, die unter Kriegsrecht standen — das waren damals vor allem Bezirke, in denen kommunistische Partisanen kämpften — wurden Militärgerichte mit der Durchführung dieses Gesetzes betraut (Art. 8)132. Das „Notstandsgesetz" stieß in der öffentlichen Meinung und an den Universitäten Chinas auf heftige Kritik, und diskreditierte so die Nationalregierung in den Augen bedeutsamer Teile der Bevölkerung. Ein weiterer Konflikt zwischen den beiden Parteiführern entzündete sich an den in der Nationalregierung diskutierten Plänen für eine Wäh151

132

Richtlinien für eine Amnestie für politische Verbrechen, vom 1. 1. 1931, in: KMWH, Bd. X X I V , p. 654. Auszüge aus der Rede Chiangs vor Mitgliedern des Legislativyüans am 4. März 1931 in englischer Übersetzung, in: China Year Book, op. cit., p. 529. Vgl.: Lei, op. cit., p. 196. „Notstandsgesetz für die Bestrafung von Personen, welche die Sicherheit der Republik gefährden", in: KMWH, Bd. X X I V , p. 656 f., Englisch in: „The People's Tribune", op. cit., p. 11—14. Vgl. dazu die kritischen Stellungnahmen: ibid., p. 10 und 15—19.

Der Konflikt

zwischen Chiang und Hu

Han-min

355

rungsreform. In China waren bis dahin die verschiedensten Währungen im Umlauf, die übereinstimmend auf der Silberbasis beruhten. Die Silberpreise fielen jedoch seit 1927 auf dem Weltmarkt so stark, daß sich eine bedrohliche Situation entwickelte. So sank der Preis für den „Tael" — eine chinesische Unze (Liang) Silber — in Shanghai von 2 s 8 d im Durchschnitt des Jahres 1927 auf 1 s 3 d im Januar und 1 s 2 d im Februar 1931133. Dies führte dazu, daß China seine in Goldwährung zahlbaren Auslandsverpflichtungen kaum noch erfüllen konnte. Die NankingShanghai-Bahn sah sich ζ. B. genötigt, ihren Schuldendienst im Februar 1931 einzustellen134. Den Vorschlägen einer Expertenkommission unter der Leitung des Amerikaners E. W. Kemmerer folgend, wollte der Finanzminister Sung Tzu-wen eine einheitliche Goldwährung mit einer Parität von 2,50 Yüan zu 1 US-Dollar einführen 135 . Zur Stützung seiner Währungsreform verhandelte er über eine vom Völkerbund aufzulegende Anleihe in Höhe von 100 Millionen £, die durch Zolleinkünfte und Uberschüsse der Eisenbahnen gesichert werden sollte. Der konservative Nationalist Hu lehnte dies jedoch entschieden ab, ebenso die Aufgabe des Silberstandards, weil sie „Chinas Traditionen" nicht entspreche. Statt dessen versuchte H u vergeblich, eine Anleihe in Höhe von einer Milliarde Unzen aus den Silberüberschüssen der USA als Stützungskredit für die bestehende Währung zu gewinnen136. Obgleich dies scheiterte, gelang es ihm doch, den Abschluß der Völkerbundsanleihe zu verhindern. Chiang, der Sungs Pläne gut hieß, war hierüber tief verärgert. Er nahm jetzt unmittelbaren Kontakt mit dem linken Flügel der KMT auf. Mitte Februar kehrte Ch'en Yu-jen nach Nanking zurück und wurde mehrmals von dem Vorsitzenden der Nationalregierung empfangen 137 . Gegen Ende Februar hatten sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Parteiführern in Nanking so verschärft, daß der Konflikt offen zum Ausbruch kam. Auf einer Konferenz am 24. Februar, an der außer Chiang und Hu noch Tai Chi-t'ao, Wu Chih-hui und Chang Ch'ün*, einer der engsten Freunde Chiangs, teilnahmen, polemisierte Hu noch einmal leidenschaftlich gegen die Verabschiedung eines Grundgesetzes. Chiang sah sich veranlaßt, vorübergehend nachzugeben und verzichtete deshalb zunächst auf seinen Plan, dem Nationalkonvent den Entwurf eines Grund133 134 135

136 137

23*

China Year Book (1931—32), p. 406 f. Amann, Chiang, p. 196. Eine Zusammenfassung des „Kemmerer-Benchts" findet sich in: China Year Book, (1931—32), p. 391—393. „The People's Tribune", ibid., p. 24 f. und: Nr. 2 vom April 1931, p. 54 ff. ibid., p. 59.

356

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf

gegen die oppositionellen

Kräfte

gesetzes vorzulegen138. Zugleich bereitete er jedoch offenbar einen entscheidenden Schlag gegen die Opposition des rechten Flügels vor. Am Abend des 28. Februar nahm Hu an einem Essen in Chiangs Wohnung teil. Chiang ließ Hu bei dessen Ankunft einen Brief überreichen, in dem er den Rücktritt des Präsidenten des Legislativyüans forderte. Hu wurde von Chiang unter Hausarrest gestellt und erklärte in den frühen Morgenstunden des 1. März seinen Rücktritt von allen Regierungsämtern 139 . Am nächsten Tage ließ Chiang Hu in den Badeort T'angshan bringen. Gleichzeitig beschloß der Ständige Ausschuß des 2EK jetzt auf Antrag Chiangs, vom Nationalkonvent doch ein Grundgesetz verabschieden zu lassen. Lin Sen wurde zum Präsidenten des Legislativyüans berufen, Shao Yüan-ch'ung trat an Stelle von Hu in den Nationalregierungsrat ein140. Die überraschende Aktion Chiangs stieß auf heftigen Widerspruch in den Führungsgremien der Partei. In Nanking gingen Gerüchte um, wonach Hu ermordet werden solle und Chiang sich vom Nationalkonvent zum „Präsidenten der Republik" mit diktatorischen Vollmachten wählen lassen wolle. Er mußte diesen Gerüchten energisch entgegentreten und bemühte sich, in drei Reden — am 3. und 9. März in der Parteizentrale und am 4. März vor Mitgliedern des Legislativyüans — seinen Staatsstreich zu verteidigen. Schließlich fand er sich dazu bereit, Hu am 8. März die Rückkehr nach Nanking zu gestatten. Dieser blieb jedoch weiter unter Hausarrest 141 . Zwischen Chiang und Hu hatte sich ein erhebliches Maß an Konfliktstoff angesammelt. Die Auseinandersetzung um das Grundgesetz, das Amnestiegesetz und die Währungsreform hatte nur den Anlaß zum Bruch gegeben. Der wirkliche Grund lag tiefer: Chiang hoffte seit Oktober 1930 auf eine Versöhnung mit Wang und die Wiederaufnahme seiner Zusammenarbeit mit dem linken Flügel. Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht. Nachdem am 18. Februar 1930 der Leiter des Shanghaier Büros der „Vereinigung der Reorganisationsgenossen", Wang Le-p'ing, von Anhängern der Nanking-Regierung aus 138

139

Aufzeichnungen H u Han-mins über seinen Konflikt mit Chiang, wörtlich wiedergegeben bei: Lei, op. cit., p. 181—194 (hier: p. 181). ibid., p. 185—193. Vgl. hierzu: „The Coup d'Etat at N a n k i n g — T h e Inner History of H u Han-mins Dismissal and Detention", in: „The Peoples Tribune", ibid., p. 62 bis 65; Tong, op. cit., p. 138; Amann, Chiang, p. 198 f.; und: China Year Book, (1931—32), p. 528—530.

140

Stenogr. Protokoll der 83. Sitzung des Ständigen Ausschusses des III. ZEK der K M T am 2. März 1931 (KMT-Archiv). Vgl.: C Y J P v o m 3 . 3 . 1931; und: Lei, op. cit., p. 194 f.

141

Vgl. Lei, op. cit., p. 195 ff.; und: China Year Book, ibid.

Der kommunistische

Partisanenkrieg

in Südchina, 1928 bis 1931

357

der französischen Konzession entführt und ermordet worden war, wuchs die Verbitterung über Chiang beim linken Flügel der KMT außerordentlich stark an142. Im Winter 1930/31 entwickelte sich eine mit großer Leidenschaft geführte Presse-Kampagne der Linken gegen den Regierungsstil und die Herrschaftsmethoden Chiangs. Die wesentlichsten Organe dieser Kampagne waren die in englischer Sprache in T'ienchin erscheinende Monatszeitschrift „The People' Tribune", die Shanghaier Wochenzeitung „Kung-sheng" und die Tageszeitung „Jen-min jih-pao" in T'ienchin. Diese sah sich genötigt, unter dem Druck Nankings am 1. Februar ihr Erscheinen einzustellen. Auch sonst nahm der Umfang der repressiven Maßnahmen Chiangs gegen oppositionelle Kräfte im Februar und März 1931 von Tag zu Tag zu. Die Zahl der Verhaftungen wuchs, die politische Polizei baute ihr Spitzelsystem aus. Chiang war es gelungen, die militärische Kontrolle über das Land erheblich zu verstärken. Streitkräfte, die einen Waffengang mit Nanking wagen konnten, gab es seit dem Bürgerkrieg im Jahre 1930 kaum noch. Die politische Opposition aber wuchs weiter. Sie sammelte sich zunächst um die Kuangsi-Gruppe, der es gelungen war, ihre Heimatprovinz zu halten. Li Tsung-jen wies am 3. März Gerüchte zurück, die davon sprachen, daß er mit Pai Ch'ung-hsi ins Ausland gehen wolle, und verhinderte die Wahl der Delegierten zum Nationalkonvent in Kuangsi143. Der Sturz Hus brachte jetzt auch dessen Freunde gegen Chiang auf. Als erster verließ Anfang April das Mitglied der 2KK Ku Ying-fen die Hauptstadt und ging nach Kanton. Am 30. April begaben sich Sun K'e und Wang Ch'ung-hui nadi Shanghai, und Sun erklärte sich, sobald er in der „Internationalen Siedlung" Asyl gefunden hatte, offen gegen die Nanking-Regierung. So bildete sich eine neue Koalition aller Oppositionsgruppen heraus, an der sich jetzt auch der Kreis um Hu Han-min beteiligte. Sie führte — wie wir sehen werden — schließlich dazu, daß Chiang trotz seiner militärischen Erfolge in den Bürgerkriegen der Jahre 1929 und 1930 gestürzt wurde.

Der kommunistische Partisanenkrieg in Südchina, 1928 bis 1931 Der Zusammenbruch der „Kanton-Kommune" im Dezember 1927 hatte die KCT ihrer letzten Basis in China beraubt. Während Mao 142 Vgl. hierzu: T'ang, Revolution, p. 362 und Widmungsblatt. 143

Telegramm Li Tsung-jens an T'ang Leang-li (?, d. Verf.) aus Nanning vom 3. 3. 1931, Englisch in: „The People's Tribune", ibid., p. 58 f.

358

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf

gegen die oppositionellen

Kräfte

Tse-tung und Chu Te im Bergland an der Grenze zwischen Kiangsi und Hunan mit dem Aufbau einer Partisanenarmee begannen, sah sich die offizielle Parteiführung der K C T genötigt, zeitweilig nach Moskau ins Exil zu gehen. Dort fand zwischen Juli und September 1928 der VI. Parteitag statt. Der Parteitag mußte versuchen, die Folgerungen aus dem Debakel von 1927 zu ziehen. Gleichzeitig sollte er jedoch die immer noch gültige Generallinie der Komintern vertreten. So blieb für ihn die chinesische Revolution auch weiterhin eine „bürgerlich-demokratische, nationale Revolution" — Trotzki durfte auf keinen Fall nachträglich Recht bekommen! Dennoch bedeuteten die Beschlüsse der Konferenz eine grundlegende Änderung in der Politik der KCT. Dies fand seinen Ausdruck vor allem darin, daß man jetzt die Errichtung eines Rätesystems in China forderte, für das man noch ein Jahr zuvor keine Voraussetzungen gegeben sah. Die vom Parteitag verabschiedete „politische Resolution" rief zum Aufstand auf 144 . Trotz revolutionärer Kampfparolen stellte der Parteitag aber fest, die „revolutionäre Hochflut" sei abgeflaut und man müsse behutsam vorgehen, bis eine neue revolutionäre Welle herankomme. Zwar wurde Ch'en Tu-hsiu mit scharfen Worten wegen seines „Opportunismus" gegeißelt, doch man verurteilte auch den amtierenden Generalsekretär Ch'ü Ch'iupai wegen seines „blinden Drauflosschlagens" und setzte ihn ab145. Der Arbeiterführer Hsiang Chung-fa wurde zum neuen Generalsekretär berufen, Chou En-lai übernahm die Leitung der Organisationsabteilung und Liu Shao-ch'i diejenige der Arbeiterabteilung des ZK. An die Spitze der Propagandaabteilung aber trat Li Li-san, in den folgenden zwei Jahren der tatsächliche Führer der Partei. Sein Machtanstieg begann zu einer Zeit, als die Weltwirtschaftskrise ihre Schatten über Amerika und Europa warf. In allen Industrieländern mehrte sich die Zahl der Arbeitslosen, vielfach errangen kommunistische Parteien und Gruppen Wahlerfolge. Auch in China wurde die Not der Industriearbeiterschaft größer, und auf dem Lande breitete sich die Rätebewegung weiter aus. Diese Situation erschien Li Li-san als günstig. Ermutigt durch radikale Beschlüsse des 2. Plenums des VI. ZK der K C T im Juni 1929, ging er daran, eine 144

145

„Politische Resolution" (vom 9 . 7 . 1928), in: Chung-kuo kung-ch'an-tang ti-liu-tz'u ch'üan-kuo tai-piao ta-hui i-chiieh-an (Resolutionen des VI. Parteitages der K C T ) , Moskau 1928, p. 38 ff.; auch in: KCT-Dokumente, Bd. II, p. 8—36. Deutsch in gekürzter Fassung bei: BSF, op. cit., D o k u m e n t 11, p. 99—113. ibid., p. 101 und 105 f.

Der kommunistische Partisanenkrieg in Südchina, 1928 bis 1931

359

Erneuerung und Erweiterung der kommunistischen Revolution in China vorzubereiten146. Dabei fand er Unterstützung aus Moskau, wo sich Stalin jetzt gegen den rechten Flügel der KPdSU wandte. Li glaubte, daß die Zeit gekommen sei, um die chinesische Revolution zum Siege zu führen, und er entwickelte dafür einen Aktionsplan: Mit Hilfe von Streitkräften der Rätebewegung sollte die Hauptstadt einer Provinz erobert und diese Provinz zur revolutionären Basis ausgebaut werden. Sobald dies erreicht sein würde, sollte das industrielle Proletariat in den Küstenstädten zum Aufstand bewogen werden, in der Hoffnung, daß auf diese Weise ein Signal für die allgemeine Revolution gegeben werden könne. Die alten Führer der Partei aus der Periode des Bündnisses mit der KMT wandten sich unter Ch'en Tu-hsius Führung mit Entschiedenheit gegen die Pläne Lis. Im September 1929 organisierten sie in Shanghai eine Oppositionskonferenz, auf der die Freiheit der Diskussion in der Partei und größere Selbständigkeit der K C T gegenüber der Komintern gefordert wurden 147 . Es gelang Li jedodi, sich gegen ihren Widerstand durchzusetzen: Am 15. November 1929 wurden Ch'en Tu-hsiu und seine Anhänger aus der K C T ausgeschlossen148. So schien Lis Stellung in der offiziellen Führung der K C T um die Jahreswende 1929/30 unangefochten zu sein. Dies änderte sich aber, als im Mai 1930 unter der Führung des neuen Kominternvertreters Pawel Mif 28 ehemalige Studenten der Moskauer „Sun-Yat-sen-Universität" in China eintrafen. Unter ihnen befanden sich Ch'en Shao-yü (Wang Ming), Chang Wen-t'ien (Lo Fu) und Ch'in Pang-hsien (Po Ku), die in den folgenden Jahren die Parteiführung maßgeblich bestimmen sollten. Diese Gruppe der „28 Bolschewiken" (chineChung-kung diung-yang ti-erh-tz'u ch'iian-t'i hui-i tsai-liao (Materialien des 2. Plenums des Z K der KCT), Moskau 1929, p. 29 und 77. Vgl. dazu u. a.: Schwartz, op. cit., p. 133 ff. 147 Vgl.: Chung-kuo Kung-ch'an-tang diih t'ou-shih (Hinter den Kulissen der KCT), hrsg. von der Zentralen Organisationsabteilung der K M T 1935, 2. Aufl. T'aipei 1962 (hinfort: Chung-kuo K C T . . . ) , p. 411 f. und Schwartz, op. cit., p. 145—148.

148

148

Ch'en Tu-hsiu, Kao Ch'üan-tang . . . , op. cit., passim. Der Kreis um Ch'en hielt dann im Januar 1931 zusammen mit anderen Oppositionsgruppen in Shanghai eine Konferenz ab, auf der — im Einverständnis mit Trotzki, der damals schon die UdSSR verlassen hatte — ein eigenes Z K errichtet wurde. Ch'en Tu-hsiu, P'eng Shuchih, L o Chang-lung und andere Oppositionsführer gehörten ihm an. Am 15. Oktober 1932 gelang es, anscheinend nicht ohne die Hilfe von Informationen aus der K C T , der Polizei, das Z K der KCT-Opposition in Shanghai auszuheben. Ch'en und P'eng wurden verhaftet und eingekerkert. Erst nach dem Ausbrudi des Krieges gegen Japan ließ man sie frei.

360

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

sisch: „Liu-e p'ai", d. h. Fraktion der Studenten aus Rußland) glaubte, nach dem intensiven Studium im Zentrum des Weltkommunismus besser als Li zur Führung der chinesischen Revolution geeignet zu sein. Sie wollte die Organisation der Partei in den Städten und den von der KMT kontrollierten Landgebieten langsam aufbauen, eine günstigere revolutionäre Situation abwarten und sich bis dahin unbedingt an die Anweisungen der Komintern halten 149 . Die „28 Bolschewiken" verstanden es, ihre Chance zu nutzen, als Li Li-san im Sommer 1930 mit seiner Politik des bewaffneten Aufstandes einen schweren Rückschlag erlitt. Gegen den Widerstand Ch'en Shao-yüs hatte dieser am 11. Juni einen Brief des Politbüros an alle Mitglieder der KCT durchgesetzt, in dem seine Theorie von der „Neuen revolutionären Flut" näher ausgeführt und zum Aufstand in „einer oder mehreren Provinzen" aufgerufen wurde 150 . Dies ging weit über die Vorstellungen der Komintern hinaus, die dennoch am 23. Juli in einem Brief des EKKI an die Führung der K C T erklärte, daß „nach den politischen und militärischen Gegebenheiten in Zukunft ein oder mehrere politische oder industrielle Zentren besetzt werden sollten"151. Um die gleiche Zeit hielt Li offenbar die Lage für günstig genug, um den ersten Schlag zu wagen. Während die Schlacht in Zentral-Honan die Kräfte der Regierungstruppen absorbierte, griffen am 27. Juli kommunistische Partisanenverbände auf seinen Befehl hin die Hauptstadt Hunans, Ch'angsha, an. Es gelang ihnen zunächst, sich in den Besitz der Stadt zu setzen, aber am 3. August eröffnete H o Ying-ch'in mit Eliteeinheiten der „Zentralarmee" den Gegenangriff, und sdion zwei Tage später wurden die Kommunisten wieder aus der Stadt vertrieben 152 . Lis Plan war fehlgeschlagen, und sein Mißerfolg führte dazu, daß sich jetzt die „28 Bolschewiken" vollends in der Partei durchsetzten. Schon auf dem 3. Plenum des VI. ZK der K C T wurde er wegen seiner „putschistischen, linksopportunistischen" Politik gemaßregelt und gezwungen, ein „Selbstbekenntnis" abzulegen. Am 149

Vgl. Schwartz, op. cit., p. 148 ff. „Eine neue revolutionäre Flut und der einleitende Sieg in einer oder mehreren Provinzen" (Brief des Politbüros der KCT an alle Parteimitglieder vom 11. 6.1930), in: „Hung-ch'i" (Rote Fahne) vom 19. 7. 1930. Vgl. Schwartz, op. cit., p. 141 ff. und 150. 151 Diskutiert bei: Hsiao Tso-liang, Power Relations within the Chinese Communist Movement 1930—34, Seattle 1962, p. 28—31. 15! y g ] d a z u : γ ; Yüeh, „Erinnerung an zehn Tage in Ch'angsha", in: „Kuo-wen dioupao" vom 1. 9., 17. und 2 4 . 1 1 . 1 9 3 0 ; auch in: KMWH, Bd. X X V , p. 54—82; KMTChronik, Bd. I, p. 580 f.; und: John E. Rue, Mao Tse-tung in Opposition 1927— 1935, Stanford 1866, p. 215 ff. 130

Der kommunistisdhe

Partisanenkrieg

in Südchina, 1928 bis 1931

361

16. November schaltete sich dann die Komintern ein und veranlaßte durch einen Brief an das Politbüro der K C T den Sturz Lis, der auf dem 4. Plenum des VI. ZK in Shanghai im Januar 1931 endgültig vollzogen wurde. Obgleich Hsiang Chung-fa das Amt des Generalsekretärs offiziell noch behielt, übernahm Ch'en Shao-yü jetzt praktisch bereits die Führung der Partei 153 . Er bemühte sich darum, die Arbeit in den Städten zu intensivieren, wo die Kommunisten in den Jahren 1931 und 1932 eine große Anzahl von Streiks organisierten. Doch gerade hier erlitten sie schwere Niederlagen. Am 7. Februar 1931 gelang es der Politischen Polizei Chiangs, den Arbeiterführer H o Meng-hsiung mit 22 Mitarbeitern in Shanghai zu verhaften, alle wurden hingerichtet154. Das gleiche Schicksal traf am 21. Juni auch den Generalsekretär Hsiang Chung-fa 155 . Uber die Beurteilung dieser Phase der Geschichte der K C T ist seit 1960 in der amerikanischen Wissenschaft eine Kontroverse entstanden. Während Schwartz die Auffassung vertritt, nur die Rätebewegung Mao Tse-tungs habe in jenen Jahren unabhängig von der Komintern gehandelt, wollen Wittfogel und Hsiao Tso-liang nachweisen, daß Mao sich nicht in direkten Gegensatz zur Kominternlinie gestellt habe. Dies sei, so meinen sie, eher bei Li Li-san der Fall gewesen156. Im Rahmen dieser Studie kann auf die Zusammenhänge im einzelnen nicht eingegangen werden. Es hat jedoch den Anschein, als sei die These von der unabhängigen Politik Lis ebenso berechtigt, wie diejenige von der politischen Selbständigkeit Maos. Auch Li scheint im Sommer 1930 tatsächlich selbständig gehandelt zu haben. Offenbar vertraten nur die „28 Bolschewiken" eindeutig die Linie Moskaus. Während so die Politik der offiziellen Parteiführung in den Städten im wesentlichen erfolglos blieb, gelang es Mao Tse-tung mit seinen Partisanen in Südchina, die Stellung der K C T wieder so zu verstärken, daß sie im Jahre 1931 von neuem als ernst zu nehmende politische Kraft in China auftreten konnte. Die Reste der Truppen Chu Tes und der Milizen des „Herbsternteaufstandes" aus Hunan hatten sich im Frühjahr 1928 am Chingkangshan vereinigt und dort das „4. Armeekorps der Roten Arbeiter- und Bauernarmee" gebildet, das etwa 10.000 Mann umfaßte. Am 155 154 155 158

Vgl. Schwartz, op. cit., p. 156—167. Li Ang, op. cit., p. 140 f. Vgl. hierzu: Schwartz, op. cit., p. 166. Vgl.: Chung-kuo KCT . . . , p. 317—319. Vgl. dazu u.a.: ibid., p. 73—78 und 181—183; Sdiram, op. cit., p. 32, 34 f., 308 und 311; Wittfogel, „The Legend of Maoism", op. cit., passim; Hsiao, op. cit., p. 34 f.; und: Rue, op. cit., p. 155—158.

362

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

21.Juli 1928 erhoben sich in P'ingchiang, Hunan, Einheiten der Provinzarmee und Bauern unter der Führung von P'eng Te-huai. Sie errichteten dort eine Räte Verwaltung und begannen als „5. Rotes Armeekorps" den Partisanenkampf. Im Spätsommer 1928 brach in Nord-Shensi ein kommunistischer Aufstand unter der Führung von Liu Chih-tan und Kao Kang aus, Ende Oktober gründete Ho Lung einen Rätebezirk in Hupei und am 13. Januar 1929 verließen Mao und Chu den Chingkangshan und fielen in den Süden der Provinz Kiangsi ein, wo sie im August in mehreren Bezirken eine Räteverwaltung aufbauten157. Angriffe der Provinztruppen von Kiangsi und Hunan gegen die Rätebezirke blieben meist ohne Erfolg, bald breitete sich die Bewegung auch nach Anhui und im März 1930 nach West-Fukien aus. Mao Tse-tungs führende Stellung in der Rätebewegung war zu dieser Zeit durchaus noch nicht unbestritten. Nur in seiner Basis in Süd-Kiangsi hatte er sich im wesentlichen durchgesetzt, aber gerade hier geriet er Ende 1930 in große Gefahr 158 . Nachdem der Bürgerkrieg in Nordchina zu Ende gegangen war, gab Chiang seinen Truppen in Südchina den Befehl zu einem ersten „Vernicbtungsfeldzug" (Chiao-fei). Der Angriff, der von 30.000 Soldaten unter der Führung des Gouverneurs von Kiangsi, Lu T'i-p'ing, vorgetragen wurde, scheiterte zwar unter Verlust von mehr als 10.000 Mann an der mit großem Geschick geleiteten Verteidigung der Kommunisten, aber jetzt erhob sich innerhalb der Bewegung Opposition gegen Mao. Eine Gruppe von Bauernführern aus Kiangsi war mit der Mäßigung, deren er sich bei der Durchführung der Landreform befleißigte, nicht länger einverstanden. Mao ließ am 7. Dezember die Rädelsführer der Opposition verhaften und in der Landstadt Fut'ien einkerkern. Wenige Tage später bekamen sie jedoch Unterstützung aus der Roten Armee. Der Befehlshaber der „20. Division", Liu Ti-ch'ao, stürmte mit 400 Mann das Gefängnis in Fut'ien und befreite die Verhafteten. Dann aber gelang es Mao, sich die Unterstützung anderer Truppenverbände zu sichern und den Aufruhr niederzuschlagen159. Auch ein zweiter „Vernicbtungsfeldzug", der unter dem persönlichen Befehl Ho Ying-ch'ins mit etwa 100.000 Mann der Regierungstruppen im Februar 1931 von Nanch'ang aus gegen die kom157

Vgl. Cheng, op. cit., p. 193; Peter S. Η . Tang, Communist China Today, l . A u f l . New York 1957, p. 50 f.; Schwartz, op. cit., p. 1 3 5 — 1 4 0 ; und: Rue, op. cit., hier vor allem: p. 8 2 — 1 1 7 .

158 v g l .

z u

folgendem Absatz vor allem: ibid., p. 218 ff., Schwartz, op. cit., p. 175 bis

177; und: Tong, op. cit., p. 1 7 1 — 1 7 4 und Cheng, op. cit., p. 196. 159

Chang Kuo-t'ao, „Mao — A N e w Portrait by an Old Colleague", in: „The N e w Y o r k Times Magazine" vom 2. 8. 1953. Vgl. hierzu: Rue, op. cit., p. 1.

Der kommunistische Partisanenkrieg

in Südchina, 1928 bis 1931

363

munistische Basis in Süd-Kiangsi eingeleitet wurde, blieb nach geringen Anfangserfolgen stecken160. Im Mai und Juli gelang es den Kommunisten, sieben Landkreise im Süden von Kiangsi in ihre Hand zu bringen und in der Stadt Juichin eine Räteverwaltung zu errichten. Jetzt entschloß sich Chiang, obgleich durch die Vereinigung aller Oppositionsgruppen der K M T in Kanton ein neuer Bürgerkrieg drohte 161 , selbst den Befehl über einen dritten xVernichtungsfeldzug" zu übernehmen, der am 1. Juli begann und an dem über 200.000 Soldaten der „Zentralarmee" und der Provinztruppen von Kiangsi teilnahmen. Maos Partisanen gerieten dabei zunächst in arge Bedrängnis. A m 15. Juli fiel ihr Stützpunkt Kuangch'ang, und am 16. waren sie gezwungen, zeitweilig auch Juichin zu räumen und sich in Richtung auf die Grenze von Fukien zurückzuziehen 162 . Dann aber begann am 20. Juli General Shih Yu-san seinen Aufstand im Norden Chinas 163 , und Chiang hielt die Lage für so bedrohlich, daß er seinen Feldzug gegen die Kommunisten abbrach und die Elitedivisionen seiner Armee nach Honan verlegte. Der japanische Überfall auf Tungpei am 18. September 1931 machte eine Wiederaufnahme der Offensive gegen die Kommunisten vollends unmöglich, und diese benutzten die Gelegenheit, um die wenig kampfkräftigen Provinztruppen aus Juichin und anderen Bezirken in Süd-Kiangsi wieder zu vertreiben. Im Herbst 1931 waren in Kiangsi, Fukien, Anhui und den Grenzgebieten zwischen Hunan und Hupei, Hupei und Ssuch'uan sowie Honan und Anhui Rätegebiete entstanden, die zusammen nahezu 60 Millionen Einwohner zählten. Wesentlidie Basis blieb jedoch das „Zentrale Rätegebiet", zu dem über 30 Landkreise in Süd-Kiangsi, zehn in Südwest-Fukien, fünf in NordwestKuangtung sowie sieben in Ost-Hunan gehörten und dessen Einwohnerzahl bereits über 15 Millionen betrug. Hier traten am 7. November 1931 290 Delegierte der Rätegebiete in der Stadt Juichin zum „I. Allchinesischen Rätekongreß" (Ch'üan-kuo su-wei-ai tai-piao ta-hui) zusammen. Am 8. November proklamierte der Kongreß die „Chinesische Räte- (oder: Sowjet-)Republik" (Chung-hua su-wei-ai kung-he-kuo). Eine provisorische Verfassung wurde verabschiedet und ein Bodengesetz erlassen, das die Beschlagnahme des Landbesitzes der Honoratioren, Offiziere und Be180

Telegramme H o Ying-di'ins an die Nationalregierung vom 19. und 21. 3 . 1 9 3 1 , in: C Y J P vom 23. 3 . 1 9 3 1 . Vgl.: China Year Book, op. cit., p. 542 f.; und: KMT-Chronik, Bd. I, p. 595.

181

Siehe unten, Seite 439 ff.! Vgl.: KMT-Chronik, Bd. I, p. 601 ff.; und: China Year Book, ibid. Siehe unten, Seite 443 f.!

162 183

364

VIII. Kapitel:

Chiang Kai-sheks

Kampf gegen die oppositionellen

Kräfte

amten, der religiösen Institutionen und der Ahnenkult-Gemeinschaften und dessen Verteilung unter Kleinbauern, Landarbeiter und Soldaten vorsah164. Als zentrales Verwaltungsorgan wählte der Kongreß schließlich ein ZEK, dem unter dem Vorsitz Maos 61 Mitglieder angehörten. So hatte dieser audi formell die höchste Stellung in den Rätegebieten erreicht. Mit der Gründung der Räterepublik war die Stellung der K C T Ende 1931 im Lande wieder so gefestigt, daß diese für die KMT einen ernst zu nehmenden Gegner abgab. Ihre rund 250.000 Partisanen in SüdKiangsi stellten einen bedeutsamen Machtfaktor im Lande dar 165 , der für die Regierung um so bedrohlicher wirkte, als diese selbst mit der Opposition in der KMT zu kämpfen und zugleich der japanischen Aggression zu begegnen hatte.

1.4

1.5

Verfassung der Chinesischen Sowjetrepublik vom 7. November 1931; deutsche Obersetzung bei: BSF, op. cit., Dokument 17, p. 159—163; und: Bodengesetz der Räterepublik vom November 1931; in: „Hung-ch'i" (Rote Fahne) vom 10. 8. 1932. Deutsche Übersetzung: ibid., Dokument 18, p. 163—165. Vgl. dazu: Chung-kuo K C T . . . , p. 150—156; und: Tang, op. cit., p. 53. Chung-kuo KCT . . . , p. 267 ff.

IX. Kapitel Die Außenpolitik der Nationalregierung, 1928—31 Verhandlungen über die Revision der ungleichen Verträge Nur einen Tag nach dem Einmarsch der Soldaten der NRA in Peking, am 7. Juni 1928, veröffentlichte die Nationalregierung ein „Manifest an das Ausland". Darin erklärte sie, daß sie erwarte, mit den ausländischen Staaten, vor allem mit jenen, die Sonderrechte in China wahrnahmen, Verträge „auf der Grundlage unbedingter gegenseitiger Gleichberechtigung" abzuschließen. Zugleich forderte Nanking Japan auf, seine Truppen aus Chinan und von der Shantung-Bahn abzuziehen, Großbritannien sollte sein militärisches Engagement in Shanghai und im Yantzu-Tal beenden1. In den folgenden drei Jahren stellte die Revision der ungleichen Verträge das Hauptinteresse der nationalistischen Außenpolitik dar. Dabei verfolgte die KMT drei Ziele: die Wiederherstellung der chinesischen Zollhoheit; die Abschaffung der Sonderrechte ausländischer Staatsbürger in China; und die Rückgabe der „Internationalen Siedlungen" und ausländischen Konzessionen in den Vertragshäfen. Dies alles sollte jedoch nach der Vorstellung der Nankinger Führungsgruppe nidit durch einseitige Akte, sondern durch Verhandlungen mit den betroffenen Mächten erreicht werden. Hier entstand ein Gegensatz zum Programm des linken Flügels der KMT, der zwar auch den Verhandlungsweg vorzog, aber doch die einseitige Aufhebung der ausländischen Sonderrechte für den Fall anstrebte, daß solche Verhandlungen sich zu lange hinziehen oder gar scheitern sollten. Nanking hingegen wollte, wenn audi in der Sache kaum weniger entschieden, so doch in der Form konzilianter vorgehen. 1

Manifest der Nationalregierung an das Ausland vom 7 . 6 . 1928, in: KMWH, Bd. X X I , p. 1602 f. (audi: CYJP v. 12. 6. 1928).

366

IX. Kapitel:

Die Außenpolitik

der Nationalregierung,

1928 bis 1931

Die diplomatische Aktivität der Nationalregierung begann mit einer Zirkularnote vom 7. Juli 1928, in welcher der Außenminister Dr. Wang Cheng-t'ing den Mächten mitteilte, daß die Republik China alle inzwischen abgelaufenen Handels- und Sonderrechtsverträge als ungültig betrachte und neue Verträge auf der Grundlage der Gleichberechtigung abzuschließen bereit sei. Die noch gültigen Abkommen sollten „im Geiste größerer Fairneß" revidiert werden 2 . Als erstes Ziel der diplomatischen Offensive Chinas wählte man die Handelsverträge, weil sie meist Bestimmungen über die Festsetzung der Zollsätze enthielten. Die Wiedergewinnung der Zollhoheit aber war von größter Bedeutung für die Entwicklungspolitik der Regierung; denn unter den gegebenen Umständen konnte sich eine landeseigene Industrie kaum entfalten. Schon Mitte Juli 1928 machte der Finanzminister Sung Tzu-wen bei Gesprächen in Washington dem amerikanischen Handelsminister MacMurray das grundlegende chinesische Verhandlungsangebot: die Nationalregierung, so teilte er mit, sei zur Abschaffung der von den Ausländern als besonders lästig empfundenen Binnenzölle — des „li-chin" — bereit, wenn man ihr dafür die volle Zollhoheit zurückgäbe. Dies kostete Nanking wenig, war es doch selbst an der Ersetzung des „li-chin" durch Konsum- und Umsatzsteuern interessiert, die der Nationalregierung unmittelbar zugute kommen sollten. Es gelang Sung, am 25. Juli 1928 in den USA einen ersten Erfolg zu erringen: in einem Abkommen erkannte die USRegierung prinzipiell das Recht Chinas an, die Zollsätze selbst festzulegen. Aber hier erwies sich die „Meistbegünstigungsklausel" als hinderlich; denn sie gab den USA die Möglichkeit, ihre Anerkennung der chinesischen Zollhoheit an diejenige der „anderen interessierten Staaten" zu binden 3 . Dennoch war durch das chinesisch-amerikanische Abkommen das Eis gebrochen worden, und weitere Schritte Nankings folgten sofort. In den letzten beiden Monaten des Jahres 1928 wurde in neuen Handelsver2

Zirkularnote der Nationalregierung an die ausländischen Staaten vom 7. 7.1928, in: Chung-hua min-kuo wai-chiao kuan-hsi shih-liao (Materialien zu den auswärtigen Beziehungen der Republik China), 3 Bände, Nanking 1936, Bd. I, p. 14—19 (hinfort: Außenpol. Dokumente). Vgl. hierzu: Tong, op. cit., p. 168. Bei der Materialsammlung handelt es sich um eine keineswegs vollständige Dokumentation, die für den Gebrauch des „Zentralen Politischen Instituts" (Chung-yang cheng-diih hsüehhsiao) kompiliert wurde. Sie gibt die Dokumente nur in chinesischer Fassung und ist nicht in jedem Fall zuverlässig. Für die Zeit bis 1931 enthält sie jedoch manches Material, das sonst in der Sprache seiner Verfasser kaum zugänglich ist.

3

Vgl.: Chang Ch'i-yün, op. dt., Bd. II, p. 684—686.

Verhandlungen

über die Revision der ungleichen

Verträge

367

trägen mit Norwegen (12. November), den Niederlanden (17. Dezember) und Schweden (20. Dezember), sowie in einem Notenaustausch mit Frankreich (22. Dezember) von Wang Cheng-t'ing die Anerkennung des Grundsatzes der chinesischen Zollhoheit durchgesetzt4. Jetzt fand sich endlich auch Großbritannien zum Nachgeben gegenüber China bereit, was in der Tat noch größere Bedeutung hatte; denn zusammen mit den von ihm vertretenen Dominien und Kolonien stand es für etwa 35 % des chinesischen Imports und über 28 % des Exports ein5. Am 20. Dezember wurde ein neuer Handelsvertrag zwischen China und Großbritannien abgeschlossen, der dem Sung-MacMurray-Abkommen vom 25. Juli entsprach: London erkannte im Grundsatz Chinas Zollhoheit an, Nanking hingegen erklärte sich zur Abschaffung des „li-chin" bereit®. Gleiche Bestimmungen nahm man in eine Reihe anderer Verträge auf, die nicht nur reine Handelsabkommen waren, so mit Belgien (22. November), Italien (27.November),Dänemark (12.Dezember),Portugal ( ^ . D e zember) und Spanien (27. Dezember) 7 . Auch in dem auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung am 18. November 1929 mit Polen abgeschlossenen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag, der jedoch wegen der verzögerten polnischen Ratifizierung erst am 9. Juli 1931 in Kraft trat, wurde die chinesische Zollhoheit anerkannt 8 . Die größten Schwierigkeiten machte Japan, das ein erhebliches Interesse daran hatte, die chinesischen Einfuhrzölle niedrig zu halten, lieferte es doch — ebenso wie Großbritannien — rund 35 °/o des chinesischen Imports, während 29 % des Exports nach Japan gingen. Dies gab Frankreich Gelegenheit, ebenfalls seine vertragliche Bestätigung des Inhalts des Notenaustausche vom 22. Dezember 1928 zu verzögern. Doch im Juli 1929 wurde in Tokio das Kabinett Tanaka gestürzt. Die „Minseito"-Partei, die in scharfer Opposition zu Tanakas Chinapolitik gestanden hatte, bildete ein neues Kabinett unter Osachi Hamaguchi, in dem Baron Kijuro Shidehara — 1945 der erste Nachkriegspremier Japans — das Außenministerium übernahm 9 . Dieser vertrat gegenüber China eine wesentlich konziliantere Haltung als sein Vorgänger. So konnten endlich auch mit Tokio Verhandlungen beginnen, die nach zähem Tauziehen zum Erfolg führten. Am 12. März 1930 erkannte Japan die Zoll4 5 β 7 8 9

Außenpol. Dokumente, II, p. 49—83. Vgl. dazu: China Year Book 1931—32, p. 221. Vgl. ibid., p. 243—245. Außenpol. Dokumente, II, 89—126. Vgl. Tong, op. cit., p. 169. Vgl. China Year Book 1931—32, p. 228 ff. Englischer Text ibid., p. 258—260. Linebarger u. a., op. cit., p. 413 f. und 614.

368

IX. Kapitel:

Die Außenpolitik

der Nationalregierung,

1928 bis 1931

hoheit Chinas an, das Abkommen hierüber wurde am 6. Mai desselben Jahres ratifiziert, und am 16. Mai bestätigte schließlich auch Frankreich den Notenwechsel vom Dezember 192810. Damit war der Weg zur Zollhoheit freigekämpft: am 1. Januar 1931 traten die neuen, von der Nationalregierung selbst festgelegten Zollsätze in Kraft, die im Durchschnitt um 35 bis 50 °/o über den alten lagen und hinfort in sogenannten „Zoll-Goldeinheiten" im Werte von je 40 USCents bezahlt werden sollten, um so die negativen Wirkungen des Verfalls der Silberpreise abzufangen. Am selben Tage wurde auch der „li-chin" endgültig abgeschafft. Die alte, von Ausländern geleitete Seezollverwaltung — die „Chinese Maritime Customs" — blieb allerdings noch erhalten, sie unterstand jedoch fortan einem „Superintendenten", den der Finanzminister der Nationalregierung ernannte und der chinesischer Staatsangehöriger sein mußte 11 . Ein wesentlich schwierigeres Problem stellte die Abschaffung der Exterritorialität und Extrajurisdiktion dar. Im Gegensatz zur Zollfrage blieb Sung Tzu-wen hier bei seinen Verhandlungen in den USA im Juli 1928 zunächst erfolglos. Als größtes Hindernis erwies sich, daß es in China noch kein modernes, westlichen Rechtsprinzipien entsprechendes bürgerliches und Strafrecht gab. Diese Tatsache wurde von den Mächten, besonders von Großbritannien und den USA, als Vorwand benutzt, um die Aufgabe ihrer Sonderrechte so lange wie irgend möglich hinauszuschieben. Schon deshalb bemühte sich der Legislativyüan in Nanking seit dem Herbst 1928 intensiv, neue Gesetzbücher zu verabschieden, die als Voraussetzung für die Beseitigung von Exterritorialität und Extrajurisdiktion brauchbar waren 12 . Doch im Anschluß an die chinesische Zirkularnote vom 7. Juli 1928 konnten auch hier im Herbst jenes Jahres Anfangserfolge erzielt werden. In den schon erwähnten Verträgen mit Belgien, Italien, Dänemark, Portugal und Spanien wurde der Verzicht auf die ausländischen Sonderrechte grundsätzlich festgelegt. Er sollte in Kraft treten, sobald die Mehrheit der Mächte, deren Bürger in China diese Sonderrechte genossen, ihn ebenfalls ausgesprochen hätten 13 . Wiederum erwies sich die „Meistbegünstigungs10

Vgl.: Arnold J. Toynbee (Hrsg.), Survey of International Äff airs 1930, Oxford/ London 1931, p. 348; Tong, ibid.; und: China Year Book, ibid. 11 Vgl. hierzu: „Editor of Jen Min Jih Pao", „Is Likin Abolished?", in: „The People's Tribune", loc. cit., Nr. 1, p. 22—24; und: China Year Book 1931—32, p. 221—223. " Siehe unten, Seite 400—405! ls Vgl. hierzu: Arnold J. Toynbee (Hrsg.), Survey of International Affairs 1929, Oxford/London 1930, p. 316; und: China Year Book 1931—32, p. 262.

Verhandlungen

über die Revision der ungleichen

Verträge

369

klausel" als größtes Hinderniß auf dem Wege zur vollen Souveränität Chinas. Ein neuer Vorstoß Nankings begann am 17. April 1929 mit einer Note des Außenministeriums der Nationalregierung an die Regierungen der USA, Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande, Portugals und Brasiliens. Außenminister Wang teilte in dieser Note mit, daß das Bürgerliche Gesetzbuch und das Handelsgesetzbuch Chinas bis zum 1. Januar 1930 verabschiedet und bis dahin auch genügend modern organisierte Gerichte aufgebaut sein würden, so daß jetzt Verhandlungen über die Aufgabe der ausländischen Sonderrechte beginnen könnten 14 . Nachdem sie einander konsultiert hatten, antworteten am 10. August die USA, Großbritannien, Frankreich und die Niederlande mit Noten fast gleichlautenden Inhalts, in denen sie vor allem darauf hinwiesen, daß die Reformen der Rechtsordnung zunächst in China „lebendige Wirklichkeit" werden müßten, bevor man an einen Verzicht auf die exterritorialen Privilegien denken könne 15 . Diese vagen Erklärungen veranlaßten Wang, am 5. September noch einmal auf den schnellen Beginn von Verhandlungen zu drängen 18 . Außerdem entschloß sich die Nationalregierung jetzt, ihre Interessen vor dem Forum des Völkerbundes zur Geltung zu bringen. Chinas Chefdelegierter Wu Ch'ao-shu verlangte am 10. September 1929 in einer Rede vor der Vollversammlung dieser internationalen Organisation, daß eine Kommission gemäß Artikel 19 der Völkerbundssatzung gebildet werde, um über die Abschaffung der ungleichen Verträge zu beraten 17 . Der Vorstoß Chinas blieb zwar materiell ohne Erfolg, er erhöhte jedoch die Verhandlungsbereitschaft der Vertragsmächte, die jetzt begannen, erste Anzeichen eines Entgegenkommens zu geben. Einen weiteren bescheidenen Schritt nach vorn stellte für China die Unterzeichnung des schon erwähnten Vertrages mit Polen am 18. September 1929 dar, der als erster von der Nationalregierung unterzeichneter Vertrag die „Meistbegünstigungsklausel" nicht enthielt und deshalb einen für die anderen Vertragsmächte gefährlichen Präzedenzfall schuf. Die Verzögerung seiner Ratifikation in Warschau ist deshalb wohl auf Interventionen der anderen Mächte, besonders Frankreichs, zurückzuführen. Dennoch kamen die Fronten jetzt in Bewegung. In London fand Nan14 15 18 17

24

Außenpol. Dokumente, I, p. 20 f. Vgl. dazu: Toynbee, ibid. ibid. Außenpol. Dokumente, I, p. 22. Toynbee, op. cit., 1929, p. 317. Domes

370

IX. Kapitel:

Die Außenpolitik

der Nationalregierung,

1928 bis 1931

king bei dem Labour-Kabinett Ramsay MacDonalds mehr Verständnis als bei dessen konservativem Vorgänger. Am 2. Dezember 1929 erklärte der britische Außenminister Henderson im Unterhaus, Großbritannien sei zu Verhandlungen mit China über die Abschaffung der ausländischen Sonderrechte bereit. Die Nationalregierung reagierte sofort auf diesen Hinweis und schlug in London vor, mit Verhandlungen zu beginnen. Ein erstes Entgegenkommen Großbritanniens wurde darauf in einem „aidememoire" deutlich, das Henderson am 20. Dezember dem chinesischen Gesandten in London zukommen ließ. Die britische Regierung bekundete darin ihre Bereitschaft, den 1. Januar 1930 als Datum für den Beginn des „schrittweisen Abbaus der Exterritorialität" anzuerkennen. Wiederum enthielt das Dokument allerdings den Hinweis auf die Notwendigkeit, den neuen chinesischen Gesetzen „tatsächlich Gültigkeit zu verschaffen" 1 8 . In einem Augenblick, in dem es kaum Bürgerkriegshandlungen in China gab, entschloß sich die K M T zu einer unilateralen Aktion. Aufgrund eines Beschlusses des Z P R vom 27. Dezember erklärte die Nationalregierung am folgenden Tage, dem 28. Dezember 1929, daß alle Ausländer innerhalb der chinesischen Grenzen vom 1. Januar 1930 an gehalten seien, die Gesetze des Landes zu beachten. Sie teilte weiter mit, daß detaillierte Richtlinien über die Durchführung dieses Mandats demnächst ausgearbeitet würden 19 . Zwar blieb diese Anordnung Nankings zunächst rhetorisch; denn die Mächte stimmten ihr nicht zu, aber die Tatsache, daß sie auf alle offiziellen Proteste verzichteten, deutete doch auf eine Wandlung der Situation hin. Wenige Jahre zuvor noch hätte ein solches Mandat einer chinesischen Regierung zu gemeinsamen Demarchen des Diplomatischen Corps geführt. Jetzt hingegen begann man mit Verhandlungen, die sich im Laufe des Jahres 1930 auf drei Mächte konzentrierten: die USA, Großbritannien und Japan. In diesen Verhandlungen erzielte die Nationalregierung zunächst nur Erfolge auf einem „Nebenkriegsschauplatz". In der „Internationalen Siedlung" in Shanghai gab es seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein „Provisorisches Gericht", das nach angelsächsischem Recht auch über die 18

ibid., p. 319 f.

19

Beschluß des Z P R der K M T vom 2 7 . 1 2 . 1 9 2 9 ; und: Erklärung der Nationalregierung über die Abschaffung der Sonderrechte der Ausländer in China vom 28. 12. 1929, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao" und C Y J P , selbes Datum. Englische Obersetzung in: „North China Daily News", Shanghai, vom 2 9 . 1 2 . 1 9 2 9 . Vgl.

u.a.:

China Year Book 1 9 2 9 — 3 0 , Shanghai 1930, p. 904 f.; und: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 7 6 6 — 7 7 0 .

Verhandlungen über die Revision der un%).eid>en Verträge

371

Chinesen urteilte, die in der Siedlung lebten. Durch ein am 17. Februar 1930 unterzeichnetes Abkommen mit Großbritannien, den USA, Norwegen und den Niederlanden erreichte es die Nationalregierung, daß chinesische Bürger in der Shanghaier „Internationalen Siedlung" hinfort wieder nach chinesischem Recht vor chinesischen Gerichten judiziert wurden 20 . Kaum war dies Abkommen am 1. Mai in Kraft getreten, nahm Nanking schon Verhandlungen mit Frankreich auf, um auch in der Französischen Konzession in Shanghai die Gerichtshoheit wiederzugewinnen. Dies gelang nach langen Gesprächen schließlich mit einem Abkommen, das am 28. Juli 1931 unterzeichnet wurde21. Das „Gemischte Gericht" in der Französischen Konzession wurde aufgelöst und durch ein reguläres chinesisches Gericht ersetzt, das auch für alle Straf- und Zivilprozesse zwischen Ausländern und Chinesen zuständig sein sollte. Anfang 1931 verstärkten sich die chinesischen Bemühungen um volle Rechtsgleichheit. Alle Verhandlungen mit Japan blieben dabei erfolglos; denn Tokio bestand auf der Beibehaltung von Exterritorialität und Extrajurisdiktion in der südmandschurischen Bahnzone und in den Städten Shenyang und Ch'angch'un. Da man mit den Japanern nicht vorankam, konzentriete sich die chinesische Verhandlungsführung bald auf Großbritannien und die USA. Beide Mächte erklärten sich dabei im Laufe des März 1931 zur Aufgabe ihrer Sonderrechte bereit, sie stellten dafür jedoch vier Bedingungen: 1. Urteile chinesischer Gerichte über Ausländer müßten von einem ausländischen Appellationsgericht kassiert werden können; 2. Strafsachen sollten „für eine Anzahl von Jahren" noch der Konsulargerichtsbarkeit vorbehalten bleiben; 3. Bei den chinesischen Gerichten, die über Ausländer entscheiden dürften, müßten ausländische Richter als Beisitzer eingesetzt werden; und 4. Shanghai, Kanton, T'ienchin und Hank'ou sollten „für eine Anzahl von Jahren" von der Aufgabe der Sonderrechte ausgenommen werden22. Anfang April jedoch verzichtete der britische Gesandte in China, Sir Miles Lampson, im Namen seiner Regierung auf die ersten drei Bedingungen. Er bestand nur noch darauf, Shanghai und T'ienchin „für eine Anzahl von Jahren" von dem abzuschließenden Vertrag auszunehmen, also die Städte, in denen die meisten britischen Staatsangehörigen in 20

Vgl.: ibid., p. 9 0 2 ; Außenpol. Dokumente, I, p. 2 6 1 — 2 8 3 ; und: Toynbee, op. cit.

21

Englische Übersetzung in: China Year Book 1931—32, p. 2 6 4 — 2 6 6 .

22

Vgl. hierzu: ibid., p. 262 f.

1929, p. 323 ff.

24*

372

IX. Kapitel:

Die Außenpolitik

der Nationalregierung,

1928 bis 1931

China lebten. Dem aber wollte Nanking nicht zustimmen; denn es befürchtete, hier einen Präzedenzfall zu schaffen, der Japan ermutigen würde, auf seinen viel weitgehenderen Ausnahmeverlangen zu beharren. Am 23. April 1931 gelang es hingegen, mit den Niederlanden und Norwegen Abkommen zu schließen, in denen diese beiden Staaten der Abschaffung der Sonderrechte ihrer Bürger in China zustimmten, den Termin dafür aber von der Zustimmung aller Signatarmächte des Washingtoner Vertrages von 1922 abhängig machten. Noch am selben Tage teilte Brasilien mit, es sei zu Verhandlungen über einen neuen Vertrag auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung bereit. Trotz dieser Erfolge Nankings erreichten die Gespräche mit den USA und Großbritannien gerade jetzt einen toten Punkt. Dies traf die N a tionalregierung vor allem deshalb, weil sie großes Interesse daran hatte, noch vor der Eröffnung des Nationalkonvents am 5. Mai Fortschritte zu erzielen. So entschloß sie sich, im Sinne des Programms der KMT-Linken zu handeln und einen einseitigen Akt der Aufhebung fremder Sonderrechte durchzuführen. Am 4. Mai erklärte Wang Cheng-t'ing die Verhandlungen offiziell für gescheitert, und gleichzeitig erließ der Nationalregierungsrat eine Anordnung, derzufolge alle Ausländer in China ab 1. Januar 1931 der chinesischen Gerichtsbarkeit unterstellt werden sollten. In Tungpei und in den Städten T'ienchin, Ch'ingtao, Shanghai, Wuhan, Ch'ungk'ing, Fuchou, Kanton und K'unming wollte man Sondergerichte für Ausländer einrichten, denen unter chinesischem Vorsitz auch ausländische Beisitzer im Dienst der Nationalregierung angehören durften. Außerdem wurden für diese Gerichte auch Rechtsanwälte fremder Nationalität zugelassen23. Der einseitige Akt der Nationalregierung bewirkte bei deren Gesprächspartnern eine größere Verhandlungsbereitschaft. Ende Mai begannen erneut die Gespräche mit dem britischen und dem amerikanischen Gesandten, Sir Miles Lampson und Nelson T. Johnson, und Mitte Sepi3

Erklärung des Außenministers der Republik China und Anordnung der Nationalregierung über die Abschaffung der extraterritorialen Privilegien der Ausländer in China, vom 4. Mai 1931; mit: Richtlinien zur Ausübung der Jurisdiktion über Ausländer in der Republik China, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 4 . 5 . 1 9 3 1 ; audi in: C Y J P vom 5 . 5 . 1 9 3 1 . Englische Übersetzung („Erklärung" in Auszügen, „Anordnung" und „Richtlinien" wörtlich): in: China Year Book 1 9 3 1 — 3 2 , p. 2 6 2 f. Manifest über die Abschaffung der ungleichen Verträge,

angenommen

auf der

5. ordentlichen Sitzung des Nationalkonvents der Republik China am 13. Mai 1931, in: C Y J P vom 14. 5 . 1 9 3 1 und vielen anderen chinesischen Tageszeitungen. Englische Übersetzung in: China Year Book 1 9 3 1 — 3 2 , p. 535 f. 24

Vgl. ibid., p. 2 6 4 ; und: Tong, op. cit., p. 170.

Verhandlungen über die Revision der ungleichen

Verträge

373

tember waren sie mit Großbritannien nahezu abgeschlossen, mit den USA immerhin so weit vorangekommen, daß sich eine Regelung abzeichnete24. In diesem Augenblick aber wurden sie durch den japanischen Überfall auf Tungpei unterbrochen. Hinfort überschattete der Konflikt mit Japan die chinesische Außenpolitik, in der ein Interessenwandel deutlich wurde. China wollte jetzt die USA und Großbritannien eher engagieren, als ihr degagement bewirken. Außerdem war es kaum möglich, angesichts der drohenden Kriegsgefahr die von den Mächten verlangten Sicherheitsgarantien für deren Staatsbürger tatsächlich zu erteilen. Die Mächte benutzten jetzt die politische Bedrängnis, in welche China geraten war, um neue Bedingungen zu stellen, die für Nanking wiederum unannehmbar zu sein schienen. So sah sich die Nationalregierung schließlich gezwungen, ihre Aktion zur Abschaffung der fremden Sonderrechte vorläufig einzustellen. Die Anordnung vom 4. Mai wurde am 29. Dezember 1931 durch eine neue ersetzt, mit der man die Liquidierung der Sonderrechte vom 1. Januar 1932 auf unbestimmte Zeit verschob25. Die Auseinandersetzungen mit Japan in den folgenden Jahren und schließlich seit 1937 der chinesischjapanische Krieg führten zu weiteren Verschiebungen einer Entscheidung. Erst am 10. Oktober 1942 erklärten sich die Westmächte mit der bedingungslosen Aufhebung aller ungleichen Verträge und der Rückgabe aller Konzessionen und „Internationalen Siedlungen" einverstanden, eine Maßnahme, die dann de facto mit dem Ende des pazifischen Krieges im Jahre 1945 in Kraft trat. Größere Erfolge als bei dem Kampf um die Abschaffung der ausländischen Sonderrechte konnte die Nationalregierung mit ihren Bemühungen um die Rückgabe der Konzessionen an China erzielen. Jeweils nach längeren Vorverhandlungen, die zum Teil bereits unter der alten Pekinger Zentralregierung begonnen hatten, unterstellte Großbritannien am 15. November 1929 seine Konzession in Chinkiang 26 und am 18. April 1930 diejenige in Hsiamen (Amoy) chinesischer Jurisdiktion 27 . Die belgische Konzession in T'ienchin wurde am 18. Januar 1931 an China zurückgegeben28. Nodi bedeutsamer war die Rückgabe des britischen Pachtgebietes Weihaiwei in Nordost-Shantung. Sie war bereits 1922 auf der Washingtoner Konferenz von China ohne Erfolg verlangt worden. Ende März 1930 25 26 27 28

ibid. Vgl. Toynbee, op. cit. 1929, p. 335 f. Vgl. China Year Book 1931—32, p. 228. Englische Übersetzung der Abmachung ibid., p. 228.

374

IX- Kapitel:

Die Außenpolitik

der Nationalregierung,

1928 bis 1931

begannen in Nanking Verhandlungen zwischen Wang Cheng-t'ing und Lampson, die am 18. April zu einer Übereinkunft führten, so daß die chinesischen Behörden am 1. Oktober 1930 das von 175.000 Menschen bewohnte Pachtgebiet übernehmen konnten29. Die Bemühungen der K M T um eine Liquidierung der ungleichen Verträge blieben also trotz mancher Rückschläge keineswegs ohne Erfolg. In insgesamt fünf Jahren, von 1927 bis 1931, erreichte sie: die Wiederherstellung der Zollhoheit; die Rückgabe der britischen Konzessionen in Hank'ou, Chiukiang, Chinkiang und Hsiamen ( A m o y ) und der belgischen in T'ienchin, sowie des britischen Pachtgebietes Weihaiwei; die Wiederherstellung der chinesischen Jurisdiktion über die Bürger des Landes in der „Internationalen Siedlung" und der Französischen Konzession in Shanghai; und den Rückzug der japanischen Truppen aus Chinan und von der Shantung-Bahn. Ende 1931 waren die Staatsangehörigen Österreichs (seit 1919), des Deutschen Reiches (1921), des Iran (1920), Boliviens (1919), der UdSSR (1924), Finnlands (1928), Mexicos (1929), Griechenlands (1929), der betragen, er war dagegen bis Ende 1930 auf nahezu 2 0 % , in den genannten Küstenprovinzen gar auf 40 bis 50 % gestiegen49. Um weitere Fortschritte zu erzielen, bemühte man sich vor allem um die Förderung von Abendschulen für Erwachsene. Sie waren zuvor nur im Umkreis von Peking und T'ienchin als Folge der intellektuellen Erneuerungs45 48 47

China Year Book 1931—32, p. 770 f. ibid., p. 778. Gesetz über die Organisation der Erziehung, vom 2 3 . 1 . 1 9 3 1 , in: „Kuo-min ehengfu kung-pao", selbes Datum.

48

China Year Book 1931—32, p. 772 f.

49

Erziehungsministerium im Exekutivyüan der Nationalregierung, Kuo-min chiao-yü (Nationale Erziehung), Nanking 1931, p. 14 f.

Der Ausbau des

415

Erziehungswesens

bewegung um 1920 entstanden, jetzt breitete sich diese Unterrichtsform audi in Zentralchina weiter aus. Mitte 1929 gab es insgesamt 10.773 solcher Institutionen, in denen 14.495 Lehrer 219.828 Schüler unterrichteten50. Während in den Gebieten unter der unmittelbaren Kontrolle Nankings nur etwa 35 % der Bevölkerung lebten, bestanden dort etwas über 50 % der Abendschulen Chinas. Die folgende Ubersicht vermag einen Eindruck von den quantitativen Erfolgen beim Ausbau eines modernen Bildungswesens bis 1931 zu vermitteln. Für die Zeit von 1923 bis 1929 fehlen verläßliche Statistiken über das Grund- und Sekundärschulwesen, doch wird man davon ausgehen können, daß die Zuwachsraten bis 1927/28 um etliches geringer waren als in den folgenden Jahren 51 : Tab. 5: Zahlen der Schüler und Studenten 1923 bzw. 1928 und 1931: 1923 1931 Bildungsstufe: (Hochschul. 1928) Grundschulen 6.601.802 11.667.888 Sekundärschulen 182.804 537.575 Lehrerbildungsanstalten 38.277 43.846 (davon Schülerinnen) 6.724 8.714 Hochschulen (1928/1931) . . . . 17.436 25.018 (davon Studentinnen) 1.729 2.887

Zuwachs 76°/o 194 °/o ca. 15 °/o ca. 30°/o 30°/o 68%

Besonders bemerkenswert erscheint hier das Anwachsen der Schülerzahl an Sekundärschulen und dasjenige der Studentinnen, während die Lehrerbildungsanstalten weit hinter den Anforderungen zurückbleiben, die an sie angesichts der Bildungssituation in China gestellt werden mußten. Im Jahre 1931 besuchten immer noch nicht mehr als höchstens 2 0 % der Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren eine Grundschule, wenn man einmal von den in der Statistik der Nationalregierung nicht berücksichtigten Schulen traditioneller Art absieht. Für die Verbreitung der Schulbildung war es von großer Bedeutung, eine einheitliche Nationalsprache zu schaffen; denn die großen Unterschiede zwischen den chinesischen Sprachgruppen und Dialekten erwiesen sich als äußerst hinderlich für die Vereinheitlichung des Bildungswesens. 50 51

China Year Book 1931—32, p. 772 f. Zahlenangaben für Grund- und Sekundärschulen: 1923 nach: Ch'en Ch'i-tien, op. cit., p. 376—378; 1931 nach: T'ang, Reconstruction, p. 69—71; für Lehrerbildungsanstalten: 1923 nach Ch'en, op. cit., p. 316—318; 1931 nadi: China Year Book 1931 bis 1932, p. 771; für Hochschulen: ibid., p. 775. Die Zahlen für Sekundärschulen schließen die Schüler berufsbildender Schulen ein, diejenigen für Hochschulen umfassen dagegen nidit die Technischen Hochschulen.

416

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT,

1928 bis 1931

Schon seit langem hatte der Peking-Dialekt, den man bis 1911 als „Beamtensprache" (Kuan-hua) und danach zunächst als „Allgemeine Sprache" (P'u-t'ung-hua) bezeichnete, die Stelle einer Nationalsprache (Kuo-yü) eingenommen, und um 1920 wurde er auch offiziell dazu erklärt. Aber seiner Ausbreitung standen vor allem in Südchina erhebliche Hindernisse entgegen, weil man dort die Ideogramme in der Regel im lokalen Dialekt las. Um diese Schwierigkeit zu beseitigen, bemühte sich eine Reihe chinesischer Gelehrter, unter ihnen vor allem Wu Chih-hui, um die Einführung phonetischer Zeichen, welche die Aussprache der Ideogramme im Standard-Kuo-yü auch für diejenigen Chinesen möglich machen sollten, die stark abweichende Dialekte sprachen. Diese Bemühungen fanden die energische Unterstützung der Nationalregierung, die am 21. Mai 1930 beim Erziehungsministerium eine „ K o m mission für die Einführung der Nationalen Standard-Phonetik" (Chuyin fu-hao shih-hsing wei-yüan-hui) unter dem Vorsitz Wu Chih-huis bildete. A m 18. Juni 1930 nahm dieses Gremium seine Arbeit auf52. Es erklärte eine Liste von 40 schon im Jahre 1913 entstandenen phonetischen Zeichen für verbindlich, mit deren Einführung im Unterricht ab Frühjahr 1931 begonnen wurde. Sie setzten sich schnell durch und haben wesentlich zur Verbreitung des Kuo-yü im Lande beigetragen. Einen weiteren bedeutsamen Fortschritt im Bildungswesen brachte die Errichtung der ersten „Graduate Schools" an chinesischen Universitäten. Bereits seit 1920 bestand an der „Pei-ta" ein solches Institut für Chinesische Studien. 1928/29 gründete die „Nationale Zentral-Universität" Institute für Physiologie, Bakteriologie, Pathologie, Anatomie, Pharmazeutik, Chinesische Sprache und Geschichte, Pädagogik, Psychologie und Industriechemie, und im Herbst 1929 folgte die „Ch'ing-hua-Universität" in Peking mit Instituten für Ausländische Sprachen und Physik, so daß 1931 bereits zwölf Institute in China Magister- und Doktorgrade verleihen konnten53. Insgesamt gab es in jenem Jahr 38 Universitäten, von denen 13 der Nationalregierung und zwölf den Provinzregierungen unterstanden, während 13 von privaten Körperschaften errichtet worden waren54. Hinzu kamen noch 41 einzelne „Colleges" und 29 Technische Hochschulen und Institute55.

M

C Y J P vom 19. 6. 1930.

58

China Year Book 1931—32, p. 776.

54

ibid., p. 774 f.

55

Lin Ch'iu-sheng, op. cit., p. 45. Die dort für 1934 gemachten Angaben beziehen sich tatsächlich für die Zahl der Hochschulen auf das Jahr 1931.

Finanzpolitik

und wirtschaftlicher

Aufbau

417

Von großer Bedeutung für die Entwicklung der chinesischen Wissenschaft war schließlich die Gründung der „Academia Sinica" (Chung-yang yen-chiu-yüan). Bereits im Herbst 1924 hatte Sun Yat-sen eine Kommission unter dem Vorsitz Wang Ching-weis berufen, die Pläne f ü r die Errichtung einer „Zentralen Akademie" ausarbeiten sollte. Die NankingRegierung Chiangs beauftragte im Mai 1927 Ts'ai Yüan-p'ei, Li Shihtseng und Chang Ching-chiang mit der Vorbereitung zur Gründung einer solchen zentralen Forschungsinstitution5®. Nach langen Vorarbeiten konnte schließlich am 9. November 1928 die Akademie offiziell gegründet werden, das Amt des Präsidenten übernahm Ts'ai Yüan-p'ei. Das Organisationsstatut 57 sah die Gründung von 14 Forschungsinstituten vor. An die Spitze jedes dieser Institute, von denen neun bis 1931 bereits errichtet worden waren 58 , trat ein Direktor, dem eine Anzahl von „Research Fellows", „Research Associates" und Assistenten zur Seite standen. Der Rat der Akademie sollte aus 30 Gelehrten bestehen, die zuerst von der Nationalregierung berufen wurden und sich hinfort durch Kooption ergänzen konnten. Ein Jahr nach ihrer Gründung — im Herbst 1929 — umfaßte die Academia Sinica bereits 48 hauptamtliche und drei nebenamtliche „Research Fellows", 49 „Research Associates" und über 100 Assistenten 59 . In diesem Kreis fand man eine Reihe der hervorragendsten Gelehrten Chinas. Ihre Arbeiten haben in den folgenden Jahren wesentlich zur Hebung des Niveaus der Forschung und auch der akademischen Lehre beigetragen. Man wird deshalb die Gründung der Akademie als eine der bedeutendsten kultur- und entwicklungspolitischen Leistungen der K M T vor 1931 bezeichnen können. Finanzpolitik

und wirtschaftlicher

Aufbau

Die K M T hatte sich mit der Übernahme des wirtschaftlichen Aufbauprogramms, das Sun Yat-sen in seinem Buch „The International Develop56 57

38

59

27

Vgl. hierzu: China Year Book 1931—32, p. 778 f. Organisationsstatut der Academia Sinica, angenommen auf der 161. Sitzung des ZPR der KMT am 31. Oktober 1928, von der Nationalregierung am 9. November 1928 proklamiert, in: KMWH, Bd. XXII, p. 343—346. Die Institute für Meteorologie und Astronomie in Nanking, für Geschichte und Philologie sowie Psychologie in Peking, und diejenigen für Physik, Chemie, Geologie, Ingenieurwesen und Sozialwissenschaften in Shanghai (China Year Book 1931—32, p. 779). China Year Book, ibid. Domes

418

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

ment of China" entwickelte 60 , einer Politik des Ausbaus der Verkehrswege und der schrittweisen Industrialisierung Chinas verpflichtet, die an die entwicklungspolitische Leistungsfähigkeit der nationalistischen Führung höchste Anforderungen stellte, Anforderungen, denen sie auch unter günstigeren Startbedingungen kaum ohne ausländische Hilfe hätte gerecht werden können. Am Ende des Nordfeldzuges fand sie jedodi ein Land vor, das durch die vorangegangenen Bürgerkriege schwer geschädigt war. Zunächst galt es daher, sich dem Wiederaufbau zuzuwenden. Voraussetzung aber blieb, die Staatsfinanzen zu ordnen. Dazu war die Vereinheitlichung der Währung, die drastische Herabsetzung der untragbaren Militärlasten und die Schaffung eines geregelten Haushaltswesens nötig. Dieser drei Aufgaben nahm sich der Finanzminister Sung Tzu-wen mit großer Energie an, und er sicherte sich bereits im Juli mit Hilfe der „Nationalen Finanzkonferenz" die Unterstützung der finanzkräftigen Gruppen des Großbürgertums 61 . Dies reichte jedoch nicht aus, um die Probleme, vor die er sich gestellt sah, zu lösen. Es wurde bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, welche die neuen regionalen Militärmachthaber des Nordens und der Kuangsi-Gruppe einer wirksamen Verringerung der zahlenmäßigen Stärke des Heeres entgegensetzten. Auch bei der „Zentralarmee" fiel es Sung nicht leicht, in einer Periode fortgesetzter Bürgerkriege auf die unerläßliche Verringerung der Militärausgaben hinzuwirken. Erfolgreicher war er hingegen mit seinem Versuch, die Vereinheitlichung der Währung zu erreichen. Bereits am 5. Oktober 1928 erhielt die „Zentralbank" (Chung-yang yin-hang), deren Aufbau in Kanton begonnen hatte, ihr endgültiges Statut und wurde — mit einem Kapital von 20 Millionen Yüan — in Shanghai endgültig errichtet 62 . Zugleich legte die Nationalregierung im Oktober 1928 eine kurzfristige Inlandsanleihe in Höhe von 30 Millionen Yüan auf 63 , der Ende Dezember eine „Reorganisationsanleihe" von 40 Millionen Yüan folgte 64 . Beide waren schnell ausgezeichnet, so daß die dringendsten Haushaltsbedürfnisse zunächst befriedigt werden konnten. Doch damit hatte man auf dem Wege zur finanzpolitischen Stabilisierung nodi keinen bedeutsamen Fortschritt erzielt. Erst nach angestrengSiehe oben, Seite 59 ff.! Siehe oben, Seite 313! «2 Geändertes Statut der Zentralbank, vom 5 . 1 0 . 1928, in: KMWH, Bd. X X I I , p. 346 bis 350. e s Angekündigt als Anzeige u. a. in: „Shen-pao" vom 2 5 . 1 0 . 1 9 2 8 . 6 4 Angekündigt als Anzeige u. a. in: C Y J P vom 31. 1 2 . 1 9 2 8 . 60

el

Finanzpolitik

und wirtschaftlicher

Aufbau

419

ten Bemühungen, die über zwei Jahre in Anspruch nahmen, gelang es, den alten Silberdollar — schon seit langem ein populäres Zahlungsmittel in China — nahezu im ganzen Lande durchzusetzen65. Der Verfall des internationalen Silberpreises 1929/30 brachte jedoch neue, schwerwiegende Währungsprobleme, die nur durch den Ubergang zum Goldstandard, wie Sung ihn im Anschluß an die Fertigstellung des „KemmererBerichts" vorschlug, hätten gelöst werden können 66 . Da dieser Plan am Widerstand Hu Han-mins und des von ihm geführten rechten Flügels der KMT scheiterte, konnte Sung zunächst nur mit der Einführung der „Zoll-Goldeinheiten" am 1. Januar 1931 einen ersten Schritt zur Währungsreform durchsetzen. Durch die Übernahme des Goldstandards für die Außenzölle und die am gleichen Tage in den von der KMT unmittelbar kontrollierten Gebieten durchgeführte Ersetzung des „li-chin" durch neue Steuern, welche der Zentrale unmittelbar zuflössen, gelang es jedoch, eine spürbare Verbesserung der Lage in den Staatsfinanzen herbeizuführen67. Damit wurde die Nationalregierung in die Lage versetzt, im Jahre 1929 den inneren und äußeren Schuldendienst wiederaufzunehmen, was bereits wesentlich dazu beitrug, die in den Bürgerkriegs jähren geschädigte Kreditwürdigkeit des Landes zu heben68. Von den 972 Millionen Yüan aus inneren Anleihen, welche die Nationalregierung vom l . M a i 1927 bis zum 11. Dezember 1931 aufgelegt hatte, waren am l . J a n a u r 1932 bereits über 254 Millionen getilgt69. Auch im Bereich der Auslandsanleihen begann sich 1929/30 eine Verbesserung der Situation abzuzeichnen70. Von 1928 bis 1930 bemühte sich Sung vergeblich darum, die Erstellung eines geregelten Staatshaushaltes durchzusetzen. Bürgerkriege und Fraktionskämpfe innerhalb der nationalistischen Einheitspartei führten dazu, daß die Nationalregierung aufgrund kurzfristiger Voranschläge und monatlicher Rechnungslegung praktisch „von der Hand in den Mund" zu 65

Vgl. hierzu: China Year Book 1931—32, p. 395 ff. Vgl. audi den englischen Wortlaut eines Finanzberichtes von Sung Tzu-wen vor dem 3. Plenum des III. ZEK der KMT im März 1930, in: Μ. Τ. Z. Tyau, Two Years of Nationalist China, Shanghai 1930, p. 148—175.

60

China Year Book 1931—32, p. 391.

67

Siehe oben, Seite 367!

68

Sung Tzu-wen, „Finance Minister's Annual Statement for 1929—30", vom 1. 3.



E. Kann, „China's Internal Loans", ibid., p. 459—469.

70

Vgl.: Ders., „The Foreign Loans of China", ibid., p. 450—459.

1931, in: China Year Book 1931—32, p. 427—434 (hier: p. 431 f.).

27*

420

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

leben hatte 71 . Zum Abschluß des Haushaltsjahres 1928/29 am 30. Juni 1929 ergab sich ein Defizit von mehr als 80 Millionen Yüan, der Fehlbetrag für das Haushaltsjahr 1929/30 stieg gar auf 101 Millionen Yüan 7 2 . Zwar hatte der Z P R der K M T bereits am 11. April 1928 auf Antrag Sungs ein Gesetz über die Erstellung des Staatshaushaltes verabschiedet 73 , aber dessen tatsächliche Anwendung verzögerte sich um zwei Jahre. Erst am 26. Februar 1930 konnte Sung erreichen, daß die Nationalregierung „Richtlinien über einen Versuchs-Haushalt für das Jahr vom 1. Juli 1930 bis zum 30. Juni 1931 " 7 4 in Kraft setzte. So wurde denn für dieses Haushaltsjahr ein Probe-Budget aufgestellt, das sich zwar nicht ganz verwirklichen ließ, aber doch wesentlich zur besseren Ordnung der Finanzverwaltung beitrug. Die Staatseinnahmen aus Zöllen, Steuern und Uberschüssen der Betriebe im Besitz der Nationalregierung stiegen von 1928/29 auf 1929/30 von rund 334 auf fast 484 Millionen Yüan 75 , also um etwa 45 °/o, im Jahre 1930/31 konnte eine weitere Steigerung von über 2 0 % erzielt werden. Im Frühjahr 1931 gelang es dann schließlich, für das Haushaltsjahr 1931/32 ein Budget vorzubereiten, das — von geringfügigen Änderungen abgesehen — tatsächlich befolgt wurde 76 . Damit war ein finanzpolitischer Fortschritt von erheblicher Bedeutung erzielt worden; China verfügte zum ersten Male über einen nach neuzeitlichen Prinzipien entstandenen, geregelten Staatshaushalt. Das Haushaltsjahr 1931/32 brachte noch einen weiteren Erfolg: Trotz zusätzlicher Belastungen, die sich aus einer Überschwemmungskatastrophe im Yangtzu-Tal 7 7 und den Folgen des japanischen Überfalls in Tungpei ergaben, konnte der Staatshaushalt im Februar 1932 ausgeglichen werden 78 . Nach einem Jahrzehnt der Bürgerkriege, zur Zeit des Höhepunktes der Weltwirtschaftskrise und noch dazu während einer Periode exorbitant niedriger Silberpreise stellt dies eine Leistung dar, der auch der distanzierte Beobachter eine anerkennende Registrierung nicht zu verwehren vermag. 71

Vgl. hierzu: Toynbee, op. cit., 1929, p. 306 ff.; und: Amann, Chiang, p. 94 if.

72

Sung, loc. cit., p. 433.

73

Budgetgesetz, angenommen auf der 136. Sitzung des Z P R der K M T am 11. April 1928, in: KMWH, Bd. X X I I , p. 231—234.

74

Auszüge in englischer Spradie in: China Year Book 1931—32, p. 435 f.

75

Sung, loc, cit., p. 434.

76

China Year Book 1931—32, p. 436. Siehe unten, Seite 425 f.!

77 78

Sung Tzu-wen, Finanz- und Haushaltsberidit 1930 bis 1932, vorgelegt auf dem 3. Plenum des IV. Z E K der KMT, in: KMWH, Bd. X X V I I , p. 366—369. Auszüge in englischer Übersetzung bei: T'ang, Reconstruction, p. 19—21.

Finanzpolitik

und wirtschaftlicher

Aujbau

421

Die Wirkungen der Stabilisierung des Finanzwesens ließen nicht lange auf sich warten. Sie machten sidi vor allem auf dem internationalen Finanzmarkt bemerkbar, wo vom Frühjahr 1931 bis zum Frühjahr 1932 die Kurse für chinesische Anleihepapiere um 15 bis 25 Punkte anstiegen79. Während so in der Finanzpolitik eine recht eindrucksvolle Bilanz vorzuweisen war, kam der wirtschaftliche Aufbau Chinas bis 1931 kaum über das Stadium vorbereitender Planung hinaus. Die Leitung dieser Planungsaufgaben lag in der Hand der am 1. Februar 1928 gegründeten „Aufbaukommission der Republik China" (Chung-hua min-kuo chienshe wei-yüan-hui) 80 , deren Ständigem Ausschuß unter dem Vorsitz Chang Ching-chiangs, Sun K'e, Li Shih-tseng, Wei Tao-ming*, Ch'en Lifu, Tseng Yang-fu, K'ung Hsiang-hsi, Sung Tzu-wen, Yeh Ch'u-cheng und Cheng Hung-lien angehörten81. Noch ehe die Kommission im Januar 1929 ihre Arbeit aufnahm, legte Sun K'e, der bis zum Oktober 1928 als Aufbauminister amtierte, dem ZPR den „Entwurf der Grundlinien des Nationalen Aufbaus" (Chienshe ta-kang ts'ao-an) vor 82 . Hu Han-min, Tai Chi-t'ao, Chiang Kaishek, Chang Ching-chiang und Li Shih-tseng wurden mit einer Untersuchung der Vorschläge Suns beauftragt, und auf ihren Bericht hin nahm der ZPR am 7. November den Entwurf an83. Er sieht in Ubereinstimmung mit Sun Yat-sens „International Development of China" die Errichtung von 100.000 englischen Meilen neuer Eisenbahnlinien, einer Million Meilen Straßen, neuer Kanäle und Häfen und umfangreiche Wasserbauten vor, darüber hinaus den Aufbau einer modernen Industrie. Sun K'e geht davon aus, daß das Gesamtprogramm eine Durchführungszeit von 50 Jahren benötigen und Kosten in der Höhe 79 80

81

8a

83

ibid., p. 20. Organisationsstatut der Aufbaukommission der Republik China, verabschiedet auf der 127. Sitzung des ZPR der KMT 1. Februar 1928, in: KMWH, Bd. XXII, p. 201 bis 203. Außer ihnen wurden am 1. Februar 1928 nodi Chiang Kai-shek, Wang Cheng, T'an Yen-k'ai, Li Chi-shen, Feng Yü-hsiang, Yen Hsi-shan, Li Tsung-jen, H o Ying-ch'in, Hu Han-min, Wu Chih-hui, Ts'ai Yüan-p'ei und Yi P'ei-dii in das Plenum der „Aufbaukommission" berufen. Feng, Yen, Li Tsung-jen, Li Chi-shen und Yi P'eich'i schieden 1929 bzw. 1930 aus, als sie gegen die Nationalregierung rebellierten. Entwurf der Grundlinien eines Plans für den Nationalen Aufbau, vorgelegt von Sun K'e auf der außerordentlichen Sitzung ZPR der KMT am 8. Oktober 1928, angenommen auf der 162. Sitzung des ZPR am 7. November 1928, in: „Chung-yang chou-pao" vom 19. und 26.11.1928; auch in: KMWH, Bd. XXII, p. 367—380. Stenogr. Protokoll der 162. Sitzung des ZPR der KMT am 7. November 1928 (KMT-Archiv).

422

X. Kapitel:

Reformen,

'Wiederaufbau und die KMT, 1928 bis 1931

von mindestens 25 Milliarden Yüan, was nach damaligem Kurs und Preisen rund 350 Millionen US-Dollar entsprochen hätte. Aus diesem Rahmenplan sonderte Sun eine Reihe von nach seiner Auffassung vordringlichen Projekten aus, die in den folgenden zehn Jahren — also bis Ende 1938 — durchgeführt werden und insgesamt Kosten in Höhe von rund 5 Milliarden Yüan ergeben würden. Dieser „ Zehn-Jahres-Plan" umfaßte die folgenden Projekte und Kosten: 1. Eisenbahnbau: 20.000 englische Meilen, pro Jahr 2.000 Meilen, Gesamtkosten: 200 Millionen Yüan; 2. Straßenbau: 100.000 Meilen für 200 Millionen Yüan; 3. Für die Reparatur bestehender Kanäle: 100 Millionen Yüan; 4. Für die Reparatur der Wasserschutzbauten am Huanghe, Huaihe und Hsikiang (Kuangtung): 200 Millionen Yüan; 5. Errichtung eines ausreichenden Fernmeldenetzes: 100 Millionen Yüan; 6. Bau je eines neuen internationalen Hafens in Nord- und Südchina (in Ubereinstimmung mit den Plänen Sun Yat-sens': 100 Millionen Yüan; 7. Bau einer Reihe kleinerer Fischerei- und Flußhäfen: 100 Millionen Yüan; 8. Aufbau der Landeshauptstadt: 100 Millionen Yüan; 9. Zwei Wasserkraftwerke: 4 0 Millionen Yüan; 10. Zwei große Stahlwerke: 40 Millionen Yüan; 11. Zwei Zementwerke: 20 Millionen Yüan; 12. Zwei diemische Fabriken: 20 Millionen Yüan; 13. Weiterentwicklung des Bergbaus: 50 Millionen Yüan; 14. Landwirtschaftliche Entwicklung: 5 0 Millionen Yüan; 15. Ausbau der Forstwirtschaft: 20 Millionen Yüan. Zur Finanzierung dieser Entwicklungsaufgaben sollte nach Suns Plan der Staatshaushalt jährlich mit 200 Millionen Yüan beitragen, während er hoffte, 200 Millionen Yüan durch äußere und weitere 100 Millionen durch innere Anleihe in jedem Jahr aufbringen zu können. Um dieses Programm zu verwirklichen, hätten also annähernd 45 % der Staatseinnahmen im Jahre 1928/29 in Anspruch genommen werden müssen, 1929/30 wären es rund 41 % und 1931/32 immer noch über 20 % gewesen. Angesichts von Militärausgaben, die in den Jahren von 1928 bis 1931 zwischen 60 und 75 °/o der Einnahmen verschlangen, erschien dieser Plan dem Finanzminister Sung Tzu-wen als allzu ambitiös84. Erst vom 81

ibid.

Finanzpolitik

und wirtschaftlicher

Aufbau

423

Sommer 1932 an gelang es, die Militärausgaben unter 5 0 % der Staatseinnahmen zu halten, sie betrugen im Haushaltsjahr 1932/33 fast 48 % , 1933/34 hingegen nur noch etwas über 45 % der Einkünfte 85 . Damit war schließlich ein finanzieller Spielraum erreicht worden, der Möglichkeiten zur Verwirklichung anspruchsvoller Aufbaupläne eröffnete. Vor 1931 aber mußten sie illusionär bleiben, zumal sich auch alle Bemühungen Sung Tzu-wens, mit Hilfe des Völkerbundes 1931 eine Anleihe in Höhe von 100 Millionen £ Sterling zu erhalten, als Fehlschlag erwiesen86. Da die Anleihe ausfiel, mußte vorsichtiger kalkuliert werden, als man ursprünglich gehofft hatte. Um so bedeutsamer wurde die geordnete Planungsarbeit der Aufbaukommission, welche im Januar 1929 begann. Mit Unterstützung deutscher und amerikanischer Fachleute87 gelang es, in diesem Gremium weniger anspruchsvolle, dafür aber wesentlich konkreter gefaßte Pläne zu erarbeiten. Man beschloß, so schnell wie möglich mit dem Ausbau der Häfen Ch'inhuangtao, Hulutao (Tungpei) und Taku (Hopei) zu beginnen und zwischen Hopei und dem Yangtzu ein geschlossenes Eisenbahnnetz zu errichten, das die T'ienchin-P'uk'ou-, Peking-Hank'ou-, T'ienchin-T'angshan- und Lunghai-Bahnen durch mehrere Querverbindungen zusammenfassen sollte. Hierfür wurden Gesamtkosten in einer Höhe von 64,2 Millionen Yüan errechnet. Darüber hinaus entwarf die Kommission Pläne für den Bau eines Südwestchinesischen Bahnnetzes, dessen Errichtung mit einer 1.400 km langen Eisenbahnlinie Ch'ungk'ing—Kueiyang—Kanton—Nanning beginnen sollte, für die man 200 Millionen Yüan Baukosten errechnet hatten. Schließlich entschloß man sich, Hangchou in Chekiang mit Nanch'ang in Kiangsi durch eine Bahnlinie zu verbinden 88 . Der Bau dieser 650 km langen Strecke begann im Jahre 1930 und wurde mit Gesamtkosten in einer Höhe von 18 Millionen Yüan am 15. Januar 1936 abgeschlossen89. Im März 1930 eröffnete man außerdem aufgrund von Plänen der Aufbaukommission die Bauarbeiten für eine Eindeichung des unteren YangtzuLaufs90, und im Juli 1930 begann eine holländische Gesellschaft mit der Konstruktion neuer Hafenanlagen für den internationalen Verkehr in 83

Vgl.: The China Year Book 1936, Shanghai 1936, p. 385 f.

88

Vgl. hierzu: „The N e w Reorganisation Loans — Α National Menace", in: „The

87

Vgl.: Amann, Chiang, p. 130—134.

People's Tribune", 1. Jahrgang, Nr. 1 vom März 1931, p. 24—27. 88

Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 997 f.

89

ibid., p. 1015—1017.

80

ibid., p. 1005—1007.

424

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

Hulutao. Diese Arbeiten, deren Kosten auf 6 Millionen US-Dollar veranschlagt worden waren, wurden auch nach der Eroberung Tungpeis durch die Japaner fortgesetzt und gelangten 1937 zum Abschluß". So blieben von dem großangelegten Ansatz im Herbst 1928 zunächst nur einige Projekte übrig. Er kann dennoch nicht als völlig verfehlt angesehen werden; denn sowohl die Aufbaumaßnahmen im Bereich der Infrastruktur, die ab 1932 eingeleitet wurden, als audi ein erheblicher Teil der nach 1949 geplanten und durchgeführten Arbeiten zur Verbesserung des Verkehrswesens beruhten auf den weiter ausgearbeiteten Entwürfen von 1928/29. Wesentlich größer waren die Erfolge im Straßenbau, der vor allem unter Zuhilfenahme von Militär durchgeführt wurde. So wuchs das Straßennetz von 30.550 km im Jahre 1928 auf 66.111km im Jahre 1931, d.h. um über 3 5 . 0 0 0 k m oder nahezu 1 2 0 % . Von den neu errichteten Straßen verfügten mehr als 12.000 km über feste Decken92. Schließlich nahm man im Jahre 1929 die durch Bürgerkriege verzögerte Erweiterung bestehender Eisenbahnlinien wieder in Angriff. Am 5. November 1929 wurde die auf einer Länge von etwa 450 km unvollendet gebliebene Kanton-Hank'ou-Bahn, die in privater chinesischer Hand lag, verstaatlicht93, und bald darauf begannen die Arbeiten an der Strecke, welche die beiden Stumpflinien von Hank'ou und Kanton miteinander verbinden sollten. Sie wurden am 28. April 1936 abgeschlossen, und damit hatte man die erste zusammenhängende Nord-Süd-Eisenbahnverbindung hergestellt. Sie blieb allerdings in Wuhan noch auf eine Yangtzu-Fähre angewiesen94. Trotz aller Einzelerfolge war die Gesamttendenz der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas zwischen 1928 und 1931 eher rückläufig. Drei Ereignisse übten einen negativen Einfluß aus, der stärker als alle entwicklungspolitischen Anstrengungen bleiben mußte: die Weltwirtschaftskrise; die Yangtzu-Überschwemmung von 1931; und der japanische Uberfall in Tungpei. Die Wirkungen der Weltwirtschaftskrise begannen sich bereits Anfang 1930 in China bemerkbar zu machen. Vor allem der Export an Luxus91 92 M

M

ibid., p. 998. China Year Book 1936, p. 292. Anordnung der Nationalregierung über die Verstaatlichung der Kanton-Hank'ouBahn, vom 5. 11. 1929, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", selbes Datum. China Year Book 1936, p. 276.

Finanzpolitik

und wirtschaftlicher

Aufbau

425

gütern, Rohseide und Baumwollstoffen ging so stark zurück, daß eine Reihe von Fabriken die Arbeit einstellen mußte 95 . Dies führte zu einem starken Anstieg der Arbeitslosenzahl, der sich bis in das Jahr 1935 fortsetzte, als es schließlich — nach unvollständigen Angaben — fast 5,9 Millionen Arbeitslose im Lande gab96. Erst vom Ende 1935 an ging die Zahl der Arbeitslosen wieder zurück. Besonders schwerwiegend beeinflußte die Krise die Außenhandelsbilanz des Landes, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bereits negativ war. Bei steigendem Import, vor allem an Nahrungsmitteln und industriellen Rohstoffen, sank der Wert des chinesischen Exports von 1,047 Milliarden Yüan im Jahre 1928 auf 915 Millionen Yüan im Jahre 1931. 1932 betrug er gar nur 569 Millionen Yüan, doch verzeichnet jenes Jahr audi einen Rückgang des Imports um etwa 25 % . Der Fehlbetrag der Außenhandelsbilanz stieg so von 483 Millionen Yüan 1928 auf 1,087 Milliarden Yüan 1931, was die an sich schon schwere Verschuldung des Landes weiter vergrößerte 97 . Außerdem bewirkte die Krise, daß alle Versudie der Nationalregierung, nennenswerte Entwicklungskredite von westlichen Industrieländern oder durch den Völkerbund zu erlangen, scheiterten. Im August 1931 traf eine außerordentlich schwere Überschwemmungskatastrophe gerade jene Gebiete, die unter der unmittelbaren Kontrolle der Nationalregierung die Kernregion Chinas darstellten: die Provinzen Kiangsu, Anhui und Hupei. Vom 24. Juli an führten schwere Niederschläge zu einem Ansteigen des Pegelstandes am Yangtzu, der Ende August die größte Höhe seit dem Beginn regelmäßiger Messungen im Jahre 1868 erreichte. Die Deiche am Yangtzu und dem südlichen Teil des Großen Kanals brachen, fast 90.000 km 2 Land wurden überschwemmt und über zwei Millionen Menschen obdachlos. Erst Ende September ging das Hochwasser zurück98. Allein in der Provinz Kiangsu wurde die Ernte in 16 der 88 Landkreise völlig vernichtet, die Reparatur der Deiche und die Wiederherstellung der Reisfelder konnten, trotz umfangreicher Hilfsmaßnahmen der Nationalregierung und karitativer Organisationen, erst Ende 1932 vollendet werden 99 . Die Entwicklung 95 96 97 98

99

The China Year Book 1935, Shanghai 1935, p. 569 ff. China Year Book 1936, p. 322. ibid., p. 47. Diese Zahlen schließen den Außenhandel Tungpeis nicht ein. Vgl. hierzu: G. G. Stroebe, „The Yangtze River Flood of 1931", in: China Year Book 1931—32, p. 385—390. Angaben des damaligen Gouverneurs von Kiangsu, General Ku Chu-t'ung, im Interview mit dem Verfasser am 14. September 1964 in T'aipei.

426

Χ· Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

Kiangsus wurde durch diese Naturkatastrophe um mehrere Jahre zurückgeworfen. Ernste Folgen f ü r die chinesische Wirtschaft hatte schließlich die Eroberung Tungpeis durch japanische Truppen im Herbst und Winter 1931/32. Während dadurch 11,5 °/o der Bodenfläche und 8 °/o der Bevölkerung des Landes verlorengingen, lagen die ökonomische Verluste im ganzen wesentlich höher; denn aus Tungpei kamen, im Durchschnitt der Jahre 1929 bis 1931: 70 % der Produktion an Sojabohnen; 12 % der Kohlenproduktion; 79 % der Roheisen- und 67 % der Stahlproduktion; 52 % der Erdölförderung und 97 °/o der Treibstoff Produktion; 50 "/oder Goldfunde; 24 % des Außenhandelsvolumens; und 37 % des Exports. Die Region verfügte außerdem über 3 0 % der chinesischen Viehbestände, 37 % der Forsten, 23 %> der Wasserkraftreserven und 42 % der Eisenbahnlinien Chinas 100 . U m solche Verluste abzugleichen, bedurfte es größter Anstrengungen des Volkes und der Regierung, die sidi erst nach einer Anzahl von Jahren auswirken konnten. Schließlich führte die mit dem Überfall auf Tungpei deutlich gewordene japanische Bedrohung dazu, daß ein weiterer Abbau der Militärlasten zunächst zurückgestellt wurde. Die Vorbereitung auf eine spätere Auseinandersetzung mit Japan, welche die Nationalregierung seit dem 18. September 1931 als unausweichlich anzusehen begann, absorbierte in den folgenden Jahren einen erheblichen Teil der entwicklungspolitischen Potenzen Chinas.

Nationalkonvent

und Grundgesetz

Indem sie im Herbst 1928 die Periode der Erziehungsdiktatur f ü r begonnen erklärte, hatte sich die K M T in Übereinstimmung mit dem in Sun Yat-sens „Grundlagen des Nationalen Aufbaus" formulierten Programm dazu verpflichtet, die Bevölkerung schrittweise zur Übernahme 100

Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 1007—1012. Die Angaben Changs werden bei einem Vergleich von Statistiken des China Year Book 1931—32 mit dem China Year Book 1935 durchweg bestätigt, ebenso in: Chung-kuo ching-dii nien-diien 1935 (Jahrbuch der chinesischen Wirtschaft 1935), Shanghai 1935, loc. diff.

Nationalkonvent

und

Grundgesetz

427

der Staatsgewalt in einem verfassungsmäßig geordneten Herrschaftssystem mit wesentlich demokratischen Charakterzügen anzuleiten101. Der Zweifel daran, ob die Führung der nationalistischen Einheitspartei tatsächlich bereit gewesen wäre, die Kontrolle über China eines Tages in die Hand einer frei gewählten Nationalversammlung zu legen, falls diese eine oppositionelle Majorität aufgewiesen hätte, bleibt zwar bestehen, aber man wird dennoch nidit umhin können, jene Ansätze zu einer stärkeren Beteiligung von Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen an politischen Entscheidungen zu registrieren, die sich vom Herbst 1930 an abzuzeichnen begannen. Am 9. Februar 1929 wurde der Heimatkreis Sun Yat-sens, Chungshan in der Provinz Kuangtung, zum „Modellkreis für die Periode der Erziehungsdiktatur" proklamiert, und hier begann man nun, mit der Beteiligung von Gemeindeparlamenten am politischen Entscheidungsprozeß zu experimentieren 102 . In weiten Teilen Chinas blieb es hingegen dabei, daß die Behördenchefs von der KMT berufen wurden und deren Organen — oder auch den offiziell mit der Partei verbundenen Militärbefehlshabern — unmittelbar verantwortlich waren. Erst als sich die Oppositionsgruppen des linken und rechten Flügels der KMT mit den Generalen Nordchinas zum Widerstand gegen Nanking vereinigten, begann Chiang Kai-shek, sich mit dem Gedanken der Einberufung einer Vertreterversammlung, des „ N a t i o n a l k o n v e n t s " (Kuo-min hui-i), und einer Kodifizierung der politischen Rechte und Pflichten der Staatsbürger zu beschäftigen103. In dem Telegramm vom 3. Oktober 1930 schlug er zum ersten Male die Wahl des Nationalkonvents und die Verabschiedung eines Grundgesetzes vor. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß dieser Schritt als Annäherung Chiangs an den linken Flügel unter Wang Ching-wei interpretiert werden muß, und daß er damit auf den entschiedenen Widerstand der Nankinger Rechten um H u Han-min stieß. Die in der „Erweiterten Konferenz" vereinigte Opposition hatte Chiang vorgeworfen, er sei auf dem Wege, die Parteiherrschaft durch eine persönliche Diktatur zu ersetzen, wobei die Grundrechte der Bürger unbeachtet blieben, während eben dies von Sun Yat-sen auch für die Periode der Erziehungsdiktatur nicht vorgesehen gewesen sei. In dieser Periode sollte zwar, so argumentierten Wang Ching-wei und seine

101

Siehe oben, Seite 315 ff.!

los CYJP vom 10.2.1929. 103

Hierzu und zum folgenden Absatz siehe oben, Seite 464 ff.!

428

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

Mitarbeiter, die Partei alleine regieren, die Bevölkerung müsse jedoch eine Möglichkeit erhalten, ihre Auffassungen zu artikulieren104. Sogar andere politische Parteien hätten das Recht, tätig zu werden, sie dürften nur während der Periode der Erziehungsdiktatur keinen Anspruch auf die Regierungsgewalt erheben105. Als sich die Führung der Opposition nach der Niederlage im Bürgerkrieg zeitweilig nach T'aiyüan zurückzog, beriet sie den Entwurf eines „Grundgesetzes" (Yüeh-fa) für die Periode der Erziehungsdiktatur, der am 27. Oktober 1930 der Öffentlichkeit übergeben wurde106. Dieser Entwurf begann mit dem Wortlaut der „Grundlagen des Nationalen Aufbaus" von Sun Yat-sen (Artikel 1—25). Ein umfassender Katalog der Grundrechte und -pflichten garantierte die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz (Art. 27), den habeas corpus (Art. 29 und 30), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 33), das Briefgeheimnis (Art. 34) und die Rede-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit (Art. 35—37). Auch die Religionsfreiheit (Art. 39) und das Petitionsrecht (Art. 42) sollten gewährleistet werden. Das Recht der Wahl und Abberufung aller Amtsträger, der Gesetzesinitiative und des Volksentscheids wurden angekündigt und sollten in der Periode des Verfassungsstaates endgültig eingeführt werden (Art. 43 und 47). Diesen Rechten standen im Entwurf die Pflichten, Steuern zu zahlen, Militärdienst zu leisten und öffentliche Ämter anzunehmen, gegenüber (Art. 51—53). Die Nationalregierung sollte aus einem Komitee von sieben bis elf Mitgliedern bestehen (Art. 85), unter denen eine Anzahl von Ministerien zu errichten war (Art. 86). Im Gegensatz zu den 1928 verkündeten „Grundsätzen der Erziehungsdiktatur" schlug die Opposition vor, schon jetzt einen „Nationalen Delegiertenkongreß" (Ch'üan-kuo tai-piao ta-hui) in allgemeinen, geheimen und direkten Wahlen bestimmen zu lassen (Art. 89), der bis zum Beginn der Periode des Verfassungsstaates als konsultatives Organ tätig zu sein hatte, um dann die Funktion der ersten, verfassunggebenden Nationalversammlung zu übernehmen (Art. 90 und 91). Erst zu diesem Zeitpunkt wollte man zur Fünf-Funktionen-Verfassung übergehen und die „Yüan" errichten, welchen etwa die gleichen Funktionen wie im Organisationsstatut der Nationalregierung von 1928 zugedacht waren (Art. 93 bis 140). im Vgl. hierzu: Wang Ching-wei u.a., The Chinese National Revolution, p. 20—40. ibid., p. 38 ff.

105

100

Siehe oben, Anm. 115 zum VIII. Kapitel!

Nationalkonvent

und

Grundgesetz

429

Der Oppositions-Entwurf fand vor allem in Kreisen der Intelligenz erhebliche Resonanz 107 . Dies veranlaßte Chiang, noch energischer für die Einberufung des Nationalkonvents einzutreten. Nachdem er sich auf dem 4. Plenum des I I I . 2 E K im November 1930 gegen den Widerstand Hus und seiner Anhänger durchgesetzt hatte 108 und am 1. Januar 1931 das Wahlgesetz für den Nationalkonvent proklamiert worden war, begannen rasch die Vorbereitungen für dessen Zusammentritt. Die Wahlen, die im März und April in den einzelnen Wahlkörperschaften stattfanden, wurden offenbar von Nanking massiv beeinflußt. Einem Bericht der englischsprachigen Zeitschrift des linken Flügels der K M T , „The People's Tribune", zufolge, entsandte Chiang drei seiner Mitarbeiter nach Shantung, Hopei und Tungpei, um dort dafür Sorge zu tragen, daß vor allem solche Kandidaten gewählt wurden, die der Nationalregierung genehm waren 109 . In Peking nahmen nach dieser Quelle von 102.990 registrierten Wählern nur 51.470 am Wahlakt teil, in T'ienchin soll die Wählerzahl von ursprünglich etwa 60.000 auf rund 29.000 reduziert worden sein, von denen 17.267 ihr Wahlrecht ausübten. Auch wird berichtet, daß in einigen Fällen — so in Shansi, Shantung und Hopei — Militärs, Beamte und Angestellte der Partei als Vertreter der Bauern oder Arbeiter gewählt wurden, was dem Wahlgesetz zuwiderlief. Das am 24. April verkündete Organisationsstatut des Nationalkonvents 110 verlieh darüber hinaus den Mitgliedern des Z E K , der Z K K und des Nationalregierungsrates Stimmrecht in der Versammlung, und es sah für die Delegierten eine Eidesformel vor, welche diese auf die Drei Grundlehren vom Volk, die Fünf-Funktionen-Verfassung und den Inhalt von Suns „Grundlagen des Nationalen Aufbaus" verpflichtete. Für Gegner der K M T gab es also wenig Spielraum. Trotz dieser Beschränkungen der freien Entscheidung war dennoch die Versammlung von 475 Delegierten, die am 5. Mai 1931 in Nanking zu ihrer ersten Sitzung zusammentrat, die repräsentativste Körperschaft, die bis dahin im republikanischen China bestanden hatte. An der Wahl ihrer Delegierten hatten sich immerhin 40 bis 50 Millionen Chinesen beteiligt, und fast die Hälfte 107

So u . a . : „Peking and Tientsin Times" vom 4 . 6 . und 7 . 1 1 . 1 9 3 0 , „Ta-kung pao" vom 2. 11. 1930; und: „Shen-pao" vom 6. 11. 1930.

108

Siehe oben, Seite 351 f.!

109

„The Editor of the Peking and Tientsin Times", „A Survey of the Elections", in:

110

Organisationsstatut des Nationalkonvents, vom 24. 4 . 1 9 3 1 , in: K M W H , Bd. X X I I I ,

„The People's Tribune", 1. Jahrgang, N r . 3 vom Mai 1931, p. 9 2 — 9 7 . p. 6 0 8 — 6 1 2 .

430

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

der Mitglieder des Konvents war in Kampfabstimmungen gewählt worden111. Die Anhänger Chiangs dominierten in diesem Gremium zwar eindeutig, aber örtlich war es doch auch Kritikern des Regimes gelungen, sich bei den Wahlen durchzusetzen112. Verglichen mit den zu über 70 °/o von der Parteizentrale berufenen beiden letzten Parteikongressen der KMT handelte es sich hier um eine Versammlung, die schon eher den Titel einer Volksvertretung für sich in Anspruch zu nehmen vermochte als jene. Chiang wies in seiner Eröffnungsansprache noch einmal auf den Entwurf eines Grundgesetzes hin, der im Nationalkonvent beraten werden solle. Mit diesem Grundgesetz und ihren anderen Beschlüssen, so sagte er, werde die Versammlung „den Weg zum Verfassungsstaat bahnen" 113 . Der Konvent wählte dann auf einer „1. Vorbereitungssitzung" am 6. Mai ein neunköpfiges „Präsidium" (Chu-hsi-t'uan), in dem außer Yü Yu-jen, Chang Hsüeh-liang, Chang Chi, Tai Chi-t'ao, Ch'en Li-fu und Wu T'ieh-ch'eng der Bankier Chou Tso-min, der Vertreter der Bauernvereinigungen Lin Chi-fu und Liu Shun-yi als Repräsentantin der Frauenverbände saßen114. In acht Sitzungen, deren letzte am 16. Mai stattfand, beriet der Nationalkonvent eine große Anzahl von Anträgen, die nahezu alle Aspekte der chinesischen Politik berührten, aber meist als Deklamationen erschienen, in denen die Politik Chiangs und der Nationalregierung unterstützt wurde115. Das auf der Abschlußzeremonie am 16. Mai verabschiedete Manifest 116 beschränkt sich im wesentlichen darauf, auf die Bedeutung des Grundgesetzes als verfassungspolitische Richtschnur für die Periode der Erziehungsdiktatur hinzuweisen, die Abschaffung der ungleichen Verträge zu verlangen und zur Einigkeit des Volkes sowie zum Kampf gegen die Kommunisten aufzurufen 116 . In einer besonderen Erklärung versprachen die Delegierten „im Namen des Volkes", in der Periode der Erziehungsdiktatur der „Führung durch die KMT unbeding111

„North China Daily News" vom 5. 5.1931.

112

ibid.

us

Ansprache des Vorsitzenden Chiang zur Eröffnung des Nationalkonvents am 5.Mai 1931, in: Kuo-min hui-i ch'uan-k'an (Gesamtbericht des Nationalkonvents), Nanking 1931, p. 3—16; audi in: KMWH, Bd. X X I I I , p. 612—624.

114

Kuo-min hui-i ch'uan-k'an, p. 18 ff.

115

Zu den Beratungen des Nationalkonvents vgl.: ibid., passim; China Year Book 1931—32, p. 531—535; und: Amann, Chiang, p. 200—203.

" · Manifest des Nationalkonvents, verkündet am 17. 5.1931, in: KMWH, Bd. X X I I I , p. 624—630. Eine Zusammenfassung in englischer Sprache findet sidi in: China Year Book 1931—32, p. 536.

Nationalkonvent

und

Grundgesetz

431

ten Gehorsam zu leisten"117. Die Einparteiherrschaft hatte sich ihre Sanktion eingeholt. Bedeutsamstes Ergebnis der Versammlung aber blieb die Verabschiedung des „Grundgesetzes der Republik China für die Periode der Erziehungsdiktatur" (Chung-hua min-kuo hsün-cheng shih-ch'i yüeh-fa) am 12. Mai 1931, durch welche das Land eine vorläufige Verfassung erhielt118. Im Gegensatz zum Entwurf der Opposition fehlt im Grundgesetz der wörtliche Abdruck von Suns „Grundlagen des Nationalen Aufbaus", doch wird diese Schrift an verschiedenen Stellen (Art. 28, 59, 79, 82 und 86) zitiert, und ihre Vorschläge werden übernommen, so mit lokalen Verwaltungsorganen und auf die Obergangsvorschriften für die Bezug auf die Verteilung der Amtsgewalt zwischen Zentralregierung und Periode des Verfassungsstaates. Der Legislativyüan wird beauftragt, den Entwurf einer endgültigen Verfassung (yüeh-fa) herzustellen, der rechtzeitig zur Diskussion in der Bevölkerung zu veröffentlichen sei (Art. 86). Während der Periode der Erziehungsdiktatur soll der Parteikongreß und in der Zeit zwischen seinen Sessionen das ZEK der KMT die Funktionen der Nationalversammlung wahrnehmen (Art. 30). Auch hier unterscheidet sich das Grundgesetz erheblich vom Entwurf der Opposition, der den Nationalkonvent als „Nationalen Delegiertenkongreß" schon während der Periode der Erziehungsdiktatur zur permanenten, wenn audi zunächst nur konsultativen Einrichtung machen wollte. Eine weitere Differenz zwischen den beiden Dokumenten ist darin zu erblicken, daß die Fünf-Funktionen-Verfassung, welche der Oppositionsentwurf erst in der Periode des Verfassungsstaates einführen wollte, im Grundgesetz bereits für diejenige der Erziehungsdiktatur eingeführt wird (Art. 71). Schließlich hebt das Grundgesetz die Stellung des Vorsitzenden der Nationalregierung weit stärker hervor als der Entwurf der Opposition (Art. 72—74). Während er in diesem nur „primus inter pares" im Nationalregierungsrat sein sollte, erteilt ihm das Grundgesetz das Recht, dem Nationalregierungsrat die Ernennung und Entlassung der Präsidenten der fünf Yüan und aller Minister und Kommissionsvorsitzenden vor117

118

Kuo-min hui-i di'uan-k'an, loc. cit., p. 97. Englische Übersetzung in: China Year Book 1931—32, p. 533. „Grundgesetz der Republik China für die Periode der Erziehungsdiktatur", am 12. Mai 1931 vom Nationalkonvent verabschiedet und am 1. Juni 1931 von der Nationalregierung verkündet; Chinesischer Text in: KMWH, Bd. X X I I I , p. 630 bis 637; und bei: Wang Shih-chieh, op. cit., p. 284 ff. Englische Übersetzung u . a . in: China Year Book 1931—32, p. 688—690; und bei: Linebarger u. a., op. cit., Anhang 4, p. 551—557.

432

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

zuschlagen. Die Bestimmung, daß er „die Nation nach innen und außen vertritt" (Art. 73), verleiht ihm den Charakter eines Staatsoberhaupts, während er bisher mindestens formell — und in der Zeit der Gewaltenteilung zwischen Chiang und Hu Han-min sehr oft auch de facto — nur Vorsitzender eines kollektiven Leitungsgremiums war. Der Katalog der „Rechte und Pflichten des Volkes" (Art. 6—27) hingegen folgt mit einigen unwesentlichen Änderungen fast wörtlich dem Entwurf von T'aiyüan. Die Verabschiedung des Grundgesetzes bezeichnet gewiß einen bedeutsamen Einschnitt in der verfassungspolitischen Entwicklung Chinas. In der Verfassungswirklichkeit aber spielten Grundgesetz und Nationalkonvent kaum eine Rolle. Als Chiang sie im Oktober 1930 forderte, lag ihm zweifellos an einer Versöhnung mit der Opposition, vor allem mit dem linken Flügel der Partei. Der Versuch, sie zu erreichen, scheiterte jedoch. Im Mai 1931 sammelte sich die Opposition gerade in Kanton zu einem neuen Versuch, Chiangs Macht zu brechen. Erst die japanische Aggression und Chiangs Bereitschaft, zeitweilig seine Führungsposition mit anderen zu teilen, führten im Dezember 1931 und Januar 1932 die Einigung der Partei herbei.

Soziologische

Struktur

und Machtgruppen

im III. 2EK der

KMTna

An dieser Stelle erscheint es als sinnvoll, die im VI. Kapitel eingeleitete Untersuchung der KMT-Führungsgruppen mit Bezug auf das III. ZEK fortzusetzen, das die Partei vom März 1929 bis zum Dezember 1931 offiziell führte und tatsächlich den leitenden Kreis der Fraktionen der Mitte und des rechten Flügels darstellte. Von den 36 Mitgliedern des III. ZEK wurden 22 oder etwa 60 % im März 1929 neu gewählt, sechs gehörten dem ZEK bereits seit 1926, sechs weitere seit 1924 an, während zwei Mitglieder des I. ZEK, die 1926 in Opposition zur Parteiführung gestanden hatten, jetzt wieder in dieses Gremium eintraten 120 . Im folgenden sollen die quantitativen Untersuchungen, welche im VII. Kapitel auf die Mitglieder des I. und II. ZEK bezogen wurden, für diejenigen des III. ZEK durchgeführt werden. 119 120

Siehe oben, Anm. 11 zum VI. Kapitel! Yeh Ch'u-cheng und Shao Yüan-ch'ung.

Soziologische Struktur und Machtgruppen

im III. ZEK der KMT

433

Zunächst zur landsmannschaftlichen Herkunft!: Tab. 6: Herkunflsprovinzen

der Mitglieder

Provinz: Kuangtung Chekiang Kiangsu Hupei Anhui Shansi Kiangsi Hunan Yünnan Kueichou Shensi Ssuch'uan Fukien Shantung

des III.

ZEK:

Mitglieder des III. ZEK 12 7 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1

(II. ZEK) (12) (3) (2) (—) (1) (—) (2) (3) (1) (—) (2) (1) (—) (1)

Der Anteil der Kantonesen bleibt also bei einem Drittel der Mitglieder des ZEK. Das starke Ansteigen des Anteils von Politikern und Militärs aus Chekiang muß in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aufstieg Chiangs gesehen werden. Aus den Gebieten südlich des Yangtzu kamen 30 Mitglieder des III. ZEK (beim II. ZEK: 26) während die Provinzen nördlich des Yangtzu nur durch sechs Mitglieder vertreten wurden (im II. ZEK sieben). 23 oder etwa 60 % der Mitglieder des III. ZEK stammten aus Küstenprovinzen (im II. ZEK: 21), 13 aus den Provinzen des Landesinneren (im II. ZEK ebenfalls 13). Rechnet man noch die ausländischen Einflüssen besonders zugänglichen Gebiete am unteren Yangtzu bis einschließlich Wuhan zu den Küstenprovinzen hinzu, so ergibt sich ein Verhältnis von 27 : 9 (im II. ZEK: 22 :12). Die Tendenz der Rekrutierung des leitenden Personals aus Südchina und den Küstenprovinzen setzt sich also im III. ZEK verstärkt fort. Auch bei dieser Untersuchung einer KMT-Führungsgruppe fällt es schwer, die Frage nach der sozialen Herkunft ihrer Mitglieder in ausreichendem Maße zu beantworten. Es fehlen Angaben für zehn der 36 Mitglieder. Tab. 7: Soziale Herkunfl der Mitglieder aus aus aus aus aus aus 28

de s III. ZEK:

Familien der Honoratiorenschidit anderen Grundbesitzerfamilien Bauernfamilien Kaufmanns- und Bankierfamilien Handwerkerfamilien Familien westl. erzogener Intelligenz Domes

III. ZEK (II. ZEK) 5 (6) 5 (4) 4 (3) 9 (7) 2 (1) 1 (1)

434

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

Grundbesitzerinteressen liegen also mit Sicherheit bei etwa 40 %> der Mitglieder des I I I . Z E K vor. D a sich in der Gruppe der Kaufmannsund Bankierfamilien mindestens fünf Mitglieder befinden, deren Sippenverbände über Landbesitz verfügten, wird man sie wahrscheinlich sogar für etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder annehmen können. Als bedeutsam erscheint das weitere Anwachsen des Anteils der Politiker aus Familien des Großbürgertums. Während er im I. Z E K 1 4 % und im I I . 30 °/o betrug, stieg er jetzt auf 34 % . Vollständige Angaben können wiederum für die Ausbildung der Angehörigen der Führungsgruppe gemacht werden: Tab. 8: Ausbildungsstätten der Mitglieder des III. Es absolvierten: eine klassisch-chinesische Ausbildung nur chinesische Mittelschulen nur chinesische Militärakademien nur chinesische Universitäten ausländische Bildungsanstalten:

ZEK: III. Z E K : 4



6 1 25 6 10 7 2 1 3

jap. Militärakademien jap. Universitäten Universitäten in USA franz. Universitäten deutsche Universitäten brit. Universitäten

(II. Z E K ) : ( 4) ( 1) ( 3) ( 4) (21) ( 1 2 1 ) ( ( ( ( ( (

3) 7) 7) 2) i) 2)

Der Anteil der im Ausland ausgebildeten ZEK-Mitglieder stieg von knapp 60 % im I I . auf rund 69 °/o im I I I . Z E K . Dabei war das Verhältnis von Absolventen japanischer zu solchen westlicher Bildungsanstalten 14 : 1 1 . Es entsprach also stärker demjenigen im I. als dem im I I . Z E K . Es hat den Anschein, als gehe die Zunahme der Absolventen japanischer Institute mit einer Verstärkung der konservativen Tendenzen in der Führungsgruppe Hand in Hand. Während der „Linksruck" von 1926 den Anteil der Absolventen westlicher Hochschulen verstärkte, wuchs mit dem „Rechtsruck" von 1929 wiederum derjenige der „Returned J a panese Students". Tab. 9: Altersgruppen

unter den Mitgliedern des III.

Alter beim Eintritt ins Z E K : unter 35 Jahren 35 bis 40 Jahre 41 bis 50 Jahre 51 bis 60 Jahre über 60 Jahren

121

ZEK: III. Z E K

(II. Z E K )

3 13 16 3

( 3) (15)

1

(15) ( 3) (-)

Es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß die Zahl der Absolventen ausländi-

Soziologische Struktur und Machtgruppen im III. ZEK der KMT

435

Das Durchschnittsalter der Mitglieder des I I . Z E K betrug beim Zeitpunkt der Wahl 42,1 Jahre, es entsprach damit also demjenigen des I I . Z E K . D a dieses jedoch über drei Jahre amtierte, brachte die Wahl des I I I . Z E K wiederum eine geringfügige Verjüngung der Führungsgruppe mit sich. Unter seinen Mitgliedern findet sich nur noch eine Frau 122 , Vertreter der nationalen Minderheiten und der Auslandschinesen fehlen völlig. Der Anteil der Militärs an der Führungsgruppe hingegen stieg mit 14 Personen auf fast 4 0 % gegenüber jeweils 1 6 % im I. und I I . Z E K . Hier stoßen wir auf eine der bedeutsamsten Veränderungen in der Führungsstruktur der nationalistischen Einheitspartei. Die Periode des Nordfeldzuges und der auf ihn folgenden militärischen Auseinandersetzungen unter den Parteimitgliedern führte eine zunehmende Militarisierung der Führungsgruppe herbei. In der Einleitung wurden vier Arten der Bildung politischer Eliten in Entwicklungsländern beschrieben. Hier stellt sich nun wiederum die Frage, in welchem Maße sie auch beim I I I . Z E K der K M T feststellbar seien. 19 Mitglieder absolvierten ausländische Universitäten, also gerade die Mehrheit des Z E K . Über zwei Drittel von ihnen hatten immer noch Jura, Sozialwissenschaften oder Volkswirtschaft studiert, aber die Zahl der Absolventen naturwissenschaftlich-technischer Disziplinen verdoppelte sich inzwischen von drei im I I . auf sechs im I I I . ZEK. Ein Drittel der Mitglieder (zwölf) kam von Militärakademien in China und Japan, die sich an westlichen Vorbildern orientierten. Von großer Bedeutung blieb hier die kaiserlich-japanische Militärakademie in Tokio, welche fünf Mitglieder des I I I . Z E K absolvierten, während vier weitere aus solchen chinesischen Militärakademien kamen, deren Ausbilder mit der Tokioter Akademie in Verbindung standen. Die Gruppen der Absolventen westlich organisierter chinesischer Universitäten und der Kaufleute aus Küstenstädten waren im I I I . Z E K nur mit je einem Mitglied vertreten. Im ganzen kamen aus den erwähnten Kategorien der Elitenbildung 33 oder über 90 % der 36 Mitglieder des I I I . Z E K gegenüber 80 % beim I I . Z E K . In der soziologischen Struktur des I I I . Z E K wurden im Vergleich zum I. und I I . also nur zwei wesentliche Unterschiede deutlich. Der Anteil der Militärs wuchs erheblich, und der urbane Charakter dieser Führungsscher Hodisdiulen niedriger ist als die Summe der Angaben für die einzelnen Länder, weil manche Mitglieder in mehr als einem ausländischen Staat studierten. 122

Frau Sun Yat-sen (Sung Ch'ing-ling), die jedodi nicht aktiv an der Arbeit des Z E K teilnahm, sondern in Opposition blieb.

2£'s

436

X. Kapitel: Reformen, Wiederaufbau und die KMT, 1928 bis 1931

gruppe war noch stärker als derjenige ihrer Vorgänger, denen sie im übigen sehr ähnelte. Die zuvor — im VI. Kapitel — beschriebenen Fraktionen und Machtgruppen blieben zunächst in der Führungsgruppe der Jahre 1929—1931 bestehen. Dennoch gab es hier einige bedeutsame neue Entwicklungen. So schied die Kuangsi-Gruppe schon vor Beginn des III. Parteikongresses aus jener Koalition, welche die Parteizentrale seit Anfang 1928 unterstützte, aus und ging in die Opposition. Außerdem machte sich jetzt die ebenfalls im Frühjahr 1928 erfolgte Spaltung der „Westberggruppe" bemerkbar. Während Chang Chi und Lin Sen mit ihren Anhängern kontinuierlich mit der Nationalregierung in Nanking zusammenarbeiteten, schlossen sich Hsieh Ch'ih, Tsou Lu, Hsü Ch'ung-chih und T'an Cheng Anfang 1930 der Opposition an. In der Auseinandersetzung mit Chiang entwickelte sich nun dieser Flügel der „Westberggruppe" immer mehr zur chinesischen Repräsentation kontinentaleuropäisch-liberalen Gedankengutes. Hier gab es Berührungspunkte mit dem linken Flügel, der unter der Führung Wang Ching-weis der Ideenwelt der französischen „radicaux-socialistes" verbunden war. Von großer Bedeutung wurde die Bildung einer „neuen Rechten", die sich um Hu Han-min scharte. Sie übte vom Herbst 1928 bis zum Februar 1931 maßgeblichen Einfluß auf den zivilen Apparat in Nanking aus und bestand im Kern aus kantonesischen Politikern, für welche die landsmannschaftliche Bindung an den Führer der Rechten ausschlaggebend war. Als besonderes Charakteristikum dieser Fraktion erscheint ihr strikter, oft doktrinärer Legalismus, der schließlich den Konflikt mit Chiang unausweichlich werden ließ. Weiter erfolgte seit 1928 eine merkliche Konsolidierung jener Kräftekoalition auf die sich Chiang stützte. Einige Altrevolutionäre, wie ζ. B. T'an Yen-k'ai und Yü Yu-jen, stellten sich endgültig auf seine Seite, die Vertretung der Offiziere aus der alten „Parteiarmee" verstärkte sich, und im Gefolge Tai Chi-t'aos und Chang Ching-chiangs traten einige zivile Politiker aus Chekiang in das ZEK ein, deren Gedankenwelt besonders stark von europäischen Vorstellungen über eine funktionierende Verwaltung bestimmt war. Als Prototyp dieser Gruppe kann Chu Chia-hua gelten. Chiangs seit 1927 intensivierte Bemühungen um die Ausbildung ziviler Parteikader bewirkten die Bildung einer neuen Fraktion, die nach 1931 in zunehmendem Maße auf den Entscheidungsprozeß innerhalb der K M T Einfluß gewann: der „CC-Clique" („CC" für „Central Club"; chinesisch: Hsi-hsi-p'ai). Unter der Führung der Brüder Ch'en Kuo-fu

Soziologische Struktur und Machtgruppen im III. ZEK der KMT

437

und Ch'en Li-fu begann sie jetzt, die wesentlichen Positionen im Organisationsapparat der Partei zu besetzen. Im Gegensatz zu ihr, aber gleichermaßen loyal zu Chiang, stand eine weitere organisierte Fraktion von meist auf westlichen Hochschulen ausgebildeten Politikern, die sich dennoch mit Chang Ch'ün einen Militär zum Führer erwählt hatte, die „Politisch-Wissenschaftliche Vereinigung" (Cheng-chih hsüeh-hui). Sie stimmte in der Forderung nach einer Ausweitung der politischen Freiheitsrechte mit der Opposition überein, Schloß sich dieser jedoch nicht an, weil ihre Mitglieder sich der Person Chiangs besonders verbunden fühlten. Hier treffen wir auf eine der wesentlichsten Veränderungen in der Kräftekonstellation innerhalb der KMT. Während bis 1927 sachliche Überlegungen das bedeutsamste Trennungselement zwischen den Machtgrupppen darstellten, personalisierten sich die Fraktionen jetzt in steigendem Maße. Selbst die im Prinzip doktrinäre „Vereinigung der Reorganisationsgenossen" wandelte sich aus einem echten „linken", d. h. sozialreformerischen, Flügel bis 1931 zur Gruppe der persönlichen Anhänger Wang Ching-weis. In ihrer Mitte fanden sich jetzt auch sozialpolitisch konservative Persönlichkeiten wie Pai Wen-wei, während in Chiangs Gefolgschaft Politiker standen, die mit dem Programm Wang Ching-weis übereinstimmten, unter ihnen Yü Yu-jen. Ein weiteres Kennzeichen, welches das III. ZEK von seinen Vorgängern unterscheidet, ist der Einzug von Vertretern regionaler Militärgruppen in die Parteiführung. Im März 1929 wurden drei Vertreter der Kuominchün, zwei Vertreter der Shansi-Armee und ein Hupei-General in das ZEK gewählt. Sie stützten bis zum Bruch der Generale des Nordens mit der Zentrale den rechten Flügel unter Hu Han-min, in dessen Mitte die Repräsentanten Kuangtungs in ähnlicher Weise zentrifugale Tendenzen vertraten wie die Generalsgruppen. Die Kräftekonstellation, auf welche sich Chiang stützte, vertrat dagegen zentralistische Grundsätze. Mit sechs Generalen der alten „Parteiarmee", zwei altrevolutionären Einzelgängern, fünf Vertretern der Gruppe ziviler Politiker und Administratoren um Tai Chi-t'ao, drei Anhängern der „CC-Clique" 123 und dem maßgeblichsten Führer der „Politisch-Wissenschaftlichen Vereinigung", Chang Chün waren es insgesamt 17 der 36 Mitglieder des ZEK, die Chiang in aller Regel verläßliche Gefolgschaft leisteten. Diese Koalition um Chiang vereinigte so die Militärs der „Parteiarmee", jüngere Kader des zivilen Parteiapparates und undoktrinäre Fachleute der Verwaltung und Wirtschaft miteinander. Die 123

Ch'en Kuo-fu, Ch'en Li-fu und Ch'en Chao-ying*.

438

X. Kapitel:

Reformen,

Wiederaufbau

und die KMT, 1928 bis 1931

drei Säulen des Herrschaftssystems der KMT nach 1931 — Armee (chün), Partei (tang) und Verwaltung (cheng) — wurden hier schon erkennbar. Sie alle waren zentripetal orientiert, und Chiangs Bürgerkriege gegen die Kuangsi- und Nord-Generale trugen im Grunde den Charakter von Auseinandersetzungen mit den zentrifugalen Kräften im Land. Solange jedoch die zivile Klientel Wang Ching-weis mit der Opposition zusammenarbeitete und ihr die Deklamationen entwarf, konnte der grundlegende Gegensatz zwischen Zentralisten und Regionalisten in der KMT nicht in aller Deutlichkeit hervortreten. Dies geschah erst, als Wang und Chiang im Januar 1932 einen modus vivendi fanden, der sechs Jahre der Zusammenarbeit aller jener Kräfte innerhalb der nationalistischen Einheitspartei einleitete, die ernsthaft an der Stärkung der Zentrale und der Verwirklichung wesentlicher Teile des sunyatsenistischen Entwicklungsprogramms interessiert waren.

XI. Kapitel Der Weg zur Nanking-Kanton-Koalitionsregierung Die Bildung der Gegenregierung in Kanton Unter dem Eindruck des Konflikts zwischen Chiang und Hu Hanmin traten auch dessen Anhänger in Opposition zur Nankinger Nationalregierung. Die Gegner Chiangs sammelten sich im März und April 1931 erneut in der Provinz Kuangsi unter der Führung von Li Tsungjen, Pai Ch'ung-hsi und Chang Fa-k'uei. Bedrohlich wurde die Lage für den Vorsitzenden der Nationalregierung jedocii erst, als sich auch der Militärmachthaber von Kuangtung, Ch'en Chi-t'ang, gegen ihn wandte. Wie bereits berichtet, ging Anfang April das Mitglied des ZKK, Ku Yingfen, von Nanking nach Kanton 1 . Dort nahm er Kontakt mit Ch'en Chit'ang auf und bewog ihn zum Aufstand gegen Nanking 2 . Am Morgen des 28. April ließ Ch'en die Stadt von seinen Truppen besetzen und forderte noch am selben Tage in einem Zirkulartelegramm Chiang auf, unverzüglich zurückzutreten 3 . Unmittelbar danach erhob Ku Ying-fen in einem zweiten Zirkulartelegramm am 29. April in seiner Eigenschaft als Mitglied der ZKK Anklage gegen Chiang. Dieser habe, so erklärte Ku, „sich über die Beschlüsse des ZEK und der ZKK hinweggesetzt, die Führung von Partei und Staat usurpiert und Hu Han-mins Bewegungsfreiheit in unzulässiger Weise beschränkt" 4 . 1

Siehe oben, Seite 357!

2

Vgl. hierzu: Ishimaru, op. cit., p. 120 f.

3

Zirkulartelegramm Ch'en Chi-t'angs vom 2 8 . 4 . 1931, in: „Min-kuo jih-pao", Kanton, vom 29. 4.1931. Vgl. hierzu audi: China Year Book 1931—32, p. 538. Amann, Chiang, p. 202, behauptet, Ch'en Chi-t'ang habe zunächst nodi zu Nanking gehalten und sei erst am 5. Mai zur Opposition übergegangen. Dies steht jedodi im Widerspruch zu kontemporären chinesischen Presseberichten, ebenso audi die Behauptung Tongs (op. cit., p. 140), Ch'en habe sich erst „am Ende des Nationalkonvents", also um den 17. 5. 1931, erhoben.

4

Zirkulartelegramm Ku Ying-fens vom 29. 4. 1931, u. a. in: „Min-kuo joh-pao", selbes Datum (audi: KMT-Archiv).

440

XL Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

So bildeten sich, nachdem am 30. April auch Sun K'e Nanking verlassen und in Shanghai offen gegen Chiang Stellung genommen hatte, drei Zentren der Opposition: eines in Nanning um die Kuangsi-Generale; das zweite in Kanton um Ch'en Chi-t'ang und die kantonesisdien Anhänger Hu Han-mins; und das dritte in Shanghai, wo Sun K'e mit der oppositionellen Fraktion der „Westberggruppe" und dem Vertreter Wang Ching-weis, Ch'en Yujen, Fühlung aufnahm. Wang Ching-wei, der von der Französischen Konzession in Shanghai aus die Entwicklung beobachtete, blieb es vorbehalten, eine Einigung aller oppositionellen Kräfte herbeizuführen. Schon am l . M a i rief er in einem Zirkulartelegramm an alle Mitglieder der KMT zur Erhebung gegen Nanking auf 5 . Einen Tag später, am 2. Mai, schlug Wang den Kuangsi-Generalen und Chang Fa-k'uei vor, gemeinsam mit Kanton einen „Anti-Chiang-Feldzug" zu beginnen®, und am 4. Mai erklärte er in einem Interview mit der Hongkonger Tageszeitung „South China Daily News", daß Tsou Lu, Ku Meng-yü, Yen Hsi-shan und Feng Yü-hsiang seine Aktion unterstützten 7 . Jetzt schaltete sich Hu Han-min ein, der noch immer in seinem Nankinger Hause unter Bewachung stand. Am 7. Mai bat er die Kantoner Führer telegraphisch, „im Interesse der Wohlfahrt des Volkes" alle Meinungsverschiedenheiten mit Nanking außer acht zu lassen und loyal zu bleiben8. Seine Intervention scheiterte jedoch; denn Ch'en Chi-t'ang erklärte, Hu sei von Chiang zu diesem Schritt gezwungen worden, solange er keine volle Bewegungsfreiheit habe, könne man seinen Äußerungen „leider nicht jene Bedeutung beimessen, die sie sonst haben würden" 9 . Ch'ens Truppen überfielen am 15. Mai die in Huangpu stationierten Ver5

Zirkulartelegramm Wang Ching-weis an die Mitglieder der KMT in China und im Ausland, vom 1. 5. 1931, englische Übersetzung in: „The People's Tribune", 1. Jahrgang, Nr. 3 vom Mai 1931, p. 102 f. • Telegramm Wang Ching-weis an Li Tsung-jen, Pai Ch'ung-hsi und Chang Fa-k'uei, vom 2. 5.1931, englische Übersetzung ibid., p. 103. 7 Exklusiv-Interview Wang Ching-weis mit dem Shanghaier Korrespondenten der „China United Press" und der „South China Daily News", Hongkong, vom 4. 5. 1931, u. a. ibid., p. 104 f. 8 Telegramm H u Han-mins an Teng Tse-ju, Ku Ying-fen, Ch'en Chi-t'ang u. a., vom 7. 5.1931 (KMT-Archiv). Vgl. dazu: China Year Book 1931—32, p. 538. 9 Zirkulartelegramm Ch'en Chi-t'angs vom 9. 5. 1931, in: „Min-kuo jih-pao", selbes Datum.

Die Bildung der Gegenregierung

in Kanton

441

bände der N R A , welche sich dem Aufstand nicht angeschlossen hatten. Sie wurden innerhalb weniger Stunden von den Kanton-Truppen entwaffnet, und am 16. trafen Li, Pai und Chang in Kanton ein, um mit Ch'en Pläne für eine Offensive gegen Nanking zu diskutieren 10 . Im Auftrage der Nankinger Führung hatten Chang Chi und Wu T'iehch'eng seit dem 10. Mai in Shanghai in einer Anzahl von Gesprächen den Versuch unternommen, Sun K'e zur Rückkehr in die Hauptstadt zu bewegen. Ihre Bemühungen scheiterten jedoch, und am 21. Mai verließ Sun, zusammen mit Ch'en Yu-jen, Shanghai und reiste nach Hongkong. Dort kamen sie am 24. Mai an und trafen sich sogleich mit Wang Chingwei — der Shanghai Mitte Mai verlassen hatte —, T'ang Shao-yi und Tsou Lu 11 . Gemeinsam fuhren die Führer der Opposition nach Kanton weiter, von wo sie am 25. Mai Chiang in einem Zirkulartelegramm aufforderten, innerhalb von 48 Stunden seinen Rüdstritt zu erklären 12 . Dieser hatte bereits am 24. Mai in einer Rede vor Beamten der Nationalregierung Wang wegen dessen früheren Verbindungen zur K C T scharf angegriffen und die Opposition gewarnt: „Ältere Führer der KMT, welche die Partei unterstützen, werden von mir den Respekt erhalten, der ihnen gebührt, aber ich werde jene alten Genossen, die ihre langjährig Verbindung mit der Partei benutzen, um deren Einheit zu zerbrechen, auf das Schärfste angreifen. Mir bleibt keine andere Wahl, als solche Führer als Rebellen zu behandeln, und mein Bestes zu tun, um diese reaktionären Elemente zu unterdrücken 13 ."

Nachdem das Rücktrittsverlangen der Opposition an Chiang unbeachtet geblieben war, entschloß sich diese, in Kanton eine Gegenregierung zu bilden. Audi der chinesische Botschafter in Washington, Wu Ch'aoshu, hatte sich ihr unterdessen mit einer öffentlichen Erklärung gegen Chiang angeschlossen14, und am 27. Mai hielten 16 leitende Mitglieder des linken Flügels, der Kuangsi-Gruppe und der Fraktion Hu Han-mins unter dem Vorsitz von T'ang Shao-yi 15 eine „Außerordentliche Konfe10

11 12

13 14 15

China Year Book, ibid., bestätigt durch einen Bericht, den Pai Ch'ung-hsi dem Verfasser im Interview am 11. September 1964 in T'aipei gab. „Min-kuo jih-pao" vom 25. 5 . 1 9 3 1 . Vgl. auch: China Year Book, ibid. Zirkulartelegramm T'ang Shao-yis, Wang Ching-weis u . a . vom 2 5 . 5 . 1 9 3 1 , in: „Min-kuo jih-pao", selbes Datum. Vgl.: KMT-Chronik, Bd. I, p. 599; T'ang, Wang, p. 2 2 4 ; und: Tong, op. cit., p. 140. Chinesischer Text in: C Y J P vom 25. 5 . 1 9 3 1 . Vgl. hierzu: China Year Book, ibid. „New York Times" vom 27. 5 . 1 9 3 1 . T'ang Shao-yi, Wang Ching-wei, Sun K'e, Teng Tse-ju, Ching Heng-yi, Li W£n-fan, Hsiao Fu-ch'eng, Ku Ying-fen, Tsou Lu, Ku Meng-yü, Ch'en Yu-jen, Li Tsung-jen, Hsü Ch'ung-diih, Frau Ch'en Pi-chün, T'ang Sheng-chih und Li Liehchün (Vgl. Anm. 18).

442

XI· Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

renz der Mitglieder des ZEK und der ZKK" (Chung-yang chih-chien weiyüan fei-ch'ang hui-i), die in einem Manifest an alle Parteimitglieder den Anspruch erhob, von nun an als „Notstandsparteiführung" der KMT zu fungieren16. Die „Außerordentliche Konferenz" bildete am 28. Mai eine „Nationalregierung", welche am 1. Juni in Kanton ihr Amt antrat17. Zum Vorsitzenden wurde Wang Ching-wei bestellt, außer ihm gehörten dem Nationalregierungs-Rat T'ang Shao-yi, Sun K'e, Hsü Ch'ung-chih, Ku Ying-fen, T'ang Sheng-chih, Teng Tse-ju, Tsou Lu, Ch'en Yu-jen, Li Lieh-chün, Li Tsung-jen, Lin Sen (der sein Amt in Kanton nicht übernahm), Chang Fa-k'uei, Hsiao Fu-ch'eng und Ch'en Chi-t'ang an. Ch'en Yu-jen übernahm die Leitung des Außenministeriums, während man Ch'en Chi-t'ang zum Minister für Militärangelegenheiten, Ku Meng-yü zum Erziehungsminister, T'ang Shao-yi zum Finanzminister und Sun K'e zum Innenminister ernannte18. Schon am 5. Juni erhob Ch'en Yu-jen in einem Memorandum an das Diplomatische Corps in Peking für die Kantoner Regierung den Anspruch, daß diese die einzige legitime Vertretung Chinas darstelle19, und am 11. Juni ließen die Kantoner Führer die Dienststellen der Seezollverwaltung in den von ihnen kontrollierten Provinzen Kuangtung und Kuangsi besetzen und die für Nanking bestimm16

Manifest der Außerordentlichen Konferenz der Mitglieder von ZEK und ZKK in Kanton an alle Genossen der Partei, vom 27.5.1931, in: Chung-kuo Kuomintang ti-ssu-tz'u ch'üan-kuo tai-piao ta-hui hui-i chi-lu (Protokoll des IV. Parteikongresses der KMT), hrsg. von der Parteizentrale der KMT, Kanton 1931 (hinfort: Protokoll IV Kanton), p. 45 f.; auszugsweise auch bei: Lei, op. cit., p. 209. Vgl. hierzu: China Year Book, ibid.

17

Manifest der Nationalregierung (Kanton) an das chinesische Volk, vom 1. 6.1931, in: „Min-kuo jih-pao", selbes Datum und bei: Lei, op. cit., p. 204. Vgl. dazu u . a . : Amann, Chiang, p. 203. „Min-kuo jih-pao" vom 30.5.1931. Sun K'e behauptete am 1. Juli 1931 in einem Artikel („Why I Oppose the Nanking Dictatorship", in: „The People's Tribune", 1. Jahrgang, Nr. 4 vom Juni/Juli 1931, p. 128), in der Kanton-Regierung säßen acht der 16 Mitglieder des ersten Nationalregierungsrates vom 1. 7.1925 — Wang Chingwei, Hsü Ch'ung-diih, Ku Ying-fen, Tsou Lu, Teng Tse-ju, Sun K'e, Wu Ch'ao-shu und Lin Sen. Von diesen gehörte jedoch Teng dem Nationalregierungsrat erst seit dem 23. 8.1925 und Tsou Lu überhaupt nicht an, während Lin Sin weiter Präsident des Legislativyüans in Nanking blieb. Im Gegensatz zu Suns Erklärung, von den 16 Mitgliedern der Nationalregierung von 1925 unterstütze nur Tai Chi-t'ao Chiang, blieben tatsächlich sieben Nanking loyal: Chang Ching-chiang, Yü Yu-jen, Chang Chi, Lin Sen, Tai Chi-t'ao, Chu P'ei-te und Ch'eng Ch'ien. Vgl. hierzu audi: Lei, op. cit., p. 203.

18

" Ch'en Yu-jen, „A Notification to the Powers", (vom 5. 6. 1931), in: „The People's Tribune", ibid., p. 138.

Die Bildung der Gegenregierung

in Kanton

443

ten Zollüberschüsse beschlagnahmen20. Trotz dieser offen feindseligen Handlungen reagierte Chiang zunächst zurückhaltend. Am 30. Mai berief er in Nanking eine Sondersitzung des 2 E K ein, die in einem Telegramm an die Opposition diese aufrief, Frieden zu halten 21 . Vom 13. bis zum 15. Juni tagte in Nanking dann das 5. Plenum des III. ZEK der KMT, und es gelang Chiang, wie erwartet, sich aus dem Kreis der anwesenden Mitglieder der Parteiführung weitere Unterstützung zu sichern. Das Plenum beschloß, die Kantoner Opposition noch einmal zur Einigung mit Nanking aufzufordern und berief den IV. Parteikongreß der KMT auf den 10. Oktober nach Nanking ein22. In Kanton blieb man jedoch unversöhnlich, obgleich sich die Position der Gegenregierung verschlechtert hatte, als am 11. Juni der Gouverneur Kuangtungs, Ch'en Ming-shu, sich von seinem Exil in Hongkong aus zu seiner im Osten der Provinz stationierten 19. Feldarmee begab, deren Kommando übernahm und sich verpflichtete, Chiang weiterhin zu unterstützen 23 . Kanton nahm Verbindung mit dem ehemaligen Kuominchün-General Shih Yu-san auf, der mit seinen Truppen den Mittelabschnitt der Peking-Hank'ou-Bahn in Süd-Hopei und Nord-Honan kontrollierte 24 . Dieser begann Anfang Juli, den Bahnverkehr aufzuhalten und erließ einen Aufruf gegen Nanking. Ein Vermittlungsversuch des Gouverneurs von Shantung, Han Fu-chü, scheiterte, und am 20. Juli veröffentlichte Shih ein Zirkulartelegramm, in welchem er erklärte, daß er sich der Gegenregierung in Kanton unterstelle25. Noch am selben Tage kam es an der Bahnlinie zu ersten Zusammenstößen zwischen seinen Truppen und Verbänden der Armee Chang Hsüeh-liangs. Dieser kam wieder einmal Nanking zu Hilfe und begann am 28. Juli mit der Offensive gegen Shih28. Nach wenigen Tagen gelang es ihm, die aufständischen Verbände in Richtung auf die T'ienchin-P'uk'ou-Bahn abzudrängen und zu zerstreuen. Schon am 8. August streckte Shih die Waffen und verließ 20

Kommuniqi^ der Nationalregierung (Kanton) über die Einbehaltung der Zollübersdiüsse, vom 11. 6.1931; englische Übersetzung ibid, p. 138 f. 21 Telegramm des ZEK der KMT (Nanking) an die Führer in Kanton, vom 30. 5.1931 (KMT-Archiv). Gekürzt in englischer Ubersetzung in: China Year Book 1931—32, p. 539 f. 22 Beschlußprotokoll des S.Plenums des III. ZEK der KMT vom 13. bis zum 15. Juni 1931 (KMT-Archiv). Vgl. hierzu: China Year Book, ibid., p. 540—542. 23 Zirkulartelegramm Ch'en Ming-shus vom 11. 6.1931, in: CYJP vom 12. 6. 1931. 24 Vgl. zu diesem Absatz: China Year Book 1931—32, p. 543 f. 25 Zirkulartelegramm Shih Yu-sans vom 20. 7.1931, Englisdi in: „Peking and Tientsin Times" vom 21. 7.1931. " CYJP vom 29. 7. 1931.

444

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

das Land 27 . Während so die Bedrohung aus dem Norden schnell abgewendet werden konnte, schien ein Bürgerkrieg in Südchina kaum noch vermeidbar zu sein. Die Truppen der Kuangsi-Generale, Chang Fa-k'ueis und Ch'en Chi-t'angs sammelten sich Ende Juli in Nord-Kuangtung und überschritten Anfang August mit Vorhuten die Grenze von Hunan. Dennoch hoffte Chiang noch immer auf eine friedliche Beilegung des Konflikts. Er wies deshalb am 8. August die Befehlshaber der NankingTruppen in Hunan an, in der Defensive zu bleiben und sich darauf zu beschränken, der aufständischen Armee den Zugang in die Zentralebene der Provinz zu versperren 28 . Die Kantoner Führung, die sich durch die 19. Feldarmee in der Flanke bedroht sah, betrieb ihre Angriffsvorbereitungen nur sehr langsam. So wurden größere Kampfhandlungen vermieden, bis der japanische Uberfall in Tungpei am 18. September die politische Situation so grundlegend veränderte, daß sich Möglichkeiten für eine Einigung der beiden KMT-Zentren gegen den äußeren Feind eröffneten.

Die Friedenskonferenz

in Shanghai

Bereits wenige Stunden nach dem Eintreffen der ersten Nachrichten über den Angriff japanischer Truppen auf Shenyang richteten Li Shihtseng, Chang Chi und Wu T'ieh-ch'eng aus Nanking am 19. September ein Telegramm an die Kantoner Führer, in welchem sie diese aufforderten, „sofort die Beendigung ihrer Opposition anzukündigen und sich zur Rettung des Landes mit der Partei zu vereinigen" 29 . Am folgenden Tage wurde dieser Wunsch nach einer Einigung aller Mitglieder der K M T in einem Zirkulartelegramm des Ständigen Ausschusses der Nankinger Z E K wiederholt 30 . Die „Außerordentliche Konferenz" in Kanton antwortete schnell. Noch am 20. September beschloß sie, auf den Friedensfühler aus Nanking einzugehen, jedoch nicht, ohne eigene Bedingungen 27

Zirkulartelegramm Shih Yu-sans vom 8. 8 . 1 9 3 1 , in: C Y J P vom 9. 8 . 1 9 3 1 .

28

Telegramm Chiangs an die Generale der Zentralarmee in Hunan, vom 8. 8. 1931

29

Telegramm von Li Shih-tseng, Chang Chi und Wu T'ieh-ch'eng an Wang Ching-

(KMT-Archiv). Vgl. hierzu: Amann, Chiang, p. 206 f. wei, T'ang Shao-yi u. a. in Kanton, vom 19. 9. 1931, in: C Y J P vom 20. 9. 1931. Englische Übersetzung in: China Year Book 1 9 3 1 — 3 2 , p. 544. 30

Zirkulartelegramm des Z E K 20. 9. 1931, ibid.

der K M T (Nanking) an alle Parteimitglieder,

vom

Die Friedenskonferenz

in

Shanghai

445

zu stellen 31 . Diese Bedingungen wurden von der Kantoner Nationalregierung in einem Zirkulartelegramm vom 21. September formuliert: „1. Rücktritt von Herrn Chiang Kai-shek; 2. Auflösung der Nationalregierung in Kanton; und 3. Bildung einer Vereinigten Nationalregierung durch eine Nationale Friedens- und Einigungskonferenz (Ch'üan-kuo he-p'ing t'ung-i hui-i) 3 2 ."

Hatte Kanton auf diese Weise seine Bereitschaft angedeutet, Verhandlungen mit der Nanking-Regierung aufzunehmen, so kam Nanking seinerseits der Opposition einen Schritt entgegen, als der Ständige Ausschuß des Z E K am 24. September beschloß, die Einberufung des I V . Parteikongresses vom Nationalfeiertag, dem 10. Oktober, auf den Geburtstag Sun Yat-sens, den 12. November, zu verschieben, um auf diese Weise mehr Zeit für die Friedensgespräche zu gewinnen 33 . Zu Vorverhandlungen über die Einleitung soldier Gespräche begaben sich noch am selben Tage, dem 24. September, Ts'ai Yüan-p'ei, Chang Chi und Ch'en Ming-shu nach Kanton 3 4 . Der Entschluß Chiangs, sich für die Beilegung des „Zwischenfalls von Mukden" ausschließlich auf den Völkerbund zu verlassen, schuf jedoch neue Meinungsverschiedenheiten; denn die Kantoner Gegenregierung forderte massive Maßnahmen gegen die japanische Aggression. Sie wurde dabei von der Studentenschaft: des Landes unterstützt, die mit großer Leidenschaft eine Kriegserklärung an Japan, zumindest aber den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Tokio, verlangte. Am 28. September demonstrierten in Nanking mehrere tausend Studenten der Zentral-Universität vor dem Außenministerium und verlangten, Minister Wang Cheng-t'ing zu sprechen. Als dieser sich weigerte, eine Abordnung der Studenten zu empfangen, stürmten sie seine Amtsräume und verprügelten Wang, der mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde und noch am Abend desselben Tages seinen Rücktritt erklärte 35 . Die Studentenunruhen in Nanking schienen die Position Kantons bei den bevorstehenden Verhandlungen zu stärken, bis 31

»The People's Tribune", Shanghai/Peking/Kanton, 1. Jahrgang (New Series), N r . 2 vom 2 6 . 1 2 . 1 9 3 1 , p. 63.

32

Zirkulartelegramm der Nationalregierung (Kanton) vom 2 1 . 9 . 1 9 3 1 , in: „Min-kuo

33

Beschluß des Ständigen Ausschusses des Z E K der K M T über die Verschiebung der

jih-pao", selbes Datum. Vgl. hierzu: „The People's Tribune", ibid. Einberufung des IV. Parteikongresses, vom 24. 9. 1931, in: C Y J P vom 25. 9. 1931. Vgl.: KMT-Chronik, Bd. I, p. 608. 34 35

ibid. „Shen-pao" und C Y J P vom 29. 9. 1931. Vgl. hierzu: KMT-Chronik, ibid.; Tong, op. cit., p. 144; und: John Israel, Student Nationalism in China 1927—1937, Stanford 1966, p. 52 f.

446

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

dann am 10. Oktober auch am Sitz der Gegenregierung Studentendemonstrationen stattfanden, in deren Verlauf die Kantoner Polizei das Feuer eröffnete. 15 Studenten wurden getötet, über 80 verletzt, die Erregung in der Stadt wuchs, bis der verantwortliche Polizeichef zurücktrat und nach Hongkong floh36. Unter dem Eindruck der zunehmenden Unruhe im Lande sahen sich die beiden rivalisierenden Parteizentralen veranlaßt, ihre Bemühungen um eine Einigung zu verstärken. Die Nankinger Delegation war am 28. September in Hongkong eingetroffen und kabelte sofort ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Vorgesprächen nach Kanton 37 . Daraufhin sandte die „Außerordentliche Konferenz" am 29. September Wang Ching-wei, Sun K'e und Li Wen-fan nach Hongkong, wo ihnen die Repräsentanten Nankings ein Handschreiben Chiangs übergaben. Der Vorsitzende der Nationalregierung stellte darin drei alternative Lösungsvorschläge zur Auswahl: 1. Die Kantoner Gruppe solle die Regierungsverantwortung in Nanking übernehmen; 2. die Kantoner Gruppe solle in die Nanking-Regierung eintreten; oder 3. man könne ein Triumvirat an die Spitze von Staat und Partei stellen. Der zweite und dritte Vorschlag wurden von Wang und seinen Anhängern abgelehnt. Da diese jedoch offenbar Interesse daran hatten, Chiang, dem die Offiziere der kampffähigsten Verbände der chinesischen Armee persönlich verbunden waren, an der Regierungsverantwortung zu beteiligen, wollten sie auch den ersten Vorschlag modifiziert sehen. Schon im ersten Gespräch am 29. September einigte man sich darauf, daß Chiang zurücktreten, die Kantoner Regierung aufgelöst und eine vereinigte Führung gebildet werden sollte38. Nach weiteren Verhandlungen, die vom 30. September an in Kanton stattfanden, formulierten die Unterhändler die Entwürfe für zwei Zirkulartelegramme, von denen das eine von der Kantoner Regierung publiziert werden und deren Auflösung mitteilen sollte, während Chiang in dem zweiten seine Demission zu erklären hatte. Am 5. Oktober erklärte er sich telegrafisch mit dem Inhalt beider Dokumente einverstanden, for" „Min-kuo jih-pao" vom 11. und 1 6 . 1 0 . 1 9 3 1 . Vgl.: Israel, op. cit., p. 57. " Zirkulartelegramm der Teilnehmer der Shanghaier Friedenskonferenz vom 27. 10. 1931; englische Obersetzung in: China Year Book 1931—32, p. 546. Dieses Zirkulartelegramm gibt einen zusammenfassenden Bericht über die Vorgeschichte der Friedenskonferenz, für welche es eine der bedeutendsten Quellen darstellt (hinfort: Zirkulartelegramm . . . ) 38 ibid. Vgl. hierzu: T'ang Leang-li, „The Problem of National Unification", in: „The People's Tribune", loc. cit., Nr. 1 vom 19.12.1931, p. 23 f.

Die Friedenskonferenz

in

Shanghai

44 7

derte jedoch die Kantoner Vertreter auf, zu weiteren Verhandlungen über die Bildung der neuen Regierung und Parteiführung nach Shanghai zu kommen39. Dies lehnte man in Kanton aber ab, bis am H.Oktober die Bewegungsbeschränkungen für Hu Han-min aufgehoben wurden, der sich unverzüglich von Nanking nach Shanghai begab40. Von dort sandte er ein Telegramm an die Oppositionsführer in Kanton, in welchem er diese aufforderte, ihre Vertreter zu Friedensverhandlungen nach Shanghai zu entsenden41. Nachdem die Nanking-Regierung sich entschlossen hatte, auch Li Chi-shen nach mehr als zweijähriger Haft aus dem Gefängnis zu entlassen, verzichtete die „Außerordentliche Konferenz" schließlich am 15. Oktober darauf, den Rücktritt Chiangs weiter als Vorbedingung für Einigungsverhandlungen zu fordern, und sie ernannte Wang Ching-wei, Sun K'e, Wu Ch'ao-shu, Li Wen-fan, Tsou Lu und Ch'en Yu-jen zu ihren Bevollmächtigten für die Friedenskonferenz in Shanghai42. Begleitet von T a n g Sheng-chih, Chang Fa-k'uei, Huang Shao-hsiung und einem Gefolge von 82 Personen, traf die Kantoner Delegation am 21. Oktober in Shanghai ein, wo sie von Vertretern der Nankinger Parteizentrale und Regierung in sehr freundlicher Weise begrüßt wurde 43 . Am 22. kam auch Chiang mit dem Flugzeug von Nanking für wenige Stunden nach Shanghai und traf dort einige Kantoner Vertreter. Zu einem Gespräch mit Wang, das man offenbar erwartet hatte, kam es jedoch noch nicht44. Nanking ernannte nun Li Shih-tseng, Ts'ai Yüanp'ei, Chang Chi, Ch'en Ming-shu und Chang Ching-chiang zu seinen Delegierten für die Friedenskonferenz. Später trat noch Wu T'ieh-ch'eng hinzu. Chiang selbst hielt sich jedoch fern. Die Konferenz selbst begann am 27. Oktober, und in den ersten Tagen danach schien es trotz aller vermittelnden Bemühungen Ts'ai Yüan-p'eis, Chang Chis und Li Wen-fans, als sei eine Einigung kaum zu erreichen. Chiang weigerte sich nämlich, schon jetzt seinen Rücktritt wenigstens anzukündigen, und erklärte, er wolle seine Demission erst mitteilen, wenn 39 40 41

Zirkulartelegramm . . . , ibid. „Shen-pao" v o m 1 5 . 1 0 . 1 9 3 1 . Telegramm H u Han-mins an T'ang Shao-yi, Wang Ching-wei u. a. in Kanton, v o m 15. 10. 1931; Text bei: Lei, op. cit., p. 207; englische Übersetzung in Auszügen in: China Year Book 1931—32, p. 545.

42

Z i r k u l a r t e l e g r a m m . . . , ibid. In der KMT-Chronik, Bd. I, p. 610, werden außer Wang, Sun und Li noch Ku Ying-fen und Teng Tse-ju als Delegierte genannt, die kontemporären Quellen stimmen jedoch durchweg mit der im Text aufgeführten Namensliste überein.

43

„Shen-pao" v o m 21. und 22. 10. 1931. Zirkulartelegramm . . . , ibid.

44

448

XI• Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

er — nachdem volle Einigung über die Zusammensetzung einer neuen Regierung erreicht wäre — endgültig zurücktreten werde45. Die Diskussion der folgenden Tage beschäftigten sich vor allem mit der Frage, wann Chiangs Rücktritt anzukündigen sei. Kanton forderte diese Proklamation sofort, Nanking bestand darauf, daß sich zunächst die Gegenregierung auflösen müsse. Im Grunde bestand bereits Einigkeit darüber, daß eine Koalitionsregierung gebildet werden sollte. Die Auseinandersetzungen auf der Friedenskonferenz müssen deshalb vor allem als Positionskämpfe für diese Regierungsbildung verstanden werden. Nach mehrtägigen Auseinandersetzungen kam endlich am 7. November ein Kompromiß zustande, der in der Form mehrerer Resolutionen und eines von den Bevollmächtigten beider Seiten unterzeichneten Zirkulartelegramms der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde 46 . Die von Nanking und Kanton einberufenen IV. Parteikongresse sollten zwar getrennt zusammentreten, aber nur solche Beschlüsse galten als verbindlich, die auf beiden Kongressen eine Mehrheit erhalten würden. In das IV. ZEK und die IV. ZKK der KMT traten automatisch alle Mitglieder ein, die diesen Gremien irgendwann seit 1924 angehört hatten, soweit sie nicht Kommunisten waren. Darüber hinaus sollte der Parteikongreß in Nanking noch vier Vollmitglieder und 14 Kandidaten des ZEK sowie vier Vollmitglieder und zwei Kandidaten der ZKK wählen, derjenige in Kanton hingegen fünf Vollmitglieder und vier Kandidaten der ZKK. Auf dem 1. Plenum des IV. ZEK, das nach dem Abschluß beider Parteikongresse alsbald in Nanking zusammentreten würde, sollte dann das Organisationsstatut der Nationalregierung revidiert und das neue Regierungspersonal ernannt werden. Für die Reorganisation der Regierung enthielt das Abkommen von Shanghai die folgenden Richtlinien: „1. a) Der Vorsitzende der Nationalregierung soll das Staatsoberhaupt sein, aber keine Verantwortung für die Exekutive tragen. Seine Position wird derjenigen eines Präsidenten in einem Lande mit dem System der Kabinettsregierung („Neike chih-tu", englisch: „Cabinet system of government", d. Verf.) entsprechen, seine Amtszeit zwei Jahre betragen, und er wird für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt werden können, b) Der Vorsitzende der Nationalregierung soll kein weiteres Amt ausüben. 2. a) Der ZPR wird abgeschafft und statt dessen ein Nationalregierungsrat gebildet, welcher das höchste Organ des Staates darstellt. 45 46

T'ang Leang-li in „The People's Tribune", loc. cit., p. 24 f. Resolutionen der Friedens- und Einigungskonferenz in Shanghai, vom 7. 11. 1931, u. a. in: CYJP vom 8. 11. 1931. Englische Übersetzungen (Resolutionen im Auszug, Zirkulartelegramm im vollen Text) in: China Year Book 1931—32, p. 546—548.

Die Friedenskonferenz

3.

4.

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6. 7.

8.

9. 10.

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in Shanghai

449

b) Der Nationalregierungsrat soll einen Ständigen Ausschuß von drei Mitgliedern bestellen, die abwechselnd den Vorsitz in seinen Sitzungen führen. Der Nationalregierungsrat wird eine angemessene Mitgliederzahl haben. Die Mitglieder des ZEK und der ZKK der KMT sind ex officio Mitglieder des Nationalregierungsrates. Der Exekutivyüan wird die tatsächliche Exekutive darstellen. Seine Aufgaben sollen denjenigen eines Kabinetts entsprechen, und er soll dem Nationalregierungsrat verantwortlich sein. Die Präsidenten des Legislativ-, Justiz-, Kontroll- und Prüfungsyüans tragen in Staatsangelegenheiten keine gemeinsame Verantwortung mit dem Präsidenten des Exekutivyüans. Der Präsident des Exekutivyüans und die Minister in diesem Yüan sind ex officio Mitglieder des Nationalregierungsrates. Der Justizyüan wird gleichzeitig höchstes Tribunal sein, ein besonderer Oberster Gerichtshof soll nicht gebildet werden. Die Justizverwaltung wird einem Ministerium im Exekutivyüan übertragen. Jährlich oder alle zwei Jahre soll die Nationalregierung eine Versammlung der Volksvertreter einberufen. Ihre Zusammensetzung und Organisation wird durch besondere Beschlüsse festgelegt. Die Versammlung der Volksvertreter erhält die Vollmacht, die Hälfte der Mitglieder des Legislativ- und Kontrollyüans zu wählen. Persönliches Verdienst und Fähigkeit werden das einzige Kriterium bei der Auswahl der Minister des Exekutivyüan darstellen. Ihre Positionen sind nicht nur Parteimitgliedern vorbehalten. Die Qualifikationen für den Vorsitzenden der Nationalregierung und die Präsidenten der fünf Yüan werden im Organisationsstatut der Nationalregierung festgelegt«."

Diese Bestimmungen eröffneten Möglichkeiten für eine schrittweise Demokratisierung der Herrschaftsordnung. Während die Kantoner Delegierten die Beibehaltung der Fünf-Funktionen-Verfassung in der Periode der Erziehungsdiktatur konzedieren mußten, erreichten sie zunächst das Versprechen, daß der ZPR als Institution abgeschafft und an seine Stelle ein kompetentes Beschlußorgan innerhalb der Regierung geschaffen werden sollte, das formal nicht länger ein Organ der Partei darstellte. In der Frage der Auflösung der Gegenregierung und des Rücktritts von Chiang einigte man sich darauf, daß die ursprünglich vorgesehenen Proklamationen hierzu nicht veröffentlicht werden sollten. Der Vorsitzende der N a tionalregierung würde nach der Bestellung des neuen Regierungspersonals auf dem 1. Plenum des IV. ZEK sein Amt niederlegen, und gleichzeitig sollte auch die Tätigkeit der Kantoner Regierung enden48. So waren die Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung der nationalistischen Einheitspartei geschaffen. Aber die Einigungsformel von 47 48

29

ibid., Resolution II. ibid. Resolution III B. Domes

450

XI- Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

Shanghai wurde noch manchen Belastungen unterworfen, bis es Ende Dezember 1931 tatsächlich zur Bildung einer Koalitionsregierung kam. Zunächst allerdings bemühten sich beide Seiten, ihren guten Willen zu dokumentieren. Wang Ching-wei erklärte am 8. November auf einer Pressekonferenz in Shanghai, daß es „keinen Grund" geben werde, „nicht mit Herrn Chiang zusammenzuarbeiten, sobald die Fundamente für eine wirklidi demokratische Regierung gelegt sind"49. In Nanking beschloß ein „Außerordentliches Plenum" (Ling-shih ch'üan-t'i hui-i) des III. ZEK, das am 9. November zusammentrat, den gegen Wang Ching-wei, Ch'en Kung-po und 346 weitere Mitglieder oppositioneller Gruppen verhängten Parteiausschluß rückgängig zu madien; auch Chü Cheng wurde jetzt aus der Haft entlassen50. Doch die euphorische Stimmung hielt nur wenige Tage an. Noch mußte die Kompromißformel von Shanghai von zwei getrennten IV. Parteikongressen in Nanking und Kanton akzeptiert werden, und vor allem in Kanton war mit erheblichem Widerstand unversöhnlicher Gegner Chiangs zu rechnen. Daß dieser weiter an seinem Amt als Vorsitzender der Nationalregierung festhielt, erschwerte die Bemühungen der verständigungswilligen Kräfte um die Zustimmung Kantons zu der in langen Verhandlungen ausgehandelten Friedensregelung. Deren Bestand war schließlich davon abhängig, daß es gelingen würde, eine wirkliche Versöhnung zwischen Wang und Chiang herbeizuführen und diese beiden bedeutsamsten Parteiführer dazu zu veranlassen, daß sie hinfort bereit waren, als gleichberechtigte Partner zusammenzuarbeiten. Ihr Konflikt hatte schon im April und Dezember 1927 eine Zusammenfassung der wesentlichsten Kräfte des chinesischen Nationalismus verhindert und Jahre des Bürgerkrieges und der innerparteilichen Streitigkeiten heraufbeschworen. Sollte dies jetzt verhindert werden, dann galt es, einen wirklichen modus vivendi zu finden.

Zwei getrennte Parteikongresse In Nanking verlief der IV. Parteikongreß der KMT, der am 12. November 1931 zusammentrat und bis zum 23. November tagte51, ohne be49 50

51

Vgl. dazu: T a n g Leang-li in „The People's Tribune", loc. cit., p. 27. Beschlußprotokoll des Außerordentlichen Plenums des III. ZEK der KMT am 9. November 1931 (KMT-Archiv). Vgl. hierzu auch: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 781—785; und: China Year Book 1931—32, p. 548 f.

Zwei getrennte

Parteikongresse

451

sondere Vorkommnisse. Im Mittelpunkt der Diskussionen der 341 Delegierten, von denen diesmal immerhin schon 166 oder nahezu die H ä l f t e aus Wahlen in den lokalen Parteiorganisationen hervorgegangen waren, stand der Konflikt mit Japan, während die Beschlüsse der Shanghaier Friedenskonferenz schnell und ohne wesentlichen Widerspruch gebilligt wurden51. A m 20. November beschloß der Kongreß eine Erklärung zum chinesisch-japanischen Konflikt, in welcher er betonte, daß der Widerstand Ma Chan-shans gegen die japanische Aggression in Heilungkiang in der Ausübung eines legitimen Interesses geleistet würde, und er versicherte den General der Untersützung durch die Partei. Er erteilte der Nationalregierung „alle Vollmachten, jede Maßnahme der Selbstverteidigung zu treffen, die sie für den Schutz der Rechte der Nation und die Verteidigung des nationalen Territoriums für nötig hält" 52 . Die Kriegserklärung an Japan, die von demonstrierenden Studenten in vielen chinesischen Städten verlangt wurde, sprach der Kongreß jedoch nicht aus, obgleich ihn eine Flut von Petitionen mit einer derartigen Forderung erreicht hatte. In einem am 14. November verabschiedeten „Manifest an das Ausland" riefen die Delegierten alle Staaten der Welt auf, sich um eine Beilegung des Konflikts zu bemühen und Japan zu veranlassen, seine Truppen aus Tungpei zurückzuziehen53. Das Manifest des Kongresses an das chinesische Volk war sehr kurz gehalten und beschränkte sich im wesentlichen auf einen Appell zur Einigkeit angesichts der Bedrohung durch den äußeren Feind54. Bei den Ergänzungswahlen zum I V . Z E K siegten mit Chou Fu-hai, Ku Chut'ung*, H o Yao-tsu und Hsia Tou-yin vier unbedingte Anhänger Chiangs, Chang Hsüeh-liang befand sich unter den neugewählten Mitgliedern der Z K K 5 5 . Der I V . Parteikongreß in Nanking gewann seine Bedeutung für das innenpolitische Kräftespiel vor allem durch das große Maß an Einmütigkeit, mit dem sich hier die Anhängerschaft Chiangs der Öffentlichkeit präsentierte. Ein erheblicher Teil dieses Effekts ging freilich unter dem Ein-

52

Chung-kuo Kuomintang li-tz'u hui-i hsüan-yen dii chung-yao chüeh-i-an hui-pien (Sammlung der Manifeste und wichtiger Beschlüsse aller früheren Konferenzen der K M T ) , Ch'ungk'ing 1941 (hinfort: Ch'ung-k'ing-Sammlung), 2 Bde., hier jeweils nur Bd. I I , p. 480 f. Englisdie Übersetzung in: China Year Book, 1 ibid.

53

Ch'ung-k'ing-Sammlung, p. 476—480; auch in: Manifeste aller Parteitage, p. 59 bis 62.

54

Manifest des I V . Parteitages der K M T , vom 23. 11. 1931, ibid., p. 63—67; auch in:

55

C Y J P vom 22.11.1931.

Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 473—476.

29»

452

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

druck der nationalistischen Studentenbewegung 58 schnell wieder verloren, aber immerhin mußte bei den endgültigen Einigungsverhandlungen auf dem 1. Plenum des IV. ZEK mit der Stärke Nankings gerechnet werden. In Kanton war der IV. Parteikongreß, der am 18. November zusammentrat, von den Gegensätzen der in sich gespaltenen Opposition beherrscht und nahm einen dramatischen Verlauf. Die bestimmende Persönlichkeit auf dem Kongreß, an welchem insgesamt 635 stimmberechtigte Mitglieder teilnahmen — wie viele gewählt waren, ließ sich nicht feststellen — war zunächst Sun K'e57. Er kam, zusammen mit Li Wen-fan und Ch'en Yu-jen, als Abgesandter der Shanghaier Friedenskonferenz nach Kanton, um hier die Zustimmung des Südens zu der ausgehandelten Kompromißformel zu erlangen. Aber auf dem Kongreß bildeten die Anhänger Ch'en Chi-t'angs, der Kuangsi-Gruppe und Hu Han-mins eine überwiegende Mehrheit gegenüber den Mitgliedern der „Vereinigung der Reorganisations-Genossen". Während diese loyal zu der Vereinbarung von Shanghai standen, in der sie einen großen Teil ihres politischen Programms wiederfanden, wollte die Zweckkoalition der verschiedenen Rechtsgruppen, zu der sich bald auch die in Kanton gebliebenen Anhänger der „Westberggruppe" gesellten, mehr durchsetzen, als in Shanghai erreicht worden war. Ihnen ging es darum, Chiangs Einfluß in der Partei vollends zu brechen und die schon 1928/29 von den Kuangsi-Generalen praktizierte Dezentralisierung der Macht in regionalen Leitungsorganen wieder einzuführen. Antijapanische Kampfparolen sollten dabei bewirken, daß die Welle nationalistischer Erregung, die durch das Land ging, die Position der entschiedenen Gegner der Nanking-Regierung gegen Chiang stärkte. Sun K'e, der zusammen mit Teng Tse-ju, Hsiao Fu-ch'eng, Li Tsung-jen, Ching Heng-yi und vier weniger bekannten Vertretern der Delegiertenschaft58 im Präsidium des Kongresses saß und die „Vorbereitungssitzung" am 19. November leitete, paßte sich schnell an die vorherrschende Stimmung der Versammlung an. Schon auf der 1. ordentlichen Sitzung, am 20. November, kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen Delegierten aus Kuangsi und Vertretern des linken Flügels, als ein Antrag, der Nanking-Regierung vor der endgültigen Wiedervereinigung der Partei die Auflegung von Inlandsanleihen zu „verbieten", von der Mehrheit angenommen wurde 59 . Der Kongreß sandte ein Telegramm an 59 57 58

59

Siehe unten, Seite 455 ff.! Vgl. dazu u. a.: China Year Book 1931—32, p. 549 f. Li Yang-ch'ing, Huang Hsün-chu, Kuan Ssu-jen und Yao T'i-chang (Protokoll IV Kanton, p. 1). ibid., p. 3.

Zwei getrennte

Parteikongresse

453

Wang Ching-wei und Hu Han-min in Shanghai und forderte sie auf, unverzüglich nach Kanton zurückzukommen, um an der Versammlung teilzunehmen60. Man befürchtete offenbar, sie würden sich in Shanghai doch noch dazu bereitfinden, auf den Rücktritt Chiangs zu verzichten. Während Hu sich zusammen mit Wu Ch'ao-shu anschickte, der Aufforderung aus Kanton Folge zu leisten, blieb Wang jedoch in Shanghai, um dort seine ursprünglichen Anhänger vom linken Flügel der Partei zu sammeln. Die Diskussion über das Abkommen von Shanghai auf der 2. ordentlichen Sitzung, am 23. November, führte dann den Bruch in den Reihen der Kantoner Opposition herbei. Die Mehrheit beschloß nicht nur, das Abkommen zu akzeptieren, aber Chiangs sofortigen Rücktritt zu verlangen und den Anspruch darauf zu erheben, daß allein der Kantoner Kongreß das IV. ZEK wählen dürfe, sondern sie nahm sogar einen Antrag einiger Anhänger der Kuangsi-Generale an, durch den Chiang und Chang Hsüeh-liang wegen ihrer „Feigheit vor dem japanischen Aggressor" aus der Partei ausgeschlossen werden sollten81. Daraufhin verließen etwa 120 Delegierte unter der Führung Ku Cheng-kangs den Kongreß und reisten am 25. November nach Shanghai ab, um dort ihrerseits die Kantoner Session fortzusetzen 92 . Nur dem mäßigenden Einfluß Hu Han-mins und Wu Ch'ao-shus, die am 30. November in Kanton eintrafen, gelang es, die Kantoner Delegierten schließlich doch noch dazu zu bewegen, das Abkommen von Shanghai unverändert zu akzeptieren. Auf der 7. ordentlichen Sitzung, am 1. Dezember, unterbreiteten Hu und Wu, die man sofort nach ihrer Ankunft in das Präsidium des Kongresses gewählt hatte, der Versammlung den Entwurf einer „Resolution über Parteiangelegenheiten", in welchen die Texte der Vereinbarungen von Shanghai aufgenommen worden waren 63 . Erst nachdem Sun K'e, der jetzt wiederum gemeinsam mit Hu und Wu operierte, zugesagt hatte, daß man in Shanghai und Nanking auf 60 61

ibid., p. 5. Text des Telegramms: ibid., Anhang 7 (Anhänge ohne Paginierung). ibid., p. 6. Text der Resolution: ibid., Anhang 13.

62

„Min-kuo jih-pao" v o m 2 5 . 1 1 . 1 9 3 1 ; und: „Shen-pao" v o m 2 7 . 1 1 . 1 9 3 1 . Diese Berichte bestätigen die Darstellung, welche Ku Cheng-kang dem Verfasser im Interview am 6. Oktober 1964 in T'aipei gab. Ku berichtete, daß insgesamt 120 bis 150 Delegierte mit ihm zusammen den Kongreß verlassen hätten und nach Shanghai gegangen seien. Als Grund für diesen Schritt gab er an, die Mehrheit des Kantoner Kongresses habe mit ihren Entscheidungen vom 23. N o v e m b e r das Shanghaier A b kommen gebrochen und die Gefahr eines neuen Bürgerkrieges heraufbeschworen. Angesichts der japanischen Bedrohung hätten die dissidenten Delegierten dieses jedodi unbedingt verhindern wollen.

63

Protokoll IV Kanton, Anhang 28.

454

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

einen Rücktritt Chiangs vor dem Beginn des 1. Plenums drängen werde, nahm die Versammlung den Antrag Hu-Wu mit großer Mehrheit an64. Sie bezahlten diesen Erfolg für die Sache der Friedenskonferenz mit einem Zugeständnis an den Regionalismus: am 3. Dezember brachten Hu, Wu, Sun K'e und Li Tsung-jen gemeinsam den Vorschlag ein, daß hinfort unter dem ZEK „in allen bedeutenden Städten" regionale Exekutivbüros der KMT eingerichtet werden sollten65. Dies war eine nur unwesentlich veränderte Neuauflage der „Zweigbüros des PR" von 1928/29, und die autonomistisch orientierten Delegierten des Südens und Südwestens, die ihr Mandat meist dem Wunsdi eines der dort bestimmenden Generale verdankten, stimmten dem Vorschlag bereitwillig zu. Damit wurde eine Veränderung der innenpolitischen Fronten erkennbar, welche in den folgenden Jahren erheblichen Einfluß auf die Auseinandersetzungen innerhalb der nationalistischen Einheitspartei gewinnen sollte: Die Regionalisten des Südens und Südwestens stellten sich, um die Kuangsi-Gruppe als Kern geschart und von Teilen der „Westberggruppe" und der Anhängerschaft Hu Han-mins unterstützt, einer zentralistischen Koalition des linken Flügels mit dem Zentrum unter der Führung von Chiang und Wang entgegen! Der Kantoner Rumpfkongreß endete schließlich am 4. Dezember mit der Wahl von Pai Ch'ung-hsi, Li Yang-ch'ing*, Yü Han-mou, Lin Yichung* und Chang Hui-ch'ang :: ' zu Mitgliedern des ZEK, während T'ang Shao-yi, Chang Fa-k'uei und Hsiang Han-p'ing in die ZKK entsandt wurden 86 . Am selben Tage traten die dissidenten Delegierten in Shanghai zu einer Konferenz zusammen, an der auch Wang Ching-wei teilnahm. Sie erklärten sich ohne Widerstände mit den Beschlüssen der Friedenskonferenz einverstanden und drängten mit besonderer Intensität darauf, die neue Regierung so schnell wie irgend möglich zu bilden67. M

ibid., p. 11. • 5 ibid., p. 16. «« Protokoll I V Kanton, p. 16. 67 „Shen-pao" vom 5 . 1 2 . 1 9 3 1 . Vgl. hierzu: Lei, op. cit., p. 209; und: China Year Book 1931—32, p. 550. Dokumente über die Versammlung von Shanghai konnten v o m Verfasser nidit aufgefunden werden. Nach Angaben Ku Cheng-kangs im Interview mit dem Verfasser am 18. September 1965 wurden die Konferenzmaterialien nie gedruckt, sie sollen sidi — so Ku — im Besitz des persönlichen Sekretariats von Wang Ching-wei befunden haben. China Year Book, ibid., schreibt, man habe in Shanghai „einige zusätzliche Mitglieder des ZEK und der ZKK gewählt, die später auf dem 1. Plenum anerkannt wurden". Dabei kann es sidi jedoch nur um Kuei Ch'ung-dii vom linken Flügel und Chang Chih-pen von der „Westberggruppe" ge-

Der zweite Rüdetritt Chiangs und die Reorganisation

der Regierung

455

So war denn schließlich trotz aller Schwierigkeiten die Einigungsformel von allen Fraktionen der KMT ratifiziert, der Errichtung einer vereinigten Führung für Partei und Staat stand nur noch die Forderung der Kantoner Opposition im Wege, daß Chiang noch vor dem 1. Plenum, das die Funktionen der ursprünglich vorgeschlagenen Einigungskonferenz übernehmen sollte, zurücktreten müsse.

Der zweite Rücktritt Chiangs und die Reorganisation der Regierung auf dem 1. Plenum des IV. ZEK Was in vier aufeinander folgenden Bürgerkriegen und von zwei Gegenregierungen nicht erreicht worden war, nämlich der Sturz Chiangs, wurde durch die Unentschlossenheit des Völkerbundes gegenüber der japanischen Aggression in Tungpei, die nationalistische Studentenbewegung und eine politische Offensive der in Shanghai und Kanton versammelten Führer der Opposition bewerkstelligt. In realistischer Einschätzung des militärischen und ökonomischen Kriegspotentials seines Landes hatte Chiang darauf verzichtet, dem japanischen Uberfall gewaltsam zu begegnen. Die Nationalregierung setzte ihre Hoffnung vielmehr darauf, daß es dem Völkerbund gelingen würde, Japan zum Nachgeben zu veranlassen. Diese Haltung rief von Anfang an die Kritik erheblicher Teile der Bevölkerung hervor, allen voran diejenige der Studentenorganisationen, die, von Sekundärschülern unterstützt, nicht nur den Boykott gegen japanische Waren durchsetzten, sondern auch ab Ende September in allen größeren Städten Kundgebungen abhielten, auf denen eine Kriegserklärung gegen Japan gefordert wurde. Sie beriefen sich dabei mit großem Erfolg auf die unter chinesischen Intellektuellen schon nahezu legendären Traditionen der „4. Mai-Bewegung". In den letzten Novembertagen begann ein „Marsch" von 6—7.000 Studenten und Sekundärschülern von Hsüchou und Hank'ou auf Nanking. Mit Eisenbahnen und Schiffen kamen sie in die Hauptstadt, wo sie vor dem Amtsgebäude des Nationalregierungsrates einen 24-stündigen Sitzstreik begannen68. Der Diplomat Ky Weichün, der am 23. November die Leitung des Außenministeriums übernommen hatte, empfing eine Abordnung der Demonstranten, die ihm drei Fragen vorlegte:

68

handelt haben. Chang selbst bestätigte im Interview mit dem Verfasser am 6. Juli 1963 in T'aipei, daß er „kurz vor dem Rüdetritt Chiangs" in Shanghai zum Vollmitglied des ZEK gewählt worden sei. Israel, op. cit., p. 60 ff.; und: Tong, op. cit., p. 144.

456

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

„1. Gibt die Nationalregierung zu, daß der Völkerbund versagt hat? 2. Wird die Nationalregierung sofort alle Verträge mit Japan aufkündigen? 3. Warum schließt die Nationalregierung kein Bündnis mit den U S A gegen Japan ab69?"

Ku versuchte, in seiner Antwort die Sprecher der Demonstranten davon zu überzeugen, daß die USA zum Abschluß eines solchen Bündnisses nicht bereit seien und daß China in seiner gegenwärtigen Lage einen Krieg gegen Japan nicht riskieren könne, man müsse also trotz allem weiter auf eine Aktion des Völkerbundes hoffen 70 . Dies erklärten die Studenten und Sekundärschüler jedoch für unbefriedigend, und sie teilten mit, daß sie so lange in der Hauptstadt demonstrieren würden, bis Chiang ihnen „den Termin seines Aufbruchs in die Mandschurei zum Kriege gegen Japan" nenne. Erst jetzt entschloß sich der Vorsitzende der Nationalregierung, selbst zu den Studenten zu sprechen. In einer Ansprache vor den Demonstranten rief er diesen am 4. Dezember zu, sie täten besser daran, in ihre Universitäten und Schulen zurückzukehren und es der Regierung zu überlassen, wie mit den Japanern zu verfahren sei. Chiang erklärte: „Wenn ich wollte, daß das ganze Land mir zujubelt — ich könnte dies schnell erreichen. Ich brauchte nur den Krieg gegen Japan zu erklären, und ganz China würde mir begeistert folgen. Aber warum tue ich es denn nicht? Ich fürchte den Tod nicht, aber ich kann nicht das Leben unseres Staates und die Wohlfahrt unseres Volkes leichtfertig aufs Spiel setzen 71 !"

Seine Worte hatten zunächst erhebliche Wirkung: Die Studenten brachen ihre Demonstrationen ab und verließen die Hauptstadt. Als jedoch der Völkerbundsrat am 10. Dezember beschloß, auf die Nennung eines Termins für den Abzug der Japaner aus Tungpei zu verzichten72, begann die Bewegung unter den Studenten von neuem mit größerer Heftigkeit als zuvor. Innerhalb von zwei Tagen sammelten sich Zehntausende von Studenten und Sekundärschülern aus Peking, T'ienchin, Shanghai, Wuhan, Hsüchou und Hangchou in Nanking. In einigen Städten hatten sie die Bahnhöfe erstürmt und Züge beschlagnahmt, um schneller in die Hauptstadt zu kommen, wo jetzt wütende Demonstrationen ausbrachen. Die Parteizentrale der KMT und das Außenministerium wurden gestürmt, Ts'ai Yüan-p'ei und Ch'en Ming-shu überfallen und verletzt, und schließlich setzten die Demonstranten das Gebäude der Parteizeitung „Chungyang jih-pao" in Brand. Nach diesen Ausschreitungen befahl Chiang den «» CYJP vom 1.12. 1931. 70 CYJP, „Shen-pao" und „North China Daily News" vom 2. 12. 1931. 71 KMT-Chronik, Bd. I, p. 615 und: Israel, op. cit., p. 72 ff. 72 Siehe oben, Seite 396!

Der zweite Rücktritt Chiangs und die Reorganisation

der

Regierung

457

Einsatz der Garnisontruppen der Hauptstadt, denen es gelang, die Demonstrationen ohne Blutvergießen zu zerstreuen und die Studenten und Sekundärschüler unter Bewachung in ihre Heimatstädte zurückzubringen73. Auf diese Weise konnte zwar eine Ausbreitung der Unruhen verhindert werden, das Prestige Chiangs und der Nanking-Regierung hatte jedoch durch die Studentenbewegung einen so schweren Schlag erlitten, daß es der Opposition jetzt leichtfiel, ihr Ziel, den Rücktritt Chiangs, zu erreichen. Angesichts der zunehmenden Verschärfung des Konflikts mit Japan lag auch Chiang daran, möglichst schnell zur Bildung einer Koalitionsregierung mit den oppositionellen Gruppen zu gelangen. Bereits am 30. November forderte er daher die Oppositionsführer in einem Telegramm an Wang Ching-wei auf, umgehend nach Nanking zu kommen, damit das 1. Plenum des IV. ZEK eröffnet werden könne74. Nachdem auch der Kantoner Parteikongreß abgeschlossen war, wurde diese Aufforderung von den Nankinger Delegierten auf der Friedenskonferenz unter der Führung Ts'ai Yüan-p'eis in einem weiteren Telegramm vom 7. Dezember in noch dringlicherer Form wiederholt75. Sun K'e und andere Führer aus Kanton begaben sich jetzt zwar nach Shanghai, wo sie am 10. Dezember eintrafen und sofort mit Wang Ching-wei Kontakt aufnahmen, aber sie waren nicht bereit, nach Nanking zu kommen. Am 12. Dezember teilten sie vielmehr in einem Zirkulartelegramm mit, daß sie die Hauptstadt erst nach dem Rücktritt Chiangs betreten würden76. Einen Tag später wandte sich auch Hu Han-min von Kanton aus in aller Öffentlichkeit gegen Chiang und forderte seine Abdankung77. Diesem konzentrierten Druck mußte Chiang schließlich weichen. Am 15. Dezember erklärte er seinen Rücktritt von den Ämtern des Vorsitzenden der Nationalregierung, des Präsidenten des Exekutivyüans und des Oberbefehlshabers aller Streitkräfte. In seinem Rücktrittsmanifest wies er darauf hin, daß er der Einigung der Partei nicht im Wege stehen wolle und deshalb seine Positionen aufgebe, aber er fügte auch hinzu: 73

„Sh£n-pao" vom 14., 15., 17. und 18. 12. 1931. Vgl. hierzu: Tong, op. cit., p. 144 f.; China Y e a r Book 1 9 3 1 — 3 2 , p. 5 5 0 ; und: Israel, op. cit., p. 7 4 — 7 6 .

74

Telegramm Chiangs an Wang Ching-wei vom 30. 11. 1931, in: C Y J P vom 1. 12. 1931. Vgl. dazu: China Y e a r Book, ibid. f.

75

Telegramm Ts'ai Yüan-p'ei u. a. an Wang Ching-wei, Sun K'e u. a. vom

7.12.

1931; englische Übersetzung im Auszug ibid., p. 551. 78

Zirkulartelegramm Wang Ching-weis,

Sun K'es u. a. vom

12. 12. 1931

Archiv). 77

Zirkulartelegramm H u Han-mins vom 13. 12. 1931 (KMT-Archiv).

(KMT-

458

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

„Selbst nach meinem Rücktritt werde ich in meiner Eigenschaft als Bürger der Republik und als Mitglied der Partei mein Äußerstes tun, um zur Lösung der nationalen Krise beizutragen . . . 78 ."

Die Warnung, welche diese Worte enthielten, wurde von Chiangs Gegnern offenbar verstanden 79 . Auch nachdem er — zusammen mit Außenminister Ku Wei-chün und Finanzminister Sung Tzu-wen — seine Ämter niedergelegt und sich am 22. Dezember in seine Heimatstadt Fenghua bei Ningpo zurückgezogen hatte, blieb Chiang ein ernst zu nehmender Faktor im politischen Kräftespiel, zumal er diesmal im Gegensatz zu seinem ersten Rücktritt, im Jahre 1927, nicht ins Ausland ging. Die Elitetruppen der „Zentralarmee", die von Generalen befehligt wurden, welche ihm gegenüber unbedingte Loyalität übten, kontrollierten die Provinzen Kiangsu, Chekiang, Anhui, Honan, Hupei und Teile von Hunan. Im Norden herrschte Chang Hsüeh-liang, der damals eng mit Chiang verbunden war, und selbst der Osten der Provinz Kuangtung war von Verbänden besetzt, die ihn audi nach seinem Rücktritt weiter als ihren Oberbefehlshaber betrachteten. Wenn eine neue Regierung tatsächlich Erfolg haben wollte, mußte sie sich daher der Unterstützung Chiangs versichern. Zunächst schienen solche Überlegungen die Führer der Opposition jedocli kaum zu berühren. Bereits am 17. Dezember trafen sie in Nanking ein, wo inzwischen der Präsident des Legislativyüans, Lin Sen, provisorisch das Amt des Vorsitzenden der Nationalregierung übernommen hatte, während Ch'en Ming-shu als Präsident des Exekutivyüans amtierte80. Wang Ching-wei allerdings benutzte eine erneute schwere Erkrankung als Grund, um der Hauptstadt vorläufig fernzubleiben, und Hu Han-min machte ebenfalls keine Anstalten, von Kanton nach Nanking zu kommen. Das 1. Plenum des IV. ZEK der KMT trat also am 22. Dezember in Nanking zur Bildung der Koalitionsregierung ohne die drei bedeutendsten Parteiführer zusammen. Fast 40 % der Mitglieder dieses auf so mühevolle Weise und kaum in Ubereinstimmung mit dem Parteistatut zustande gekommenen Gremiums gehörten unmittelbar zur Anhängerschaft Chiangs, etwa ebenso viele vertraten die „neue Rechte" unter Hu, die Kuangsi-Gruppe und andere Regionalcliquen, ungefähr ein Fünftel aber folgte Wang und den Generalen des Nordens, Feng-Yü78

79

80

Erklärung des Vorsitzenden Chiang über den Rücktritt von allen seinen Ämtern, vom 1 5 . 1 2 . 1 9 3 1 , in: CYJP vom 16. 12.1931. Englische Übersetzung in: China Year Book 1931—32, p. 551 f. T a n g Leang-li („The Editor"), „The Fall of the Dictatorship", in: „The People's Tribune", loc. cit., Nr. 2 vom 26. 12.1931, p. 41—43. Vgl.: China Year Book, ibid.

Der zweite Rüdetritt Chiangs und die Reorganisation

der Regierung

459

hsiang und Yen Hsi-shan. Wollte man angesichts dieser Kräfteverhältnisse tatsächlich eine Einigung herbeiführen, so mußten Kompromisse geschlossen werden. Die am 25. und 26. Dezember beschlossenen Änderungen des Organisationsstatuts der Nationalregierung übernahmen von den Ergebnissen der Shanghaier Friedenskonferenz die Umwandlung des Amtes des Vorsitzenden der Nationalregierung. Er sollte hinfort — auf zwei Jahre vom ZEK der KMT gewählt — nur noch repräsentative Funktionen ausüben. Ein „Staatsrat" (Kuo-wu hui-i) mit 24 bis 36 Mitgliedern (Kuo-min cheng-fu wei-yüan) würde ihm zur Seite stehen, während die tatsächlichen Funktionen der Regierung von den fünf Yüan ausgeübt werden sollten. Ihre Präsidenten und Vizepräsidenten mußten vom ZEK gewählt werden und waren diesem verantwortlich, der Oberbefehl über die Streitkräfte lag in der Hand des Staatsrates in seiner Gesamtheit, der Exekutivyüan erhielt die Funktion eines Kabinetts, allerdings mit der Einschränkung, daß er an die Weisungen des ZPR der KMT gebunden war, ebenso alle anderen Staatsorgane 81 . Im Gegensatz zu den Beschlüssen der Friedenskonferenz blieb also der ZPR als Organ der Partei bestehen, seine Struktur änderte sich allerdings erheblidi. Wie schon von 1926 bis 1929, so sollten auch jetzt wieder alle Mitglieder des ZEK und der ZKK ihm ex officio angehören. An die Stelle des Vorsitzenden des ZPR trat ein „Ständiger Ausschuß" von drei Mitgliedern, die den Sitzungen abwechselnd präsidieren würden 82 . Durch diese Entscheidung des 1. Plenums blieben für den Staatsrat der Nationalregierung nur wenige echte Machtbefugnisse übrig, höchstes politisches Entscheidungsorgan war weiterhein ein Parteigremium. Legislativ- und Kontrollyüan sollten hinfort zur Hälfte vom Vorsitzenden der Nationalregierung auf Vorschlag ihrer jeweiligen, vom ZEK gewählten Präsidenten, zur Hälfte aber von „in Ubereinstimmung mit Gesetz und Recht aufgebauten Volksorganisationen" bestellt werden. Diese Bestimmung war alles, was von der ursprünglich vorgesehenen „Versammlung der Volks81

82

Besdiluß des 1. Plenums des IV. ZEK der KMT über die Reorganisation des Regierungssystems, vom 25.12.1931, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 508 f.; und: Verändertes Organisationsstatut der Nationalregierung, angenommen auf dem 1. Plenum des IV. ZEK der KMT am 26.12.1931, von der Nationalregierung verkündet am 29.12.1931, ibid., p. 515—521. Eine englische Übersetzung des revidierten Organisationsstatuts findet sich in: China Year Book 1931—32, p. 691 f. Vgl. hierzu: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 792 f. Grundsätze der Organisation des ZPR, verabschiedet vom I.Plenum des IV. ZEK der KMT am 26. Dezember 1931, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 522—524. Vgl. China Year Book 1931—32, p. 552 f.

460

XI• Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

Vertreter" in die neue Organisation der Regierungsorgane übernommen wurde. Die Anhänger Chiangs konnten dadurch einen weiteren Erfolg verbuchen, daß das IV. ZEK das am l . J u n i 1931 verkündete „Grundgesetz für die Periode der Erziehungsdiktatur" als vorläufige Verfassung Chinas anerkannte 83 . Damit hatte die Opposition nachträglich den Nationalkonvent Chiangs legitimiert. Andererseits gelang es ihr, neben der Position des Oberbefehlshabers der Land-, See- und Luftstreitkräfte auch diejenigen des Vorsitzenden des ZEK abzuschaffen. Fortan sollten die neun Mitglieder des Ständigen Ausschusses des ZEK im Turnus über die Sitzungen der Parteiführung präsidieren. An die Stelle des bisherigen Generalsekretariats der Parteizentrale trat das Amt eines Chefsekretärs des Ständigen Ausschusses des ZEK, und die Abteilungen wurden durch drei Kommissionen für Organisation, Propaganda und „Volksbewegungen" (Jen-min yün-tung) ersetzt84. Die personalpolitischen Entscheidungen, welche das Plenum am 29. Dezember fällte, machen deutlich, in welchem Maß man bemüht war, in der Nanking-Kanton-Koalitionsregierung ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Fraktionen und Machtgruppen innerhalb der Partei herzustellen85. In den Ständigen Ausschuß der ZEK berief man mit Chiang Kai-shek, Wang Ching-wei, Hu Han-min, Sun K'e, Yü Yu-jen, Ku Meng-yü, Chü Cheng, Ch'en Kuo-fu und Yeh Ch'u-cheng vier Vertreter der Nanking-, vier der Kanton-Regierung und einen (Hu), der sich nicht eindeutig mit einer von beiden Zentralen identifiziert hatte. Unter ihnen befanden sich vier Politiker des Zentrums um Chiang, zwei „Reorganisations-Genossen", zwei Repräsentanten der „neuen Rechten" (Hu-Sun) und ein Mitglied der „Westberggruppe". Chefsekretär des Ständigen Ausschusses wurde Yeh Ch'u-cheng (Chiang-Zentrum, Nanking), an die Spitze der Kommission für Organisation berief man Ch'en Li-fu (Chiang-Zentrum, Nanking), an diejenige der Propagandakommission Ku Meng-yü (Reorganisation, Kanton) und an diejenige der Kommission für Volksbewegungen Ch'en Kung-po (Reorganisation, Kanton). Diese Besetzung der Schlüsselpositionen in der Parteizentrale deutete bereits an, daß hinfort die Anhänger Chiangs und Wangs den bedeutsamsten Einfluß auf die Geschicke der Partei ausüben 83 84

85

Vgl. Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 508. Resolution über die Organisation der Zentralen Kader, verabschiedet v o m 1. Plenum des IV. ZEK der K M T am 2 6 . 1 2 . 1 9 3 1 , ibid., p. 509 f. Vgl. KMT-Chronik, Bd. I, p. 616 f.; und: China Year Book 1931—32, p. 553 und 692—694.

Der zweite Rücktritt

Chiangs und die Reorganisation

der Regierung

461

würden. Zum Vorsitzenden der Nationalregierung wählte man Lin Sen, der zwar ursprünglich der „Westberggruppe" angehört, sich aber schon seit 1928 von ihr gelöst hatte und jetzt bei allen Fraktionen gleichermaßen hohes Ansehen genoß, wenn er auch auf keine von ihnen tatsächlich Einfluß auszuüben vermochte. Von den 36 Staatsräten der Nationalregierung (Kuo-min cheng-fu weiyüan) — Positionen, die eher Rang als Macht verliehen — hatten 17 zuvor Nanking unterstützt 86 , zwölf kamen aus Kanton-Opposition 87 ,vier repräsentierten die Generale des Nordens 88 , während drei der KantonRegierung zwar nahegestanden, ihr aber nicht angehört hatten 89 . Auch bei der Besetzung der übrigen leitenden Staatsämter blieb der Koalitionscharakter der neuen Führung gewahrt, wie die folgende Zusammenstellung zeigt: LEGISL ATI VYÜAN: Präsident: Chang Chi („Westberg", Nanking) Vizepräsident: T'an Cheng („Westberg", Kanton) KONTROLLYÜ A N : Präsident: Yü Yu-jen (Chiang-Zentrum, Nanking) Vizepräsident: Ting Wei-fen (Chiang-Zentrum, Nanking) JUSTIZ YÜ A N : Präsident: Wu Ch'ao-shu („Neue Rechte", Kanton) Vizepräsident: Chü Cheng („Westberg", Kanton) PRÜFUNGS YÜ A N : Präsident: Tai Chi-t'ao (Chiang-Zentrum, Nanking) Vizepräsident: Liu Lu-yin („Neue Rechte", Nanking) EXEKUTI VYÜAN: Präsident (Premierminister): Sun K'e („Neue Rechte", Kanton) Vizepremier: Ch'en Ming-shu (Chiang-Zentrum, Nanking) Innenminister: Li Wen-fan („Neue Rechte", Kanton) Außenminister: Ch'en Yu-jen (Reorganisation, Kanton) Heeresminister: H o Ying-ch'in (Chiang-Zentrum, Nanking) 86

87

88 88

Lin Sen, Chiang Kai-shek, Chang Ching-chiang, Ts'ai Yüan-p'ei, Shao Yüanch'ung, Ch'en Kuo-fu, Yeh Ch'u-dieng, Sung Tzu-wen, Wang Pe-chün, Wang Shu-han, Ch'eng Ch'ien, K'ung Hsiang-hsi, Liu Shang-ch'ing, En-k'e Pa-t'u, Ma Fuhsiang, Yang Shu-chuang und Wang Cheng-t'ing. Wang Ching-wei, T'ang Shao-yi, Hsiao Fu-di'eng, Teng Tse-ju, Hsü Ch'ung-diih, Wang Fa-chin, Tsou Lu, Hsiung K'e-wu, Hsüeh Tu-pi, Pai Wen-wei, Ching Hengyi und Yang Shu-k'an. Feng Yü-hsiang, Yen Hsi-shan, Chao Tai-wen und Fang Chen-wu. Hu Han-min, Hsieh Ch'ih und Li Lieh-chiin.

462

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

Marineminister: Ch'en Shao-k'uan (Fachminister, Nanking) Verkehrsminister: Ch'en Ming-shu (siehe oben!) Erziehungsminister: Chu Chia-hua (Chiang-Zentrum, Nanking) Justizminister: Lo Wen-kan (Fachminister, Nanking) Industrieminister: Ch'en Kung-po (Reorganisation, Kanton) Eisenbahnminister: Yeh Kung-cho (Fachminister, Nanking) Finanzminister a. i.: Huang Han-liang („Neue Rechte", Kanton) Vorsitzender der Mongolisch-Tibetanischen Kommission: Shih Ch'ing-yang („Westberg", neutral) Vorsitzender der Kommission für Auslandschinesen: Ch'en Shu-jen (Reorganisation, Kanton) Vorsitzender der Aufbaukommission: Chang Ching-chiang (Chiang-Zentrum, Nanking) Vorsitzender der Kommission für Opiumbekämpfung: Liu Jui-heng (Fachminister, Nanking) Vorsitzender der Kommission für Hilfe bei Hungersnöten: Hsü Shih-ying (Fachminister, Nanking). Schließlich ernannte man Chu P'ei-te (Nanking) zum Chef des Generalstabes, Li Chi-shen (Kanton) zum Generalinspekteur der Truppenausbildung und T'ang Sheng-chih (Kanton) zum Vorsitzenden des „Militärischen Konsultativrates" (Chün-shih ts'an-yi yüan), einer Versammlung, der alle bedeutenden Generale Chinas angehörten, die jedoch keine Befehlsgewalt über die Streitkräfte besaß. Diese blieb vielmehr formal dem Staatsrat der Nationalregierung, praktisch den regionalen Befehlshabern vorbehalten, eine angesichts der japanischen Bedrohung zu jener Zeit besonders unbefriedigende Lösung. Dieses kunstvoll errichtete Koalitionsgebäude sollte seinen Abschluß in einem Triumvirat finden, das als „Ständiger Ausschuß des ZPR" die drei bedeutendsten Führer der Partei — Chiang Kai-shek, Wang Chingwei und Hu Han-min — vereinigte. Doch Chiang hatte sich in seine Heimatstadt zurückgezogen, Wang wurde durch einen schweren DiabetesAnfall gezwungen, in Shanghai das Krankenhaus aufzusuchen, und H u weigerte sich, von Kanton nach Nanking zu kommen. Damit war der innere Führungskern von Partei und Staat lahmgelegt, die neue Regierung mußte versuchen, zunächst ohne Parteiführer auszukommen. Im Manifest des 1. Plenums, das am letzten Sitzungstage, dem 29. Dezember 1931, veröffentlicht wurde, betonte das ZEK, alle Diskussionen hätten „im Geiste der Eintracht und aufrichtigen Zusammenarbeit gestanden". Die Bürger des Landes wurden aufgerufen, „sich angesichts der Bedrohung durch den äußeren Feind fest zusammenzuschließen und die

Der zweite Rücktritt Chiangs und die Reorganisation

der Regierung

463

Regierung wirksam zu unterstützen". Zur Ausarbeitung von Plänen, wie der Krise des Landes zu begegnen sei, versprach das Z E K die Einberufung einer „Nationalen Notstandskonferenz" (Kuo-nan hui-i) und einer „Nationalen Rettungs-Konferenz" (Chiu-kuo hui-i) in naher Zukunft. In jener sollten Fachleute, in dieser Repräsentanten der Massenorganisationen und gesellschaftlichen Gruppen mit Parteiführung und Regierung diskutieren 90 . Am 1. Januar 1932 trat die neue Koalitionsregierung ihr Amt an, und am gleichen Tage beendete die Gegenregierung in Kanton ihre Tätigkeit 91 . Formell verfügte der chinesische Staat wiederum über eine vereinigte Führung, die rasch ihre ersten Reformpläne und -maßnahmen verkündete. Schon am 2. Januar legte der neue Industrieminister Ch'en Kung-po die Grundzüge eines Fünf-Jahres-Planes vor, mit dessen Hilfe im mittleren und unteren Yangtzu-Tal ein zentrales Industriegebiet entstehen sollte, und am selben Tage wurde die Pressezensur für aufgehoben erkärt. 92 . Die Vorbereitung der „Nationalen Notstandskonferenz" übertrug der Z P R am 7. Januar Li Wen-fan und Lo Chia-lun, die den Auftrag erhielten, alle Hochschulen des Landes zu besuchen und bedeutende Fachleute aus den verschiedenen Disziplinen zur Teilnahme an der Konferenz einzuladen93. Doch während in Nanking die Regierungsarbeit begann, regten sich in Südchina erneut die Kräfte des Regionalismus. Unter dem Einfluß Hu Han-mins proklamierten Ch'en Chi-t'ang, Li Tsung-jen und T'ang Shaoyi bereits am 3. Januar die Errichtung eines Kuangtung und Kuangsi umfassenden „Südwestlichen Verwaltungsbezirks" (Hsi-nan hsing-cheng ch'ü) und bildeten eigene „Zweigkonferenzen" (fen-hui) des Z E K und des Z P R in Kanton. Sie erkannten zwar offiziell die Oberhoheit Nankings an, tatsächlich waren aber durch diesen Schritt die beiden südchinesischen Provinzen wiederum der unmittelbaren Kontrolle durch die Zentrale entzogen 94 . Weit bedrohlicher jedoch wurde die Entwicklung, welche der chinesisch-japanische Konflikt im Laufe der ersten Januarhälfte 1932 nahm. Schon am 2. Januar hatten die Japaner den letzten Stützpunkt der chineManifest des 1. Plenums des IV. 2 E K der K M T vom 29. 12. 1931, in: Ch'ungk'ingSammlung, p. 5 0 5 — 5 0 8 . Vgl. dazu: China Year Book 1 9 3 1 — 3 2 , p. 553. 91

C Y J P vom 2 . 1 . 1 9 3 2 .

02

Vgl. hierzu: Ch'en Kung-po, „China's New Economic Policy", in: „The People's Tribune", loc. cit., N r . 4 vom 9 . 1 . 1 9 3 2 , p. 9 5 — 9 8 ; und: Amann,

Bauernkrieg,

p. 25 f. 93

C Y J P vom 8. 1 . 1 9 3 2 .

94

„South China Daily News" vom 4. 1. 1932. Vgl. hierzu: Amann, Bauernkrieg, p. 26.

464

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

sischen Verwaltung in Siid-Tungpei, Chinchou, erobert, und ihre Verbände näherten sich der Großen Mauer, während sie im Norden Tungpeis zur Offensive gegen Harbin rüsteten. Gleichzeitig häuften sich die Berichte, daß Tokio plane, P'u Y i als Werkzeug für eine „Unabhängigkeitserklärung" der Mandschurei zu benutzen 95 . In Ch'ingtao kam es am 12. Januar zu schweren Zusammenstößen zwischen Studentengruppen und japanischen Zivilisten 98 . Währenddessen nahm die Zahl der japanischen Kriegsschiffe im Hafen von Shanghai ständig zu, und auch die Landtruppen Japans in verschiedenen chinesischen Städten wurden verstärkt. Angesichts dieser Situation bedurfte das Land in besonderem Maße einer wirksamen Führung, die sich nur bilden konnte, wenn es gelang, eine Versöhnung zwischen Chiang und Wang herbeizuführen. Bereits am 2. Januar forderte daher der neue Vorsitzende der Nationalregierung, Lin Sen, im Namen des Z P R die beiden telegrafisch auf, in die Hauptstadt zurückzukehren 97 , und am 8. Januar erging die gleiche Aufforderung an alle Mitglieder des Z E K und der Z K K , die sich außerhalb der Hauptstadt aufhielten 98 . Doch zunächst reagierten die drei Parteiführer — Chiang, Wang und Hu — negativ, obgleich in den folgenden Tagen eine große Anzahl von lokalen Parteiorganisationen, gesellschaftlichen Verbänden und akademischen Institutionen unter ihnen audi viele Studentenvereinigungen vor allem Chiang aufriefen, wieder nach Nanking zu kommen 99 . Das Land wartete offenbar darauf, daß sich die beiden großen Rivalen Wang und Chiang zur gemeinsamen Übernahme der Führung miteinander einigten. Als Basis einer solchen Einigung bot sich wiederum jene Lösung an, die schon einmal im Winter 1925/26 in Kanton mit Erfolg praktiziert worden war, daß nämlich Chiang die Leitung der Streitkräfte, Wang diejenige der Exekutive übernahm und beide gemeinsam die maßgeblichen politischen Entscheidungen trafen. 95

Siehe oben, Seite 394 f.!

98

KMT-Chronik, Bd. I, p. 618.

97

Telegramme Lin Sens und Sun K'es an Chiang Kai-shek und Wang Ching-wei vom

98

Zirkulartelegramm des Ständigen Ausschusses des Z E K der K M T an alle Mitglieder

2 . 1 . 1932 (KMT-Archiv). des Z E K und der Z K K außerhalb der Hauptstadt, vom 8 . 1 . 1932, in: C Y J P , selbes Datum. 99

Vgl. hierzu u. a.: „Shen-pao", „Shanghai shih-shih hsin-pao", „Ta-kung pao" und C Y J P vom 8. bis zum 14. 1. 1932. Allein in diesen jeweils sieben Ausgaben der genannten vier Tageszeitungen wurden vom Verfasser 108 Resolutionen, Leserbriefe pp. registriert, in denen man Chiang zur Rückkehr nach Nanking aufforderte.

Der Wiederbeginn der Zusammenarbeit zwischen Wang und Chiang

465

Der Wiederbeginn der Zusammenarbeit zwischen Wang und Chiang Die Frage, wie sich China gegenüber der japanischen Bedrohung verhalten solle, führte schon Mitte Januar zu einem Konflikt in der neuen Nationalregierung. Premierminister Sun K'e und Außenminister Ch'en Yu-jen verlangten auf einer Sitzung des Z P R am 17. Januar 1932, daß man bei neuen japanischen Vorstöße audi eine Kriegserklärung nicht scheuen dürfe, die Mehrheit der versammelten KMT-Politiker lehnte dies aber unter Hinweis auf die militärische Schwäche Chinas ab 100 . Man einigte sich schließlich, zunächst noch einmal Chiang und Wang dringend zu bitten, in die Hauptstadt zurückzukehren, und ihre Vorschläge zur Lösung der außenpolitischen Probleme abzuwarten. Sun K'e und einige andere Vertreter der Nankinger Führung begaben sich am 18. Januar nach Hangchou, wo am Abend zuvor die beiden großen Kontrahenten der vergangenen Auseinandersetzungen in der K M T zum ersten Mal seit dem Dezember 1927 wieder zusammengetroffen waren. In dreitägigen Gesprächen, an denen vom 19. Januar an auch Sun K'e teilnahm, gelang es, eine Versöhnung zwischen Wang und Chiang herbeizuführen. In fast allen innen- und außenpolitischen Fragen wurde eine Einigung erzielt, und schließlich gab Wang auch seinen Widerstand gegen Chiangs Verlangen auf, die diplomatischen Beziehungen zu Japan aufrechtzuerhalten 101 . Von Sun K'e begleitet, kehrten Wang und Chiang am 21. Januar nach Nanking zurück und übernahmen ihre Funktionen als Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Z P R . Hu Han-min hingegen blieb in Kanton, gab aber telegrafisch die Zusicherung, daß er mit einer gemeinsamen Führung der Partei durch Wang und Chiang einverstanden sei102. Dennoch war die Krise in der KMT-Führung noch nicht voll überwunden. Sie kam erneut zum Ausbruch, als Ch'en Yu-jen, von Sun K'e unterstützt, am 23. Januar verlangte, daß China sofort die diplomatischen Beziehungen zu Tokio abbrechen und sich auf eine mögliche Kriegserklärung in nächster Zukunft vorbereiten solle 103 . Einen Tag zuvor, am 22. Januar, hatte 100

So H o Ying-ch'in und Chu Chia-hua in Interviews mit dem Verfasser am 11. September 1964 bzw. am 19. Februar 1962 in T'aipei. Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 793, nennt hingegen als Datum der ZPR-Sitzung den 18. 1. 1932. An diesem Tage war Sun K'e jedoch sdion auf dem Wege nadi oder in Hangchou.

101

China Year Book 1 9 3 1 — 3 2 , o. 553. Vgl. hierzu: Tong, op. cit., p. 1 4 6 ; und: Amann, Bauernkrieg, p. 27 f.

loa C Y j p v o m 22. l. 1932. 103

Stenogr. Protokoll der Außerordentlichen Sitzung des Z P R der K M T am 23. J a -

30

Domes

466

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

der japanische Generalkonsul in Shanghai, Kuramatsu Murai, den Oberbürgermeister dieser Stadt, Wu T'ieh-ch'eng, ultimativ aufgefordert, alle antijapanischen Organisationen in seinem Amtsbereich zu verbieten, nachdem es mehrmals zu Zusammenstößen zwischen Japanern und chinesischen Demonstranten gekommen war104. Im Gegensatz zu Sun und Ch'en schlugen Chiang und Wang vor, zwar jeder weiteren japanischen Aggression Widerstand entgegenzusetzen, aber sich dennoch nach Kräften und notfalls audi unter politischen Opfern darum zu bemühen, einen offenen Krieg zu vermeiden. Die Mehrheit der Parteiführung stellte sich auf die Seite Chiangs und Wangs. Daraufhin erklärten am 24. Januar Ch'en Yujen und am folgenden Tage Sun K'e und der Präsident des Legislativyüans, Chang Chi, ihren Rücktritt und verließen die Hauptstadt. Sun ging nach Shanghai, Ch'en hingegen ins Ausland, wo er gemeinsam mit Frau Sun Yat-sen die sich bereits am 19. Dezember 1931 gegen die in der Bildung begriffene Koalitionsregierung gewandt hatte, begann, die Führung der KMT zu bekämpfen. Der ZPR nahm am 28. Januar die Rücktrittserklärungen der drei genannten Politiker an, denen sich noch Innenminister Li Wen-fan, Eisenbahnminister Yeh Kung-cho und der amtierende Finanzminister Huang Han-liang angeschlossen hatten. Zum neuen Präsidenten des Exekutivyüans (Premierminister) wurde Wang Ching-wei berufen, Justizminister Lo Wen-kan übernahm gleichzeitig das Außenministerium, während man Ku Meng-yü zum Eisenbahnminister und K'ung Hsiang-hsi zum Finanzminister ernannte. Dieser weigerte sich jedoch, das ihm zugedachte Amt zu übernehmen, und wenige Tage später wurde Sung Tzu-wen in das Finanzministerium zurückgerufen. Als Präsident des Legislativyüans sollte vorläufig dessen Vizepräsident, T'an Cheng, amtieren107. Eine weitere Stärkung der Regierung erhoffte man sich von der am 9. Februar erfolgten Ernennung Feng Yü-hsiangs zum Innenminister, obgleich dieser die ihm angebotene Position erst nadi langem Zögern annahm und de facto nicht ausübte108. Chiang Kai-shek trat als neuer Generalstabschef nuar 1932 (KMT-Archiv). Vgl. hierzu: Amann, Bauernkrieg, p. 28, dessen Darstellung der Sitzung mit dem Protokoll übereinstimmt, obgleich er sie als „inoffizielle Besprechung" bezeichnet. 104 China Year Book 1931—32, p. 649. ίο» c y j p v o m 25. U nd 26.1.1932. 106 Frau Sun Yat-sen, „What I Think of the Situation", in: „The People's Tribune", loc. cit., Nr. 2 vom 26. 12.1931, p. 46—48. 107 Beschlußprotokoll der Sitzung des ZPR der KMT am 28. Januar 1932 (Nadilaß Chu).

ine c y j p v o m

10 .

2. 1932.

Der Wiederbeginn

der Zusammenarbeit

zwischen Wang und Chiang

467

vorläufig wieder an die Spitze der Streitkräfte, so daß die Arbeitsteilung zwischen Wang und ihm etwa dem Modell von Kanton im Winter 1925/26 entsprach. Kaum hatten beide Parteiführer ihre Ämter übernommen, als China einer neuen außenpolitischen Belastungsprobe von bedrohlichem Ausmaß unterworfen wurde: japanische Truppen griffen Shanghai an. Einer Anweisung aus Nanking folgend, hatte der Shanghaier Oberbürgermeister Wu T'ieh-ch'eng am Morgen des 28. Januar die Forderung des japanischen Generalkonsuls Murai, antijapanische Verbände in der Stadt zu verbieten, angenommen. Um 13.45 Uhr erhielt Murai die Antwort Wus, und er erklärte, daß diese ihn voll zufriedenstelle. Dennoch sandte der Oberbefehlshaber der japanischen Flottenverbände und Marineinfanterie in Shanghai, Konteradmiral Shiosawa, abends um 23.25 Uhr Wu ein neues Ultimatum, in welchem die sofortige Räumung des Stadtteils Chapei von chinesischen Truppen gefordert wurde109. Bereits um 23.10 Uhr hatten japanische Kriegsschiffe das Feuer auf den Tungt'ienan-Bahnhof in Chapei eröffnet, und um Mitternacht ging Marineinfanterie an Land und griff die Stellungen der chinesischen Verbände in den Stadtteilen Wusung, Chapei und Kiangwan an. Zur Überraschung der Japaner und vieler ausländischer Beobachter leisteten die Chinesen erbitterten Widerstand (drei Divisionen der 19. Feldarmee unter General Ts'ai T'ing-k'ai als Frontkommandanten und dem Oberbefehl von General Chiang Kuang-nai, seit dem 18. Februar unterstützt durch die 87. und 88. Division der Zentralarmee unter den Generalen Chang Chihchung* und Yü Ch'i-shih). Es gelang ihnen, etwa 50.000 Mann stark, 32 Tage lang den Angriffen von anfangs 25.000, schließlich annähernd 70.000 japanischen Soldaten zu widerstehen, die durch pausenloses Artilleriefeuer ihrer Kriegsschiffe unterstützt wurden. Nadidem alle Proteste der lokalen chinesischen Behörden beim japanischen Generalkonsulat in Shanghai fruchtlos geblieben waren, forderte die Nationalregierung am 31. Januar die Signatarmächte des Vertrages von Washington (1922) auf, alles in ihrer Macht Stehende zu unter109

30'1

Eine nahezu vollständige Sammlung von Noten, Memoranden, Kommuniques und Briefen zur Schlacht von Shanghai findet sich in: China Year Book 1931—32, p. 649 bis 681. Vgl. hierzu u. a.: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 794—797; Chih Meng, op. cit., p. 87—93; Shen Mo, op. cit., p. 312 f.; Henry L. Stimson, The Far Eastern Crisis, N e w York/London 1936, p. 133 ff.; und: „The People's Tribune", 2. Jahrgang, Nr. 1/2/3 vom März 1932 („Chinese Resistance Against Japanese Aggression"), passim.

468

XL Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

nehmen, um die japanische Aggression zu beenden 110 . Da japanische Kriegsschiffe auf dem unteren Yangtzu operierten, hatten sich Chiang und Wang entschlossen, den Sitz der Regierung vorübergehend von Nanking nach Loyang in Honan zu verlegen. Chiang selbst blieb jedoch in der Landeshauptstadt. Von Loyang aus begann die Nationalregierung einen diplomatischen Feldzug mit dem Ziel, den Zwischenfall vor den Völkerbund zu bringen. Zunächst bemühten sich Großbritannien, die USA, Frankreich und Italien um eine Beilegung des Konflikts. Am 2. Februar übermittelten sie in gleichlautenden Noten an Nanking und Tokio die Aufforderung zur sofortigen Einstellung der Feindseligkeiten 111 . Diese Aufforderung wurde von Nanking am 4. Februar vorbehaltlos angenommen, während Tokio am selben Tage ausweichend antwortete 112 . Unterdessen gingen die Kämpfe in Shanghai weiter, auch, nachdem zwölf der 14 Mitglieder des Völkerbundsrates — alle außer China und Japan — am 17. Februar an Tokio appelliert hatten, die Kampfhandlungen unverzüglich zu beenden 113 . Am 18. Februar forderte der Kommandant der japanischen Truppen in der Stadt, General Uyeda, in einem neuen Ultimatum Ts'ai T'ing-k'ai auf, eine 20-km-Zone um den Hafen, die ganz Shanghai und eine Reihe von Vororten umfaßte, von chinesischen Soldaten räumen zu lassen 114 , ein Ansinnen, das sowohl von Ts'ai als auch von der Nationalregierung abgelehnt wurde 115 . Auch eine formelle Resolution des Völkerbundsrates vom 20. Februar führte noch nicht zu der dort geforderten Einstellung der Feindseligkeiten 116 . Erst als am 28. Februar starke japanische Kräfte bei Liuho an der Hangchou-Bucht gelandet und in Flanke und Rücken der Verteidiger Shanghais vorgestoßen waren, sahen die Truppen der Nationalarmee sich genötigt, am 1. März ihre Stellungen in Chapei, Kiangwan und Wusung zu räumen und sich aus der Stadt zurückzuziehen, die jetzt von den J a -

110

Note der Chinesischen Regierung an die Signatarmächte des Neun-Mädite-Vertrages von 1922, vom 3 1 . 1 . 1932, Englisch in: China Year Book 1931—32, p. 651.

111

Vorschläge der vier Mächte vom 2. Februar, nach Reuter zitiert ibid., p. 652 f.

112

ibid.

113

Appell von zwölf Mitgliedern des Völkerbundsrates an Japan, vom 1 7 . 2 . 1932, ibid., p. 661 f.

114

Japanisches Ultimatum an die chinesische Armee in Shanghai, vom 18. 2. 1932, ibid., p. 663 f.

115

Vgl. ibid., p. 664.

118

Resolution des Völkerbundsrates vom 20. 2 . 1 9 3 2 , ibid., p. 664 f.

Der Wiederbeginn der Zusammenarbeit zwischen Wang und Chiang

469

panern besetzt wurde 117 . General Shirakawa, der, nachdem Japan zwei weitere Divisionen ins Gefecht geworfen hatte, von Uyeda den Befehl über die japanischen Truppen im Räume von Shanghai übernahm, erklärte daraufhin am 3. März, seine Verbände würden nicht weiter vorstoßen 118 . Die Kampfhandlungen schliefen Anfang März ein, nachdem die Japaner nach ihren eigenen Angaben 2.413, nach chinesischen Berichten fast 10.000 Tote und Verwundete verloren hatten, die chinesischen Truppen etwa 9.000. Die Verluste der chinesischen Zivilbevölkerung betrugen rund 5.000 Tote und Verwundete 119 . Eine vorläufige Beilegung des Konflikts wurde jedoch erst erreicht, nachdem eine Außerordentliche Vollversammlung des Völkerbundes am 11. März noch einmal zum sofortigen Verzicht auf den Einsatz militärischer Machtmittel aufgefordert und eine Kommission von 19 Mitgliedstaaten gebildet hatte 120 . Unter deren Einfluß kam am 5. Mai schließlich ein Waffenstillstandsabkommen zustande, demzufolge die japanischen Truppen sich in die Internationale Siedlung und vier Bezirke innerhalb der Stadt zurückziehen und schrittweise Shanghai verlassen sollten, während China sich verpflichtete, „bis zu einer späteren Übereinkunft über die Wiederherstellung normaler Bedingungen" seine militärischen Verbände nicht in Shanghai einrücken zu lassen 121 . Der japanische Rückzug begann am 6. Mai, aber erst ein Jahr später konnten chinesische Soldaten die Stadt Shanghai wieder in Besitz nehmen 122 . Die Wirkungen der Schlacht um Shanghai auf die politische Situation in China waren fast noch größer als diejenigen des japanischen Uberfalls in Tungpei. Erst diese schweren Kämpfe im Herzen des Landes führten der chinesischen Öffentlichkeit den Umfang der Bedrohung zum Bewußtsein, vor der das Land stand. Eine Welle gewiß verständlicher antijapanischer Emotionen machte es der Nationalregierung schwer, an ihrer Politik der Zurückhaltung gegenüber den Provokationen Tokios festzuhalten. Für diese Politik gab es jedoch keine Alternative; denn China

117

„North China Daily News" vom 1. und 2. März 1932.

118

China Year Book 1 9 3 1 — 3 2 , p. 669.

119

ibid., p. 676 f.; und: Wellington V. K. Koo (Ku Wei-diün), J a p a n Throws Off her Mask", in: „The People's Tribune", ibid., p. 13.

120

Resolution der Außerordentlichen Vollversammlung des Völkerbundes, vom 1 1 . 3 . 1932, in: China Y e a r Book, ibid. f. Vgl. hierzu: Shen, op. cit., p. 313.

121

„Shanghai Peace Agreement" (vom 5. 5. 1932), ibid., p. 6 7 8 — 6 8 1 .

122

KMT-Chronik, Bd. I, p. 626.

470

XI. Kapitel:

Der Weg zur

Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

war zu einem Krieg gegen Japan nicht gerüstet. Der harte und durchaus nicht erfolglose Widerstand der Soldaten in Shanghai hatte zwar das chinesische Selbstbewußtsein erheblich gestärkt, aber für eine große militärische Auseinandersetzung fehlten dem Lande die materiellen Voraussetzungen. Der Zwang zum Nachgeben, der sich aus dieser Situation ergab, mußte jedoch die Regierung immer wieder in Gegensätze zu der nationalistisdien Stimmung in China bringen, ganz besonders unter den Intellektuellen, die mit Entschiedenheit verlangten, daß ernsthafter Widerstand geleistet werde, ohne allerdings gleichzeitig zu sagen, wie dies denn unter den gegebenen Bedingungen möglich sei. Auseinandersetzungen, die in den Jahren 1935 und 1936 neue Krisen für Staat und Partei bringen sollten, begannen sich bereits jetzt abzuzeichnen" 8 . Zunächst gelang es jedoch, das neue Bündnis zwischen Chiang und Wang weiter zu festigen. Am 1. März trat in Loyang das 2. Plenum des IV. ZEK der KMT zusammen, um Maßnahmen zu ergreifen, mit deren Hilfe man dem Notstand in China gerecht zu werden hoffte. Vor allem galt es, die seit dem Rücktritt Chiangs als Oberbefehlshaber aller Streitkräfte ungeklärte Frage der militärischen Kommandogewalt zu regeln. Das Plenum besdüoß, als oberstes Entscheidungsorgan für alle Militärangelegenheiten ein „Militärkomitee" (Chün-shih wei-yüan-hui) zu bilden, dem der Premierminister, der Generalstabschef, der Minister für Heeresangelegenheiten, der Marineminister, der Direktor des militärischen Ausbildungswesens und sieben bis neun weitere, vom Staatsrat der Nationalregierung auf Vorsdilag des ZPR ernannte Mitglieder angehören sollten124. Zum Vorsitzenden des Militärkomitees, der gleichzeitig als Oberbefehlshaber der Land-, See- und Luftstreitkräfte fungierte, wurde am 6. März Chiang Kai-shek berufen 125 . Am selben Tage übernahm Sung Tzu-wen endgültig wieder die Leitung des Finanzministeriums und gleichzeitig audi das Amt des Vizepremiers. Der bisherige Inhaber dieser Position, Verkehrsminister Ch'en Mingshu, hatte seine Ämter niedergelegt, weil er die zurückhaltende Politik gegenüber der japanischen Aggression nidit billigte. Ähnlich dachte auch Sun K'e, der sidi dennoch bereiterklärte, als Präsident des Legislativyüans wieder in die Nationalregierung einzutreten. Shao Yüan-di'ung m 1M

Siehe unten, Seite 647 ff.! Beschluß über das Militärkomitee, angenommen auf dem 2. Plenum des IV. ZEK der KMT am 5. März 1932, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 533 f.

iss CYjp v o m 7 3.1932.

Der Wiederbeginn

der Zusammenarbeit

zwischen Wang und Chiang

471

wurde sein Stellvertreter. Die Leitung des Verkehrsministeriums überließ man dem Erziehungsminister Chu Chia-hua, der hinfort also, ebenso wie der Außen- und Justizminister Lo Wen-kan, zwei Ministerien gleichzeitig zu verwalten hatte128. Angesichts der Tatsache, daß die Periode von 1927 bis 1931 für die KMT mit dem zweiten Rücktritt Chiangs, der Bildung einer von mancherlei Gegensätzen belasteten Koalitionsregierung, die sich nodi nicht bewährt hatte, und einer schweren außenpolitischen Krise endete, scheint die Frage berechtigt zu sein, ob es sich denn hier wirklich um eine „Konsolidierung der Herrschaft" gehandelt habe, wie die Uberschrift, welche für die Darstellung der Ereignisse in dieser Periode gewählt wurde, impliziert. Trotz der Zweifel, die im Hinblick auf die Entwicklungen um die Jahreswende 1931/32 als begründet erscheinen, soll die These aufrechterhalten werden, daß sich die Herrschaft der nationalistischen Einheitspartei in China 1927 und 1931 konsolidiert habe. Abgesehen davon, daß das KMT-Regime in dieser Periode als einzige Regierung Chinas die internationale Anerkennung errang, rechtfertigt eine Reihe weiterer Tatsachen diese These. Im Winter 1927/28 lebten mit etwas über 100 Millionen Einwohner nur wenig mehr als 20 % des chinesischen Volkes in Gebieten, die unmittelbar von der KMT-Zentralregierung kontrolliert wurden. Jene Provinzen, deren Behörden die Autorität der Partei formell anerkannten, sich aber ihre Autonomie bewahrten, umfaßten weitere 50 % der Bevölkerung. Bis Ende 1931 wurde der direkte Herrschaftsbereich Nankings auf die Provinzen Honan, Shantung, Hupei, Hunan und einen großen Teil von Kiangsi ausgedehnt, so daß jetzt mit 200 bis 210 Millionen Menschen fast die Hälfte aller Chinesen unter der unmittelbaren Kontrolle der Nationalregierung lebten, deren Hoheitsrechte formell im ganzen Land — abgesehen von Tungpei — anerkannt waren. Während 1927/28 neben der „Zentralarmee" noch die militärischen Verbände der Kuangsi-Generale, Yen Hsi-shans, der nördlichen Militärmachthaber und nicht zuletzt die Kuominchün der Zentrale das Monopol physischer Gewalt ernsthaft streitig machen konnten, war die Macht der regionalen Streitkräfte in den Bürgerkriegen von 1929/30 gebrochen worden. Zwar umfaßte die „Zentralarmee", in der 1927/28 etwa 10 bis 15 % der chinesischen Soldaten organisiert waren, auch 1931 noch nicht viel mehr als 4 0 % der Waffenträger im Lande, aber ihre potentiellen Gegner konnten, wenn man von der Roten Armee in Kiangsi und anderen 126

ibid. Vgl. hierzu u. a.: Tong. op. cit., p. 148.

472

XL Kapitel: Der Weg zur Nanking-Kanton-Koalitionsregierung

Bezirken Südchinas einmal absieht, keine Bedrohung für Nanking mehr darstellen. Die Niederwerfung der Aufstände in Fukien im Winter 1933/34 und Kuangtung im Sommer 1936 sollte mit aller Deutlichkeit zeigen, daß die Periode der Bürgerkriege zwischen rivalisierenden Generalen in China zu Ende war. Auf dem Weg zur Vereinheitlichung des Bildungswesens und des Währungssystems hatte man erheblidie Fortschritte erzielt. Die Kreditwürdigkeit Chinas auf dem internationalen Finanzmarkt war wiederhergestellt worden, ein geordnetes Haushaltswesen im Entstehen begriffen. Noch bedeutsamer für die Konsolidierung der Herrschaft aber war es, daß sidi schließlich die um Chiang und Wang gescharten politischen K r ä f t e in einer Koalition vereinigten. Damit gesellten sich zu den modern ausgebildeten Militärs und den an einer aktiven Entwicklungspolitik interessierten Administratoren um Chiang die meist aus westlichen Hochschulen hervorgegangenen Intellektuellen des linken Flügels der Partei. Die Zusammenarbeit dieser drei Gruppen versprach, dem Land eine wirksame und aufgeschlossene Führung zu geben. Dabei blieb allerdings die Frage offen, ob es jetzt endlich gelingen würde, die organisierte Zustimmung der bäuerlichen Massen, auf den die Partei 1927 in Südchina aus Furcht vor dem Wirken der Kommunisten allzu bereitwillig verzichtet hatte, auf dem Wege über politische und soziale Reformen zurückzugewinnen. Dies bedeutete, daß die K M T immer noch vor der Aufgabe stand, ihre Stellung als Vorhut der chinesischen Revolution durchzusetzen.

Dritter Teil Entwicklungspolitik und ihre Grenzen — bis zum Chinesisch-Japanischen Krieg 1937

XII. Kapitel Parteiregierung und Fraktionskämpfe bis 1936 Mit der Bildung der Nanking-Kanton-Koalitionsregierung hatten sich in China die Chancen für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik erheblich verbessert. Innerhalb der Partei verfügte die reorganisierte Führung über eine breite Basis. Abseits stand nur die Mehrheit des rechten Flügels, jene Kombination der Kuangsi-Gruppe, kantonesischer Regionalisten um Ch'en Chi-t'ang und der Anhänger Hu Han-mins, welche die Provinzen Kuangtung und Kuangsi beherrschte. Sie verfügte über lockere Verbindungen zu den Militärmachthabern in Kueichou und einigen Gruppen lokaler Politiker in Fukien. Außerdem sammelte sich im Ausland um Frau Sun Yat-sen und Ch'en Yu-jen eine zahlenmäßig schwache Oppositionsgruppe der extremen Linken. Dagegen stützte sich die Zentrale auf eine starke Koalition. Ihr rechter Flügel wurde von der „Westberggruppe" und Anhängern Sun K'es gebildet. Im Zentrum standen die Gruppe der „Alten Genossen", die Honoratioren und Verwaltungsfachleute aus Chekiang um Tai Chi-t'ao, die Generale der „Zentralarmee", die jetzt auch als „Huangpu-Clique" bezeichnet wurden, und die „CC-Clique", deren Stärke in den folgenden Jahren erheblich wuchs. Der linke Flügel bestand aus der Anhängerschaft Wang Ching-weis. Chang Hsüeh-liang fungierte als Statthalter Nankings in Hopei; in Shansi und der Inneren Mongolei herrschten Yen Hsi-shan und einige Generale der Kuominchün, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrten, aber nicht mehr in offener Opposition zur Zentrale standen. Trotz dieser für die Nationalregierung günstigen Kräftekonstellation blieb 1932 immer noch die Frage offen, ob es gelingen werde, die chinesischen Massen für die Politik der nationalistischen Einheitspartei zu gewinnen. Bisher hatte diese sich im wesentlichen auf einen Teil der westlich erzogenen Intelligenz, das Militär, die Beamten in Zentral- und Ostchina, das Großbürgertum und den städtischen Mittelstand der Kaufleute, Handwerker und Facharbeiter gestützt. In den Dörfern waren erhebliche Teile der Grundbesitzerschaft und die reicheren Bauern zur Zusammenarbeit mit der Führung bereit. Die Massen des Volkes hingegen blieben

476

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

passiv, in vielen Regionen verhielt sich das Landproletariat sogar offen feindselig, ebenso wie die prononciert nationalistischen Intellektuellen in den Städten des Nordens und Ostens. Hier fanden sich Kräftereserven für die KCT, deren Stärke in den Rätegebieten Südchinas weiter wuchs. Die Resultate der von der KMT eingeleiteten Entwicklungspolitik mußten wesentlich darüber entscheiden, ob es ihr gelingen würde, den Wettlauf mit den Kommunisten um die Unterstützung des Volkes zu gewinnen.

Instrumente der Erziehungsdiktatur

— Partei, Regierung und Armee

Das Herrschaftssystem der nationalen Einheitspartei in China trug insofern singulären Charakter, als die Parteidiktatur hier nicht durch formell unabhängige Verfassungsorgane getarnt, sondern für eine „Ubergangsphase" auch theoretisch begründet war. Im Unterschied zu der kommunistischen Einparteiherrschaft wurde jedoch nicht die Lehre von Klassenkampf und Klassendiktatur zur Grundlage erhoben, sondern eine Elitentheorie. Die Partei verstand man als Gemeinschaft von Wissenden, welche das Volk zur selbständigen Ausübung seiner politischen Rechte und Erfüllung seiner politischen Pflichten erziehen müßte. Sun Yat-sen hat dieses Prinzip in seiner Schrift „Grundlagen des Nationalen Aufbaus" (Chien-kuo ta-kang), vor allem in den Artikeln 5 und 8 bis 16, für die KMT verbindlich formuliert 1 . Demnach soll, jeweils sofort nach der militärischen Eroberung einer Provinz, dort der Beginn der „Periode der Erziehungsdiktatur" (Hsün-cheng shih-ch'i) proklamiert werden. Sodann erhalten Regierungskommissare den Auftrag, in jedem Landkreis (hsien) den Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung einzuleiten und zu überwachen. Sobald in allen Landkreisen einer Provinz frei gewählte Selbstverwaltungsorgane entstanden sind, werden, nach Suns Vorschlägen, die politischen Volksrechte auch auf provinzieller Ebene eingeführt. Wenn dies in mehr als der Hälfte der Provinzen Chinas geschehen ist, soll die „Periode des Verfassungsstaates" (Hsien-cheng shihch'i) beginnen. Als die Parteiführung der KMT am 4. Oktober 1928 die „Grundsätze der Erziehungsdiktatur" (Hsün-cheng kang-ling) verkündete 2 , gab sie 1

2

Sun, Fundamentals, op. cit., p. 10—16. vgl. hierzu u . a . : Linebarger, Sun, op. cit., p. 209—213. Siehe auch oben, S. 55 f.! Siehe oben, S. 316 f. und Anm. 197 zum VII. Kapitel!

Instrumente

der Erziehungsdiktatur

— Partei, Regierung

und Armee

477

den Prinzipien Sun Yat-sens zugleich eine neue Interpretation, durch welche die Rolle der Partei wesentlich stärker betont wurde. Im Gegensatz zu Suns Vorstellungen entschloß man sich, den Beginn der Periode der Erziehungsdiktatur für das ganze Land gleichzeitig zu proklamieren. In dieser Periode übernahm der Parteikongreß der K M T die Funktionen einer Nationalversammlung. Zwischen seinen Sitzungsperioden trat das Z E K für ihn ein, welches durch den Z P R die Nationalregierung anzuleiten und zu kontrollieren hatte. So wurde die Erziehungsdiktatur mit der Diktatur der Partei gleichgesetzt. Man begründete dieses Prinzip mit Hilfe einer Repräsentationstheorie: Die Partei vertrat das Volk, Parteigremien nahmen die Rolle der parlamentarischen Körperschaften des Verfassungsstaates und ihrer Organe vorweg. Repräsentation wird hier im Sinne einer zeitweiligen Substitution verstanden: Die Partei ersetzt das Volk, solange es noch nicht genügend politisch gebildet ist, um seine Rechte selbst wirksam auszuüben3. Bei der Erziehung zum Gebrauch dieser politischen Rechte mußte es sich in der Tat um einen langwierigen Prozeß handeln. Die Frist bis zum Jahre 1935, die man 1928 setzte, war daher zu kurz. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde die kommunale Selbstverwaltung tatsächlich nur in wenigen Landkreisen errichtet. Zwar garantierte das Grundgesetz (Yüeh-fa) von 1931 den Bürgern bereits für die Periode der Erziehungsdiktatur eine Reihe von persönlichen Freiheitsrechten, sie wurden jedoch durch Ausnahmegesetze, vor allem durch das „Notstandsgesetz" vom 2. Februar 1931 4 , wiederum erheblich eingeschränkt. So blieb die Parteidiktatur mit geringen Modifikationen bis 1937 bestehen. Die K M T umfaßte zur Zeit des I I I . Parteikongresses, im März 1929, nach Angaben im Organisationsbericht des Kongreßsekretariats 422.022 Mitglieder, davon 202.321 unter der Zivilbevölkerung, 172.796 in den Streitkräften und 47.909 unter den Auslandschinesen. In 24 Provinzen Chinas hatte man Parteihauptquartiere errichtet. Eine vollständige Organisation bestand jedoch nur in sieben Provinzen 5 , während sie sich in 17® noch im Aufbau befand. Von den sechs Parteihauptquartieren in Städten, welche der Nationalregierung unmittelbar unterstanden, waren 3

Vgl. hierzu u. a. Fairbank, op. cit., p. 178 f.; Linebarger, u. a., op. cit., p. 156 f.; und: Ders., Government in Republican China, New York/London 1938, p. 170 ff.

4

Siehe oben, S. 354!

5

Kiangsu, Chekiang, Kuangtung, Kuangsi, Shansi, Honan, Chahar.

® Hupei, Kansu, Kiangsi, Fukien, Ssuch'uan, Yünnan, Kueichou, Liaoning, Heilungkiang, Jehol, Kirin, Anhui, Shantung, Hopei, Ssui-yüan, Hsingkiang und Ninghsia.

478

Xll.

Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

vier satzungsgemäß organisiert 7 , zwei galten noch als provisorisch8. Im Land selbst gab es insgesamt 1.777 Parteizweige (Tang-pu), unter den Auslandschinesen hatte man 13 Landeszentralen 9 mit 333 Parteizweigen und 145 weitere unabhängige Parteizweige, die unmittelbar mit der Zentrale verkehrten, errichtet10. Die Unvollständigkeit der Parteiorganisation in den meisten Provinzen gab sowohl 1926 als audi 1929 der Führungsgruppe Gelegenheit, die überwiegende Mehrheit der Delegierten zum Parteikongreß selbst zu ernennen. Dadurch wurde die Stellung der Vertreterversammlung gegenüber dem ZEK nicht unerheblich geschwächt. 1935 hingegen bestanden bereits in 14 Provinzen 11 und allen 7 unmittelbar der Nationalregierung unterstellten Städten 12 reguläre Parteiorganisationen. In Tungpei — den Provinzen Liaoning, Kirin, Heilungkiang und Jehol — mußte die KMT seit 1931 bzw. 1933 illegal arbeiten, die Parteizweige in Suiyüan, Ninghsia, Kansu, Ssuch'uan, Kueichou, Yünnan, Hsinkiang und Tibet waren noch unzureichend organisiert13. Die Mitgliederzahl der KMT, die am 1. Dezember 1929 bereits 653.779 erreicht haben soll14, betrug im Herbst 1935 etwa 1,2 Millionen, davon rund 500.000 unter der Zivilbevölkerung und rund 700.000 in den Streitkräften 15 . Nach Angaben Tsou Lus hatte sie bis zum Ende des Jahres 1937 1.720.000 erreicht: 630.000 unter der Zivilbevölkerung, 1.090.000 in den Streitkräften 16 . Für das Jahr 1930 stehen uns Angaben über die Berufsgliederung der Parteimitgliedschaft zur Verfügung. Sie umfassen jedoch offenbar nicht die Masse der einfachen Soldaten unter den Mitgliedern. 7

Nanking, Kanton, Shanghai und Wuhan.

8

Peking und T'ienchin.

" Cuba, Hawaii, Japan, Malaya, Niederländisdi-Indien, Annam, Australien, Canada, Indien, Burma, Frankreich, Philippinen und Peru. 10

Alle Angaben nadi: Bericht über die gegenwärtige Lage der KMT, hrsg. vom Sekretariat des III. Parteikongresses der K M T am 15. März 1929, in: Protokoll III, Anhang II. Vgl. hierzu u . a . : Min-di'ien Τ. Z. Tyau, „Two Years of Nationalist China", Shanghai 1930, II. Kapitel, passim; und: China Year Book 1931—32, p. 515.

11

Kiangsu, Chekiang, Kuangtung, Kuangsi, Shansi, Honan, Hupei, Hunan, Kiangsi, Fukien, Shensi, Anhui, Shantung und Ssuiyüan.

12

D i e in Anm. 7 und 8 genannten Städte sowie Ch'ingtao.

13

Bericht des ZEK über Parteiangelegenheiten, gebilligt vom V. Parteitag der K M T

14

Bericht des Statistischen Büros beim Ständigen Ausschuß des ZEK der K M T v o m

13

Siehe oben, Anm. 13!

16

Tsou Lu, op. cit. p. 72 f.

am 23. November 1935, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 714—716. Dezember 1929, zitiert in: China Year Book 1931—32, p. 512.

Instrumente

der Erziehungsdiktatur

Tab. 10: Berufsgliederung der Mitgliedschaft Lehrer und Professoren Kaufleute Studenten Bauern Handwerker und Arbeiter Staatsbeamte Parteifunktionäre Polizisten Offiziere Sozialarbeiter Freie Berufe Seeleute Eisenbahner Arbeitslose Keine oder ungenaue Angaben

— Partei, Regierung der KMT

und Armee

479

193017 21,31% 10,47 % 10,47% 10,43 % 7,32 % 6,61 % 5,84 % 4,08 % 3,26 % 1,68 % 1,66% 1,20% 1,14 % 0,54 % 18,22%

Uber 43 % der Mitglieder waren also direkt von den Partei- und Staatsorganen abhängig. Selbst wenn man die Lehrkräfte hier außer acht läßt, galt dies noch für fast 22 % aller Mitglieder. Außerdem weisen die Angaben unserer Tabelle darauf hin, daß über 55 % der Mitglieder zur Intelligenz, zum Großbürgertum und zum städtischen Mittelstand gehörte. Für spätere Jahre stehen keine Daten zur Verfügung, es hat jedoch den Anschein, als seien die für 1930 ausgewiesenen Relationen im wesentlichen unverändert geblieben. Im folgenden soll nun nach, dem Einfluß der einzelnen Leitungsorgane der Partei auf den politischen Entsdieidungsprozeß gefragt werden. Der Parteikongreß war zwar offiziell das bedeutsamste Beschlußorgan der KMT, er trat aber seltener zusammen, als das Parteistatut von 1924 bestimmte. Zwischen dem III. und IV. Kongreß lagen zwei Jahre und 7 Monate, zwischen dem IV. und V. gar vier Jahre. Hinzu kam, daß der IV. Kongreß durch die getrennten Sessionen in Nanking und Kanton behindert wurde. So entwickelte sich der Parteikongreß immer mehr zu einem Gremium, das vor allem akklamatorische Funktionen hatte. Außerdem diente er als ein Ort, an dem man die Spezialwünsche regionaler Interessengruppen sammelte. Dies wurde auf dem V. Parteikongreß besonders deutlich, und so gewann er an Bedeutung als Integrationsinstrument. Vor allem aber war der Parteikongreß die Wahlkörperschaft für das ZEK, das ihn in der Praxis als Beschlußorgan ersetzte. Doch auch in dieser Funktion blieb sein Einfluß begrenzt. Im Jahre 1929 konnte er 84 Amtsträger aus 96 Kandidaten auswählen, von denen je 48 vom Kongreßpräsidium und aus den Reihen der Delegierten vorgeschlagen wor17

Nach: Tyau, op. cit. p. 25 f.

XII. Kapitel:

480

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

den waren18. 1931 waren von insgesamt 160 Vollmitgliedern und Kandidaten des 2 E K und der 2 K K auf Grund der Beschlüsse der Friedenskonferenz in Shanghai 112 bereits durch ihre Mitgliedschaft im I., II. und III. ZEK bzw. ZKK festgelegt, von den restlichen 48 galt es, in Nanking und Kanton je 24 zu wählen; und diese wurden zur Hälfte von den jeweiligen Parteizentralen nominiert19. Die Zahl der zu wählenden Amtsträger stieg 1935 auf 208. Um diese Positionen bewarben sich 359 Kandidaten, von denen die Delegierten des Parteikongresses nur 108 aufgestellt hatten20. Das Wahlrecht des Parteikongresses beschränkte sich also praktisch auf die Feststellung, wer Vollmitglied und wer Kandidat des ZEK und der ZKK werden sollte, außerdem konnte er 1935 etwas mehr als 4 0 % der nominierten Kandidaten zurückweisen, während 1931 nur knapp 10 % und 1929 12,5 % der Bewerber durchfielen. Hier mag man einen besdieidenen Ansatz zur Demokratisierung der Partei erblicken, durch den sich die Bedeutung des Parteikongresses jedoch nicht wesentlich erhöhte. Dagegen war das ZEK tatsächlich eines der bestimmenden Organe. Seine Plenarsitzungen stellten jeweils bedeutende politische Ereignisse dar. Audi dabei ging es zwar meist darum, die vorgefaßten Beschlüsse eines engeren Führungskreises zu ratifizieren; dennoch deuten die Debatten und Ergebnisse der Plenarsitzungen des ZEK darauf hin, daß dessen Mitglieder nicht selten erheblichen Einfluß auf den Entscheidungsprozeß zu nehmen vermochten. Seit Anfang 1929 nahm die Häufigkeit der Plenarsitzungen im Vergleich mit der Amtsperiode des II. ZEK zu. Dies gilt vor allem für die Jahre 1931—1932. Später wurde es dann — vom Jahre 1933 abgesehen — zur Regel, daß im Durchschnitt zwei Plenarsitzungen im Jahr stattfanden: Tab. 11: Plenarsitzungen

des III., IV. und V. ZEK der Κ MT bis zum Juli

Gremium

Datum

1937u

zeitl. Abstand zwischen den Sitzungen

III.

ZEK

1. Plenum

28. 3., 4. u. 8. 4. 1929

2. Plenum

10.—18.

3. Plenum

1.—6.

4. Plenum

3.1930

12.—18, 11. 1930

außerordentliches Plenum 5. Plenum

6. 1929

1 . / 2 . 5 . 1931 13.—15.

außerordentliches Plenum

6.1931

9.—11.11.1931

— 2

Monate

8Va Monate 8

Monate

5Va Monate IV2 Monate 5

18

Protokoll III, p. 160 f und 175.

19

China Year Book 1 9 3 1 — 3 2 p. 549.

20

China Year Book 1936, p. 170.

21

Nach: Ch'ungk'ing-Sammlung und KMT-Chronik, Bd. I, passim.

Monate

Instrumente der Eriiehungsdiktatur IV. ZEK 1. Plenum 2. Plenum 3. Plenum 4. Plenum 5. Plenum 6. Plenum V. ZEK 1. Plenum 2. Plenum 3. Plenum

— Partei, Regierung und Armee

22.—29.12.1931 1 — 6. 3 . 1 9 3 2 15.—22.12. 1932 20.—25. 1.1934 10.—14.12.1934 1.— 6 . 1 1 . 1 9 3 5 2.— 7. 12.1935 10.—14. 7 . 1 9 3 6 15.—22. 2 . 1 9 3 7

481

IV2 Monate 2 Monate 9 Monate 13 Monate 11 Monate lOViMonate 1 7 7

Monat Monate Monate

Der Ständige Ausschuß des ZEK, der in den Pausen zwischen den Plenarsitzungen dessen Funktionen übernahm, trat zumeist einmal in der Woche zusammen. Unter seiner Leitung arbeitete seit 1931 das Sekretariat des Ständigen Ausschusses, dessen Aufgaben vor 1931 vom Amt des ZEK-Generalsekretärs wahrgenommen worden waren. Außerdem bestanden an Stelle der früheren Abteilungen beim ZEK drei Komitees für Organisation, Massenbewegungen und Propaganda. Besondere Bedeutung hatte hier das Organisationskomitee, das ab 1932 immer mehr zum Instrument der „CC-Clique" wurde. Seine Aufgaben umfaßten vor allem die Kontrolle der lokalen Parteizweige, die Einbringung von Vorschlägen für die Ernennung des leitenden Personals im Parteiapparat und die Kaderausbildung. Das Propagandakomitee überwachte die Parteipresse und den im Entstehen begriffenen Rundfunk. Nach der Ernennung Ku Meng-yüs zum Eisenbahnminister trat im März 1932 ein enger Vertrauter Chiangs, Shao Yüan-ch'ung, an seine Spitze. Für die Leitung der Gewerkschaften, Bauernvereinigungen, Frauen- und Studentenverbände war das Komitee für Massenbewegungen verantwortlich, dessen Einfluß im Parteiapparat trotz erheblicher Anstrengungen seines Leiters Ch'en Kung-po wegen der Schwäche der von ihm kontrollierten Organisationen verhältnismäßig gering blieb. Die provinzialen und lokalen Parteizweige mußten sich oft mit der Funktion von Ausführungsorganen für die Entscheidungen der Zentrale zufrieden geben. Je fester Nanking ein Gebiet unter seiner Kontrolle hatte, desto weniger konnten die dortigen Basisorganisationen eigene politische Vorstellungen entwickeln. In Süd- und Südost-China war ihre Unabhängigkeit hingegen recht groß. Die in Kanton residierenden „Zweigkonferenzen" des ZEK und des ZPR unter Hu Han-min, T'ang Shao-yi und den Kuangsi- und Kuangtung-Generalen fungierten bis zum Sommer 1936 praktisch als eine autonome Regierung, die bis 1934 von Nanking fast völlig unabhängig war. Im übrigen gewannen die lokalen 31

Domes

482

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Parteiorganisationen Bedeutung als Aufsichtsorgane über die Lokalverwaltungen. Sie wurden in dieser Funktion mancherorts zu einem Instrument der Zentralisierung und der Ausbreitung des Gedankengutes der nationalistischen Einheitspartei in China 22 . Der ZPR stellte das entscheidende Bindeglied zwischen Partei und Regierung dar 23 . Dieses Organ hatte seit seiner Gründung im Juli 1924 erhebliche organisatorische Wandlungen durchgemacht. Zunächst war der ZPR vom Juli 1924 bis zum Mai 1926 ein Gremium von 12 Mitgliedern, welche in der Praxis das ZEK als Parteiführung ersetzten24. Auf dem 2. Plenum des II. ZEK im Mai 1926 trat an seine Stelle eine „Politische Konferenz", an der alle Mitglieder des ZEK und der ZKK teilnehmen konnten. Dieses System wurde von der Nanking-Regierung 1927 beibehalten, während man in Wuhan wieder einen PR mit 16 Mitgliedern bildete, dessen Präsidium das Zentrum der Macht darstellte. Im Oktober 1928 bestimmte das ZEK, das alle Mitglieder des ZEK und der ZKK ex officio dem ZPR angehören sollten, außerdem die Mitglieder des Nationalregierungs-Rates und „andere bedeutende Persönlichkeiten", deren Zahl zusammen jedoch höchstens 50 % der Mitglieder beider Komitees betragen durfte. Das Amt des Vorsitzenden des ZPR übernahm Chiang25. Eine erneute Änderung erfolgte im April 1929. Jetzt war der ZPR wieder ein vom ZEK gewähltes Komitee, dem 24 Vollmitglieder angehörten, davon 16 aus dem ZEK und 8 aus der ZKK 26 . Das 5. Plenum des III. ZEK besdiloß im Juni 1931, daß hinfort auch solche Politiker dem ZPR angehören könnten, die nicht im ZEK oder in der ZKK saßen27. 22

23

24 25

2

Vgl. hierzu: C. Kuanson Young (Yang Kuang-sun?), Nationalist China in Retrospect, Shanghai 1931, p. 7—11. Vgl. hierzu u . a . : Linebarger, op. cit. p. 152; ders. Government, p. 172; T'ang, Reconstruction, p. 9—14; ders., „The Nature of the Political Council", in: „The People's Tribune", 1. Jahrg. ( N e w Series), N r . 5 v o m 16. 1. 1932 p. 130 f.; und: Tsao, op. cit. p. 14 f. Siehe oben, S. 103 und 155! Vorläufige Richtlinien des ZPR, angenommen auf der 179. Sitzung des Ständigen Ausschusses des ZEK der K M T am 25. Oktober 1928, in: K M W H , Bd. X X I I , p. 337—339.

' Richtlinien des PR des ZEK der KMT, angenommen auf der 2. Sitzung des Ständigen Ausschusses des III. ZEK der K M T am 15. April 1929, in: K M W H , Bd. X X I I I , p. 443 f. 27 N o v e l l e zu den Richtlinien des ZEK, angenommen vom 5. Plenum des III. ZEK der K M T am 15. Juni 1931, in: Besdilußprotokoll der 2. Sitzung des V. Plenums des III. ZEK, Resolutionen 6 und 7 (KMT-Archiv); engl. Übersetzung in: China Year Book 1931—32, p. 541.

Instrumente

der Erziehungsdiktatur

— Partei, Regierung und Armee

483

Ende Dezember 1931 kehrte dann das 1. Plenum des IV. ZEK wieder zu der Regelung von 1926 zurück: Alle Mitglieder des ZEK und der ZKK wurden zugleich Mitglieder des ZPR. Das Amt des Vorsitzenden schaffte man ab. An seine Stelle trat das Triumvirat Chiang-Wang-Hu als „Ständiger Ausschuß" des ZPR. Da Hu jedoch im Süden blieb, traten tatsächlich Chiang und Wang gemeinsam an die Spitze des politischen Führungsgremiums28. Das 1. Plenum des V. ZEK schließlich gab dem ZPR wieder eine fest umrissene, zahlenmäßig geringere Mitgliedschaft. Er umfaßte fortan 27 Mitglieder, die dem ZEK oder ZKK angehören mußten. Alle Minister und hohe Beamte der Nationalregierung erhielten das Recht, beratend an den Sitzungen teilzunehmen29. Der ZPR hatte vor allem sechs Aufgaben: Er legte die Grundsätze der Außenpolitik fest; ebenso die Prinzipien der Gesetzgebung; er bestimmte die „Generallinie" der Verwaltungspolitik; er entwarf allgemeine Pläne für die Landesverteidigung; ebenso die grundlegenden Finanzpläne; und er hatte das Recht, die Mitglieder der fünf Yüan, die Gouverneure und Kommissare der Provinzregierungen, die Oberbürgermeister der Großstädte, Botschafter und Gesandten zu ernennen30. Die Staatsräte der Nationalregierung sowie die Präsidenten und Vizepräsidenten der fünf Yüan wurden hingegen vom Plenum des ZEK berufen. De facto umfaßte der ZPR, der in der Regel jede Woche einmal zusammentrat, von 1931 bis 1935 die in der Hauptstadt anwesenden Mitglieder des ZEK und der ZKK, also einen Kreis von 40 bis 50 Politikern. Unter ihnen befand sich auch die Mehrheit jener 27 Mitglieder, die dem Rat seit Dezember 1935 angehörten31. Diesen Kreis wird man also als eigentliche Führungsgruppe von Partei und Staat bezeichnen können. Aus 28 29

30 31

31*

Siehe oben, S. 466 f.! Grundregeln der Organisation des ZEK, angenommen auf dem 1. Plenum des ZEK der KMT am 6. Dezember 1935, in: Ch'ung-k'ing-Sammlung, p. 727—30 (hier: p. 729). Vgl. dazu: China Year Book, 1936, p. 172. Vgl. Tsao, op. cit. p. 14. Wang Ching-wei, Chiang Kai-shek, Chu Chia-hua, T'ang Sheng-chih, Shao Yüandi'ung, Sung Tzu-wen, Chang Ching-diiang, Ch'eng Ch'ien, Ku Meng-yü, Hsü Ch'ung-chih, Ch'en Kung-po, Ma Ch'ao-chün, Wang Ch'ung-hui, Liang Han-di'ao, Liu Shou-chung, Chang Hsüeh-liang, H o Ying-ch'in, Wang Pe-chün, Frau Ch'en Pi-diün (Mme. Wang Ching-wei), Wang Lu-i, Ch'en Kuo-fu, Chu P'ei-te, Yen Hsi-shan, Chiang Ting-wen, Huang Shao-hsiung, Li Lieh-chün, Li Wen-fan.

484

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

ihrer Mitte entwickelte sich bald, völlig informell, eine Art innerer Führungskreis als wirkliches Machtzentrum. Dieser Zirkel umfaßte jene Parteiführer, die, wenn immer sie im Lande waren, in jedem Fall am politischen Entscheidungsprozeß unmittelbar teilnahmen. Zu ihm gehörten mit Sicherheit die jeweiligen Mitglieder des Ständigen Ausschusses des ZEK, außerdem aber audi die meisten Minister im Exekutivyüan, der seit 1932 überhaupt als eines der führenden politischen Gremien stärker in den Vordergrund trat. Er wirkte als bedeutsamstes Ausführungsorgan der Beschlüsse des ZPR. Da von den insgesamt 18 Mitgliedern, die ihm von März 1932 bis Dezember 1935 angehörten, jedoch 11 zugleich Stimmrecht im ZPR hatten und durch ihr Amt an die Hauptstadt gebunden waren, konnten sie auch auf jene Entscheidungen Einfluß nehmen, die sie dann auszuführen hatten. Der Exekutivyüan umfaßte, neben dem Amt seines Präsidenten (Premierministers), die Ministerien für Innere Verwaltung, Auswärtiges, Heeresangelegenheiten, Justiz82, Marine, Finanzen, Industrie und Handel (Shih-yeh-pu), Verkehr, Erziehung sowie für Eisenbahnen. Außerdem gehörten zu ihm die Kommissionen für mongolisch-tibetanische Angelegenheiten, Auslandschinesen, Opiumbekämpfung und Bekämpfung von Hungersnöten. Ein Sekretariat mit umfangreichen administrativen Funktionen33 bereitete die Entscheidungen vor, welche im „Rat des Exekutivyüan" (Hsing-cheng-yüan cheng-wu wei-yüan-hui) gefällt wurden. Diesem Rat gehörten mit Stimmrecht der Premierminister und der Vizepremier sowie die Minister und Kommissionsvorsitzenden an, außerdem in beratender Funktion der Generalsekretär des Exekutivyüans — von 1931 bis 1935 Dr. Ch'u Min-yi*; ab Dezember 1935 Dr. Wong Wenhao* — und die Vizeminister. In jedem Ministerium amtierte ein „Politischer Vizeminister" als Stellvertreter des Ministers und ein „Administrativer Vizeminister" als Verwaltungsdief. 32

Das Justizministerium wurde am 3. Oktober 1934 — wie schon von 1929 bis 1931 — wiederum aus dem Exekutiv-Yüan herausgelöst und dem Justiz-Yüan eingegliedert („Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 4 . 1 0 . 1 9 3 4 ) .

93

Vgl. hierzu Tsiang Ting-fu (Chiang T'ing-fu), „Executive Y ü a n " in: Shih Chaoying und Chang Hsi-hsien (Hrsg.), The Chinese Y e a r Book, 1 9 3 6 — 3 7 , Shanghai 1936, p. 2 4 1 — 2 4 6 (hier: p. 244 f.) in Auszügen audi zitiert bei: Linebarger, Government, p. 175 ff. Vgl. außerdem: Tsao, op. cit., p. 127 ff. Das „Chinese Year Book" ist ein Jahrbuch, das seit 1936, ausschließlich von Chinesen redigiert und mit Beiträgen von Chinesen, in englischer Sprache in Shanghai herauskam. Es ist nicht zu verwechseln mit dem „China Y e a r Book", das im wesentlichen Beiträge von Engländern und Amerikanern enthält.

Instrumente

der Erziehungsdiktatur

— Partei,

Regierung

485

und Armee

Neben dem Exekutivyüan hatten vor allem der Legislativyüan und der Kontrollyüan Bedeutung für die Formulierung der chinesischen Politik. Dem Legislativyüan gehörten satzungsgemäß 49 bis 99 Mitglieder an. Das revidierte Organisationsstatut der Nationalregierung vom Dezember 1931 sah vor, daß die Hälfte von ihnen von „nach Gesetz und Recht gebildeten Volksorganisationen" gewählt werden sollte. Das 3. Plenum des IV. ZEK hob diese Bestimmung jedoch im Dezember 1932 wieder auf, und die Mitglieder wurden fortan, wie schon bis 1931, vom Vorsitzenden der Nationalregierung auf Vorschlag des Präsidenten des Legislativyüans ernannt. Die gleichen Bestimmungen galten für den Kontrollyüan, dem 29 bis 49 Mitglieder angehörten34. Nach dem Organisationsstatut der Nationalregierung hatte der Legislativyüan über alle Gesetzgebungsakte, den Staatshaushalt, Amnestien, Kriegserklärung und Friedensschluß zu entscheiden (Art. 27). Diese Bestimmung blieb jedoch Theorie; denn praktisch konnte der Legislativyüan erst auf Grund von Beschlüssen des ZPR handeln. Seine gesetzgeberische Tätigkeit beschränkte sich auf die Festlegung der Einzelheiten jener Gesetze, deren Grundsätze zuvor vom ZPR beschlossn worden waren. Er trug deshalb weniger den Charakter eines Parlaments, als vielmehr denjenigen einer Agentur juristischer Fachleute, die nur begrenzten Einfluß auszuüben vermochte. Das Recht zur Gesetzesinitiative hatten nach den am 23. Juni 1932 verabschiedeten „Richtlinien des Gesetzgebungsprozesses": der ZPR als Ganzes und seine einzelnen Mitglieder; die Staatsräte der Nationalregierung; die vier anderen Yüan; und die Mitglieder der Legislativyüan. Wenn dieser auf Grund der Richtlinien des ZPR die Gesetzestexte entworfen hatte, wurden sie dem ZPR zur Genehmigung oder zur Äußerung von Änderungswünschen, welche der Legislativyüan auszuführen hatte, vorgelegt. Nach der endgültigen Billigung durch den ZPR mußte die Nationalregierung das jeweilige Gesetz verkünden35. M

Beschluß zur Änderung der Art. 30 und 48 des Organisationsstatuts der Nationalregierung, angenommen auf dem 3. Plenum des IV. Z E K der K M T am 21. Dezember 1932, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 557 f.

"

Richtlinien des Gesetzgebungsprozesses, angenommen auf der 25. Sitzung des Ständigen Aussdiusses des IV. Z E K der K M T am 23. Juni 1932, revidiert auf der 2 8 . Sitzung am 14. Juli

1932 und auf der 67. Sitzung am 20. April

K M W H , Bd. X X V I I I , p. 135 f.

1933,

in:

486

XII· Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe

bis 1936

Der Justiz- und der Prüfungsyüan hatten für den Entscheidungsprozeß im nationalistischen China bis 1937 keine allzu große Bedeutung. Der Aufbau eines modernen Gerichtswesens war erst im Gange, und Verwaltungsprüfungen begannen zwar schon 1929, aber sie bestimmten erst ab 1935/36 in stärkerem Maße die Berufung des administrativen Personals. Der Staatsrat der Nationalregierung sollte als Koordinierungsgremium für die Arbeit der fünf Yüan dienen, er trat jedoch kaum bei der Formulierung politischer Entscheidungen in Erscheinung. Die Mitgliedschaft im Staatsrat erschien vielmehr als ein Ehrenamt für angesehene Altrevolutionäre und Politiker. Von Bedeutung war aber, daß dem Staatsrat organisatorisch eine Reihe maßgeblicher Institutionen unterstellt wurden die damit dem Exekutivyüan entzogen wurden, darunter vor allem86: das Militärkomitee mit dem Generalstab, dem Generaldirektorium für das militärische Ausbildungswesen und dem militärischen Beratungsamt (siehe unten); die Nationale Aufbaukommission; die Academia Sinica; und der Nationale Wirtschaftsrat87. Die Provinzregierungen bestanden in der Regel aus dem „Vorsitzenden" (Sheng-cheng-fu chu-hsi) — oder Gouverneur — und Kommissaren oder Provinzministern. Offiziell wurden diese vom ZPR berufen. In der politischen Praxis gab es hier jedoch erhebliche Unterschiede; denn in manchen Provinzen konnte die „Berufung" nur eine Bestätigung der bestehenden Machtverhältnisse bedeuten. Etwas vereinfacht ließe sich die These aufstellen, daß die Zentrale nur dort wirkliche Kontrolle ausübte, wo sie die Gouverneure nicht nur berufen, sondern gegebenenfalls auch absetzen konnte. Dies mochte 1931/32 in Kiangsu, Chekiang, Anhui, Hunan, Hupei, Kiangsi, Honan und vielleicht noch in Shensi gelten, seit 1934 auch in Fukien, seit 1935 in Kueichou und seit 1936 in Kuangtung. Generale der „Zentralarmee" oder enge Mitarbeiter Chiangs aus dem zivilen Parteiapparat besetzten die Ämter der Gouverneure von Kiangsu, Chekiang, Anhui, Honan, Hupei, Kiangsi und Fukien. Diese sieben Provinzen bildeten das Kerngebiet des nationalistischen China, in dem die Herrschaft der Nationalregierung, vor allem nach der Vertreibung der Kommunisten 1935, unangefochten blieb. Aber audi in anderen Provin39 37

Vgl. Linebarger, Government, p. 173. Siehe unten, S. 592 ff.!

Instrumente

der Erziehungsdiktatur

— Partei, Regierung und Armee

487

zen stieg ihr Einfluß seit 1932 immer mehr, und dieser Prozeß geht mit der wachsenden Stärke der lokalen Parteiorganisationen Hand in Hand. Als Basiseinheit der Lokalverwaltung 38 galt der Landkreis. Im Jahre 1935 gab es in China insgesamt 1.914 Kreise39, davon 159 in Tungpei. An der Spitze der Kreisverwaltungen standen Landräte (Hsien-chang), die zunächst von den Provinzregierungen ernannt wurden. Zu ihrer Unterstützung bildete man in den meisten Kreisen „Konsultativräte" (Hsien-ts'an-i-hui) als Ansatz zur Errichtung der kommunalen Selbstverwaltung 40 . Neben Partei und Verwaltung traten als vielleicht bedeutsamstes Herrschaftsinstrument im nationalistischen China die Streitkräfte, vor allem das Heer. Hier war die Stärke der „Zentralarmee" seit 1929 ständig im Wachsen begriffen, ein Prozeß, der im einzelnen noch im XIV. Kapitel dargestellt werden soll41. Als zentrales Leitungsorgan wurde im März 1932 das Militärkomitee (Chün-shih wei-yüan hui) gebildet, an dessen Spitze Chiang selbst als Vorsitzender (Wei-yüan-chang) trat. Dem Komitee unterstanden unmittelbar: der Generalstab (Ts'an-mo pen-pu) mit dem Generalstabschef (Ts'anmo tsung-chang) und zwei Stellvertretern; das Generaldirektorium für das militärische Ausbildungswesen (Hsünlien Tsung-chien-pu); und das Militärische Beratungsamt (Chün-shih ts'an-i-yüan). Als Generalstabschef hatte Chiang praktisch die Funktion des Oberbefehlshabers aller Streitkräfte wieder übernommen. Das Generaldirektorium für das militärische Ausbildungswesen und das Beratungsamt boten Positionen für solche Heerführer, die aus dem aktiven Dienst ausgeschieden waren oder deren eigene Armeen sich in der Periode der Bürgerkriege 1929/30 aufgelöst hatten. Die „Zentralarmee" stellte die wichtigste militärische Kraft in China dar, doch wurde dieser Begriff seit 1932 in doppelter Bedeutung verwandt. Er bezeichnete einmal alle Verbände, die unmittelbar der Nationalregierung unterstanden. Sie umfaßten 1932 etwa 880.000 von insgesamt 2,2 Millionen Soldaten in China — also rund 40 % — 1936 jedoch bereits 1,2 von 1,8 Millionen — also zwei Drittel —4ä. Zum zweiten galten als „Zentralarmee" im engeren Sinne jedoch 38

30 40 41 42

Vgl. hierzu u.a. Tsao, op. cit. p. 221—228; Fairbank, op. cit., p. 189; und: Linebarger op. cit. p. 168—170. Vgl. KMWH, Bd. XXVII, p. 505—07. Siehe unten, S. 489! Siehe unten, S. 576 if.! Vgl.: China Year Book 1931—32, p. 588—591; und: China Year Book 1936 p. 427.

488

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

nur jene Elitetruppen, die von Offizieren aus Chiangs altem 1. Armeekorps befehligt wurden. Zu ihnen gehörten im Jahre 1932 erst rund 150.000 Mann, doch stieg ihre Stärke bis 1937 auf 300.000 bis 550.000 Mann an43. Diese Einheiten zwangen den Provinzen notfalls den Willen der Zentrale auf; seit dem Sieg im Bürgerkrieg von 1930 verfügten sie eindeutig über eine dominierende Position im Lande. Schon deshalb war ihre Bedeutung als Faktor der Integration mindestens ebenso groß wie, wenn nicht noch größer als diejenige des zivilen Parteiapparates. So gab es im nationalistischen China tatsächlich drei Instrumente der Herrschaftsausübung: Partei (tang), Verwaltung (cheng) und Streitkräfte (chün). Als Leitungsorgan der Verwaltung diente der Exekutivyüan. Die Führung der Streitkräfte konzentrierte sich im Militärkomitee, die Führung der Partei beim Ständigen Ausschuß des ZEK mit seinem Sekretariat und den drei Komitees für Organisation, Propaganda und Massenbewegungen. Der ZPR aber bildete das Koordinierungszentrum, in dem alle drei Herrschaftsinstrumente vereinigt waren und ihre jeweiligen Interessen miteinander oder gegeneinader abgrenzten. Die Verwaltung stützte sidi in erster Linie auf Fachleute, die in westlichen Ländern erzogen worden waren; das Rückgrat der Streitkräfte bildeten die Kadetten von Huangpu und der „Zentralen Militärakademie". Die Kader der Partei rekrutierten sich vor allem aus dem Anhang der „CC-Clique", aber hier spielten auch die anderen Fraktionen und Machtgruppen weiterhin eine erhebliche Rolle. So blieb die Partei der Bereich, um dessen Leitung die verschiedenen Kräfte des chinesischen Nationalismus rangen. Das System der Erziehungsdiktatur stellte so formell zwar eine Einparteiherrschaft dar, aber Linebarger fragt zu Recht, ob der Charakter des Systems tatsächlich als Einparteiherrschaft zutreffend beschrieben werden könne, wenn er feststellt, die Partei sei „ein Konglomerat zahlloser persönlicher Führungsgruppen" gewesen, „die durch gemeinsame Zukunftshoffnungen, ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung der Nationalregierung und der formellen Parteimadit und gemeinsame Loyalität gegenüber dem Parteiführer zusammengehalten wurden" 44 . Unter diesen Voraussetzungen veränderte sich in der KMT das sowjetische Organisationsmodell, das offiziell seit 1924 dem Aufbau der Partei zugrunde lag in seinem Inhalt. Die KMT präsentierte sich als „parti unifie", als Koalition von Personal- und Richtungscliquen, oder besser: von Fraktionen und Machtgruppen. Angesichts der Vielfalt der Fraktionen und Macht4

' Vgl. hierzu Liu, op. cit., p. 111—113 mit Ishimaru op. cit. p. 113—115. Linebarger, Chiang, p. 142.

44

Vorbereitungen

für den Übergang zum

Verfassungsstaat

489

gruppen wuchs die Bedeutung des ZEK, dessen Kerngruppe mit dem Z P R nahezu identisch war, während in der UdSSR zur gleidien Zeit das Z K an Einfluß gegenüber dem Politbüro und dem Parteiführer verlor. Das Beispiel der K M T legt den Gedanken nahe, daß die komplexe Zusammensetzung nichttotalitärer Einheitsparteien, bei Anwendung des sowjetischen Organisationsmodells, zu einem Prozeß führt, der als Parlamentarisierung des Zentralkomitees bezeichnet werden kann.

Vorbereitungen

für den Übergang zum Verfassungsstaat

Das 5. Plenum des II. Z E K der KMT beschloß im August 1928, die Periode der Erziehungsdiktatur auf die Zeit bis zum Jahre 1935 zu begrenzen und dann den Ubergang zur Periode des Verfassungsstaates durchzuführen. An diesem Beschluß hatte sich bis 1932 nichts geändert, so daß die Parteiführung gehalten war, die nach den Vorstellungen Sun Yat-sens notwendigen Voraussetzungen für die Errichtung des Verfassungsstaates zu schaffen. Dem Ubergang zur kommunalen Selbstverwaltung in den Landkreisen und kreisfreien Städten sollte die Bildung von Konsultativräten dienen, für die am 10. August 1932 die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen wurden. An diesem Tage verkündete die Nationalregierung Organisationsstatuten für die Konsultativräte in den Kreisen (hsien)45 und in den unmittelbar den Provinzregierungen unterstehenden Städten (shih)46. Diese Gesetze bestimmten grundsätzlich, daß die Konsultativräte von der Bevölkerung in geheimer Wahl bestellt werden mußten. Die am gleichen Tage proklamierten Wahlgesetze für Kreise47 und Städte 48 stimmten im Inhalt weitgehend überein. Sie verliehen das aktive Wahlrecht für die Räte, deren Amtsperiode zwei Jahre dauern sollte, allen Bürgern, die über 20 Jahre alt waren; nur Personen, deren Bürgerrechte aufgehoben, die entmündigt oder rauschgiftsüchtig waren, durften ihr Wahlrecht nicht ausüben. Die Kandidaten mußten das 25. Lebensjahr vollendet, min45

Organisationsstatut

der

Konsultativräte

der

Landkreise,

vom

10.8.1932,

in:

K M W H Bd. X X V , p. 758 bis 161. 46

Organisationsstatut

der Konsultativräte der kreisfreien Städte vom

10.8.1932,

ibid., p. 7 6 8 — 7 7 1 . 47

Wahlgesetz für die Konsultativräte der Landkreise, vom 10. 8 . 1 9 3 2 , ibid. p. 761 bis 768.

48

Wahlgesetz für die Konsultativräte der kreisfreien Städte, vom 10. 8 . 1 9 3 2 , ibid. p. 7 7 1 — 7 7 9 .

490

XII. Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe

bis 1936

destens die Unterstufe der Sekundärschule absolviert haben oder „über ein Jahr in leitender Funktion in Volksorganisationen" tätig gewesen sein. Ausnahmen von diesen Bestimmungen konnten bei Personen gemacht werden, die „sich große Verdienste um die öffentlichen Angelegenheiten" erworben hatten. Personen, die sich noch in der Ausbildung befanden, Volksschullehrern, Priestern aller Religionsgemeinschaften, Beamten der Kommunalverwaltung, Polizisten und Soldaten wurde das passive Wahlrecht vorenthalten. Die Proklamation dieser Gesetze blieb jedoch ohne praktische Bedeutung; man verschob ihre Einführung auf unbestimmte Zeit. Erst am 21. Februar 1934 verabschiedete der ZPR „Richtlinien für die lokale Selbstverwaltung", denen zufolge der Übergang zur Ausübung der politischen Rechte durch die Bevölkerung in den Gemeinden und Kreisen Chinas sich in drei Stufen vollziehen sollte49. In der ersten, der „Vorbereitungsstufe", wurden die Landräte und Oberbürgermeister weiterhin von der Provinzregierung ernannt, die Mitglieder der Konsultativräte dagegen von den jeweiligen Verwaltungschefs berufen. Für die Oberhäupter der Gemeinden und Ämter (hsiang) sollte die Bevölkerung drei Anwärter wählen, von denen der jeweilige Landrat einen zu ernennen hätte. Die zweite, die „Einführungsstufe", war durch die Volkswahl der Konsultativräte und der Oberhäupter der Gemeinden und Ämter gekennzeichnet; während das Ernennungsrecht der Regierung für die Landräte und Oberbürgermeister audi hier noch bestehenblieb. Erst in der dritten, der „Vollendungsstufe", sollten schließlich alle Verwaltungschefs ebenso wie die Konsultativräte von den Bürgern gewählt werden. Bis zum Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges 1937 kamen jedoch nur sehr wenige Kreise in China über die erste Stufe dieses Plans hinaus. Die Bemühungen der Zentrale um den Aufbau der lokalen Selbstverwaltung beschränkten sich im wesentlichen darauf, über die Provinzregierungen hinweg unmittelbaren Kontakt zu den Lokalverwaltungen aufzunehmen und sich um die politische und fachliche Ausbildung der Verwaltungschefs zu kümmern. In Nanking wurde ein „Zentrales Ausbildungs-Korps" (Chung-yang hsün-lien t'uan) geschaffen, das eng mit dem „Zentralen Politischen Institut" der Partei zusammenarbeitete und vor allem dazu diente, Landräte aus fast allen chinesischen Provinzen zur Ausbildung nach Nanking zu bringen50. Doch damit hatte es im wesentlichen sein 4

· Richtlinien für die lokale Selbstverwaltung, verabschiedet auf der 396. Sitzung des ZPR am 21. Februar 1934, in: KMWH, Bd. X X V I I I p. 166 f. 50 Vgl. hierzu u . a . : Chang Yu-hsing, L'Autonomie locale en Chine, Dissertation, Nancy 1933, passim; Linebarger, Government, p. 178 ff.; Tsao, op. cit., p. 223 f.; und: Fairbank, op. cit. p. 189.

Vorbereitungen

für den Übergang

zum

Verfassungsstaat

491

Bewenden. Die ersten Schritte auf dem Wege des Ubergangs zum Verfassungsstaat vollzogen sich nicht in den Kreisen und Gemeinden, sondern in der Zentrale, bei der Vorbereitung einer endgültigen Verfassung für China 61 . Hier wählte sich der neue Präsident des Legislativyüans, Sun K'e, sein bedeutsamstes Betätigungsfeld. Zusammen mit 26 anderen Mitgliedern des ZEK und der ZKK setzte er auf dem 3. Plenum des IV. 2EK, das vom 15. bis zum 22. Dezember 1932 in Nanking stattfand, die Verabschiedung einer Resolution durch, in der die Herstellung des Entwurfs einer endgültigen Verfassung (Hsien-fa) durch den Legislativyüan gefordert wurde 52 . Schon im Februar 1933 bildete der Legislativyüan eine „Kommission für den Entwurf einer Verfassung" (Hsien-fa ts'ao-an ch'its'ao wei-yüan-hui) 53 . Den Vorsitz dieser Kommission übernahm Sun selbst, als seine Stellvertreter fungierten der bekannte Staats- und Völkerrechtslehrer Wu Ching-hsiung (Dr. John C. H. Wu)* und Chang Chih-pen. Am 8. Juni 1933 konnte die Kommission bereits einen ersten Vorentwurf, der aus der Feder Dr. Wu Ching-hsiungs stammte, der Öffentlichkeit vorlegen54. Auf der Grundlage dieses Entwurfs begannen am 31. August 1933 die Beratungen der Kommission, aus denen ein „Vorläufiger Verfassungsentwurf" hervorging, den man am 1. März 1934 veröffentlichte85. Im Mittelpunkt der Diskussionen in der Kommission — und, nach der Veröffentlichung des Entwurfs, auch in der Öffentlichkeit — standen die Fragen, ob der Präsident der Republik die tatsächliche Leitung der Exekutive übernehmen solle, ob die vorgesehene „Nationalver51 52

5J

Linebarger u. a., op. cit. p. 169. Antrag Sun K'e und Gen. zur Verdeutlichung der Parteilinie, angenommen vom 3. Plenum des IV. ZEK der K M T am 20. Dezember 1932. In: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 739—745 (hier v. a.: p. 743 ff.). Vgl. dazu u. a.: Tsao, op. cit., p. 17. Tsao datiert die Ernennung Suns zum Präsidenten des Legislativ-Yüans fälschlidi auf den Januar 1933. Audi Sun selbst bestätigte im Interview mit dem Verfasser am 3. April 1965 in Laguna Beach, daß er auf dem 2. Plenum des IV. ZEK der K M T im März 1932 gewählt worden sei und „bald darauf" sein Amt angetreten habe. Grundsätze der Organisation des Legislativ-Yüan-Aussdiusses für den Verfassungsentwurf, v o m 1 8 . 2 . 1 9 3 3 in: K M W H Bd. X X V I I I , p. 124 f. Vgl. Tsao, ibid. Vorschlag zur Bildung kleinerer Provinzen, eingebracht auf dem 3. Plenum des IV. ZEK der K M T am 19. Dezember 1932 von Wu Ch'ao-shu und Gen., in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 557.

54

W u Ching-hsiung, „Entwurf einer Verfassung der Republik China", in: Kuo-min cheng-fu kung-pao" und C Y J P v o m 8. 6. 1933. Vgl. Tsao ibid.

55

Englischer Text in: The China Year Book, 1934, Shanghai 1934, p. 4 7 1 — 4 7 6 ; vgl. hierzu:Tsao,ibid.

492

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Sammlung" (Kuo-min ta-hui) oder die Bevölkerung das Recht erhielten, Legislativ- und Kontrollyüan zu wählen, und ob es geraten sei, aktiven Militärs den Zugang zu politischen Ämtern zu verwehren. Das letzte Problem führte zu scharfen Auseinandersetzungen im Legislativyüan und audi in der Parteiführung. Eine „liberale" Gruppe, die sidi um Chang Chih-pen scharte, und der vor allem Politiker des „Westbergs" und des linken Flügels angehörten, konnte zunächst durchsetzen, daß man eine Bestimmung in den Entwurf aufnahm, derzufolge kein aktiver Soldat Präsident oder Vizepräsident der Republik werden dürfe. Als diese Bestimmung Ende 1934 den vereinigten Anstrengungen der Anhänger Chiangs und der Kuangsi-Generale zum Opfer fiel, legte Chang sein Amt als Yizevorsitzender der Kommission für den Verfassungsentwurf aus Protest nieder58 — die Anhänger des Prinzips der zivilen Staatsführung hatten eine Schlacht verloren. Zuvor wurden jedoch der „Vorläufige Verfassungsentwurf" vom März 1934 noch einmal in der Kommission beraten und weitere Änderungen vorgenommen, bis dann am 9. Juli ein „Revidierter Vorläufiger Verfassungsentwurf" fertiggestellt war, der im September dem Legislativyüan zuging und von diesem am 16. Oktober verabschiedet wurde57. Dieser Entwurf, der 178 Artikel umfaßte, übertrug der Nationalversammlung das Recht zu Wahl und Abberufung des Präsidenten und des Vizepräsidenten der Republik sowie der Präsidenten und Mitglieder des Legislativund des Kontrollyüan. Die Nationalversammlung selbst sollte für vier Jahre von allen über 20 Jahre alten Bürgern gewählt werden. Für jedes zweite Jahr war eine Sitzung der Nationalversammlung vorgesehen, die, außer den Rechten der Wahl und Abberufung, auch diejenigen der Gesetzesinitiative, des Referendums über Gesetze, welche der Legislativyüan verabschiedet hatte, und der Verfassungsrevision ausüben sollte. Es war vorgesehen, die Präsidenten und Mitglieder des Justiz- und des Prüfungsyüan vom Präsidenten der Republik mit Zustimmung des Legislativyüans ernennen zu lassen. Der Präsident der Republik erhielt in dem Entwurf die Vollmacht, die „höchste exekutive Gewalt" auszuüben, und sollte deshalb auch den Sitzungen des Exekutivyüan präsidie5e

57

Angaben Chang Chih-pSns im Interview mit dem Verfasser am 6. Juli 1963 in T'aipei, bestätigt durch Hinweise auf die Debatte auf dem 5. Plenum des IV. ZEK der KMT vom 1 2 . - 1 4 . 12.1934 in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 593 f. Revidierter Entwurf eines Vorschlags für die Verfassung der Republik China, verabschiedet auf der 74. Sitzung des Legislativ-Yüans am 16. Oktober 1934, in: „Li-fayüan kung-pao" (Bulletin des Legislativ-Yüans) vom 1 7 . 1 0 . 1 9 3 4 . Eine englische Ubersetzung findet sich in: China Year Book 1935, p. 68—75.

Vorbereitungen

für den Übergang

zum

Verfassungsstaat

493

ren, dessen Präsident, Vizepräsident und „Staatsräte" von ihm ernannt und entlassen wurden und ihm „individuell verantwortlich" waren. Die Amtszeit des Präsidenten wurde ebenfalls auf vier Jahre festgelegt. Dieser Entwurf stand nun im Mittelpunkt der Beratungen des 5. Plenums des IV. ZEK der KMT, das vom 10. bis zum 14. Dezember 1934 in Nanking tagte. Das Plenum setzte zunächst eine Kommission unter dem Präsidium des Vorsitzenden der Nationalregierung, Lin Sen ein, welche den Entwurf des Legislativyüans prüfen und über die Ergebnisse dieser Prüfung berichten sollte. Dieser Bericht, der am 12. Dezember vorlag, erklärte den Entwurf grundsätzlich für akzeptabel, regte aber eine weitere Revision an, welche zunächst von einem Unterausschuß des Ständigen Ausschusses des ZEK durchgeführt werden sollte, der seine Änderungswünsche dem Legislativyüan zu unterbreiten hätte. Nach einer neuen Beratung im Legislativyüan sollte der Entwurf dann noch einmal dem Ständigen Ausschuß des ZEK vorgelegt und von diesem auf dem V. Parteikongreß der KMT eingebracht werden 58 . Diese Empfehlungen übernahm das 5. Plenum durch einen Beschluß am 14. Dezember 1934, und am 17. Oktober 1935 konnte der Ständige Ausschuß schließlich seine Beratungen mit der Verabschiedung von fünf Empfehlungen zum Verfassungsentwurf abschließen: 1. Die Drei Grundlehren vom Volk, die „Grundsätze des Nationalen Aufbaus" und das Grundgesetz von 1931 sollten als Basis für den Entwurf dienen; 2. es sei empfehlenswert, die exekutive Gewalt „nicht allzusehr zu beschränken", um eine wirksame Tätigkeit der Regierung zu gewährleisten; 3. man solle, im Gegensatz zum vorliegenden Entwurf, die Funktionen der Zentralregierung und der Lokalverwaltungen nur allgemein voneinander abgrenzen und die Einzelheiten in diesem Bereich der späteren Gesetzgebung überlassen; 4. solche Bestimmungen der Verfassung, die „in Anbetracht der Umstände" nicht sofort in Kraft treten könnten, mußten nach einem durch Gesetz festzulegenden Stufenplan später verwirklicht werden; und 5. der Entwurf solle möglichst „kurz, präzise und allgemeinverständlich" formuliert sein59. 58 58

Vgl. Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 593; und: China Year Book 1935, p. 104 f. Beschlußprotokoll der Erweiterten Sitzung des Ständigen Ausschusses des IV, ZEK der KMT am 1 7 . 1 0 . 1 9 3 5 (Nadilaß Chu). Vgl. hierzu: Tsao, op. cit. p. 18 f.

494

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Mit der zweiten Empfehlung hatten sich jene Kräfte in der KMT durchgesetzt, die nach einer starken Regierung riefen und der sofortigen Einführung der verfassungsgemäßen Herrschaft skeptisch gegenüberstanden. Sie waren vor allem unter den Anhängern Chiangs zu finden, in dessen Umgebung, nicht zuletzt bei den Generalen der „Zentralarmee" und der „CC-Clique", sich der Wunsch verstärkte, die Periode der Erziehungsdiktatur zu verlängern. Im Gegensatz zu ihnen drängten die Politiker der Rechten auf einen baldigen Ubergang zur Periode des Verfassungsstaates, weil sie sich davon eine Liberalisierung der Herrschaft und damit zugleich eine Verstärkung ihres eigenen politischen Einflusses gegenüber dem Militär und dem zivilen Parteiapparat versprachen. Hu Han-min rief von Kanton aus am vernehmlichsten nach einer Beendigung der Erziehungsdiktatur. Dieser Gegensatz bestimmte die Beratungen des Entwurfs auf dem 6. Plenum des IV. ZEK am 4. November 60 und vor allem auf dem V. Parteikongreß, der vom 12. bis zum 23. November 1935 in Nanking stattfand. Hier brachten Chou Fu-hai und 52 weitere Delegierte am 23. November einen Antrag ein, der forderte, man solle dem Präsidenten der Republik „eine eindeutige Führungsstellung über alle fünf Zweige der Regierungsgewalt einräumen", ihm ein Vorschlagsrecht für die Wahl der Mitglieder des Legislativ- und des Kontrollyüans zugestehen und ihm die Möglichkeit gewähren, sich über die Nationalversammlung hinweg auch unmittelbar an das Volk zu wenden 61 . Diese sehr weitgehenden Formulierungen trafen jedoch auf den Widerstand der Mehrheit des Kongresses62. Das 1. Plenum des V. ZEK der KMT setzte am 4. Dezember 1935 den 5. Mai 1936 als Termin für die Veröffentlichung des endgültigen Verfassungsentwurfs fest und bestimmte, daß die Nationalversammlung, die ihn beraten sollte, in Übereinstimmung mit einem Beschluß des V. Parteikongresses63 am 12. November 1936 zusammentreten müsse64. Zur letzten Beratung des Entwurfs wurde eine Kommission des ZEK gebildet, eo

Beschluß des 6. Plenums des IV. ZEK der K M T über den Verfassungsentwurf von 4. 11. 1935, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 609. " Änderungsantrag Chou Fu-hai und Gen. zum Verfassungsentwurf, eingebradit auf dem V. Parteikongreß der K M T am 21. November 1935, ibid. p. 649 f. 62 Siehe unten, S. 518! 63

64

Beschluß des V. Parteikongresses der K M T über die Einberufung der N a t i o n a l versammlung, vom 21. November 1935, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 644—649. Beschluß über die Veröffentlichung des Verfassungsentwurfs und die Einberufung der Nationalversammlung, angenommen auf dem 1. Plenum des V. ZEK der K M T am 4. und 5. Dezember 1935, ibid. p. 717 f.

Das innerparteiliche

Kräflespiel bis zum Aufstand von Fuchou

495

der, unter dem Vorsitz von Yeh Ch'u-cheng und Li Wen-fan, weitere 17 Mitglieder angehörten 65 . Unter diesen 19 Kommissionsmitgliedern befanden sich fünf Vertreter der „CC-Clique", vier weitere Anhänger Chiangs, vier Vertreter des linken Flügels, drei der „Westberggruppe" und drei Anhänger Hu Han-mins. Im Laufe des Frühjahrs 1936 gelang es, einen Kompromiß der verschiedenen Fraktionen über den Inhalt des endgültigen Entwurfs herbeizuführen, der dann, nach einer nochmaligen Beratung im Legislativyüan, von der Nationalregierung am 5. Mai 1936 veröffentlicht wurde®6. Die Bestimmung, daß der Präsident die „höchste exekutive Gewalt" ausübe, entfiel ebenso wie jene, die vorsah, daß er den Sitzungen des Exekutivyüans präsidieren solle. Dafür wurde die Amtszeit des Präsidenten, ebenso wie diejenige der Nationalversammlung, jetzt auf sechs Jahre festgelegt und an der individuellen Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Präsidenten festgehalten. Auch die Klausel, daß kein aktiver Soldat zum Staatsoberhaupt gewählt werden könne, entfiel endgültig. Doch die innen- und außenpolitische Situation des Landes bedingte, daß der Übergang zur Periode des Verfassungsstaates sich noch einmal verzögerte. Im Sommer 1936 stellte sich heraus, daß in den meisten Provinzen die Wahlen zur Nationalversammlung nicht termingerecht durchgeführt werden konnten. Man verschob deren Einberufung deshalb zunächst auf unbestimmte Zeit und setzte sie dann im Februar 1937 auf den 12. November 1937 fest 87 . Doch im Juli 1937 bradi der Krieg gegen Japan aus, und es sollte bis 1946 dauern, ehe der Entwurf tatsächlich zur Beratung vor eine Nationalversammlung gelangen konnte. Bis dahin blieb die Erziehungsdiktatur der nationalistischen Einheitspartei der Herrschaftsform in China.

Das innerparteiliche Kräftespiel bis zum Aufstand von Fuchou Es konnte nicht ausbleiben, daß innerhalb der Kräftekonstellation, auf welche sich die Nationalregierung seit dem März 1932 stützte, Ge65

Chou Ch'en P'eng sheng,

Fu-hai, P'an Kung-chan, Wang Lu-i, Liang Han-di'ao, Wang Shih-diieh, Pu-lei, Shao Yüan-ch'ung, Liu Lu-yin, Fu Ping-ch'ang, Wang Yung-ping, Hsüeh-p'ei, Wu Ching-hsiung, Ch'en Kung-po, Mao Tzu-ch'üan, Chang LiChang Chih-pen und Lo Ching-t'ao.

66

Chung-hua min-kuo hsien-fa ts'ao-an (Entwurf einer Verfassung der Republik China) hrsg. von der Nationalregierung, Nanking 1936, passim; auch in: Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 5. 5. 1936; und in: Wang/Ch'ien, op. cit. p. 296 ff. Englische Übersetzung in: China Year Book 1936, p. 150—155.

67

Beschluß des 3. Plenums des V. Z E K der K M T über die Einberufung der Nationalversammlung, vom 19. 2. 1937, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 805.

496

XII. Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe

bis 1936

gensätze entstanden. So bedurfte es im Frühjahr 1932 erheblicher Anstrengungen Chiangs, um seine Anhänger zu einer loyalen Haltung gegenüber dem neuen Premierminister Wang Ching-wei zu veranlassen. Der stärkste Widerstand gegen die neue Regierung kam jedoch aus Kanton, wo sich nacheinander fast die gesamte Klientel Hu Han-mins um die „Südwestchinesische Zweigorganisation des PR" sammelte. Dorthin begab sich jetzt auch der bisherige Präsident des Justizyüan, Wu Ch'ao-shu, der am 10. Mai sein Amt niedergelegt hatte. Nanking versuchte, den Verlust, den es durch die Abwanderung der „neuen Rechten" nach Kanton erlitten hatte, durch eine stärkere Beteiligung der „Westberggruppe" an der Regierungsverantwortung abzugleichen. So wurde Chü Cheng als Nadifolger Wus zum neuen Präsidenten des Justizyüan berufen 88 . Die zentrale Parteiführung konnte sich also auf die verschiedenen Gruppen der Anhängerschaft Chiangs, den linken Flügel um Wang und die „Westberggruppe" stützen. Hinzu kamen noch die persönlichen Freunde Sun K'es, der sich durch die Übernahme der Präsidentschaft im Legislativyüan mit Nanking verbündet hatte. Die Opposition der Kuangsi- und Kuangtung-Generale sowie der Anhänger Hu Han-mins wurde jedodi immer sdiärfer, und auch die Generale der ehemaligen Kuominchün in Nordwestchina standen der Politik der Zentrale skeptisdi gegenüber. Die oppositionellen Kräfte richteten ihre Kritik vor allem gegen die zurückhaltende Japanpolitik Nankings. Wang stimmte jetzt mit Chiang darin überein, daß sich das Land eine militärische Auseinandersetzung mit Japan noch nicht leisten könne und deshalb genötigt sei, sich vorläufig der „aktivistischen" Festlandspolitik des Nachbarlandes zu beugen. Diese Politik der Nankinger Führer trug zwar den Realitäten Rechnung, konnte aber kaum Zustimmung unter der Bevölkerung gewinnen. Seit dem Uberfall in Tungpei hatten sich die antijapanischen Ressentiments in China so verstärkt, daß es erheblicher Anstrengungen bedurfte, um gegen sie zu regieren. Deshalb unternahm Wang im August 1932 einen Versuch, der Stimmung im Lande Rechnung zu tragen, nachdem die Kritiker Nankings Chang Hsüeh-liang für den Verlust Tungpeis verantwortlich gemacht hatte. Er erzwang den Rücktritt Changs auf folgende Weise: Am 6. August 1932 erklärte er in einem Zirkulartelegramm seinen Rüdetritt und warf zugleich Chang vor, dieser habe durch seine Unfähigkeit den Verlust der Nordostprovinzen verursacht. Wang forderte Chang daher 68

CYJP und „Shin-pao" vom 11.5.1932. Vgl. hierzu: KMT-Chronik Bd. I, p. 626

Das innerparteiliche Kräftespiel bis zum Aufstand von Fuchou

497

auf, ebenfalls zurückzutreten". Der Außenminister, Lo Wen-kan, Schloß sich der Demission des Premiers an. Doch schon am 7. August beschloß der 2 P R , Wang und Lo zum Verbleiben im Amt aufzufordern 7 0 . A m selben Tage erklärte Chang in einem Telegramm an Wang, er werde zurücktreten, Wang selbst solle auf jeden Fall im Amt bleiben 71 . Chang machte seine Ankündigung am folgenden Tage, dem 8. August, wahr, indem er der Nationalregierung telegraphisch seinen Rücktritt anbot 7 2 . Dennoch blieb Wang zunächst bei seinem Entschluß, zumal er offenbar wiederum erhebliche gesundheitliche Schwierigkeiten hatte. E r begab sich nach Shanghai. Chiang, der unter allen Umständen ein erneutes Ausscheiden Wangs aus der Führung vermeiden wollte, teilte seinerseits auf einer Pressekonferenz in Nanking am 9. August mit, er werde ebenfalls zurücktreten, wenn Wang sein Rücktrittsgesuch nicht zurückzöge 73 . In einem Telegramm an Wang versicherte er diesem, die „Angelegenheiten in Nordchina" würden in Ubereinstimmung mit dessen Wünschen geregelt werden 74 . Nachdem die Nationalregierung am 16. August den Rüdstritt Changs angenommen hatte 7 6 , beschloß der 2 P R , das bisher von Chang geleitete „Befriedungsamt" (Sui-ching kung-shu) für Nordchina aufzulösen und an seiner Stelle eine „Zweigkonferenz" (Fen-hui) des Militärkomitees in Peking einzurichten, deren Leitung Chiang persönlich übernahm 7 *. Dieser hielt am 19. August in Lushan eine Konferenz mit den ihm besonders verbundenen Generalen der „Zentralarmee" ab, auf der er von seinen Anhängern energisch verlangte, sie sollten hinfort alle Versuche, Wang Schwierigkeiten zu bereiten, unterlassen 77 . Der Z P R faßte am 22. August noch einmal den Beschluß, Wang um die Rücknahme seines Rücktrittsgesuchs zu bitten, erklärte sich jedoch gleichzeitig bereit, dem · · Zirkulartelegramm Wang Ching-weis an Chang Hsüeh-liang, vom 6. 8.1932, u. a. in: C Y J P und „Shen Pao" vom 6 . 8 . 1 9 3 2 . Vgl. zum folgenden Absatz: Tong, op. cit., p. 149 und: Amann, Bauernkrieg, p. 38 f. 7 0 Beschlußprotokoll der 42. Sitzung des ZPR der KMT am 7. August 1932 (Nadilaß Chu). 7 1 Telegramm Chang Hsüeh-liangs an Wang Ching-wei vom 7. 8.1932 in: C Y J P vom 8. 8.1932. 7 8 Telegramm Chang Hsüeh-liangs an die Nationalregierung vom 8. 8. 1932, in: C Y J P vom 9. 8.1932. 7 3 C Y J P vom 10. 8.1932. 74 Tong, ibid. 7 5 Erklärung der Nationalregierung über die Annahme des Rücktritts von Chang Hsüeh-liang, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 16. 8.1932. ™ Beschlußprotokoll der 43. Sitzung des ZPR der KMT am 17. 8 . 1 9 3 2 (Nadilaß Chu). 7 7 C Y J P vom 19. 8.1932. 32

Domes

498

XU• Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Premierminister einen Krankheitsurlaub zu gewähren. Für die Zeit seiner Abwesenheit sollte Sung Tzu-wen als Premier amtieren. Der Oberbürgermeister von Shanghai, Wu T'ieh-ch'eng, erhielt den Auftrag, Wang die Wünsche des 2 P R umgehend vorzutragen 78 . Außerdem begaben sich in den nächsten Tagen Chang Ch'ün als persönlicher Beauftragter Chiangs und der spätere Vize-Außenminister, T'ang Yu-jen, als Vertreter der N a tionalregierung nach Shanghai und drängten Wang, im Amt zu bleiben 7 '. Ihre Bemühungen hatten schließlich Erfolg. Wang teilte dem Ständigen Ausschuß des Z E K am 25. August mit, daß er sein Rücktrittsgesuch zurückziehe, worauf dieser dem Premier Urlaub erteilte und die Berufung Sung Tzu-wens zum amtierenden Chef der Exekutive bestätigte 80 . Wangs Gesundheitszustand hatte sich so verschlechtert, daß er am 16. September für einen Monat ins Krankenhaus gehen mußte 81 . Anschließend verließ er am 22. Oktober China und reiste für mehrere Monate nach Europa 82 . Als er am 17. März 1933 nach Shanghai zurückkehrte, teilte Sung unverzüglich in einem Telegramm an die Nationalregierung mit, daß er bereit sei, Wang die Amtsgeschäfte wieder zu übergeben 83 , und am 29. März nahm der Premierminister seine Arbeit in Nanking von neuem auf 84 . Unterdessen hatte sich der Konflikt mit Japan weiter verschärft: Japanische Truppen griffen am 1. Januar 1933 die Stadt Shanhaikuan an der Großen Mauer an und vertrieben die dort stationierten chinesischen Verbände. Am 27. Februar begannen die Japaner eine Offensive gegen die Provinz Jehol, die ihnen in wenigen Wochen in die Hand fiel, und am 10. April griffen sie gleichzeitig alle Ubergänge entlang der Großen Mauer an und drangen in die Provinz Hopei ein. Ende April standen ihre Vorhuten nur wenige Kilometer vor Peking und T'ienchin 85 . Die militärischen und ökonomischen Bedingungen erlaubten es, nach Auffassung der KMT-Führung, China nicht, der japanischen Aggression wirksam entge78

Beschlußprotokoll der 44. Sitzung des Z P R der K M T am 22. 8. 1932 (Nachlaß Chu). Ku Meng-yü blieb, wie das Protokoll ausweist, im Amt. Hier liegt bei Tong, ibid., offenbar eine Verwechslung mit der Regierungskrise im August 1935 vor.

79

Tong, ibid.

80

C Y J P vom 26. 8. 1932.

81

„Sh£n P a o " vom 17. 9. 1932.

82

C Y J P vom 22. 10. 1932.

83

Telegramm Sung Tzu-wens an das Z E K der K M T vom 17. 3. 1933, in: C Y J P und

84

C Y J P vom 29. 3. 1933.

85

Siehe unten, S. 6 2 4 !

„Sh£n P a o " vom 18. 3 . 1 9 3 3 .

Das innerparteiliche

Kräftespiel bis zum Aufstand von Fuchou

499

genzutreten. Sie suchte diesmal — eingedenk der Enttäuschung, die China 1931/32 mit dem Völkerbund erlebt hatte — trotz aller Widerstände in der Bevölkerung das direkte Gespräch mit Japan. Bereits am 9. Februar 1933 errichtete der Ständige Ausschuß des Z E K eine besondere Führungsorganisation für Nordchina unter der Bezeichnung „Provisorisches nordchinesisches Büro der Zentrale" (Chung-yang hua-pei ling-shih pan-shih-ch'u), deren Leitung Chang Chi übertragen wurde 86 . Man stellte ihm den früheren Außenminister Huang Fu zur Seite, der über gute Verbindungen zu Tokio verfügte, und auch Ho Ying-ch'in wurde nach Peking entsandt. Anfang Mai nahmen Huang und Ho unter äußerster Geheimhaltung Kontakte zu den japanischen militärischen Kommandostellen an der Großen Mauer auf, und nach langen, zähen Verhandlungen konnte man am 31. Mai in T'angku ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnen. Dieses Abkommen sah vor, daß die chinesischen Truppen eine etwa 100 km breite Zone südlich der Mauer räumen sollten und die Japaner das Recht erhielten, den chinesischen Rückzug zu überwachen. Japan erklärte sich damit einverstanden, seine Soldaten hinter die Mauer zurückzuziehen, die Verantwortung für Ruhe und Ordnung in der „entmilitarisierten Zone" übernahmen chinesische Polizeieinheiten 87 . Das Abkommen von T'angku führte zu heftigen Protesten gegen die Politik Nankings in der chinesischen Öffentlichkeit. Die Führer der Opposition in Kanton machten sich diese Stimmung zunutze und gingen zu noch schärferen Angriffen auf die Regierung über. Schon am 19. Mai, als die ersten Meldungen über einen bevorstehenden Waffenstillstand auftauchten, protestierten T'ang Shao-yi, Hsiao Fu-ch'eng, Tsou Lu, Ch'en Chi-t'ang und Li Tsung-jen im Namen der „Südwestchinesischen Zweigorganisation des P R " in einem Memorandum an die Regierung der USA gegen die Nankinger Politik. Sie erklärten, daß sie sich an keine der möglichen Abmachungen gebunden fühlen würden, die Nanking mit Tokio träfe 88 . In Nordchina rief die zurückhaltende Politik der Nationalregierung den Protest Feng Yü-hsiangs hervor, der seine bisherige Zurückgezogenheit aufgab und am 28. Mai von Kaigan aus die Gründung einer „Vereinigten Antijapanischen Volksarmee" (Min-diung k'ang-jih t'ung-meng 86

Beschlußprotokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses des Z E K der K M T am

87

9. Februar 1933 (Nachlaß Chu). Vgl. hierzu die Dokumente in: Foreign Relations of the United States 1933, Washington D. C. 1949, (hinfort: For. Rel. 1933), Bd. III, p. 332—335.

88

32*

Memorandum des Ständigen Ausschusses der Südwestlichen Zweigorganisation des P R an das State Department, vom 19. 5 . 1 9 3 3 , ibid, p. 334—336.

500

XU. Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe

bis 1936

chün) proklamierte, zu deren Oberbefehlshaber er sich selbst ernannte89. Aber sein Unternehmen blieb erfolglos. Selbst die meisten Generale seiner ehemaligen Kuominchün weigerten sich, ihm Gefolgschaft zu leisten. Schon am 11. Juni sah er sich veranlaßt, in einem Zirkulartelegramm zu versichern, daß er nichts gegen die Nationalregierung unternehmen, sondern nur den äußeren Feind bekämpfen wolle90. Als selbst dies nichts bewirkte und Chiang vier Elitedivisionen der „Zentralarmee" gegen die von Feng beherrschte Provinz Chahar in Marsch setzte, entschloß sich der alte Militärmachthaber Nordwestchinas am 6. August, seinen Rücktritt zu erklären. Er ernannte seinen früheren Gefolgsmann Sung Che-yüan zum Gouverneur von Chahar 91 und zog sich selbst erneut als Einsiedler auf den T'aishan in Shantung zurück92. Seit dem Sieg der „Zentralarmee" im Bürgerkrieg von 1930 waren Erhebungen von Generalen gegen die Nationalregierung in China offenbar nicht mehr allzu erfolgversprechend. Die Auseinandersetzungen über die Außenpolitik gegenüber Japan führten aber auch zu einer Krise in der Regierung selbst. Außenminister Lo Wen-kan war nicht länger bereit, die nachgiebige Haltung Nankings zu verantworten. Er legte deshalb am 17. August sein Amt nieder und behielt nur das von ihm gleichzeitig verwaltete Justizministerium bei. Das Außenministerium wurde daraufhin von Wang Ching-wei selbst übernommen93. Wesentlich schwerer wurde die Führung der KMT jedoch durch den Rücktritt des Vize-Premiers und Finanzministers Sung Tzuwen am 29. Oktober 1933 getroffen94. Der amerikanische Gesandtschaftsrat in Nanking, Peck, berichtete über dieses Ereignis, daß Sung nicht nur deshalb zurücktrete, weil Chiang von ihm ständig zusätzliche Zahlungen für die Finanzierung des Feldzuges gegen die Kommunisten in Südchina verlange, sondern auch, weil er mit der „Versöhnungspolitik" 89

Proklamation FSng Yü-hsiangs über die Gründung der „Vereinigten Antijapanisdien Volksarmee", vom 28. 5 . 1 9 3 3 , in: „Ta-kung pao" und „Peking and Tientsin Times" vom 29. 5 . 1 9 3 3 . Vgl. hierzu u. a.: Ishimaru op. cit. p. 119.

90

Zirkulartelegramm Feng Yü-hsiangs vom 1 1 . 6 . 1 9 3 3 , u. a. in: „Sh&n P a o " und „Ta Kung-pao" vom 12. 6. 1933.

M

Zirkulartelegramm Fing Yü-hsiangs vom 6. 8 . 1 9 3 3 u. a. in: C Y J P und „ShSn P a o " , selbes Datum.

·* C Y J P vom 15. 8 . 1 9 3 3 . "

Anordnung der Nationalregierung über die Ernennung Wang Ching-weis zum Außenminister, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao" vom 17. 8. 1933.

M

CYJP

vom 3 0 . 1 0 . 1 9 3 3 ;

vgl. hierzu u . a . Beridit des amerikanischen

General-

konsuls in Shanghai, Cunningham, an das State Department vom 2 9 . 1 0 . 1 9 3 3 , in: For. Rel. 1933, Bd. III., p. 44 ff.

Das innerparteiliche Kräflespiel bis zum Aufstand von Fuchou

501

gegenüber Japan nicht länger einverstanden sei85. Es hat dennoch den Anschein, als seien die Forderungen Chiangs der entscheidende Grund für Sung gewesen, der außerdem seine Enttäuschung darüber nicht verhehlte, daß seine im Sommer 1933 mit besonderer Intensität betriebenen Bemühungen um großzügige Entwicklungshilfe der Westmächte keine Erfolge erzielt hatten, wenn man einmal von einem Kredit in Höhe von 50 Millionen US-$ für den Einkauf von Weizen und Baumwolle in den Vereinigten Staaten absieht®8. Sung blieb jedoch als Direktor der Bank von China und Mitglied des Ständigen Ausschusses des „Nationalen Wirtschaftsrates" (Kuo-min ching-chi wei-yüan-hui) weiterhin einer der maßgeblichen Leiter der Wirtschaftspolitik. Seine Ämter im Kabinett wurden von seinem Schwager, K'ung Hsiang-hsi, übernommen 97 . Seit dem Rücktritt Sung Tzu-wens waren kaum vierzehn Tage vergangen, als eine neue innenpolitische Krise die Aufmerksamkeit der Nationalregierung in Anspruch nahm. In Fukien rebellierten die Truppen der 19. Feldarmee, die unter ihren Befehlshabern Ch'en Ming-shu, Chiang Kuang-nai und Ts'ai T'ing-k'ai in den Bürgerkriegen von 1929/30 und vor allem bei der Verteidung Shanghais gegen die Japaner im Januar und Februar 1932 fast legendären Ruhm erworben hatten 98 . Vom Frühjahr 1933 an sollte diese Armee von West-Fukien aus am Kampf gegen das kommunistische Rätegebiet in Süd-Kiangsi teilnehmen. Nachdem sie einige Anfangserfolge gegen die Verbände Chu Tes errungen hatte, ging sie jedoch im Grenzgebiet zwischen Fukien und Kiangsi zum Stellungskrieg über und mußte eine schwere Schlappe hinnehmen, als es den Kommunisten am 1. September 1933 gelang, ihre Linien zu durchbrechen und sich bis auf 45 km der Hauptstadt Fukiens, Fuchou, zu nähern 99 . Chiang übte daraufhin öffentlich scharfe Kritik an der Kampfführung der 19. Feldarmee, und dies führte unter deren Führern zu großer Verbitterung. Die „Helden von Shanghai" standen ohnehin schon der Japanpolitik Nankings ablehnend gegenüber. Jetzt hielten sie die Zeit zum Handeln für gekommen. Bereits seit mehreren Monaten standen sie in Kontakt mit Anhängern des extremen linken Flügels der KMT, der sich zum Teil im Ausland um Frau Sun Yat-sen und Ch'en Yu95

Memorandum des amerikanischen Gesandtsdiaftsrates Peck an den amerikanischen Gesandten Johnson vom 29.10.1933, ibid. p. 446 f. 98 Siehe unten, S. 596 f.! " CYJP vom 31.10.1933. • e Vgl. hierzu: Wang Chi-yün, „A Short History of the 19th Route Army", in: „The People's Tribune" 2. Jahrg. (New Series), Nr. 4 vom März 1932, p. 91—94. ·* Vgl. Amann, Bauernkrieg, p. 82.

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XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

jen sammelte, zum Teil aber schon 1929 mit Teng Yen-ta und dem aus der K C T ausgeschlossenen T'an P'ing-shan die „Dritte Partei" (Ti-san tang) gebildet hatte. Teng war 1930 verhaftet worden, und einen Tag nach dem Rücktritt Chiangs als Vorsitzender der Nanking-Regierung, am 16. Dezember 1931, ließ das „Politische Amt" der Armee ihn in Nanking hinrichten100. Seither gab es zwischen den Anhängern der „Dritten Partei" und der KMT kaum noch eine Möglichkeit der Versöhnung. Die Kritik der Kantoner Opposition an der Politik der Nationalregierung und die wachsende Unruhe unter den nationalistischen Studentenverbänden schienen einer Erhebung gegen die Zentrale günstig zu sein, und so versammelten sich denn Mitte November 1933 Ch'en Ming-shu, Chiang Kuang-nai und Ts'ai T'ing-k'ai bei den Truppen der 19. Feldarmee in Fuchou, während am 18. Ch'en Yu-jen und Li Chi-shen, von Hongkong kommend, auf dem Wege nach Fuchou in Hsiamen (Amoy) eintrafen 101 . Am Abend des 19. und am Morgen des 20. November traten in Fuchou Repräsentanten der Einheiten der 19. Feldarmee und Politiker der „Dritten Partei" zu einem „Provisorischen Nationalen Delegiertenkongreß" zusammen, der ein revolutionäres Programm verabschiedete, das sich von anderen pronunciamentos der Jahre seit 1928 vor allem dadurch unterschied, daß die Erhebung sich diesmal nicht nur gegen Chiang oder die Nanking-Regierung, sondern auch gegen die KMT, ihre Theorie und ihre Symbole richtete102. Man beschloß, eine „Chinesische Republik" (Chung-hua kunghe-kuo) zu errichten, an deren Spitze eine „Revolutionäre Volksregierung (Jen-min ke-ming cheng-fu) treten sollte. Das Programm der Aufständischen versprach die gleichmäßige Verteilung des Landbesitzes, die „sofortige und tatsächliche Abschaffung der ungleichen Verträge", die Nationalisierung der Industrie, eine Garantie der persönlichen und politischen Freiheitsrechte und die Bildung einer „Regierung der Arbeiter und Bauern". Das Jahr 1933 wurde zum „Jahr 1 der Chinesischen Republik" erklärt, die chinesische Nationalfahne durch ein neues Symbol — blaurot mit einem fünfzackigen gelben Stern in der Mitte — ersetzt. Am folgenden Tage, dem 21. November, bildete man dann die „Revolutionäre Volksregierung". An ihre Spitze trat ein „Zentralkomitee" (Chung-yang wei-yüan-hui) von elf Mitgliedern, von denen sechs der 100

"Shen-pao" und „Shanghai shih-shih hsin-pao" vom 18. 12. 1931.

101

Bericht des amerikanischen Geschäftsträgers Gauss an das State Department vom 2 1 . 1 1 . 1 9 3 3 , in: For. Rel. 1933, Bd. 111, p. 466.

1M

Zum folgenden Absatz: ibid. und: Lei, op. cit., p. 215 f. Vgl. auch: Amann, Bauernkrieg, p. 85 f.; und: Tong, op. cit. p. 150 f.

Das innerparteiliche Kräftespiel bis zum Aufstand von Fuchou

503

19. Feldarmee angehörten 103 . Li Chi-shen übernahm das Amt des „Vorsitzenden der Revolutionären Volksregierung" (Jen-min ke-ming chengfu chu-hsi), die exekutive Gewalt übertrug man fünf Komitees: dem Politischen Komitee unter Ch'en Ming-shu; dem Militärkomitee unter Ts'ai T'ing-k'ai, der zugleich auch Oberbefehlshaber der jetzt als „Revolutionäre Volksarmee" (Jen-min ke-ming chün) bezeichneten 19. Feldarmee wurde; dem Finanzkomitee unter Hsü Ch'ung-ch'ing; dem Erziehungskomi tee unter Chang Po-chün*; und dem Komitee für Auswärtige Angelegenheiten unter Ch'en Yu-jen 104 . Die „Chinesische Republik", die man in Fuchou aufbauen wollte, sollte eine föderative Struktur erhalten. Dadurch hofften die Führer der Erhebung, Unterstützung von der „Chinesischen Räterepublik" Mao Tsetungs, den ehemaligen Kuominchün-Generalen in Nordchina und den Kuangsi- und Kuangtung-Generalen zu erhalten 105 . Aber die Kommunisten waren nicht bereit, mit Fuchou zu einer Ubereinstimmung zu gelangen, in Nordchina regte sich keine organisierte Opposition gegen Nanking, und Ende November wurde deutlich, daß auch die Kantoner Führerschaft kein Interesse an einer Beteiligung am Aufstand hatte 106 . Auch in den Reihen der Aufständischen scheint es bald zu Meinungsverschiedenheiten gekommen zu sein. Offenbar stimmten einige Unterbefehlshaber in der 19.Feldarmee, so z . B . T'an Ch'i-hsiu, nicht damit überein, daß man sich gegen die K M T als Partei wandte und auch auf die ausdrückliche Berufung auf Sun Yat-sen verzichtete 107 . Schließlich sprach 108

Ch'eng Ming-shu, Chiang Kuang-nai, Ts'ai T'ing-k'ai, T'ai Chin, Huang

Ch'i-

hsiang, und Wen Chao-yüan. Die übrigen fünf Mitglieder waren Li Chi-shen, Ch'en Yu-j£n, Hsü Ch'ung-di'ing, Chang Po-chün und Hsü Ch'ien. Es ist jedoch anhand des dem Verfasser vorliegenden Materials nicht mehr festzustellen, ob sich Hsü Ch'ien damals tatsächlich in Fuchou aufhielt, oder ob nur sein Name auf der Liste der ZK-Mitglieder erschien. 104

Vgl. For. Rel. 1933, p. 468 f.; und: Lei, op. cit., p. 216 ff. Der amerikanische Bericht spricht von „Zwei Ministerien und drei Abteilungen" (departments); die Einrichtung von Komitees, von der Lei berichtet, entspricht jedoch eher den Vorstellungen der Aufständischen über die zu errichtende H e r r schaftsordnung. Auch die kontemporären chinesischen Nachrichten — so u. a. „Shen pao" und „Ta-kung pao" vom 24. und 2 5 . 1 1 . 1933 — bestätigen Leis Version,

los Vgl. hierzu: Linebarger, Government, p. 184 f. 108

Memorandum des amerikanischen Gesandten Johnson für das State Department

107

SoTong, op. cit. p. 151 f.

vom 2 7 . 1 1 . 1 9 3 3 , in: For. Rel. 1933, p. 4 6 9 — 4 7 2 .

504

XU. Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe

bis 1936

sich auch Hu Han-min in Hongkong am 15. Dezember öffentlich gegen die Fuchouer Führungsgruppe aus108. Unterdessen bereitete Chiang den Angriff gegen die Aufständischen vor. Zum ersten Mal in der chinesischen Kriegsgeschichte führten Verbände der Luftwaffe schwere Bombenangriffe durch, durch welche die Truppen der 19. Feldarmee in erheblichem Maße in ihrem Aufmarsch gestört wurden. Vier Elitedivisionen der „Zentralarmee", von denen zwei mit Panzerwagen ausgerüstet waren, stellten sich unter der persönlichen Führung Chiangs in Süd-Chekiang zum Angriff auf Fuchou bereit, der am 1. Januar 1934 begann109. Schon am 5. Januar zogen die Regierungstruppen in Yenp'ing ein, am 13. landeten Einheiten der Marineinfanterie bei Fuchou, am 17. verließen die Führer des Aufstandes die Stadt, und am 22. legten die Reste der 19. Feldarmee die Waffen nieder110. Damit war der Aufstand schon zwei Monate nach seinem Beginn zusammengebrochen. Sein bedeutsamstes Ergebnis war, daß jetzt auch die Provinz Fukien vollständig unter die Kontrolle Nankings kam. Die schnelle und erfolgreiche Aktion der Regierungstruppen gegen die ruhmvolle 19. Feldarmee, welche den Japanern in Shanghai fünf Wochen lang Widerstand geleistet hatte, verstärkte das Prestige der „Zentralarmee" erheblich. Es brachte darüber hinaus einen weiteren Beweis dafür, daß die Zeit der Generalsrevolten in China vorüber war. Außer den Kommunisten vermochte es kein Waffenträger im Lande mehr, sich mit den Streitkräften der Zentrale zu messen. Außerdem hatte der Versuch, noch einmal das Volk um ein Programm zu sammeln, das den revolutionären Parolen der ersten Phase des Nordfeldzuges, 1926/27, sehr ähnlich sah, mit dem Zusammenbruch der Revolte von Fuchou kläglichen Schiffbruch erlitten. Die Bevölkerung Fukiens verhielt sich während der zweimonatigen Herrschaft der „Volksregierung" offenbar passiv, wenn nicht gar feindselig. Dennoch hatte der Aufstand indirekte Wirkungen auf die Gestaltung der chinesischen Politik. Er trug dazu bei, daß Chiang, der sich bisher kaum für die Entwicklung wirksamer Reformprogramme interessiert hatte, schon wenige Wochen nach dem Siege in Fukien mit einer politischen Offensive begann, die wesentlich zur Verstärkung seiner Position in Partei und Regierung beitrug. Am 18. Februar 1934 erließ er von Nanch'ang 108 „South China Daily News", Hongkong, vom 16.12.1933. io» CYJP vom 2. 1.1934. Ile KMT-Chronik Bd. I. p. 665 f.

Chiangs zweiter Aufstieg zur Macht bis zum V. Parteikongreß 1935

505

aus seinen Aufruf zum Beginn der „Bewegung Neues Leben" (Hsin shenghuo yün-tung), und bald darauf entwickelten seine Berater die ersten ernsthaften Pläne zur Umgestaltung der sozialen Strukturen in den Dörfern Chinas. Die politisch-moralische Aktivität, die Chiang jetzt zu entfalten begann und die eindeutig auf den Gewinn eines stärkeren Massenkonsens' zielte, soll im XIII. Kapitel dargestellt und diskutiert werden. Ihre unmittelbaren Wirkungen auf die Stellung Chiangs in der KMT hingegen sind im folgenden zu erörtern.

Chiangs zweiter Aufstieg zur Macht bis zum V. Parteikongreß 1935 Seit Anfang 1933 hatten jene Kräfte in der KMT, die Chiang unterstützten, wesentlidi an Einfluß gewonnen, und es war ihnen gelungen, ihre Organisationen zu festigen. Sie sammelten sich vor allem in vier Gruppen: 1. Am nächsten stand ihm der Kreis der Generale aus der „ Zentrala r m e e M e i s t Absolventen der kaiserlich-japanischen Militärakademie in Tokio oder der Militärakademie Paoting, hatten sie 1924/25 als Ausbilder in Huangpu und danach als Einheitskommandeure in der „Parteiarmee", in der ersten Phase des Nordfeldzuges dann im 1. Armeekorps gedient. Jetzt befehligten sie die Eliteverbände der chinesischen Armee, leiteten die Militärschulen und kontrollierten die militärische Administration im Ministerium für Heeresangelegenheiten. Diese Gruppe war nidit fest organisiert, sie sammelte sich jedoch meist um einen inneren Zirkel, der sich Chiang besonders eng verbunden fühlte und zu dem H o Yingch'in, Liu Shih, Chiang Ting-wen, Ch'en Ch'eng, Ch'ien Ta-chün, Chang Chih-chung und Ku Chu-t'ung gehörten. Man bezeichnete sie meist als „Huangpu-Clique", doch wurde dieser Name für die Generalsgruppe nur im weiteren Sinne gebraucht; denn nicht selten wandte man ihn auch auf eine zweite Formation an. 2. Diese hatte sidi im Januar 1933 unter den Anhängern der zuerst genannten Gruppe als besondere Organisation gebildet, der vor allem Absolventen der ersten vier Jahrgänge der Huangpu-Akademie angehörten, die jedoch zuweilen im Gegensatz zu ihren früheren Ausbildern standen. Es handelte sich hier um aktivistische, jüngere Offiziere, die extrem nationalistische Konzeptionen entwickelten und deshalb die Japan111 118

So Lei, op. cit., p. 224. Siehe unten, S. 712 ff.!

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XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

politik Nankings kritisch betrachteten. Ihre Loyalität gegenüber Chiang war jedoch größer als ihre Ablehnung seiner Außenpolitik, und so übten sie in ihrer Kritik Zurückhaltung. Als Modell für den Wiederaufbau Chinas standen ihnen die Ordnungsformen des Faschismus und des Nationalsozialismus vor Augen. Das bedeutete jedoch nicht, daß sie sich dem Totalitarismus von rechts ideologisch verbunden gefühlt hätten; es war vielmehr nur der materielle Aufstieg Italiens und später vor allem Deutschlands in den ersten Jahren des Hitlerregimes, der sie beeindruckte. Sie vereinigten sich in der „Gruppe Wiedergeburt" (Fu-hsing-she), einer festgefügten Organisation mit strikter Verbandsdisziplin. An ihrer Spitze stand ein Komitee von 13 jungen Generalen, den „shih-san t'ai-pao", von denen keiner im Jahre 1935 über 40 Jahre alt war 113 . Als die bedeutendsten unter ihnen galten Ho Chung-han*, der nach seinem Studium in Huangpu zwei Jahre lang die Frunse-Akademie in Moskau besucht hatte, Hu Tsung-nan* und Tai Li, der Chef der militärischen Geheimpolizei, der sogenannten „Blauhemden" (Lan-yi), die nicht selten offenen Terror benutzten, um ihre Gegner einzuschüchtern. 3. Von großer Bedeutung war die „CC-Clique", welche jetzt den zivilen Parteiapparat stark durchsetzt hatte. Weiterhin von den Brüdern Ch'en Kuo-fu und Ch'en Li-fu geführt, kontrollierte sie das „Zentrale Politische Institut" und das „Zentrale Ausbildungs-Korps" — die wichtigsten Stätten der Bildung ziviler Kader —, ebenso aber auch die Provinzorganisationen der Partei in den meisten Provinzen Ost- und Zentralchinas, dazu die Provinzverwaltungen von Kiangsu und Chekiang. Ihr Einfluß stieg auch im Propaganda-Apparat der KMT immer stärker an. Die Anhänger der „CC-Clique" waren ebenfalls meist verhältnismäßig jung. Autoritär orientiert, galt ihnen dennoch der Faschismus nicht als Modell, sondern sie suchten nach eigenständigen Konzeptionen der Einparteiherrschaft. Dabei gelangten sie unter den Einfluß des Neokonfuzianismus, der seit der Zeit um 1930 in China wiederum an Bedeutung gewann, sie gerieten auf diese Weise in einen Gegensatz zu den westlich orientierten, älteren Intellektuellen aus der geistigen Erneuerungsbewegung von 1916/21, die keine Gelegenheit versäumten, um die „CC-Clique" im Ausland als „rechtsextremistisch" und „reaktionär" zu denunzieren — Vorwürfe, die allzu pauschal angewandt wurden, um 113

Ho CKung-han, Hu Tsung-nan, Tseng K'uang-ch'ing, Tai Li, K'ang Ch'e, P'an Yu-di'iang, Feng· T'i, Liu Yung-yao, Teng Wen-yi, Hsü P'ei-ken, Tu Hsing-yü, Yüan Shou-di'ien und Liu Chien-di'ün. Diese Liste und die weiteren Angaben folgen den Mitteilungen von Sung Feng-en, einem ehemaligen Mitglied der „Gruppe Wiedergeburt", in einem Interview mit dem Verfasser am 8. Januar 1966.

Chiangs zweiter Aufstieg

zur Macht bis zum V. Parteikongreß

1935

507

tatsächlich stichhaltig zu sein, auch wenn Teile der westlichen ChinaLiteratur sie unbesehen übernommen haben. 4. Im Gegensatz zur „CC-Clique" stand die „Politisch-Wissenscbaftlicbe Vereinigung" (Cheng-chih hsüeh-hui), eine Gruppe von Politikern und Offizieren, die liberale Ordnungsvorstellungen entwickelt hatten und deshalb besonders am Aufbau eines Verfassungsstaates interessiert waren. Sie wurde bis 1937 durch Auseinandersetzungen behindert, die sich in ihrer Mitte zwischen den ehemaligen Studenten an japanischen (liu-jih) und anglo-amerikanischen (liu-ying-mei) Universitäten entwickelten. Zunächst setzten sich hier die Absolventen japanischer Bildungsstätten durch, so daß die Gruppe in ihrer Mehrheit die Politik des Nachgebens gegenüber den Forderungen Japans unterstützte. Sie wurde vor allem von Chang Ch'ün, dem engsten Vertrauten Chiangs, der 1934/35 als Gouverneur von Hupei fungierte, und von Huang Fu geführt, der 1933/ 34 die nordchinesische Zweigorganisation des ZPR in Peking leitete und am 5. Dezember 1934 den zu Chiang übergegangenen Kuangsi-General Huang Shao-hsiung in der Leitung des Innenministeriums ablöste. Außer diesen beiden Politikern spielten noch der Gouverneur von Kiangsi, Hsiung Shih-hui*, der Staats- und Völkerrechtler Ch'eng T'ien-fang* — seit November 1935 Botschafter in Berlin — und der Chefsekretär des Hauptquartiers Chiangs in Nanch'ang, Yang Yung-t'ai, eine leitende Rolle in der „Politisch-Wissenschaftlichen Vereinigung". Zu diesen vier organisierten Gruppen traten einige im Westen ausgebildete Fachleute der Entwicklungspolitik, die vor allem von Chang Ching-chiang unterstützt wurden, unter ihnen Chu Chia-hua und Tseng Yang-fu. In den Führungsgremien der Partei aber war für Chiang von besonderer Bedeutung, daß ihm eine Anzahl von Altrevolutionären und anderen einflußreichen Politikern Hilfe leistete. Sie verfügten meist über eine eigene Klientel unter den Mitgliedern der Partei, die sie in die Koalition um Chiang einbrachten. Hier sind an erster Stelle Tai Chi-t'ao, Sung Tzu-wen und K'ung Hsiang-hsi zu nennen, dann aber auch Yü Yu-jen, Yeh Ch'u-cheng, Shao Yüan-ch'ung und, in der ZKK der KMT, die „Vier Alten Genossen": Ts'ai Yüan-p'ei, Wu Chih-hui, Li Shih-tseng und Chang Ching-chiang. Diese Kombination von Gruppen unterschiedlichen Charakers, die vor allem durdi die gemeinsame Loyalität zu Chiang zusammengehalten wurde, arbeitete in der Parteiführung und der Nationalregierung seit 1932 mit dem linken Flügel der KMT zusammen, den weiterhin Wang Ching-wei führte. Wangs Einfluß nahm jedoch ab, vor allem, weil er aus

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ΧΠ. Kapitel: Parteiregierung und Fraktionskämpfe

bis 1936

gesundheitlichen Gründen nicht mehr zu jeder Zeit fähig war, seine Aufgaben wahrzunehmen. Außerdem hatte er unter seinen meist dezidiert nationalistischen Anhängern wegen seiner Bereitschaft, Chiangs Politik des zeitweiligen Nachgebens gegenüber Japan zu unterstützen, erheblich an Prestige verloren. In welchem Maße der Sieg über die Aufständischen von Fudiou Chiangs Stellung gestärkt hatte, zeigte ein gemeinsames Telegramm von 20 regionalen und lokalen Parteizweigen an die Zentrale, in dem am 23. Februar 1934 vorgeschlagen wurde, im Mai einen Parteikongreß einzuberufen, um Chiang das seit dem Tode Sun Yat-sens im Jahre 1925 unbesetzt gebliebene Amt des Parteiführers (Tsung-li) zu übertragen und die Führungsstruktur der KMT vom Komiteesystem auf den Grundsatz der Einzelführerschaft umzustellen114. Auf einer Pressekonferenz am 2. März wies Chiang jedoch diesen Vorschlag energisch zurück: „Kein intelligenter Mensch wird den Gerüchten glauben schenken, daß die KMT eine (persönliche, d. Verf.) Diktatur errichten wolle. Die erste Pflicht aller Parteimitglieder ist es, das Parteistatut zu beachten, das Statut aber kann nicht nach dem Willen einer Minderheit geändert werden . . . Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, daß der Erfolg der chinesischen Revolution nidit von einem System oder einer Regierungsform abhängt. Italien und Deutschland haben ihre Revolution mit Hilfe einer Diktatur durchgeführt, das ist richtig. Aber wenn China deshalb eine Diktatur einführen wollte, würde das Ergebnis besser sein als mit dem russischen Komiteesystem, das wir früher übernommen haben? Wir haben das russische System übernommen, und unserere Revolution hat dennoch bis heute nidit gesiegt. Laßt unsere Führer ihre Anstrengungen zusammenfassen und laßt sie auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten . . . Diktatur oder Komiteesystem, die Verwirklichung unserer Revolution hängt nidit von äußeren Formen, sondern vom Geist ab. Außerdem sollten wir uns daran erinnern, daß die Bedingungen in Deutschland und Italien nidit die gleichen sind wie in China. Was in jenen Ländern erfolgreich sein mag, muß deshalb in China nodi nidit richtig sein115."

In dieser Erklärung, die für das Denken Chiangs in den Jahren um 1935 charakteristisch ist, wurde auf das grundlegende Konzept hingewiesen, das die Innenpolitik der KMT 1934 und 1935 bestimmen sollte: den Versuch, eine Einigung der Zentrale mit der Opposition in Kanton und den nord- und nordwestchinesischen Regionalmachthabern herbeizuführen. Dabei standen die Bemühungen um eine Versöhnung mit Hu Han-min und den Anhängern der „Südwestlichen Zweigorganisation" in Kanton 114

CYJP vom 23. 2.1934. Vgl. hierzu: China Year Book 1935, p. 96. Presseerklärung Chiangs vom 2. 3.1934, in: CYJP vom 3. 3.1934. Englische Übersetzung in: China Year Book, ibid. " · KMT-Chronik, Bd. I, p. 665. 115

Chiangs zweiter Aufstieg

zur Madvt bis zum V. Parteikongreß

1935

509

zunächst im Vordergrund. Mit dem Tode Wu Ch'ao-shus am 2. Januar 1934 war einer der leidenschaftlichsten Gegner der Nankinger Politik in Kanton von der Bühne abgetreten116. Der Gouverneur von Hunan, H o Chien, der im Frühsommer 1934 einen Besuch in Kanton gemacht hatte, berichtete nach seiner Rückkehr, daß man dort zur Aufnahme von Einigungsgesprächen grundsätzlich bereit sei117. Zunächst wollte nun die Parteiführung den V. Parteikongreß zum Forum ihrer Verhandlungen mit den Kantoner Politikern und Militärs machen. Deshalb berief am 8. August der Ständige Ausschuß des ZEK den Kongreß auf den 12. November nach Nanking ein118. Dieser Schritt stieß jedoch auf den entschiedenen Widerstand Kantons. Am 12. September veröffentlichten Hu Hanmin und 27 weitere südchinesische Mitglieder und Kandidaten des ZEK und der ZKK eine Erklärung, in der sie einmal die Verschiebung des Parteikongresses verlangten und zum zweiten vier Forderungen erhoben, deren Erfüllung sie zur Bedingung der Wiederaufnahme ihrer Zusammenarbeit mit Nanking machten: 1. Eine strikte Parteidisziplin müsse wiederhergestellt und alle, „die für die nationale Demütigung und den Verlust unseres Territoriums verantwortlich sind", müßten bestraft werden; 2. Personen, „deren Tätigkeit die Partei und die Republik gefährdet" — gemeint waren hier die Geheimpolizei und die Führer der „Gruppe Wiedergeburt" —, seien „mit der ganzen Schärfe des Gesetzes zu strafen"; 3. man solle eine „eindeutig und klar gefaßte Außenpolitik" und „umfassende Pläne für die nationale Verteidigung" formulieren; und 4. ein endgültiger Plan für den wirtschaftlichen Aufbau müsse entworfen werden, vor allem gelte es, Zollsätze einzuführen, durch welche der einheimischen Industrie wirklicher Schutz gegeben werde119. Damit war das Programm Kantons klar umrissen: Die Opposition verlangte den Übergang zu einer Politik kompromißloser Abwehr jeder weiteren japanischen Aggression, eine innenpolitische Liberalisierung und die Abkehr von der gemäßigt freihändlerischen Zollpolitik, die Nanking vertrat, um nicht mitten im Konflikt mit Japan andere Mächte, allen voran die USA und Großbritannien, vor den Kopf zu stoßen. 117

Telegramm H o Chiens an die Nationalregierung vom 6. 7 . 1 9 3 4 (KMT-Archiv). Erklärung des Ständigen Ausschusses des ZEK der KMT über die Einberufung des V. Parteikongresses (datiert vom 7. 8. 1934), in: CYJP vom 8. 8. 1934. " · Zirkulartelegramm der Mitglieder des ZEK und der ZKK der KMT in Kanton vom 12.9.1934, in: „Min-kuo jih-pao", selbes Datum. Auszüge in englisdier Übersetzung in: China Year Book 1935, p. 101.

1,8

510

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Die Kantoner Forderung, den Kongreß zu verschieben, wurde bis Mitte Oktober von 16 Provinz- und Großstadtorganisationen der K M T aufgenommen, von denen viele sonst im Gegensatz zu den Führern Südwestchinas standen 120 . Am 23. Oktober Schloß sich ihr auch Chiang an 121 , und dies führte dazu, daß der Ständige Ausschuß des Z E K am 25. Oktober den Beschluß faßte, ihr nachzukommen. Er berief auf den 10. Dezember das 5. Plenum des I V . 2 E K nach Nanking ein, und dort sollte dann ein neuer Termin für den Parteikongreß festgelegt werden122. Durch die Verschiebung des Parteikongresses war das Klima für die Aufnahme von Kontakten zwischen Nanking und Kanton bereits erheblich verbessert. In zwei Missionen, im Oktober und Dezember, gelang es Wang Ch'ung-hui, der im Auftrage der Nationalregierung nach Kanton fuhr und im Dezember dort auch von Sun K'e unterstützt wurde, die Führer Südwestchinas dazu zu bewegen, daß sie eine Beobachterdelegation zum 5. Plenum nach Nanking entsandten. Am 17. Dezember faßte schließlich die „Südwestliche Zweigorganisation des P R " auf Antrag Ch'en Chi-t'angs und Li Tsung-jens den Beschluß, „die Zentralregierung zu unterstützen und ihr Gehorsam zu leisten" 123 . Hu Han-min jedoch blieb weiterhin unversöhnlich. Als Wang Ch'unghui am 21. Dezember 1934 von seiner zweiten Vermittlungsmission in Hongkong und Kanton nach Shanghai zurückkehrte, brachte er die Nachricht mit, daß Hu zwar bereit sei, endlich sein Amt als Mitglied des „Ständigen Ausschusses des Z P R " in Nanking zu übernehmen, jedoch nur, wenn die Nationalregierung vorher drei Bedingungen erfülle: sie müsse Garantien für „Freiheit und Sicherheit aller Genossen" geben; einen klaren Plan für die Fortsetzung und siegreiche Beendigung des Feldzuges gegen die Kommunisten vorlegen und allen Bürgern Presse- und Redefreiheit gewähren 124 . Auf diese Bedingungen Hus antwortete Wang Ching-wei am 11. J a nuar 1935 vor Pressevertretern in Shanghai. Er versicherte, daß die Par120

ibid.

121

Telegramm Chiangs an die Parteizentrale der K M T vom 23. 10. 1934, in: C Y J P vom 2 5 . 1 0 . 1934. Auszüge in englischer Übersetzung in: China Year Book 1935, ibid.

122

Beschlußprotokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses des Z E K der K M T am

123

Vgl. ibid., p. 99.

124

Erklärung Wang Ch'ung-huis auf einer Pressekonferenz in Shanghai am 21. De-

25. Oktober 1934 (Nadilaß Chu). Vgl. hierzu: China Y e a r Book 1935, p. 102.

zember 1934, wiedergegeben u. a. in: „Shen-pao" und „North China Daily News" vom 22. 12. 1934.

Chiangs zweiter Aufstieg zur MaAt bis zum V. Parteikongreß

1935

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teiführung und die Nationalregierung den ernsthaften Wunsch hegten, Hu möglichst bald in Nanking begrüßen zu können, wo er seine Führungsaufgaben wahrnehmen solle. Man sei bereit, Hus politische Vorstellungen gründlich zu erwägen und sie zu übernehmen, wenn immer sie sich als praktikabel erwiesen. Wo die Auffassungen Hus jedoch „mit den realen Gegebenheiten" nicht übereinstimmten, werde man sie ignorieren 125 . So mußte die vollständige Einigung zwischen Nanking und Kanton, auf die vor allem Chiang im Frühjahr 1934 gehofft hatte, vorläufig als gescheitert gelten. Die Nationalregierung war nicht bereit, ihre Politik gegenüber Japan zu ändern und Hus Forderungen nach einer weitgehenden innenpolitischen Liberalisierung nachzukommen. Dennoch wurde das Verhältnis zur Kantoner Opposition durch die Verständigungsbemühungen im Jahre 1934 wesentlich verbessert. Eine weitere Entspannung trat ein, als Hu am 20. August 1935 Hongkong verließ und sich auf eine längere Reise nach Europa begab. Chiang war mit seinen Bemühungen um eine Aussöhnung mit den Generalen in Nord- und Nordwestchina, vor allem mit Yen Hsi-shan, noch erfolgreicher. Am 12. Oktober 1934 brach er von Loyang aus zu einem Rundflug in die Provinzen dieser Region auf. Er wurde dabei von seiner Frau und von Chang Hsüeh-liang begleitet, der im Januar aus Europa zurückgekehrt und im Februar zum stellvertretenden Oberbefehlshaber aller am Feldzug gegen die Kommunisten beteiligten Truppen in Honan, Anhui und Hupei ernannt worden war. In 40 Tagen legte Chiang 8.500 km zurück, und er kam dabei in zehn Provinzen, nach Hupei, Honan, Shensi, Shansi, Shantung, Hopei, Kansu, Nighsia, Suiyüan und Chahar 126 . Als wichtigstes Ergebnis seiner Reise konnte er verbuchen, daß sich Yen Hsi-shan offen an seine Seite stellte und sich bereitfand, hinfort eng mit Nanking zu kooperieren 127 . Die Bemühungen um eine Einigung des ganzen Landes unter der Führung Nankings verlangten jedoch von der Zentralregierung erhebliche Opfer. Wang und Chiang sahen sich genötigt, einer Ausweitung der Rechte der Provinzregierungen zuzustimmen, durch welche alle Versuche erheblich erschwert wurden, Maßnahmen, die in der Zentrale beschlossen 125

126 127

Erklärung Wang Ching-weis auf einer Pressekonferenz in Shanghai am 11. Januar 1935, u. a. in: C Y J P und „Shen-pao" vom 12. 1. 1935. Vgl. hierzu: China Year Book 1935, p. 100. Vgl. ibid., p. 97 f.; und: Tong, op. cit., p. 161 f. Bericht des amerikanischen Geschäftsträgers in China, Gauss, an das State Department vom 24.11. 1934; in: Foreign Relations of the United States 1934, Washington D. C. 1953, Bd. III, p. 322.

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XII· Kapitel: Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

worden waren, im ganzen Lande durchzusetzen. Am 27. November veröffentlichten sie in einem gemeinsamen Zirkulartelegramm fünf Vorschläge „zur Abgrenzung der Vollmachten zwischen der Zentralregierung und den Provinzverwaltungen", welche dem 5. Plenum zur Beschlußfassung vorgelegt werden sollten: 1. Die Zentrale würde hinfort nur allgemeine Prinzipien für die Gesetzgebung festlegen, während die Provinzen die Ausführung der Gesetze zu übernehmen hätten; 2. alle Provinzbeamten sollten von der Nationalregierung ernannt werden, die Provinzen aber das Recht erhalten, sie vorzuschlagen; 3. die Pläne für den wirtschaftlichen Aufbau in den Provinzen seien von den regionalen Behörden aufzustellen und der Zentrale zur Billigung vorzulegen, einmal akzeptiert, seien sie dann auf provinzieller Ebene ohne die Einmischung der Zentrale durchzuführen, die sich jedoch ein Inspektionsrecht sichern müsse; 4. neben der Nationalarmee (Kuo-chün) könnten auch weiterhin „regionale Streitkräfte" (Ti-fang chün) bestehenbleiben; 5. alle „nationalen" Steuern und Abgaben müßten an die Zentrale abgeführt werden, diese solle jedoch, wo nötig, den Provinzen Subsidien gewähren128. Diese Vorschläge und die Beratung des Verfassungsentwurfs 128 standen im Mittelpunkt des 5. Plenums des IV. ZEK der KMT, das vom 10. bis zum 14. Dezember 1934 in Nanking zusammentrat 130 . Sie wurden am 12. Dezember vom Plenum, an dem sich 50 der 72 Mitglieder des ZEK, aber nur 13 der 24 ZKK-Mitglieder beteiligten, unverändert akzeptiert. Damit hatte man zwar eine formelle Einigung ganz Chinas unter der Führung Nankings erleichtert, sich aber zugleich die Durchführung von Reformmaßnahmen, die nicht selten auf den Widerstand der konservativ orientierten Provinzverwaltungen stießen, erheblich erschwert. Chiang, der über die Vertreibung der kommunistischen Partisanen aus ihrer alten Basis in Kiangsi berichten konnte, dominierte eindeutig auf der Konferenz. Auf seinen Antrag hin wurde eine Resolution verabschiedet, die einen Stufenplan enthielt, nach dem bis 1940 im ganzen Lande die allge1!8

129 150

Richtlinien für die Zentralgewalt und die lokale Autonomie, vorgelegt von Wang Ching-wei und Chiang Kai-shek, angenommen auf dem 5. Plenum des IV. ZEK der KMT am 12. Dezember 1934, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 594—598. Eine Zusammenfassung dieses Dokuments in englischer Spradie findet sich in: China Year Book 1935, p. 102 f. Siehe oben, S. 493 f.! Vgl. hierzu: ibid., p. 103—109.

Chiangs zweiter Aufstieg zur Macht bis zum V. Parteikongreß

1935

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meine Schulpflicht verwirklicht werden sollte 131 . Dagegen stieß ein Antrag auf Einführung von Schutzzöllen, vor allem für die Textilindustrie, den Wu Chih-hui zusammen mit vier anderen Mitgliedern des 2 E K und der Z K K einbrachte, auf den Widerstand Sung Tzu-wens und K'ung Hsiang-hsis, so daß man ihn nur an „die Nationalregierung zur weiteren Erwägung" weiterleitete 132 . Das Plenum beschloß endlich, den V. Parteikongreß auf den 12. November 1935 nach Nanking einzuberufen 133 . Nodi ehe dieser zusammentrat, kam es jedoch zu einem ernsten Konflikt in Nanking selbst, der fast einen neuen Bruch zwischen Chiang und Wang zur Folge gehabt hätte. Die beiden Führer der nationalistischen Einheitspartei waren sich zwar darin einig, daß grundsätzlich die Politik des Nachgebens gegenüber japanischen Forderungen fortgesetzt werden müsse, bis China militärisch stärker geworden sei, aber es gab hier doch unterschiedliche Nuancen in beider Vorstellungen. Wang vertrat die versöhnliche Japanpolitik mit äußerster Konsequenz, während Chiang bereit war, japanischen Forderungen auch harten Widerstand entgegenzusetzen, falls er dadurch der Einigung des Landes dienen könne. Sie war für ihn immer mehr zum bestimmenden Motiv seiner politischen Entscheidungen geworden. Zunächst wurde allerdings die Politik des Nachgebens weiter fortgesetzt. Nachdem bereits am 1. Juli 1934 der durchgehende Bahn verkehr von Peking nach Shenyang trotz der am 1. März erfolgten Ausrufung P'u Yis zum „Kaiser von Manchukuo" wieder aufgenommen worden war 134 , erreichten die Japaner im Laufe des Oktober auch, daß Nanking sich bereitfand, der Wiederaufnahme des Postverkehrs zwischen China und „Manchukuo" mit Wirkung vom 1. Januar 1935 zuzustimmen, ein Schritt, der auf einer Sitzung des Z P R am 14. November von Mitgliedern der „Huangpu-Clique" und der „Westberggruppe" scharf kritisiert wurde 135 . Auch die Entfernung Huang Fus aus Peking und seine Ernennung zum Innenminister in Nanking, Anfang Dezember 1934, bedeutete ein Eingehen auf japanische Wünsche; denn Tokio bemühte sich jetzt imResolution des 5. Plenums des IV. ZEK der KMT über die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, vom 14. 12. 1934, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 600—605. 132 Antrag Wu Ching-heng (Chih-hui) und Gen. zum Schutz der einheimischen Industrie, ibid., p. 599. 133 ibid., p. 606. 131 Vgl.: Bericht des amerikanischen Gesandten Nelson T. Johnson an das State Department, vom 11. 7. 1934, in: For. Rel. 1934, p. 217—220. 135 Bericht des amerikanischen Geschäftsträgers Gauss an das State Department vom 2 4 . 1 1 . 1 9 3 4 , ibid., p. 319. 131

33

Domes

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XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

mer mehr, die Stellung der Zentrale in den nordchinesischen Provinzen, vor allem in Hopei, zu schwächen. Zunächst war Chiang noch bereit, die Politik des Nachgebens mitzumachen. Nachdem am 4. Mai 1935 die Shanghaier Wochenzeitung „Hsin-sheng-huo chou-pao" (Neues Leben, Wochenzeitung) einen Artikel veröffentlichte, in dem der Kaiser von J a pan mit recht unfreundlichen Bemerkungen bedacht worden war, wurde das Blatt verboten und am 10. Juni ein Mandat der Nationalregierung erlassen, das „die Belastung der internationalen Beziehungen des Landes durch provozierende Reden und Handlungen" unter Strafe stellte 136 . Als Tokio jedoch im Juli 1935 mit wachsender Eindringlichkeit die Einstellung der Parteiarbeit der K M T in den Provinzen Hopei und Chahar forderte, war Wang zwar immer noch bereit, nachzugeben, Chiang aber widersetzte sich zunächst diesem Ansinnen 137 . Am 25. Juli berichtete der 2. Sekretär der amerikanischen Botschaft in China, Dean S. Acheson, nach Washington, daß Chiang zunehmendes Interesse daran zeige, Hu Han-min (den schärfsten Gegner Japans unter den drei KMT-Führern, d. Verf.) an der Regierung zu beteiligen, während er von Wang gedrängt werde, seine „schwankende Haltung" gegenüber Japan aufzugeben 138 . Es hat den Anschein, als habe Wang befürchtet, daß Chiang wiederum, wie schon 1928/29, ein Bündnis mit der Rechten unter Hu dem bisherigen Bündnis mit dem linken Flügel vorziehen würde. Ein solches Bündnis mußte aber jene sozialen Reformen gefährden, die Wang mit Unterstützung Chiangs durchzusetzen hoffte. Der Führer der Linken war andrerseits davon überzeugt, daß Chiang nicht gewillt sei, in der außenpolitischen Krisensituation ganz auf ihn zu verzichten, und so nahm er die Debatte um die weitere Politik gegenüber Japan zum Anlaß, um ein Einschwenken Chiangs auf seine innen- und außenpolitische Linie zu erzwingen. Dabei wählte er wiederum die Taktik der Rücktrittsdrohung, mit der es ihm im August 1932 gelungen war, Chang Hsüeh-liangs zeit138

„Kuo-min cheng-fu kung-pao"

vom 1 0 . 6 . 1 9 3 5 ;

und: China Y e a r Book

1936,

p. 176 f. 137

Angaben Chu Chia-huas im Interview mit dem Verfasser am 19. Februar 1962 in T'aipei, bestätigt durch Notizen Chus über den Gang der Diskussion von Kabinettssitzungen am 8 . 6 . und 1 1 . 8 . 1 9 3 5 , auf den Blättern, welche die Tagesordnungen dieser Sitzungen enthielten (Nachlaß Chu). Chu benutzte solche Blätter häufig, um seine Eindrücke während solcher Sitzungen in deutscher Sprache auf ihnen festzuhalten.

138

Bericht des 2. Sekretärs der amerikanischen Botschaft in China, Dean S. Atcheson, an das State Department, vom 2 5 . 7 . 1 9 3 5 , in: Foreign Relations of the United States 1935, Washington D. C. 1953, Bd. III, p. 320 f.

Chiangs zweiter

Aufstieg

zur Macht bis zum V. Parteikongreß

1935

515

weiligen Rücktritt durchzusetzen139. Schon am 3. Juli 1935 hatte sich Wang auf einen Krankheitsurlaub nach Ch'ingtao begeben140. Von dort erklärte er am 8. August in einem Telegramm an den Nationalregierungsrat seinen Rücktritt von den Ämtern des Premier- und Außenministers141. Der Ständige Ausschuß des ZEK entsandte schon am folgenden Tage Yeh Ch'u-cheng mit dem Auftrag nach Ch'ingtao, Wang zum Verbleiben im Amt zu überreden. Gleichzeitg deutete jedoch die ebenfalls am 9. August veröffentlichte Rücktrittserklärung des Vorsitzenden der Kommission für die Angelegenheiten der Auslandschinesen, Ch'en Shu-jen, an, daß eine Krise bevorstand, die kaum leicht zu lösen sein würde 142 . Dies wurde noch deutlicher, als am 13. August auch Industrieminister Ch'en Kung-po, Eisenbahnminister Ku Meng-yü und Erziehungsminister Wang Shih-chieh um ihre Entlassung baten143. Offenbar wollten sich also alle Anhänger des linken Flügels — zu ihnen zählte damals in einem lockeren Verhältnis auch Wang Shih-chieh — aus der Regierungsverantwortung zurückziehen. Es zeigte sich schnell, daß Wang für eine Ubergangszeit richtig kalkuliert hatte. Chiang kam dessen Rücktritt jetzt, kurze Zeit vor dem Zusammentritt des V. Parteikongresses, in jeder Hinsicht ungelegen; denn er brauchte die Unterstützung des linken Flügels, um ein Gegengewicht gegen die regionalistischen Kräfte zu schaffen, deren verstärkter Einfluß in der Parteiführung als Folge des V. Kongresses vorauszusehen war. So entsandte er denn am 17. August Chang Ch'ün nach Ch'ingtao, um dort Wang am 18. ein persönliches Schreiben Chiangs zu überbringen, in welchem der Premierminister dringend aufgefordert wurde, nach Nanking zurückzukehren. Alle umstrittenen Probleme könne man, so hieß es in Chiangs Brief, in der Hauptstadt im Gespräch klären144. Am 19. August kehrte Chiang, der sich gerade in Ch'engtu, Ssuch'uan, befand, um dort die Operationen gegen die kommunistischen Partisanenverbände zu leiten, in die Hauptstadt zurück. Einen Tag später, am 20. August, kam der Premier in Nanking an, wo sofort eine Serie von Konferenzen zwischen ihm und Chiang begann. Sie endete damit, daß Wang am 23. August sein Rücktrittsgesuch zurückzog und seine Amtsgeschäfte wieder übernahm. Ch'en Shu-jen, Ch'en Kung-po, Ku Meng-yü und Wang Shih-chieh blieben 139

Siehe oben, S. 496 f.!

HO CYJP v o m 3. 7. 1935. 141

142

Telegramm Wang Ching-weis an den Nationalregierungsrat v o m 8. 8. 1935, in: C Y J P v o m 9. 8 . 1 9 3 5 . KMT-Chronik, Bd. I, p. 707.

143 c y j p v o m i4_ 8 . 1935. 144 c y j p v o m ig. 8 . 1935. 33»

516

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

ebenfalls weiter im Amt145. Zwar war es Wang mit seiner Rücktrittsdrohung gelungen, Chiang erneut auf die zuerst von diesem selbst eingeleitete Politik des Nachgebens gegenüber Japan festzulegen, seine Aktion hatte ihn aber gerade deswegen viele Sympathien gekostet; denn hinfort wurde er, in stärkerem Maße als Chiang, für diese Politik verantwortlich gemacht. Vor allem die nationalistischen Studenten- und Sekundärschülerverbände und die „Gruppe Wiedergeburt" wandten sich mit Entschiedenheit gegen Wang und seine Anhänger, wobei sie jetzt zu offenen Terroraktionen übergingen. So wurde am 17. Oktober das Mitglied des linken Flügels der KMT Ku Cheng-kang im Gebäude der Parteizentrale in Nanking von „Blauhemden" überfallen und verprügelt, nur das Eingreifen der Militärpolizei rettete sein Leben148. Am Tage der Eröffnung des 6. Plenums des IV. ZEK der KMT aber, dem 1. November, feuerte der Nankinger Fotoreporter Sun Feng-ming aus einer in seine Kamera eingebauten Pistole mehrere Schüsse auf Wang ab, als dieser das Versammlungsgebäude des ZEK betreten wollte. Der Premierminister wurde schwer verletzt und schied dadurch für mehr als ein Jahr aus dem politischen Kräftespiel in China aus147. Es blieb ungeklärt, welche Kräfte für das Attentat verantwortlich waren. Die meisten Indizien wiesen jedoch darauf hin, daß der Attentäter eher mit radikalen Studentenzirkeln, für deren Publikationen er regelmäßig arbeitete, als etwa mit der „Gruppe Wiedergeburt" in Verbindung gestanden hatte. Wang mußte bis Anfang Januar 1936 im Krankenhaus bleiben und begab sich dann nach Shanghai, von wo aus er am 19. Februar 1936 eine Erholungsreise nach Europa antrat 148 . Da auch Hu Han-min seit dem 20. August 1935 im Ausland war, beherrschte Chiang jetzt allein das Feld. Dies zeigte sich schon auf dem 6. Plenum, dessen Beschlüsse im wesentlichen der Vorbereitung des V. Parteitages galten. Im übrigen erhielt 14S

C Y J P v o m 21. bis 2 4 . 8 . 1935. Vgl. hierzu auch: Berichte des 2. Sekretärs der amerikanischen Botschaft, Atcheson, an das State Department, v o m 20. und 21. 8. 1935, in: For. Rel. 1935, Bd. III, p. 335—339.

14

® Angaben Ku Cheng-kangs im Interview mit dem Verfasser am 6. Oktober 1964 in T'aipei.

147

CYJP-Sonderausgabe vom 1 . 1 . 1 9 3 5 ; und: „North China D a i l y N e w s " v o m 2 . 1 1 . 1935.

148

„North China Daily N e w s " vom 19. 2. 1936. Pläne zur Rettung der Nation, verabschiedet auf dem 6. Plenum des IV. ZEK der K M T am 5. November 1935, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 609—611.

V. Parteikongreß

und Umbildung der Regierung im Dezember 1935

517

die Plenarsitzung ihre Bedeutung vor allem durch die Anwesenheit Feng Yü-hsiangs und Yen Hsi-shans, die zum ersten Male seit über sechs Jahren in die Hauptstadt gekommen waren und ihren alten Zwist mit Chiang begraben hatten. Audi aus Kanton nahm eine Reihe von Delegierten an der Konferenz teil, und einen Tag nach der Eröffnung des V. Parteikongresses kam sogar einer der leitenden Männer der „Südwestlichen Zweigorganisation des P R " , Tsou Lu, nach Nanking, um an dem Kongreß teilzunehmen149.

Der V. Parteikongreß

und die Umbildung der Regierung im Dezember 1935

So standen die Zeichen auf Einigkeit der nationalistischen Einheitspartei, als deren V. Parteikongreß vom 12. bis zum 23. November 1935 in Nanking tagte150. Von den 405 Delegierten des Kongresses waren diesmal 311 in den lokalen und regionalen Zweigorganisationen gewählt worden, 94 wurden von der Zentrale ernannt. Hinzu kamen noch 103 anwesende Vollmitglieder und Kandidaten des ZEK und der ZKK, so daß von den insgesamt 508 stimmberechtigten Kongreßteilnehmern 197 ernannt oder ex officio teilnahmeberechtigt waren. Immerhin betrug der Anteil der gewählten Delegierten etwas über 61 % , was — verglichen mit den 42 % 1924, 26 °/o 1926, 29 % 1929 und 48,5 % in Nanking 1931 — im Sinne einer Demokratisierung der Parteistruktur als Fortschritt bewertet werden kann151. Von besonderer Bedeutung war eine außenpolitische Erklärung, die Chiang am 19. November vor dem Kongreß abgab. Er stellte darin sechs Prinzipien der auswärtigen Politik Chinas auf: 1. Die Gleichberechtigung des Landes in der Familie der Völker müsse gewährleistet werden; 149

KMT-Chronik, Bd. I, p. 715.

150 Vgl. hierzu u . a . : China Year Book 1936, p. 168—171 — . Eine Sammlung der wichtigeren Beschlüsse und Anträge vom V. Parteikongreß findet in der Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 6 2 7 — 7 1 6 . Sie war — neben den Ausgaben der C Y J P und der Shen-pao" vom 12. bis zum 25. 11. 1935 und Berichten Sun K'es, K'ung Hsiang-hsis, Ku Cheng-kangs, Chu Chia-huas und Ku Chu-t'ungs in den erwähnten Interviews — die einzige Quelle, welche dem Verfasser zur Verfügung stand. 151

C Y J P vom 1 2 . 1 1 . 1 9 3 5 .

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XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

2. es gelte, die Außenpolitik auf der Grundlage der Wohlfahrt Chinas und der Interessen der gesamten Bevölkerung, nicht aber aufgrund vorübergehender Ressentiments zu formulieren; 3. der Grundsatz der Ablehnung jeglicher Aggression und der gleichberechtigten politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit sei aufrechtzuerhalten; 4. von größter Wichtigkeit sei es, zunächst einmal in China selbst „eine Nation aufzubauen"; 5. im Notfalle müsse ein Apparat bereitstehen, der „schnelle und außerordentliche Entscheidungen" ermögliche; und 6. Streitfragen mit anderen Ländern, die keine fundamentale Bedeutung hätten, sollten mit Geduld und großer Kompromißbereitschaft gelöst werden. Diese Grundsätze deuteten darauf hin, daß die Nationalregierung weiterhin an ihrer zurückhaltenden Politik gegenüber Japan festzuhalten beabsichtigte. Chiangs Schlußworte machten diese Entscheidung noch deutlicher: „Was midi betrifft, so werde ich meiner Verantwortung nicht ausweichen. Wir werden den Frieden nicht aufs Spiel setzen, solange es noch irgendeine H o f f n u n g für den Frieden gibt. Wir werden nicht leiditfertig v o n der Aufopferung sprechen, solange wir nicht in eine Situation gedrängt werden, welche die Aufopferung (des Volkes im Kampf gegen äußere Feinde, d. Verf.) unausweichlich macht. D i e Aufopferung eines einzelnen ist unbedeutend, die Aufopferung der N a t i o n aber eine große Sadie; denn das Leben eines einzelnen ist (zeitlich, d. Verf.) begrenzt, das Leben der N a t i o n aber ewig. Obgleich es für die Bedingungen des Friedens eine Grenze gibt und wir notfalls zum höchsten Opfer bereit sind, werden wir das Äußerste tun, um den Frieden zu bewahren doch nidit ohne die Entschlossenheit zum höchsten Opfer! - , um so unsere N a t i o n zu sichern und zu neuem Leben zu erwecken. Dies ist, so glaube ich, die Grundlage der Politik unserer Partei für die Rettung und Erhaltung unserer Nation 1 5 2 !"

In diesen Sätzen schwang also auch eine unmißverständliche Warnung an Japan mit. Chiang wollte Tokio bedeuten, daß die Kompromißbereitschaft der Nationalregierung dort ein Ende haben werde, wo neue japanische Forderungen an China die äußerste Grenze dessen, was er für zumutbar hielt, überschritten. Im innenpolitischen Bereich standen die Beratungen über den Verfassungsentwurf und wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt der Diskussionen des Parteitages. Auf Antrag des Delegierten Hsü T'ing-yao beschloß man, der Nationalregierung die Einleitung wirksamer Maßnahmen zur 152

Text der Rede in: C Y J P v o m 2 0 . 1 1 . 1 9 3 5 . Eine Übersicht in englischer Sprache findet sich in: China Year Book 1936, p. 169 f.

V. Parteikongreß

und Umbildung der Regierung im Dezember

1935

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Entwicklung der Privatindustrie zu empfehlen, eine Resolution, die in dieser Form zum ersten Male von einem Kongreß der K M T verabschiedet wurde 153 . Eine große Anzahl von Delegierten des linken Flügels, der „CC-Clique" und der „Gruppe Wiedergeburt" drängte auf die Einleitung von Agrarreformen in Übereinstimmung mit dem „Bodengesetz" von 1930, das endlich im März 1936 in Kraft treten sollte. Sie stießen damit jedoch auf den Widerstand einer schwachen Mehrheit der Delegierten, die sich entschloß, die Bodenreform-Resolution der Nationalregierung nur „zur Kenntnisnahme" zu übergeben 154 . Chiang selbst, der gerade begonnen hatte, in der Provinz Kiangsi die ersten Reformmaßnahmen in den Dörfern einzuleiten 155 , tat nichts zur Unterstützung der Antragsteller, weil er sich offenbar unmittelbar vor der Wahl des neuen ZEK nicht allzusehr in innenpolitischen Streitfragen exponieren wollte. Das sehr wortreiche Manifest des Parteikongresses zeichnete sich dadurch aus, daß es eine abwägende, sachliche Sprache wählte. In seinem Mittelpunkt stand ein Dekalog f ü r die Parteiarbeit der folgenden Jahre: 1. Die traditionellen Tugenden der Nation müßten aufrechterhalten und die moralischen Vorstellungen des Volkes „korrigiert" werden; 2. es gelte, die Erziehung in den modernen Naturwissenschaften nach besten Kräften zu fördern; 3. im Bereich der Massenerziehung sollten alle nur möglichen Anstrengungen gemacht werden; 4. dem wirtschaftlichen Aufbau habe die größte Aufmerksamkeit der Führung zu gelten; 5. das Prüfungssystem f ü r Staatsbeamte solle „vorsichtig" eingeführt, deren Fähigkeit jedoch strikt geprüft werden; 6. es sei nötig, im Volke „den Sinn f ü r Gesetzestreue" zu wecken; 7. die Funktionen des Kontrollyüan müßten erweitert werden, um korrupte Beamte auszuschalten; 8. besondere Aufmerksamkeit gelte den Bemühungen um die Errichtung einer „aufgeklärten Verwaltung" in den Grenzgebieten und die Erziehung der nationalen Minderheiten; 9. der Ubergang zur Periode des Verfassungsstaates sei zu beschleunigen; und 153

154

155

Resolution des V. Parteikongresses der KMT über die Förderung der Privatindustrie, angenommen und der Nationalregierung überwiesen am 21. November 1935, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 679 f. Resolution des V. Parteikongresses zur Landpolitik, vom 19. 11.1935, ibid., p. 693 f. Siehe hierzu unten, S. 563!

520

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Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

10. man solle die Lehren Sun Yat-sens ernsthaft befolgen und in stärkerem Maße im ganzen Lande verbreiten. Abschließend stellte der Kongreß zu diesem Programm fest: „Alle diese Maßnahmen sind so bedeutsam und so einschneidend, daß wir Zeit brauchen, um sie tatsächlich zu verwirklichen. Dennoch müssen wir selbst alles nur mögliche tun, um dazu beizutragen, daß sie Wirklichkeit werden 156 ." Als bedeutsamste Entscheidung des Kongresses muß die Wahl des V. 2EK der KMT gewertet werden, die wesentliche Änderungen in der politischen Struktur der Führung zur Folge hatte. Für die vorgesehenen 260 Mitglieder und Kandidaten des ZEK und der ZKK standen 359 Bewerber zur Auswahl, und zwar: 163 Mitglieder und Kandidaten des Komitees des IV. Parteikongresses; adit Mitglieder des Präsidiums des Kongresses, die bisher den Leitungsgremien nicht angehört hatten; 80 vom Kongreßpräsidium nominierte Bewerber; und 108 von den Delegierten nominierte Bewerber.

Am 21. November erreichten 100 Vollmitglieder und 50 Kandidaten des ZEK sowie 40 Vollmitglieder und 18 Kandidaten der ZKK die für den ersten Wahlgang vorgeschriebene absolute Mehrheit. Die restlichen 20 Vollmitglieder und zehn Kandidaten des ZEK sowie zehn Vollmitglieder und zwölf Kandidaten der ZKK wurden am folgenden Tage, dem 22. November, aus dem Kreis der 151 zunächst erfolglos gebliebenen Bewerber gewählt. Unter den Nichtgewählten befand sich die Witwe Liao Chung-k'ais, Frau Ho Hsiang-ning, während die Witwe Sun Yat-sens, Frau Sung Ch'ing-ling, in den Kreis der Kandidaten des ZEK abstieg. Beide nahmen am Kongreß selbst nicht teil. Die höchste Stimmenzahl erreichte Chiang mit 495 von 508 abgegebenen Stimmen, Wang und Hu blieben mit 403 bzw. 367 Stimmen weit hinter ihm zurück. Die dominierende Stellung Chiangs wurde besonders deutlich bei der Wahl der 120 Vollmitglieder des neuen V. ZEK. 65 von ihnen, also fast 55 % , traten zum ersten Mal in das höchste Führungsgremium der Partei ein, das dennoch mit 44,9 Jahren das gleiche Durchschnittsalter aufwies wie das IV. ZEK zur Zeit seiner Bestellung im Herbst 1931. Seit 1929 hatte die Führungsgruppe der KMT nicht mehr eine so starke Wandlung erlebt wie jetzt. 158

Manifest des V. Parteikongresses der K M T vom 23. N o v e m b e r 1935, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 627—643; audi in: Manifeste aller Parteitage . . . , p. 68—86. Vgl. hierzu: China Year Book 1936, p. 171.

V. Parteikongreß

und Umbildung

der Regierung im Dezember

1935

521

Unter den Fraktionen und Machtgruppen innerhalb der KMT waren die „CC-Clique" und die „Vereinigung der Reorganisations-Genossen" mit je 15 der neuen Vollmitglieder des ZEK am stärksten vertreten. Es folgten 14 Generale der „Zentralarmee" und elf einzelne, persönliche Anhänger Chiangs. Sechs jüngere Fachleute, vier Vertreter der „PolitischWissenschaftlichen Vereinigung" und drei Mitglieder der „Gruppe Wiedergeburt" vervollständigten die Koalition der Kräfte, welche Chiang unterstützten. Hinzu traten sieben Anhänger Hu Han-mins, fünf Mitglieder der „Westberggruppe" und vier Gefolgsleute Sun K'es. Besonders stark nahm die Vertretung regionaler Cliquen zu. So fanden sich im neuen ZEK fünf ehemalige Generale der Kuomindiün, je vier Anhänger Ch'en Chi-t'angs und Chang Hsüeh-liangs, fünf Vertreter Shansis um Yen Hsi-shan, zwei Kuangsi-, zwei Hupei-, ein Hunan- und ein Yünnan-General, sowie neun Angehörige anderer regionaler Kräftegruppen 157 . Mit 53 Vollmitgliedern gehörten rund 44 % des neuen ZEK zur Anhängerschaft Chiang Kai-sheks. Zusammen mit den 24 Anhängern Wang Ching-weis, Sun K'es und der „Westberggruppe" bildeten sie eine Mehrheit von 77 „Zentralisten", welche die Nationalregierung unterstützten, gegenüber 43 Vertretern der Fraktion Hu Han-mins und der verschiedenen Regionalgruppen. Kaum war der V. Parteikongreß zu Ende gegangen, als das Land einer neuen, schweren Belastungsprobe im Verhältnis zu Japan ausgesetzt wurde. Seit Monaten hatte es Gerüchte gegeben, daß die Japaner gewillt seien, die fünf nordchinesischen Provinzen Hopei, Shantung, Shansi, Chahar und Suiyüan aus dem Herrschaftsbereich der Nationalregierung herauszulösen und dort die Errichtung autonomer Regierungsorgane zu fördern. Ihre Bemühungen, für die General Kenji Doihara verantwortlich war, blieben zwar im ganzen zunächst ohne Erfolg, aber es gelang den Japanern doch, wenigstens einen Anfang mit der Loslösung Nordchinas zu machen, und zwar im Bereich der „entmilitarisierten Zone" südlich der 157

Liste der Mitglieder des V. ZEK und Berichte über den Wahlvorgang in: CYJP und „Shen-pao" vom 22., 23. und 2 4 . 1 1 . 1 9 3 5 . Vgl. hierzu: China Year Book 1936, p. 170 f.; und: Ishimaru, op. cit., p. 112 f. Ishimaru gibt die Stärke der Fraktionen und Machtgruppen im V. ZEK und der V. ZKK an, ohne einen Unterschied zwischen den beiden Komitees zu machen. Er registriert auf diese Weise 60 „enge Anhänger" Chiangs, etwa 20 Anhänger Wang Ching-weis, zehn Gefolgsleute Sun K'es, 40 Vertreter der Regionalgruppen von Kuangtung und Kuangsi und 30 „Anhänger der übrigen Gruppen". Vgl. hierzu audi: The Chinese Year Book 1936—37, p. 226—228.

522

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Großen Mauer. Die überraschende Umstellung der chinesischen Währung vom Silberstandard auf eine Produktions- und Devisendeckung am 3. November 1935138 führte vor allem in Nordchina zu erheblicher Verärgerung, welche die Japaner ausnutzten. Auf Doiharas Veranlassung hin gründete am 25. November der bisherige Zivilkommissar der „entmilitarisierten Zone", Yin Ju-keng, in Nordost-Hopei einen „Selbstverwaltungsrat zur Verteidigung Osthopeis gegen die Kommunisten" (Chihtung fang-kung tzu-chih wei-yüan-hui) als autonome Regierung für 22 der 130 Landkreise Hopeis. Der Haftbefehl, den die Nationalregierung unverzüglich gegen Yin erließ, konnte nicht ausgeführt werden, da die japanischen Soldaten, die in der „entmilitarisierten Zone" — im Gegensatz zu den Bestimmungen des Abkommens von T'angku — stationiert waren, die separatistische Gruppe schützten159. In dieser Situation wurde es nötig, so schnell wie möglich das 1. Plenum des V. 2EK einzuberufen, um die neue Führung von Partei und Staat zu bestellen. Es trat vom 2. bis zum 7. Dezember unter Beteiligung von 80 der 120 Vollmitglieder und 46 der 60 Kandidaten in der Hauptstadt zusammen160. Von großer organisatorischer und politischer Bedeutung war der Beschluß des 1. Plenums, hinfort wieder ein fest umrissenes, zahlenmäßig kleineres Gremium als ZPR der Partei zu bilden. Aus der bisherigen „Chung-yang cheng-chih hui-i" wurde ein „Chung-yang cheng-chih wei-yüan-hui" mit 27 Mitgliedern, wobei die neue Bezeichnung audi mit „Zentrales Politisches Komitee" übersetzt werden könnte. Der Begriff „wei-yüan-hui" sollte jedenfalls bereits die festgelegte Mitgliedschaft des neuen ZPR andeuten. Von den 27 Mitgliedern, welche das Plenum am 7. Dezember wählte, gehörten sechs zum linken Flügel der KMT, zwölf vertraten die Chiang-Koalition (einzelne Politiker: vier, HuangpuGruppe: vier, CC-Clique: zwei, ein entwicklungspolitischer Fachmann und Chiang selbst), zwei die „Westberggruppe", zwei waren Anhänger Hu Han-mins, zwei weitere Gefolgsleute Sun K'es, und drei gehörten Regionalgruppen an161. Den Vorsitz des neuen ZPR sollte Wang Chingwei übernehmen, und Chiang wurde dessen Stellvertreter in dieser Funk158

Siehe unten, S. 598! 159 Vgl. hierzu u. a.: KMT-Chronik, Bd. I, p. 716; Tong, op. cit., p. 196; und: Ishimaru, op. cit., p. 192 f.

160

Vgl. dazu: KMT-Chronik, Bd. I, p. 717 f.; Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 1073—1086; und: China Year Book 1936, p. 171—174. D i e bedeutsameren D o kumente v o n den Verhandlungen des 1. Plenums des V. ZEK finden sich in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 717—747. ιοί c y j p v o m 7. u n c j 8_ i 2 . 1 9 3 5 . Siehe dazu oben, S. 632 und Anm. 32!

V. Parteikongreß und Umbildung der Regierung im Dezember 1935

523

tion, während Ku Meng-yü in das neue Amt eines Generalsekretärs des ZPR und Chu Chia-hua zum stellvertretenden Generalsekretär berufen wurden. Da Ku sein Amt jedoch nicht antrat, wurde es schon Anfang 1936 endgültig von Chu Chia-hua übernommen, und als neuer Vizegeneralsekretär des ZPR trat Chiangs persönlicher Sekretär, Ch'en Pu-lei, in die Partei-Verwaltung ein. In den Ständigen Ausschuß des ZEK wählte man, neben Chiang selbst, vier seiner Anhänger — K'ung Hsiang-hsi, Yeh Ch'u-cheng, Ting Weifen und Ch'en Li-fu —, außerdem Hu Han-min, Wang Ching-wei, Tsou Lu von der „Westberggruppe" und Feng Yü-hsiang. Hu Han-min wurde das wiedergeschaffene Amt eines „Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses" (Chung-yang ch'ang-wu wei-yüan-hui chu-hsi) übertragen, und auch hier übernahm Chiang die Stellvertretung. Chefsekretär des Ständigen Ausschusses blieb zunächst weiterhin Yeh Ch'u-cheng, die drei bisherigen Komitees für Organisation, Massenbewegungen und Propaganda wurden wieder in „Abteilungen" (Pu) beim ZEK umgewandelt, wobei Ch'en Li-fu an der Spitze der Organisationsabteilung, Ch'en Kung-po an derjenigen der Abteilung für Massenbewegungen blieb, während man die Leitung der Propagandaabteilung einem engen Vertrauten Hu Han-mins, Liu Lu-yin, übertrug. Nach der Besetzung der Spitzenpositionen des Parteiapparates ging das 1. Plenum an die Bestellung des Regierungspersonals. Die Zahl der Staatsräte der Nationalregierung wurde auf 36 erhöht, und die Besetzung dieser Posten verstärkte den Eindruck, daß es sich hier vor allem um ein repräsentatives Gremium handelte. Unter den Mitgliedern befand sich wiederum — wie schon seit dem 26. Janaur 1934 —, der Panchen Lama von Tibet. Lin Sen wurde erneut zum Vorsitzenden der Nationalregierung ernannt, und auch die Präsidenten des Legislativ-, Justiz-, Kontroll- und Prüfungsyüans, Sun K'e, Chü Cheng, Yü Yu-jen und Tai Chi-t'ao, bestätigte man in ihren Ämtern. Als Vizepräsidenten traten in den Legislativyüan Yeh Ch'u-cheng, in den Justizyüan T'an Cheng, in den Kontrollyüan Hsü Ch'ung-chih und in den Prüfungsyüan Niu Yung-chien ein. Die bedeutsamste Änderung aber stellte die Berufung Chiangs zum Präsidenten (Premierminister) des Exekutivyüans dar. Da er gleichzeitig sein bisheriges Amt als Vorsitzender des Militärkomitees behielt und Vizevorsitzender des ZPR und des Ständigen Ausschusses des ZEK wurde, während als Vizepremier sein Anhänger K'ung Hsiang-hsi fungierte, bedeutete diese Änderung die Ratifikation der Tatsache, daß

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XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Chiang jetzt der mächtigste Mann in Partei und Staat geworden war. Seine Rivalen, Wang und Hu, die beide nicht am V. Parteikongreß teilgenommen hatten, mußten sich hinfort mit ranghohen, aber weit weniger einflußreichen Positionen begnügen162. Am 12. Dezember schlug Chiang dem Z P R die Minister und Kommissions-Vorsitzenden seines Kabinetts zur Ernennung vor 163 . Er umgab sich hier mit vertrauten Anhängern und einigen Fachleuten, die im Lande erhebliches Ansehen genossen. Der Vizepremier und Finanzminister, K'ung Hsiang-hsi, der Heeresminister, H o Ying-ch'in, der Marineminister, Ch'en Shao-k'uan, der Erziehungsminister, Wang Shih-chieh, der Vorsitzende der Kommission für mongolisch-tibetanische Angelegenheiten, Huang Mo-sung — ein General der Huangpu-Gruppe —, der Vorsitzende der Auslandschinesenkommission, Ch'en Shu-jen, und der Vorsitzende der Kommission zur Bekämpfung von Hungersnöten, Hsü Shih-ying, behielten ihre Ämter. Chiangs engster Vertrauter, Chang Ch'ün, übernahm die Leitung des Außenministeriums, der bisherige Botschafter in Tokio, Chiang Tso-ping, ein alter Mitarbeiter des neuernannten Premiers, wurde Innenminister. An die Spitze des Eisenbahnministeriums trat der bisherige Vizedirektor der Zentralbank, Chang Chia-ao*, das Industrieministerium übernahm Wu Ting-ch'ang*, ein erfolgreicher und angesehener Bankier. Der bisherige Eisenbahnminister Ku Meng-yü wurde zum Verkehrsminister berufen, da er dieses Amt jedoch nicht antrat, übernahm es im März 1936 endgültig der bisherige Vizeminister Yü Fei-p'eng*, der Jahre zuvor als Direktor des Arsenals von Huangpu und als Leiter des militärischen Transportwesens bei Chiangs Hauptquartier gedient hatte. Das neue Kabinett war noch nicht gebildet, als Chiang schon Maßnahmen einleitete, die dazu bestimmt waren, der separatistischen Bewegung in Hopei entgegenzutreten. Er übergab die Verantwortung für die Provinzen Hopei und Chahar den Generalen der ehemaligen Kuominchün und Yen Hsi-shans, vermied es jedodi, audi Shantung, Shansi und Suiyüan in die neue Verwaltungsorganisation einzubeziehen. Am 11. Dezember wurde Sung Che-yüan zum Vorsitzenden eines „Politischen Komitees für Hopei und Chahar" (Chih-ch'a cheng-wu wei-yüan-hui) berufen, dem außer Sung noch 16 weitere Mitglieder angehörten, und 162

Vgl. China Y e a r Book 1936, p. 1 5 5 — 1 5 8 .

lej

Beschluß des Z P R der K M T über die Ernennung der Minister und Kommissionsvorsitzenden Chu).

des Exekutivyüans,

vom

12. 1 2 . 1 9 3 5

(KMT-Ardiiv

und

Nadilaß

Der Zusammenbrach

des südchinesischen

Regionalismus

525

das als halbautonome Führungsgruppe der beiden Provinzen geplant war 164 . Einen Tag später, am 12. Dezember, ernannte die Nationalregierung Sung Che-yüan zum Gouverneur von Hopei, den ehemaligen Kuominchün-General Chang Tzu-chung zum Gouverneur von Chahar und den bisherigen Gouverneur Hopeis, Shang Cheng, der häufig Konflikte mit den Japanern gehabt hatte, zum Gouverneur von Honan 1 6 5 . Die Reorganisation der halbautonomen Verwaltung in Nordchina wurde abgeschlossen, als der Exekutivyüan am 14. Janaur 1936 Sung Che-yüan auch zum „Befriedungskommissar" (Sui-ching chu-jen) für Hopei und Chahar und Shih Yu-san zum Leiter des „Sicherheitsamtes" (Paoan chü) der Stadt Peking berief 166 . Noch einmal war ein ernster Zusammenstoß mit Japan im Norden des Landes abgewendet worden. Zu Beginn des Jahres 1936 hatte Chiang seine Macht in der nationalistischen Einheitspartei und im Staate weitgehend gefestigt. Mit Genehmigung des Nationalregierungsrates führte er jetzt den alten Titel Sun Y a t sens: „Generalissimus" (Ta-yüan-shuai). Schon dadurch wurde angedeutet, daß er die Nachfolge des Parteiführers und Gründers der chinesischen Republik antreten wollte. Dennoch blieb der Bereich seiner unmittelbaren Kontrolle auf die Provinzen Honan, Kiangsu, Chekiang, Anhui, Kiangsi, Hupei, Hunan und, neuerdings auch, Kueichou beschränkt. Der Gouverneur von Shantung, Han Fu-chü, zeigte immer mehr Neigungen zur Unabhängigkeit, die Provinzen des Nordwestens, Westens und Südwestens blieben praktisch weiterhin autonom, wenn audi langsam der Einfluß der Nationalregierung zu wachsen begann. Vor allem aber war es bisher noch nicht gelungen, der „Südwestlichen Zweigorganisation des P R " in Kanton Herr zu werden, welche die Provinzen Kuangtung und Kuangsi wie einen eigenen Staat verwaltete. Erst das Jahr 1936 brachte hier eine Wende, die dazu führte, daß Kuangtung, zum ersten Mal seit 1927, wieder unter die gesicherte Kontrolle der Zentrale zurückkehrte.

Der Zusammenbruch des südchinesischen Regionalismus Der V. Parteikongreß hatte Chiang die Aussöhnung mit den beiden bedeutendsten Generalen des Nordens, Feng Yü-hsiang und Yen Hsi-shan, gebracht. Beide erklärten sich bereit, die ranghohen, aber wenig einfluß164 C Y J P , „Shen-pao" und „North China Daily News" vom 12. 12. 1935. Vgl. hierzu u. a.: Ishimaru, ibid. 185

„Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 12. 12. 1935.

ιββ C Y J P vom 14. 1 . 1 9 3 6 .

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XII· Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

reichen Ämter der Vizevorsitzenden des Militärkomitees zu übernehmen: und während Yen weiterhin seine Heimatprovinz Shansi nahezu unabhängig beherrschte, ließ sich Feng jetzt sogar in Nanking nieder, wo er unter sicherer Aufsicht stand. Auch Chang Fa-k'uei machte, Anfang 1936, seinen Frieden mit dem Generalissimus: er erklärte sich am 14. Januar mit seiner Ernennung zum „Oberbefehlshaber der Säuberungskräfte in den Grenzgebieten" (Pien-ch'ü ch'ing-chiao tsung-chih-hui) von Fukien, Kiangsi, Chekiang und Anhui einverstanden 167 . Nach diesen Erfolgen unternahm Chiang einen zweiten Versuch, die stärkste Persönlichkeit der Kantoner Opposition, Hu Han-min, zur Zusammenarbeit mit der Zentrale zu bewegen. Als Hu am 19. Januar 1936 aus Europa nach Hongkong zurückkehrte, entsandte Chiang den Präsidenten des Justizyüan, Chü Cheng, dorthin, um ihn zu empfangen1®8. Es gelang Chü, Hu dazu zu bewegen, daß er diesmal nicht in Hongkong blieb, sondern sich wenigstens entschloß, nach Kanton zu gehen. Dort traf er am 25. Januar ein 169 . In den folgenden Wochen bemühten sich Chü Cheng und andere Parteiführer, die ein gutes Verhältnis zu Hu hatten, eine Einigungsformel zu finden, die es diesem ermöglichte, sein Amt als Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Z E K und Mitglied des Z P R in Nanking tatsächlich zu übernehmen. Hus alter Freund Wang Ch'ung-hui, der sein Amt als Richter am Internationalen Gerichtshof im Haag niedergelegt hatte, begab sich am 10. März nach Kanton, wo er bis zum 2. April mit Hu verhandelte. Nach Nanking zurückgekehrt, brachte er die Nachricht mit, daß die Aussichten für eine Einigung mit Hu sehr gut seien, zumal dieser jetzt eine festere Haltung Nankings gegenüber Japan zu erkennen glaube 170 . Aber einer endgültigen Aussöhnung stand noch die Haltung der Militärmachthaber Ch'en Chit'ang, in Kuangtung, Li Tsung-jen und Pai Ch'ung-hsi, in Kuangsi, entgegen, die ihre Unabhängigkeit auf jeden Fall bewahren wollten. Anfang Februar entsandten sie den Stabschef der Kuangsi-Armee, Sun Jenlin, nach Shantung, wo dieser am 14. Februar in Chinan mit Han Fu-chü Beratungen über eine gemeinsame Haltung gegenüber Nanking abhielt 171 . 167

ibid.

1,8

„South China Daily News" vom 20. 1. 1936.

109

„Min-kuo jih-pao", Kanton, vom 25. 1. 1936.

170

KMT-Chronik, Bd. I, p. 724 f. Die Angaben über den Bericht Wang Ch'ung-huis machten K'ung Hsiang-hsi und Sun K'e übereinstimmend dem Verfasser in den Interviews am 12. September 1964 in T'aichung bzw. am 3. April 1965 in Laguna Beach.

171

„North China Daily News" vom 15. 2 . 1 9 3 6 .

Der Zusammenbruch des südchinesischen

Regionalismus

52 7

Während die Gespräche zwischen den Südgeneralen und dem Gouverneur von Shantung ebenso wie diejenigen zwischen Hu und Nankinger Emissären noch andauerten, unternahm Chiang einen erfolgreichen Versuch, die Kantoner Opposition von den anderen Provinzen Süd- und Westchinas zu isolieren: Begleitet von seiner Frau, deren Charme sich offenbar auch obstinate Militärmachthaber nicht zu entziehen vermochten, begann er einen neuen, überraschend eingeleiteten Rundflug, diesmal in den Süden und Westen des Landes. Am 10. April verließ er Nanking und flog nach Wuhan, wo er mit dem Gouverneur von Hupei, Yang Yung-t'ai, und dem dortigen „Befriedungskommissar", H o Ch'eng-chün, Verhandlungen führte. Von Wuhan ging es am 12. April weiter in die Provinz Sssuch'uan. Dort wurde er von der Bevölkerung, die unter dem Regime von drei rivalisierenden Militärmachthabern erheblich zu leiden hatte, mit besonderem Enthusiasmus begrüßt, und es gelang ihm, unter Zuhilfenahme des Drucks der Öffentlichkeit, zum ersten Male die Entrichtung der Steuererträge dieser Provinz an die Nationalregierung durchzusetzen. Die nächste Station der Reise war K'unming in Yünnan. Auch hier wurde er von dem Provinzgouverneur, Lung Yün, freundlich empfangen und erhielt Loyalitätsversprechen, die zwar den äußersten Südwesten Chinas nicht enger an die Zentrale banden, sich aber doch bei der entscheidenden Auseinandersetzung mit Kanton bewährten. Nach weiteren Aufenthalten in Kueiyang (am 26. April), Ch'angsha (vom 27. bis zum 29. April) und schließlich in der „Musterprovinz" Kiangsi (vom 29. April bis zum 4. Mai) kehrte Chiang am 5. Mai nach Nanking zurück172. Dort erreichten ihn Nachrichten darüber, daß Hu Han-min endlich bereit sei, sich mit ihm zu versöhnen und nach Nanking zu kommen. Doch ehe dies geschehen konnte, starb Hu am Abend des 12. Mai 1936 überraschend an einem Hirnschlag 173 . Der Tod Hus zerschlug plötzlich wieder alle Hoffnungen auf eine Einigung zwischen Nanking und Kanton. Wenn der alte Parteiführer auch in scharfer Opposition zur Politik der Zentralregierung gestanden hatte, so gehörte er doch nicht unmittelbar zu den zentrifugalen, autonomistisch orientierten Kräften in Südchina. Als er starb, übernahmen die ängstlich auf ihre Unabhängigkeit bedachten Generale allein die Kontrolle über die beiden südchinesischen Provinzen. 172 C Y J P ,

Ausgaben

vom

10.4.

bis zum

5.5.1936;

und:

KMT-Chronik,

p. 7 2 6 — 7 2 8 . Vgl. hierzu u. a.: Tong, op. cit., p. 162 f. 173

C Y

jp

v o m 13- 5- 1 9 3 6

Ygi hierzu: Chang Ch'i-yün, op. cit. Bd. II, p. 1090.

Bd. I,

528

XII. Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

Nur wenige Wochen später fühlten sie sich stark genug, um offen gegen Nanking Stellung zu nehmen. Da die antijapanische Stimmung im Lande weiter im Wachsen begriffen war, benutzten sie Angriffe auf die Japanpolitik Nankings zur Begründung ihrer Aktionen. Dies hinderte sie jedoch keineswegs daran, in Japan Waffen und Munition einzukaufen, wie der japanische Militärattache in China, Generalmajor Seiichi Kita, am 12. Juni mitteilte174. Der Aufstand der Militärmachthaber Kuangtungs und Kuangsis begann am 7. Juni 1936 damit, daß Truppen der Kuangsi-Armee die Grenze nach Hunan überschritten. Chiang rief, als die Nachrichten von diesem Vorgehen die Hauptstadt erreichten, am 9. Juni Ch'en Chi-t'ang zu Konsultationen nach Nanking und forderte am 10. die Kuangsi-Truppen, die inzwischen über 50 km tief in Hunan eingedrungen waren, auf, sich umgehend in ihre Provinz zurückzuziehen. Die Generale des Südens antworteten am 11. Juni mit einem gemeinsamen Telegramm an den Generalissimus, in welchem sie von diesem die sofortige Mobilmachung gegen Japan verlangten 176 . Als sie auf diese Botschaft, die als Ultimatum gehalten und deren Erfüllung innerhalb von 24 Stunden verlangt worden war, keine Antwort erhielten, forderten sie am folgenden Tage, dem 12. Juni, das Land in einem Zirkulartelegramm auf, sich gegen die Nationalregierung zu erheben177. Waffenstillstandsgespräche, die am 16. Juni zwischen Repräsentanten der Kuangtung- und Kuangsi-Armee einerseits und Vertretern der in Hunan stationierten Verbände der „Zentralarmee" andrerseits stattfanden, blieben ergebnislos, und am 21. Juni eröffneten Ch'en Chi-t'ang und Li Tsung-jen in Kanton eine „Militärkonferenz" (Chün-shih hui-i), auf der 174 175

178

177

„North China D a i l y N e w s " v o m 13. 6. 1936; audi bei: Tong, op. cit., p. 197. D i e Darstellung der Auseinandersetzung Nankings mit Ch'en Chi-t'ang und den Kuangsi-Generalen v o n Juni bis September 1936 auf den folgenden Seiten stützt sich im wesentlichen auf eine Sammlung von Berichten aus CYJP, „Shen-pao" und „South China D a i l y N e w s " vom 8 . 6 . bis zum 1 7 . 9 . 1936, eine Zusammenstellung v o n D a t e n in: KMT-Chronik, Bd. I, p. 7 2 9 — 7 3 7 ; Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 1093—1095; Tong, op. cit., p. 197—200; Ishimaru, op. cit., p. 122 f.; und: China Year Book 1936, p. 172—174, sowie auf eine Schilderung, die Pai Ch'ung-hsi dem Verfasser im Interview am 11. September 1964 in T'aipei v o m Standpunkt der südchinesischen Opposition her gab. N u r , w o ihr kontemporäre Dokumente zugrunde liegen, wird auf diese in besonderen Quellenangaben verwiesen. Telegramm Ch'en Chi-t'angs, Li Tsung-jens, Pai Ch'ung-hsis u. a. an den Vorsitzenden Chiang, v o m 11. 6 . 1 9 3 6 (KMT-Archiv). Zirkulartelegramm der Südwestlichen Zweigorganisation des PR der K M T v o m 12. 6. 1936, in: „Min-kuo jih-pao", Kanton, v o m 13. 6. 1936.

Der Zusammenbruch

des südchinesischen

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die Gründung eines unabhängigen Militärkomitees beschlossen wurde. Das Amt des Vorsitzenden und Oberbefehlshabers übernahm Ch'en, während Li zu seinem Stellvertreter berufen wurde. So drohte denn China der Ausbruch eines neuen Bürgerkrieges, in dem den über 200.000 Soldaten der südchinesischen Streitkräfte etwa ebenso viele der „Zentralarmee" gegenübergetreten wären, die Chiang jetzt nach Hunan verlegen ließ. Der Generalissimus war jedoch entschlossen, nach Möglichkeiten neues Blutvergießen zu vermeiden. Er veranlaßte deshalb die Parteizentrale, eine umfassende Propagandaoffensive zu eröffnen, mit deren Hilfe er die Insurgenten zum Nachgeben zu bewegen hoffte. Die Zeitungen Chinas waren in den folgenden Tagen voll von Telegrammen, Resolutionen und Leserbriefen einer großen Anzahl von bekannten Persönlichkeiten und Organisationen aller Art, worin die Kantoner Führer aufgefordert wurden, Frieden zu halten. Chiang selbst gab am 25. Juni den Truppen der „Zentralarmee" in Süd-Hunan den Befehl, die aufständischen Verbände nicht anzugreifen, sondern sich nur zur Wehr zu setzen, falls sie selbst angegriffen würden. Die Armeen standen sich gegenüber, ohne daß es zu größeren Kampfhandlungen gekommen wäre. Ein von Sung Cheyüan, Han Fu-chü und anderen Nordgeneralen am 21. Juni an Kanton gerichtetes Telegramm178, in welchem diese dazu aufriefen, den Frieden des Landes nicht zu stören, belehrte die Führer der Opposition darüber, daß sie sich keine Hoffnungen auf Unterstützung aus Nordchina machen durften. Anfang Juli kam es daraufhin zu ersten Zerfallerscheinungen im Lager des Südens. 40 — nach anderen Angaben 21 — Piloten der kantonesischen Luftstreitkräfte flohen am 4. Juli nach Hongkong und veröffentlichten dort eine Erklärung, in der sie Ch'en Chi-t'ang der Korruption bezichtigten und als Verräter anklagten. Am 6. Juli begaben sich die kantonesischen ZEK-Mitglieder Chou Ch'i-kang, Li Wen-fan, Lin Yi-chung, Liu Lu-yin und Fu Ping-ch'ang nach Nanking, um trotz des Aufstandes an dem 2. Plenum des V. 2EK teilzunehmen, das für die Zeit vom 10. bis zum 14. Juli in die Hauptstadt einberufen worden war; und am 7. Juli flogen gar neun Piloten der kantonesischen Luftwaffe mit vier ihrer Maschinen nach Nanking, um sich der Zentrale für den Kampf gegen Ch'en Chit'ang zur Verfügung zu stellen. Ihnen folgte am 8. Juli der Kommandant des 1. Armeekorps der Kuangtung-Armee, Yü Han-mou, bis dahin einer der engsten Vertrauten Ch'en Chi-t'angs. Von Nanking aus forderte Yü 178

Telegramm Sung Che-yüans, H a n Fu-chüs u. a. an die Führer in Kanton, vom 21. 6. 1936 (KMT-Archiv).

34 Domes

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und Fraktionskämpfe

bis 1936

am 9. Juli in einem Zirkulartelegramm alle Generale der KuangtungArmee auf, sich von den Aufrührern zu trennen und sich dem Befehl Nankings zu unterstellen179. Die Situation hatte sich also bereits zugunsten der Regierung verändert, als am 10. Juli das 2. Plenum eröffnet wurde. Das ZEK beschloß am 13. Juli die Auflösung der „Südwestlichen Zweigorganisation des PR und des ZEK" und die Absetzung Ch'en Chi-t'angs als Oberbefehlshaber der Kuangtung-Armee und „Befriedungskommissar" für die Provinz Kuangtung. Beide Ämter wurden Yü Han-mou übertragen. In einem von Feng Yü-hsiang am 14. Juli auf einer Massenversammlung in der Hauptstadt verlesenen Manifest appellierte das 2. Plenum an die Streitkräfte und die Bevölkerung des Landes, alles in ihren Kräften Stehende zu unternehmen, „um einen neuen Bürgerkrieg zu verhindern und die Rebellion zu beenden"180. Doch noch hielten die Generale in Kanton an ihrer Politik fest. Sie proklamierten am 16. Juli die Bildung einer „Vereinigten Armee der Antijapanischen Nationalen Rettungsstreitkräfte" (K'ang-jih chiukuo chün lien-chün), deren Oberbefehl Ch'en übernahm, während Li Tsung-jen sich zum Vizebefehlshaber ernannte. Doch bereits am 17. Juli besetzte Yü Han-mou an der Spitze loyaler Einheiten der KuangtungArmee die Stadt Shaokuan, und am 18. flohen alle bisher noch in Kanton gebliebenen Piloten der kantonesischen Luftwaffe nach Nanch'ang und unterstellten sich dort dem Befehl der Zentrale. Damit brach der Aufstand in Kuangtung zusammen, Ch'en Chi-t'ang verließ noch am 18. Juli Kanton und ging nach Hongkong ins Exil, am 21. erklärten Li Tsung-jen und Pai Ch'ung-hsi, daß sie sich mit den Kuangsi-Truppen in ihre Heimatprovinz zurückziehen und alle Kampfhandlungen einstellen würden, solange die „Zentralarmee" sie nicht angreife, und am 23. Juli zog Yü Han-mou mit seinen Soldaten in Kanton ein. Chiang ergriff jetzt die Gelegenheit, Kuangtung ganz unter die Kontrolle der Nationalregierung zu bringen. Am 28. Juli ernannte er seinen Vertrauten Huang Mo-sung zum Gouverneur dieser Provinz und Tseng Yang-fu zum Oberbürgermeister von Kanton, während der bisherige Gouverneur Lin Yün-kai als Vorsitzender der Kommission für mongolisch-tibetanische Angelegenheiten nach Nanking berufen wurde. In Kuangsi setzten jedoch Li und Pai ihren Widerstand gegen Nanking fort. Obgleich sie ihre Truppen aus Süd-Hunan und West-Kuangtung abzogen, bildeten sie am 30. Juli in 179

Zirkulartelegramm Yü Han-mous an die Generale der Kuangtung-Armee, 9. 7 . 1 9 3 6 , in: CYJP, selbes Datum.

180

Manifest des 2. Plenums des V. ZEK der KMT, v o m 1 4 . 7 . 1 9 3 6 , k'ing-Sammlung, p. 749—754.

vom

in: Ch'ung-

Der Zusammenbruch des südchinesischen

Regionalismus

531

Nanning eine „Militärregierung", deren Vorsitz sie dem 1934 nach Hongkong geflohenen Chef der Aufständischen-Regierung von Fuchou Li Chi-shen, anboten. Die Nationalregierung hatte noch am 24. Juli versucht, die Kuangsi-Generale an sich zu binden, indem sie Li Tsung-jen zum Mitglied des Ständigen Ausschusses des Militärkomitees in Nanking und Pai Ch'ung-hsi zum neuen Gouverneur von Chekiang ernannte. Doch Li und Pai waren nicht bereit, der Aufforderung Nankings, ihre neuen Ämter in der Zentrale und in Chekiang zu übernehmen, nachzukommen, obgleich sie am 2. August von Chiang noch einmal telegrafisch dazu aufgefordert wurden 181 . Zwar räumten jetzt die Kuangsi-Truppen auch die Stadt Wuchou an der Grenze zwischen Kuangtung und Kuangsi, aber zugleich marschierten drei Divisionen etwas weiter südlich in Kuangtung ein. Noch einmal drohte der Ausbruch offener Feindseligkeiten. Chiang flog am 11. August selbst nach Kanton, und von dort entsandte er am 12. einen Vertreter nach Nanning, um Friedensgespräche einzuleiten. Drei Tage später, am 15. August, kam ein Unterbefehlshaber Li Tsung-jens, Li P'in-hsien, nach Kanton und besprach mit Chiang die Möglichkeiten einer Einigung. Auch Huang Shao-hsiung schaltete sich jetzt ein und versuchte, zwischen Chiang und seinen alten Kollegen aus Kuangsi zu vermitteln. Noch blieb man in Nanning allerdings intransigent. Zusammen mit dem aus dem Hongkonger Exil nach Kuangsi gekommenen Ts'ai T'ing-k'ai, unternahmen Li und Pai am 19. August einen zweiten Versuch zur Bildung einer Gegenregierung, deren Vorsitz Li Tsung-jen übernehmen sollte, und am 27. kam es im Grenzgebiet zwischen Kuangsi und Kuangtung zu ersten Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und Soldaten der Kuangsi-Armee. Erst als sich Chü Cheng und Chu P'ei-te am 1. September mit einem Verhandlungsangebot der Nationalregierung nach Nanning begaben, zeichnete sich eine Möglichkeit zur endgültigen Beilegung des Konflikts ab. In dreitägigen Gesprächen wurde eine Kompromißlösung ausgehandelt, der Chiang am 4. September seine Zustimmung gab: 1. Die Kuangsi-Generale sollten ihre Gegenregierung auflösen, sich mit der Abschaffung der Sonderorgane des Südwestens in Kanton einverstanden erklären und beginnen, die Steuererträge aus ihrer Provinz, welche der Nationalregierung zustanden, nach Nanking abzuführen; 2. als Gegenleistung würde sich die Nationalregierung verpflichten, den Kuangsi-Truppen Subsidien zu zahlen; 181

Telegramm Chiang Kai-sheks an Li Tsung-jen und Pai Ch'ung-hsi vom 2. 8 . 1 9 3 6 (KMT-Archiv).

34»

532

XII· Kapitel:

Parteiregierung

und Fraktionskämpfe

bis 1936

3. das Amt des „Befriedungskommissars" für Kuangsi sollte Li Tsungjen übertragen werden, während Pai Ch'ung-hsi als Mitglied des Ständigen Ausschusses des Militärkomitees nach Nanking kommen und Huang Shao-hsiung wiederum die Position des Gouverneurs von Chekiang übernehmen würde; und 4. die Nationalregierung mußte ihre Bereitschaft erklären, Ts'ai T'ingk'ai zu begnadigen, der sich seinerseits Nanking unterstellen sollte. Bereits am 6. September sprach die Nationalregierung die Ernennungen für Li, Pai und Huang aus, am 9. berief Chiang den gleichzeitig von der Zentrale begnadigten Ts'ai T'ing-k'ai zum Befehlshaber der 7. Feldarmee, die aus Einheiten seiner alten 19. Feldarmee bestand, und am 10. telegrafierten Li und Pai an Chü Cheng und die anderen Mitglieder der Vermittlungsdelegation, daß sie ihre neuen Ämter mit Wirkung vom 16. September übernehmen würden 182 . Damit war die Gefahr eines Bürgerkrieges endgültig gebannt. Wenn es Chiang audi nicht gelang, die Autonomie der Provinz Kuangsi zu beenden, so bedeutete doch schon die Eingliederung Kuangtungs in den unmittelbaren Herrschaftsbereich der Nationalregierung einen großen Gewinn für Nanking. Vor allem aber war der südchinesische Regionalismus durch die Ereignisse des Sommers 1936 tödlich getroffen. Mit der Auflösung der „Südwestlichen Zweigorganisation des PR" verschwand die letzte Führungsgruppe innerhalb der KMT, welche der Zentrale ernsthafte Oppositon entgegenzusetzen vermocht hatte. Seither war Nanking nur noch in Kuangsi, Ssuch'uan, Yünnan, Kansu, den Provinzen der Inneren Mongolei, Shansi, den Nebenländern Hsinkiang und Tibet und in beschränktem Maße auch in Shantung mit autonomen Provinzverwaltungen konfrontiert, die jedoch kaum in der Lage waren, sich gegen die Regierung zu verbünden. Das Kerngebiet Chinas aber stand jetzt fest unter der direkten Kontrolle der Nationalregierung, und auch die halbautonomen Provinzen begannen, Nankings Anweisungen in stärkerem Maße als zuvor zu respektieren. Hier wirkte die Organisation der Partei, in der immer mehr Absolventen der zentralen Stätten der Kaderausbildung in Nanking aufzutreten begannen, als Instrument der Integration. Die Regionalmachthaber begannen im Winter 1936/37, deutlicher als bisher den Druck der lokalen Parteizweige zu empfinden, die sie drängten, sich vollständig der Zentrale zu unterwerfen. Die Kommunikation der Entscheidungen der Füh181

Telegramm Li Tsung-jens und Pai Ch'ung-hsis an Chü Cheng u. a. v o m 10. 9.1936 (KMT-Archiv).

Der Zusammenbruch des südchinesischen

Regionalismus

533

rung in die Städte und Dörfer Chinas, die bisher kaum funktioniert hatte, mußte sich in dem Maße verbessern, in welchem sich die Kontrolle Nankings über die Provinzen verstärkte. Auf diese Weise aber entwickelten sich seit dem Sommer und Herbst 1936 zum ersten Male jene Voraussetzungen, die nötig waren, um die nationalistische Einheitspartei in die Lage zu versetzen, ihr entwicklungspolitisches und sozialreformerisches Programm, das bis dahin nur in einigen Gebieten wirklich die Bevölkerung erreicht hatte, in die Tat umzusetzen.

XIII. Kapitel Die KMT und das Volk — Organisation, Propaganda und Kontrolle Die Partei und ihre

Massenorganisation

Angesichts der Auseinandersetzungen innerhalb der KMT, der Aktivität kommunistischer Partisanen in Südchina und der fortgesetzten japanischen Aggression im Norden des Landes gewann die Unterstützung der Massen des Volkes für die nationalistische Einheitspartei zunehmende Bedeutung. Es galt für Nanking, deren Zustimmung zu gewinnen, wenn die Nationalregierung trotz ihrer großen innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten ihr Programm dennoch verwirklichen wollte. Hinzu kam, daß die K M T genötigt war, sich um eine Verbesserung der Möglichkeiten der Kommunikation des Willens der Führung an die Bevölkerung zu bemühen, um sich gegen die retardierenden Kräfte in den Provinzen des Landes durchsetzen zu können. Hier entstand nun ein Dilemma. Ein wirklicher Konsens der Massen war nur zu erreichen, wenn die K M T jene Reformen durchführte, die den Lebenswünschen des Volkes, besonders der Bauern, entsprachen. Um solche Reformen aber zu verwirklichen, bedurfte es der Schaffung von praktikablen Instrumenten der Willensvermittlung, mit deren Hilfe auch die Dörfer Chinas erreicht werden konnten. Das Mittel, das hier eingesetzt werden konnte, waren die von der Partei aufgebauten Massenorganisationen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich in diesen Verbänden infolge der Ereignisse des Jahres 1927 eine bedeutsame Strukturwandlung vollzogen hatte. Bis zum Bruch der K M T mit den Kommunisten waren die Massenorganisationen halb selbständige Verbände, die im Spiel der politischen Kräfte eigenes Gewicht zu entwickeln vermochten. Sie konnten auf diese Weise mancherorts als Instrument des gesellschaftlichen Wandels auftreten. Nach 1927 aber wurden sie zu reinen Ausführungsorganen der Parteihierarchie degradiert und dienten im wesentlichen als Instrument der Erziehung und Kontrolle der Massen.

Die Partei und ihre Massenorganisation

535

Diese Wandlung erfuhr ihre Ratifikation durch die Beschlüsse des 4. Plenums des II. ZEK im Februar 1928, auf die bereits hingewiesen wurde 1 . Hinfort waren die Verbände der einzelnen sozialen Gruppen im Volk rigoros der „Führung und Anleitung durch die Partei" unterstellt. In der Praxis bedeutete das, daß mit der Billigung der Zentrale fungierende Massenorganisationen nur dort bestehen durften, wo bereits Parteizweige der KMT vorhanden waren. Diese wurden jedoch in den Dörfern und kleineren Städten Chinas meist von der Honoratiorenschicht und anderen Grundbesitzerfamilien kontrolliert. Sie ließen sich deshalb als Mittel zur Durchsetzung sozialer Reformen nur schwer einsetzen. Nicht selten führte die Leitung der Verbände durch die lokalen Parteibüros dazu, daß diese die von Nanking eingeleiteten Reformmaßnahmen zu sabotieren halfen. Trotz der restriktiven Politik gegenüber den Massenorganisationen wäre es falsch, anzunehmen, daß die KMT deren Aufbau völlig vernachlässigt hatte. Sie bemühte sich vielmehr — vor allem seit 1929 — sehr stark darum, diese Verbände im Lande zu verbreiten, wobei sie allerdings großen Wert darauf legte, keinesfalls die Kontrolle über sie zu verlieren. Im Vordergrund der Politik gegenüber den Massenorganisationen stand seither der Gedanke, daß diese einen wesentlichen Beitrag zur Erziehung des Volkes zu leisten hätten. In der Zeit von 1929 bis 1931 entwarf die Parteiführung eine ganze Reihe von Plänen zum Ausbau der Verbände der Bauern und Arbeiter 2 . Ihre tatsächlichen Erfolge auf diesem Gebiet blieben jedoch sehr begrenzt. Sie zeigten sich vor allem im Bereich der Gewerkschaftsbewegung. Auch hier gab es zwar erhebliche Schwierigkeiten, es gelang aber, eine Reihe von Fortschritten sowohl in der Organisation als auch bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu erzielen, vor allem unter den Facharbeitern in Kanton, Shanghai und Wuhan 3 . Nach dem Bruch mit den Kommunisten stützte man sich bei dem Aufbau der Gewerkschaftsbewegung nicht selten auf die traditionellen Gilden der Handwerker, und man versuchte, die Gilden in Gewerkschaften modernen Stils zu verwandeln. Wo dies nicht gelang, führte in den städtischen Zentren der Aufbau neuer Industrien zum Verfall der herkömmlichen Organisationsform. Wo es gelang, entstanden hingegen einsatzfähige Gewerkschaftsverbände 4 . 1 2 3

4

Siehe oben, S. 261 und 298! Vgl. hierzu: Tsou Lu, op. cit., p. 89 f. Ta Chen (Ch'en Ta), „Chapter XVIII — Labour", in: China Year Book 1931—32, hier vor allem: p. 494—496. Vgl. dazu: Ma, op. cit., Bd. III, p. 863—1057. Ta Chen, loc. cit., p. 491.

536

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

Wesentlich größere Schwierigkeiten stellten sich dem Aufbau der Massenorganisationen auf dem Lande entgegen. Die nach 1927 „reorganisierten" Bauernverbände waren oft nicht mehr als Werkzeuge der Grundbesitzer, mit deren Hilfe diese sich weiterhin die Kontrolle über die Landbevölkerung sicherten. Versuche der Zentrale, diese Situation zu ändern, scheiterten am Widerstand der lokalen Parteibüros. Trotz vieler Fehlschläge bemühte sich die Partei weiter um die Ausbreitung der Massenorganisationen, und dabei wurde das erzieherische Moment immer stärker betont. So verabschiedete das 4. Plenum des I I I . Z E K am 17. November 1930 einen Katalog von Aufgaben für die Mitglieder der Partei, der deutlich machte, daß der Führung mehr daran lag, ein gefügiges Volk zu erziehen als daran, die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft zu fördern. Man wies die Studenten an, „sich ernsthaft um ihr Studium zu bemühen und einen guten Charakter zu entwickeln". Die Arbeiter sollten „die Steigerung der Produktion und die Verbesserung ihrer Fertigkeiten als höchste Pflicht gegenüber der Partei betrachten", die Kaufleute sich um die „Beseitigung von Spannungen zwischen Kapital und Arbeit" bemühen und die Bauern ihre Produktionsmethoden verbessern 5 . Der Entschluß Nankings, einen „Nationalkonvent" einzuberufen, führte dann aber im Winter 1930/31 dazu, daß die berufsständischen Verbände schließlich doch an Bedeutung gewannen. Da man sie zu Wahlkörperschaften für den Konvent machte, gelang es ihnen in jenen Provinzen, die unter der direkten Kontrolle der Nationalregierung standen, ihre Organisation zu festigen und im Zusammenhang mit dem Wahlakt audi auszubreiten. Kaum je zwischen 1927 und 1937 sind so viele neue Zweige dieser Verbände in kurzer Zeit entstanden, wie gerade im Frühjahr 1931, als die Delegierten des Nationalkonvents gewählt wurden. Ein neuer Ansatz ergab sich nach der Einigung zwischen Nanking und Kanton im Dezember 1931. Jetzt übernahm Ch'en Kung-po den Vorsitz des „Komitees für Massenbewegungen beim Z E K " . Ch'en, der neben Wang Ching-wei der einflußreichste Führer des linken Flügels der K M T war, hatte sich bisher in der Opposition immer wieder für eine Revolutionierung der Massenorganisationen und eine größere Selbständigkeit dieser Verbände eingesetzt®. Unter seinem Einfluß beschloß bereits das 5

Stichwortprotokoll des 4. Plenums des III. Z E K der K M T vom 12. bis zum 18. 11. 1930 (hier: Protokoll der Sitzung vom 17. 11. 1930) (KMT-Archiv). Eine gekürzte englische Übersetzung findet sich in: China Year Book 1931—32, p. 526.

6

Vgl. u . a . : Ch'en Kung-po, „The So-Called Left Wing", in: Wang Ching-wei u.a., op. cit., p. 80—93 (hier vor allem: p. 89 ff.); auch: ibid., p. 108.

Die Partei und ihre

Massenorganisation

537

1. Plenum des IV. 2EK neue Richtlinien, die sich von denjenigen, welche man im Februar 1928 verabschiedet hatte, nicht unerheblich unterschieden: 1. Die Massenorganisationen sollten hinfort nicht mehr den lokalen Parteizweigen, sondern unmittelbar den Provinzbüros der K M T unterstehen; 2. man bestimmte, daß das Leitungspersonal dieser Verbände in Zukunft von deren Mitglieder gewählt werden müsse, wobei allerdings das Komitee für Massenbewegungen bei der Parteizentrale ein Einspruchsrecht erhielt; und 3. von jetzt an sollte der Aufbau lokaler Vereinigungen der Massenorganisationen audi dort möglich sein, wo keine Parteizweige der K M T bestanden.

Die Aufgaben der Massenorganisationen verstand man jedoch weiterhin im Sinne der Beschlüsse des III. Parteikongresses. Sie blieben also im wesentlichen erzieherischer Natur 7 . Die neuen Richtlinien waren aber zweifellos dazu angetan, die Selbständigkeit der Verbände zu fördern. Unter dem Eindruck der antijapanischen Studentenbewegung im Jahre 1932, die für Nanking eine erhebliche außenpolitische Belastung bedeutete, sah sich das 3. Plenum des IV. ZEK im Dezember 1932 allerdings zu einer erneuten Modifikation der Grundsätze für den Aufbau der Massenorganisationen veranlaßt. Seine Beschlüsse bedeuteten in manchem eine Rückkehr zur Situation von 1928, wenn man auch daran festhielt, die lokalen Vereinigungen in direkte Verbindung mit der Zentrale zu bringen: Es wurde ein „Aufbaustadium" im Vollzug der Organisation der Massenverbände eingeführt. In dieser Periode hatte die Parteizentrale das Recht, das Leitungspersonal selbst zu berufen. Die Kader der Verbände sollten fortan nach Möglichkeit Kurse im „Zentralen Ausbildungskorps" in Nanking absolviert haben. Eine Beteiligung der Massenorganisationen an der Bestellung des Regierungspersonals — vor allem der Mitglieder des Legislativyüans — war im Gegensatz zu den Beschlüssen des 1. Plenums des IV. ZEK, im Dezember 1931, nicht mehr vorgesehen. Vor allem aber wurde die Bildung zentraler Organe für die Verbände, die man unter dem Einfluß Ch'en Kung-pos im Laufe des Jahres 1932 vorbereitet hatte, auf unbestimmte Zeit verschoben. Zusammenschlüsse für das ganze Land gab es bis 1937 nur f ü r die Gewerkschaften 8 .

Noch stärker als bisher wurden in den Jahren nach 1932 die Erziehungsaufgaben der Massenorganisationen betont. So beschloß das 5. Ple7

Beschluß über die Organisation der Volksmassen, verabschiedet vom 1. Plenum des IV. ZEK der K M T am 26. Dezember 1931, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 510.

8

Politische Maßnahmen zur Förderung der Volksorganisationen, beschlossen vom 3. Plenum des IV. ZEK am 21. Dezember 1932, ibid., p. 547—550.

538

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

num des IV. ZEK im Dezember 1934, ihnen einen Teil der Verantwortung für die Einführung der allgemeinen Schulpflicht zu überlassen9. Soziale Wandlungen versprach man sich in der Führung der KMT offenbar vor allem von einer Hebung des Bildungsstandes und davon, daß man das Volk zu „größerer Tugendhaftigkeit" erziehen wollte. Dies wurde besonders deutlich in dem Katalog der „Zwölf Regeln für Mitglieder der KMT", den der V. Parteikongreß im November 1935 aufstellte und der über die Parteimitglieder hinaus für alle Bürger des Landes verbindliche Verhaltensregeln geben sollte: „1. Kühnheit und Würde sind die Grundlage des Nationalismus. 2. Ehrfurcht der Kinder vor den Eltern ist die Grundlage eines gesunden Familienlebens. 3. Güte ist die Grundlage der Menschenbehandlung. 4. Redlichkeit ist die Grundlage eines erfolgreichen Geschäftslebens. 5. Friedfertigkeit ist die Grundlage zur Regelung aller Angelegenheiten. 6. Ein geregeltes Verhalten im Alltag (Etikette, d. Verf.) ist die Grundlage der Führerschaft. 7. Gehorsam ist die Grundlage der Pflichterfüllung. 8. Fleiß und Aufmerksamkeit sind die Grundlage des Dienstes am Volk. 9. Sauberkeit ist die Grundlage der Gesundheit. 10. Anderen zu helfen, ist die Grundlage des persönlichen Glücks. 11. Lernen ist die Grundlage der Rettung der Welt. 12. Ausdauer ist die Grundlage des Erfolges 10 ."

Hier handelte es sich um ein zutiefst konservatives Programm, wie denn überhaupt der Versuch, die herkömmlichen Tugenden der klassischen chinesischen Philosophie zu neuem Leben zu erwecken, die Politik der KMT-Führung in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Krieges gegen Japan wesentlich bestimmt. Dies war das Ergebnis der Bemühungen Chiang Kai-sheks und seiner Anhänger in der Bewegung „Neues Leben" (Hsin sheng-huo yün-tung), deren Bedeutung noch untersucht werden soll11. Bis zum Beginn des Jahres 1937 hatte die KMT beim Aufbau der Massenorganisationen gewiß einige Erfolge zu erzielen. Von der Erfassung des ganzen Landes oder auch nur des größten Teils der Regionen Chinas war man aber noch weit entfernt. Im folgenden soll eine Zusammenstel' Siehe oben, Anm. 150 zum XIII. Kapitel! Zwölf Regeln für das Leben der Mitglieder der KMT, verabschiedet vom V. Parteikongreß der KMT am 18. November 1935, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 643 f. Vgl. hierzu: Tsou Lu, op. cit., p. 75 f. 11 Siehe unten, S. 550 ff.!

10

Die Partei und ihre

Massenorganisation

539

lung über die Stärke der Verbände aus dem Februar 1937 wiedergegeben werden: I. Berufsverbände A. Bauern Vereinigungen: Mitgliederzahl: 3.468.100 2 Provinzvereinigungen (ohne Tungpei gab es damals in China 24 Provinzen) 4 Bauernvereinigungen in reichsunmittelbaren Großstädten (insgesamt gab es 7 solcher Großstädte) 715 Landkreisorganisationen (von 1.941). B. Gewerkschaften: Mitgliederzahl: 1.530.830 2 zentrale Verbände 102 Großstadt- und Landkreisorganisationen (von 1.948) 3.001 Zweigvereinigungen 11 Eisenbahnergewerkschaften C. Kaufmannsvereinigungen: 7 Provinzverbände (von 24) 7 Verbände in den reichsunmittelbaren Großstädten 1.186 Verbände in Landkreisen (von 1.941) D. Verbände der freien Berufe: Insgesamt 316 Vereinigungen II. „Gesellschaftliche Organisationen": A. Studentenverbände: 91 Studentenvereinigungen an Universitäten und Hochschulen (von 111) 1.391 Schülervereinigungen an Sekundärschulen B. Frauenverbände: 14 Provinzvereinigungen (von 24) 268 Vereinigungen in Großstädten und Landkreisen (von 1.948).

Außerdem wurden in dieser Aufstellung noch 106 wissenschaftliche Gesellschaften, 14 Literatur- und Kunstzirkel, 13 Vereinigungen für internationale Zusammenarbeit, 14 religiöse Gesellschaften und 153 Sportvereine gezählt12. "Wohl unter dem Eindruck dieser Untersuchungsergebnisse entschloß sich das 3. Plenum des V. ZEK im Februar 1937, die Bemühungen um den Aufbau der Massenorganisationen erheblich zu intensivieren. Man verabschiedete einen Drei-Stufen-Plan, der vorsah, daß zunächst Propagandatrupps gebildet werden sollten, um die Gründung von lokalen Zweigorganisationen vorzubereiten. Diese Trupps erhielten den Auftrag, nach möglichem zukünftigem Führungspersonal Ausschau zu halten, das dann in der zweiten Stufe des Aufbaus in der Zentrale ausgebildet werden sollte. Schließlich wollte man, mit Hilfe dieses Personals, selbstän1!

Alle Zahlenangaben nach: Tsou Lu, op. cit., p. 90—94.

540

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

dige Massenorganisationen gründen 13 . Diese Beschlüsse bedeuteten eine teilweise Rückkehr zu den Prinzipien, die in der Periode der Reorganisation, 1924/25, unter dem Einfluß Sun Yat-sens in Kanton entwickelt worden waren. Sie bestätigten den Grundsatz der Trennung der Massenorganisationen von den lokalen Parteizweigen und deuten so darauf hin, daß die Führung der KMT das entscheidende Problem beim Aufbau der Massenorganisationen erkannt hatte. Nur wenn es gelang, diese Verbände unter Umgehung der lokalen Instanzen der Partei unmittelbar mit der Zentrale in Verbindung zu bringen und ihren Aufbau von Nanking aus zu kontrollieren, konnten sie sich zu Instrumenten der Reformpolitik entwickeln, wie das Land sie brauchte. Dieses Problem, mit dem die KMT sich 1937 in China konfrontiert sah, stellt sich in gleicher Weise auch heute noch in den meisten Entwicklungsländern. Ausbildung und Einsatzfähigkeit von Kadern, die einer Modernisierung der sozialen und ökonomischen Strukturen verpflichtet sind, entscheiden über Erfolg oder Mißerfolg der Entwicklungspolitik. Die KMT aber litt seit dem Bruch mit den Kommunisten daran, daß sie nicht über eine ausreichende Menge ausgebildeter Kader verfügte, um mit ihrer Organisation die Gebiete, welche die Nationalregierung kontrollierte — oder gar das ganze Land —, zu durchdringen. Dem Mangel an ausgebildetem Personal für den zivilen Parteiapparat hoffte man mit der Gründung der „Zentralen Parteischule" in Nanking zu begegnen, aus der sich dann das „Zentrale Politische Institut" entwickelte. Hier wurden in einem vierjährigen Kursus Verwaltungsbeamte und Leiter lokaler Partei- und Massenorganisationen ausgebildet, die ab 1932 in zunehmendem Maße die Ausführung der Entscheidungen übernehmen mußten, welche die Zentrale fällte. Als Ausbildungsplätze der Kader der KMT kamen also vor allem die aus der Huangpu-Akademie entwickelte „Zentrale Militärakademie" (Chung-yang lu-chün chün-kuan hsüeh-hsiao) und das „Zentrale Politische Institut" (Chung-yang cheng-chih hsüeh-hsiao) in Betracht. Welcher Art war nun das Personal, das diese beiden Schulen ausbildeten? Uber die soziale Struktur der Absolventen der Militärakademie und des politischen Instituts in den Jahren von 1932 bis 1936 liegen uns keine zuverlässigen Angaben vor. Ich habe deshalb den Versuch unternommen, eine Befragung bei den mir selbst bekannten Absolventen beider Schulen 13

Beschluß über die Drei-Stufen-Arbeit in der Massenbewegung, angenommen auf dem 3. Plenum des V. ZEK der K M T am 20. Februar 1937, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 805—808.

Die Partei und ihre

Massenorganisation

541

(aus jenen Jahren) durchzuführen, um etwas über ihre Herkunft in Erfahrung zu bringen. Der Kreis, der befragt wurde, umfaßt 69 Graduierte des Politischen Instituts und 57 Graduierte der Militärakademie. Die Auswahl wurde ausschließlich durch den Zufall bestimmt, und deswegen können die folgenden Angaben keineswegs als repräsentativ gelten. Sie werden hier nur wiedergegeben, weil es im übrigen überhaupt kein Material zur soziologischen Struktur der unteren zivilen und militärischen Kader der KMT aus der Zeit vor 1937 gibt. Dabei werden die gleichen Kriterien benutzt, die in dieser Studie sonst bei der Analyse der sozialen Struktur in den ZEK angewandt wurden: Tab. 12: Altersgruppen

bei den untersuchten

Kadern:

(Maßgeblich ist das Alter zur Zeit des Eintritts in die betr. Schule) Altersgruppe Zentr. Pol. Institut Zentr. Militärakademie unter 20 Jahren 11 14 20 bis 25 Jahre 42 39 26 bis 30 Jahre 12 3 über 30 Jahre 4 1

Das Durchschnittsalter zur Zeit des Eintritts in die Schule betrug bei den 69 Absolventen des „Zentralen Politischen Instituts" 22 Jahre, bei den 57 Absolventen der Militärakademie 20,9 Jahre. Tab. 13: Herkunftsprovinzen Provinz Chekiang Kiangsu Kuangtung Anhui Hupei Honan Hunan Ssuch'uan andere Provinzen Auslandschinesen

der untersuchten

Kader:

Zentr. Pol. Institut 21 17 9 6 4 4 1 1 3 3

Zentr. Militärakademie 9 4 2 7 3 4 15 6 5 2

Hier lassen sich zwischen den beiden Kadergruppen erhebliche Unterschiede feststellen. Während bei den zivilen Kadern von 69 insgesamt 50 aus Küsten- und nur 19 aus Inlandsprovinzen stammten, war das Verhältnis bei dem Offiziersnachwuchs der Jahre von 1932 bis 1936 — jedenfalls nach dieser Untersuchung — etwa umgekehrt: 41 kamen aus dem Inneren des Landes und nur 16 aus Küstenprovinzen. Dagegen ist beiden Gruppen wiederum gemeinsam, daß ihre Mitglieder mehrheitlich aus den Gebieten südlich des Yangtzu stammten. Bei den Absolventen des „Zentralen Politischen Instituts", die ich befragen konnte, waren es 54 von 69, bei denjenigen der Militärakademie 44 von 57.

542

XIII. Kapitel: Die KMT und das Volk

Tab. 14: Ausbildungsstätten vor dem Eintritt in das betr. Institut: Ausbildungsstätte Zentr. Pol. Institut Zentr. Militärakademie Universitäten im Ausland 3 1 (davon USA) (2) (1) (davon Deutschland) (1) (-) graduiert von chin. Uni ν 10 4 von chin. Univ. übergewechselt . . 14 11 Militärakademien 12 — chinesische Sekundärschulen . . . . 27 35 keine formelle Ausbildung 3 6

Während also beim „Zentralen Politischen Institut" in dieser Gruppe nur fast 40 % direkt von der Sekundärschule kamen, waren es bei der Militärakademie über 60 %. Aus dieser Tatsache erklärt sich auch die Differenz im durchschnittlichen Eintrittsalter zwischen beiden Gruppen. Tab. 15: Soziale Herkunft der beiden untersuchten Gruppen: Herkunftsgruppe Zentr. Pol. Institut aus Familien der Honoratiorenschicht . . 17 aus anderen Grundbesitzerfamilien . . . . 9 aus Bauernfamilien 4 aus Kaufmannsfamilien 13 aus Fam. westl. erzogener Intelligenz . . . . 12 aus Handwerkerfamilien 5 aus Facharbeiterfamilien 2 keine präzisen Angaben 7

Zentr. Militärakad. 16 7 10 3 9 9 — 3 14

Gemeinsam ist beiden Gruppen, daß die Mehrheit von ihnen jeweils aus Familien von Grundbesitzern, des Großbürgertums und der städtischen Mittelschichten stammte, also aus jenen Gruppen der Gesellschaft, aus denen sich auch die Mehrheit der Parteimitglieder rekrutierte. Bei den zivilen Kadern scheint der Anteil dieser Kreise mit 56 von 69 noch etwas größer gewesen zu sein als beim Offiziersnachwuchs — hier: 44 von 57. Vor allem die untersuchte Gruppe ziviler Kader war zweifellos regional zu einseitig und zu sehr küstenorientiert zusammengesetzt, doch scheint 14

Die Befragungen, auf welchen die hier zusammengestellten Ergebnisse beruhen, wurden in der Zeit vom April 1963 bis zum Januar 1964 und im August und September 1964 in T'aiwan und Hongkong durchgeführt. Es muß noch einmal betont werden, daß sie nicht notwendigerweise für die Zusammensetzung der Kader der KMT und des Offiziersnachwudises in den Jahren von 1932 bis 1937 repräsentativ sind. Ku Cheng-kang, der damals eine leitende Position im Massenorganisations-Apparat der Partei einnahm — er war Jugendsekretär beim Komitee für Massenbewegungen — erklärte dem Verfasser am 6. Oktober 1964, diese Ergebnisse stimmten ungefähr mit seinen eigenen Beobachtungen überein. Das gleiche sagte H o Ying-ch'in im Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964 mit Bezug auf die Absolventen der Zentralen Militär-Akademie.

Instrumente

und Methoden der

Kontrolle

543

sich hier das Bild unmittelbar nach 1936 erheblich geändert zu haben; denn schon 1937 graduierten vom „Zentralen Politischen Institut" offenbar eine ganze Anzahl von Studenten aus der Inlandsprovinz Kiangsi. Auch trug die untersuchte Gruppe ziviler Kader einen noch stärker Urbanen Charakter als die Führungsgruppen der KMT seit 1924. Wenn man die Massen der Bauern in den Dörfern des Landesinneren erreichen wollte, so scheinen dafür die jungen Offiziere eher als die neu ausgebildeten zivilen Kader der Partei geeignet gewesen zu sein. Unter ihnen fanden sich jene Leute, welche die Zentrale gebraucht hätte, um ihre Reformpolitik in die Dörfer zu tragen. Die jüngeren Militärs waren seit 1927, vor allem aber nach 1932, zur bedeutsamsten Kaderreserve der KMT geworden.

Instrumente und Methoden der Kontrolle Auch nach der Niederlage der regionalen Militärmachthaber alten Stils in den Jahren von 1926 bis 1928 standen starke Kräfte im Lande im Gegensatz zum Programm und Personal der Nationalregierung, Kräfte, die aus den verschiedensten Motiven und unter Anwendung der unterschiedlichsten Methoden Widerstand leisteten. Unter ihnen sind vor allem fünf zu nennen: der militärische Regionalismus der Kuangsi-Gruppe und der Generale des Nordens; die Autonomiebestrebungen der Provinzen des Landesinneren, des Südens und Westens; die Beharrungstendenzen der herkömmlichen Führungsgruppen in den Dörfern; der an westlichen Vorbildern orientierte Liberalismus starker Gruppen der städtischen Intelligenz; und der Kommunismus, der sich im Partisanenkampf Mao Tse-tungs und in der Untergrundarbeit städtischer Zellen der K C T manifestierte. Um sich gegen diese Kräfte durchzusetzen, bediente sich die Führung der KMT unterschiedlicher Instrumente und Methoden, und zwar mit ebenso unterschiedlichem Erfolg. Gegenüber dem militärischen Regionalismus und den Autonomiebestrebungen der Provinzen wurde vor allem die Armee eingesetzt. Schon in den Bürgerkriegen von 1929/30 gelang es ihr, mit so großem Erfolg gegen die Bürgerkriegsarmeen der Gegner zu kämpfen, daß nach 1931 alle Versuche regionaler Militärs, die Nationalregierung auf dem Wege

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Die KMT und das Volk

der bewaffneten Insurrektion zu stürzen, im Keim erstickt werden konnten. In dem Maße, in dem die „Zentralarmee" stärker, besser ausgerüstet und besser ausgebildet wurde, verstärkte sich in den letzten Jahren vor 1937 der Einfluß Nankings im Lande15. Offener Widerstand provinzieller Machthaber wurde ein so gefährliches Unterfangen, daß man es vorzog, auf ihn zu verzichten, und sich lieber formell der Zentrale unterstellte. Im Kampf gegen den Regionalismus und auch gegen die kommunistischen Partisanenverbände entwickelten sich die Armee zum bedeutsamsten Herrschaftsinstrument der KMT-Führung. Gleichermaßen stieg jedoch audi der Einfluß ihrer Generale auf den politischen Entscheidungsprozeß in der Zentrale und ihr Anteil am Leitungspersonal. Durch den Konflikt mit Japan weiter gefördert, vollzog sich so ein Militarisierungsprozeß, der sich — nur im Jahre 1931 durch besondere Umstände unterbrochen — an der Vertretung der Militärs im ZEK quantitativ ablesen läßt: 1926:16 °/o, 1929: fast 40 % , 1931: fast 3 8 % und 1935:42 °/o. Doch gegenüber den Autonomiebestrebungen in den Provinzen, die nicht zum offenen Aufstand schritten, und vor allem gegenüber den beharrenden Kräften der lokalen Führungsgruppen konnte die Armee kaum mit Erfolg eingesetzt werden. Hier mußte die Parteiorganisation als Kontroll- und Herrschaftsinstrument eintreten. Es galt für Nanking, die traditionellen Autoritäten mit Hilfe von Kadern, die man in der Zentrale ausgebildet hatte und die der Parteiführung wie auch deren Modernisierungsprogramm verpflichtet waren, zu „unterlaufen". Es hat den Anschein, als seien diese Bemühungen mancherorts durchaus erfolgreich gewesen, vor allem gegenüber den autonomistisch orientierten Provinzbehörden. Von Jahr zu Jahr breitete sich der unmittelbare Herrschaftsbereich der Zentrale weiter aus, aber das Ausmaß, in dem sich der Wille der Führung in den Dörfern und Landstädten durchsetzte, ließ auch 1937 noch sehr vieles zu wünschen übrig. Hier wirkten sich die Beherrschung vieler lokaler Parteizweige durch die herkömmlichen Führungsgruppen und die institutionelle und funktionelle Schwäche der Massenorganisationen nachteilig aus. Nur eine erhebliche Verstärkung der zentral ausgebildeten Kader hätte Abhilfe schaffen können. Sie wäre auch unter Berücksichtigung der begrenzten Kapazität der zivilen Ausbildungsstätten in Nanking möglich gewesen, wenn man die Absolventen der Militärakademien der Nätionalregierung im zivilen Parteiapparat eingesetzt hätte. Dies geschah seit 1934 in der Provinz Kiangsi, und es hat den Anschein, als habe man die dort gesammelten Er15

Siehe unten, S. 584 f.!

Instrumente und Methoden der

Kontrolle

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fahrungen ab 1936 schrittweise audi andernorts auswerten wollen. Doch der Ausbruch des Krieges mit Japan setzte diesen Bemühungen ein Ende. Während 1932 erst 216 Absolventen der „Zentralen Militärakademie" in den Lokalverwaltungen und 388 in örtlichen Parteibüros tätig waren, stiegen diese Zahlen bis zum Sommer 1937 auf 841 bzw. 1.024 an 16 . Die meisten von ihnen scheinen aber nach dem Ausbruch des Krieges in den aktiven Militärdienst zurückgekehrt zu sein, und ihre Funktionen wurden offenbar in vielen Fällen wieder von lokalen Honoratioren übernommen. Es gelang der KMT-Führung also nicht, die Widerstände der herrschenden Gruppen auf dem Lande zu überwinden, ein erheblicher Teil der Reformbemühungen, die von der Zentrale ausgingen, blieb daher stedcen, ehe er die Bevölkerung wirklich erreichte. „Erfolgreicher" war man hingegen in der Auseinandersetzung mit den städtischen Zellen der K C T und mit der liberalen Intelligenz. Nachdem es 1932/33 gelungen war, mit Hilfe der politischen Polizei die kommunistische Organisation in den Großstädten Ostchinas zu zerschlagen17, entschloß man sich in Nanking dazu, auch gegen die liberale Opposition Polizeigewalt einzusetzen. Hier hatte die Führung der K M T drei Organisationen zur Verfügung, auf die sie sich bei ihren Kampagnen gegen die Opposition stützen konnte: die zivile Geheimpolizei, welche der Polizeiabteilung im Innenministerium (Ching-wu- ssu) unterstand; die Politische Polizei des „Untersuchungsbüros im Justizministerium" (Ssu-fa hsing-cheng pu t'iao-ch'a ch'u); und die meist aus Soldaten bestehende Geheimpolizei der Parteizentrale unter der Führung von General Tai Li, die noch mehr als die beiden zuerst genannten Gruppen unter größter Geheimhaltung arbeitete 18 . Doch wenn es auch gelang, mit Hilfe dieser drei Kontrollinstrumente offen auftretende Opposition einzuschüchtern, so stand ihr Einsatz andrerseits den vor allem von der „Westberggruppe", der „CC-Clique" und der „Politisch-Wissenschaftlichen Vereinigung" betriebenen Bemühungen, die Intelligenz des Landes für die nationalistische Einheitspartei zu gewinnen, im Wege. Auch die K M T mußte erfahren, daß man 16

Min-kuo erh-shih-liu nien lu-chün kuan-hsiao jen-wu shou-ts'e (Personalhandbuch der Militärakademie für das Jahr 1937), hrsg. von der Zentralen Militärakademie, Nanking 1937, p. 43 ff.

17

Siehe unten, S. 611 f.! Angaben H o Ying-ch'ins im Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964 in T'aipei.

18

35

Domes

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Die KMT und das Volk

intellektuelle Opposition nur in theoretischen Auseinandersetzungen überzeugen oder mit Ämtern und Sonderleistungen zu korrumpieren, nicht aber langfristig zu unterdrücken vermag. Die Kontrolle der Regierung über die Bevölkerung in den Dörfern und Landstädten erfuhr in jenen Gebieten, aus denen die kommunistischen Partisanen vertrieben worden waren, durch die Anwendung eines aus chinesischen Traditionen entwickelten Überwachungsapparats, des sogenannten „Pao-cbia-Systems" (Pao-chia chih-tu) eine erhebliche Verstärkung. Schon im Sommer 1932 begann Chiang Kai-shek, in der Provinz Hupei Maßnahmen einzuleiten, die in Zukunft die Herrschaft der Partei auch auf der lokalen Ebene sichern sollten. Dabei dienten ihm Methoden als Vorbild, die der kaiserliche Vizekönig Tseng Kuo-fan in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Bekämpfung des T'aip'ing-Aufstandes in Hunan angewandt hatte. Wie damals Tseng, so griff jetzt audi Chiang auf Ordnungsformen zurück, die bereits zur Zeit der Sung-Dynastie um das Jahr 1000 n. Chr. Geb. in weiten Teilen Chinas eingeführt worden waren 19 . Nach einigen Experimenten in Hupei wurde im Oktober 1932 vom Hauptquartier Chiangs eine „Verordnung über die Registrierung der Bevölkerung in den Landkreisen im Gebiet der Banditenbekämpfung" erlassen, die zunächst in Honan, Hupei und Anhui Gültigkeit hatte, und die man seit 1933/34 auch in Kiangsi und Teilen von Fukien in Kraft setzte20. Diese Verordnung bestimmte, daß alle Familien, die in ihrem Gültigkeitsbereich lebten, jeweils eine Einheit unter einem bei der Lokalverwaltung registrierten Familienoberhaupt darstellten. An jedem Wohnhaus war ein Türschild anzubringen, das Namen und Siegel des Familienoberhauptes und die Anzahl und das Geschlecht der im Hause wohnenden Familienmitglieder, Gäste und Angestellten ausweisen mußte. Die örtlichen Behörden erhielten die Aufgaben, von Zeit zu Zeit die Richtigkeit der Angaben auf den Türschildern zu überprüfen. Jeweils zehn Familien sollten sich zu einem „Chia" zusammenschließen und die Familienoberhäupter aus ihrer Mitte den „Chia"-Vorsitzenden wählen. Zehn „Chia" wiederum bildeten ein „Pao", dessen Vorsitzender von den „Chia"Obleuten aus deren Mitte bestellt wurde. Die „Pao"-Obleute bildeten 19 20

Linebarger u. a o p . cit., p. 18. Die folgende Darstellung lehnt sich vor allem an die ausführliche Wiedergabe des Inhalts dieser Verordnung bei Amann, Bauernkrieg, p. 115—120, an. Der chinesische Text der Verordnung findet sich in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 2 5 . 1 0 . 1 9 3 2 . Vgl. hierzu: Fairbank, op. cit., p. 144 f. und: Tong, op. cit., p. 178 f.

Instrumente und Methoden der

Kontrolle

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dann den Konsultativrat eines Amtes (Hsiang), an dessen Spitze jeweils ein Staatsbeamter — vor allem in Kiangsi war es nicht selten ein Offizier — stand. Alle gesunden Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren wurden gesondert registriert und erhielten eine militärische Ausbildung, um als Dorfmiliz die Operationen der regulären Streitkräfte zu unterstützen, den Objektschutz zu übernehmen und nicht selten auch öffentliche Arbeiten auszuführen. Für solche Arbeitsleistungen konnte jede Familie gezwungen werden, eine Arbeitskraft zu stellen, doch durfte diese nur außerhalb der Erntezeit und insgesamt höchstens 40 Tage im Jahr eingesetzt werden. Den Pao- und Chia-Obleuten stellte man u. a. folgende Aufgaben: Sie mußten: die Grenzen der „ P a o " und „Chia" markieren und darüber Skizzen anfertigen oder anfertigen lassen; die Angaben auf den Türschildern überprüfen; die Bevölkerungswanderung kontrollieren und nach Möglichkeit beschränken; Feuersbrünste und Wassereinbrüche bekämpfen; einen Meldedienst für den Fall eines erneuten Auftretens kommunistischer Partisanen einrichten; Elektrische Leitungen, Brücken und Verkehrswege schützen; die Lokalsteuern eintreiben und über die zur Erfüllung ihrer Pflichten notwendigen Ausgaben Rechnung legen; sowie die örtlichen Behörden überwachen und sie bei der Kreisverwaltung anklagen, wenn sie ihre Pflichten vernachlässigten.

Die „Pao"-Vorsitzenden waren darüber hinaus im besonderen verpflichtet: die „Chia"-Obleute zu überwachen; die Verwaltungschefs der Ämter (Hsiang) zu beraten und bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen; den Arbeitseinsatz bei öffentlichen Bauten zu leiten und den von der Regierung festgelegten Arbeitsentgelt auszuzahlen; ehemalige Kommunisten „und andere Reaktionäre" zu überwachen; die Polizei und Armee bei Nachforschungen nach „Banditen" (i. e. Kommunisten, d. Verf.) und Kriminellen zu unterstützen; und Akten über diejenigen zu führen, die „ihre Pflichten verletzt" hatten.

Von großer Bedeutung für das Funktionieren des „Pao-chia-Systems" waren gegenseitige Bürgschaftserklärungen, die von jeweils fünf Familien unterschrieben wurden und zur Überwachung untereinander veranlaßten: „Hierdurch wird garantiert, daß die für diesen Chia angegebene Zahl von Personen und Familien wahrheitsgemäß angegeben wurde, und daß sie (eben diese Familien, d. Verf.) nicht schuldig sind, Kommunisten zu beherbergen oder mit den Banditen in Verbindung zu stehen. D i e Unterzeichneten verpflichten sich, zur Veranlassung der notwen35*

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digen Maßnahmen umgehend einen Bericht zu erstatten, wenn irgendein Vergehen festgestellt wird. Sollten die Unterzeichneten es unterlassen, einen solchen Beridit zu erstatten, erklären sie sich hiermit bereit, Strafe auf sich zu nehmen 21 ."

Wenn sich Mitglieder eines Chia der Beherbergung von Kommunisten oder gesuchten Kriminellen schuldig gemacht hatten, fielen nicht nur sie selbst den gesetzlich vorgesehenen Strafen anheim, sondern auch der Chia-Obmann und die männlichen, erwachsenen Mitglieder der gegenseitig bürgenden Familien konnten in diesem Fall mit 4 bis 30 Tagen Haft bestraft werden. So verband man erste Ansätze zur Bildung gewählter Selbstverwaltungsorgane und die Ausführung von Arbeiten, die im Interesse der Allgemeinheit lagen, mit einem System gegenseitiger Bespitzelung, das sich zwar bei der Bekämpfung der kommunistischen Partisanen als recht wirksam erwies, aber kaum funktionsfähige Massenorganisationen ersetzen konnte. Die Durchdringung der Bevölkerung mit geschulten, entwicklungsbewußten und zur Unterstützung von Reformmaßnahmen der Zentrale bereiten Kadern wurde auf diese Weise nicht erreicht. Dagegen stellte die Gründung von „Spezialverbänden" (T'e-pieh yüntung ta-tui: abgekürzt: „Pieb-tung tui") innerhalb der Armee in Kiangsi im Frühjahr 1933 einen erfolgversprechenden Ansatz zur Kaderbildung dar 22 . Diese Einheiten unterstanden dem Kommando des Generals K'ang Ch'e (auch: K'ang Chao-min), eines Mitgliedes der „Gruppe Wiedergeburt", sie waren in einem Armeekorps und fünf Sonderverbänden organisiert und umfaßten Anfang 1934 bereits 24.000 Mann. In die „Piehtung tui" wurden nur Freiwillige aufgenommen, die mindestens die Unterstufe einer Sekundärschule absolviert hatten. Fast alle waren Offiziere, annähernd 2.500 hatten die „Zentrale Militärakademie" besucht. Der Aufgabenbereich der „Pieh-tung tui" stellte eine Kombination der Pflichten von Geheimdienst, Militärpolizei und „Entwicklungshelfern" dar. Sie mußten versuchen, Nachrichten über die Bewegungen und Pläne kommunistischer Partisanen zu sammeln, Deserteure verhaften, Verdächtige durchsuchen, Haussuchungen vornehmen, die militärische Briefzensur ausüben und dafür Sorge tragen, daß die Armee sich keine 21

22

Zitiert nach: Amann, Bauernkrieg, p. 119. Der Text wurde vom Verfasser stilistisch leicht überarbeitet. Zum folgenden Absatz: Tong, op. cit., p. 181—183. Darüber hinaus stützt sich die Darstellung auf Angaben, die H o Ying-ch'in dem Verfasser im Interview am 11. September 1964 machte, und auf Berichte einiger ehemaliger Mitglieder der „Pieh-tung tui", darunter General Teng Ting-yüan (ζ. Z. Chef der nationalchinesischen Militärmission in Südvietnam).

Instrumente und Methoden der Kontrolle

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Ausschreitungen gegen die Bevölkerung erlaubte. Um die strenge Aufrechterhaltung der Disziplin zu gewährleisten, erhielten die Mitglieder der „Pieh-tung tui" nicht selten Weisungsbefugnis gegenüber höheren Offizieren, bis hinauf zum Rang eines Divisionsgenerals. Darüber hinaus hatten sie aber auch die Aufgaben, sich der Flüchtlinge aus Kampfgebieten helfend anzunehmen und in eroberten Bezirken Gesundheitspflege-Stationen, Schulen und Kurse für Erwachsene einzurichten sowie die örtlichen Milizverbände auszubilden. Die Bevölkerung konnte sich bei ihnen über lokale Verwaltungschefs und Honoratioren beschweren, die sich ungesetzlich verhielten, und sie hatten in solchen Fällen das Recht, unverzüglich Strafen zu verhängen. Alle Angehörigen der „Pieh-tung tui" wurden gleichmäßig besoldet, ihre Einkünfte entsprachen denjenigen der Unteroffiziere in den allgemeinen Armeeverbänden. Chiang hatte in den „Pieh-tung tui" ein Machtinstrument geschaffen, das nicht nur bei der Bekämpfung der kommunistischen Partisanen und der Kontrolle über die Streitkräfte Bedeutung erlangte, sondern auch nach 1934 in zunehmendem Maße zur Durchsetzung ökonomischer und sozialer Reformen, vor allem in der Provinz Kiangsi, beizutragen begann. Dieser Ansatz fiel jedoch dem chinesisch-japanischen Krieg zum Opfer, in dem die „Pieh-tung tui" als Eliteeinheiten meist in vorderster Front eingesetzt wurden. Allein in den ersten zwei Jahren des Krieges sollen mehr als 19.000 der 24.000 Angehörigen dieser Spezialverbände gefallen sein. Die Abordnung von Absolventen der „Zentralen Militärakademie" in die Lokalverwaltung und die örtlichen Parteibüros der KMT, die Errichtung des „Pao-chia-Systems" und die Tätigkeit der „Pieh-tung tui" stellten Ansätze zur Entwicklung einer besser funktionierenden Kommunikation des Führungswillens der Zentrale in die untersten Verwaltungseinheiten und auch zur Bevölkerung dar. Diese Ansätze konnten sich jedoch bis 1937 nicht voll auswirken. So blieb das Problem der Durchsetzung des entwicklungspolitischen Programms der KMT im wesentlichen ungelöst, bis der Krieg gegen Japan ausbrach, der die Aufmerksamkeit der nationalistischen Einheitspartei vollends auf die Auseinandersetzung mit dem äußeren Feind ablenkte. Dennoch konnten — vor allem in den Jahren von 1935 bis 1937 — mancherorts, nicht zuletzt in der Provinz Kiangsi, soziale Reformen vorangetrieben werden, die darauf hindeuteten, daß die KMT nach Jahren der innerparteilichen Auseinandersetzungen wieder begann, gesellschaftsverändernde Energie zu entwickeln. Man würde einer objektiven Beurteilung ihrer Tätigkeit kaum gerecht, wenn man dies übersähe. Die verstärkte Aktivität der Par-

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XIII. Kapitel: Die KMT und das Volk

tei entfaltete sich jedoch nicht auf der Grundlage westlicher politischer, ökonomischer und sozialer Theorien, sie ging vielmehr mit dem Versuch einer Restauration traditioneller chinesischer Gesellschaftslehren und Moralbegriffe Hand in Hand, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Bewegung „Neues Leben" fand.

Rückkehr zum Konfuzianismus — Die Bewegung „Neues Leben" Einige Führer der K M T , allen voran Chiang Kai-shek, hatten schon bald nach dem siegreichen Abschluß des Nordfeldzuges erkannt, daß die Flut der in Nanking entstehenden Gesetze nicht ausreichte, um eine grundlegende Veränderung der sozialen und ökonomischen Bedingungen in China herbeizuführen. Mit der fortschreitenden Desintegration der herkömmlichen gesellschaftlichen Strukturen und unter dem Einfluß westlichen Gedankengutes, das die traditionelle chinesische Philosophie in der Vorstellungswelt der geistig führenden Schichten verdrängte, verfielen in zunehmendem Maße auch die alten chinesischen Moralvorstellungen, ohne daß sich neue verbindliche Verhaltensregeln entwickelt hätten. Diese Entwicklung führte zunächst in den Städten der Ostküste und des Yangtzu-Tales, schließlich aber auch im Inneren des Landes zu schwerwiegenden Belastungen der sozialen Beziehungen. Die städtischen Kaufleute und westlich erzogenen Intellektuellen, die vielerorts Familien der Honoratiorenschicht als Arbeitgeber und Landverpächter ablösten, verhielten sich nicht selten so, daß sich gesellschaftliche Konflikte erheblich verschärften. Rauschgiftsucht und Prostitution, schon seit Jahrhunderten im Lande verbreitet, aber doch in ihrer Wirkung begrenzt, begannen, überhand zu nehmen. Während die Autorität des Sippenverbandes geschwächt wurde, entstanden doch nicht zugleich neue Loyalitätsverhältnisse, etwa zum Staat oder zur Organisation der gesellschaftlichen Gruppe. Sun Yat-sen hatte in seiner Erläuterung der Grundlehre vom Volkstum 1924 gefordert, daß sich die Anwendung westlich-naturwissenschaftlicher Methoden mit der Summe der sozialen und politischen Erfahrungen aus der chinesischen Geschichte und den traditionellen konfuzianischen Tugenden zu einer „Erneuerung der moralischen Wertbegriffe unserer Nation" verbinden sollten, und hatte damit dem radikal-ikonoklastischen Programm vieler Führer der intellektuellen Erneuerungsbewegung von 1915—21 eine eindeutige Absage erteilt. So war die K M T schon durch ihren Gründer auf die Rückbesinnung auf konfuzianisches Gedan-

Rückkehr mm Konfuzianismus

— Die Bewegung „Neues Leben"

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kengut bei gleichzeitiger Benutzung moderner, vom Westen übernommener Tediniken festgelegt. Hier knüpften Chiang und viele seiner Anhänger, vor allem die „CC-Clique", an, als sie 1934 die Rückbesinnung zur konfuzianischen Staats- und Gesellschaftsideologie einzuleiten versuchten. Schon in seiner Neujahrsbotsdiaft 1930 hatte Chiang den „moralischen Verfall" im Volk beklagt und seine Landsleute dazu aufgerufen, sich „wieder auf die Tugenden der Vorfahren zu besinnen"23. Unmittelbar nach dem Sieg über die Aufständischen von Fuchou unternahm er im Frühjahr 1934 den Versuch, eine moralische Erneuerungsbewegung in Gang zu bringen, die sich an herkömmlichen Werten orientierte. Am Sitz seines Hauptquartiers für den Feldzug gegen die kommunistischen Partisanen, der Provinzhauptstadt Kiangsis, Nanch'ang, rief Chiang am 19. Februar 1934 dazu auf, die „Wiedergeburt Chinas" auf „Kenntnisse und Tugend" aufzubauen und zur „Erneuerung des chinesischen Geistes" die „Bewegung Neues Leben" (Hsin sheng-huo yün-tung) zu beginnen. Er verwies dabei auf das Beispiel Deutschlands, das sich „schnell von den negativen Wirkungen der Niederlage im ersten Weltkrieg erholt" habe, während China noch immer unter der Last der ungleichen Verträge leide. Er sei, so sagte er, mit vielen Aspekten der Politik der deutschen Führung nicht einverstanden, bewundere aber den „Geist der Gemeinschaft und des nationalen Einsatzes" in Deutschland. Auch an der „spartanischen Disziplin" der Japaner könnten die Chinesen sich ein Beispiel nehmen, obgleich es gälte, die „Exzesse japanischen Verhaltens" zu vermeiden. Um in China eine ähnliche „nationale Kraft" zu erreichen, müßten „Führer auf dem Wege zur Wiedergeburt des Landes" ausgebildet werden. Diese Aufgabe sei zwar nicht in kurzer Zeit zu erfüllen, aber wenn man Tatkraft mit Geduld verbinde, sei es dennoch möglich, „die Massen zu erreichen". In der Provinz Kiangsi, in der man im Kampf gegen die Kommunisten stehe, solle die Bewegung beginnen. So könne die Provinz zur „Basis des Aufbaus und der Wiedergeburt des ganzen Landes" werden 24 . 23 u

CYJP vom 2 . 1 . 1 9 3 0 . Vgl. hierzu: Tong, op. cit., p. 154. Chiang Kai-shek, „Was bedeutet die Bewegung Neues Leben?", Rede, gehalten in Nanch'ang am 19. Februar 1934, in: KMWH, Bd. X X I X , p. 605—615, leicht redigiert audi in: KMT-Chronik, Bd. I, p. 668—676. Vgl. hierzu und zum folgenden: Tong, op. cit., p. 154—158; T'ang, Reconstruction, p. 33—42; Lin Ch'iu-sheng, op. cit., p. 18—24; China Year Book 1935, p. 91 f.; Fairbank, op. cit., p. 190 f.; Ishimaru, op. cit., p. 151—158; und: Linebarger u.a., op. cit., p. 152 f.

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Von Einheiten des Heeres, vor allem der „Pieh-tung tui", und den Studenten- und Schülerverbänden unterstützt, begann die Bewegung, sich schnell in Nanch'ang und Umgebung auszubreiten. Uber 200 Studentengruppen gingen nadi kurzer Ausbildung in die Stadtbezirke und Dörfer, um der Bevölkerung die Ziele der Aktion nahezubringen. Allein in Nanch'ang wurden 13 Vorlesungszentren errichtet, in denen man täglich den verschiedensten Gruppen von Bürgern Vorträge über die Bewegung „Neues Leben" hielt25. Auf einer Massenversammlung in Nanch'ang, an der über 100.000 Menschen teilnahmen, die von 142 verschiedenen Organisationen abgeordnet waren, proklamierte Chiang am 11. März die Ausdehnung der neuen Bewegung auf das ganze Land26. Schon einige Tage zuvor, am 5. März, hatte der Generalissimus, die Grundsätze der Bewegung näher erläutert27. Sie wurden von Chiang selbst Anfang April 1934 in einer Flugschrift „Grundriß der Bewegung Neues Leben" (Hsin sheng-huo yün-tung kang-yao), die man in Hunderttausenden von Exemplaren in ganz China verbreitete, systematisiert und theoretisch begründet28. Folgen wir dem Inhalt der Rede vom 5. März 1934 und dieser Flugschrift, so erstrebte die Bewegung „Neues Leben" vor allem die Förderung von vier aus chinesischen Traditionen entwickelten Tugenden, auf deren Grundlage sich die „Wiedergeburt des chinesischen Volkstums" (Fu-hsing Chung-hua min-tsu) vollziehen sollte: „Ii", „yi", „lien" und „ch'ih". Eine direkte Ubersetzung dieser Begriffe in eine westliche Sprache erscheint als unmöglich. Hier sei die Übertragung ins Deutsche wiedergegeben, die einer der damaligen Führer der nationalistischen chinesischen Studenten in Deutschland und der Schweiz, Lin Ch'iu-sheng, im Jahre 1936 vorlegte: „ ,11' bedeutet: Form, Höflichkeit, Anstand, Tugend; es ist die wohlgeordnete Haltung der Persönlichkeit. ,i* (yi, d. Verf.) bedeutet: Angemessenheit, Pflichtgefühl, Rechtlidikeit; es ist das angemessene, rechtliche Verhalten in allen Lebenslagen. 25

Tong, op. cit., p. 156.



C Y J P vom 12. 3. 1934. Vgl. hierzu: Tong, ibid.

27

Chiang Kai-shek, „Zentrale Grundsätze der Bewegung Neues Leben", Rede, gehalten in Nanch'ang am 5. März 1934, in: K M W H , Bd. X X I X , p. 6 1 5 — 6 2 2 .

28

Chiang Kai-shek, Hsin sheng-huo yün-tung kang-yao (Grundriß der Bewegung „Neues Leben"), Nanking 1934, passim; abgedruckt in: K M W H , Bd. X X I X , p. 623 bis 636. Diese Flugschrift erschien nach T'ang, Reconstruction, p. 33, auch in einer von Frau Chiang Kai-shek (Sung Mei-ling) besorgten englischen Übersetzung, „The N e w Life Movement", die dem Verfasser jedoch nicht vorgelegen hat.

Rückkehr zum Konfuzianismus

— Die Bewegung „Neues Leben"

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,lien' bedeutet: Reinheit, Redlichkeit, M a ß ; es ist die Vermeidung jeder unredlichen Handlungsweise. ,tschi' (ch'ih, d. Verf.) bedeutet: Gewissen, Schamgefühl; es ist das Gefühl für Verletzung einer der Tugenden Ii, i oder lien 29 ."

Chiang weist nun darauf hin, daß diese vier Tugenden interdependent seien. So führt gute Form (Ii) ohne „rechtlichen Sinn" (yi) zur Falschheit, „rechtlicher Sinn" ohne gute Form aber zur Kränkung anderer, „Maß" (lien) ohne gute Form wird unwahr, Gewissen (ch'ih) ohne „rechtlichen Sinn" erzeugt übertriebene Leidenschaft30. Praktische Bedeutung bekommen diese vier Tugenden, wenn man sie auf die „vier alltäglichen Notwendigkeiten für den Menschen" anwendet, von denen Sun Yat-sen in der Grundlehre vom Volkswohl sprach: Nahrung (shih), Kleidung (i), Wohnung (diu) und Verkehrsmittel (hsing). Chiang übernimmt die ersten drei dieser Begriffe, erweitert den vierten — „hsing" — jedoch so, daß er bei ihm den terminus „Aktion, Handeln" oder die „Möglichkeit zum Handeln" mit umfaßt. Im Leben des Menschen gibt es, nach Chiang, zwei wesentliche Elemente: 1. Die Materie für Nahrung, Kleidung, Wohnung und Aktion; und 2. die Art, in welcher die Materie benutzt wird, um den Bedürfnissen der Menschen zu dienen. Auf das zweite Element sollen, so fordert er von der Bewegung „Neues Leben", die grundlegenden Tugenden in rechter Weise angewandt werden: „1. Für das Erwerben der Materie durch den Menschen gilt die Tugend ,lien'. Wir müssen klar unterscheiden, was uns gehört, und was uns nicht gehört. Was uns nicht gehört, dürfen wir nicht nehmen. Mit anderen Worten: wir müssen die Materie f ü r unsere alltäglichen Bedürfnisse durch unsere eigene Arbeit oder auf andere, rechtlich zulässige Weise erwerben. Wir dürfen einander den Lebensunterhalt nicht streitig machen. Ein Parasit ist kein gutes Vorbild . . . 2. Für die Auswahl der Qualität der Materie durch den Menschen gilt die Tugend ,yi'. Man soll in jeder Situation das tun, was ihr angemessen ist. Es ist zum Beispiel für einen alten Mann durchaus angemessen, seidene Gewänder zu tragen, Fleisch zu essen (d. h.: viel und delikat zu essen, d. Verf.) und viel freie Zeit zu haben. Ein junger Mann dagegen muß sich zur H ä r t e und Entsagung erziehen. Was im Winter gut ist, muß nicht für den Sommer passen. Was im Süden richtig ist, ist nicht notwendigerweise audi im Norden richtig. Ebenso können unterschiedliche Umstände die Situation eines Menschen in verschiedener Weise bestimmen. Ein Herrscher oder

29

50

Lin Ch'iu-sheng, op. cit., p. 22. Für Übersetzungen ins Englische vgl. T'ang, Reconstruction, p. 38 f.; Tong, op. cit., p. 155; und: Fairbank, op. cit., p. 191. Vgl.: Lin Ch'iu-sheng, ibid. f.; und: T'ang, ibid.

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ein Armeebefehlshaber muß auch wirkliche Befehlsgewalt besitzen, Untergebene hingegen müssen vor allem Disziplin üben . . , 3 1 ."

Diese stark an konfuzianischen Vorstellungen orientierte Theorie wurde an anderer Stelle von Chiang in „Acht Grundsätzen" zusammengefaßt, die gleichzeitig als Handlungsnormen für die Bewegung „Neues Leben" gelten sollten: „1. Betrachtet das Gestern als eine Zeit des Todes. Das Heute ist die Zeit des Lebens. Wir wollen uns frei machen von alten, üblen Gewohnheiten und ein neues Reich aufbauen. 2. L a ß t uns die schwere Verantwortung der Wiederbelebung (Wiedergeburt) der N a tion (mutig und bereitwillig) auf uns nehmen! 3.

Wir müssen die Vorschriften beachten, Glauben und Vertrauen, Ehrlichkeit und Schamgefühl haben.

4.

In Kleidung und Essen und überhaupt in allem, was wir tun und treiben, müssen wir einfach und ordentlich sein, rein und sauber.

5. W i r müssen willig dem Ungemach trotzen. Wir müssen nach Mäßigkeit streben. 6.

Wir müssen als Staatsbürger hinreichende Kenntnisse und sittliche Lauterkeit besitzen (erwerben).

7.

Unser Handeln muß beherzt und rasch sein.

8. Wir müssen so handeln, wie wir es versprochen haben, aber auch handeln (können), ohne (zuvor) zu versprechen 38 ."

Um sich unter den Massen der Bevölkerung verständlich zu machen, galt es für die Bewegung jedoch, noch wesentlich konkretere Schlagworte zu finden. Sie tauchten zum ersten Mal auf einer Demonstration in Nanch'ang am 17. März 1934 auf und verbreiteten sich schnell in großen Teilen Chinas, vor allem in jenen Provinzen, die unter der unmittelbaren Kontrolle der Nationalregierung standen: „Seid schnell im H a n d e l n ! " „Drängelt nicht, sondern stellt Euch in Reihen a n ! " „Spuckt nicht aus!" „Seid sauber! Sauberkeit verhindert K r a n k h e i t ! " „Tötet Fliegen und Ratten, sie verbreiten Krankheiten!" „Meidet Wein, Frauen (Prostituierte) und Glücksspiele!" „Höflichkeit und Gehorsam erleichtern das Leben!" „ E ß t nicht geräuschvoll!" 3 3

Schon bald nach dem Auftakt in Kiangsi griff die Bewegung auf andere Provinzen über. Am 17. März verkündete Wang Ching-wei auf 31

Chiang, „Hsin sheng-huo . . . " , op. cit., p. 7 ( K M W H , Bd. X X I X , p. 628 f.). Eine englische Ubersetzung findet sich bei: T'ang, Reconstruction, p. 40 f., eine andere deutsche in Auszügen bei: Lin Ch'iu-sheng, op. cit., p. 23.

32

Zitiert nach: ibid., p. 23 f. Hinzufügungen in Klammern: d. Verf.

33

Tong, op. cit., p. 156 f.; Fairbank, ibid.

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— Die Bewegung „Neues Leben"

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einer Versammlung in Nanking seine Unterstützung 34 . Eine „Vereinigung zur Förderung der Bewegung Neues Leben" (Hsin sheng-huo yüntung tsu-chin tsung-hui), deren Vorsitz Chiang übernahm, wurde am 1. Juli 1934 in Nanking ins Leben gerufen35. Unter ihrer Leitung entstanden in den folgenden Monaten in vielen Teilen Chinas regionale und lokale Organisationen, die meist von den jeweiligen Verwaltungschefs geleitet wurden und die Ziele der Bewegung unter der Bevölkerung propagierten. Im Sommer 1936 waren bereits in 20 der 24 Provinzen Chinas (ohne Tungpei) und in drei der sieben unmittelbar der Zentralregierung unterstehenden Großstädte (Nanking, Shanghai und Peking), sowie in rund 1.100 von 1.941 Landkreisen und bei zwölf Eisenbahnverwaltungen Zweigverbände entstanden3®. Die größten Erfolge erzielte die Bewegung „Neues Leben" bei der Bekämpfung des Opiumgenusses in China. Man hatte zwar schon 1928 bei der Nationalregierung eine Kommission gebildet, welche die Bekämpfung des Opiumgenusses leiten sollte, bis 1934 waren jedoch dabei kaum Fortschritte erzielt worden 37 . Anfang jenes Jahres aber übertrug man die Aufgabe, den Opiumgenuß in der Provinz Kiangsi einzuschränken und möglichst zu liquidieren, der Armee unter der persönlichen Verantwortung Chiangs. Der Generalissimus kündigte an, daß hinfort alle Opiumhändler und jene Beamte, die deren Transaktionen Vorschub leisteten, mit dem Tode bestraft würden. Die Hinrichtung einiger Polizeioffiziere, die sich von Rauschgifthändlern hatten bestechen lassen, zeigte, daß die Regierung es diesmal mit der Kampagne ernst meinte. Im Mai 1934 wurde vom Hauptquartier Chiangs eine „Verordnung zur Bekämpfung des Genusses von Narkotika" erlassen, die zunächst in den Provinzen Honan, Hupei, Anhui und Kiangsi angewandt werden sollte. Alle Beamten, Offiziere und Funktionäre der Verwaltung, Armee und Partei, die opiumsüchtig waren, erhielten darin drei Jahre Frist, um sich zu entwöhnen. Vom 1. Juni 1937 an sollten sie, falls sie sich bis dahin nicht entwöhnt hätten, mit Gefängnis bis zu 15 Jahren bestraft werden können. Weiterhin sah die Verordnung eine Registrierung aller Süchtigen und eine 84

CYJP und „Shen-pao" vom 18. 3. 1934. Eine englische Übersetzung der Ansprache Wang Ching-weis findet sich bei: T'ang, Reconstruction, p. 42 ff. 35 CYJP vom 2. 7.1934. Vgl. hierzu: KMT-Chronik, Bd. I, p. 684. 3 ® So: Tong, op. cit., p. 158. China Year Book 1935, p. 92. 37 Vgl. zu diesem Absatz: Arbeitsbericht der Kommission zur Bekämpfung des Opiumgenusses, abgegeben auf dem V. Parteikongreß der KMT im November 1935, in: KMWH, Bd. X X I X , p. 736—748; und: Tong, op. cit., p. 158—161.

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XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

Kontrolle der Armee über die Geschäfte vor, welche die Lizenz hatten, an noch nicht entwöhnte Süchtige eine begrenzte Menge des Rauschgiftes zu verkaufen 38 . In einer zweiten Verordnung vom April 1935 wurden diese Bestimmungen erheblich verschärft. Jetzt drohte man in allen vier genannten Provinzen den Herstellern und Händlern von Narkotika ebenso wie Beamten, die sich von ihnen bestechen ließen, die Todesstrafe und allen, die sich als Komplizen der Hersteller und Händler am Rauschgiftgschäft beteiligten, Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren an. Gebäude, die zur Herstellung von Opium benutzt wurden, sollten der Beschlagnahme verfallen und ihre Besitzer, wenn sie es versäumten, die Behörden über die Herstellung von Opium zu informieren, als Komplizen bestraft werden. Mit Wirkung vom 1. Juni 1937 wurde allen Komplizen ebenfalls die Todesstrafe angedroht, den Süchtigen aber mindestens fünf Jahre Haft 39 . Erste bemerkenswerte Erfolge, die man mit diesen Verordnungen erzielt hatte, veranlaßten offenbar den Z P R der K M T , am 29. Mai 1935 Chiang zum „Generalinspekteur der Opiumbekämpfung" zu berufen und damit seine Befugnisse in diesem Bereich theoretisch auf das ganze Land, praktisch aber wenigstens auf die von Nanking direkt kontrollierten Gebiete auszudehnen40. Nachdem am 24. September desselben J a h res audi der Ausschuß des Völkerbundes für die Rauschgiftbekämpfung in einem Bericht von den Fortschritten auf diesem Gebiet in China Notiz genommen hatte, erließ Chiang im Januar 1936 ein absolutes Verbot für den Mohnanbau in den Provinzen Kiangsu, Anhui, Ssuch'uan, Kiangsi, Hupei und Hunan. Eine „Anti-Opium-Konferenz", die vom 1. bis zum 3. Februar 1936 in Nanking zusammentrat, beschloß, einen Plan zu entwerfen, nach dem Mohnanbau und Opiumhandel in ganz China bis Ende 1942 liquidiert werden sollten 41 . Dies blieb zwar Theorie, aber es hat doch den Anschein, als sei es bis zum Sommer 1937 gelungen, mindestens in Kiangsi, Kiangsu, Anhui, Hupei und Chekiang den Mohnanbau vollständig und den Opiumhandel 38

39

Verordnung des Hauptquartiers des Vorsitzenden des Militärkomitees der Nationalregierung zur Bekämpfung des Genusses von Narkotika, vom 14. 5 . 1 9 3 4 (KMTArchiv). 2. Verordnung des Hauptquartiers des Vorsitzenden des Militärkomitees der N a tionalregierung zu Bekämpfung des Genusses von Narkotika, vom 4. 4. 1935 (KMTArchiv).

40 41

C Y J P vom 30. 5 . 1 9 3 5 . Tong, op. cit., p. 160 f.

Rückkehr zum Konfuzianismus

— Die Bewegung

„Neues

Leben"

557

zum großen Teil zu unterbinden. Eine Hongkonger Untersuchung von 1956 nimmt einen Rückgang der Opiumproduktion in China von 1934 bis 1937 um 3 6 % an, der Konsum soll in der gleichen Zeit um mindestens 3 0 % zurückgegangen sein. Ein großer Teil dieser Erfolge wurde jedoch zunichte gemacht, als die japanische Besatzungsmacht nach 1937 in den Provinzen der Ostküste und des Yangtzu-Tales die Opiumerzeugung monopolisierte und in erheblichem Maße förderte 42 . Unter dem Einfluß der Bewegung „Neues Leben" brachte das Jahr 1934 außerdem die offizielle Bestätigung der Hinwendung der nationalistischen Einheitspartei zum Konfuzianismus durch die Wiedereinführung des staatlichen K'ung-tzu-Kultes. Der Ständige Ausschuß des Z E K der K M T beschloß am 31. Mai, den 27. August als Geburtstag des K'ung-tzu und „Fest der Lehrer" (Chiao-shih-chieh) zum Nationalfeiertag zu erklären (später wurde dieses Fest auf den 28. September verlegt). In den Morgenstunden dieses Tages sollten die Vertreter der Behörden, der Partei und der Massenorganisationen im ganzen Lande an den Gedenkstätten des K'ung-tzu die traditionellen Riten zelebrieren, ein Brauch, der mit dem Zusammenbruch der Monarchie 1912 aus der Übung gekommen war 43 . Dies geschah zum ersten Mal am 27. August 1934, und dabei unternahm Wang Ching-wei in Nanking den Versuch, in seiner Gedenkrede Sun Yat-sens politische Theorie in direkten Bezug zu konfuzianischen Lehren zu setzen und gleichzeitig einem reformierten Konfuzianismus das Wort zu reden. Wang rief dazu auf, sich durch die Tatsache, daß konfuzianische Lehrer in den letzten Jahrhunderten die Etikette zu stark und die Philosophie zu wenig betont hätten, nicht dazu verleiten zu lassen, die Lehren des K'ung-tzu als „unbrauchbar" für die Gegenwart zu betrachten. Sie umfaßten vielmehr einen wesentlichen Teil des chinesischen nationalen Erbes, auf das man nicht verzichten dürfe, wenn man ein „starkes, gesundes und mächtiges China" aufbauen wolle 44 . Weitere Beschlüsse des Ständigen Ausschusses des Z E K am 15. November 1934, durch welche den direkten Nachkommen des K'ung-tzu Beamtenstatus verliehen und ihren Kindern eine Ausbildung auf Staatskosten zugesichert wurde, vervollständigten das Bild 4 5 : Die konservativ-tradi42

Chang Liang-kuei, Chung-kuo chin-yen wen-t'i (Probleme der Opiumbekämpfung in China), Hongkong 1956, p. 43 f.

43

Besdilußprotokoll der 124. Sitzung des Ständigen Ausschusses des IV. Z E K der

44

Eine englische Übersetzung der Rede Wangs findet sich ibid., p. 9 2 — 9 4 .

K M T am 31. Mai 1934 (Nachlaß Chu). Vgl. hierzu: China Year Book, 1935, p. 92. 45

Besdilußprotokoll der 147. Sitzung des Ständigen Ausschusses des IV. Z E K

der

K M T am 15. November 1934 (Nachlaß Chu). Auszüge der Beschlüsse in englischer Übersetzung finden sich in: China Year Book 1935, ibid.

558

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

tionalistischen Elemente der Theorie Sun Yat-sens gewannen in der KMT immer mehr an Bedeutung. Diese Entwicklung wurde noch stärker, als von Chiang und seiner Bewegung „Neues Leben", von der „CC-Clique" gefördert, deren leitender Theoretiker, Ch'en Li-fu, seit 1933 einer „Verschmelzung der westlichen Technik mit konfuzianischen geistigen Werten" das Wort redete, eine Position, die derjenigen der frühen Reformer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ähnlich war48. Sie brachte zwar zweifellos der KMT einige ideologische Impulse, führte jedoch vor allem dazu, die von der Erneuerungsbewegung von 1915/21 beeinflußten intellektuellen Zirkel der nationalistischen Einheitspartei noch mehr als bisher zu entfremden. Der Versuch einer Beurteilung der Bewegung „Neues Leben" und der mit ihr verbundenen Rückkehr zu konfuzianischen Gesellschafts- und Wertvorstellungen wird davon ausgehen müssen, daß hier tatsächlich einige der Grundübel des öffentlichen und privaten Lebens in China wirksam angegriffen wurden. John K. Fairbank hat festgestellt, daß die Bemühungen um Sauberkeit, Disziplin und Ordnung „eine direkte Attacke auf Chinas Problem der sozialen Erneuerung (social regeneration)" bedeuteten, er fügte jedoch kritisch hinzu: „— in eben der Weise, wie man sie von dem Kommandanten einer Militärschule erwarten mag"47. Die Bewegung „Neues Leben", deren schnelle Ausbreitung eine organisatorische Leistung von hohem Rang darstellt, erfaßte nur jenen Teil der Probleme einer Entwicklungsgesellschaft, der dem Ordnungssinn und dem Puritanismus eines im Geiste der japanischen Militärtraditionen erzogenen Soldaten wie Chiang Kai-shek zugänglich sein konnte. Diese Bewegung versuchte mit manchem Erfolg, an Symptomen zu kurieren. Wandlungen von entwicklungspolitischer Relevanz konnten sich in China jedoch nur vollziehen, wenn man zusammen mit dem Verfall der Sitten und der öffentlichen Disziplin auch die Schwächen der gesellschaftlichen Struktur zu überwinden versuchte. Hier aber stieß die KMT auf machtsoziologische Probleme, die alle vorhandenen reformerischen und audi revolutionären Ansätze Stückwerk bleiben ließen. Erst in den letzten beiden Jahren vor dem Ausbruch des Krieges gegen Japan begannen neue Anstrengungen, die grundlegenden sozialen Probleme des Landes einer Lösung näherzubringen. Da für die Führer der Partei, vor allem für Chiang selbst, jedoch der Gedanke der nationalen Einheit gegenüber dem 45

Vgl. hierzu: Fairbank, op. cit., p. 193 f.

47

ibid., p. 191.

Die Landpolitik

der KMT 1932 bis 1937

559

äußeren Feind Vorrang vor allen anderen Überlegungen behielt, ging man so behutsam zu Werke, daß sich die Wirkungen der Reformversuche bis zum Ausbruch des Krieges, der ihrer Ausbreitung ein Ende setzte, nicht mehr bemerkbar machen konnten. Dies wurde besonders im Bereich der Landwirtschaft deutlich, in dem sich in China die schwerwiegendsten sozialen Spannungen entwickelt hatten.

Die Landpolitik

der KMT1932

bis 1937

Seit der Verabschiedung des „Bodengesetzes" im Juni 1930, das zu seiner Einführung noch eines weiteren gesetzgeberischen Aktes bedurfte 48 , hatte man auf dem Wege zur Lösung des Problems der Besitzund Einkommensverhältnisse in der Landwirtschaft bis zum Herbst 1932 nicht die geringsten Fortschritte erzielt. Eine Ausnahme machte hier nur die Provinz Chekiang, wo zwar die von Chang Ching-chiang im Jahre 1927 eingeleiteten Pachtreformen im Frühjahr 1929 zeitweilig wieder rückgängig gemacht wurden, es der Provinzregierung, die hier von reformwilligen Kräften unterstützt wurde, jedoch Anfang 1930 gelang, erneut eine Festsetzung der Maximalpacht auf 37,5 % des Ernteertrages gegen den Widerstand der Grundbesitzer formell durchzusetzen. Die Erhebung von Zusatzpachten und „Sdilüsselgeldern" wurde untersagt, und unter Chang Ching-chiangs Nachfolger, Lu T'i-p'ing, der keinerlei familiäre Verbindungen zu Grundbesitzerkreisen in der Provinz hatte, konnte die Pachtreduktion mit Unterstützung der Nationalregierung bis 1934 in 31 der 75 Landkreise der Provinz durchgesetzt werden 49 . Dies führte dazu, daß allein von 1928 bis 1932 der Verkaufswert des Pachtlandes in einigen Bezirken dieser Provinz um 40 °/o zurückging, was wiederum manchen bisherigen Pächtern die Möglichkeit bot, das von ihnen bebaute Land käuflich zu erwerben. Zu Recht wird man annehmen können, daß diese Maßnahmen wesentlich dazu beitrugen, daß in Chekiang, im Gegensatz zu den Nachbarprovinzen Fukien und Kiangsi, alle Versuche der Kommunisten, Partisanenverbände zu bilden, fehlschlugen50. Als im Dezember 1934 der Kuangsi-General Huang Shao-hsiung das Amt des Provinzgouverneurs übernahm, blieben diese Reformen zwar 48

Siehe oben, S. 407 ff.! ® Chekiang sheng-cheng-fu chien-she kung-tso pao-kao (Bericht der Provinzregierung von Chekiang über die Aufbauarbeit), Hangdiou 1934, p. 28 f. 50 Vgl. hierzu: Amann, Bauernkrieg, p. 109—111. 4

560

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

dort, wo sie eingeführt worden waren, in Kraft, ihre Ausdehnung auf andere Teile der Provinz stagnierte jedoch, bis Chu Chia-hua am 1. Dezember 1936 Huang als Gouverneur ablöste. Unter Chus Leitung begann man unverzüglich, die Pachtreform fortzuführen, und schon im Juni 1937 war sie in 18 weiteren Landkreisen durchgesetzt, obgleich die Grundbesitzer offenbar erbitterten Widerstand leisteten51. Einen zweiten bemerkenswerten Versuch zur Lösung der brennensten Probleme auf dem Lande unternahm Chiang selbst vom Herbst 1932 an in jenen Gebieten der Provinzen Honan, Hupei und Anhui, deren Verwaltung ihm als dem Befehlshaber des Feldzuges gegen die Kommunisten unmittelbar unterstellt war. Dieser Versuch wurde seit dem Winter 1933/34 auch auf den größten Teil der Provinz Kiangsi ausgedehnt, wo er am erfolgreichsten verlief. Ende Oktober 1932 erließ Chiang von seinem damaligen Hauptquartier in Wuhan aus eine „Verordnung über die Landverwaltung in Dörfern der Provinzen der Banditenbekämpfung (chiao-fei-ch'ü)*', die Bestimmungen für die Bodenpolitik in den Gebieten traf, aus denen die kommunistischen Partisanen vertrieben worden waren 52 . Diese Verordnung sah die Bildung von „Aufbaukommissionen" auf Landkreis-, Amts- und Dorfebene vor, die als Organe der lokalen Selbstverwaltung, aber unter der Kontrolle des Hauptquartiers, jene Fragen regeln sollten, welche durch die von den Kommunisten eingeleitete Liquidierung der Grundbesitzerschicht und Landverteilung entstanden waren. Dazu gehörten u. a.: „1. Die Regelung von Streitigkeiten über Land- und Immobilienbesitz, 2. Wiederherstellung von Grenzen, die zerstört worden waren, 3. die Verwaltung von eigentümerlosem Land sowie des Landes, dessen Eigentümer nicht feststand, (und) des öffentlichen und unbebaut liegenden Landes, 4. die Verpachtung bestellten Landes und 5. (die) Feststellung von Landpacht-Raten, 6. Gründung von Dorfgenossenschaften, 7. die Aufstellung eines Katasters als Grundlage für die Besteuerung, 8. die Schuldenregelung (für die) Bauern 53 ."

Die Wiederaufbaukommissionen erhielten den Auftrag, jenes Land, dessen ursprünglicher Besitzer sich zweifelsfrei ausweisen konnte, diesem wieder zurückzugeben. Alles übrige Nutzland sollte von den Kommis51

52

53

Bericht Chu Chia-huas an den ZPR der KMT über die Bodenpolitik in Chekiang, vom Juni 1937 (Kopie im Nachlaß Chu). Vgl. zum Folgenden vor allem: Amann, Bauernkrieg, p. 121—129. Der chinesische Text der Verordnung findet sich in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao" vom 29. 10. 1932. Zitiert nach: Amann, Bauernkrieg, p. 121 f.

Die Landpolitik

der KMT 1932 bis 1937

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sionen unmittelbar an diejenigen verpachtet werden, die sich bereitfanden, es selbst zu bebauen. Dabei durfte die Pachtsumme, in Ubereinstimmung mit dem noch nicht in Kraft gesetzten „Bodengesetz" der Nationalregierung, 37,5 % der Jahreshaupternte keinesfalls überschreiten. Der Besitznachweis durch die ursprünglichen Eigentümer erfolgte in der Weise, daß diese gehalten waren, ihren Rechtstitel durch Dokumente zu belegen. War dies geschehen, so begann eine einmonatige Einspruchsfrist nach Veröffentlichung des Besitzanspruchs. Wo dieser nicht durch Dokumente belegt werden konnte, durfte er auch durch zwei mit dem Antragsteller nicht verwandte, ortsansässige Zeugen bestätigt werden, in diesem Fall trat jedoch eine Einspruchsfrist von drei Monaten ein. Das herrenlose Land, das nach dreijähriger Verwaltung durch die „Wiederaufbaukommission" des jeweiligen Amtes (hsiang) in den Besitz der öffentlichen Hand überging, wurde an frühere Pächter, landlose und arme Bauern so verteilt, daß auf jedes Familienmitglied mindestens 2, höchstens 6 mu entfielen, jedoch nicht mehr als 20 und nicht weniger als 8 mu pro Familie (0,55—1,33 ha). Die dörflichen Wiederaufbaukommissionen erhielten weiter die Aufgabe, für das in Privatbesitz befindliche Pachtland, „gemäß dem Brauch in den einzelnen Orten", die Pachtraten festzulegen. Diese mußten in jedem Fall niedriger liegen als vor der Besetzung des Dorfes durch die Kommunisten. Nach der Rückgabe des Bodens an die früheren Besitzer, die ihre Rechtstitel geltend machen konnten, mußten die Kommissionen für jedes Dorf eine zulässige Höchstgrenze des Bodenbesitzes bestimmen, die allgemein bei 100, höchstens aber bei 200 mu liegen sollte (6,66—13,32 ha). Vom Einkommen aus Landbesitz, der diese Grenze überschritt, wurde eine progressive Sondersteuer erhoben, die für jeweils 50 mu um 3 % anstieg. Außerdem ermächtigte die Verordnung die „Wiederaufbaukommission" der Landkreise, für ihr Gebiet ein Schuldenmoratorium von ein bis zwei Jahren Dauer zu verkünden. Alle Schuldverpflichtungen, deren Zinssatz jährlich mehr als 1 2 % betrug, wurden für „null und nichtig" erklärt. Das gleiche galt für alle Bodensteuer-Rückstände aus der Zeit bis zum 31. Dezember 1931. Schließlich konnten die Wiederaufbaukommissionen für Landkreise, die besonders stark unter den Kämpfen gelitten hatten, für die Dauer von zwei Jahren einen vollständigen Steuererlaß proklamieren. Wenn diese Bestimmungen auch die grundlegenden Probleme der Bodenverteilung kaum zu lösen vermochten, so trugen sie doch zur Besserung der Lebensbedingungen der Bauern in jenen Gebieten bei, in welchen man sie tatsächlich anwandte, vor allem also in Zentral- und Süd-Kiangsi und in den Landkreisen im Grenzgebiet zwischen Hupei, Honan und Anhui. 36

Domes

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XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

Das gleiche galt von der „Verordnung über die Errichtung von landwirtschaftlichen Genossenschaften", die Chiang kurz nach der Verordnung über die Landverwaltung erließ. Sie sah die Errichtung von Kredit-, Bewirtschaftungs-, Ein- und Verkaufsgenossenschaften auf freiwilliger Basis in allen Dörfern vor, die zuvor von kommunistischen Partisanen besetzt gehalten worden waren54. Diese Genossenschaften sollten für die Dauer von mindestens zehn, höchstens 30 Jahren gebildet werden. Mitglieder konnten alle chinesischen Bürger sein, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten. Die Genossenschaften erhielten von der Regierung zinsgünstige Kredite und wurden beim Transport ihrer Produkte von der Armee unterstützt. Für die Vergabe von Darlehen an einzelne Bauern war ein „Kreditberatungsausschuß"in jeder Genossenschaft verantwortlich, der bei dem Darlehenszuschlag ein Punktsystem anwenden mußte, in dem der Charakter und die „nationale Gesinnung" zwei Drittel der Bewertungspunkte umfaßten, wirtschaftliche Leistungen und Besitzverhältnisse hingegen nur ein Drittel. An dieser Stelle wurde wiederum der Einfluß jener Überlegungen Chiangs deutlich, welche die Einleitung der Bewegung „Neues Leben" bestimmten. Die Verordnung über den Aufbau von Genossenschaften wirkte sich, vor allem in der Provinz Kiangsi, darüber hinaus aber auch in anderen Teilen Chinas, außerordentlich positiv auf die Entwicklung des ländlichen Genossenschaftswesens aus. Gab es, nach Kindermann, im Jahre 1931 in China erst 2.796 landwirtschaftliche Genossenschaften mit 56.432 Mitgliedern55, nach Tang Leang-li, hingegen 1.576 mit etwa 63.000 Mitgliedern56, so waren es — wiederum nach Tang — : im Jahre 1932: 2.673 Genossenschaften mit 98.778 Mitgliedern und im Jahre 1934: fast 14.000 Genossenschaften mit rund 370.000 Mitgliedern57. Für Anfang 1936 wurden 26.224 Genossenschaften mit ungefähr 720.000 Mitgliedern registriert58. Diese Entwicklung setzte sich audi während des Krieges in den nicht von den Japanern besetzten Regionen Westchinas fort, so daß 1945 im Lande bereits 172.000 Genossenschaften mit 16,1 Millionen Mitgliedern bestanden59, also 15 bis 2 0 % der Landbevölkerung von der Genossenschaftsbewegung erfaßt worden waren. 54 55 58 57 58

58

Vgl. zum folgenden Absatz: ibid., p. 130—140. Kindermann, Kulturen, op. cit., p. 93. T'ang, Reconstruction, p. 295. ibid. Min-kuo erh-shih-ssu nien Chung-kuo he-tso kung-tso pao-kao (Bericht über die chinesischen Genossenschaften im Jahre 1935), hrsg. von der Nationalen Wirtschaftskommission der Nationalregierung, Nanking 1936, p. 5. Kindermann, ibid.

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der KMT 1932 bis 1937

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Allein im Jahre 1935 entstanden 12.517 neue landwirtschaftliche Genossenschaften, über 5.000 davon in Kiangsi. Diese Provinz wurde überhaupt ab 1933 zum Experimentierfeld für eine ganze Reihe von Reformmaßnahmen. Ende 1933 beschloß die „Nationale Wirtschaftskommission", (Ch'üan-kuo ching-chi wei-yüan-hui), der Provinz Kiangsi für den „ländlichen Wiederaufbau" 1,9 Millionen Yüan als Sonderzuschuß zur Verfügung zu stellen, von denen 500.000 Yüan zur Förderung des Genossenschaftswesens, der Rest aber für den Aufbau eines landwirtschaftlichen Beratungs- und Demonstrationsdienstes bestimmt waren. Zur Ausbildung des hierfür notwendigen Personals wurde am 6. März 1934 in Nanch'ang ein „Landwirtschaftliches Institut" (Nung-yeh ch'üan-k'e hsüeh-hsiao) gegründet, und es folgte der Aufbau von zwölf Zentren für Versuche und Beratungen in modernen Produktionsmethoden. Man stellte Bauern, die bereit waren, solche Versuche in ihren Dörfern durchzuführen, unentgeltliches Saatgut zur Verfügung, errichtete in jedem Landkreis ein Hospital und bemühte sich um die Erziehung der Dorfjugend und eine fachliche Ausbildung der Bauersfrauen 60 . Gleichfalls im Jahre 1933 beschloß die Nationalregierung, erste wirksame Maßnahmen zur Linderung der Schuldenlast der Bauern und für die Bereitstellung billiger Kredite einzuleiten. Zu diesem Zweck wurde die „Chinesische Bauernbank" (Chung-kuo nung-min yin-hang) gegründet. Sie hatte die Aufgabe, den dörflichen Genossenschaften Darlehen mit einem Zinsfuß von höchstens 4 °/o pro Jahr zur Verfügung zu stellen und Pächter in die Lage zu versetzen, das von ihnen bebaute Land als Eigentum zu erwerben. Die Bank, die zunächst nur mit einem Kapital von 250.000 Yüan zu arbeiten begann, erhielt im Juni 1935 eine endgültige Organisation. 1936 umfaßte ihr Kapital bereits 10 Millionen Yüan 81 . Sie hat vor allem in Kiangsi, Chekiang, Hupei und Anhui nicht unerheblich zur Besserung der sozialen Verhältnisse auf dem Lande beigetragen, wenn ihre Wirkungsmöglichkeiten auch zunächst beschränkt blieben. Von einiger Bedeutung war schließlich der Versuch der Nationalregierung, exorbitante lokale und provinzielle Steuern im Lande zu liquidieren. Vom 21. bis zum 27. Mai 1934 trat in Nanking die „II. Nationale Finanzkonferenz" zusammen, deren Teilnehmer — vor allem Delegierte aus Handel, Industrie, Bank- und Genossenschaftswesen — energisch eine 60 61

36*

Vgl. hierzu: T'ang, Reconstruction, p. 295 f.; und: Tong, ibid. Grundsätze der Chinesischen Bauernbank, vom 4 . 6 . 1 9 3 5 , in: KMWH, Bd. X X X , p. 233—237. Vgl. dazu: Tong, ibid.

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XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

Erleichterung der Steuerlast der Bevölkerung forderten®2. Durch die Beschlüsse der Konferenz propagandistisch unterstützt, begann Nanking jetzt, energischen Druck auf die Provinzverwaltungen auszuüben, um sie zur Abschaffung besonders drückender Sonder- und Zusatzsteuern, in erster Linie auf dem Lande, zu veranlassen. Bis zum V. Parteikongreß der KMT im November 1935 wurden auf diese Weise 5.225 örtliche und provinzielle Abgaben, die im Durchschnitt der Jahre 1932 bis 1934 33.877.778 Yüan erbracht hatten, abgeschafft, davon 2.452 mit einem Ertrag von 15.183.778 Yüan in den unmittelbar von der Nationalregierung kontrollierten Provinzen Kiangsu, Chekiang, Anhui, Honan, Hupei und Kiangsi, 38 mit einem Ertrag von 6.939.937 Yüan in Shansi und 344 mit einem Ertrag von 6.601.666 Yüan in Kuangtung. Die Abschaffung weiterer Steuern mit einem Durchschnittsertrag von 15.166.617 Yüan war im Herbst 1935 in Vorbereitung und konnte bis Ende 1936 durchgeführt werden 63 . Diese und andere Maßnahmen bewirkten zumindest, daß sich der Anteil der Pächter, Halbpächter und landlosen Bauern an der Landbevölkerung zwischen 1934 und 1937 nicht mehr vergrößerte, sondern etwa gleichblieb, während er bis dahin von Jahr zu Jahr leicht angestiegen war. In den Provinzen Kiangsi und Chekiang ging er sogar zum ersten Mal zugunsten des Anteils der Eigentumsbauern zurück. Während es in Kiangsi 1934 etwa 35 % Eigentumsbauern, 35 % Halbpächter und 30 % Pächter gegeben hatte, waren es 1937 39 % Eigentumsbauern, 37 % Halbpächter und 24 % Pächter. Die Zahlen für Chekiang lauteten für 1934 2 0 % , 33 % und 4 7 % , für 1937 hingegen 2 3 % , 3 8 % und 39 % 6 4 . Diese Fortschritte wurden jedoch dadurch relativiert, daß die Zahl der Pächter in den Provinzen Hopei und Yünnan, auf welche die Nationalregierung wenig Einfluß auszuüben vermochte, weiter zunahm. Eine wirksamere, wenn auch immer noch sehr gemäßigte Lösung des Bodenproblems hätte nur erreicht werden können, wenn es gelungen 62

63

M

Ti-erh-chieh ch'üan-kuo ts'ai-cheng hui-i hui-i-lu (Protokoll der II. Nationalen Finanzkonferenz), Nanking 1934, p. 26 ff. Vgl. hierzu: China Year Book 1935, p. 478 und 482. K'ung Hsiang-hsi, „Bericht über die Reform der lokalen Finanzen", erstattet auf dem 6. Plenum des IV. ZEK der KMT im November 1935, in: KMWH, Bd. X X V I I I , p. 496—507 (hier: p. 502—505). Für 1934: vgl. Tsao, op. cit., p. 76; für 1936 in Kiangsi: Min-kuo erh-shih-wu nien Kiangsi sheng-cheng-fu diien-she kung-tso pao-kao (Aufbaubericht der Provinzregierung von Kiangsi für das Jahr 1936), Nandi'ang 1937, p. 116 f., und in Chekiang: Bericht Chu C h i a - h u a s . . . , loc. cit. (siehe oben, Anm. 51!).

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der KMT 1932 bis 1937

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wäre, das „Bodengesetz" von 1930 im ganzen Lande energisch durchzusetzen. Dazu war vor allem nötig, daß zunächst das in § 9 dieses Gesetzes vorgesehene „Gesetz zur Anwendung des Bodengesetzes" (T'u-ti fa shihhsing fa) erlassen und die Feststellung der Bodenwerte nach Teil IV des Gesetzes von 1930 eingeleitet wurde. Die reformwilligen Kräfte in der Führung der KMT, die sich vor allem aus der „Vereinigung der Reorganisations-Genossen", der „Gruppe Wiedergeburt", der „Politisch-Wissenschaftlichen Vereinigung" und einer Minderheit der „CC-Clique" rekrutierten, stießen jedoch mit ihren Bemühungen, dies zu erreichen, auf den harten und wirksamen Widerstand der „Westberggruppe" und anderer Fraktionen des rechten Flügels, einflußreicher regionaler Gruppierungen und der Vertreter massiver Grundbesitzerinteressen im ZEK der nationalistischen Einheitspartei. Da die „Reform-Koalition" — wie sie hier einmal genannt werden soll — sich im IV. ZEK auf höchstens 20 der insgesamt 72 Vollmitglieder stützen konnte, gelang es ihr erst auf dem 4. Plenum des IV. ZEK der KMT, im Jahre 1934, eine Resolution durchzusetzen, in der wenigstens die beschleunigte Feststellung des Bodenwertes im ganzen Lande gefordert wurde 85 . Diesem Verlangen Schloß sich am 25. Mai 1934 auch die „II. Nationale Finanzkonferenz" mit einer Entschließung an, die von dem Bodenreformer Hsiao Tseng, einem Anhänger Chu Chia-huas, eingebracht wurde 96 . Es bedurfte weiterer großer Anstrengungen, um schließlich die Verabschiedung des „Gesetzes über die Anwendung des Bodengesetzes" zu erreichen, das — nach langen Diskussionen im ZPR der KMT und im Legislatvyüan — am 8. Mai 1935 verkündet wurde 87 . Das neue Gesetz hielt sich streng an die Bestimmungen des Gesetzes von 1930, die es noch dazu verhältnismäßig eng auslegte. Vor allem blieb der § 28 des Bodengesetzes unverändert bestehen, der die Festlegung von Höchstgrenzen für den Landbesitz den Provinzverwaltungen übertrug 68 . Damit wurden alle ernsthaften Maßnahmen zur Bodenreform den regionalen Behörden überlassen, die stärker als die Nationalregierung dem 65

ββ

67

68

Resolution über die Durchführung der Bodenwert-Feststellung, angenommen auf dem 4. Plenum des IV. ZEK der KMT am 25. Januar 1934, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 582. Ti-erh-diieh di'üan-kuo ts'ai-cheng..., loc. cit., p. 24 f. Vgl. hierzu: China Year Book, ibid. Gesetz über die Anwendung des Bodengesetzes, in: „Kuo-min dieng-fu kung-pao" vom 8. 5.1935. Eine englische Obersetzung findet sich bei: Ch'en Ch'eng, op. cit., p. 181—190. Englischer Text: ibid., p. 139.

566

XIII. Kapitel: Die KMT und das Volk

Druck von Besitzerinteressen ausgesetzt waren. Nur ein entschiedenes Vorgehen des Parteiapparats hätte hier die von der Zentrale angestrebten sozialen Veränderungen bewirken können. Und selbst das Gesetz von 1935 trat nicht sofort in Kraft. Es bedurfte vielmehr eines weiteren Druckes der Reform-Koalition, um seine endgültige Einführung sicherzustellen. Auf dem V. Parteikongreß wurde die schon erwähnte „Resolution zur Landpolitik" eingebracht, in der die Antragsteller — meist Anhänger der Gruppen der Reform-Koalition — die sofortige Einführung der Wertzuwachssteuer auf Landbesitz, den Zwangs verkauf von Besitzungen „abwesender Landeigentümer", die Bodenverteilung an landlose Bauern und Pächter und größere Anstrengungen auf dem Gebiet der Neulandgewinnung forderten. Auch dieser Ansatz erfuhr eine erhebliche Abschwächung, als der Kongreß beschloß, die Resolution der Nationalregierung nur „zur Kenntnisnahme" zu überreichen69. Dennoch wurde die Stellung der Reform-Koalition durch den Kongreß erheblich gestärkt. Im neuen V. Z E K konnte sie sich immerhin schon mit einiger Sicherheit auf 40 bis 45 der 120 Vollmitglieder stützen. Aber da audi die allen Reformmaßnahmen skeptisch gegenüberstehenden regionalen Gruppen verstärkt im V. Z E K vertreten waren, blieb der Kampf um die Einführung bodenreformerischer Maßnahmen weiterhin unentschieden. Immerhin traten am l . M ä r z 1936 endlich die beiden Gesetze von 1930 und 1935 in Kraft 7 0 , und bis zum Ausbruch des Krieges, im Juli 1937, waren die Provinzverwaltungen von Kiangsi, Chekiang und Hupei unter der Führung von Hsiung Shih-hui, Chu Chiahua und Ch'en Ch'eng (dieser in seiner Eigenschaft als Chef des Militärbezirks Hupei, das Amt des Gouverneurs übernahm er offiziell erst 1939) dazu übergegangen, Pachtreduktionen durchzuführen und die Festsetzung einer Höchstgrenze für den privaten Grundbesitz vorzubereiten. Auch die Feststellung der Bodenwerte kam nur langsam voran. Am 5. August 1934 berichtete die Nationalregierung, daß diese in 129 Landkreisen, die in elf Provinzen lagen, durchgeführt sei. Fast drei Jahre später, im Juni 1937, waren es immer noch nicht mehr als 304 Landkreise in 13 Provinzen, also kaum 1 7 % der lokalen Verwaltungseinheiten Chinas 71 . 69

Resolution des V. Parteikongresses der K M T zur Landpolitik, vom 19. 11. 1935, in:

70

Ch'en Ch'eng, op. cit., p. 133 und 181.

Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 693 f. Siehe dazu auch oben, S. 5 1 9 ! C Y J P vom 6. 8 . 1 9 3 4 . 71

C Y J P und „Shen-pao" vom 14. 6. 1937.

Die Landpolitik

der KMT 1932 bis 1937

567

So blieben die bescheidenen Erfolge der Bodenpolitik der KMT im wesentlichen auf die Provinzen Chekiang, Kiangsi und einige Bezirke in Honan, Anhui und Hupei beschränkt. Daß gerade diese Gegenden bis zum Frühjahr 1949 gegen die propagandistische und infiltratorische Tätigkeit der KCT immun geblieben sind, bietet eine Bestätigung für die großen Möglichkeiten der Machterhaltung und wohl auch der Machtausbreitung, die sich für die KMT aus wirksamen Reformen in der Landwirtschaft hätten ergeben können. Man wird jedoch nicht übersehen dürfen, daß die nationalistische Einheitspartei vor 1937 erheblichen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihrer reformistischen Agrarpolitik gegenüberstand, nachdem sie sich einmal dazu entschlossen hatte, auf den Einsatz revolutionär orientierter und zentral gesteuerter Massenorganisationen in den Dörfern Chinas zu verzichten und die Einigung des Landes auf dem Wege über Arrangements mit regionalen Kräftegruppen zu erreichen. Die Frage nach den Gründen für die Erfolglosigkeit der Agrarpolitik des nationalistischen China vor 1949 hat Gottfried-Karl Kindermann in überzeugender Weise beantwortet. Er verweist vor allem auf die „machtsoziologisch grundlegende Tatsache, daß es der Kuomintang auf dem chinesischen Festland nie gelungen ist, eine staatliche Herrschaftsordnung zu schaffen, in deren Rahmen die Voraussetzungen zu einer relativ verläßlichen, erzwingbaren und kontrollierbaren Durchführung der von der Nationalregierung erlassenen Gesetze gegeben war 72 ."

Kindermann stellt weiter die „militärische und finanzielle Überbeanspruchung" Nankings fest, das seine „Existenz in einem Dreifrontenkrieg gegen die Provinzmachthaber, die chinesischen Kommunisten und die japanische Aggression behaupten mußte 73 ."

Darüber hinaus weist er auf das Fehlen einer ausreichend starken, „politisch und fachlich qualifizierten Beamtenschaft" hin, auf das Ausbleiben „auswärtiger Entwicklungshilfe" und die Widerstände gegen Agrarreformen, die sich aus der soziologischen Struktur der KMT-Führung ergaben. Der chinesische Pädagoge und Politiker Chiang Meng-lin, der maßgeblich an der von der KMT nach 1949 auf T'aiwan durchgeführten Bodenreform beteiligt war, bestätigte Kindermanns Urteil, als er die folgenden vier Gründe für das Scheitern der Landpolitik der KMT nannte: 72 73

Kindermann, Kulturen, op. cit., p. 96. ibid., p. 98—101 (Zitat hier p. 98).

568

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

„a) Die einflußreichsten Intellektuellen, die in ihrer Mehrheit aus Grundbesitzerfamilien stammten, waren meist nicht bereit, die Landreform zu unterstützen. b) Die großen Grundbesitzer und andere mächtige Kräfte mit ,vested interests' in der Dorfgemeinschaft opponierten gegen die Landreform. c) Die großen Massen des Volkes auf dem diinesischen Festland, die ziemlich unwissend waren, wußten nichts über die Bedeutung der Landreform und konnten mit der Regierung nicht zusammenarbeiten, um Reformmaßnahmen durchzuführen. d) Abgesehen von einigen R e g i o n e n . . . (Chiang Meng-lin nennt hier Beispiele aus der 2eit nach 1937, d. Verf.) erkannten die lokalen Behörden in den meisten Regionen des weiten Festlandes nidit die Notwendigkeit der Landreform, oder sie hatten nicht den notwendigen Mut oder die Entschlossenheit, solche Reformen zu unternehmen 74 ."

Diesen beiden Beurteilungen, die sich bei einer Untersuchung der Landpolitik der KMT bis 1937 als stichhaltig erweisen, wäre höchstens hinzuzufügen, daß einige der von Kindermann und Chiang genannten ungünstigen Voraussetzungen sidi seit 1935 langsam zu ändern begannen. Dies geschah vor allem dort, wo entwicklungspolitisch aufgeschlossene, energische Provinzverwaltungen arbeiteten, wie in Chekiang unter Chang Ching-chiang und Chu Chia-hua, und in jenen Gebieten, wo die herkömmlichen Führungsgruppen in den Dörfern von den Kommunisten liquidiert oder mindestens erheblich geschwächt waren, wie in Zentralund Süd-Kiangsi.

Zur soziologischen

Struktur

des IV. und V. ZEK der

KMT75

Statutengemäß und auch weitgehend tatsächlich waren das IV. und das V. ZEK die wichtigste Führungsgruppe der KMT in den Jahren von 1932 bis 1935 bzw. von 1935 bis 1937 — und weiter bis zum Mai 1945, als der VI. Parteikongreß der KMT zusammentrat. Die Untersuchung der soziologischen Struktur der Führungsgruppen, die im VI. Kapitel begonnen und im X. Kapitel fortgesetzt wurde, soll jetzt, unter Anwendung der schon benutzten Kriterien mit Bezug auf das IV. und V. ZEK zum Abschluß gebracht werden. Von den 72 Mitgliedern des IV. ZEK hatten nur 11 diesem Gremium zuvor noch nicht angehört. Jene Persönlichkeiten, welche die Partei oder ihre verschiedenen Fraktionen bis 1931 geführt hatten, fanden sich alle wieder in der im Herbst 1931 neu gebildeten Führung. Im Gegensatz 71

75

Schriftliches Interview Dr. Gottfried-Karl Kindermanns mit Chiang (Mon-lin), in englischer Sprache zitiert ibid., p. 165—173 (hier: p. 167). Siehe oben, Anm. 10 zum VI. Kapitel!

Meng-lin

Zur soziologischen Struktur des IV. und V. ZEK der KMT

569

dazu brachte — wie wir bereits sahen — die Wahl des V. Z E K im November 1935 eine erhebliche Veränderung des Leitungspersonals, als von den 120 Vollmitgliedern 65, oder fast 55 % , neu in das Spitzengremium der Partei eintraten 76 . Den folgenden Daten sind diejenigen des I I I . Z E K noch einmal zum Vergleich beigefügt, um die Veränderungen, welchen die Führungsgruppe seit 1930/31 unterworfen war, dem Leser deutlicher erkennbar zu machen. Die landsmannschaftliche Herkunft der Mitglieder des IV. und V. Z E K ergibt folgendes Bild: Tab. 16: Herkunftsprovinzen Provinz Kuangtung Chekiang Hupei Kiangsu Kuangsi Kiangsi Shansi Ssuch'uan Hunan Anhui Kueichou Hopei Fukien Yünnan Shantung Tungpei Shlnsi Innere Mongolei Honan Hsinkiang Tibet unbekannt

der Mitglieder des IV. und V.

IV. Z E K 1931 22 10 7 6 3 3 3 2 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 — —



1

ZEK:

V. Z E K 1935 24 15 8 13 3 4 5 5 4 7 8 5 2 3 5 2 2 1 1 1 1 1

(III. Z E K ) (12) ( 7) ( 2) ( 2) (-) ( 2) ( 2) ( 1) ( i) ( 2) ( 1) (-) ( i) ( 1) ( 1)

(-) ( 1) (-)

(-) (-) (-)

(-)

Was zunächst auffällt, ist die spürbare Verbreiterung der regionalen Basis. Wenn man Tungpei und die Innere Mongolei als Einheit zählt, obgleich sie aus mehreren Provinzen bestanden, gab es in China zwischen 1924 und 1937 insgesamt 24 Provinzen und Regionen. Von ihnen waren im I., I I . und I I I . Z E K jeweils nur 14 vertreten, im I V . jedoch 19 und im V. gar 21. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die regionale Verteilung der ZEK-Mitglieder wesentlich gleichmäßiger geworden wäre. Im 78

Siehe oben, S. 520!

570

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

IV. ZEK kamen 56 Mitglieder aus den Gebieten südlich der YangtzuLinie, 15 hingegen aus denjenigen nördlich des Yangtzu. Erst im V. ZEK verstärkte sich die Position des Nordens etwas, jetzt war das Verhältnis 78 :41 (im III. ZEK hingegen 30 : 6). Aus den Küstenprovinzen stammten 43, oder rund 60 % , der Mitglieder des IV. und 67, oder etwas über 55 % , derjenigen des V. ZEK (im III. ZEK 23 oder 60 %), aus den Provinzen des Landesinneren aber 28 Mitglieder des IV. und 52 des V. ZEK (im III. ZEK: 13). Wenn wir wiederum die Mitglieder aus den Provinzen des Yangtzu-Tales bis Wuhan zu denjenigen aus den Küstenprovinzen hinzuzählen, so ergibt sich für das IV. ZEK ein Verhältnis von 52 :19, für das V. ein solches von 82 : 39 (im III. ZEK: 27 :9). Dies bedeutet, daß die Gegenden Chinas, welche den westlichen Einflüssen in besonderem Maße ausgesetzt waren, im III. ZEK von 75 %>, im IV. von knapp 73 % und im V. von etwa 68 % der Mitglieder vertreten wurden. Es zeigt sich also eine ganz leichte Tendenz dazu, in stärkerem Maße Vertreter der Inlandsprovinzen zur Führungsgruppe heranzuziehen. Audi im IV. ZEK waren immer noch 31 °/o der Mitglieder (im III. ZEK: ein Drittel) Kantonesen, ihr Anteil sank jedoch im V. ZEK auf 20 % . Dagegen kamen im V. ZEK 12,5 % der Mitglieder aus Chekiang, im IV. waren es 14 % und im III. nahezu 20 % . Während der Anteil beider Provinzen zurückging, verringerte sich dazu der Abstand zwischen Kuangtung und Chekiang zugunsten der letzteren Provinz. Die soziale Herkunft ist auch bei den Mitgliedern des IV. und V. ZEK schwer zu ermitteln, für das V. nur bei 30 der 120 Mitglieder. Tab. 17: Soziale Herkunft der Mitglieder des IV. und V. (bekannt: beim IV. Z E K : etwa 79 %>, beim V.: 75 °/o) Herkunftsgruppe V. ZEK 18 aus Familien der Honoratiorensdiidit . . 7 aus anderen Grundbesitzerfamilien .... 8 aus Bauernfamilien 14 aus Kaufmanns- und Bankierfamilien . . 8 aus Handwerkerfamilien — aus Arbeiterfamilien 2 aus Familien westl. erzogener Intelligenz . .

ZEK: V. ZEK 25 11 12 24 11 3 3

(III. ZEK) (4) (5) (4) (9) (2) (-) (1)

Grundbesitzerinteressen können mit Sicherheit bei nicht ganz 45 % der Mitglieder des IV. und bei etwa 38 % des V. ZEK festgestellt werden. Wie schon zuvor, so gilt auch hier, daß dieser Anteil durchaus größer sein und in beiden Fällen rund 50 °/o betragen kann, wenn man annimmt, daß eine Reihe der Mitglieder, deren soziale Herkunft nicht zu ermitteln ist, ebenfalls selber Land besaßen oder über familiäre Beziehungen zu Grundbesitzern verfügten. Der Anteil von Politikern aus Familien des Groß-

2ur soziologischen

Struktur

des IV. und V. ZEK der

571

KMT

bürgertums betrug beim IV. 2EK mit Sicherheit 21 % (III. ZEK: 34 %), beim V. rund 25 % . Insgesamt waren über 4 0 % des V. und etwa 35 % des IV. 2EK sicher urbaner Herkunft, doch stieg im V. ZEK hier der Anteil der Mitglieder, die aus Handwerker- und Arbeiterfamilien stammten, gegenüber dem IV. von rund 11 % knapp auf nahezu 13 °/o an. Abgesehen vom gesunkenen Anteil des Großbürgertums, der jedoch durch ein Ansteigen des Anteils der aus Honoratiorenfamilien stammenden ZEK-Mitglieder kompensiert wird, die sich in zunehmendem Maße in den Städten sammelten, hat sich also, im ganzen gesehen, die soziale Herkunft der KMT-Führungsgruppe seit 1926 kaum verändert 77 . Über die absolvierten Ausbildungsstätten stehen Angaben bei allen 72 Mitgliedern des IV. und bei 116 der 120 Mitglieder des V. ZEK zur Verfügung. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Tab. 18: Ausbildungsstätten

der Mitglieder

Es absolvierten: eine klassisch-chinesische Ausbildung . . . . nur chinesische Mittelschulen nur chinesische Militärakademien nur chinesische Universitäten ausländische Bildungsanstalten d a v o n : japanische Militärakademien . . . . japanische Universitäten Universitäten in U S A französische Universitäten britische Universitäten deutsche Universitäten Universitäten in der U d S S R . . . . türkische Universitäten unbekannt

des IV. und V. IV. ZEK 4 2 13 4 49 10 19 14 4 3 3 — — —

ZEK: V. ZEK 3 1 31 18 63 12 20 17 5 8 6 5 1 4

(III. ZEK)

(

4)

(-) ( 6) ( i) (25)" ( 6) (10) ( ( ( ( (

7) 2) 3) i) -)

(-) (-)

Während sich in diesem Bereich das IV. ZEK nicht allzu wesentlich von seinen Vorgängern unterscheidet, scheint mit dem V. eine neue Entwicklung der Führungsgruppen der KMT einzusetzen, die durch weitere Untersuchungen der nach 1937 gewählten ZEK, die nicht Aufgabe dieser Studie sein können, zu überprüfen wäre. Der Anteil der Absolventen ausländischer Bildungsanstalten, der im I. ZEK 62,5 % , im II. fast 60 °/o und im III.: 69 % betragen hatte, erreichte mit rund 70 °/o im IV. ZEK einen Höhepunkt, um dann im V. plötzlich auf rund 52,5 % abzusinken. Da jedoch gleichzeitig der Anteil der Absolventen chinesischer Universitäten und Militärakademien von 11 % im I. ZEK über fast 2 0 % im II. und III. auf fast 23 % im IV. und gar auf über 40 % im V. ansteigt, deutet 77

Vgl. Anm. 119 zum X . Kapitel!

572

XIII. Kapitel:

Die KMT und das Volk

diese Tendenz eher auf eine Emanzipation des Bildungswegs vom obligatorischen Auslandsstudium als auf ein Sinken des Ausbildungsniveaus hin. Besonders deutlich wird dies beim Anteil der Graduierten chinesischer Universitäten, der im I. ZEK etwa 6 °/o, im II.: 11 °/o, im III.: nur knapp 3 % und im IV.: 5,5 % betragen hatte, während er im V. mit 15 % seinen bis dahin höchsten Stand erreichte. Das Verhältnis von Absolventen japanischer zu solchen westlicher Bildungsanstalten, im III. ZEK 14 :11, im IV. dann — wenn man Absolventen von Instituten in Japan und im Westen abrechnet — 26 :20, stellt sich im V. ZEK wie 27 :31, der Anteil der Absolventen westlicher und sowjetischer Institute übersteigt also 1935 wiederum, wie schon einmal 1926, denjenigen der japanischen. Altersangaben liegen für alle Mitglieder des IV. und für 116 der 120 Mitglieder des V. ZEK vor. Sie beziehen sich hier jeweils auf das Datum der Bildung des betr. ZEK: Tab. 19: Altersgruppen

unter den Mitgliedern

Alter beim Eintritt ins 2 E K : unter 35 Jahren 35 bis 40 Jahre 41 bis 50 Jahre 51 bis 60 Jahre über 60 Jahren

des IV. und V. ZEK: IV. 2 E K 5 14 44

7 2

V. ZEK 4 32 58 20 2

(III. ZEK) ( 3) (13) (16) ( 3) ( 1)

Das Durchschnittsalter der Mitglieder des ZEK der KMT stieg also, obgleich viele leitende Persönlichkeiten der Partei seit 1924 bzw. 1926 der Führungsgruppe angehörten, nur geringfügig von 43JA Jahren im I., 42 im II. und 42,1 im III. ZEK auf jeweils 44,9 Jahre im IV. und V. ZEK an, ein Zeichen dafür, daß es bis 1935 der nationalistischen Einheitspartei in China gelang, ihre Führung immer wieder durch heranwachsende Kräfte zu ergänzen. Im IV. ZEK saßen zwei Frauen und je ein Vertreter der nationalen Minderheiten und der Auslandschinesen, im V. fehlen hingegen die Frauen völlig, während die Zahl der Vertreter nationaler Minderheiten auf drei ansteigt. Auch ein Auslandschinese findet sich unter seinen Mitgliedern. Der Anteil der Militärs, im III. ZEK mit 14 Personen fast 40 °/o, sinkt im IV. auf 34,5 °/o (25), um im V. dann wieder auf 51, oder 42 %>, anzusteigen. Hier spiegeln sich jeweils Machtverfall und Machtzuwachs Chiangs wider, der die meisten Militärs zu seinen Anhängern zählen konnte, obgleich in das V. ZEK auch eine Reihe von Vertretern der nordund südwestchinesischen Militärgruppen neu eintraten. Das V. ZEK zeichnet sich noch dadurch aus, daß hier zum ersten Mal vier Absolventen der parteieigenen Militärakademie von Huangpu zu finden sind. Die

Zur soziologischen Struktur des IV. und V. ZEK der KMT

573

stärkste Militärgruppe bleibt jedoch diejenige der Absolventen der Paoting-Akademie, von denen im V. ZEK 15 zu finden sind. Vergleicht man die Zusammensetzung des IV. und V. ZEK, der Führungsgruppen der Periode im wesentlichen unangefochtener Herrschaft, mit derjenigen in der Periode revolutionärer Aktion, also des I. und II. ZEK, so ergeben sich folgende Feststellungen: 1. Der zivile Charakter der Führungsgruppe tritt zurück, der Anteil der Militärs ist um mehr als das Doppelte angewachsen. Weiterhin ist jedoch über die Hälfte ihrer Mitglieder, im westlichen Sinne, akademisch ausgebildet. 2. Der Anteil der Mitglieder aus Gebieten, in denen starke ausländische, vor allem westliche Einflüsse wirkten, blieb im IV. ZEK mit 73 °/o fast genau so groß wie in den Jahren von 1924 bis 1929 (rund 7 5 % ) , im V. begann er jedoch zu sinken und erreichte jetzt nur noch 68 % , was aber, nach wie vor, erheblich über den Anteil dieser Gebiete an der Gesamt-Bevölkerung hinausgeht. 3. Weiterhin kommt fast die Hälfte der Mitglieder des ZEK aus den traditionellen chinesischen Führungsschichten, und ein großer Prozentsatz steht in enger Verbindung zu Grundbesitzerinteressen. Dies wirkt sich hemmend auf die Bereitschaft der Führungsgruppe zu sozialen Reformen in den Dörfern aus, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß einige ZEK-Mitglieder aus der landbesitzenden Honoratiorenschicht erhebliches Interesse daran gezeigt haben, das Los der Bauern zu bessern, unter ihnen vor allem Chu Chia-hua und Hsiung Shih-hui. 4. Die, schon für das I. und II. ZEK festgestellte, meist städtische Herkunft dieser Elite bleibt, trotz ihrer Verbindung zu Grundbesitzerinteressen, weiterhin deutlich erkennbar. Hier entsteht ein klarer Gegensatz zu der kommunistischen Führungsgruppe um Mao Tse-tung, der es bis 1937 gelingt, die aus Städten stammenden Leitungszirkel der KCT immer mehr in den Hintergrund zu drängen. 5. Auch an der eindeutigen Uberrepräsentation der Provinzen südlich des Yangtzu ändert sich nur wenig. Fast zwei Drittel der Mitglieder des V. und über 75 °/o derjenigen des IV. ZEK stammen aus Südchina. Dies entspricht den für das I. bzw. II. ZEK ermittelten Werten. 6. Die in der Einleitung genannten vier Arten der Bildung politischer Eliten sind in ihrem Anteil am Zustandekommen der Führungsgruppen von 1931 bis 1937 noch etwas stärker vertreten als in den Jahren von 1924 bis 1929. 39 Mitglieder des IV. und 52 des V.ZEK absolvierten ausländische Universitäten. Dabei ging jedoch der Anteil der Geisteswissenschaftler geringfügig auf 62 % im IV. und 60 °/o im V. ZEK

574

XIII. Kapitel: Die KMT und das Volk

zurück, während derjenige der Absolventen naturwissenschaftlich-technischer Disziplinen von knapp 32 % im I I I . Z E K auf 38 % i m I V . und 40 % im V. anstieg. 24 Mitglieder des I V . und 43 des V. Z E K kamen von Militärakademien westlichen Musters in China oder Japan, chinesische Universitäten absolvierten vier Mitglieder des IV., dagegen schon 18 des V. ZEK, während es im I I I . nur eines gewesen war. Hier zeigt sich die zweite große Veränderung gegenüber dem I. und I I . ZEK. Sie ließe sich so interpretieren, daß mit der Militarisierung eine „Nationalisierung" der Eliten Hand in Hand geht, wobei die Frage offen bleibt, was hier U r sache, was Wirkung sein mag. An Kaufleuten aus Küstenstädten, die — ohne formelle westliche Erziehung — westlichen Einflüssen ausgesetzt waren, finden sich im IV. — wie im I I I . — Z E K einer, im V. zwei. Im ganzen steigt der Anteil der aus den genannten vier Gruppen kommenden ZEK-Mitglieder, der im I. Z E K 87 % , im II. 80 °/o ausgemacht hatte, auf über 90 % im I I I . Im I V . Z E K beträgt er mit 68 Mitgliedern 94 % , im V., mit 115 von 120, fast 96 % . Der Prozeß der Machtübernahme durch die Angehörigen dieser vier Elitegruppen ist damit praktisch abgeschlossen, die Absolventen klassischer chinesischer Erziehung treten vollends in den Hintergrund.

XIV. Kapitel Fünf Jahre Aufbau in China So wichtig soziale Reformen für die Uberwindung der Armut und der ökonomisch-technischen Rückständigkeit Chinas waren, so bedurfte es doch auch erheblicher Anstrengungen im Bereich des materiellen Aufbaus, um die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft voranzutreiben. Dazu gehörten Verbesserungen der Infrastruktur, vor allem des Verkehrswesens, die Förderung der einheimischen Industrie, aber auch der Ausbau des Erziehungssystems. Unter den besonderen außen- und innenpolitischen Verhältnissen, in denen das chinesische Volk in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts zu leben hatte, galt es außerdem, der Entwicklung einsatzfähiger, gut ausgebildeter und modern ausgerüsteter Streitkräfte große Aufmerksamkeit zu widmen. Sie waren nicht nur unerläßlicher Schutz gegen eine Aggression von außen, sondern auch ein wesentliches Element, um der Nationalregierung das nach Max Weber für jede wirksame Herrschaft notwendige „Monopol physischer Zwangsgewalt" zu sichern, das wiederum die Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik in China war. Deshalb gehörte der militärische Aufbau in den Jahren von 1932 bis 1937, der sich unter dem maßgeblichen Einfluß deutscher Berater vollzog, untrennbar zur Entwicklungspolitik der KMT, und aus diesem Grunde wird er auch hier in den Versuch einer Darstellung der nationalistischen Bemühungen um den materiellen Aufbau des Landes einbezogen. Dies scheint mir um so mehr berechtigt zu sein, als er einen erheblichen Teil der finanziellen Mittel, welche der Nationalregierung zur Verfügung standen, in Anspruch nahm. Man mag diese Tatsache kritisch beurteilen, doch sollte dies nur geschehen, wenn man in der Lage ist, zugleich Alternativen, die der K M T hier zur Verfügung gestanden hätten, zu entwickeln. Ich sehe mich, in Anbetracht der japanischen Chinapolitik seit 1931 und der innenpolitischen Situation des Landes, dazu nicht imstande.

576

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau

in China

Der militärische Aufbau Als die Japaner am 18. September 1931 in Tungpei angriffen, verfügte China über Landstreitkräfte, deren numerische Stärke durchaus eindrucksvoll war. Das „China Year Book" für 1931/32 gibt für das Heer eine Gesamtzahl von 2.245.536 Soldaten an1, F. F. Liu spricht von „über 2.000.000" 2 , und selbst niedrige Schätzungen chinesischer Generale gehen nicht unter 1,7 bis 1,8 Millionen Mann 3 . Einen zuverlässigeren Eindruck von der tatsächlichen Kapazität der chinesischen Armeen bekommt man jedoch, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zur gleichen Zeit — also um die Jahreswende 1931/32 — höchstens 1,5 Millionen Gewehre zur Verfügung standen, von denen 8 0 % „veraltet" und „allgemein in schlechtem Zustand" waren. Sie gehörten noch dazu zu mindestens elf verschiedenen Modellen aus sechs verschiedenen Ländern, und ähnliches galt für automatische Feuerwaffen und Geschütze4. Die noch im ersten Aufbaustadium befindliche Luftwaffe verfügte über kaum mehr als 200 Flugzeuge, von denen die meisten aus den letzten Jahren des ersten Weltkrieges stammten. Der Kauf von zehn Jagdflugzeugen, 22 leichten Bombern, sechs Ausbildungsapparaten und neun anderen Maschinen in den USA und Frankreich im Laufe des Jahres 1931 hatte zwar zu einer Verstärkung der unmittelbar der Nationalregierung unterstehenden Luftwaffenverbände geführt, doch fiel diese gegenüber den japanischen Luftstreitkräften, die damals bereits mindestens 1.500 zum Teil sehr moderne Flugzeuge umfaßten, kaum ins Gewicht5. Ishimaru schätzt die Stärke der Luftstreitkräfte der Zentralregierung im Februar 1932 auf sieben Geschwader und eine Abteilung Wasserflugzeuge mit insgesamt etwa 100 Maschinen, die jedoch, wie er schreibt, „nur durch Fernbleiben während des Kampfes (in Shanghai, d. Verf.) vor der Vernichtung verschont blieben" 8 . Ähnliches galt für die Kriegsflotte, die zwar im Frühjahr 1932 über fünf leichte Kreuzer (Baujahr 1897/98), 27 Kanonenboote und 13 Torpedoboote verfügte, von denen jedoch nur ein Kanonenboot nach 1918 1 2 3

4 5

China Year Book 1931—32, p. 588—591. Liu, op. cit., p. 73 f. H o Ying-di'in gab im Interview mit dem Verfasser für 1932 eine Heeresstärke v o n „mindestens 1,7 Millionen Mann" an, Pai Ch'ung-hsi sprach für dasselbe Jahr v o n „etwa 1,8 Millionen" (beide Interviews am 11. September 1964 in T'aipei). China Year Book 1931—32, p. 583. ibid., p. 363 f.

' Ishimaru, op. cit., p. 148.

Der militärische

Aufbau

5 77

gebaut worden war 7 . Hinzu kam, daß die chinesischen Armeen im Winter 1931/32 in ihrer Mehrheit immer noch regionalen Militärmachthabern eher gehorchten als der Nationalregierung. Zwar war die Stärke der „Zentralarmee" in weiterem Sinne, also der Nanking unmittelbar unterstehenden Verbände, von 230.000 Mann — oder 10 bis 15 °/o der Gesamtstreitkräfte — Anfang 1929, auf ungefähr 800.000 Mann — oder rund 4 0 % der Gesamtstreitkräfte — Ende 1931 angestiegen8, aber die Provinzarmeen stellten weiterhin einen zahlenmäßig sehr starken Faktor dar. Anfang 1932 umfaßten die Truppen Chang Hsiieh-liangs in Nordchina rund 230.000 Mann, die von Unterbefehlshabern Yen Hsi-shans kommandierten Einheiten in Shansi, Hopei und der Inneren Mongolei, etwa 130.000 Mann, und die Reste der alten Kuominchün in Shantung, Shansi, der Inneren Mongolei, Shensi und Kansu ungefähr 150.000 Mann. Weitere in sich geschlossene, autonome Einheiten bildeten die KuangtungArmee mit 81.000 und die Kuangsi-Armee mit damals 72.000 Soldaten. In Yünnan, Kueichou, Hunan und Ssuch'uan standen Provinzverbände mit einer Gesamtstärke von über 350.000 Mann 9 . Alle Pläne aus dem Jahre 1928, aus dieser großen, aber ineffizienten Streitmacht ein modernes, zentral gelenktes Heer mit 600.000 Mann Kampftruppen und 200.000 Mann Gendarmerie zu formen, waren an den Auseinandersetzungen zwischen Chiang und den regionalen Machthabern gescheitert10, nur eine Kombination von Gewaltanwendung und schrittweiser Durchdringung von der Zentrale her konnte China eine einheitliche und kampfkräftige Armee verschaffen. Diesen Weg besdiritt Chiang mit dem Aufbau und der allmählichen Verstärkung der „Zentralarmee". Für sie aber war die Verstärkung des modern ausgebildeten O f fizierskorps auschlaggebend, das vor allem aus der „Zentralen Militärakademie", der Nachfolgerin der Huangpu-Akademie, heranwuchs. Wenn wir den Angaben Lius folgen, dann müssen Anfang 1932 der chinesischen Armee ungefähr 14.000 Absolventen dieses Instituts zur Verfügung gestanden haben 11 . Nach Schätzungen, die Chiang selbst anstellte, brauchte das Land aber etwa 170.000 modern ausgebildete Truppen- und Stabsoffiziere 12 .

7

China Year Book 1931—32, p. 593—595.

8

Siehe oben, S. 323 und 4 7 1 ! China Year Book 1931—32, p. 588—591. Siehe oben, S. 312 f.! Liu, op. cit., p. 81 und 147. Zentrale Militärakademie, Dokument 34, vom Juni 1936, zitiert ibid., p. 147.

9 10 11 12

37

Domes

578

XIV.

Kapitel:

Fünf Jahre

Aufbau

in

China

Aus der hier beschriebenen Situation ergaben sich deutlich die Aufgaben, weldie die Nationalregierung seit 1932 mit erheblicher Energie in Angriff nehmen mußte: Es galt, die Streitkräfte unter ein einheitliches Kommando zu bringen, also so viele Provinzeinheiten wie irgend möglich in die „Zentralarmee" im weiteren Sinne zu integrieren; die „Zentralarmee" selbst mußte reorganisiert und besser ausgerüstet werden; das militärische Ausbildungswesen war auszubauen und die Zahl der Absolventen der Militärakademie und neuzeitlicher Spezialschulen drastisch zu erhöhen; Kriegsmarine und Luftwaffe mußten modernisiert und zu schlagkräftigen Instrumenten entwickelt werden; und die Kriegsindustrie bedurfte einer spürbaren Ausdehnung. Bereits in der Periode der Bürgerkriege von 1929 bis 1931 hatte der Heeresminister der Nationalregierung, H o Ying-ch'in, ein wirksames System der Integration von geschlagenen oder übergelaufenen regionalen Einheiten in die „Zentralarmee" entwickelt. Diese Verbände wurden zunächst entwaffnet, dann unter der Aufsicht von Offizieren der „Zentralarmee" reorganisiert und von „fliegenden Ausbildungsteams" mit einer Grundausbildung versehen, die sie an das Niveau der „Zentralarmee" im weiteren Sinne anglich. Die Offiziere brachte man zu Schnellkursen nach Nanking oder in alte Einheiten der „Zentralarmee", und es galt das Prinzip, daß die neu hinzugewonnenen Truppen genau die gleiche Behandlung erfuhren wie die ursprünglichen Verbände Nankings. Dies bezog sich vor allem auf die Löhnung, die offenbar für manche Soldaten der Provinzarmee nadi deren Eingliederung in die „Zentralarmee" zum ersten Mal pünktlich und regelmäßig gezahlt wurde 13 . Solche Maßnahmen führten dazu, daß der Anteil der Provinzarmeen an den Gesamtstreitkräften immer mehr zurückging, ein Prozeß, der nach 1932 durch die Kämpfe gegen die Kommunisten, in deren Verlauf sich die Kontrolle der Nationalregierung auch auf die Provinzen des Südens und Südwestens ausdehnte, durch die Niederwerfung des Aufstandes von Fuchou und den Zusammenbruch des Regionalismus' in Kanton erheblich beschleunigt wurde. Folgt man den Zahlenangaben Lius, so standen, bei Ausbruch des Krieges gegen Japan, 1,2 Millionen von insgesamt 1,7 Millionen Soldaten unmittelbar unter dem Befehl der Zentrale, also rund 70 °/o aller Waffen13

Angaben H o Ying-ch'ins im Interview am 11. September 1964 in T'aipei.

Der militärische

Aufbau

579

träger in China. Sie gliederten sich — wiederum nach Liu — in 300.000 Mann der voll modernisierten Verbände (40 Divisionen) und 350.000 Mann der noch im Prozeß der Modernisierung befindlichen Einheiten der „Direkten Zentralarmee" (Chung-yang chih-hsi chün) — also der „Zentralarmee" im engeren Sinne — und 550.000 Mann der „Subsidiäreinheiten der Zentralarmee" (Chung-yang pang-hsi chün)14. Ishimaru wählt eine etwas andere Einteilung und kommt damit zu differierenden Resultaten. Er gibt für Anfang 1937 folgende Truppenstärken an: „1. Elitearmee" — gemeint ist die „Direkte Zentralarmee" —: 34 Divisionen, 382.000 Mann mit 358.000 Gewehren, 2.900 Maschinengewehren und 900 Geschützen; „2. Elitearmee" — „Subsidiäreinheiten der Zentralarmee" bei Liu —: 45 Divisionen, 543.000 Mann mit 451.000 Gewehren, 3.500 Maschinengewehren und 1.500 Geschützen; also: „Zentralarmee" ingesamt: 925.000 Mann mit 809.000 Gewehren, 5.500 Maschinengewehren und 2.400 Geschützen, dazu 400 Kampfflugzeuge. — „Armeen von Kuangtung und Kuangsi": 150.000 Mann — hier scheint jedoch in Wahrheit nur die Kuangsi-Armee gemeint zu sein; denn die Kuangtung-Truppen waren seit Juli 1936 in die „Subsidiäreinheiten der Zentralarmee" eingegliedert worden, und diese Zahl würde auch Lius Stärkeangabe von 143.000 Mann für die Kuangsi-Armee eher entsprechen; Truppen Chang Hsüeh-liangs: 180.000 Mann; Truppen Yen Hsi-shans in Shansi: 120.000 Mann; Kueichou-Truppen: 80.000 Mann; Yünnan-Truppen: 16.000 Mann; Shantung-Truppen: 60.000 Mann; Truppen aus Hopei und Chahar: 44.000 Mann 15 . Wenn man die Daten Ishimarus zugrundelegt, standen also 1937 in China den 925.000 Soldaten der „Zentralarmee" im weiteren Sinne 650.000 Mann der Provinzarmeen gegenüber, von denen die KuangsiArmee als Eliteverband galt1®. Die regionalen Streitkräfte verfügten jedoch nur über 388.000 Gewehre17. 14 15 16

17

37*

Liu, op. cit., p. 112 und 135. Ishimaru, op. cit., p. 113—115. So u. a.: Lily Abegg, China's Erneuerung — Der Raum als Waffe, Frankfurt/Main 1940, p. 149. Ishimaru, ibid.

XIV.

580

Kapitel:

Fünf Jahre

Aufbau

in China

Aber ob man sich nun an den Angaben Lius oder an denjenigen Ishimarus orientiert, in jedem Fall umfaßte die „Zentralarmee" im weiteren Sinne im Jahre 1937 60 bis 70 % aller chinesischen Streitkräfte, während es 1929 nur 10 bis 15% gewesen waren. Die Nationalregierung befand sich also auf dem Wege, tatsächlich das „Monopol physischer Zwangsgewalt" in China zu erringen. Mit diesem Prozeß ging die Reorganisation und Modernisierung der Einheiten der „Zentralarmee" Hand in Hand. Dabei spielten seit 1933/34 deutsche Militärberater eine ausschlaggebende Rolle; sie übernahmen jene Funktion, die in den Jahren von 1924 bis 1927 der sowjetische militärische Beraterstab unter General Galen für den Aufbau der damaligen „Parteiarmee" gehabt hatte: sie boten ein Organisationsmodell an, vermittelten moderne Ausrüstung und bildeten die Kader der neuen chinesischen Armee aus. Oberst Dr. Bauer, der im Oktober/November 1927 die Rolle eines Militärberaters der K M T aus eigener Initiative übernommen hatte 18 , starb im Frühjahr 1929 in Shanghai 19 . Ihm folgte für kurze Zeit, wiederum ohne offizielle Billigung der deutschen Regierung, der Oberstleutnant Hermann Kriebel, ein Nationalsozialist, der — nachdem er China im Herbst 1930 verlassen hatte — im April 1934 als deutscher Generalkonsul nach Shanghai zurückkehrte und in dieser Position erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der deutsch-chinesischen Beziehungen ausübte 20 . Die Beraterfunktionen deutscher Offiziere bei der chinesischen Armee wurden stärker formalisiert, als im August 1930 Generalleutnant Georg Wetzeil an die Stelle Kriebels trat. Wetzeil kam mit stillschweigender Billigung der deutschen Heeresleitung, und nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung" lud er im Mai 1933 den ehemaligen Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, ein, nach China zu kommen, um nach einer Inspektionsreise Vorschläge für die Reorganisation der chinesischen Armee zu unterbreiten 21 . Seeckt hielt sich vom Juni bis zum September 1933 im Lande auf, und schon am 30. Juni 1933 legte er 18

Siehe oben, S. 3 2 3 !

"

Liu, o p . cit., p . 63.

20

ibid., p . 74 f. D i e R o l l e der deutschen Militärberater in China 1933 bis 1938 kann im Z u s a m m e n h a n g dieser Untersudiung nur gestreift werden. Sie w ä r e einer besonderen Studie wert, die es bisher weder in der chinesischen noch in der westlichen Literatur gibt. F. F. Liu, op. cit., K a p i t e l 10, p . 9 0 — 1 0 2 , geht jedoch immerhin so ausführlich auf sie ein, d a ß hier weitgehend seiner Darstellung gefolgt w e r d e n kann. V g l . hierzu a u d i : K a r l Bloch, G e r m a n Interests and Policies in the F a r E a s t , N e w Y o r k 1939, passim.

"

Friedrich R a b e n a u , Seeckt — aus seinem Leben 1 9 1 8 — 1 9 3 6 , Leipzig 1940, p . 678.

Der militärische

Aufbau

581

in Peking Chiang seine „Denkschrift für Marschall Chiang Kai-shek" vor, in der er seine grundlegenden Empfehlungen zusammenfaßte 22 . Er empfahl vor allem den Ausbau der Militärschulen und die Bildung einer „Lehrbrigade" als Kerntruppe der Armee, von der die Erneuerung der Streitkräfte auszugehen hätte. Als Wetzell im Herbst 1933 das Land verließ, bemühte sich Chiang mit Hilfe Chu Chia-huas, Seeckt selbst als obersten Militärberater zu gewinnen. Diese Bemühungen hatten schließlich im April 1934 Erfolg, der deutsche General ging für ein Jahr an der Spitze einer größeren Beratergruppe nach China 23 . Im Mai 1935 löste ihn General Alexander v. Falkenhausen ab, der bis zum Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges an der Spitze der deutschen Beratergruppe blieb. Unter ihrem Einfluß wurde von 1934 bis 1936 die Reorganisation von 20 Divisionen mit 150.000 Mann durchgeführt. Eine Konferenz aller leitenden chinesischen Militärs beschloß, nach Anregungen Falkenhausens, im Juni 1936 einen Drei-Jahres-Plan für die Aufrüstung, der die völlige Modernisierung der Waffen, Ausbildung und Organisation von 60 Divisionen, eine wesentliche Verbesserung des Zustandes von 60 weiteren Divisionen und den Aufbau eines modern ausgebildeten Offizierskorps in Stärke von 170.000 Mann bis zum Sommer 1939 vorsah24. Insgesamt dienten von 1928 bis 1938: 137 deutsche Offiziere als Berater bei der chinesischen Armee. Im Jahre 1934 waren es allein 64, 1935 stieg diese Zahl auf 70 an, um dann bis 1938 wieder auf 30 abzusinken. Unter ihrer Leitung wurde ab 1935 eine „Lehrbrigade" (Chiao ta-tui) gebildet, deren Kommando der junge General Kuei Yung-ch'ing* übernahm und die im Sommer 1937 bereits 80.000 Soldaten umfaßte. Sie galt als Kern des im Aufbau befindlichen chinesischen Heeres. Im Juli 1937 war die Reorganisation von 40 Divisionen mit 300.000 Mann nach deutschem Modell abgeschlossen, und dem Lande standen 90.000 ausgebildete Truppenoffiziere zur Verfügung 25 . Besondere Bedeutung hatten für diese Entwicklung die chinesischen Militärschulen, als deren wichtigste weiterhin die „Zentrale Militärakademie" galt. In ihrer Hauptanstalt, in Nanking, graduierten jährlich 3.000 Kadetten, von 1932 bis 1936 also insgesamt 15.0002®, und 1935/36 22

23 24 25 28

Vgl. hierzu: Liu, op. cit., p. 93—96. Liu gibt an, daß die Denkschrift im „Deutschen Heeresardiiv, Potsdam, Sg. 60, Lager-Nr. 1864, Karten 15, Stück 205" zu finden sei. Liu, op. cit., p. 97. ibid., p. 99 f. und 147. Liu, op. cit., p. 102 und 147. ibid., p. 83.

582

XIV. Kapitel: Fünf Jahre Aufbau in China

wurden Zweiganstalten in Loyang, Wuhan, Ch'engtu und K'unming errichtet, die jeweils 1.000 bis 1.500 Offiziersschüler aufnehmen konnten, so daß man — wenn man die Absolventen der Jahrgänge vor 1932, die im aktiven Dienst blieben, hinzurechnet — annehmen kann, daß im Sommer 1930 etwa 30.000 Absolventen der „Zentralen Militärakademie" im chinesischen Heer Dienst taten. Für die Ausbildung von Generalstabsoffizieren gab es seit 1930 die „Heeresakademie" (Lu-chün ta-hsüeh, abgekürzt: Lu-ta) in Nanking, die bis zum Sommer 1937 insgesamt etwa 2.000 Offiziere absolviert hatten. Außer diesen beiden Einrichtungen wurde zwischen 1932 und 1937 nodi eine Anzahl von Spezialschulen geschaffen, die auch „Auffrischungskurse" für aktive Offiziere veranstalteten. Dazu gehörten vor allem: — die Infanterieschule, die Schule für militärisches Transportwesen, die Artillerieschule, die Kavallerieschule, die Schule für Militäringenieure, die Gendarmerieschule, die Schule für chemische Kriegsführung, die Panzersdiule, die Marine- und die Luftwaffenakademie 27 . Hinter der Reorganisation des Heeres trat die Bedeutung des Aufbaus der Kriegsmarine zurück. Dennoch gab es auch hier einige Fortschritte, die vor allem von zwei britischen Beratergruppen in die Wege geleitet wurden, von denen die erste vom April 1931 bis zum November 1933 und die zweite vom Dezember 1934 bis nach dem Ausbruch des chinesischjapanischen Krieges in China wirkten 28 . Von 1931 bis Ende 1936 stellte die chinesische Kriegsmarine zwei neue leichte Kreuzer, drei Zerstörer und 15 Kanonenboote in Dienst, von denen ein Kreuzer und neun Kanonenboote auf chinesischen Werften entstanden waren. Aus dem 19. Jahrhundert stammten nur noch drei, zu Schulzwecken benutzte Kreuzer, ein Kanonenboot und ein Transportschiff, während ein Kreuzer, ein Zerstörer, 16 Kanonenboote, vier Torpedoboote und sechs Transportschiffe zwischen 1900 und 1928 gebaut worden waren 29 . Kurz vor dem Ausbruch des Krieges gegen Japan begann sich auch in der Flotte der deutsche Einfluß bemerkbar zu machen. Zwölf Unterseeboote wurden auf deutschen Werften bestellt, und Verhandlungen über den Ankauf eines Kreuzers und mehrerer Schnellboote standen kurz 27

28 20

China Year Book 1936, p. 431; und: Liu, op. cit., p. 83—88. Vgl. hierzu audi: Tsung t'ung, Huangpu yü kuo-diün (Der Präsident, Huangpu und die Nationalarmee), Bildband, hrsg. vom Verteidigungsministerium der Republik China, T'aipei 1964, p. 62—100. China Year Book 1936, p. 436. ibid., p. 436—438.

Der militärische

Aufbau

583

vor dem Absdiluß, als der Krieg die Auslieferung dieser Schiffe unmöglich machte30. Besondere Aufmerksamkeit widmete Chiang aber der Verstärkung und der Modernisierung der Luftwaffe. Auf diesem Gebiet war seit Mai 1932 eine 15 Berater umfassende amerikanische Mission tätig, die in Chiench'iao bei Hangchou eine Flugschule errichtete. Sie verließ jedoch im Mai 1935 das Land, die Leitung der Schule wurde von chinesischen Offizieren übernommen. Eine italienische Luftwaffenberatergruppe begann im Oktober 1933 ihre Arbeit in Nanch'ang, die erheblich intensiviert wurde, als im August 1935 General Silvio Scaroni an die Spitze der Mission trat 31 . Unter dem Einfluß dieser beiden Beratergruppen wurde zunächst eine grundlegende Modernisierung der Luftstreitkräfte beschlossen, in deren Verlauf eine erhebliche Anzahl alter Maschinen durch neue ersetzt wurden, die meist amerikanischen und später audi italienischen Ursprungs waren. Am 12. Mai 1933 bildete sich eine „Nationale Vereinigung für den Aufbau der Luftfahrt" (Ch'üan-kuo hang-k'ung chien-she hui), welche die Aufgabe erhielt, die Öffentlichkeit zu Spenden aufzurufen, aus deren Ertrag neue Flugzeuge gekauft werden sollten. Bis zum V. Parteikongreß im November 1935 sammelte diese Vereinigung 2.988.501 Yüan, die den Ankauf von 42 amerikanischen Maschinen ermöglichten32. Zur Feier des 50. Geburtstages von Chiang Kai-shek — nach chinesischem Stil — wurde von der Vereinigung zu einer weiteren Flugzeugspende aufgerufen, die diesmal über 6 Millionen Yüan erbracht haben soll, so daß an dem Feiertag, dem 31. Oktober 1936, der Luftwaffe 70 neue Flugzeuge aus amerikanischer Produktion übergeben werden konnten 33 . Auf diese Weise stieg die Zahl der Kampfflugzeuge bei der „Zentralarmee" bis Ende 1935 auf etwa 15034. Im Sommer 1937 hatte sie, nach Angaben Ishimarus, bereits über 400 erreicht, nach Angaben des japanischen Kriegsministeriums sogar 785 Maschinen in 14 Geschwadern, davon 170 30 31 32

35

34

Liu, op. cit., p. 102. China Year Book 1936, p. 313. Beschluß des ZPR über die Errichtung der Nationalen Vereinigung für den Aufbau der Luftfahrt, v o m 1 2 . 4 . 1 9 3 3 , in: K M W H , Bd. X X V I I , p. 397 f.: und: Arbeitsbericht der Nationalen Vereinigung für den Aufbau der Luftfahrt, erstattet auf dem V. Parteikongreß der K M T im November 1935, in: K M W H , Bd. X X I X , p. 730 bis 736. C Y J P v o m 31. 10. und 1. 11. 1936. Vgl. hierzu: Ishimaru, op. cit., p. 224 und 241; und: Tong, op. cit., p. 164. Tong spricht von 100 Flugzeugen, eine Zahl, die jedoch nicht mit den kontemporären Presseberichten übereinstimmt. China Year Book, ibid.

584

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau in China

Jagdflugzeuge, 335 Bombenflugzeuge und 280 Aufklärer und Transportmaschinen. Hinzu kamen noch 70 ältere Maschinen bei den Luftverbänden der Kuangsi-Armee35. Während sich 1932 die Stärke der Luftwaffe bei der „Zentralarmee" zu derjenigen Japans wie 1 : 1 5 verhalten hatte, betrug dieses Verhältnis trotz nachhaltiger japanischer Verstärkungen fünf Jahr später nur noch etwa 1 : 5 . Unter dem Einfluß der deutschen Militärberater unternahm man ab 1933 auch erhebliche Anstrengungen zur Errichtung einer eigenständigen Kriegsindustrie. Vor allem die Arsenale von Hanyang (Wuhan), Kunghsien und Nanking wurden mit deutschen Maschinen völlig modernisiert, und in Hanyang konnten 1935 bereits moderne deutsche Feuerwaffen bis hin zu 82-mm-Grabenmörsern nachgebaut werden 88 . 1936 gab es im Lande zwar nur noch 16 Arsenale statt 21 im Jahre 1932, aber die Zahl der Arbeiter hatte sich verdoppelt, und jetzt entsprachen elf den modernsten Anforderungen, während dies 1932 nur für fünf gegolten hatte 87 . Die folgende Zusammenstellung vermag einen Eindruck von den Entwicklung des chinesischen Militärapparates in den Jahren von 1929 bis 1937 zu vermitteln: Tab. 20: Aufbau des chinesischen Militärapparates, Stärke im Jahre: Gesamtstreitkräfte „Zentralarmee" im weiteren Sinne „Zentralarmee" im engeren Sinne „Lehrbrigade" Absolventen der Zentr. Militärakademie im aktiven Dienst Absolventen der Stabsakademie im aktiven Dienst (Lu-ta) Zahl der Flugzeuge davon bei der „Zentralarmee"

1929—37

1929 2,2 Mio.

1932 2,2 Mio.

1937 1,5—1,7 Mio.

230.000

880.000

925.000—1,2 Mio.

— —

100—150.000 —

300.000—382.000 80.000

6.000

14.000

30.000

— 100

300 200

2.000 500—855

?

100

400—785

Diese beträchtlichen Fortschritte brachten jedoch auch schwerwiegende Probleme mit sich. Unter dem Eindruck der japanischen Bedrohung ver35

Vgl. Ishimaru, op. cit., p. 114 mit 148.

36

Vgl. hierzu: Liu, op. cit., p. 101. China Year Book 1936, p. 429 f.; und: China Year Book 1931—32, p. 584—586.

37

Weiterer Ausbau des

Erziehungswesens

585

größerte sich die Bedeutung des militärischen Apparates zusehends. Schon übernahm das Heer die Verwaltung in jenen recht ausgedehnten Gebieten der Provinzen Kiangsi, Hupei, Honan, Anhui und Fukien, aus denen die kommunistischen Partisanen verdrängt worden waren. Beim Militärkomitee wurde 1932 eine „Planungskommission für Nationale Verteidigung" (Kuo-fang chi-hua wei-yüan-hui) gebildet, die sich anschickte, ein eigenes Industrialisierungsprogramm zu entwickeln, und deren Funktionen sich mit denjenigen des Industrieministeriums und der Nationalen Wirtschaftskommission überschnitten38. Das Militär stellte weiterhin so hohe und mit so erheblicher Machtentfaltung vertretene Anforderungen an den Staatshaushalt, daß eine Anzahl ziviler Entwicklungsaufgaben zurückgestellt werden mußten. Endlich brachte der Einfluß der deutschen und italienischen Militärberater eine Annäherung der KMT an nationalsozialistische und faschistische Herrschaftsmodelle mit sich, die zwar lange nicht so weit ging, wie diejenige an das sowjetische Vorbild von 1924 bis 1927, die aber immerhin ausreichte, um einen weiteren Beitrag zur Entfremdung der liberalen Intelligenz von der nationalistischen Einheitspartei zu leisten. Erst nadi dem Abschluß des Antikomintern-Paktes zwischen Deutschland und Japan kühlte sich das Verhältnis Nankings zu Berlin erheblich ab, als nämlich Chiang und die Nationalregierung sich weigerten, dem Pakt beizutreten. In der nationalsozialistischen Führung setzten sich ab Anfang 1937 jene Kräfte durch, die eine Zusammenarbeit mit Japan engen Beziehungen zu China vorzogen. So konnte sich der deutsche Einfluß, der den Charakter der chinesischen Eliteverbände eindeutig bestimmte, in den Bereichen der zivilen Verwaltung und der politischen Struktur nicht mehr weiter ausdehnen.

Weiterer Ausbau des

Erziehungswesens

Die japanischen Angriffe in Tungpei und Shanghai und die innenpolitische Krise des Jahres 1931 hatten einen vorübergehenden Stillstand im Ausbau des Erziehungswesens zur Folge89. Die antijapanische Studentenbewegung absorbierte das Interesse der Sekundärschüler und Studenten, wochenlang fielen mancherorts Unterricht und Vorlesungen aus. Verteidigungslasten nahmen den Staatshaushalt noch stärker als zuvor in Anspruch, so daß oft nicht einmal die Mit38 39

Vgl. hierzu: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 914 f.; und: Liu, op. cit., p. 78 f. Für die Entwicklung 1928 bis 1931 siehe oben, S. 4 1 1 — 4 1 7 !

586

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau

in China

tel zur Erhaltung bestehender Institutionen der Erziehung und Ausbildung in vollem Umfange zur Verfügung standen, oder gar für den Aufbau neuer Bildungsstätten. Doch im Laufe des Jahres 1932 trat eine schrittweise Erholung ein. Jetzt begann das Erziehungsministerium mit weiteren Bemühungen um die Vereinheitlichung und Ausbreitung des Unterrichtswesens. Auf der Grundlage der Richtlinien von 192840 wurden dem Legislativyüan Entwürfe für Grundschul-, Sekundärschul-, Berufsschul- und Lehrerbildungsgesetze zugeleitet, die Anfang Dezember 1932 verabschiedet und am 17. bzw. 24. Dezember von der Nationalregierung in Kraft gesetzt werden konnten 41 . Diese Gesetze behielten die Einteilung in eine Unterstufe der Grundschule, die vier Klassen für Schüler im Alter von sechs bis zehn Jahren umfassen sollte, und in eine zweiklassige Oberstufe der Grundschule für elf- bis zwölfjährige Kinder bei. Dagegen wurde die Unterstufe der Sekundärschule von zwei auf drei Jahre verlängert, die Oberstufe der Sekundärschule aber von vier auf drei Jahre verkürzt. Die allgemeine Schulpflicht, von deren tatsächlicher Durchführung man noch weit entfernt war, wurde zunächst auf die Unterstufe der Grundschule beschränkt, sie sollte jedoch später audi auf die Oberstufe der Grundschule ausgedehnt werden. Die Aufnahme in Lehrerbildungsanstalten setzte die Absolvierung der Unterstufe der Mittelschule voraus. In der Regel war für jene ein dreijähriger Kursus vorgesehen, man schuf jedoch auch die Möglichkeit von ein- und zweijährigen Sonderkursen, um auf diese Weise die Zahl der jungen Lehrkräfte für den Grundschulunterricht zu erhöhen. Parallel zu den Sekundärschulen und Lehrerbildungsanstalten sollten in verstärktem Maße audi Berufssdiulen errichtet werden, die Kurse von ein- bis sechsjähriger Dauer anzubieten hatten. Gleichzeitig entwickelte das Erziehungsministerium neue Lehrpläne für die Sekundärschulen, die in einer Verordnung vom November 1932 veröffentlicht wurden und bis Ende 1933 in allen Bildungsanstalten dieser 40

China Year Book 1931—32, p. 778.

41

Gesetz über die Lehrerbildungsanstalten, v o m 1 7 . 1 2 . 1 9 3 2 ; Berufssdiulgesetz vom 17. 12. 1932; Sekundärschulgesetz v o m 24. 12. 1932; und Grundschulgesetz v o m 24. 12. 1932; alle in: „Li-fa-yüan kung-pao", N r . 45 v o m Januar 1933, audi in: K M W H , Bd. X X V I I , p. 88—91 und 96—100. Vgl. hierzu: China Year Book 1935, p. 278; T'ang, Reconstruction, p. 68 f.; und: Lin Ch'iu-sheng, op. cit., p. 41 ff.

Weiterer Ausbau des Erziehungswesens

587

Stufe eingeführt sein sollten. Sie sahen für die ersten beiden Jahre der Oberstufe drei Wochenstunden vormilitärischer Ausbildung vor, die man auf den Hochschulen fortsetzte — ein weiteres Anzeichen der seit 1931/32 zunehmenden Militarisierung des öffentlichen Lebens in China! Auf der Unterstufe der Sekundärschule sollte im Regelfall nur eine Fremdsprache — Englisch — gelehrt werden, während auf der Oberstufe fakultativ noch eine zweite Fremdspradie — Russisch, Deutsch, Französisch oder Japanisch — gelehrt werden konnte. Für besondere Sekundärschulen in Gebieten der nationalen Minderheiten schuf man außerdem die Möglichkeit des Unterrichts in Mongolisch, Tibetanisch oder Turki, ebenso für Internatsoberschulen in den Provinzen des „eigentlichen China" 42 . Die Hoffnung, daß sich diese Lehrpläne innerhalb eines Jahres im ganzen Land durchsetzen könnten, erfüllte sich freilich nicht, ein Untersuchungsbericht aus dem Januar 1934 teilt jedoch mit, daß sie bis Ende Dezember 1933 in etwas über 1.400 der insgesamt rund 2.000 Sekundärschulen eingeführt worden seien43. Von 1933 an bemühte sich die Nationalregierung besonders um die Intensivierung der Lehrerbildung. Die Provinzverwaltungen wurden angehalten, für Schüler, die gewillt waren, eine Lehrer-Bildungsanstalt zu besuchen, Internatsfreiplätze zu schaffen; und mit Unterstützung der Armee und des Parteiapparates warb man in der Unterstufe der Sekundärschulen für den Lehrerberuf. Diese Bemühungen führten dazu, daß 1937 bereits 15.432 Absolventen die regulären Lehrerbildungsanstalten verließen44, während es 1932/33 nur etwa 10.000 pro Jahr gewesen waren 45 . Aus Sonderkursen kamen 1937 außerdem noch 5.618 neue Lehrer für die Unterstufe der Grundschulen. Diese Entwicklung bewirkte, daß die Zahl der Grundschullehrer von 223.279 im Jahre 1931 4 » auf 302.746 im Jahre 1937 anstieg47. Angesichts der Tatsache, daß der Bedarf an Grundschullehrern für die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1934 auf 1,4 Millionen geschätzt wurde 48 , reichte dies dennoch bei weitem nicht aus. 42

China Year Book 1935, p. 280 f.

43

C Y J P und „Shln-pao" vom 6. 2 . 1 9 3 4 .

44

Min-kuo

erh-shih-Iiu

nien

Chung-hua-min-kuo

chiao-yü

t'ung-dii

(Erziehungs-

statistik der Republik China für das J a h r 1937), Nanking 1937, p. 32 (hinfort: Erziehungsstatistik 1937). 45 4

China Y e a r Book 1935, p. 281.

» China Y e a r Book 1 9 3 1 — 3 2 , p. 771.

47 48

Erziehungsstatistik 1937, p. 5. So: Lin Ch'iu-sheng, op. cit., p. 52. Nach China Year Book 1935, p. 281, betrug der Gesamtbedarf „mindestens eine Million".

XIV. Kapitel:

588

Fünf Jahre Aufbau in China

Von um so größerer Bedeutung waren die Abendschulen für Erwachsene, die sich seit 1928 sehr schnell ausbreiteten. Während es in jenem Jahr nur etwa 6.000 soldier Institutionen gab, stieg deren Zahl auf 10.773 — mit fast 220.000 Schülern — im Jahre 192949, 38.966 Ende 193450 und 57.411 mit rund 1,4 Millionen Schülern im Frühjahr 193751. Unter den Förderern der „Massenerziehung" (Ch'ün-chung chiao-yü) in China sind vor allem Yen Yang-ch'u (James Y. C. Yen) und T'ao Hsing-chih (Heng-chi Tao) zu nennen. Yen, der zunächst seit 1920 eine maßgebliche Rolle bei der Einrichtung von Abendkursen in Peking und T'ienchin gespielt hatte, verlegte das Zentrum seiner Tätigkeit Anfang der dreißiger Jahre in den Landkreis Tinghsien in Hopei, wo er mit großem Erfolg versuchte, die Bekämpfung des Analphabetentums in den Dörfern mit Hilfsmaßnahmen für die Bauern zu verbinden. T'ao entwickelte in Anhui und Fukien seit 1933 das System der „kleinen Lehrer". Er veranlaßte die Grundschullehrer, ihre älteren Schüler dazu zu bringen, daß sie während ihrer freien Zeit die Analphabeten in ihrer Familie und Nachbarschaft unterrichteten 52 . Diese und ähnliche, aus privater Initiative entstandenen Ansätze wurden seit Ende 1933 vom Erziehungsministerium energisch gefördert, und sie trugen wesentlich zu dem bemerkenswerten Fortschritt in der „Massenerziehung" bis 1937 bei. Nach der Übernahme des Erziehungsministeriums durch Ch'en Li-fu machte dieser jedoch den Versuch, die privaten Institute der Erwachsenenbildung unter die Kontrolle der Partei zu bringen, wodurch nicht nur die weitere Entwicklung dieser Bewegung erheblich gestört, sondern auch einflußreiche und leistungsfähige zivile Erziehungs-Kader der KMT entfremdet wurden 53 . In die Kampagne gegen das Analphabetentum schaltete sich seit dem Sommer 1933 audi die Armee ein. Vor allem in den Einheiten der „Zentralarmee" und der Kuangsi-Truppen wurden Sonderkurse eingerichtet, in denen die Soldaten lesen und schreiben lernten. Während zwei Untersuchungen aus den frühen zwanziger Jahren und dem Jahre 1930 zu dem Ergebnis führten, daß nur 16,7 bzw. 13 °/o der Soldaten des Lesens und 4

" Lin, op. cit., p. 42.

50

China Year Book 1936, p. 45.

51

Erziehungsstatistik 1937, p. 63 f.

52

Vgl. hierzu: China Year Book, ibid.; James Y . C. Yen (Yen Yang-ch'u), The Mass Education Movement in China, Shanghai 1925, passim; und: Fairbank, op. cit., p. 202 und 209.

53

Vgl. ibid. und p. 226 f.

Weiterer Ausbau des

Erziehungswesens

589

Schreibens kundig waren54, soll der Prozentsatz der Analphabeten in der chinesischen Armee bis 1938 auf 3 0 % , in den Einheiten der „Lehrbrigade" sogar auf 1 0 % zurückgegangen sein55. In den von kommunistischen Partisanen gesäuberten Gebieten der Provinz Kiangsi richtete die „Zentralarmee" allein im Jahre 1934 rund 300 Sonder-Grundschulen mit 30.000—35.000 Schülern ein. Diese sogenannten „Chung-shan-Grundschulen" dienten der Indoktrinierung der jungen Generation in den Dörfern, aus denen man die Kommunisten vertrieben hatte, ebensosehr wie der Ausbildung56. Nach den Erfolgen in Kiangsi begann man damit, diesen Schultyp auch in anderen Provinzen einzuführen. Doch erst Ende 1934 entschloß sich die nationalistische Einheitspartei, umfassende und wirksame Maßnahmen zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht einzuleiten. Einem Antrag Ts'ai Yüan-p'eis und acht weiterer Mitglieder der Führungsgremien der Partei folgend, verabschiedete das 5. Plenum des IV.ZEK am 14. Dezember jenes Jahres eine Resolution, in der verlangt wurde, daß bis 1938 alle Kinder und Jugendlichen im Alter von zehn bis 16 Jahren wenigstens ein Jahr lang eine Grundschule besuchen müßten. Um dies möglich zu machen, sollten überall dort, wo keine reguläre Grundschule erreichbar war, „kurzfristige Grundschulen" (Tuan-ch'i hsiao-hsüeh) errichtet werden, deren Unterricht auf ein Jahr zu planen war57. Auf der Grundlage dieser Resolution arbeitete das Erziehungsministerium Anfang 1935 einen Plan aus, der vorsah, daß bis 1940 alle Kinder und Jugendlichen im Alter von zehn bis 16 Jahren mindestens ein Jahr, bis 1945 mindestens zwei Jahre und von da an vier Jahre zur Schule gehen sollten. Im Haushaltsjahr 1935/36 wurden für die Durchführung dieses Plans den Provinzen von der Nationalregierung insgesamt 3,2 Millionen Yüan zur Verfügung gestellt, im folgenden Haushaltsjahr, 1936/37, erhöhte sich diese Summe auf über elf Millionen Yüan. Bis 1940 sollten insgesamt 1.500 Versuchs-Zentren im ganzen Lande errichtet werden, in denen man die Einführung der allgemeinen Schulpflicht vorbereitete58. 54

Yen, op. cit., p. 15; und: T a o Meng-ho, in: „Quarterly Review of Social Science,

55

ibid.

56

Lin Ch'iu-sheng, op. cit., p. 54.

57

Resolution des 5. Plenums des V. Z E K der K M T über die Einführung der allgemei-

Academia Sinica, „vom Juli 1930, p. 9 2 — 1 1 5 , zitiert bei: Liu, op. cit., p. 142.

nen Schulpflicht, vom 1 4 . 1 2 . 1 9 3 4 , in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 6 0 0 — 6 0 5 . Vgl. dazu: China Year Book 1935, p. 2 7 7 ; und: 1936, p. 71. 58

Vgl. hierzu: China Year Book 1935, p. 2 7 9 ; und: 1936, p. 38 f. und 3 3 8 ; auch: Lin Ch'iu-shSng, op. cit., p. 43.

XIV. Kapitel:

590

Fünf Jahre Aufbau in China

Die verstärkten Anstrengungen der Nationalregierung auf dem Gebiete des Grundschulwesens seit 1935 trugen erheblich dazu bei, daß die Zahl der Grundschüler von 11.720.596 im Jahre 1932 um 85,6% auf 21.744.261 im Jahre 1937 anstieg59. Der Anteil der des Lesens und Schreibens Kundigen an der Gesamtbevölkerung Chinas, der Ende 1930 noch knapp 20 °/o betragen hatte 60 , erreichte 1937 bereits etwa 25 % und 1943 über 30 % " , während 1931 bestenfalls 20 °/o der Kinder im schulpflichtigen Alter eine Schule besuchten, waren es 1937 immerhin schon 35,4 °/o62. Die folgende Übersicht soll die quantitativen Fortschritte beim weiteren Ausbau des Erziehungswesens seit 1931 darstellen 63 : Tab. 21: Zahlen der Schüler und Studenten 1931 und 1937: Bildungsstufe: Grundschulen Sekundärschulen Lehrerbildungsanstalten (davon Schülerinnen) Hochschulen (davon Studentinnen)

1931 11.667.888 537.575 43.846 8.714 25.018 2.887

1937 21.744.261 768.504 64.748 15.207 48.516 5.933

Zuwachs ca. 8 6 % ca. 42 °/o ca. 48 % ca. 74 °/o 94 °/o 105 %>

Wiederum fällt hier das starke Anwachsen der Zahl der Studentinnen auf. Dagegen scheint das Mißverhältnis der Wachstumsraten zwischen Sekundärschulen und Lehrerbildungsanstalten seit 1931 überwunden zu sein, obgleich auch jetzt noch die Zahl der Schüler dieser Institutionen keineswegs ausreichte, um den Bedarf an Lehrern zu decken. Im ganzen stieg die Zahl der Schüler und Studenten in China von ungefähr acht Millionen im Jahre 1928 auf 22,6 Millionen im Jahre 1937, also um 182,5 %>, an. Dem steht in den ersten neun Jahren der Herrschaft der K C T auf dem chinesischen Festland — von 1950 bis 1959 — ein Anstieg von 31 auf 97 Millionen, also um etwa 213 °/o, gegenüber64, es handelt sich hier also um durchaus vergleichbare Größenordnungen. Dies 59

China Year Book, ibid.; und: Erziehungsstatistik 1937, p. 7 f.

60

Siehe oben, S. 414!

61

Hang Li-wu, in: „The China Magazine", Dezember 1948, zitiert bei: Liu, ibid.

62

Erziehungsstatistik 1937, p. 11.

69

Angaben für 1931: siehe oben, S. 552; für 1937: Erziehungsstatistik 1937, passim. Fairbank, op. cit., p. 201, gibt die Zahl der Studenten für 1936 mit 41.000 an, Lin Ch'iu-sh£ng, op. cit., p. 45, für 1934 mit 43.519. ibid., p. 52, wird die Zahl der Studentinnen für 1934 mit 5.100 oder 12 °/o der Studentenschaft angegeben. Zahlen nach: Wei-ta-te shih-nien (Das große Jahrzehnt), Peking 1959, zitiert in: „Jen-min jih-pao", Peking, vom 30. 9. 1959.

64

Weiterer Ausbau des

Erziehungswesens

591

gilt noch mehr, wenn man berücksichtigt, daß die K C T nach 1950 im Gegensatz zur KMT bis 1934/35 keine Bürgerkriege mehr zu führen hatte. Fairbank hat zu Recht darauf hingewiesen, daß in dem Jahrzehnt von 1927 bis 1937 besonders im Bereich der Hochschulen große Fortschritte zu verzeichnen waren65. Dies gilt vor allem für die Zeit nach 1931. Zwar blieb die Zahl der Universitäten, „Colleges" und Technischen Hochschulen seit der Jahreswende 1931/32 konstant bei 111, aber die Qualität dieser Institute verbesserte sich beträchtlich. Mehrere Universitäten konnten die Zahl ihrer Abteilungen erheblich vergrößern. Die Zahl der „Graduate Schools" stieg von zwölf im akademischen Jahr 1931/32 auf 23 im akademischen Jahr 1936/37 ββ , und in den Hochschulen lösten chinesische Gelehrte, die im Auslande studiert hatten, das ausländische Lehrpersonal in zunehmendem Maße ab67. Während bis in die späten zwanziger Jahre hinein die überwiegende Mehrheit der Studenten geisteswissenschaftliche Studienfächer gewählt hatte, nahm jetzt der Anteil der Naturwissenschaftler, Mediziner und Techniker an der Studentenzahl von Jahr zu Jahr zu. Allein von 1931 bis 1933 stieg er von 25,5 auf 39,8 % , und diese Tendenz setzte sich offenbar bis 1937 weiter fort*8. Uber die Zahl der Graduierten von Universitäten und anderen Hochschulen stehen uns für 1937 keine Angaben zur Verfügung, man wird jedoch davon ausgehen können, daß von den 112.000 Graduierten, die es 1948 in China gab — darunter 10.000 Naturwissenschaftler, 7.000 Ärzte und 25.000 Ingenieure6' —, etwa 50.000 ihr Studium vor 1937 abgeschlossen hatten, und daß damals noch 20.000—25.000 weitere verfügbar waren, die im Kriege gefallen sind. Wenn man sich gleichzeitig allerdings vergegenwärtigt, daß so auf ungefähr 6.000 Einwohner des Landes nur ein Hochschulabsolvent kam, dann wird deutlich, wie viel auf dem Gebiet der Erziehung noch zu tun übrig blieb, als der Krieg gegen Japan ausbrach. Angesichts der bis 1937 erzielten Erfolge muß man jedoch der K M T bescheinigen, daß sie auf dem Wege war, die Entwicklungsaufgaben, die sich hier stellten, wirksam zu lösen. 85

Fairbank, op. ext., p. 198 f.

66

Erziehungsstatistik 1937, p. 44.

87

Vgl. Fairbank, ibid.

68

T'ang, Reconstruction, p. 77 f.

69

„Organisation et developpement de la Science en Republique Populaire de Chine", in: „Notes et Etudes Documentaires", Paris, N r . 3255 vom 1 8 . 1 . 1 9 6 6 , p. 5.

592

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau in China

Bemühungen um den wirtschaftlichen Aufbau Den bemerkenswerten Fortschritten im Erziehungswesen konnten bis 1937 keine gleichrangigen Erfolge beim wirtschaftlichen Aufbau des Landes zur Seite gestellt werden. Die großen Industrialisierungspläne Sun Yat-sens blieben weiterhin Theorie, und auch die Hoffnungen, die sich an Projekte knüpften, welche der Industrieminister Ch'en Kung-po entwickelte, als er im Januar 1932 sein Amt antrat, erfüllten sich nur zum Teil. Ch'en hegte die Absicht, die Entwicklung der chinesischen Agrarwirtschaft zu einer halbindustriellen mit dem Aufbau eines zentralen Industriegebietes am unteren und mittleren Yangtzu zu beginnen. Aber als dieser Plan ausgearbeitet wurde, näherte sich die Weltwirtschaftskrise ihrem Höhepunkt, und in den Jahren bis 1935 machten sich ihre Auswirkungen in China immer mehr bemerkbar. Als zweiter entwicklungshemmender Faktor kam der Verlust Tungpeis hinzu, und einen dritten stellte die Tatsache dar, daß bis 1933/34 wichtige Teile des Kernlandes durch den Bürgerkrieg der K M T mit den Kommunisten in Mitleidenschaft gezogen wurden 70 . Erst seit Ende 1935 begann sich die Lage etwas zu bessern. Dazu trugen, neben der Verbesserung der internationalen ökonomischen Situation, vor allem die Bemühungen der „Nationalen Wirtschaftskommission" (Ch'üan-kuo ching-chi wei-yüan-hui) um die Entwicklung einer tragfähigen Infrastruktur und die von diesem Gremium erzwungene Währungsreform vom Herbst 1935 bei. Die Nationale Wirtschaftskommission wurde bereits im November 1931 errichtet, zunächst jedoch nur, um die Hilfsmaßnahmen nach der großen Yangtzu-Flut zu koordinieren 71 . Ursprünglich als ad-hoc-Gremium konzipiert, machte man sie im Mai 1932 zu einer ständigen Organisation. Der Z P R der K M T beschloß damals, der Kommission die Verantwortung für die langfristige Aufbauplanung, die Überwachung der Wasserschutzbauten, die Förderung des Gesundheitswesens, den Straßenbau und die Maßnahmen zur Entwicklung der Landwirtschaft zu übertragen. Der Premier und der Vizepremier des Exekutivyüans, die Minister des Inneren, der Finanzen, der Eisenbahnen, des Verkehrs, der Industrie und der Erziehung und „alle leitend mit dem Wirtschaftsaufbau beschäftigten Beamten der Zentrale" sollten der Kommission ex officio angehören. Die ex-officio-Mitglieder konnten der Nationalregierung, welcher die Kommission unmittelbar unterstand, bis zu 21 weitere Mit70 Siehe hierzu unten, S. 611 ff.! ™ China Year Book, 1935, p. 58

Bemühungen um den wirtschaftlichen

Aufbau

593

glieder zur Ernennung vorschlagen72. Zunächst umfaßte sie jedoch nur 22 Mitglieder73, die bis zum Herbst 1933 sehr unregelmäßig zusammentraten. Es galt, erhebliche Widerstände der Ressortministerien und auch der „Nationalen Aufbaukommission" Chang Ching-chiangs zu überwinden, bis das Gremium seine Arbeit tatsächlich aufnehmen konnte74. Erst am 23. September 1933 verkündete die Nationalregierung endgültige Organisationsrichtlinien für die Kommission, auf Grund derer sie im Oktober 1933 ihre Funktionen wahrzunehmen begann76. Die Zahl der Mitglieder wurde auf 32 erhöht, der Verwaltungsapparat erheblich vergrößert. Man bildete sieben Exekutivbüros für Straßenbau, Wasserbau, Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Baumwollindustrie, Seidenindustrie und Genossenschaftswesen, außerdem entstanden im Jahre 1934 Zweigbüros der Kommission für die Nordwestgebiete und für Kiangsi76. An die Spitze der Kommission trat ein „Ständiger Ausschuß", dem zunächst Wang Ching-wei, Sun K'e und Sung Tzu-wen angehörten. Nach seinem Rücktritt als Vizepremier und Finanzminister widmete sich vor allem Sung der Leitung der Wirtschaftskommission77, deren Machtbefugnisse im November 1934 noch einmal erweitert wurden. Jetzt unterstellte man ihr auch administrativ alle Wasserbauämter des Landes, und der „Ständige Ausschuß" wurde durch den Eintritt von Chiang Kai-shek und K'ung 72

73

74

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77

38

Richtlinien für die Organisation der Nationalen Wirtschaftskommission, angenommen auf der 312. (?, d. Verf.) Sitzung des ZPR der KMT am 30. Mai 1932, in: KMWH, Bd. XXIV, p. 734 f. Chiang Kai-shek, Wang Ching-wei, Sung Tzu-wen, Huang Shao-hsiung, Ku Mengyü, Ch'en Ming-shu, Ch'en Kung-po, Chu Chia-hua, Chang Ching-chiang, Chang Hsüeh-liang, Li Shih-tseng, K'ung Hsiang-hsi, Chou Tso-min, Ts'ai Yüan-p'ei, Shao Yüan-ch'ung, Wu Ting-di'ang und sechs andere (Vgl. ibid., p. 735). So berichtete Chu Chia-hua dem Verfasser im Interview am 19. Februar 1962 in T'aipei. Seine Angaben wurden u. a. durch das Stidiwortprotokoll der Sitzung des Exekutivyüan-Rates am 4. September 1933 bestätigt, auf der man die „Veränderten Richtlinien für die Organisation der Nationalen Wirtschaftskommission" diskutierte (Nachlaß Chu). Vgl. hierzu auch: T'ang, Reconstruction, p. 30 f. Veränderte Richtlinien für die Organisation der Nationalen Wirtschaftskommission, vom 23. 9. 1933, in: „Kuo-min cheng-fu kung-pao", selbes Datum. Arbeitsbericht der Nationalen Wirtschaftskommission, erstattet auf dem 6. Plenum des IV. ZEK der KMT im November 1935, in: KMWH, Bd. XXVIII, p. 529—547 (hinfort: Arbeitsbericht 1935) (hier: p. 519 f.). Dieser Bericht liegt audi dem III. Kapitel („National Economic Council") des China Year Book 1936 (p. 30—36) zugrunde (hier: p. 30). Tong, op. cit., p. 201, bezeichnet ihn wohl deshalb fälschlich als „Vorsitzenden" der Nationalen Wirtschaftskommission. Ein solches Amt gab es jedoch nicht. Domes

594

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau in China

Hsiang-hsi auf fünf Mitglieder vergrößert 78 . Er umfaßte so die einflußreichsten Politiker Nankings, die dafür Sorge trugen, daß sich die Kommission in aller Regel bei Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Organen durchsetzen konnte. Ihre Aufgaben wurden jetzt wie folgt definiert: „Projekte f ü r den Wiederaufbau und die Entwicklung der Wirtschaft zu planen, zu prüfen und zu billigen; die notwendigen Ausgaben f ü r solche Projekte zu prüfen und zu bewilligen; die Ausführung soldier Projekte zu überwachen; und besondere Projekte für den Wiederaufbau und die Entwicklung der Wirtschaft unter eigener Verwaltung durchzuführen 7 9 ."

Diese Vollmachten gaben der Kommission die Möglichkeit, als höchstes Leitungsorgan der Entwicklungspolitik aufzutreten, und sie machte hiervon ausgiebig Gebrauch. Schon im November 1935 konnte sie dem 6. Plenum des IV. Z E K der K M T berichten, daß unter ihrer Leitung im Laufe von zwei Jahren über 20.000 km Straßen gebaut worden waren, davon etwa die Hälfte mit fester Decke 80 . In der gleichen Zeit wurden in Nordwestchina 1.235.000 mu (über 82.000 ha) Ackerland mit modernen Bewässerungssystemen versehen, 90.000 mu (60.000 ha) Neuland aus den Seen in Südwest-Hupei gewonnen und mehrere hundert Kilometer Flußdeiche in Honan, Hopei und Shantung repariert 81 . Außerdem übernahm die Kommission die Verantwortung für den landwirtschaftlichen Wiederaufbau in Süd- und Zentral-Kiangsi und trug erheblich zum Ausbau des ländlichen Genossenschaftswesens bei. Sie diente zugleich als Kontaktstelle und Einsatzbüro für die 27 vom Völkerbund finanzierten und ausgewählten ausländischen Berater, die Ende 1935 in China tätig waren 82 . Mit deren Unterstützung bemühte sich die Kommission um die Einführung neuer Industriezweige. So entstanden in Shanghai und Ch'angsha Alkoholdestillerien, deren Produktion China Devisen im Werte von etwa 10 Millionen Yüan ersparte, und auch in der Manufaktur von Glaswaren, Fahrrädern, Möbeln, Lederschuhen, Nadeln und Seife wurden größere Fortschritte erzielt, so daß hier die Importe schon bis 1935 merklich zurückgehen konnten 83 . Gleichzeitig entstanden mit Unterstützung der Kommission eine pharmazeutische Fabrik in Kuangsi, eine große Baumwollfabrik in Nanch'ang, Kiangsi; und der 78 79 80 81 82 88

China Y e a r B o o k 1935, p. 58. China Y e a r B o o k 1936, p. 30. Arbeitsbericht 1935, loc. cit., p. 530—532. ibid., p. 533—539. China Year Book, ibid.; und: T'ang, Reconstruction, p. 31. ibid., p. 58—60.

Bemühungen

um den wirtschaftlichen

Aufbau

595

1933 verkündete Drei-Jahres-Aufbauplan der Provinz Kuangtung ermöglichte die Errichtung von fünf Textil-, vier chemischen, drei Zucker-, zwei Zement-, einer Papierfabrik und einer Brauerei in dieser Provinz. Von dem für den Aufbau dieser Produktionsstätten vorgesehenen Kapital in Höhe von rund 35 Millionen Yüan waren bis zum Juli 1934 bereits 15 Millionen aufgebracht worden, der Rest folgte bis Anfang 193684. Von besonderer Bedeutung waren die Bemühungen um die Erfüllung des 1932 von Ch'en Kung-po vorgelegten Plans für die Industrialisierung des Yangtzu-Tales. Doch gerade hier konnten nur geringe Fortschritte erzielt werden; denn die ausländischen Kapitalgeber hielten sich allzusehr zurück. So wurde 1932 mit einer deutschen Stahlfirma ein vorläufiges Abkommen über die Errichtung eines Stahlwerkes im Werte von 80 Millionen Yüan abgeschlossen. Dieses Werk sollte Eisenerz aus Hupei und Anhui und Kohle aus Anhui beziehen. Aber ehe man einen endgültigen Vertrag unterzeichnen konnte, stellte sich heraus, daß die Anhui-Kohle zur Verkokung ungeeignet ist, und es begannen neue Untersuchungen der Kohlenfelder in Kiangsu, die bis 1937 offenbar noch nicht abgeschlossen waren. Der Plan, in Zusammenarbeit mit britischen und deutschen Unternehmen ein großes Ammoniumsulphat-Werk aufzubauen, scheiterte daran, daß die ausländischen Partner sich zurückzogen, ehe endgültige Abmachungen getroffen werden konnten. Dagegen gelang es, 1935/36 eine größere Maschinenfabrik in Chenju bei Shanghai mit britischer Unterstützung zu errichten85. Vereinzelte Erfolge konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß es wesentlich größerer Anstrengungen und eines erheblichen Maßes ausländischer Hilfe bedurfte, um die Industrialisierung Chinas in erfolgversprechender Weise in die Wege zu leiten. Um den Mangel an Investitionskapital abzugleichen, reichten die eigenen Mittel des an Rohstoffen reichen Landes nicht aus. Die wirtschaftliche Potenz Chinas konnte nur mobilisiert werden, wenn ausländische Mittel in großem Umfange als Startkapital zur Verfügung gestellt wurden. Bereits am 30. März 1933 wandte sich Sung Tzu-wen mit der Bitte an den Generalsekretär des Völkerbundes, einen wirtschaftlichen „Generalberater" nach China zu entsenden, und er schlug für diese Mission den Polen Dr. Ludvik W. Rajchman vor. Am 14. Juli bildete der Völkerbund ein Beratungskomitee für den wirtschaftlichen Aufbau in China, und am gleichen Tage teilte Generalsekre84

85

3S*

ibid., p. 63 f.; und: Μίη-kuo erh-shih-wu nien Chung-kuo ching-chi nien-diien (Jahrbudi der chinesischen Wirtschaft 1936), Shanghai 1936, p. 317 f. T'ang, Reconstruction, p. 61.

596

XIV.

Kapitel:

Fünf Jahre

Aufbau

in

China

tär Avenol den Regierungen der Mitgliedstaaten mit, daß etwa zwölf vom Völkerbund angestellte Berater nach China entsandt werden sollten. Doch dieser Vorstoß erschöpfte sich darin, daß Rajchman und die anderen Berater ihre Arbeit aufnahmen, und daß die U S A China einen 50-Millionen-Dollar-Kredit für den Ankauf von Baumwolle und Getreide einräumten 86 . Umfassendere Hilfsmaßnahmen scheiterten, weil die japanische Regierung bei den in Frage kommenden Staaten, vor allem in Großbritannien und den USA, gegen eine großzügige Unterstützung Chinas erfolgreich protestierte. Erst im Jahre 1935 kamen eine amerikanische Wirtschaftsmission unter der Leitung von Cameron Forbes 87 und eine britische unter Sir Frederick Leith-Ross ins Land. Forbes, der sich mit seinen Mitarbeitern von April bis Juli 1935 in China aufhielt, forderte nach seiner Rückkehr in die U S A die amerikanische Wirtschaft auf, sich wirksam an der Entwicklung Chinas zu beteiligen. Leith-Ross kam am 21. September 1935 im Lande an und verließ es am 24. Juni 1936. Vor seiner Abreise übergab er der Presse einen Bericht, in dem er zwar umfangreiche Kredite für China anregte, jedoch gleichzeitig darauf hinwies, daß es notwendig sei, zunächst eine Regelung der aus der Periode des Bürgerkriegs seit 1917 stammenden alten Auslandsschulden, von denen die Nationalregierung einen Teil nicht anerkannte, herbeizuführen 88 . Obgleich er eine Fülle von Vorschlägen unterbreitete, führte seine Mission nicht dazu, daß sich Großbritannien zu größeren Hilfeleistungen an China entschloß. Erfolgreicher war eine Reise, die Finanzminister K'ung Hsiang-hsi im Jahre 1935 nach Deutschland unternahm. Er erreichte, daß die Reichsbank China einen revolvierbaren Kredit einräumte, aus dem Materialien für den Eisenbahnbau und Werkzeugmaschinen gekauft werden konnten. Diese dienten jedoch vor allem der Modernisierung der chinesischen Arsenale und dem Aufbau neuer Rüstungsfabriken, so daß sie zwar zur militärischen Stärkung des Landes, nicht aber zur Entwicklung der Friedenswirtschaft beitrugen 89 . Bis zum Ausbruch des Krieges mit Japan blieb so die Industrialisierung Chinas weitgehend im Stadium der Planung. Chu Chia-hua wies in einem Memorandum vom November 1936 darauf hin, daß es für die Durchführung des zunächst gescheiterten Vier-Jahres-Plans von Ch'en Vgl. hierzu die Dokumente in: For. Rel. 1933, p. 494—521. Vgl. China Year Book 1936, p. 183. 88 Presseerklärung von Sir Frederick Leith-Ross in Shanghai, vom 23. 6.1936, ibid., p. 178—180. 8 * Vgl. hierzu: Liu, op. cit., p. 97 f. 86

87

Bemühungen

um den wirtschaftlichen

Aufbau

597

Kung-po aus dem Jahre 1932 und einiger provinzieller Industrialisierungs-Pläne, die damals vorlagen, ausländischer Hilfeleistungen in Höhe von mindestens 350 Millionen US-Dollar, die als Kredite zu einem relativ niedrigen Zinsfuß gegeben werden könnten, und inländischer Kapitalinvestitionen in Höhe von etwa 700 Millionen Yüan bedürfe90. Die ausländische Hilfe blieb aus. Noch hatte sich in den westlichen Industrieländern nicht jenes Entwicklungsbewußtsein herausgebildet, das heute — nicht zuletzt unter dem Eindruck der kommunistischen Machtübernahme in China — beträchtliche finanzielle Leistungen für den wirtschaftlichen Aufbau in den Ländern Asiens und Afrikas veranlaßt. Die Mobilisierung der inländischen Kapitalreserven aber war von der Stabilität der Währung abhängig; denn nur, wenn es gelang, eine stabile Währung zu schaffen, konnte der Kapitalflucht ins Ausland und vor allem in die Internationale Siedlung und die Französische Konzession in Shanghai Einhalt geboten werden. Dort lagen in ausländischen Banken umfangreiche chinesische Kapitalien, die wesentlich zur industriellen Entwicklung Hongkongs, Singapurs und auch westlicher Länder beitrugen, China selbst aber verlorengingen. Diese Tendenz verstärkte sich noch, als, nach dem Erlaß des Silber-Aufkauf-Gesetzes in den USA am 20. Juni 1934, im Laufe von vier Monaten Silber im Werte von 200 Millionen Yüan aus China in die USA verkauft wurde91. Das Ansteigen der Silberpreise führte zwar dazu, daß der Kursverfall des Yüan, der in den Jahren 1931/32 seinen Tiefpunkt erreicht hatte92, ausgeglichen werden konnte und der Wechselkurs im Herbst 1935 schließlich wieder das Niveau von 1927 — etwa 1 s 8 d — erreichte93, aber der Kapitalabfluß ließ die der Kursgewinne der Wirtschaft Chinas nicht zugute kommen. Die Nationalregierung versuchte zunächst, durch Exportbeschränkungen für Silber der Lage Herr zu werden, aber eine grundlegende Besserung der Kapitalsituation wurde dennoch nicht erreicht. Außerdem blieb der Silberpreis auf dem Weltmarkt unstabil, und so gewannen die Argumente jener Kräfte an Gewicht, die schon seit 1930 ge90

Memorandum Chu Chia-huas an den Ständigen Aussdiuß der Nationalen Wirtschaftskommission, vom 2 7 . 1 1 . 1 9 3 6 (Nachlaß Chu).

81

Vgl. hierzu: E. Kann, „China's Currency Crisis", in: China Year Book 1935, p. 461 bis 465 (hier: p. 462 f.); und: Tong, op. cit., p. 208. Der gesamte Silberexport Chinas im Jahre 1934 wurde von den Zollbehörden mit 259.941.414 Yüan angegeben. Diese Summe schließt jedodi natürlich die Verluste durch Schmuggel nicht ein. Siehe oben, S. 419! China Year Book 1936, p. 198.

82 83

598

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau in China

raten hatten, den Silberstandard ganz zu verlassen, allen voran Sung Tzu-wen und K'ung Hsiang-hsi. Im Sommer 1935 gelang es ihnen, die Unterstützung Chiangs und Wangs für ihre Reformpläne zu gewinnen. Von Sung und K'ung angeregt, begann die Nationale Wirtschaftskommission, auf eine Währungsreform zu drängen, indem sie dem ZPR der KMT die Abkehr vom Silberstandard vorschlug94. Am 3. November 1935 verkündete Finanzminister K'ung Hsiang-hsi die Abschaffung der Silberwährung. Als gesetzliches Zahlungsmittel — „Yüan kuo-min-pi", in Englisch „Yüan CA/C"(Chinese National Currency), sonst auch „fa-pi" genannt — sollten fortan nur die von der Zentralbank, der Bank von China und der Verkehrsbank ausgegebenen Banknoten gelten. Die von anderen Banken ausgegebenen Noten blieben zwar vorläufig in Kraft, mußten jedoch schrittweise gegen „Yüan C N C " umgetauscht werden. Gleichzeitg wurden alle Silberbestände im Lande für nationalisiert erklärt und der Wechselkurs für die neue Währung auf 1 s 2 V2 d — den Durchschnittskurs der vergangenen drei Jahre — oder 0.30 US-Dollar festgesetzt. Ein „Amt für Währungsreserven" beim Finanzministerium sollte die Ausgabe der neuen Noten, die Zentralisierung der Währungspolitik und die Sicherung der Deckungsreserven überwachen95. Die neue, auf Devisendeckung beruhende, manipulierte Währung führte zunächst im Laufe eines Jahres eine wesentliche Besserung der finanzpolitischen Situation herbei. Da sie jedoch von der Entwicklung der Außenhandelsbilanz und des Staatshaushalts in erheblichem Maße abhängig war, bedurfte sie einer fortgesetzten Stabilisierung der wirtschaftlichen Gesamtsituation, um gesund zu bleiben. Bis zum Ausbruch des Krieges gegen Japan war dies in zunehmendem Maße gewährleistet. Die Lasten, die dieser Krieg China aufbürdete, mußten aber eine Inflation herbeiführen, und mit dem fortschreitenden Währungsverfall, der seit 1941 beängstigende Ausmaße annahm, geriet China in eine neue Wirtschaftskrise, die zweifellos in erheblichem Umfange zum Verfall der 84

85

Memorandum der Nationalen Wirtschaftskommission zur Währungsreform, dem ZPR der KMT überreicht am 5. September 1935 (Nadilaß Chu). Vgl. hierzu auch: China Year Book 1936, p. 187. Englische Übersetzungen der relevanten Dokumente zur Währungsreform von 1935 (Presseerklärung des Finanzministers K'ung Hsiang-hsi, Dekret über die Nationale Währung, Richtlinien für die Organisation des Amtes für Währungsreserven usw.) finden sich ibid., p. 202—205. Vgl. hierzu: Chang Kia-ngau (Chang Chia-ao), The Inflationary Spiral — The Experience in China 1939—1950, Cambridge, Mass./New York/London 1958, p. 7 f.; und: Tong, op. cit., p. 208 f.

Bemühungen um den wirtschaftlichen

Aufbau

599

Herrschaft der KMT in den Jahren zwischen 1946 und 1949 beigetragen hat 96 . Die Lage der Staatsfinanzen, die sich 1932/33 unter dem Eindruck der japanischen Aggression und der Kämpfe gegen die Kommunistischen Partisanen erneut verschlechterte, begann sich ebenfalls ab 1934 wieder zu stabilisieren. Die Staatseinnahmen betrugen 1932/33 rund 671,9 Millionen Yüan, sie stiegen im Finanzjahr 1933/34 auf 828,7 Millionen Yüan, 1934/35 auf 853,2 Millionen Yüan, 1935/36 auf 958 Millionen Yüan C N C und erreichten 1936/37 etwa 990 Millionen Yüan C N C . Demgegenüber gelang es, die Staatsausgaben so unter Kontrolle zu bringen, daß das Defizit, das 1932/33 noch 130 Millionen Yüan betragen hatte, 1934/35 auf 86 Millionen Yüan, und 1935/36 auf 61 Millionen Yüan absank. Das Finanzjahr 1936/37 endlich brachte dem Lande wieder einen ausgeglichenen Staats-Haushalt 97 , der allerdings immer noch durch Inlandsanleihen für den Schuldendienst abgesichert werden mußte. Gleichzeitig sank der Anteil der Militärausgaben an den gesamten Staatsausgaben von 49,7 % im Finanzjahr 1933/34 und 48,5 °/o im Finanzjahr 1934/35 auf etwa 39 % im Finanzjahr 1935/36 und etwa 35 °/o 1936/37. Der Schuldendienst, der 1933/34 noch 32,6 % der Staatsausgaben in Anspruch genommen hatte, verlangte kaum mehr als 25 % im Finanzjahr 1936/37. Dagegen stieg der Anteil der Finanzierung von zivilen Entwicklungsaufgaben — Erziehung, Verkehrswesen, Industrie- und Landwirtschaftsinvestitionen und -Subventionen — von 7,7 °/o im Jahre 1933/34 auf 21,6 °/o im Jahre 1936/3798. Auch die Außenhandelsbilanz Chinas begann sich langsam zu bessern. Das Defizit, das im Jahre 1932 noch 955 Millionen Yüan betragen hatte, lag 1935 nur noch bei 343 Millionen Yüan und 1936 bei 235,8 Millionen Yüan CNC. Bis 1935 war dies allerdings nur durch drastische Importbeschränkungen erreicht worden, da von 1932 bis 1935 der Wert des Exports nur von 569 auf 576 Millionen Yüan stieg. 1936 erreichte er dagegen wieder einen Wert von 705,7 Millionen Yüan CNC 99 . Im Jahre " Im Rahmen dieser Studie kann auf diese Entwicklung nidit eingegangen werden. Vgl. dazu vor allem: Chang Chia-ao, op. cit., passim; A. Doak Barnett, China on the Eve of Communist Takeover, N e w York 1961, p. 19 f.; und: Tang Tsou (Tsou Tang), America's Failure in China 1941—1951, Chicago 1963. " China Year Book 1935, p. 498; und: 1936, p. 385—389. 98 ibid., p. 387. n

ibid., p. 47; und: Min-kuo erh-shih-wu nien Chung-hua-min-kuo tui-wai mao-i t'ung-chi (Außenhandelsstatistik der Republik China für das Jahr 1936), hrsg. vom Finanzministerium im Exekutivyüan, Nanking 1937, passim. Vgl. Su Hsiung-dii, Historical Dynamics in China, Man. T'aipei 1965, p. 106.

600

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau in China

1936 begann sich also eine langsame Erholung der chinesischen Wirtschaft von den Folgen der Bürgerkriege, der japanischen Aggression 1931/32 und der Weltwirtschaftskrise stärker als zuvor bemerkbar zu machen. China war auf dem Wege, die Grundlagen für eine umfassende und wirksame Entwicklungspolitik zu gewinnen. Daß sie nicht allein mit ausländischer Hilfe durchgeführt werden könne, hatten die Führer der KMT offenbar erkannt; denn 1935 leitete Chiang Maßnahmen ein, mit deren Hilfe die landeseigene Entwicklungspotenz in größerem Umfange als bisher mobilisiert werden sollte. Am 1. April 1935 rief er von Kueiyang, der Hauptstadt Kueichous, aus zu einer „Wirtschaftlichen Aufbaubewegung des Volkes" (Kuo-min ching-chi chien-she yün-tung) auf 100 . Chiang nannte vier Aufgaben der Bewegung: Die Nahrungsmittelproduktion müsse gesteigert werden; es gelte, in großem Umfange neue Arbeitsplätze zu schaffen; der Export sei nachdrücklich zu fördern, um das Außenhandelsdefizit des Landes zu überwinden; und man müsse einheimische Kapitalinvestitionen fördern. Um diese Aufgaben zu lösen, sei es nötig: durch Änderungen der Steuergesetze zugunsten der Privatwirtschaft die „äußeren Hindernisse der Produktion" zu beseitigen; durch die Einführung wissenschaftlicher Methoden der Betriebsführung und durch eine bessere Ausbildung des technischen und kaufmännischen Leitungspersonals die „inneren Hindernisse der Produktion" zu bekämpfen; durch den Aufbau eines modernen Verkehrswesens und die Zentralisierung des Notensystems den Güterumlauf zu fördern; und — durch Erziehung und Propaganda psychologische Faktoren, die dem Aufbau hinderlich seien, zu überwinden. Am Nationalfeiertag, dem 10. Oktober 1935, proklamierte Chiang die Ausdehnung dieser Bewegung auf das ganze Land 101 . Konkrete Gedanken hierzu entwickelte er in seiner ersten Neujahrsansprache als Pre100

Chiang Kai-shek, „Grundriß der Wirtschaftlichen Aufbaubewegung des Volkes", Rede, gehalten in Kueiyang am 1. April 1935 (KMT-Ardiiv). Auszüge aus einer Erklärung vor ausländischen Journalisten am selben Tage finden sich in englisdier Übersetzung bei: Tong, op. cit., p. 202. Vgl. hierzu: Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 1025—1037; und: Ishimaru, op. cit.,

p. 158 f. 101

Chiang Kai-shek, „Ansprache zum Nationalfeiertag", gehalten in Nanking am 10. Oktober 1935, in: CYJP vom 1 1 . 1 0 . 1 9 3 5 . Vgl. Ishimaru, ibid.

Bemühungen um den wirtschaftlichen Aufbau

601

mierminister am 1. Januar 1936. Dabei bezeichnete Chiang acht Aufgabenbereiche als wesentlich für die Bewegung: 1. Entwicklung der Landwirtschaft: Das ländliche Genossenschaftswesen müsse weiter ausgebaut werden. Die Genossenschaften sollten als Instrumente dienen, um moderne Anbaumethoden zu verbreiten, die Versorgung mit Düngemitteln zu verbessern, gutes Saatgetreide zur Verfügung zu stellen und Hilfe bei der Errichtung lokaler Industrien zu leisten. 2. Förderung der Neulandgewinnung und der Weidewirtschaft: China verfüge über erhebliche Reserven an unbebautem Nutzland, die es zu kultivieren gelte. Das Militär solle für die innere Kolonisation eingesetzt werden, und vor allem in den Gebieten des Südwestens und Westens sei es notwendig, für die Ausbreitung einer Ertrag versprechenden Weidewirtschaft zu sorgen. 3. Ausbeutung der Bodenschätze: Um diese Ressourcen auszuschöpfen, sei es nötig, die Steuerlasten der Bergwerksbesitzer zu verringern und auch für ausländisches Kapital Investitionsanreize zu schaffen. Vor allem müßten „örtliche Beamte, einflußreiche Cliquen und Persönlichkeiten... daran gehindert werden, sich weiterhin in die Ausbeutung von Bergwerken einzumischen". 4. Einführung der Arbeitsdienstpflicht: Die umfassenden Entwicklungsaufgaben verlangten angesichts der Armut des Landes die Einführung einer Arbeitsdienstpflicht aller arbeitsfähigen Bürger, die einige Tage im Jahr dem Ausbau der Verkehrswege Wasserbauten, der Neulandgewinnung und anderen öffentlichen Arbeiten widmen sollten. Das Militär müsse dabei der übrigen Bevölkerung beispielgebend vorangehen. 5. Entwicklung der Industrie: Die Regierung müsse allen Industriezweigen „ausreichenden Schutz und Unterstützung gewähren". Dazu gehörten investitionsfördernde Steuergesetze und die Einführung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit mit „exekutiven Vollmachten" zum „Schutz der Sicherheit der Unternehmungen ebenso wie der Interessen der Arbeiter"; denn Arbeitskämpfe könne sich ein „armes Land" wie China nicht leisten. 6. Regelung des Verbrauchs: In der Periode des Aufbaus sei es nötig, Versorgung und Verbrauch so zu regeln, daß Landesprodukte eindeutig gegenüber Importwaren im Vorteil seien. 7. Transporterleichterungen: Es sei unbedingt erforderlich, das Verkehrsnetz so auszubauen, daß die ungehinderte Güterkommunikation im Lande gewährleistet werden könne. 8. Ordnung der Finanzwirtschaft: Der Geldumlauf müsse verbessert, der Sparwille der Bevölkerung gefördert und zu diesem Zweck der Wert

602

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau in China

des Geldes erhalten werden. Eine Voraussetzung hierfür stelle der Ausgleich des Staatshaushalts und der Haushalte der Provinzen dar 102 . Auf der Grundlage dieser sehr allgemein gehaltenen Richtlinien begann man im Laufe des Jahres 1936, in einer Anzahl von Kreisen der Provinzen Kiangsu, Chekiang, Anhui, Kiangsi, Hupei, Honan, Kuangtung, Kueichou und Shansi, mit Hilfe des Militärs sowie der Verpflichtung der Bevölkerung zum Arbeitsdienst, Wasserschutz- und Straßenbauten durchzuführen, Brachland urbar zu machen, Trockenland zu bewässern, lokale Verarbeitungsbetriebe für landwirtschaftliche Produkte neu zu bauen und die Errichtung ländlicher Genossenschaften und Beratungsstationen zu fördern. Nach einem Bericht Chiangs auf dem 3. Plenum des V. 2 E K im Februar 1937 erreichten diese Aktionen im Jahre 1936: 287 der insgesamt 744 Landkreise dieser neun Provinzen. 720.000 mu (48.000 ha) Land sollen urbar gemacht, 1.380.000 mu (91.000 ha) neu oder besser als zuvor bewässert, etwas mehr als 8.000 km Straßen, davon 5.300 km mit fester Decke, und nahezu 1.000 km Flußdeiche gebaut, 57 landwirtschaftliche Beratungsstellen errichtet und 16 lokale Verarbeitungsbetriebe gegründet worden sein. Eine Kommission des Finanzministeriums arbeitete detaillierte Vorschläge für die Änderung von Steuergesetzen aus, von denen die ersten im Januar 1937 dem Legislativyüan zugeleitet werden konnten. Arbeitsdienstverpflichtungen führte man — für jeweils drei Tage im Jahr — probeweise in 124 Landkreisen von fünf Provinzen ein, und die Grund- und Abendschulen versorgte man mit Lehrmaterial, das die Prinzipien der Bewegung in volkstümlicher Form darstellte103. Einem Antrag Chiangs folgend, faßte das 3. Plenum des V. Z E K am 19. April 1937 die, in den Reden des Generalissimus' vom 1. April und 10. Oktober 1935 und vom 1. Januar 1936 entwickelten, Prinzipien zu „Richtlinien für den wirtschaftlichen Aufbau Chinas" zusammen, in denen, abgesehen von dem Ausbau des Verkehrsnetzes und des ländlichen Genossenschaftswesens, besonders die Einführung der Arbeitsdienstpflicht, der Entwurf investitionsfördernder Steuergesetze und Verwaltungsbestimmungen sowie die Entwicklung lokaler Verarbeitungsbetriebe betont wurden. Die Nationale Wirtschaftskommission und der Exekutiv105

Chiang Kai-shek, „Der richtige Weg zur Selbstverteidigung von Land und Volk", Neujahrsanspradie des Präsidenten des Exekutivyüans (Premierministers), gehalten in der Zentralen Rundfunkstation (Chung-yang kuang-po tien-t'ai) in Nanking am 1. Januar 1936 (KMT-Archiv). Eine unwesentlich gekürzte deutsche Übersetzung dieser Ansprache findet sich bei: Ishimaru, op. cit., p. 160—167. Vgl. hierzu: Chang Ch'i-yün, ibid.

Bemühungen

um den wirtschaftlichen

Aufbai

603

yüan erhielten den Auftrag, bis zu dem für Ende 1937 vorgesehenen 4. Plenum des V. ZEK konkrete Vorschläge auszuarbeiten, die dann koordiniert und zu einem „Nationalen Aufbauplan" (Ch'üan-kuo chienshe chi-hua) zusammengefaßt werden sollten104. Dazu kam es jedoch nicht mehr; denn der „Außerordentliche Parteikongreß" (Ling-shih ch'üan-kuo tai-piao ta-hui), der sich anstelle des 4. Plenums als nächste größere Parteikonferenz der K M T am 1. April 1938 in Wuhan versammelte, hatte sich damit zu beschäftigen, die politischen und organisatorischen Konsequenzen aus dem Krieg gegen Japan zu ziehen. Zwar wurde die „Wirtschaftliche Aufbaubewegung des Volkes" in den westchinesischen Provinzen Ssuch'uan, Shensi, Kansu und in Kueichou, Teilen von Kuangsi, Yünnan und Teilen von Kiangsi audi während des Krieges, bis 1943/44, nicht ohne Erfolge fortgesetzt, aber zur Durchführung gründlich vorbereiteter, kohärent entwicklungspolitischer Maßnahmen kam die K M T erst wieder nach 1949 auf T'aiwan. Diese haben sich in wesentlichen Aspekten an den Grundsätzen orientiert, die Chiang und seine Mitarbeiter 1935 bis 1937 in der Aufbaubewegung formulierten. Wenn man einmal von den recht pauschalen Gesamtplänen Sun Yat-sens von 1918/19 105 und Sun K'es von 192810e absieht, stellen die Bemühungen der Aufbaubewegung den ersten Ansatz zu einer grundlegenden, auf ganz China bezogenen Entwicklungsplanung dar, die alle wesentlichen Aspekte des Entwicklungsprozesses berücksichtigen sollte. Dieser Ansatz kam jedoch zu spät, um vor dem Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges noch Früchte tragen zu können. So bleiben die Schaffung eines praktikablen entwicklungspolitischen Leitungsapparates und die Stabilisierung des Finanzsystems die größten Leistungen der K M T im Bereich des im engeren Sinne wirtschaftlichen Aufbaus. Fairbank hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Finanzpolitik der nationalistischen Einheitspartei bis 1935 sich nicht als besonders entwicklungsfördernd auswirkte, da sie es versäumte, Investitionsanreize und spürbare Zinsreduktionen zu schaffen107. Wer jedoch die Entwicklung der 103

104

105 loe 107

Bericht des Genossen Chiang Kai-shek über die Entwicklung der Wirtschaftlichen Aufbaubewegung des Volkes, erstattet auf dem 3. Plenum des V. ZEK der KMT am 19. Februar 1937 (KMT-Ardiiv und Nachlaß Chu). Richtlinien für den wirtschaftlichen Aufbau Chinas, verabschiedet auf dem 3. Plenum des V. ZEK der KMT am 19. Februar 1937, in: Ch'ungk'ing-Sammlung, p. 792—803. Siehe oben, S. 59—61! Siehe oben, S. 421 f.! Fairbank, op. cit.,p. 218—220.

604

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau in China

letzten zwei Jahre vor dem Kriegsausbruch in Betracht zieht, wird sich fragen müssen, ob Douglas Paauws Behauptung aufrechterhalten werden kann, es sei „zweifelhaft, ob die KMT Chinas traditionelles Problem der wirtschaftlichen Stagnation mit mehr politischer Kontrolle und weniger japanischer Aggression hätte lösen können" 108 . Diese Bewertung übersieht, daß die grundlegenden Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas von Chiang und seinen Mitarbeitern spätestens im Winter 1934/35 deutlich erkannt und daß ihre Lösung in der Aufbaubewegung ernsthaft und mit unübersehbaren Anfangserfolgen in Angriff genommen wurde. Daß dies so spät geschah, mag man der KMT vorwerfen, daß es — auch ohne wesentliche ausländische Hilfe — überhaupt geschah, deutet auf größere entwicklungspolitische Potenzen hin, als manche engagierte westliche Kritiker der nationalistischen Einheitspartei Chinas zuzugestehen bereit sind.

Der Ausbau des

Verkehrswesens

Für die Herstellung der zentralen Kontrolle über die Provinzen Chinas, für die Vorbereitung zur Verteidigung gegen äußere Feinde und für die Verbesserung der Güterkommunikation war ein Ausbau des Verkehrsnetzes in China von ausschlaggebender Bedeutung. Deshalb stellten schon die Entwicklungspläne Sun Yat-sens und Sun K'es den Straßenund Eisenbahnbau an den Anfang aller vorgesehenen Unternehmungen, die der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Landes dienen sollten. Nadi bescheidenen Anfängen konnte die Nationalregierung in diesem Bereich des Aufbaus zwischen 1932 und 1937 ihre größten Erfolge vorweisen. Die Aufgabe, die sich hier stellte, war schwierig; denn die Größe des Raumes verlangte Leistungen, die an die Grenze der finanziellen und technischen Möglichkeiten Chinas führen mußten. Nicht von ungefähr wurden die besten Ergebnisse beim Straßenbau erzielt. Hier konnte die Armee wirksam eingesetzt werden, und in bestimmten Phasen der gewaltsamen innenpolitischen Auseinandersetzung, so vor allem während des „5. Vernichtungsfeldzuges" gegen die kommunistischen Partisanen in Süd- und Zentral-Kiangsi, waren die Fortschritte beträchtlich. Die Nationale Wirtschaftskommission, unter deren Leitung bis zum 108

Douglas Paauw, „The Kuomintang and Economic Stagnation", in: „The Journal of Asian Studies", 16. Jahrgang, Nr. 2 vom Februar 1957, p. 2 1 3 — 2 2 0 (hier: p. 220). Vgl. hierzu audi: Fairbank, ibid.

Der Ausbau des

Verkehrswesens

605

Oktober 1935 insgesamt über 20.000 km Straßen entstanden, setzte ihre Tätigkeit auf diesem Gebiet auch in den Jahren 1936 und 1937 fort. Ein Projekt zum Bau von Straßen in sieben Provinzen Zentral- und Südchinas, das insgesamt 22.624 km neuer Verbindungslinien vorsah, von denen im Herbst 1935 bereits 15.591 km fertiggestellt worden waren, wurde bis zum Frühjahr 1937 abgeschlossen. Gleichzeitig entstanden in Fukien 1.139 km neuer Straßen, die dieser Provinz, in der es keine Eisenbahnlinien gab, zum ersten Male ein zwar noch nicht ausreichendes, aber doch schon recht brauchbares Verkehrsnetz gaben109. Die Gesamtlänge der Straßen in China, die 1928: 30.550 km und 1931: 66.111 km betragen hatte, erreichte im Juli 1937 bereits 115.702 km, von denen 40.218 km bei jedem Wetter befahrbar waren110. Es entstanden in China also von 1932 bis 1937 nahezu 50.000 km neuer Straßen, insgesamt von 1928 bis 1937 aber 85.152 km, davon etwa 35.000 km mit fester Decke. Dem steht in den ersten zehn Jahren kommunistischer Herrschaft auf dem chinesischen Festlande, von 1950 bis 1959, der Bau von etwa 94.000 km neuer Straßen gegenüber111, auch hier sind also die Aufbauleistungen der K M T vor 1937 denjenigen der K C T in der Periode ihrer größten Entwicklungserfolge bis 1959 durchaus vergleichbar. Dem Ausbau des Eisenbahnnetzes lag bis 1931 zunächst ein am 22. Oktober 1929 vom damaligen Eisenbahnminister Sun K'e verkündeter Plan zugrunde, der die Verbindung Kuangsis, Yünnans, Tibets, Suiyüans und der westlichen Inneren Mongolei mit Nanking und Querverbindungen von Hsinkiang nach Tibet und von Hsinkiang nach Tungpei vorsah112. Er konnte jedoch noch nicht einmal eingeleitet werden. Bis heute ist nur ein kleiner Teil der damals projektierten Strecken fertiggestellt worden, doch führt eine Untersuchung der Bahnbauten unter kommunistischer Leitung seit 1950 zu dem Ergebnis, daß er — von einigen Ausnahmen abgesehen — audi heute noch im wesentlichen befolgt wird. Die ersten größeren Erfolge im Eisenbahnbau seit 1928 wurden im Frühjahr 1936 spürbar. Am 15. Januar 1936 konnte die Verbindung zwi109

110

111 112

Arbeitsbericht der Nationalen Wirtschaftskommission, erstattet auf dem 3. Plenum des V. ZEK der K M T im Februar 1937, in: KMWH, Bd. X X X , p. 895—912 (hier: p. 896—900). Vgl. audi: China Year Book 1936, p. 31. ibid., p. 32; und: Min-kuo erh-shih-liu nien ch'i yüeh diiao-t'ung-pu kung-tso paokao (Arbeitsbericht des Verkehrsministeriums für den Juli 1937), Nanking 1937, p. 8. Vgl. auch: Tong, op. cit., p. 204. „China News Analysis", Hongkong, vom 4. 12. 1964. Anordnung des Eisenbahnministeriums über die Grundsätze für einen Plan zum Aufbau des staatlichen Eisenbahnnetzes, mit: Plan zum Aufbau der Staatsbahnen, vom 22.10.1929, in: KMWH, Bd. X X V I , p. 117—135.

606

XIV. Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau

in China

sehen Hangchou, der Hauptstand Chekiangs, und Nanch'ang, der Hauptstadt Kiangsis, an der seit 1930 gebaut worden war, eingeweiht werden. Die neue Bahnlinie hatte eine Länge von 650 km113. Nur kurze Zeit danach, am 28. April 1936, wurde das noch fehlende Verbindungsstück der Kanton-Hank'ou-Bahn in Hunan — 456 km lang — fertiggestellt, so daß damit endlich eine Nord-Süd-Strecke bestand, die Peking mit Kanton verband 114 . Die Lunghai-Bahn, die schon vor 1920 Loyang mit dem Meer verband, wurde seit 1928 weiter nach Westen verlängert, und zwar mit dem Ziel, eine von Tihua (Urumchi), der Hauptstadt Hsinkiangs, bis zum Meer reichende West-Ost-Verbindung herzustellen. Der Bahnverkehr konnte hier 1933 bis T'ungkuan und im Herbst 1934 bis Sian aufgenommen werden115. Bis zum Frühjahr 1938 wurde die Strecke um weitere 180 km bis Paochi verlängert und der Unterbau bis in die Nähe Lanchous, der Hauptstadt Kansus, fortgeführt 110 . Einige kleinere Strecken kamen hinzu, vor allem eine Shanghai vermeidende Abkürzung der Linie Nanking-Hangchou, so daß insgesamt vom Juni 1928 bis Ende Mai 1936 in China 2.404 km neuer Eisenbahnlinien entstanden 117 . Um die Entwicklung weiter zu beschleunigen, legte Chiang im Juni 1936 einen von seinem energischen und leistungsfähigen Eisenbahnminister, Chang Chia-ao, entworfenen Fünf-Jahres-Plan für den Bahnbau vor, dessen Durchführung mit bemerkenswerter Schnelligkeit in Angriff genommen wurde118. Nach diesem Plan sollten in China bis Ende Juni 1941: 8.139 km neuer Strecken gebaut werden, und zwar: 1936/37 :1.370 km, 1937/38 :1.105 km, 1938/39: 898 km, 1939/40 :2.688 km, und 1940/41 :2.078 km119. 113 114

115

118 117 118

119

Chang Ch'i-yün, op. cit., Bd. II, p. 1017; und: Ch'en Chih-hua, op. cit., p. 103. Vgl. hierzu: KMWH, Bd. X X X , p. 769—829 (dort findet sich eine Sammlung relevanter Dokumente); China Year Book 1936, p. 276 f.; und: Tong, op. cit., p. 203. Arbeitsprotokoll über den Bau des westlichen Erweiterungsabschnitts der LunghaiBahn, vom Dezember 1934, in: KMWH, Bd. X X V I I I , p. 449—495. Vgl. hierzu: China Year Book, ibid. Ch'en Chih-hua, op. cit., p. 98 und 103. ibid., p. 90. Chang Chia-ao, „General Chiangs Five-Year-Plan of Railway Development", in: „Quarterly Review of Chinese Railways", Nanking, Nr. 4 vom April 1937, p. 3— 17. Vgl. hierzu: Ch'en Chih-hua, op. cit., p. 89—105; und: Chinese Yearbook 1936/37, p. 897. Nach Ch'en Chih-hua (ibid.): 2.807 km.

Der Ausbau des

Verkehrswesens

607

Ein gleichzeitig veröffentlichtes Zusatz-Bauprogramm des Eisenbahnministeriums umfaßte weitere Linien mit einer Gesamtlänge von 1.226 km120, im ganzen wollte man also das chinesische Eisenbahnnetz außerhalb Tungpeis, von etwa 13.000 auf über 22.000 km erweitern, und dies innerhalb von fünf Jahren. Die geplanten neuen Strecken hatten vor allem die Aufgabe, bestehende West-Ost-Verbindungen zu verlängern, sowie die vier südwestchinesischen Provinzen Kuangsi, Yünnan, Kueichou und Ssuch'uan, einen Raum mit etwa 85 bis 90 Millionen Einwohnern, reichen Bodenschätzen und Wasserkraftreserven 121 , verkehrsmäßig zu erschließen. Unter Beteiligung der Armee, die viele tausend Soldaten für die Bauarbeiten zur Verfügung stellte, wurden im ersten und — trotz des begonnenen Krieges — auch im zweiten Planjahr die gesteckten Ziele nicht nur erreicht, sondern sogar beträchtlich überschritten. Von besonderer Bedeutung waren hier: der Bau einer neuen Strecke von Nanking nach Nanch'ang in einer Länge von 490 km; die Verlängerung der Hangchou-Nanch'ang-Bahn bis Chuchou an der Kanton-Hank'ou-Bahn, durch die eine direkte Bahnverbindung zwischen Kanton und Shanghai entstand, und die Fertigstellung des ersten Abschnittes einer neuen Linie von Chuchou nach Kueiyang, der Hauptstadt Kueichous; der im Herbst 1938 abgeschlossene Bau der Hunan-Kuangsi-KueichouBahn, die in einer Gesamtlänge von 938 km Hengyang mit Kueilin und Kueiyang verband; und die Errichtung der 626 km langen Eisenbahnlinie von Tat'ung nach P'uchou in Shansi, durch die eine Verbindung zwischen der PekingP'aot'ou- und der Lunghai-Bahn hergestellt werden konnte122. So konnten vom Sommer 1928 bis zum Ende des Jahres 1938 — also in nicht ganz elf Jahren — in China insgesamt 6.592 km neuer Bahnlinien erbaut werden, davon 2.404 km bis zum Mai 1936 und 4.188 km vom Mai 1936 bis zum Dezember 1938. Dem steht in den elf Jahren von 1906 bis 1916 der Bau von 4.723 km, in den zwölf Jahren von 1917 bis 1928 von 1.315 km und in den ersten elf Jahren kommunistischer Herrschaft von 1950 bis 1960 derjenige von 5.453 km neuer Strecken gegen120

ibid., p. 94.

121

Vgl. ibid., p. 85—88. Ch'en gibt für die vier Provinzen eine Einwohnerzahl von 80 Millionen an.

122

ibid., p. 103. Vgl. hierzu: Tong, op. cit., p. 203.

608

XIV.

Kapitel:

Fünf Jahre Aufbau

in

China

über123. Die Zeit von 1928 bis 1938, besonders aber zwischen 1936 und 1938, war also bisher die Periode der größten Erfolge beim Ausbau des diinesisdien Eisenbahnnetzes. Sie brachte China zugleich den Beginn des zivilen Luftverkehrs. Bereits im April 1929 vereinbarte Sun K'e in seiner Eigenschaft als Präsident der neugegründeten „China National Aviation Corporation" (Chung-kuo hang-k'ung kung-ssu, abgekürzt CNAC) einen Vertrag mit einer amerikanischen Gesellschaft, welche die Ausrüstung für Luftpostlinien liefern sollte. Aufgrund einer zweiten chinesisch-amerikanischen Abmachung begann im Jahre 1930 der Personenverkehr zwischen Shanghai, Nanking und Wuhan, und 1932 kam die Strecke Shanghai—Peking hinzu. Ende 1935 operierte die C N A C bereits mit 16 amerikanischen Maschinen auf sechs Strecken. Während sie 1930 erst 2.645 Passagiere befördert hatte, waren es im Jahre 1935 immerhin schon 10.404. In der gleichen Zeit stieg die Zahl der Flugkilometer auf den Strecken dieser Gesellschaft von 531.196 auf 1.955.801. Als Chu Chia-hua 1932 die Leitung des Verkehrministeriums übernahm, erhielt der Aufbau des zivilen Luftverkehrs neue Impulse. Chu gründete noch im selben Jahr eine zweite Luftverkehrsgesellschaft, die „Eurasia Aviation Corporation" (Ou-ya hang k'ung kung-ssu), die als gemeinsamens Unternehmen des Verkehrsministeriums und der „Deutschen Lufthansa" aufgebaut wurde. Mit acht deutschen Maschinen ausgerüstet, begann sie zunächst mit dem Inlandsverkehr, doch wurde von Anfang an die Eröffnung einer Verbindung zwischen Shanghai und Berlin geplant, die über Hsinkiang oder die Äußere Mongolei und die UdSSR führen sollte. Da die sowjetische Regierung mit der Genehmigung zum Überfliegen ihres Territoriums zögerte, konnten allerdings erst 1937 die ersten Probeflüge auf dieser Strecke durchgeführt werden, und zu einer Aufnahme des planmäßigen Verkehrs kam es vor dem Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges nicht mehr. Aber im Inlandsdienst erwies sich die „Eurasia" bereits bald als ein recht kräftiges Unternehmen. 1934 operierte sie auf vier Strecken: Shanghai-Nanking-Chengchou-Sian-Lanchou (zweimal in der Woche); Peking-Chengchou (zweimal in der Woche); Lanchou-Paot'ou (zweimal in der Woche); und Sian-Ch'engtu (zweimal in der Woche). 123

Errechnet bzw. zitiert nach: Ch'en Chih-hua, op. cit., p. 90 und 104; und: „China N e w s Analysis" v o m 4. 12. 1964.

Der Ausbau des

Verkehrswesens

609

Die Zahl der beförderten Passagiere stieg von 589 im Jahre 1932 auf 2.951 im Jahre 1935, und während die „Eurasia" 1932 insgesamt 253.603 km flog, waren es 1935 744.735 km. Der im November 1934 abgeschlossene Kauf von drei deutschen Maschinen des Typs „Ju 52" — damals eines der modernsten Verkehrsflugzeuge der Welt —, die im Oktober 1935 in China eintrafen, ermöglichte es der „Eurasia", Anfang 1936 eine neue Verbindung von Peking nach Kanton zu eröffnen, für die diese Flugzeuge nur acht Flugstunden brauchten, während die älteren Maschinen der C N A C noch nahezu zwei Tage benötigten. Fünf weitere Flugzeuge dieses Typs wurden 1936 erworben, und jetzt begann die „Eurasia" mit einem regelmäßigen Dienst, der einmal in der Woche Shanghai über Nanking, Loyang, Sian, Lanchou, Suchou, Hami und Tihua (Urumchi) mit Chuguchak in West-Hsinkiang verband 124 . Währenddessen setzte die C N A C ihre Zusammenarbeit mit amerikanischen Gesellschaften fort, und am 21. April 1937 konnte sie mit einem planmäßigen Luftpost-Dienst zwischen Shanghai und den USA beginnen125, dem Ende 1937 der Passagierverkehr folgen sollte, was jedoch durch den Ausbrudi des Krieges verhindert wurde. Im ganzen gab es in China im Juli 1930: 4.832 km Luftverkehrslinien, die 13 Städte miteinander verbanden, während im Juli 1937 bereits 14.332 km solcher Linien 38 Flugplätze bedienten126. Der zivile Luftverkehr gewann dadurch erhebliche politische Bedeutung, daß er die entferntesten Gebiete des Landes mit dem Kernraum um Nanking und Shanghai verband und so einen wichtigen Beitrag zur Errichtung und Verstärkung der Kontrolle der Nationalregierung über die Provinzen leistete. Diese Kontrolle war in den letzten Jahren vor 1937 zweifellos wirksamer geworden, sie reichte jedoch immer noch nicht aus, um die Erfüllung des Herrschaftswillens der Zentrale im ganzen Lande zu gewährleisten. Hier stieß die Entwicklungspolitik der KMT an Grenzen, welche sie bis zum Juli 1937 nicht zu überwinden vermochte. Zusammen mit dem Ausbleiben ausländischer Entwicklungshilfe größeren Ausmaßes und der immer noch schwachen Kaderstruktur der nationalistischen Einheitspartei trug diese Tatsache wesentlich dazu bei, daß die beachtenswerten Erfolge, die von 1932 bis 1937 im Bereich der Infrastruktur erzielt wurden, nicht schnell genug Früchte trugen. 124

„Der Aufbau der Zivilluftfahrt", aus: Arbeitsbericht des Exekutivyüans auf dem 4. Plenum des IV. ZEK der KMT im Dezember 1934, in: KMWH, Bd. X X V I I I ,

p. 440—442. 125 126

39

„Shen-pao" vom 21. 4.1937. Chinese Year Book 1936/37, p. 578. Domes

XV. Kapitel Zwischen kommunistischem Aufstand und japanischer Aggression, 1932 bis 1936 Als der japanische Angriff in Tungpei am 18. September 1931 den Abbruch des dritten „Vernichtungsfeldzuges" gegen die kommunistisch beherrschten Rätegebiete in Süd- und Zentralchina erzwang und die KCT während des Konflikts mit Japan im Herbst und Winter 1931/32 ihren Herrschaftsbereich in den Provinzen Kiangsi, Hunan, Hupei, Honan, Anhui und Ssuch'uan beträchtlich auszudehnen vermochte1, wurde bereits das Dilemma offenbar, in dem sich die Politik der KMT in den folgenden fünf Jahren befinden sollte. Die nationalistische Einheitspartei stand vor der Alternative, entweder eine Ausbreitung der Rätegebiete im Landesinneren zuzulassen und alle Kräfte auf den Widerstand gegen japanische Übergriffe zu konzentrieren, oder aber unter dem Einsatz des größten Teils der „Zentralarmee" die kommunistische Partisanenbewegung zu liquidieren und sich dafür durch ein Nachgeben gegenüber den Forderungen, die Japan stellte, den Rücken freizuhalten. Wir hatten gesehen, daß sich die Führung der KMT unter dem Einfluß Chiang Kai-sheks für den zweiten Weg entschied. Die Gründe für diese Entscheidung sind vor allem in Chiangs Auffassung zu suchen, daß es möglich sei, die Kommunisten militärisch zu besiegen, Chinas Stärke hingegen für einen erfolgversprechenden Widerstand gegen Japan noch nicht ausreiche. Um dem äußeren Feind wirksam entgegentreten zu können, galt es nach Meinung des Generalissimus zunächst, den inneren Widerstand gegen die nationalistische Einheitspartei zu brechen und deren Kontrolle auf das ganze Land auszudehnen. Diese Auffassung wurde maßgeblich von der Tatsache bestimmt, daß die KMT — in Übereinstimmung mit den Gedankengängen Sun Yat-sens — der Grundlehre vom Volkstum Priorität einräumte und sie vorwiegend vom Gedanken der Einheit des Landes her interpretierte. 1

Siehe oben, S. 363 f.!

Zusammenbrach

der KCT in den Städten und vierter Vernichtungsfeldzug

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Der Zusammenbruch der KCT in den Städten und der vierte Vernichtungsfeldzug Während Mao Tse-tung, Chu Te und die anderen Führer der kommunistischen Partisanen in Süd- und Zentralchina, im Kampf gegen die wenig einsatzfähigen Provinztruppen, neue Rätebezirke schufen, versuchte die offizielle Führung der KCT unter Ch'en Shao-yü (Wang Ming) und anderen, in der UdSSR ausgebildeten Mitgliedern des ZK, die Organisation der Partei in den Städten neu aufzubauen, um dort die Kader für die „proletarische Revolution" heranzubilden. Nach den schweren Schlägen, welche der Partei im Frühjahr und Sommer 1931 von der nationalistischen Geheimpolizei zugefügt worden waren 2 , erschien dies für die KCT als eine schwer lösbare Aufgabe. In Wuhan, Kanton, T'ienchin und Peking waren daher auch keine Erfolge zu verzeichnen. Dagegen stellte sich die Situation in Shanghai, wo sich auch der Sitz des ZK befand, etwas günstiger dar. Hier wurde ein Teil des 1927 verlorengegangenen Terrains zurückgewonnen. Man gründete neue Zellen in den Gewerkschaften, organisierte eine Anzahl erfolgreicher Streiks, entfaltete erhebliche Aktivität unter den Studenten und Sekundärschülern und gewann eine größere Zahl neuer Mitglieder. Doch auch hier kamen die Kommunisten bald in Bedrängnis. Anfang 1932 bereitete die Geheimpolizei der KMT eine Aktion gegen die städtischen Organisationen der K C T vor. Dabei kam ihr zustatten, daß ihr im April 1931 der Leiter der Geheimdienstabteilung beim ZK der KCT, Ku Shun-ch'ang, in die Hände gefallen war 3 . Nach seiner Verhaftung ging Ku zur KMT über und übergab der Partei wichtige Unterlagen über die kommunistische Organisation in Shanghai. So gelang es der Polizei, Hsiang Chung-fa zu verhaften, und ab März 1932 fand, unter Kus Mitwirkung, eine Anzahl erfolgreicher Razzien gegen die K C T statt, deren Höhepunkt in einer großen Aktion in Shanghai am 1. Oktober 1932 erreicht wurde. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses traten in den folgenden Monaten eine Reihe maßgeblicher kommunistischer Kader zur KMT über, allen voran Huang P'ing, der Außenkommissar der „KantonKommune" vom Dezember 19274. So verlor die KCT ihre letzte Basis in 2 3

4

39»

Siehe oben, S. 361! Vgl. hierzu: Chung-kuo K C T . . . , op. cit., p. 316 f.; Li Ang, op. cit., p. 143; Schwartz, op. cit., p. 184 f.; McLane, op. cit., p. 40; und: T'ang Leang-li, Suppressing Communist Banditry in China, Shanghai 1934, p. 70 f. Vgl.: Chung-kuo KCT, op. cit., p. 320—368. Dort finden sich audi die Texte von Aufrufen ehemaliger Kommunisten aus dem Winter 1932/33 an die Mitglieder der KCT, zur KMT überzugehen.

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XV. Kapitel: Kommunistischer Aufstand und japanische Aggression

den Städten. Bis in die Zeit nach 1945 hinein ist es ihr nicht wieder gelungen, in nennenswertem Umfange in den Städten Ost- und Zentralchinas Fuß zu fassen. Den Kommunisten blieben so nur die Rätegebiete. Die dort operierenden Partisanenverbände und ihre Führer wurden für die Komintern die einzig relevanten kommunistischen Partner in China. Bereits im Laufe des Jahres 1932 hatten jene Mitglieder der offiziellen Parteiführung, denen es gelungen war, der Verhaftung durch die Geheimpolizei zu entgehen, unter ihnen Chang Wen-t'ien, Chou En-lai, Shen Tse-min und Ch'in Pang-hsien, in den Rätegebieten Zuflucht gesucht. Ch'in löste im Oktober 1932 den wenig erfolgreichen Ch'en Shao-yü als Generalsekretär ab, während dieser nach Moskau gerufen wurde, um die K C T bei der Kominternführung zu vertreten5. Außer einem deutschen Militärberater, mit dem Decknamen Li T'e, der aus dem militärischen Geheimapparat der K P D kam, gab es nun keinen Delegierten der Komintern mehr in China®. Die Partei wurde von jetzt an immer mehr mit ihren Partisaneneinheiten identisch, die sich im Winter und Frühjahr 1931/32 mit beträchtlichem Erfolg gegen die Angriffe der KMT-Streitkräfte zur Wehr setzten. Im Mai 1932 sdilug der kommunistische General Ho Lung im Seengebiet von West-Hupei zwei Divisionen der Regierungstruppen, kurz darauf gingen im Bergland an der Grenze zwischen Hupei und Anhui zwei andere Divisionen nahezu geschlossen zu den Kommunisten über7. Bald nach dem Abschluß der Waffenstillstandsvereinbarung mit den Japanern, am 5. Mai 1932 in Shanghai8, begann jedoch die Nationalregierung einen neuen, vierten „Vernichtungsfeldzug" gegen die kommunistischen Partisanenverbände vorzubereiten. Ho Ying-ch'in übernahm am 26. Mai den Oberbefehl in Kiangsi und Ost-Hunan; die 19. Feldarmee unter dem Kommando Ch'en Ming-shus wurde aus dem Raum von Shanghai und Nanking mit Schiffen nach Fuchou und Hsiamen (Amoy) gebracht, um von dort aus den Angriff gegen das zentrale Rätegebiet zu beginnen, während ein Armeekorps der Provinzarmee von Kuangtung, unter Yü Han-mou, von Süden her die Einschließung der Partisanen vollenden sollte9. 5

Vgl. zu diesen Vorgängen u. a.: Chang Kuo-t'ao, „Chou En-lai is a Round Man", in: „New Y o r k Times Magazine" vom 25. 4 . 1 9 5 4 ; T'ang, ibid.; Li Ang, op. cit., p. 2 0 5 ; Schwartz, op. cit., p. 185 f.; McLane, op. cit., p. 39 f.; und: North, op. cit., p. 157 ff.

• McLane, op. cit., p. 152 f.; und: Snow, op. cit., p. 416 ff. 7

So: Amann, Bauernkrieg, p. 65 f.

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Siehe oben, S. 4 6 9 !

• ibid., p. 71 f. Die Angaben Amanns wurden von H o Ying-di'in im Interview mit dem Verfasser am 11. September 1964 in T'aipei bestätigt.

Zusammenbruch derKCT in den Städten und vierter Vernicbtungsfeldzug

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Chiang selbst berief für den 15. Juni eine „Säuberungskonferenz" (Ch'ing-chiao hui-i) nach Lushan ein, um mit den Befehlshabern der in Hupei, Hunan, Anhui, Honan und Kiangsi stehenden Truppen über den neuen Feldzug zu beraten. Die Konferenz faßte am 19. Juni den Beschluß, daß bei der Bekämpfung der Kommunisten hinfort „politische Maßnahmen die Grundlage aller Aktionen" darstellen sollten10. Die Annahme dieses Prinzips bedeutete eine wesentliche Entscheidung für die neue Antiguerilla-Strategie der Nationalarmee. Aus ihr ergaben sich die Schaffung der „Pieh-tung tui" mit ihren vorwiegend politischen und sozialen Aufgaben, die Einrichtung des „pao-chia