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German Pages 352 [349] Year 2001
Dieter Henrich Versuch über Kunst und Leben
SUBJEKTIVITÄT
- WELTVERSTEJJEN
- KUNST
Editi o n A kz nt e H ' rau sgege ben vo n Michae l Krü ge r
Dieter Henrich Versuch über Kunst und Leben Subj e kti vität - Weltverstehen - Kun st
Ca rl Han se r Verlag
Inhalt
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9 Vorles un g Philosophische Orientierung 1.
13
:.1. Vor les un g Vora usse tzun g und Aufb a u der fonna le n Ästhetik 49
3. Vorlesung Kompl ex ionen im Kun stwe rk 97 4. Vorlesung Die Kun st in der Zeit
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:'i· Vor les un g Subjekt ivitä t a ls Distanzbildun Distanzv e rlauf" 1 77
g und
b. Vor les un g Thesen vo m Ende - Be tr ac htun g und Erinnerung 229 7. Vorles un g Wandlungen in d er Kun st d e r Moderne ~(jg
ls'rlii11lnu11gm 3-1-3
Vo rwo rt
Diese Vorles un ge n ge lte n d en G rundl age n d e r Kun st un d d e 11G ründ e n ihr e r Reso na nz in un se re m Le be n. Um d ahin zu ge la nge n , ge he n sie vo n Unt e rsuchun ge n üb e r das a us, was e in bewußt es Lebe n a,, smac ht. So ve rbind e n sie a lso , in d e r Spra ch e d es Fac h es ges pr oc he n , d ie T h eor ie de r Subj e ktivit~it mit d e r Kun sttheor ie . Ein e n so lche n Versuch habe ich m e h rfac h vorge tr agen und fü r di e Verö ffe ntli chun g als Buch vo rb e re ite t. Daß er nun in di ese r Ges ta lt e rsc he int , ist Fo lge d e r Einl adun g d e r So zialwissc nscha f"tlich e n Fa kult ~it d e r Humb o ldt -U niversit~it zu ß e rli 11, im So mm e r 1998 d ie Geo rg-S imm el-Vorles un ge n zu halte n. Die vier e rste n Vorles un ge n e nt sp rec h e n we itge h e nd d e m , was ich wir klich vo m '.1·bis zu11124 . .Jun i 1998 , Un te r de n Lind e n ·r1m11dung he rvo rge ht , also aus aktiv isch angesetz te n Ve rsu ch e n in e in e m Med ium und in stä ndig e r Kontroll e und Ko rr ek tur von dem , was sich in den Versuchen zur Rea lisie run g d es Entwurfs her a u ·bild e te - fre ilich a uch im Blick a uf vorn usge he nd c Tra diti o n e n und auf Po te nti a le, di e in den Trad itionen ange leg t, aber ni cht erfa ßt und e rgr iffen wor d e n waren. Wegen d er nve rfü gba rke it d es gesa mt en Hor izo nt s, in dem d e r Kün stle r zu d e r ihm e ige n e n staltun gsm ög lichk e it zu finden hat , läßt sich a uch ve rste h e n , d a ß es kein so lches Erkttnd e n , Suc h e n und Find e n geb ·11ka nn , in das ni cht
di e gesa mt e En e rg ie d e r Le be nsbeweg un g d es Kün stle rs e in ge ht. Die re fle ktie rt e Ra tio na litiit d es Vo llzugs d er Kun stpr a xis lieg t in d e r Be wußth e it d e r Fo lge n , di e a us d er Ent wurl se n e rg ie d es Künstl e rs h e ra usgear be ite t wurd e n , in d e re n Ko ntroll e sowi e in d e r Ein sichti g ke it d e r Ko n sequ e n;,.e n , di dann we ite r au s die se r Ko ntro lle h e ra us ge zoge n wurd e n. Sie liegtj ed oc h ni cht in d e r inn e re n O rga nisa tio n d e r e rkund e nd e n Akt ivitiit und in d e r Ent s h e idun g für di e Ric htun g, mit d e r sie ihr e n Ein sat z nimmt. Sie w ·rd n sich e r sc h o n beme rkt h abe n , d aß zwisc h e n d e r so formuli e rt e n G n111dbc din g un g kü nstle risc h e 1- Produkti vitiit und d e m , was zu vo r ü be r Su bje ktivit ä t gesag t word e n ist, e in e b e re in stimrnun g bes te ht. Die Subj e kti vität kann üb e r ihr e n Urspru n g und ihr e Bewa ndtni s a us e in e r Erk e nntnis vo n Ve rh iilu 1issc n , die ihr vo rliege n , ke in e KJar h •it gewinn e n. Diese r Übc rc i11stimmun g wird dann wo hl a uc h be i d e r Au fk lä run g d es Ve rhältnis ses vo n Kun st un d Le b e n , auf'd ie wir a llm ä hli h zu ge h e n , e in g roß es Gewic ht zuk o mm e n. Bevo r ab e r in sie e in ge tr e te n wer d e n ka nn , mü sse n noc h m e h re re S hriu e in d e m be rleg un gsga n g ge tan we rd e n , zu d e m sc h o n in d e r e rste n Vo rles un g an g · se tzt wo rd e n wa r. We nn d ie Res on a nz , we lch e di e Kun st im Le be n find e t, ve rsta nd e n we rd e n so ll, so muß man sich d oc h zu g le ich imm e r d avo r hü te n , di e Dynamik in d e r Entwi c klun g hin zur Ste ige r un g und Vert ie fung , di e von d e r e le mentar ästh e tisc h e n Situ a tio n a usge ht , mit d e r Dyn a mik ge rad ewegs zu id e ntifizi e re n , d e r da s bew uf.lte Le b e n a ls so lch es unt e rli eg t. We r a lle rd in gs j ed e Be zie hun g zwisc h e n ihn e n le ug n e t, müßt e wo hl wirkli c h in d e r äs th e tisc h e n Erfah run g und m e hr n oc h in d e r Kun stprodukti o n e in e d e r Verführun gs m äc ht e e rb licke n , di e da s Le be n sich ve rli e re n lasse n , we nn es sic h a uf' sie e inläßt o d er ga r ve rläßt. Ein e solch e Le u g nung d e r Be zie hun g zwisch e n Le be nsgang und Kunstprodukti o n würd e a be r imm e r n oc h mehr „
„
Sinn ergeben a ls d ie Verhä ltnisbestirnrnung zwischen be iden, di e man den äst h etischen Id ea lismu s nennen kann. Für ih n vo llende t sic h di e Lebensaufgabe geradezu da 1~ in , dies Lebe n a ls Ganzes zu e in e r Gesta lt zu b ild en, d ie der Grundforme l des Ge li11gens in der ~isth et ische n Gesta ltun g e nt spr ich t, närnli ch Einh e it in d e r Ma 1111i g f;dti gkc it zu verw irk lich e n . Größtmög lic he Mannigfa ltigke it bei clur chg~ingigc r Einh e it u nd h oher Bewußtheit im e ige nen Le be n zu rea lisie ren, ist aber e in Be mühen um Se lbsts tilisie rung , da s dur chau s dazu gee ig n et ist, die Ko nflikt e zu verdec ke n und zu verdränge n , die sich auf dem Weg mit Notwe n d igke it e in ste lle n , den zu durc hl aufen der Su bjck tiviu'it aufgegeben ist. Wohl ist es e in Lebenszie l, diese Konflikt e ni cht in ih rem sc hi e re n Anta gon isrn us zu be lasse n . Wenn es a ber zu e iner Lös un g des Anta go nismus ko mm e n so ll, dann do ch nu r so , daß sich di e kon flig ie rc nd c n Te ndenzen d es Le be ns z11vor unv er kür zt haben auswirk e n kö nne n. Und wenn e in e solc he Lös un g o d e r Übe rh ö hun g in Kunstw er ke n e in e Vcrgegenwänigung find e n kann , dann do ch nur in so lchen , d e ne n es ge lang , in ih rer Gesta ltun g die Grundan lage der Le i enskon flikt e und die Dynamik , die in sie hin e in zie ht , aufzu 11e hm e n und ihr ein en adäqu a ten Ausdruck zu gebe n. De r äs th et ische Idea lismus ist übri ge ns sc hon d es halb ni cht a ls e in e Pe rspe ktive für d ie Prax is des Lebe ns e inle ucht e nd zu mac h e n , weil sic h e in Leben , da s irn Wisse n vo n sic h w fü hr e n ist, imm er zug le ich in Be ziehung a uf die We lt zu vo llzie he n hat , in d •r es ve rkörper t ist und in der es s ich im Alltag be haupt en muß . Dieses prinüre Weltver h~iltnis läßt sich nicht in e in Moment üb ersetze n , das nur e in e n Platz inn er ha lb der schli eß lich d oc h a ufge löste n a nta go ni stisc he n Dyna mik der Subjekt ivit~it inn e hat. Die äs th e tisc he Gesta ltun g h ebt zwar wirk lich aus dieser Weltbez iehung he raus , in so fern sich die Be tr ac hL11ng in sie konz e ntri e rt , wobe i sie di e Welt a bbl e n det. Aber a uch das
is Le in Ere ig ni s im Le bens ga ng , niclll di e ihm e ige n e Form und Vo lle ndun g. nd üb e r die PosiLion ie rung in e iner fn LcgraLionswc lLgew innl d as Subj e kl e in e Se lbstbeschreibung , niclll aber d ie Befre iun g ,111 s se in er pr im ~ir e n We ltbez ie hun g. Ist es in sich sc lbsL und üb e r sich zur Klarhe it ge komni e n , so e rspan ihm da s ni cht clie Ent ste llun ge 11, clie ihm se in e Verw ic klun g in di ese prim ä re v\lelt zufü ge n kann. Was imm e r große Kunst in di ese m Lebe nsga ng bedeu te n ma g, es muß im ß cw ußl sc in d es Fortbestand s d e r H e ra usford e nm ge n dur c h die chao tisc he Alltagswe lL e rfah ren werden . Es mag auch m ög lich sein, diese Alltagswe lL unt er d as sto isc h e Vorz c ic lw n des Ad iapho 1-on, a lso d e r Cl e ic hg ülti g ke it d esse n zu se tzc 11, was nur gesc h e h e n rnuf.\, ab e r 11ic ht e ige ntli ch z~ihlt. Doc h au ch di ese r Akt wä re ni c lll se lbst n och als e in Ele rnent i11e in e r ästhet isc h e n ßa 1.rncc d es Leb e nsvollzu ges zu vers teh e n. Sc hli e ßli c h ist es m ög lic h , zu e in e r Le be n sd e utun g zu find e n , die We ltd e uLung auc h in d e m Sinn e ist, daß sie di e onLOlog isc h e C h aotik d e r Allta gswe lt zum Verschwind e n bringt , also zu e in em B ·g reif e n vo n d e r Art z11ge lanµ;cn , das Goe th e im uge h a ll e, a ls er ni ed ersc hri eb , das I löc hsle, was d e r Mensch im Leben gewinn e n kann , se i, d aß sic h ,Go ll -Natu r , ihm offenbart. Doc h das isL d a nn ni cht e twa e in e Ausgangsevi d e nz für di e Lc he nsffthrun g und -oricnLi er un g, sofern sie im Proz e ß d e r Subj e ktiviüiL ge wonnen und bewä hn werd e n muß , so nd e rn e in Resi·1mee , d as a us dem er fahr e n e n Dur chgan g dur ch di e Le be nsko 11flikte letz le ndli ch hervo rgega nge n ist. Das Wiss e n , da s wir vo n d er U nwa hr sc h e in lic hk e it a lles Le be n s im Kos mo s gewo nn e n h abe n , g ibt Anla f3d az u , der re ich e n Vie lfall und C liecle run g des Le be ns auf clc n1 Pla n eLen , a n d e 11a uch da s Mens ch e nleb e n gebund e n ist,j c d e rze it inn ez use in und es ni chL zu verunsta lte n und verarm e n zu lassen. Sich vorn kle inste n , se in e r se lbst nicl1L m itclni ge n Le be ndi ge n be rühr e n z11 lasse n ist Zlldc rn
wirk lich in d e m begründ e t, was bewußles Leben aus1m1cht , und auc h e in Anzeic h e n da fü r, daß e in Me nsc h zumind est a uf d en Weg zur Kla rh e it t:: 1be r di es Le be n ge kom me n ist. Aber a uc h di ese Lie be d es Le be n d ige n , von d er Hö lde rlin spr ac h , ist a nd eres a ls e in e Versü in digung üb er das Lebe n , die a us se in er äst h e tisc he n Be tr ac htun g h ervo rge ht. Eine äst h e tisc h begr ünd e te Öko log ie isl d es ha lb e in e Varian te d es äs th e tisch e n Id ea lismu s. Sie ste ige rt sogar d ie Fe rn e zum bewußt e n Le be n wie auc h zu d e m , wom it alles Lebe ndi ge un · a nge ht und berührt. Nicht we nig e haben ge me int , daß es aber doch e in e Berec hti g un g habe, das e le m e nt aräs th et is h e Muster, wen n sc h o n ni cht a uf die in d ividu e lle Le be nsfühnin g, so d oc h auf d ie [d ee vollkomm en er po litische r Verh~iltni sse zu übertra ge n . In der Französis ch e n Revo lu tion un d in a lle n phi lh e lle ni sch e n Beweg un ge n halle di e Er inn e run g a n di e srhönenö ffe ntJiche n Ver hä ltn isse Athe ns große Bed e utun g. Auch be i Marx ge h e n in di e Vorste llun g vom Zie l der gese llschaftliche n Auf h e l un g d e r Entfremdung , d ie zur Vollendu ng des Me nsch e nwese ns führ e n so ll, äst hetische Obertöne e in . Sie kön ne n bis hin zu de m Zie lge d a nk en vo n d e r Aufh e bun g d e r Entfr e mdun g d es Mensc he n vom Ga nze n d e r Natur vers tärkt werde n . N un lasse n sich po litische Verh ä ltni sse wirkli ch unt er e lem e nt a räs theti sche n Kriteri e n be tracht e n. Wir sto ßen, wie wir wisse n , in un se rem e igen e n öffe ntli ch e n Lebe n gege nwärt ig last üb e ra ll a uf äs 1hetisch widri ge Befund e, kö nn e n un s a be r woh l a uch a n po litisch e Ere ig nisse e rinn e rn , d ie un s wie di e Klim ax e in e r große n Aufführun g e rgr·iffe n ha be n . Aber da s Eigen tüm liche d e r Ko nst ituti on e in e r id ea le n po litische n O rga nisa tion wird do ch , wenn sie a ls äst he tisch e Einh e it in d e r Mannigfa ltigkeit beschri e be n wird , auf d ur ch a us gefa hr lich e Weise ve rfe hlt . Daß a lle Bür ger d e n Gesetze n , d e n e n sie unt e rli ege n , fre i zustimm e n kö nn e n und daß sie kra ft ihr e r di e Mög lichk e it zur Ent fa ltun g ihr es j e e igenen Le-
ben s , a b e r a u c h ei n es Le be ns in er füllt er Gemeinschaft e in ge6 iumt fin den , h e ißt ni c ht , daB a lle knsche11 , die di ese r Ordnung angehöre 11, a uf' a lle anderen wie Kfange und Takle e in er Ko mp os itio n bezogen sein könnten , in ihrem j e ihn e n se lbst e ige n e n l.c he 11slauf' und in d essen Einstimmun g zu e in e m kompl exe n Ganzen. Das ist ni c ht c in11nl ei n e Utop ie, di e al s so lch e woh l wü 11sc hb ar und nur un e rrei c hb ar sei n kö n 11tc , so ndern geradez u ci n e De fi n i Lio11vo n nfr e ih ciL. Man kan 11, wie sc h o n o f'Lbemerkt wurd e, Zü ge d es Fasc hi smu s recht g ut a us e in e m Vers uch zur ·· sth e tisie run g d es ö ffe ntli c h e n Leb e ns crkh1ren. Schließ lich so llt e m a n sic h a uc h d esse11 er inn e rn , daf3 e l m ·111.arästh e tisch e Kriteri e n keineswegs a lle in die g/1,irhgnu irhtigp Einstimmung aller vie lgesta ltig man n igf'altigcn Ele ment e zu e in e r gefüg te n Einheit f~1vor isiere n . Diese Ein stimmung wär e sc hön in d c n1 c inf'ac h cn Sinn e , in d e m di e a th e ni ·nsische H omo n o ia lllit di ese m Pr ~idikaL h at a usgez ·ic hn e Lwerden kc1n11e n . Aber Cl c ich gew ic hL, niclll Cl i hh c il , ist e in e le m c ntarü sth e tisc h es Krit er ium , und ihm e 11L ~pri cl1Ldas zwang lose Sich-Fügen , nicht das Bewa hr ' II der Se lb stä ndi g ke it um ihr er se lbst willen. Ä~th eti~c h positi v wird d es h alb auch di e Einstimmun g be un e ilt , di e zwischen e in e m h era usrage nd e n , e in em clomini cre ncle n Ele m e nt und einer Vie lzah l von u11Lc rgcor dn etc n Ele m e nt ·n e intritl , wen n dies e Elemente zusa111111 e 11gc no111m e n d e m domini e re nd e n e in Ge ge n gew icht sind , so claf1 si · in e in zwanglos es v\/ec hsc lsp ie l e intr e te n könn e n - wie di e I