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German Pages 218 Year 2013
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 105
Vernünftig wissenschaftlich entscheiden Zur Verfassung des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
Von Philippe Mastronardi und Florian Windisch
Duncker & Humblot · Berlin
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Begründet von Kurt Schelldorfer
Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)
Schriftleitung Volker Gerhardt
Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
Philippe Mastronardi / Florian Windisch
Vernünftig wissenschaftlich entscheiden
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 105
Vernünftig wissenschaftlich entscheiden Zur Verfassung des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
Von
Philippe Mastronardi und Florian Windisch
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-14132-6 (Print) ISBN 978-3-428-54132-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84132-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Vorwort Diese Studie ist aus der Lehre an der Universität St. Gallen entstanden. Als Juristen im engen Kontakt zu Betriebswirtschaftlern, Ökonomen und Politikwissenschaftlern war uns die Forderung nach Integration disziplinärer Perspektiven stets gegenwärtig. Doch bald erkannten wir, dass Interdisziplinarität nicht genügt. Es braucht sowohl innerhalb der Disziplinen wie über diese hinaus eine Methodik des Denkens, welche der zunehmenden Spezialisierung etwas entgegenstellt, was uns zur Integration überhaupt befähigt. Wir fragen nach dem Verhältnis der leitenden Fragestellungen unterschiedlicher wissenschaftlicher Rationalitäten und zeigen einen Weg zur Herstellung von Interrationalität auf. Wissenschaftliche Diskurse sind so zu verfassen, dass sie den Geltungsansprüchen auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit eine gleichberechtigte Teilhabe am wissenschaftlichen Entscheidungsprozess verschaffen. Erst dann kann Wissenschaft behaupten, vernünftig zu sein. Aus diesem Anliegen ist eine kleine Wissenschaftstheorie entstanden, die sich als Entscheidungslehre versteht. Wird Wissenschaft als Lebenshilfe begriffen, ist sie nicht bloss Erkenntnis, sondern Entscheidungshilfe für die Praxis – und selbst ein Prozess methodisch angeleiteter Entscheidungen. Entscheidung heisst Verantwortung. Verantwortung ruft nach Legitimierung. Die Legitimation von Wissenschaft liegt nicht zuletzt in der Offenlegung ihrer grundlegenden Annahmen und Methoden. Dazu soll hier ein Beitrag geleistet werden. Der anspruchsvolle Diskurs, den wir in der vorliegenden Studie darstellen, hat uns auch bei ihrer Herstellung in Beschlag genommen: unter uns wie mit einer Reihe von Kollegen, denen wir an dieser Stelle für ihre Stellungnahmen danken möchten: Hans Christoph Binswanger, Mario von Cranach, James Davis, Gebhard Kirchgässner, Roland Kley, Dirk Lehmkuhl, Michele Luminati, Wolfgang Müller, Alois Riklin, Enno Rudolph, Johannes Rüegg-Stürm, Kuno Schedler, Felix Schläpfer, Dieter Thomä, Peter Ulrich, Robert Unteregger. Fruchtbar waren auch die Diskussionen zu unseren Vorträgen in Frankfurt und im Heidelberger juristisch-linguistischen Arbeitskreis. Bedanken möchten wir uns hier besonders bei Ulfrid Neumann sowie bei Friedrich Müller, Ralph Christensen und Harald Wohlrapp. Die vielfältige Spiegelung unserer Gedankengänge hat uns gefordert und gefördert. Es wäre schön, wenn dieser Prozess weiter gehen könnte! St. Gallen, im März 2013
Philippe Mastronardi und Florian Windisch
Inhaltsverzeichnis I. Aufriss: Das Verlangen der Lebenspraxis nach Entscheidungshilfe – wider die Unvernunft der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Worum es uns geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Systematik des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Gedankengang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft II. Umschau: Logiken und Geltungsansprüche in ausgewählten Sozialwissenschaften
22 22
1. Entscheidungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Integrative Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Betriebswirtschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Logiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Integrative Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Logiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
b) Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Integrative Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Logiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Integrative Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Logiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Integrative Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8
Inhaltsverzeichnis III. Kritik und Korrekturansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Begriffserläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Zustand und Versagen der heutigen Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Methode der Pluralistischen Grundsätzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
a) Wissenschaft als Lebens- und Entscheidungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
b) Pluralistische Grundsätzlichkeit als Methode zur Überwindung des wissenschaftlichen Reduktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Exkurs: Das Gute und das Gerechte im wissenschaftlichen Diskurs . . . . . . . .
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Zweiter Teil Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
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IV. Der Gedankengang einer vernunftorientierten wissenschaftlichen Entscheidungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die vernünftige Entscheidung als Notwendigkeit und normative Forderung . . .
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2. Von der vernünftigen zur richtigen wissenschaftlichen Entscheidung . . . . . . . . . .
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a) Der Richtigkeitsanspruch als Relativierung der Forderung nach vernünftiger wissenschaftlicher Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Zur Prozeduralisierung des Richtigkeitsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Richtigkeit als Geltungsanspruch in allen drei Dimensionen der Vernunft . . . 100 3. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Interrationalität als Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Von der Rationalität zur Interrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Die Fragenabhängigkeit von Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Fragen, Antworten, Rationalität und Interrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 VII. Die drei Vernunftdimensionen: Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Der Wahrheitsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Inhalt und Begründungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Verhältnis zu den anderen Geltungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Der Wertanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Inhalt und Begründungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Verhältnis zu den anderen Geltungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Der Gerechtigkeitsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Inhalt und Begründungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Verhältnis zu den anderen Geltungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Inhaltsverzeichnis
9
4. Weitere Geltungsansprüche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 VIII. Integrativer Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Der Entscheidungsprozess über drei Ebenen und drei Dimensionen . . . . . . . . . . . 141 2. Der Übergang von der Beurteilung zur Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Das Verhältnis zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Zur Konkurrenz von Ziel- und Gerechtigkeitsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Zur Bewältigung des Konflikts zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen . . . 156 4. Exkurs: Institutionalisierte Normen als äussere Begründungsstruktur des Entscheidungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 IX. Diskurstheorie wissenschaftlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Eine Diskurstheorie richtiger Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Die drei analytischen Teildiskurse: Wahrheits-, Wert- und Gerechtigkeitsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Diskursübersetzung und Diskursintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4. Zur Kritik an der Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 X. Eine interrationale Verfassung des wissenschaftlichen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2. Die Verfassung des wissenschaftlichen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 XI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 XII. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:
Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildung 2:
Der Begriff der Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildung 3:
Der juristische Entscheidungsprozess I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Abbildung 4:
Der juristische Entscheidungsprozess II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
Abbildung 5:
Der wissenschaftliche Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
Abbildung 6:
Fragen und Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Abbildung 7:
Begründungsstruktur des Gerechtigkeitsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Abbildung 8:
Wahrheit – Wert – Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Abbildung 9:
Integrativer Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Abbildung 10: Der Konflikt zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Abbildung 11: Die Verfassung des interrationalen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
I. Aufriss: Das Verlangen der Lebenspraxis nach Entscheidungshilfe – wider die Unvernunft der Wissenschaft 1. Worum es uns geht In dieser Studie geht es uns darum, die Verbindung zwischen Vernunft und Wissenschaft zu stärken. Wissenschaft soll zu vernünftigen Entscheidungen beitragen, soweit dies mit den modernen Mitteln der Erkenntnis möglich ist. Für viele, vielleicht die meisten heutigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mag diese Absicht seltsam anmuten. Die einen mögen sich fragen, was Vernunft denn überhaupt mit Wissenschaft zu schaffen habe: Ist Vernunft nicht etwas jenseits rationaler Theorie, etwas für die Lebenspraxis? Die andern mögen sich wundern und umgekehrt fragen, was es da, zwischen Vernunft und Wissenschaft, noch zu stärken gäbe: Besteht die moderne Wissenschaft denn nicht gerade darin, die Welt, ihr Verständnis und das Leben rational – oder eben „vernünftig“ – zu machen? Beide (oder ähnliche) Reaktionen sind für das heute vorherrschende Wissenschaftsverständnis typisch. In der Konsequenz laufen sie auf dasselbe hinaus: Das Verhältnis von Wissenschaft und Vernunft ist für sie kein Thema. Egal, ob das Verhältnis zwischen Theorie und vernünftiger Praxis als disparat oder als selbstverständlich vorausgesetzt wird – eine kritische Reflexion der Wissenschaft in Anbetracht ihrer lebenspraktischen Zusammenhänge erübrigt sich. Wir verstehen Wissenschaft nicht als von der Lebenspraxis gelöste Schau (theoría), sondern, von der praktischen Philosophie her gedacht, als Lebens- und Entscheidungshilfe. Theorie ist nach unserem Verständnis nicht Selbstzweck, sondern ein Beitrag zu einem möglichst vernünftigen Leben, und d. h. möglichst vernünftigen Entscheidungen. Dies meinen wir auch normativ: Es ist die Pflicht und Aufgabe der Wissenschaft, zum Zweck möglichst vernünftiger Entscheidungen Orientierungshilfe zu geben. Von diesem Standpunkt aus gesehen, versagt die heutige Wissenschaft unserer Meinung nach aber in ihrer Aufgabe. Die Wissenschaft präsentiert sich heute als eine in hochspezialisierte Fachbereiche und Schulen ausdifferenzierte Expertenkultur. An sich ist an Ausdifferenzierung und Spezialisierung nichts auszusetzen, doch haben sich im Zuge der Vervielfältigung der Wissenschaft die Zusammenhänge verflüchtigt. Wir haben es nicht mit einer koordinierten Teilung der Arbeit am Wissen, sondern mit einer fortschreitenden Spaltung des Wissens zu tun, durch welche die Rationalitäten den Kontakt zueinander verlieren.
12
I. Aufriss
Unter einer Rationalität verstehen wir dabei das spezifische Konzept wissenschaftlicher Vernunft, das eine Person oder Gruppierung (z. B. Schule oder Disziplin) mittels einer bestimmten Argumentationslinie, ihrer Logik, verfolgt. Rationalität umschreibt das ideale wissenschaftliche Ziel, Logik das faktisch gewählte methodische Instrumentarium, mit welchem das Ziel verfolgt wird. Oft sind dabei nur die Logiken explizit, die Rationalitäten hingegen bleiben unreflektiert oder werden mit der Vernunft in eins gesetzt. Dann wird insbesondere unterdrückt, wie sehr die scheinbar wertneutrale Logik von der Normativität des rationalen Ziels geprägt wird.1 Die fortschreitende Isolation der Rationalitäten bewirkt, dass die Vernunft von immer mehr Einzelwissenschaften vereinnahmt wird. Statt eines produktiven Pluralismus im Dienst der Vernunft bilden sich immer mehr partikuläre Einheiten heraus, die beanspruchen, das Ganze zu vertreten. Mit diesen Spaltungen und Vereinnahmungen macht sich ausserdem eine Vereinseitigung breit. Bestimmte partikuläre Rationalitäten setzen sich durch und verdrängen alle anderen. Der im Grunde aussichtsreiche Weg der Wissenschaft, dem vielfältigen Orientierungsbedarf des Lebens zu entsprechen, führt so hinterrücks zu einer Verarmung wissenschaftlicher Vernunft, wodurch die Wissenschaft ihrer Aufgabe vernünftiger Entscheidungshilfe insgesamt nicht gerecht werden kann. Die beiden genannten typischen Wissenschaftsverständnisse passen in dieses Bild: Entweder ist die Vernunft aus dem Sichtfeld der Wissenschaft verschwunden – die Rationalitäten sind dann bereits so arm, dass ihre Verbindung zur Vernunft nicht einmal mehr sichtbar ist. Oder die Einheit von Rationalität und Vernunft wird als vollkommen selbstverständlich unterstellt – die eigene Wissenschaft steht ja bereits für das vernünftige Ganze. Diese Vorgänge in der Wissenschaft liessen sich vielleicht noch hinnehmen, wenn sie sich im Mangel an wissenschaftlicher Orientierungshilfe für die Lebenspraxis erschöpfen würden. Dies ist u. E. aber nicht der Fall. Wir meinen, dass die einseitige Verarmung der Wissenschaft auch auf die Lebenspraxis selbst übergreift und diese in entsprechendem Masse desorientiert. In der Konsequenz büsst die Lebenspraxis an Gerechtigkeit ein und erleidet einen Orientierungsverlust in der Dimension des Sinn- und Wertvollen. Unsere Beweggründe einer kritischen Rekonstruktion der Wissenschaft liegen letztlich in der Sorge um die Vernünftigkeit der Lebenspraxis selbst. Unsere Argumente setzen sowohl bei der Theorie als auch bei ihren praktischen Konsequenzen an. Der heute vorherrschende Typ wissenschaftlicher Rationalität ist derjenige ausschliesslich objektiver Wahrheitssuche. Als rational gilt, was unabhängig vom Subjekt der Untersuchung, objektiv, d. h. anhand empirischer Daten messbar nachgewiesen werden kann. Aspekte des Subjektiven und Normativen, Wertung und Abwägung werden als unwissenschaftlich abgetan. Sofern normative Hand1
Mehr dazu unter Ziff. III.1.
I. Aufriss
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lungsanleitung neben deskriptiver Erklärung überhaupt noch Platz in der Wissenschaft hat, beschränkt sie sich darauf, anhand vorgegebener Zielgrössen (Präferenzen) und Handlungsrestriktionen (natürliche oder rechtliche und gesellschaftliche Grenzen) die effizienteste Alternative zu berechnen. Die Grundlagen lebenspraktischer Entscheidungen hingegen gelten als wissenschaftlich nicht fassbar. Sie bleiben der Willkür oder dem Zufall persönlichen und politischen Gutdünkens überlassen und mögen sich allenfalls noch philosophisch diskutieren lassen. Unsere Kritik an dieser Rationalität betrifft nicht das Streben nach objektiver Wahrheit als solcher. Wir meinen nur, dass Wissenschaft nicht darauf reduziert werden darf. Objektive Wahrheit ist nur eine Dimension wissenschaftlicher Vernunft. Verständlich wird dies, wenn wir uns klar machen, dass wir als Menschen nicht ausserhalb des Geschehens, vom archimedischen Punkt aus, auf die Welt blicken, sondern immer auch selbst ein Teil von ihr sind. Wir sind nicht nur Beobachter, sondern immer auch zugleich Teilnehmer. Daher argumentieren wir für ein hermeneutisches Welt- und Menschenbild, in dem sich Subjektives, Objektives und Intersubjektives zwar analytisch unterscheiden, nicht aber voneinander trennen lassen. Ebenso wie wir die objektive Welt und die anderen Subjekte begreifen, konstituieren auch diese uns mit. Weil wir uns unserer Teilnehmerrolle nicht entledigen können, stecken wir immer schon in einem hermeneutischen Zirkel voller Vorverständnisse und Vorausentwürfe. Dessen müssen wir uns auch als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewusst sein. Auch als solche können wir uns nicht aus unseren Voraussetzungen herausdrehen, sondern es gilt, sie zu verstehen und zu klären. Dies kann uns schliesslich nur gelingen, wenn wir uns auf die ganze Komplexität der uns mitkonstituierenden Welt einlassen und uns in der Sprache über sie verständigen. Wir müssen miteinander in einen Diskurs eintreten und unsere Vorverständnisse und Vorausentwürfe in der Kommunikation kritisch prüfen. Wir argumentieren daher auch für eine diskurstheoretische Fundierung der Wissenschaft. Unser Konzept von Wissenschaft als methodisch angeleiteter Entscheidungslehre kehrt das herkömmliche Verhältnis von Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften ins Gegenteil um. Während heute meist die naturwissenschaftliche Methodik als Grundmodell von Wissenschaftlichkeit gilt und die sozialwissenschaftlichen Methoden sich bemühen sollen, diesem Standard nachzueifern, verstehen wir die sozialwissenschaftliche Wissenschaftlichkeit als Grundmodell und die naturwissenschaftliche Methodik als Grenzfall.2 Die Naturwissenschaften klammern die Subjektivität und Intersubjektivität allen menschlichen Handelns aus und isolieren den Beobachterstandpunkt weitest möglich von allen anderen Bezügen. Sie glauben, 2 Dabei definieren wir die Sozialwissenschaften nicht von ihrer Methodik, sondern von ihrem Gegenstand her. Wir kritisieren gerade die verbreitete empirische Verkürzung der sozialwissenschaftlichen Methodik und wollen sie der Hermeneutik und dem wissenschaftlichen Diskursverfahren unterstellen. Die Wissenschaft vom Menschen und seiner Gesellschaft soll als methodisch angeleitete Entscheidungslehre begriffen werden.
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Objektivität durch Elimination subjektiver Elemente methodisch annähern zu können. Sie versuchen, die Vernunftdimension Wahrheit aus ihrer Verknüpfung mit den Dimensionen Wert und Gerechtigkeit zu lösen. Sie entäussern sich damit jeglicher Verantwortung für ihr eigenes Handeln und verdrängen den Entscheidungscharakter auch ihres Erkenntnisprozesses aus ihrer Optik. Die so verstandenen Naturwissenschaften sind ein Extremfall des Versuchs entscheidungsentlasteter Erkenntnis. Dieses Idealmodell gilt freilich nur für die sogenannten Grundlagenwissenschaften. Schon bei den „angewandten“ Wissenschaften wird es auch im naturwissenschaftlichen Bereich verlassen. Technik ist nie entscheidungsfrei. Damit wird das herkömmliche naturwissenschaftliche Idealbild von Wissenschaftlichkeit ein fragwürdiges ideologisches Konstrukt, wenn es zum allgemeinen Massstab erhoben wird. Auf der Grundlage dieses hermeneutischen und diskurstheoretischen Wissenschaftsverständnisses verfolgen wir in dieser Studie in erster Linie drei Grundanliegen: (1) die analytische Gliederung der Vernunft im Bereich der Wissenschaft in die drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit, (2) die Öffnung der spezialisierten Rationalitäten für eine diskursiv herzustellende Interrationalität und (3) die Verfassung der interrationalen wissenschaftlichen Diskurse. (1) Drei Dimensionen wissenschaftlicher Vernunft: Die hermeneutische und diskurstheoretische Reflexion unseres Wissenschaftsverständnisses zeigt auf, dass bereits das Streben nach wahren Erkenntnissen über die objektive Welt fehlgeleitet wäre, wenn es buchstäblich als rein beobachtende Wahrheits„suche“ begriffen würde. Schon das Streben nach objektiver Wahrheit muss in einem Diskurs begründet werden, in dem die subjektiven und intersubjektiven Verwicklungen sowohl des Subjekts wie des Objekts der Untersuchung zur Sprache kommen. Dieser Diskurs beginnt bereits bei der Auswahl des Gegenstands sowie bei der Entscheidung über Ansatz und Perspektive. Allgemein wird deutlich, dass subjektive und intersubjektive Weltbezüge wissenschaftlich von nicht geringerer Relevanz sind als objektive. Wer wissen will, darf sich nicht in einer reinen Schau der objektiven Welt verlieren, sondern muss normativ auch ihre objektiven und seine subjektiven und intersubjektiven Gesichtspunkte zu klären suchen. Erst Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität zusammen ergeben eine vernünftige Erkenntnis. Diesen dreifachen Bedarf an Wissen rekonstruieren wir als die drei für die Wissenschaft massgeblichen Dimensionen der Vernunft: die Dimension Wahrheit (wie gestaltet sich die objektive Welt?), Wert (was ist für ein bestimmtes Subjekt ein wertvolles Leben?) und Gerechtigkeit (wie sind die Beziehungen zwischen den Subjekten fairerweise zu gestalten?). Damit Wissenschaft einen Beitrag zu vernünftigen Entscheidungen leisten kann, gilt es u. E., diese drei Dimensionen zusammen zu denken und zu integrieren. Dabei versteht sich, dass die normativen Dimensionen Wert und Gerechtigkeit nicht im Sinne der heute dominanten (aber partikulären) Rationalität objektiv „beobachtet“ werden können. Vielmehr müssen sie, ihren spezifischen Vernunftdimensionen entsprechend, subjektiv (Wert) bzw. intersubjektiv (Gerechtigkeit) teilnehmend bestimmt werden. Sofern dies im Rahmen eines ange-
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messen verfassten Diskurses erfolgt, bedeutet dies keinen Verlust an Wissenschaftlichkeit. Im Gegenteil eröffnet sich erst so eine realistische Chance auf eine vernünftige Wissenschaft. Bei der Frage, wie die drei Vernunftdimensionen zu integrieren seien, vertreten wir die These einer Symmetrie der Vernunftdimensionen, sowohl in ihrem analytischen Verhältnis wie in ihrem Geltungsrang. Der hermeneutischen Verquickung von objektiver, subjektiver und intersubjektiver Welt entsprechend, verhalten sich Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit unauflöslich interdependent zueinander und es sind keine guten Gründe ersichtlich, irgendwelche Hierarchien zwischen ihnen zu errichten. Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit können zwar perspektivisch hervorgehoben und thematisch priorisiert, nicht aber in eine hierarchische Rangordnung gebracht werden. Mit unserem Postulat einer Wissenschaft im Dienst der Vernunft reden wir also weder einer unrealistischen noch einer nutzlosen Wissenschaft das Wort. Die normativen Dimensionen sollen Wahrheit und Wirklichkeit nicht vernachlässigen. Vernünftigerweise soll sich alle Wissenschaft aber auch an ihrem Wert- und Gerechtigkeitsgehalt messen lassen. Unser Rekurs auf die drei genannten Vernunftdimensionen gründet auf einer kritischen Analyse verschiedenster Wissenschaftspraxen. Wir behaupten, dass jede wissenschaftliche Tätigkeit jederzeit konkret alle drei Vernunftdimensionen berührt. Um dies nachzuweisen, wollen wir zeigen, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Tätigkeit explizit oder implizit immer drei Geltungsansprüche erheben. Gültigkeit wird stets sowohl für Wahrheits-, wie für Wert- und Gerechtigkeitsaussagen beansprucht. Dieser zwangsläufige dreifache Anspruch lässt erkennen, welche erheblichen normativen Implikationen sogar anscheinend „wertfreie“ Rationalitäten – meist stillschweigend – in sich tragen. Ungenügend reflektiert, fehlen ihnen zwei der drei Dimensionen der Vernunft. Sie wirken dann allzu oft wertlos und ungerecht. (2) Interrationalität: Unserem Ziel einer vernunftgerechten Wissenschaft möchten wir mit dem Konzept eines interrationalen wissenschaftlichen Diskurses näher kommen. Die Idee der Interrationalität knüpft an unsere Kritik dominanter Rationalitäten an, welche wissenschaftliche Vernunft einseitig auf ihre partielle Sichtweise reduzieren. Unserem hermeneutischen und diskurstheoretischen Welt- und Wissenschaftsverständnis gemäss glauben wir nicht, dass Vernunft auf solch reduktionistischem Wege erreicht werden kann. Aus dem gleichen Verständnis heraus meinen wir freilich auch nicht, dass wir selbst wüssten, was angesichts der Vielzahl der Rationalitäten vernünftig wäre. Was übrig bleibt, ist lediglich, die angebotenen Rationalitäten einem Diskurs zuzuführen, in dem sie in eine faire Beziehung zueinander gebracht und gemeinsam in Arbeit genommen werden. Dieser Austausch soll die solipsistische Selbstgenügsamkeit so mancher Rationalität aufbrechen. Das ideale Ziel dieser gegenseitigen Öffnung der verschiedenen Rationalitäten nennen wir Interrationalität. Durch den interrationalen Diskurs sollen die blinden Flecken der partikulären Rationalitäten erkannt, die gemeinsame Ausrichtung auf das Ziel eines
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vernünftigen Ganzen bestimmt und auf dieser Grundlage möglichst vernünftige, wenigstens vertretbare Entscheidungen angeleitet werden. Unsere Kernthese lautet hier: Um dem Ziel der Vernunft möglichst nahe zu kommen, genügt es nicht, dass Wissenschaft rational ist. Sie muss Interrationalität anstreben. (3) Verfassung der interrationalen wissenschaftlichen Diskurse: Interrationalität ist freilich ein anspruchsvolles Ziel. Sie entsteht nicht durch jeden Austausch zwischen den Rationalitäten. Jeder wissenschaftliche Diskurs muss interrational sein und ist zu diesem Zweck in geeigneter Weise zu regulieren. Wir nennen diese Regulierung die Verfassung der interrationalen wissenschaftlichen Diskurse. Mit der Idee, wissenschaftliche Diskurse seien zu verfassen, reklamieren wir keine Neuerfindung. Die wissenschaftlichen Diskurse finden sich bereits heute in einer bestimmten Weise reguliert, d. h. „verfasst“. Wir finden solche – geschriebenen und ungeschriebenen – Regulierungen nicht nur in den Universitäten und wissenschaftlichen Organisationen, sondern auch im Expertenwesen von Wirtschaft und Staat. In Anbetracht der erläuterten Mängel des Wissenschaftsbetriebs sehen wir jedoch erheblichen Korrekturbedarf. Von Verfassung sprechen wir dabei, um den normativen und grundlegenden Charakter dieser Ordnung der verschiedenen wissenschaftlichen Diskurse hervorzuheben. Je nach der Machtstruktur innerhalb und ausserhalb eines konkreten wissenschaftlichen Prozesses müssen unterschiedliche Korrekturen vorgenommen werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die in interrationaler Absicht durchgeführten Diskurse zur blossen Selbstdarstellung der Einzelrationalitäten verkommen oder erneut zu einer einseitigen Dominanz einer bestimmten Sichtweise führen. Neben der persönlichen Integrität der an den Diskursen Partizipierenden ist die Verfassung der wissenschaftlichen Diskurse die entscheidende Voraussetzung gelungener Interrationalität. Interrationalität ist für alle Beteiligten anspruchsvoll und aufwändig. Sie erscheint als Zumutung, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Effizienz. Es wird daher nicht einfach sein, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dafür zu gewinnen. Wir meinen aber zeigen zu können, dass der interrationale Diskurs für die Beteiligten eine wissenschaftliche Pflicht darstellt und zugleich für jeden Einzelnen wie für die Wissenschaft als ganze wertvoll ist. Die von uns vorgeschlagene Verfassung der konkreten Diskurse soll überdies Fairness gewährleisten, so dass die neue Anforderung auch zumutbar wird. Um von Anfang an nicht missverstanden zu werden, wollen wir klarstellen, dass unser Projekt nicht auf eine Überhöhung der Wissenschaft abzielt, welche die Vernunft der Wissenschaft einverleiben würde. Vielmehr wollen wir umgekehrt die Wissenschaft dem Ziel der Vernunft unterstellen. Vernünftig entscheiden lässt sich auch ausserhalb der Wissenschaft. Vernunft besteht also nicht nur in wissenschaftlicher Vernunft. Und selbst über das Vernünftige hinaus mag es noch eine lebenspraktische Weisheit geben, auf die wir vorliegend nicht eingehen. Zudem soll die Wissenschaft nicht anstelle der Lebenspraxis entscheiden. Es geht uns nicht darum, dass die Wissenschaft der Lebenspraxis und allen nichtwissenschaftlichen Entscheidungsträgern fortan die Entscheidungen abnehmen soll. Unser Anliegen geht „nur“
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da hin, den wissenschaftlichen Beitrag zu lebenspraktischen Entscheidungen angemessen zu verfassen. Unsere Vorschläge reichen hinsichtlich der Lebenspraxis nur so weit, wie diese auf Wissenschaft zurückgreift. Die Wissenschaft hingegen wollen wir als ganze „zur Vernunft bringen“, wobei wir uns in der vorliegenden Studie auf die Sozialwissenschaften konzentrieren. Anmerken und offenlegen wollen wir noch, dass unsere Erkenntnisse und Vorschläge zu wichtigen Teilen aus der Rechtswissenschaft gewonnen sind. Wir meinen, dass bestimmte Erkenntnisse, welche in der Rechtswissenschaft gültig sind, auf die weiter gehende Problemstellung dieser Studie übertragen werden und allgemeine Geltung erlangen dürfen, wenn sie auf angemessene Weise transferiert werden. Der Gefahr eines „juristischen Imperialismus“ sind wir uns dabei durchaus bewusst. Wir wollen ihn vermeiden, indem wir uns bemühen, sorgfältig das Allgemeine vom Besonderen zu unterscheiden und durchwegs gute Gründe für unsere Vorschläge anzubringen. Getreu unseren hermeneutischen und diskurstheoretischen Grundlagen wollen wir diese Studie denn auch genau so verstanden wissen: als einen Vorschlag, einen Beitrag zu einem interrationalen Diskurs über die Vernünftigkeit heutiger Wissenschaft.
2. Systematik des Modells Der wissenschaftliche Entscheidungsprozess verläuft zwar immer hermeneutisch als Kreislauf oder Spirale und verbindet alle Elemente, die ihn konstituieren, in wechselnder Reihenfolge. Analytisch lässt sich trotzdem eine Struktur errichten, welche die Elemente der vernünftigen Entscheidung systematisch ordnet: Oberste regulative Idee am Horizont der Wissenschaft ist die Vernunft. Sie bleibt unerreichbar, wirkt aber richtungsweisend. Das Ideal der Vernunft lässt sich in drei Dimensionen ausfächern, welche Kriterien wissenschaftlicher Richtigkeit bilden: Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. Jede Wissenschaftlerin, jeder Wissenschaftler, aber auch jede Schule oder Disziplin strebt nach einem für sie massgeblichen idealen Ziel, das wir Rationalität nennen. Zahlreiche divergierende wissenschaftliche Rationalitäten konkurrieren miteinander und streiten sich über ihre Geltungsansprüche. Die drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit gestatten, die divergierenden wissenschaftlichen Rationalitäten kritisch zu beurteilen. Die integrierende wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber ist in einem interrationalen Diskurs zu führen, der die Rationalitäten gleichberechtigt aufnimmt, sie aber dem Anspruch auf Vernünftigkeit aussetzt. Die Chance der Verständigung besteht nur, wenn zuerst die allseitige Verständlichkeit der verschiedenen Fragen angestrebt wird und danach über die Richtigkeit der Antworten gestritten wird.
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Die Verfassung jedes konkreten interrationalen Diskurses muss in ihren formellen und methodischen Teilen dafür sorgen, dass faire Strukturen und Abläufe institutionalisiert und vernünftige Methoden anerkannt werden; in ihrem materiellen Teil hat sie anerkannte und anerkennungswürdige Grundsätze der Argumentation vorzugeben, für welche die Vermutung der Gültigkeit besteht, so dass sie nur aus triftigen Gründen infrage gestellt werden dürfen.
1. Vernunft Wahrheit
Wert
Gerechtigkeit
2. Rationalitäten R2
R1
R3
R5
R4
3. Interrationaler Diskurs Frage
Frage
Antwort – Antwort
Antwort – Antwort
Verfassung formell
methodisch
materiell
Abbildung 1: Systematik
3. Gedankengang Wir begreifen Wissenschaft als methodische Entscheidungshilfe für die Lebenspraxis. Aus diesem Verständnis heraus soll ein Konzept interrationaler wissenschaftlicher Richtigkeit entwickelt werden (I. Aufriss: Das Verlangen der Lebenspraxis nach Entscheidungshilfe – wider die Unvernunft der Wissenschaft). Die vorliegende Studie geht dabei von der Arbeitshypothese aus, dass der herkömmliche Wissenschaftsbetrieb nicht genügt, um die normative Anforderung nach vernünftiger Entscheidungshilfe einzulösen. Im ersten Teil der Studie wird daher diese Hypothese analysiert (Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft). In allen Disziplinen und Schulen der Sozialwissenschaften wird zwar der Anspruch auf rationale Richtigkeit der Aussagen erhoben. Dabei handelt es sich aber stets um eine partikuläre Rationalität, die sich durch eine bestimmte Logik und durch typische Geltungsansprüche auszeichnet. Integrative Ansätze werden nur am Rande gepflegt. Belege für diese Annahme liefert der heutige Zustand der Sozialwissenschaften. Oft erweist sich die Logik einer Disziplin oder Schule als ungeeignet, den Geltungsanspruch zu erfüllen, der mit ihr erhoben wird. Dies zeigt eine
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exemplarische Umschau bei ausgewählten sozialwissenschaftlichen Disziplinen: Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft. Den Ausgangspunkt bildet dabei die herkömmliche Entscheidungstheorie, weil diese einen umfassenden Anspruch auf Anleitung zu rationaler Entscheidung erhebt und damit für die Fragestellung dieser Studie von besonderer Bedeutung ist (II. Umschau: Logiken und Geltungsansprüche in ausgewählten Sozialwissenschaften). Eine kritische Würdigung des Wissenschaftsbetriebs führt sodann zum Schluss, dass die heutige, in spezialisierte Disziplinen und Schulen gespaltene Sozialwissenschaft in ihrem Anspruch auf wissenschaftliche Richtigkeit versagt, wenn sie an ihrer Ausrichtung auf das Ideal der Vernunft gemessen wird. Insbesondere verfehlt die Wissenschaft ihre Aufgabe, Orientierungshilfe zu möglichst vernünftigen Entscheidungen zu bieten. Sie vermag die von ihr erwartete Lebens- und Entscheidungshilfe nicht zu leisten, weil sie zwecks Reduktion von Komplexität zu monokausalen Erklärungen und monistischen Begründungen neigt. Dadurch gelangt sie zu einseitigen Antworten. Dies will der hier vertretene Korrekturansatz der Pluralistischen Grundsätzlichkeit vermeiden. Diese anerkennt einerseits den Pluralismus der normativen Massstäbe, fordert aber trotzdem die Ausrichtung aller wissenschaftlichen Entscheidungen auf generalisierungsfähige Grundsätze. Als Methodik der Interrationalität anerkennt sie zunächst die Rationalitäten der einzelnen Disziplinen und Schulen als gleichberechtigt, verlangt von ihnen jedoch, sich über möglichst allgemeingültige Gründe zu rechtfertigen. Das Postulat der Pluralistischen Grundsätzlichkeit integriert somit Vielfalt und Einheit (III. Kritik und Korrekturansatz). Im zweiten Teil entwirft die Studie als Lösung des Problems ein Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses (Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses). Wissenschaft wird als methodisch angeleitetes Entscheidungsverfahren begriffen. Sie antwortet auf die menschliche Notwendigkeit zur Entscheidung über unser Handeln mit einer Methode, welche Richtigkeit im Sinne möglichster Annäherung an Vernünftigkeit gewährleisten soll (IV. Der Gedankengang einer vernunftorientierten wissenschaftlichen Entscheidungslehre). Als freie Menschen in einer aufgeklärten Zeit erleben wir unsere Entscheidungen sowohl als Notwendigkeit als auch als normative Forderung: Einerseits müssen wir fortwährend Entscheidungen treffen, anderseits sollen diese Entscheidungen möglichst vernünftig sein. Zur Annäherung an die Vernunft dient uns im wissenschaftlichen Kontext die Leitidee der Richtigkeit: Entscheide, insbesondere wissenschaftliche Entscheide, sollen richtig sein. Wissenschaft versucht, die Aufgabe der vernünftigen Entscheidung mittels wissenschaftlicher Richtigkeit zu lösen. Diese Aufgabe ist zu differenzieren: Vernunft wird im wissenschaftlichen Kontext in der Form der Richtigkeit angestrebt. Dieser Richtigkeitsanspruch kann in pragmatische Massstäbe konkretisiert werden, die von Disziplin zu Disziplin und von Schule zu Schule variieren dürfen (V. Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft).
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Diese Klärung setzt freilich eine Prozeduralisierung des Richtigkeitsbegriffs voraus. Richtigkeit bezieht sich nicht mehr primär auf das Ergebnis, sondern auf den Prozess, in welchem eine wissenschaftliche Entscheidung getroffen wird. Der so verwendete Richtigkeitsbegriff bleibt trotzdem umfassender als in einem Sprachgebrauch, der das Richtige allein auf Gerechtigkeitsfragen bezieht: Mit Richtigkeit bezeichnen wir den normativen Geltungsanspruch von Wissenschaft in allen drei Dimensionen der Vernunft.
Wissenschaftliche Vernunft fordert die gegenseitige Integration spezifischer Rationalitäten mit dem Ziel der Interrationalität. Der rationale Diskurs ist immer partikulär. Er muss in einen Prozess der Integration mit anderen Rationalitäten eingebracht werden, um die Chance der Vernünftigkeit zu erlangen. Erst die Interrationalität erfüllt den Geltungsanspruch, den Wissenschaft erhebt. Ein Analyseschema hilft dabei, den Übergang von Rationalität zu Interrationalität zu bewältigen. Es geht darum, nicht mehr wie üblich beim Vergleich der Antworten verschiedener Rationalitäten anzusetzen, sondern bei den unterschiedlichen Fragen, welche zu Beginn jeder Forschung gestellt werden, also das Verhältnis von Fragen zu Fragen zu klären: Das „Frage – Frage“-Verhältnis ist zu erläutern, bevor über das „Antwort – Antwort“-Verhältnis argumentiert wird (VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft). Eine wissenschaftliche Entscheidungslehre, die Wissenschaft auf Vernunft ausrichten will, muss die drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit verknüpfen. Sie muss zeigen, dass und wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihren Fragen und Antworten Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit erheben. Im Konzept der Geltungsansprüche wissenschaftlichen Entscheidens bestimmen die drei Dimensionen der Vernunft die grundlegende Ausrichtung der wissenschaftlichen Fragestellungen und dienen daher als strukturierende Kategorien der Analyse. Dabei sind alle drei Vernunftdimensionen interdependent. Es gibt keine Wahrheitsbehauptung ohne Wert- und Gerechtigkeitsbedeutung. Entsprechendes gilt für Wert- oder Gerechtigkeitsbehauptungen (VII. Die drei Vernunftdimensionen: Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit). Das Idealmodell des Entscheidungsprozesses gestaltet einen integrativen Entscheidungsprozess in vier Schritten: Zuerst braucht es die Klärung der Vorverständnisse und Leitfragen zum Thema, anschliessend die Beurteilung des zu lösenden Problems in den drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit, sodann die Entwicklung einer Entscheidungsnorm, welche ebenfalls alle drei Vernunftdimensionen einschliesst, und schliesslich die Ausgleichung der dabei oft auftretenden Konflikte zwischen Zielnormen und Gerechtigkeitsnormen, sei es durch fairen Konsens oder durch fairen Kompromiss zwischen den konfligierenden Normen (VIII. Integrativer Entscheidungsprozess). Notwendiges Element des hier vorgelegten Modells ist die Weiterentwicklung der Diskurstheorie zu einer Theorie wissenschaftlicher Entscheidungen. Ein Richtigkeitsdiskurs soll einen integrativen Prozess der Entscheidung ermöglichen. Für
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diesen Richtigkeitsdiskurs gelten die Grundsätze der Diskurstheorie als Leitbild. Der Richtigkeitsdiskurs dient allerdings nicht nur zur Legitimation getroffener Entscheidungen. Er hat konstitutive Bedeutung: Er stellt Entscheidungen her, welche die Vermutung der Vernünftigkeit verdienen (IX. Diskurstheorie wissenschaftlicher Entscheidungen). Die bis dahin vorgetragenen Überlegungen bewegen sich auf einem theoretischen Niveau hoher Idealität. Wir möchten jedoch eine Entscheidungstheorie anbieten, die auch unter realen Bedingungen praktisch Fuss fassen kann. Daher müssen wir auch dartun, wie das in der Hand von fehlbaren Menschen Realität werden kann. Im letzten Kapitel wird deshalb gezeigt, wie eine vernünftige Entscheidung im zuvor geforderten Sinn unter realen Bedingungen angestrebt werden kann. Jeder konkrete Richtigkeitsdiskurs bedarf einer formellen, einer methodischen wie einer materiellen Verfassung: Formell und methodisch sind die organisatorischen und methodischen Vorgaben des Diskurses zu bestimmen, materiell geht es um ein inhaltliches Argumentarium guter Gründe im Diskurs. Die Verfassung eines konkreten wissenschaftlichen Diskurses muss daher folgende Elemente umfassen (X. Eine interrationale Verfassung des wissenschaftlichen Diskurses): einen äusseren Rahmen, der die formelle Verfassung mit den Strukturen und Prozessen des Diskurses bildet; eine methodische Verfassung der Denkstrukturen und Argumentationsabläufe im Diskurs; eine materielle Verfassung, welche bewährte und zustimmungswürdige inhaltliche Grundsätze für die zu treffende Entscheidung abgibt.
Am Schluss der Studie wird der Gedankengang in ein Ergebnis überführt (XI. Fazit) und abgerundet (XII. Schlusswort).
Erster Teil
Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft Bevor das Konzept interrationaler Richtigkeit vorgestellt werden kann, sollen die Rationalitäten, die in verschiedenen Disziplinen und Schulen gepflegt werden, dargelegt werden. Genügen die modernen Sozialwissenschaften dem Anspruch auf vernünftige Handlungsorientierung? Eine Umschau in ausgewählten sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Kap. II) geht der Frage nach, ob die fortschreitende Spezialisierung die erforderliche Integration der drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit zu leisten vermag. Die Kritik des vorgefundenen Zustands der Sozialwissenschaften ruft nach einer Korrektur. Als Ansatz dafür wird hier das methodische Prinzip der Pluralistischen Grundsätzlichkeit vorgeschlagen (Kap. III).
II. Umschau: Logiken und Geltungsansprüche in ausgewählten Sozialwissenschaften Die Disziplinen und Schulen der Sozialwissenschaften erheben den Anspruch auf rationale Richtigkeit ihrer Aussagen, verfolgen dabei aber nur eine partikuläre Rationalität, die sich durch eine bestimmte Logik und durch typische Geltungsansprüche auszeichnet. Integrative Ansätze werden in unterschiedlichem Ausmass und mit divergierendem Verständnis gepflegt.
Arbeitshypothese der vorliegenden Studie ist das Ungenügen des herkömmlichen Wissenschaftsbetriebs. Belege für diese Annahme müssen im heutigen Zustand der Sozialwissenschaften gefunden werden. Sie sind in erster Linie dort zu suchen, wo die Logik einer Disziplin oder Schule sich als ungeeignet erweist, den Geltungsanspruch zu erfüllen, der mit ihr erhoben wird. Bedeutsam sind aber auch Hinweise auf integrative Ansätze, welche im Bewusstsein dieses Mangels nach einer Lösung suchen. Deshalb gliedert sich im Folgenden die Darstellung je Disziplin in drei Unterabschnitte: a) Logik, b) Geltungsansprüche und c) Integrative Ansätze. Aus forschungspraktischen Gründen sind jene Disziplinen ausgewählt worden, welche an der Universität St. Gallen prominent vertreten sind: Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft. Vorangestellt wird ein Kapitel über die herkömmliche Entscheidungslehre, weil diese einen umfassenden Anspruch auf Anleitung zu rationaler Entscheidung erhebt und damit für die Fragestellung dieser Studie von besonderer Bedeutung ist.3
II. Umschau in ausgewählten Sozialwissenschaften
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1. Entscheidungstheorie a) Logik Die Notwendigkeit, Entscheidungen wissenschaftlich zu begründen, hat v. a. im Umfeld der Betriebswirtschaftslehre zu einer systematischen Beurteilung der Frage nach der richtigen Entscheidung geführt.4 Entscheidungstheorie hält sich prinzipiell für „alle Wahlakte“5 zuständig und erfasst sowohl Individual- als auch Kollektiventscheidungen. Dabei wird zwischen einer deskriptiven und einer präskriptiven oder normativen Theorievariante unterschieden,6 wonach der ersten an der empirischen Beschreibung und Erklärung, allenfalls auch an der Prognose faktischer Entscheidungsprozesse gelegen ist, die zweite dagegen Empfehlungen abgibt, wie Entscheidungen rational zu treffen sind. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert besonders die präskriptive oder normative Entscheidungstheorie. Sie geht zunächst von einem unspezifisch charakterisierten Problemzustand aus, mit dem die entscheidende Person unzufrieden ist und den sie für verbesserungswürdig hält.7 Ausgehend von dieser „Soll-Ist-Diskrepanz“8 wird sodann die Frage gestellt, welche mögliche Handlungsalternative rationaler Weise zu wählen ist. Unter Rationalität wird dabei durchwegs eine an den Zielen der entscheidenden Person gemessene Zweckrationalität verstanden: „Die Entscheidungstheorie will einem Entscheider nicht dogmatisch vorschreiben, was er tun soll, sondern will ihm helfen, seine eigenen Zielvorstellungen in ein widerspruchsfreies ‚Zielsystem‘ zu überführen und dann eine Entscheidung zu treffen, die mit diesem Zielsystem im Einklang steht. Die Entscheidungstheorie nimmt – im Gegensatz zur Ethik – keine Wertung der Zielvorstellungen des Entscheiders vor; sie nimmt sie als gegeben an, ohne sie beeinflussen zu wollen.“9 Entscheidungsziel ist
3 Diesem Kapitel liegt eine Lehrveranstaltung an der Universität St. Gallen (HSG) zugrunde. Dabei wurde eher auf Didaktik und damit auf Typenbildung als auf Vollständigkeit und Differenzierung Wert gelegt. Die Aufmerksamkeit galt entsprechend auch den an der HSG in erster Linie vertretenen Disziplinen. Diese Auswahl ist daher eher pragmatisch als wissenschaftlich begründet, sollte aber genügen, um das zu lösende Problem zu illustrieren. 4 Sie hat sich von dort aus inzwischen recht weit verbreitet. Vgl. z. B. den Ansatz Scheules im Rahmen einer katholischen Glaubenslehre: Scheule, Gut entscheiden (2009). 5 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 1 f. / 14 – 18. Vgl. auch Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 3. 6 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 1; Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden 3 ( 1999), S. 2; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 2 f.; Bamberg / Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre (122004), S. 2 f.; Mag, Grundzüge der Entscheidungstheorie (1990). 7 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 9. 8 Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungstheorie (41995), S. 37. 9 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 3; vgl. auch ebd., S. 9 f. / 15 / 59 – 61; Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungstheorie (41995), S. 34 – 36. Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 10: „Salopp gesagt: Jeder Entscheider kann erwarten und
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
somit „die im Hinblick auf die angestrebten Ziele beste (oder wenigstens ‚gute‘) Alternative“.10 Damit handelt es sich beim entscheidungstheoretischen Entscheidungsverfahren um ein Wenn-Dann-Konzept. Erst wenn die Ziele geklärt sind, gibt die Entscheidungstheorie ein Verfahren an, das rationale Entscheidungen hervorbringen soll. „Ohne Klarheit über die Ziele ist keine rationale Entscheidung möglich.“11 Zentral für das entscheidungstheoretische Verfahren sind bestimmte Entscheidungsmodelle, mit deren Hilfe Problemsituationen schematisiert und Lösungen logisch-deduktiv berechnet werden12. „Mit solchen allgemeinen Entscheidungsmodellen besteht die Möglichkeit, reale Entscheidungsprobleme des jeweiligen Typs so zu beschreiben bzw. zu strukturieren, dass sie anschließend mit Hilfe der Logik bzw. bestimmter Rechentechniken ,gelöst‘ werden können.“13 Unter diesen Rechentechniken sind insbesondere Operations Research14 und die Spieltheorie15 zu nennen. Im Grundmodell rationaler Entscheidung16 steht die Zielfunktion17 dem sog. Entscheidungsfeld gegenüber, das sich aus der Menge der Handlungsalternativen, den verschiedenen möglichen Umweltzuständen, und den Ergebnissen, d. h. den auf die definierten Zielgrössen wertmässig bezogenen Konsequenzen der Handlungsalternativen, zusammensetzt. In der sog. Ergebnismatrix werden die einzelnen Handlungsalternativen zu den verschiedenen möglichen Umweltzuständen in Beziehung wollen, was er will.“ Immerhin werden Rechtsvorschriften z. T. als Restriktionen anerkannt: Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 10: „Es ist auch nicht sinnvoll, Alternativen gegeneinander abzuwägen, die nicht realisiert werden sollen, da z. B. mit ihrer Realisierung Rechtsvorschriften verletzt würden.“ 10 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 11. Hinter dieser Zurückhaltung in der Zielqualifizierung steht im Allgemeinen eine Skepsis gegenüber einem objektiven Richtigkeitsverständnis: Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 1: „Es gibt keine objektiv richtigen Entscheidungen. Vielmehr beruhen Entscheidungen notwendig auf subjektiven Erwartungen, die nur in Grenzen überprüfbar sind, sowie auf ebenfalls subjektiven Zielen und Präferenzen des Entscheiders.“ Vgl. auch Blasche, Richtig entscheiden (2006), S. 30. 11 Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 53. 12 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 14 / 15 – 18 u. ö.; Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungstheorie (41995), S. 33 u. ö. 13 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 17. 14 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 18. 15 Dazu Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungstheorie (41995), S. 45 – 47; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 165 – 180. Ins Leben gerufen wurde die Spieltheorie mit dem von John von Neumann und Oskar Morgenstern erstmals 1944 publizierten Werk von Neumann / Morgenstern, Theory of Games and Economic Behavior (2001). 16 Zum Folgenden Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 19 – 61; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 17 – 20; Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 15 – 46; Bamberg / Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre (122004), S. 13 – 42. 17 Dem instrumentell-rationalen Ansatz entsprechend werden an die Zielfunktion bzw. das Zielsystem nur formale Anforderungen wie z. B. Widerspruchsfreiheit gestellt: Bamberg / Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre (122004), S. 3; Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 60 – 62.
II. Umschau in ausgewählten Sozialwissenschaften
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gesetzt und für jede dieser Kombinationen ein Ergebniswert bestimmt. Für die Wahl der besten Handlungsalternative werden die verschiedenen möglichen Ergebnisse dann anhand der als Entscheidungsregel begriffenen Zielfunktion der entscheidenden Person bewertet. Die dafür notwendige vorgängige Bewertung der verschiedenen Ergebnisse erfolgt dabei anhand der Nutzenfunktion der entscheidenden Person.18 Dieses Grundmodell wird dann in aller Regel in Bezug auf Entscheidungssituationen unter Sicherheit, Unsicherheit oder Risiko differenziert und ausgebaut. Zudem wird es hinsichtlich der Zielkomplexität erweitert. Die Zielgebundenheit des entscheidungstheoretischen Ansatzes hat nämlich zur Folge, dass die Deduktion der Entscheidung nicht möglich ist, wenn die Zielfunktion bzw. das Zielsystem nicht eindeutig feststeht. Bei mehreren Zielen gilt es deshalb mithilfe des Ordnungs- und des Transitivitätsaxioms19 eine Zielhierarchie herzustellen, in der auch allfällige Zielkonflikte bereinigt werden sollen. Zudem wird auf „Ersatzkriterien“ wie die „Zielunterdrückung“20, eine „lexikographische Ordnung“ oder eine „Zielgewichtung“ zurückgegriffen21. Dabei wird stets betont, dass bei der Bestimmung des Zielsystems letztlich immer auf die individuelle Bewertung der entscheidenden Person abgestellt werden muss.22 Das entscheidungstheoretische Verfahren wird auch auf Gruppenentscheidungen ausgedehnt, wobei die Rationalität kollektiver Entscheidungen interessanterweise meist als Gerechtigkeits- oder Fairnessproblem wahrgenommen wird23. Ein prinzipieller Unterschied in der Vorgehensweise wird jedoch nicht gefordert: „Sind die Komponenten des Entscheidungsproblems erst einmal bestimmt, lässt sich völlig analog zum Fall einer Individualentscheidung eine Lösung finden.“24 In der Sicht der Entscheidungstheorie besteht die Schwierigkeit des kollektiven Entscheidungs18 Im Prinzip wird die Zielfunktion als Nutzenfunktion gedeutet: Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 89: „Die Bestimmung einer besten Alternative ist dann gleichbedeutend mit der Maximierung des Nutzens des Ergebnisses.“ Vgl. auch Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 10 f. 19 Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 62 – 66; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 26 f.; Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 31 – 34. 20 Laux, Entscheidungstheorie (62005), in der genannten Reihenfolge S. 95 / 96 f. / 101 – 104. Vgl. auch Bamberg / Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre (122004), S. 55 – 67. 21 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 95 – 104. Bamberg und Coenenberg weisen darauf hin, dass die multikriterielle individuelle Entscheidung im Grunde den selben Problemen ausgesetzt ist wie die Aggregation von Zielfunktionen zu einer Sozialwahlfunktion: Bamberg / Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre (122004), S. 55. Zur Bezugnahme der Entscheidungstheorie auf Gruppenentscheidungen und zu den entsprechenden Problemen sogleich. 22 Z. B. Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 29 – 31. 23 Z. B. Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 439 – 466; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 145. 24 Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 310.
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prozesses in der „Generierung eines gemeinsamen Zielsystems“25 bzw. in der „Erzeugen von Gruppenwertfunktionen“26.27 Die Grundlogik des kollektiven Entscheidungsprozesses entspricht damit im Grunde jener der normativen Wohlfahrtsökonomie: „Das gemeinsame Zielsystem entsteht einfach dadurch, dass alle individuellen Ziele vereinigt werden.“28 Dementsprechend gehen auch die Lösungsansätze prinzipiell in dieselbe Richtung wie in der Wohlfahrtsökonomie, insbesondere werden auch verschiedene differenzierte Lesarten des Pareto-Kriteriums herangezogen29. Allerdings handelt sich die Entscheidungstheorie damit auch dieselben Probleme ein wie die Wohlfahrtsökonomie. So stossen etwa sämtliche Entscheidungstheorien am Arrowschen Unmöglichkeitstheorem an,30 das besagt, dass es keinen überzeugenden nicht-diktatorischen Aggregationsmechanismus für individuelle Nutzenfunktionen gibt. Aus diesem Unmöglichkeitstheorem werden dann verschiedene Auswege gesucht, z. B. durch Modifizierung der Arrow-Bedingungen. Der vom individuellen Entscheidungsprozess übernommene Verfahrensansatz wird aber beibehalten. Insgesamt fällt die entscheidungstheoretische Einschätzung der Möglichkeit kollektiver Rationalität eher skeptisch aus. Typisch ist die Auffassung von Helmut Laux: „Aufgrund der Schwächen der traditionellen Vorgehensweisen ist es naheliegend, nach einer anderen, ‚vernünftigen‘ Regel zu suchen, mit deren Hilfe eine der Alternativen gewählt werden kann. Indes ist diese Zielsetzung kaum zu erreichen, wenn an die Regel einigermaßen anspruchsvolle Forderungen gestellt werden.“31 Deshalb wird angeraten, das Gerechtigkeitsproblem nicht allzu ernst zu nehmen: „Wenn Individuen miteinander kooperieren wollen […], ist es wenig sinnvoll, zukünftige Interessenkonflikte in der Weise zu ‚lösen‘, dass man sich darauf einigt, jeweils einen ‚fairen‘ Kompromiss herbeizuführen. Je nach Interessenlage werden die Beteiligten unterschiedliche Vorstellungen darüber vertreten, was unter ‚fair‘ bzw. ‚gerecht‘ zu verstehen sei. Es besteht die Gefahr, dass viel Zeit mit der Diskussion über ‚faire‘ Entscheidungen verbracht wird und wenig Zeit verbleibt, getroffene Entscheidungen in die Wirklichkeit umzusetzen.“32
Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 317 f. 26 Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 318 – 321. 27 Vgl. auch Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 441; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 145. 28 Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 317. 29 Z. B. Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 443 – 449. 30 Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 341 – 343; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 147 – 150; Bamberg / Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre (122004), S. 256 – 259. 31 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 461, m. w. H. 32 Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 464. 25
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b) Geltungsansprüche Die Entscheidungstheorie scheint auf den ersten Blick einen sehr zurückhaltenden Richtigkeitsanspruch zu erheben. Ihr Begriff von Rationalität oder Richtigkeit soll immer relativ zu den Zielen der entscheidenden Person oder Personen bleiben. Es fragt sich aber, wohin diese Zweckrationalität führen soll. In Bezug auf die Individualentscheidungen, die die Entscheidungstheorie vorrangig behandelt, geht der Anspruch da hin, dass die rational gewählte Alternative den Nutzen der entscheidenden Person maximiert. Insofern erhebt die Entscheidungstheorie in dieser Hinsicht einen individuell-teleologischen Geltungsanspruch, der letztlich auf das Wohlbefinden oder das Glück der entscheidenden Einzelperson zielt: Wer die entscheidungstheoretisch beste Handlungsalternative wählt, soll glücklich werden. Was Glück heisst, wird dabei nicht hinterfragt. Ungeklärt bleibt der Richtigkeitsanspruch der Zweckrationalität, welche die Entscheidungstheorie befolgt. Insbesondere ist zweifelhaft, ob die entscheidungstheoretisch als richtig ausgezeichneten Entscheidungen, zumal explizit als rational ausgezeichnet, für andere Rationalitäten überhaupt noch Raum lassen. Wäre das nicht der Fall, dann würde sich der entscheidungstheoretische Richtigkeitsbegriff auch auf das Gerechtigkeitsproblem erstrecken. Gerechtigkeit wird dann auf die zweckmässige Verwirklichung von Nutzen oder Glück reduziert. Von Seiten der Entscheidungstheorie zugegeben wird das offenbar im Bereich von Kollektiventscheidungen. Dort wird ausdrücklich danach gefragt, welches Entscheidungsverfahren zu gerechten oder fairen Ergebnissen führt. Wie in der normativen Wohlfahrtsökonomie geht dieser Ansatz davon aus, dass kollektive Richtigkeit im Prinzip über die Aggregation individueller Nutzenfunktionen zu erreichen ist. Er neigt angesichts des von Arrow aufgebrachten Unmöglichkeitstheorems allerdings zu einer skeptischen Einstellung gegenüber kollektiver Rationalität überhaupt. Allerdings erhebt die Entscheidungstheorie auch dann einen Gerechtigkeitsanspruch, wenn sie sich aus dem Gerechtigkeitsproblem zurückziehen will. Da sie nämlich behauptet, der Anspruch auf Gerechtigkeit sei einer rationalen Argumentation unzugänglich, unterstellt sie zugleich, die herrschenden Verhältnisse seien nicht als ungerecht kritisierbar. Dieser implizite Gerechtigkeitsanspruch zugunsten des Status quo schwingt bereits bei den als rational ausgewiesenen Individualentscheidungen mit. Denn soweit auch dort das Gerechtigkeitsproblem konsequent ausgeklammert wird,33 wird unterstellt, dass die zwischenmenschliche Rechtfertigung für die Vernünftigkeit von (individuellen) Entscheidungen irrelevant sei. Letztlich steht dahinter die Annahme, dass Entscheidungen einer vernünftigen zwischenmenschlichen Rechtfertigung überhaupt nicht zugänglich seien. Weil im entscheidungstheoretischen Verfahren 33
Als Ausnahme etwa das in Fn. 9 vorgetragene Zitat von Laux.
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aber de facto immer eine Entscheidung getroffen wird, die einen Anspruch auf Vernunft erhebt, werden auch dadurch Gerechtigkeitsansprüche erhoben. Dabei werden stillschweigend tendenziell die subjektiven Gerechtigkeitserwägungen der Entscheidungsperson und die herrschenden Verhältnisse bevorzugt. c) Integrative Ansätze Die Entscheidungstheorie hat selbst nicht den Status einer Disziplin, sondern jenen einer disziplinübergreifenden Theorie. Sie wird etwa „als interdisziplinärer Forschungsschwerpunkt“ verstanden“,34 wobei eine ganze Reihe von Disziplinen genannt werden: neben der Ökonomie und der Betriebswirtschaftslehre z. B. die Psychologie und die Soziologie, die Politik- und die Rechtswissenschaft, die Geschichtswissenschaft sowie die Philosophie, einschliesslich die politische und die Moralphilosophie, und die Mathematik.35 Eine besondere Nähe weist die Entscheidungstheorie dabei zur Ökonomie und zur Betriebswirtschaftslehre36 auf. In der Ökonomie wird auch der Ursprung der Entscheidungstheorie lokalisiert.37 Von den individualistischen ökonomischen Grundannahmen und den mathematischen Berechnungsansätzen abgesehen, bleibt allerdings oft unklar, ob unter Interdisziplinarität eine gleichberechtigte Zusammenarbeit unter den genannten Disziplinen gemeint ist. Es wird in der Regel lediglich davon gesprochen, dass die Entscheidungstheorie einesteils selbst von diesen Disziplinen beeinflusst ist, anderenteils aber diese auch selbst beeinflusst.38 Insgesamt macht es den Anschein, dass die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen nicht aktiv praktiziert wird.39 Trotzdem sollen entscheidungstheoretisch rationale Entscheidungen bereits als integral richtig gelten. Dieser hohe, sämtliche Disziplinen übergreifende Anspruch Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 1. Vgl. auch Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 16 f.; Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungstheorie (41995), S. 24 – 26. 35 Kern / Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen (1994), S. IX; Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft (2005), S. 20 f.; Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 3; Schmidt, Entscheidungstheorie und reale Personen (1995), S. 5. 36 Bamberg / Coenenberg, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre (122004), S. 11 f.; Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 1 f.; Meyer, Entscheidungstheorie (1999), S. 13; Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungsmethodik (41995), S. 21; Eisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 3. 37 Schmidt, Entscheidungstheorie und reale Personen (1995), S. 12. 38 z. B. Schmidt, Entscheidungstheorie und reale Personen (1995), S. 5. Bei Brauchlin und Heene wird unter „Interdisziplinarität“ auch eher die Vielgesichtigkeit verstanden, mit der die Entscheidungslehre auftritt: Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungstheorie (41995), S. 24 – 26. 39 Als Ausnahme kann die Auffassung von Brauchlin und Heene betrachtet werden, die „Ergänzungen“ des rationalen Verfahrens „aus psychologischer und organisatorischer Sicht“ ausmachen: Brauchlin / Heene, Problemlösungs- und Entscheidungstheorie (41995), S. 120 – 124; vgl. insgesamt auch ebd., S. 49 – 80 / 184 – 207. Das dahinter stehende Interdisziplinaritätskonzept bleibt allerdings ein vages komplementäres. 34
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lässt sich v. a. an der weiten Verwendungsweise des Entscheidungs- und des Rationalitätsbegriffs ablesen. Eisenführ und Weber meinen beispielsweise: „Die Denkweise, die die präskriptive Entscheidungstheorie vermittelt, kann in jeder Entscheidungssituation von Nutzen sein. Diese Theorie sollte daher zum Pflichtprogramm der Ausbildung für jene Berufe gehören, in denen Entscheidungen an der Tagesordnung sind. Zu diesen Berufen gehören neben dem des Managers zum Beispiel die der Ärzte, der Politiker, der Richter und der Ingenieure.“40
2. Betriebswirtschaftslehre a) Logiken Spezifischer Gegenstand der betriebswirtschaftlichen Logiken sind Entscheidungsprozesse in betrieblichen Unternehmungen. Es lassen sich drei Ansätze unterscheiden: (1) der rein deskriptive Ansatz, (2) der ökonomistisch-präskriptive Ansatz und (3) der ganzheitliche ökonomisch-präskriptive Ansatz: (1) Zum rein deskriptiven Ansatz zählen die beschreibend vorgehenden Betriebswirtschafts- und Managementlehren. Diese BWL-Richtung gibt keine Empfehlungen ab, wie Unternehmungen zu führen sind bzw. wie betriebliche Entscheidungen zu treffen sind41. (2) Präskriptive Betriebswirtschaftslehren geben Empfehlungen ab. ein Beispiel ist das St. Galler Management-Konzept, das sich als „,Lebenshilfe‘ bei der Bewältigung des Führungsproblems in Theorie und Praxis“ versteht und „situationsbezogen Problemerkenntnis vermitteln und Wege zur Problemlösung weisen“ will42. Ökonomistisch-präskriptiv sind solche Ansätze, wenn sie das erwerbswirtschaftliches Prinzip43 oder Gewinnprinzip44 (= unternehmerische Gewinnorientierung45) zum alleinigen Unternehmensziel erklären und insbesondere ethische Ansprüche nur aus strategischen Gründen anerkennen (Business-Case Ethik). Das bedeutet, „dass alle mit dem Gewinnstreben konfligierenden Wertgesichtspunkte bzw. Ansprüche diesem untergeordnet werden“46. In der Praxis ist diese Richtung v. a. als ShareholderEisenführ / Weber, Rationales Entscheiden (31999), S. 3. Z. B. Thommen, Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre (82008). 42 Bleicher, Normatives Management (1994), S. 42. 43 Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre (221976), S. 464. 44 Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre (221976), S. 467. 45 Dazu Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), insb. S. 431 – 451; ders., Unternehmensethik und „Gewinnprinzip“ (1996). Innerhalb der Orientierung am Gewinnprinzip als ordnungspolitisches Postulat unterscheidet Ulrich nochmals zwischen einem ökonomischen Rahmendeterminismus, einer betriebswirtschaftlichen Formalziel-Doktrin und der Shareholder-Value-Doktrin: Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 440 – 451. 40 41
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Value-Ansatz47 bedeutsam geworden, nach welchem es die Kapitalverwertungsinteressen der Unternehmenseigentümer bestmöglich zu bedienen gelte.48 (3) Der ganzheitliche ökonomisch-präskriptive Ansatz verfolgt demgegenüber das Anspruchsgruppen-Konzept. Er pflegt ein ganzheitliches oder doch vernetztes Denken. In der Praxis ist er als Stakeholder-Ansatz49 bedeutsam geworden. Beispiele des ganzheitlichen ökonomisch-präskriptiven Ansatzes sind etwa R. Edward Freeman (Stakeholder-Ansatz),50 Hans Ulrich / Walter Krieg (St. Galler Management-Modell)51, Knut Bleicher52, Fredmund Malik (Management-Kybernetik)53 und Peter Gomez / Jürg Honegger (Vernetztes Denken).54 Das Anspruchsgruppen-Konzept hat seinen Ursprung in „der verhaltenswissenschaftlichen Koalitionstheorie der Unternehmung von Cyert und March […], die ihrerseits auf der Anreiz-BeitragsTheorie von March und Simon beruht“55. Sein Ziel ist ein Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung der Koalitionspartner. Im Stakeholder-Ansatz wird als (berechtigte) Anspruchsgruppe oder Stakeholder einbezogen, wer Einfluss / Macht auf die Unternehmung ausüben kann.56 Das ganzheitliche Management nach dem St. Galler Management-Modell57 begreift die Unternehmung als komplexes soziales System in einer komplexen gesellschaftlichen Umwelt. Komplexität wird als Zusammenspiel von Vernetzung (Kompliziertheit) und Dynamik verstanden, das nur mit einer ganzheitlichen Ausrichtung und mit vernetztem Denken bewältigt werden kann. Management gilt entsprechend als „Gestalten, Lenken und Entwickeln zweckorientierter sozialer Institutionen.“58 Dabei wird auf systemtheoretische und kybernetische Grundlagen zurückgegriffen. 46 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 450. Ulrich erwähnt als Beispiele (S. 432 f.) Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre (221976), 1. Aufl. 1953; Kosiol, Die Unternehmung als wirtschaftliches Aktionszentrum (1972), insb. S. 226 f.; Friedman, The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits (1983); Homann / BlomeDrees, Wirtschafts- und Unternehmensethik (1992), S. 38 f. / 51 / 183. 47 Zurückgehend auf Rappaport, Creating Shareholder Value (1986). 48 Dazu Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 444 – 447. 49 Dazu Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 476 – 493. 50 Freeman, Strategic Management (1984). 51 H. Ulrich / Krieg, St. Galler Management Modell (31974). 52 Bleicher, Normatives Management (1994); ders., Das Konzept integriertes Management (72004). 53 Malik, Strategie des Managements komplexer Systeme (102008). 54 Gomez, Wertmanagement (1993); Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999); Honegger / Vettiger, Ganzheitliches Management in der Praxis (2003); Honegger, Vernetztes Denken und Handeln in der Praxis (2008). 55 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 477, m. w. N. 56 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 477 f. 57 H. Ulrich / Krieg, St. Galler Management Modell (31974). Zur Entwicklung und Weiterentwicklung Rüegg-Stürm, Das neue St. Galler Management-Modell (2002), S. 6. 58 Rüegg-Stürm, Das neue St. Galler Management-Modell (2002), S. 6.
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Was hinter der „Komplexitätsbewältigung“ steckt, bleibt freilich eher undeutlich. Das Ziel dahinter ist das Überleben der Unternehmung im Markt: „Solche Managementsysteme sind nötig, um Organisationen flexibler, lernfähiger, kurz intelligenter zu machen, damit sie auch in einem turbulenten Umfeld bestehen“59. Den normativen Orientierungsrahmen des St. Galler Management-Modells charakterisiert Rüegg-Stürm als diskursive Auseinandersetzung um Priorisierung unter den Anliegen der Anspruchsgruppen folgendermassen: „Die Umwelt einer Unternehmung besteht […] aus Anspruchsgruppen, die ihre Anliegen und Interessen vor dem Hintergrund bestimmter Normen und Werte geltend machen. Aus einer idealerweise fairen diskursiven Auseinandersetzung erwachsen grundlegende normative Festlegungen, von denen es in massgeblicher Weise abhängt, welche Geschäftsaktivitäten für eine Unternehmung grundsätzlich erstrebenswert (oder zu vermeiden) sind und welche Ressourcen eine Unternehmung für ihre unternehmerische Wertschöpfung erschliessen will.“ „Auf der Grundlage dieses normativen Orientierungsrahmens muss eine Unternehmung eine tragfähige strategische Positionierung im Beziehungsgeflecht aller Anspruchsgruppen vornehmen. Dabei orientiert sie sich primär an der ökonomischen Marktlogik […]. Bei dieser Positionierungsarbeit greift eine Unternehmung selektiv spezifische Anliegen, Interessen und Bedürfnisse bestimmter Anspruchsgruppen auf, nimmt eine entsprechende Priorisierung vor und definiert auf dieser Grundlage strategische Stossrichtungen, Ziele und Projekte.“ „Die strategischen Stossrichtungen und Ziele müssen unter Nutzung und Entwicklung von verschiedensten Technologien in effektive und effiziente betriebliche Wertschöpfungsprozesse umgesetzt werden.“60 Dabei orientiert sich die Unternehmung nach Rüegg-Stürm meist „weniger an einer normativ-kritischen, ethischen Betrachtungsweise als vielmehr an einer strategisch-funktionalen: Wie haben wir uns das ‚Funktionieren‘ komplexer moderner Organisationen wie Unternehmungen im Kontext der Marktlogik überhaupt vorzustellen? Wie kommt Kohärenz und Effektivität im Verhalten zustande, und welche Aufgabenfelder ergeben sich daraus für die Unternehmensführung?“61 Gomez und Probst entwickeln eine „auf komplexe Unternehmensprobleme zugeschnittene“62) Problemlösungsmethodik des vernetzten Denkens. Ziel ist die höhere Qualität unternehmerischer und gesellschaftlicher Problemlösungen63, letztlich gemessen an der Kundenzufriedenheit. Vernetztes Denken wird als Denken in Kreisläufen dargestellt. Die Methodik der Problemlösung muss daher auch ein Kreislauf sein64. Die Problemlösung wird als Informationsverarbeitungsprozess 59 60 61 62 63 64
Schwaninger, Management-Systeme (1994), S. 2. Rüegg-Stürm, Das neue St. Galler Management-Modell (2002), S. 34 f. Rüegg-Stürm, Das neue St. Galler Management-Modell (2002), S. 35. Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999), S. 23. Vgl. Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999), S. 9. Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999), S. 30.
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verstanden65. Ganzheitlichkeit soll dabei durch eine integrierte Prozess-Sicht des Problemlösens erreicht werden. Diese umfasst drei Dimensionen: (1) vernetzt denken: hier geht es darum, passende Gedankenmodelle (Konzepte) zu komplexen Problemsituationen zu entwickeln, (2) unternehmerisch handeln: dabei soll mit geeigneten Instrumenten in der Praxis etwas bewegt werden, (3) persönlich überzeugen: Hier wird bezweckt, durch motivierende Verhaltensweisen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitzureissen66. Die Methodik führt schrittweise von der „Entdeckung und Identifizierung“ der Probleme über das „Verständnis der Zusammenhänge und Spannungsfelder“ und die „Erarbeitung von Gestaltungs- und Lösungsmöglichkeiten“ bis zur „Beurteilung möglicher Problemlösungen“ und zur „Umsetzung und Verankerung“ der gewählten Lösung67. Insgesamt erscheint das Verfahren als eine Konkretisierung der Entscheidungstheorie.
b) Geltungsansprüche Im präskriptiv-ökonomistischen Ansatz dient das Gewinnprinzip als normativer Orientierungsmassstab. Das Prinzip gilt zunächst nur für die internen Prozesse der Unternehmung. Bereits dort, in der sog. Unternehmens-Inwelt, macht sich der Richtigkeitsanspruch des Prinzips bemerkbar. Letztlich sollen sämtliche Entscheidungsprozesse innerhalb einer Unternehmung danach ausgerichtet werden, dass sie Gewinn bringen. Dieser nach innen gerichtete Richtigkeitsanspruch hat aber auch Aussenwirkung. Auch im Aussenverhältnis, gegenüber der Unternehmens-Umwelt, soll die Unternehmung letztlich so verfahren, dass ihr eigener Gewinn maximiert wird. Diese Logik unterstützt in der Konsequenz eine wettbewerbsorientierte Marktstruktur. Das gilt insbesondere für das Shareholder-Value-Konzept: „Wer die konsequente Unternehmensführung nach dem Konzept der Shareholder-Value-Steigerung propagiert, postuliert insofern, ob ihm das bewusst ist oder nicht, das zugehörige ordnungspolitische Modell einer (angelsächsisch geprägten) Marktwirtschaft ohne Adjektive.“68 Auch der ganzheitliche ökonomisch-präskriptive Ansatz erhebt Richtigkeitsansprüche, indem er Empfehlungen und Handlungsanweisungen für die Gestaltung, Lenkung und Entwicklung von Unternehmungen abgibt. Er macht Vorschreibungen, wie Unternehmungen richtigerweise zu führen sind, und dadurch trifft er auch Urteile darüber, wie gesellschaftliche Verhältnisse zu ordnen sind. Gegenüber den ökonomistischen Ansätzen ist dabei ein erweitertes Problembewusstsein zu konstatieren. Die unternehmerische Umwelt und die Anspruchsgruppen werden als invol-
Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999), S. 18 f. Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999), S. 9 und durchgehend. 67 Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999), S. 26 f. 68 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), insb. S. 445. 65 66
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viert betrachtet. Auch die internen personellen Zusammenhänge werden mit dem Unternehmensgeschehen stärker in Verbindung gebracht. Allerdings bleibt die Sicht auf die in- und umweltlichen Anspruchsgruppen instrumentell dem Überleben, dem Wertschöpfungsziel oder dem Leistungszweck der Unternehmung untergeordnet. So wird auch bei den ganzheitlichen Ansätzen am Ende ein ökonomistischer Richtigkeitsanspruch erhoben. Die deskriptiven Betriebswirtschaftslehren erheben anscheinend keinen Richtigkeitsanspruch, da sie vordergründig nur Wahrheitsaussagen treffen. Tatsächlich aber beschreiben deskriptive Betriebswirtschaftslehren nicht nur. Was sie als wahr beschreiben, ist de facto nämlich eine von Menschen genormte Realität. Mit der unkritischen Vermittlung dieser normativen Realität wird in aller Regel der implizite Richtigkeitsanspruch erhoben, dass die Verhältnisse so, wie sie „tatsächlich“ funktionieren, richtig sind. Sie implizieren damit ein positives Urteil über den Status quo. Insofern die von den deskriptiven Betriebswirtschaftslehren dargelegten Beschreibungen in der Regel die ökonomische Logik normativer Lehren nur funktional übersetzen, gilt für den Inhalt dieser Richtigkeitsansprüche dasselbe wie dort.
c) Integrative Ansätze Die Betriebswirtschaftslehre versteht sich als „auf komplexe Unternehmensprobleme zugeschnitten“, konzentriert sich also auf Unternehmen und insbesondere die Komplexität der dort zu lösenden Probleme. Damit erfasst sie einen abgegrenzten Gegenstandsbereich unter definierter Perspektive. Es scheint aber so, als ob sie in Bezug auf diesen definierten Gegenstandsbereich einen umfassenden Geltungsanspruch erhebt, also mit disziplinübergreifendem Anspruch auftritt. Je nachdem, wie weit Unternehmensprobleme bzw. Unternehmungen definiert werden, wird die betriebswirtschaftliche Logik eine allgemeine, vergleichbar mit jener der Entscheidungstheorie. Wie weit die betriebswirtschaftliche Logik, insbesondere die ganzheitliche Problemlösungslogik reichen soll, ist nicht immer ganz klar. Zwar wird die Spezifizität des Geltungsbereichs anerkannt und die Abgrenzung der eigenen Speziallogik gegenüber jener anderer Disziplinen bewusst gemacht69, z. T. reichen die verwendeten Praxis-Beispiele aber weit über den disziplinären Themenbereich hinaus (z. B. wenn ein nörgelnder Ehemann oder die Terrorismusbekämpfung durch die USA thematisiert werden70). Das weist auf einen möglicherweise unbewussten umfassenden Geltungsanspruch hin, der die eigene Methodik und Rationalität auf Fragstellungen anderer Disziplinen ausweitet71. Honegger / Vettiger, Ganzheitliches Management in der Praxis (2003), S. 29. Honegger / Vettiger, Ganzheitliches Management in der Praxis (2003), S. 26 f. 71 Vgl. z. B. auch Honegger / Vettiger, Ganzheitliches Management in der Praxis (2003), S. 36, zur Anwendung der sog. GM-Methode: „Sie lässt sich für unternehmerische wie auch für politische und gesellschaftliche Fragestellungen anwenden. Immer steht das erfolgreiche Management eines komplexen Systems im Zentrum.“ Beispiele ebd., S. 36 – 38. 69 70
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„Ganzheitlichkeit“ oder „integraler Ansatz“ bedeutet demnach innerhalb der Betriebswirtschaftslehre nicht das Zulassen von Rationalitäten und Methoden anderer Disziplinen, sondern eher das Umgekehrte, nämlich das Einbeziehen von Themen anderer Disziplinen in den durch die eigene Methodik strukturierten Entscheidungsprozess. Ganzheitlichkeit bedeutet eine – im Rahmen dieser Denkweise – umfassende Einsicht in die Systemzusammenhänge einer Unternehmung und gestützt darauf das umfassende Gestalten, Lenken und Entwickeln der Prozesse, welche als Unternehmensprozesse verstehbar sind. Die Optik bleibt dabei partikulär. 3. Ökonomie a) Logiken Wissenschaftliche Theorien, die unter dem Namen der Ökonomie oder Ökonomik auftreten,72 lassen sich nach ihren prinzipiellen Ansätzen in drei Gruppen einteilen: (1) die positive Ökonomie (2) die Wohlfahrtsökonomie oder normative Ökonomie und (3) die Constitutional Economics nach dem Muster Buchanans. (1) Das derzeit vorherrschende Selbstverständnis der ökonomischen Theorie, für das die Auffassung Gebhard Kirchgässners73 stellvertretend herangezogen werden kann, geht dahin, sich als positive Wissenschaft zu begreifen, die wie die Naturwissenschaften dem Ideal der Wertfreiheit verpflichtet ist. Werturteile und Richtigkeitsentscheidungen scheiden somit aus dem wissenschaftlichen Programm aus und sind soweit möglich zu vermeiden.74 Ziel der ökonomischen Wissenschaft ist demnach die positive Erklärung und Prognose menschlichen bzw. zwischenmenschlichen Verhaltens: „Die Anwendung der Ökonomik […] dient zunächst einmal der Erklärung menschlichen Verhaltens bzw. menschlichen Handelns. Wir versuchen zu verstehen, wie solches Handeln zustande kommt. Damit wird kein Urteil darüber gefällt, ob dieses Handeln in einem moralischen oder ethischen Sinn ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ ist. Die Ökonomik ist eine im Sinne Max Webers wertfreie Wissenschaft, keine normative, sondern eine ‚positive‘ Wissenschaft, wie dies z. B. auch die Naturwissenschaften sind.“75 Die Wertfreiheit wird somit zum Gradmesser wissenschaftlicher Wahrheit.76 72 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 2: „Die Ökonomik ist […] eine Methode der Sozialwissenschaften, während die Ökonomie einer ihrer Gegenstandsbereiche ist.“ Um die ökonomischen Ansätze in ihrer vollen Breite erfassen zu können, werden hier beide disziplinären Selbstbezeichnungen akzeptiert. 73 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000); engl. ders., Homo Oeconomicus (2008). 74 Als die zwei dahinter stehenden Thesen nennt Kirchgässner die „Unmöglichkeit der (wissenschaftlichen Begründung) von Werturteilen“ und die „Gültigkeit von Tatsachenbehauptungen unabhängig von der Rechtfertigung bestimmter Wert- bzw. Normensysteme“: Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 6. 75 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 3. Vgl. auch ebd., S. 292; ausführlich ders., Wertfreiheit und Objektivität in den Wirtschaftswissenschaften (2006).
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Der entscheidende Ansatzpunkt ist dabei das Verhaltensmodell des homo oeconomicus. Es besteht in der individualistischen Annahme (methodologischer Individualismus77), dass Menschen in Entscheidungssituationen, welche durch Restriktionen charakterisiert sind, stets die an ihren Präferenzen gemessen relativ beste Alternative auswählen und ihr Handeln entsprechend ausrichten.78 Auf der Grundlage des ökonomischen Verhaltensmodells werden zwischenmenschliche Interaktionen, auf die sich die ökonomische Theorie vorrangig bezieht,79 als Tauschbeziehungen interpretiert, die allen Beteiligten Vorteile bringen.80 Diese Nettonutzenmaximierung wird als rationales Verhalten definiert81. Dem Verständnis als positiver Wissenschaft gemäss wird diese ökonomische Rationalität allerdings von einem umfassenden ethischen Rationalitäts- oder Vernunftbegriff abgegrenzt82. Die Rationalität der Nutzenmaximierung macht menschliches Verhalten berechenbar. Die Ökonomie versteht die Verhaltensursachen analog zum naturwissenschaftlichen Kausalitätsprinzip. Ökonomische Analysen gestatten daher, empirisch überprüfbare Tatsachenhypothesen aufzustellen und zu überprüfen. Deshalb kann das menschliche Verhalten nicht nur in der Retrospektive erklärt, sondern auch in die Zukunft hinein prognostiziert werden.83 Diesen Anspruch erhebt die moderne Ökonomik nicht nur für ihren typischen Gegenstandsbereich der Wirtschaft, sondern potenziell für sämtliche Gesellschaftsbereiche und insbesondere auch in Bezug auf die Politik (sog. Neue Politische Ökonomie oder Public Choice-Ansatz).84 Eine andere Beschränkung wir jedoch gepflegt: Als positive Wissenschaft soll die Ökonomie in den normativen (z. B. politischen) Diskursen, die sie untersucht, nicht selbst Partei ergreifen, sondern lediglich empirische Argumente über die Funktionsweise sozialer Steuerungsmechanismen bereitstellen.85 Dazu, über normative Entscheidungen selbst wissenschaftliche Orientierung zu geben, sei die Ökonomie ebenso wenig wie jede andere Wissenschaft in der Lage und daher auch nicht befugt. 76 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 5. Vgl. auch Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 50. Kritisch zum positivistischen Wahrheitsbegriff bereits Knight, „What is Truth“ in Economics? (1940). 77 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 23 f. 78 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 13 – 27 / 289. 79 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 20. 80 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 20 / 289. 81 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 17. 82 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 236 – 247. 83 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 18 f. 84 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 2 f. und durchgehend. Zur ökonomischen Theorie der Politik ebd., S. 100 – 133; zur ökonomischen Analyse des Rechts ebd., S. 133 – 152. 85 Nicht als Wissenschaftler, sondern als Staatsbürger seien Ökonomen jedoch sogar dazu verpflichtet, für eine angemessene Gesellschaftsordnung Vorschläge zu machen: Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 235. Ebd., S. 237: „Man kann die Aufforderung, gesellschaftliche Systeme so [sc. vernünftig] zu gestalten, als regulative Idee hinter vielen ökonomischen Politikvorschlägen sehen.“
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(2) Dem positiven Selbstverständnis der ökonomischen Wissenschaft steht die Wohlfahrtsökonomie oder normative Ökonomie gegenüber.86 Diese Theorie-Richtung der Ökonomie greift zwar auch auf die Annahme des homo oeconomicus zurück, tritt auf dieser Grundlage aber mit dem Ziel an, wissenschaftliche Kriterien dafür zu liefern, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse normativ zu bewerten und zu ordnen sind. Die verschiedenen Ansätze der Wohlfahrtsökonomie, die sich in eine Kompensationstheorie und eine Theorie der sozialen Nutzenfunktion verzweigen,87 orientieren sich dabei im Grossen und Ganzen am auf Vilfredo Pareto zurückgehenden Pareto-Kriterium. Das inzwischen als Pareto-Effizienz begriffene Kriterium definiert diejenigen gesellschaftlichen Veränderungen als vorzugswürdig, durch die mindestens eine Person besser, aber keine Person schlechter gestellt wird.88 Die Pareto-Effizienz wird sodann als soziales Wohlfahrtsmaximum verstanden89 und zugleich auch zum Kriterium für die Gestaltung der Gesellschaftsverhältnisse erhoben.90 (3) Die Constitutional Economics nach dem Muster von James M. Buchanan bildet eine Zwischenform zwischen der werturteilsfreien und der wohlfahrtsökonomischen Wirtschaftstheorie91. Nach Buchanan gilt es „zwischen den zwei unterschiedlichen Wissenschaften zu unterscheiden, die die Ökonomie in sich enthält.“92 Zur vorherrschenden positiven ökonomischen Analyse (theoretische Ökonomie) soll eine politische Ökonomie hinzutreten, in der der Mensch nicht mehr als „ein Lebewesen […], dessen Verhalten wissenschaftlicher Prognose zugänglich ist“, gesehen wird, sondern sich „als Entscheidungsträger“ „der Beeinflussung mittels Belohnung und Strafen verschliesst“.93 „Sie befasst sich damit, die Struktur der Beschränkungen, die ‚Rechtsordnung‘ selbst zu bewerten, wobei sie letztlich deren Umgestaltung oder Reform im Interesse einer effizienteren Nutzung der potentiell wechselseitigen Vorteile im Auge hat.“94 Die normativen Implikationen positiver Ökonomie Vgl. Schütz, Über die Notwendigkeit von Normen (1990), S. 111 f. Als Hauptvertreter der Kompensationstheorie können Nicholas Kaldor, John R. Hicks und im Anschuss kritisch Tibor Scitovsky genannt werden. Als Protagonisten der sozialen Nutzenfunktion gelten v. a. Abraham Bergson und Paul A. Samuelson. Wegbereitend für die Wohlfahrtsökonomie war Lionel Robbins’ Umstellung des kardinalen Nutzenkalküls auf ein ordinales. Zum Ganzen Schütz, Über die Notwendigkeit von Normen (1990), S. 111 – 116; Buchanan, Positive Economics, Welfare Economics, and Political Economy (1987), S. 3 f. 88 Buchanan, Positive Economics, Welfare Economics, and Political Economy (1987), S. 4. 89 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (2000), S. 223. 90 Zum Ganzen m. w. H. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 203 – 207. 91 Dazu Vanberg, James M. Buchanan (1990), insb. S. 15 – 20, m. w. H. Insofern sie der Ökonomie sowohl eine Erklärungs- als auch eine Gestaltungsaufgabe zusprechen, können auch Karl Homann und Andreas Suchanek als dieser Zwischenform der ökonomischen Theorie zugehörig betrachtet werden: Homann / Suchanek, Ökonomik (22005), S. 347. 92 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 49. 93 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 50. 94 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 49. Vgl. auch ebd., S. 53. 86 87
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reflektierend,95 will Buchanan unter dem Namen der Constitutional Economics oder der Constitutional Political Economy96 also auch „eine normative Rechtfertigung für die Bemühungen des Wissenschaftlers“ geben.97 Die politische Ökonomie soll die theoretische Ökonomie jedoch nicht ersetzen, sondern die Wirtschaftstheorie um eine zusätzliche – normative – Theorieebene erweitern.98 Daraus ergibt sich die Unterscheidung zwischen einer konstitutionellen und einer postkonstitutionellen Ebene.99 Während auf der postkonstitutionellen Ebene die Frage einschlägig ist, „[w]ie […] die komplexen politischen Tauschvorgänge organisiert werden [sollten], um sicherzustellen, dass alle Nutzniesser durch den politischen Prozess Nettogewinne erzielen können“100, geht es auf der konstitutionellen Ebene darum, die Verfassungsordnung, auf der diese Tauschprozesse beruhen, selbst zu rechtfertigen101. Dabei hält Buchanan auch für dieses auf der konstitutionellen Ebene angesiedelte Rechtfertigungsproblem das individualistische homo oeconomicus-Modell für angemessen,102 was ihn zu einer vertragstheoretischen Konzeption der Verfassung führt103. In deren Grenzen sei es dann möglich, das nutzenmaximierende Verhalten der Individuen „als ‚rational‘ zu bezeichnen“, und zwar nicht nur im Sinn der positiven Wirtschaftswissenschaft, sondern auch „im Sinne einer umfassenden Definition von Rationalität.“104
b) Geltungsansprüche Bei genauer Betrachtung erheben alle drei ökonomischen Grundansätze Richtigkeitsansprüche. Offensichtlich der Fall ist das bei den wohlfahrtsökonomischen AnVanberg, James M. Buchanan (1990), S. 11 f. / 19 f. Vgl. auch Buchanan, Politische Ökonomie als Verfassungstheorie (1990). 97 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 42; vgl. auch Buchanan / Brennan, The Normative Purpose of Economic „Science“ (1987). Zur normativen Ausrichtung Buchanans ferner Vanberg, James M. Buchanan (1990), S. 20. 98 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 56 f. Viktor Vanberg spricht von einer „,vertikalen‘ Ausweitung“ der herkömmlichen ökonomischen Analyse: Vanberg, James M. Buchanan (1990), insb. S. 15 f. 99 Buchanan, Politik ohne Romantik (1990), S. 29. 100 Buchanan, Politik ohne Romantik (1990), S. 31, insgesamt dazu ebd., S. 31 – 39. 101 Buchanan, Politik ohne Romantik (1990), S. 29, insgesamt dazu ebd., S. 29 – 31. Grundlegend zur normativen Begründung der Verfassung ders., Die Grenzen der Freiheit (1984), insb. S. 76 – 105. 102 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 52 f. / 55; Buchanan / Brennan, The Normative Purpose of Economic „Science“ (1987), S. 56 / 63; vgl. auch Buchanan, Die Grenzen der Freiheit (1984), S. 78. Eingehend Buchanan / Brennan, Predictive Power and Choice Among Regimes (1983). 103 Buchanan, Die Grenzen der Freiheit (1984), S. XIII und durchgehend; ders., Der Ökonom und die Tauschvorteile (1990), S. 138. 104 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 51. 95 96
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sätzen. Mit dem zum normativen Massstab erhobenen Pareto-Kriterium nehmen diese Ansätze für sich in Anspruch, die zwischenmenschlichen Verhältnisse mit dem Argument des volkswirtschaftlichen Maximums beurteilen und legitim ordnen zu können, was einen Anspruch auf Richtigkeit impliziert. In aller Regel läuft die wohlfahrtsökonomische Legitimationslogik dabei auf eine Apologie des freien Marktes hinaus.105 Recht klar ist ebenfalls der Richtigkeitsanspruch in der Wirtschaftstheorie Buchanans zu erkennen. Dort wird die normative Logik lediglich auf die konstitutionelle Ebene vorverlagert. Erst auf dieser normativen Grundlage hält es Buchanan für möglich, positive Wissenschaft zu betreiben: „Die bürgerliche Ordnung setzt wechselseitige Zustimmung zu und Anerkennung einer Tauschethik voraus – oder einfacher: Sie setzt die Achtung von vertraglichen Vereinbarungen, von gegeben Versprechen voraus. […] Die bürgerliche Gesellschaft erfordert und unterstellt Reziprozität im Umgang ihrer Mitglieder miteinander.106 Unverkennbar ist dabei, dass auch die Buchanansche Constitutional Economics auf eine liberale Ordnungsstruktur setzen: „Der moderne Public-Choice-Ökonom […] versucht, sich auch für die normativen Grundsätze des klassischen Liberalismus einzusetzen […].“107 Der sog. methodologische Individualismus der ökonomischen Theorie wandelt sich somit zu einem normativen Individualismus.108 Am schwierigsten gestaltet sich die Analyse des Richtigkeitsanspruchs in der ökonomischen Theorie, die sich als positive Wissenschaft versteht. Insofern die Ökonomie nur an der Erklärung und Prognose sozialer Interaktionen interessiert ist, erhebt sie zumindest explizit keinen Richtigkeits-, sondern nur einen Wahrheitsanspruch. Nun haben allerdings verschiedene kritische Untersuchungen gezeigt, dass die ‚wertfrei‘ verfahrende Wirtschaftswissenschaft selbst beim Versuch, den erhobenen Wahrheitsanspruch einzulösen nicht umhinkommt, implizite Richtigkeitsansprüche zu erheben.109 Indem er, wie gesehen, den letzten Zweck der ökonomischen Wissenschaft in der normativen Einflussnahme sieht, stützt gerade auch Buchanan diese These.110 Das Problem der als reine Beobachterin auftretenden ‚positiven‘ SoUlrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 195. Eingehend kritisch dazu Albert, Ökonomische Ideologie und politische Theorie (21972). 106 Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 50. 107 Buchanan, Der Ökonom und die Tauschvorteile (1990), S. 137. 108 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 199 – 203. Vgl. auch Buchanan / Brennan, The Normative Purpose of Economic „Science“ (1987), S. 61: „He [homo oeconomicus] was a creation for a purpose – this being the demonstration of the virtues of the free market as an institutional order.“ 109 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 125 – 129 / 137 – 174, insb. S. 159 – 174; ebd. S. 244 f., Fn. 66, auch eine kurze Auseinandersetzung mit Kirchgässner. Ferner Schütz, Über die Notwendigkeit von Normen (1990), S. 9 – 111; Thielemann, Integrative Wirtschaftsethik als kritische Theorie des Wirtschaftens (2003). Überall dort auch weitere Hinweise insb. zu Gunnar Myrdal und Gerhard Weisser. 105
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zialwissenschaft ist, dass sie meint, sich ihres Teilnahmestandpunktes entledigen zu können. Sie übersieht dabei aber, dass sie stets selbst Teil der (sozialen) Welt bleibt, die sie beobachtet.111 Als Teilnehmerin erhebt daher auch die „positive“ Ökonomie unweigerlich Richtigkeitsansprüche. Die – bewussten oder unbewussten – Richtigkeitsansprüche pflanzen sich dann z. B. über den „methodologischen“ Individualismus auch in die vorgeblich „wertfreien“ Entscheidungen fort, und insgesamt leistet auch die „positive“ ökonomische Logik einer liberalen Marktordnung Vorschub.112 In diese Richtung geht sogar ein expliziter Vertreter der Wertfreiheit wie Kirchgässner, wenn er feststellt: „Üblicherweise hat keines der Individuen, die auf einem Markt tätig sind, die Absicht, dadurch den Marktmechanismus als einen gesellschaftlichen Koordinationsmechanismus in Gang zu setzen, und doch tragen alle, bewusst oder unbewusst, mit oder gegen ihre Absicht, dazu bei.“113
c) Integrative Ansätze Im Kontext der Ökonomie werden zahlreiche als interdisziplinär etikettierte Verknüpfungen hergestellt, z. B. mit der Soziologie114, der Psychologie115, der Politikwissenschaft116, der Rechtswissenschaft117, aber auch mit der Geschichtswissenschaft118 und der Philosophie und der Ethik119. Dabei lassen sich zwei Formen von Interdisziplinarität feststellen: Soweit der disziplinübergreifende Ansatz von einer anderen Disziplin als von der Ökonomie ausgeht, verläuft die disziplinäre Annäherung an die Ökonomie eher zurückhaltend kritisch, und die Konzeptualisierung der transdisziplinären Integration verbleibt, nur vage ausgearbeitet, auf einem prinzi110 Vgl. auch Buchanan, Theoretische Ökonomie und Politische Ökonomie (1990), S. 49: Dass Buchanan angesichts dieser Erkenntnis gleichwohl meint, an der Möglichkeit „positiver“ Wissenschaft festhalten zu können, spricht freilich gegen Konsistenz dessen eigener Theorie. 111 Vgl. die „Paradoxie der beobachtenden Sozialwissenschaften“ in Mastronardi, Juristisches Denken (22003), S. 21, Rz. 67. 112 Vgl. bereits die Hinweise in Fn. 109. 113 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 22; vgl. auch ebd., S. 32. 114 Z. B. Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 96 – 98 / 293 – 297 u. ö. 115 Z. B. Frey / Gülker, Psychologie und Volkswirtschaftslehre (1988); Kirchgässner, Homo Oeconomicus (2000), S. 29 f. 116 Z. B. Mäding, Zum interdisziplinären Charakter der Theorie der Wirtschaftspolitik (1988); Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 100 – 133. 117 Z. B. Kirchner, Über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Nationalökonomie. (1988); Behrens, Über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Nationalökonomie (1988); Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 133 – 152. 118 Z. B. Tilly, Wirtschaftsgeschichte und Ökonomie: zur Problematik der Interdisziplinarität (1988). 119 Z. B. Homann, Philosophie und Ökonomik (1988); Homann / Blome-Drees, Wirtschaftsund Unternehmensethik (1992); Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008); ders., Ethische Vernunft und ökonomische Rationalität zusammendenken (2002); Schütz, Über die Notwendigkeit von Normen in der ökonomischen Theorie (1990).
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piellen Niveau.120 Wo der disziplinübergreifende Impuls hingegen von der Ökonomie selbst ausgeht, handelt es sich meist um eine „Anwendung des ökonomischen Verhaltensmodells in anderen Sozialwissenschaften“121, wobei unter „anderen Sozialwissenschaften“ weniger andere Disziplinen, sondern mehr die Gegenstandsbereiche anderer Disziplinen (die Politik, das Recht usw.) anvisiert werden. Aus diesem Grund wird das Vordringen des ökonomischen Verhaltensmodells häufig auch als „ökonomischer Imperialismus“ bezeichnet122. „Die Voraussetzung für einen solchen Imperialismus ist die Verwendung eines allgemeinen Prinzips, welches man zur Grundlage aller zu erklärenden Phänomene machen kann […]. Diese Rolle spielt […] im Rahmen der ‚bürgerlichen‘ Ansätze das (ökonomische) Modell rationalen Verhaltens.“123 Auch wenn vonseiten der Ökonomie vereinzelt auch auf die Einseitigkeit und die Ergänzungsbedürftigkeit der ökonomischen Betrachtungsweise hingewiesen wird,124 will sich der ökonomische Ansatz meist als Ersatz für jene disziplinären Ansätze verstehen, die das betreffende Sachgebiet herkömmlicherweise bearbeiten. Im Gegensatz zu weniger individualistisch ausgerichteten Verhaltensmodellen setzt sich die Ökonomik damit insbesondere zu soziologischen125 und sozialpsychologischen126 sowie zu manchen politikwissenschaftlichen127 und ethischen Ansätzen128 in Konkurrenz.129 120 Ausser einiger allgemeiner Anregungen zur organisatorischen Verknüpfung von ökonomischer und psychologischer Forschung und Lehre finden sich z. B. bei Dieter Frey und Gunda Gülker keine spezifischen Ansätze zur interdisziplinären Integration: Frey / Gülker, Psychologie und Volkswirtschaftslehre, (1988), S. 187. Auch vonseiten der Geschichtswissenschaft gebe es „kein allumfassendes Rezept für eine erfolgreiche Mischung der Disziplinen“, sondern nur „mehrere brauchbare Kombinationen, jede mit eigenen Vorzügen und Nachteilen“: Tilly, Wirtschaftsgeschichte und Ökonomie (1988), S. 264, vgl. auch S. 254. In Bezug auf die Politikwissenschaft bleibt es bei Mäding bei einer eher vagen Forderung nach gegenseitiger Ergänzung („simultane“ Interdisziplinarität): Mäding, Zum interdisziplinären Charakter der Theorie der Wirtschaftspolitik (1988), S. 237 f. / 244, Zitat auf S. 244. 121 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 96 – 152, Zitat in der Überschrift. 122 Zum Begriff Radnitzky / Bernholz (Hrsg.): Economic Imperialism (1987); ferner Pies / Leschke (Hrsg.), Gary Beckers ökonomischer Imperialismus (1998). Zur Kritik an diesem Vorwurf: Kirchgässner, Auf der Suche nach dem Gespenst des Ökonomismus (1997), S. 145; vgl. m. w. H. zudem Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 153 – 157; ders., Ökonomie als imperialistische Wissenschaft (1988). 123 Kirchgässner, Ökonomie als imperiale Wissenschaft (1988), S. 128. 124 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), z. B. S. 292 f., ausführlich S. 201 – 233; ders., Ökonomie als imperial Wissenschaft (1988), S. 139 – 141. 125 Z. B. Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 96 – 98 / 293 – 297 u. ö. Ein integrativer Ansatz lässt sich dagegen bei Viktor Vanberg erkennen: Vanberg, Rules and Choice in Economics and Sociology (1988). 126 Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 30. 127 Vgl. Kirchgässner, Homo Oeconomicus (22000), S. 100 f. 128 Homann / Suchanek, Ökonomik (22005), S. 398 – 411. 129 Soweit die Ökonomie als positive Wissenschaft operiert, verschliesst sie sich sogar gegen sämtliche normativen Ansätze: „Solch elitäre Anmassung […] ist ihm [dem ‚wertfrei‘
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Innerhalb der Ökonomie scheint dabei die Meinung vorzuherrschen, dass das Vordringen des ökonomischen Ansatzes auf die vormals fremden Sachgebiete erfolgreich sei.130 Vonseiten der Ökonomik gegenüber anderen Disziplinen etwas versöhnlichere Töne anzuschlagen scheint auf den ersten Blick Karl Homann, denn nach aussen vertritt er ein auf Gleichberechtigung ausgerichtetes Interdisziplinaritätskonzept.131 Diese im Grundsatz begrüssenswerte integrative Vorgehensweise erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als ein verschleierter ökonomischer Imperialismus einseitigster Art. An anderer Stelle als „Modell des erweiterten Restriktionensets“132 benannt, besteht der „interdisziplinäre“ Ansatz nämlich nicht darin, die ökonomische Logik anderen Disziplinen aus-, sondern vorauszusetzen. Problemstellungen anderer Disziplinen müssten lediglich „in terms of economics“ übersetzt werden:133 „Im ökonomischen Diskurs müssen Erkenntnisse anderer Wissenschaften den Kategorien dieses ökonomischen Diskurses entsprechen. Das bedeutet, sie müssen als ‚Präferenzen‘ oder als ‚Restriktionen‘ auftreten.“134 „Resultate anderer Wissenschaften können im ökonomischen Forschungsprogramm nur dann und nur soweit fruchtbar gemacht werden, wie sie sich als Restriktionen interpretieren lassen, die das nutzenmaximierende Handeln der Akteure in Interaktionen wesentlich (mit-)bestimmen, die sich aber in der betrachteten Handlung selbst nicht in der Kontrolle des jeweiligen Akteurs befinden.“135 So müsse z. B. die Moral „auf den Code der Wirtschaft umformuliert bzw. in ihn übersetzt werden.“136 Und „Wirtschaftsethik ist so anzulegen, dass der Widerspruch zwischen moralischen und ökonomischen Forderungen […] dadurch überwunden wird, dass die moralischen Regeln selbst in Vorteilserwartungen i.w.S. begründet werden.“137 Die Ökonomik erhebt damit einen Anspruch auf Universalität. Dass sie deshalb sogar innerhalb ihrer eigenen Rationalität im Umgang mit neuen Ansätzen Mühe hat, anerkennt Bruno S. Frey: „To this day, the core of economics is universal; the same principles of economics are taught everywhere in the world. … But an unforim Sinne Max Webers arbeitenden Sozialwissenschaftler] fremd bzw. sollte ihm zumindest fremd sein.“: Kirchgässner, Homo Oeconomicus (2000), S. 43. 130 Vgl. im Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 7 (1988) mit dem Titel „Interdisziplinarität – Voraussetzungen und Notwendigkeiten“ die Eingangsbeiträge: z. B. Fleischmann, Nationalökonomie und sozialwissenschaftliche Integration (1988), S. 36; Tietzel, Zur Theorie der Präferenzen (1988), S. 39; Witt, Eine individualistische Theorie der Entwicklung ökonomischer Institutionen (1988), S. 72. 131 Homann, Philosophie und Ökonomik (1988). Zur Rolle der Philosophie ebd., insb. S. 99 f. / 122 f. 132 Homann / Suchanek, Ökonomik (22005), S. 395 – 397. 133 Homann / Suchanek, Ökonomik (22005), S. 390. 134 Homann / Suchanek, Ökonomik (22005), S. 395. 135 Homann / Suchanek, Ökonomik (22005), S. 396. 136 Homann, Wirtschaftsethik (1993), S. 47. 137 Homann / Suchanek, Ökonomik (22005), S. 412.
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tunate consequence of this enshrined knowledge is that it is difficult to introduce new ideas not in line with received theory.“138 Dem ökonomischen Ansatz insgesamt gegenüber sind aber auch dezidiert kritische Stimmen zu vernehmen. Zu nennen ist hier insbesondere Peter Ulrichs Konzeption der integrativen Wirtschaftsethik139, die ethische Vernunft und ökonomische Rationalität zwar durchaus auch „zusammendenken“ will,140 im Verhältnis von Ökonomie und Ethik jedoch klar der Letzten einen Vorrang einräumt („Primat der Ethik […] vor der Ökonomik“141). Denn „Bekenntnisse zur ‚wechselseitigen Anerkennung der Gleichwertigkeit und Eigenständigkeit‘ der akademischen Disziplinen, die diese bei den konkurrierenden normativen Rationalisierungsprogramme[n] entfalten, mögen ‚zwischenmenschlich‘ (zwischen den Vertretern der beteiligten Wissenschaften) sympathisch sein, verfehlen aber das Kernproblem der Klärung des ‚innigen‘ Verhältnisses zwischen Ethik und Ökonomik: Normativität ist nicht die ‚Kehrseite‘ der ökonomischen Rationalität, sondern deren Fundament“142.
4. Politikwissenschaft a) Logiken Die Politikwissenschaft definiert sich durch ihren Gegenstand, die Politik. d. h. die staatlich eingebundene Ausübung sozialer Macht143. Sie umfasst sämtliche Formen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand144. Sie lässt sich kaum durch eine selbständige, einheitliche Methodik kennzeichnen, sondern umfasst eine Vielzahl qualitativer und quantitativer Analyseverfahren. Deshalb ist etwa die Rede von einem Methoden-„Schisma“ in der empirischen Sozialwissenschaft145. Mit gewissen anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen, insbesondere Ökonomie und Soziologie teilt sie in vielen Fragen die Methodik. Von diesen Teildisziplinen unterscheidet sie sich dann nur durch ihr Untersuchungsobjekt146.
Frey, Happiness, S. ix. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008). Vgl. ferner etwa Joachim Schütz’ Versuch, ein „Konzept einer kulturellen ökonomischen Theorie“ auszuarbeiten, in dem der Solidaritätsgedanke einen ganzheitlichen normativen Rahmen vorgibt: Schütz, Über die Notwendigkeit von Normen in der ökonomischen Theorie (1990), S. 131 – 212. Schütz’ Grundintuition ist dabei ein gleichberechtigter Einbezug einer ethischen Perspektive: ebd., S. 5 f. 140 Ulrich, Ethische Vernunft und ökonomische Rationalität zusammendenken (2002); ders., Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 101 – 135. 141 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 130 u. ö. 142 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 128 f., m. w. H. und m. w. N. 143 Goodin / Klingemann, Political Science (1998), S. 7. 144 Goodin / Klingemann, Political Science (1998), S. 7. 145 Schnapp / Schindler / Gschwend / Behnke: Qualitative und quantitative Zugänge (2006), S. 11. 138 139
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Teilweise verschmilzt der Gegenstand der Politik allerdings dermassen mit jenem der Ökonomie, dass auch vorgeschlagen wird, nur noch von Sozialwissenschaft zu sprechen (die dann Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft umfassen würde)147. Innerhalb der politikwissenschaftlichen Disziplin bestehen zahlreiche Schulen: In Deutschland etwa die normativ-ontologische Freiburger Schule, die kritisch-dialektische Frankfurter Schule und die empirisch-analytische Mannheimer Schule148. Im anglo-amerikanischen Raum folgte auf die „behavioral revolution“ die „rational choice revolution“, sodann der „new institutionalism“ sowie der „ordered eclecticism“ und der „postmodern turn“149. Hinter diesen unterschiedlichen Ansätzen stehen nicht nur verschiedene Logiken, sondern auch andere Rationalitäten, also ideale Zielsetzungen des Wissens. Auf grundsätzlicher Ebene lassen sich die verschiedenen Methoden in verstehend-historiographische einerseits, empirisch-analytische anderseits gruppieren150. Während die einen verstehen wollen, suchen die anderen zu erklären; während die einen die Wertproblematik integrieren wollen, streben die andern nach Wertfreiheit. Heute ist die empirisch-analytische Politikwissenschaft vorherrschend151. Die scharfe Trennung zwischen empirischer und philosophischer Orientierung wird aber immer wieder hinterfragt152. Insgesamt lässt sich eine vom anglo-amerikanischen Raum ausgehende Tendenz zu einem pragmatischen Methodenpluralismus feststellen, welcher empirisch-analytische und normativ-kritische Elemente vereinigt153 und einen rein positivistischen Wissenschaftsbegriff ablehnt154. Während früher ein Wissenschaftler in der Regel nur eine einzige Tradition vertrat, nutzen moderne Forscher oft eine Mehrzahl von methodischen Ansätzen155, woraus sich ein gegenseitiges Geben und Nehmen unter den Schulen ergibt, was zu hybriden methodischen Ansätzen führt156. Pelinka, Grundzüge der Politikwissenschaft (22004), S. 13 / 14. Bellers / Kipke, Einführung in die Politikwissenschaft (1993), S. 244. 148 Münkler, Politikwissenschaft (1985), S. 16 – 20; Mols, Politik als Wissenschaft (52006), S. 47 – 52; Winkler / Falter, Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre (1995), S. 134. 149 Vgl. Goodin / Klingemann, Political Science (1998), S. 10 – 22. 150 Welzel, Wissenschaftstheoretische und methodische Grundlagen (52006), S. 397 – 407. 151 Z. B. Winkler / Falter, Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre (1995), insb. S. 132 – 140. Vgl., trotz Beteuerung eines „internen“ politikwissenschaftlichen „Pluralismus“ (S. 17), auch Pelinka, Grundzüge der Politikwissenschaft (22004), S. 13: „Politikwissenschaft ist somit nicht die Lehre vom bestmöglichen Zustand der Politik, sie ist zunächst die Lehre vom tatsächlichen Zustand gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse.“ 152 Haungs, Einleitung (1990), S. 17. 153 Mols, Politik als Wissenschaft (52006), S. 52 – 58; Goodin / Klingemann, Political Science (1998); vgl. auch Kersting, Methoden und Wissenschaftstheorie (1999), S. 50. 154 Goodin / Klingemann, Political Science (1998), S. 9. 155 Goodin / Klingemann, Political Science (1998), S. 12 f., m. w. H. 146 147
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b) Geltungsansprüche Wenn die Einheit der Politikwissenschaft eher in ihrem Gegenstand als in ihrer Methode liegen soll, kommt es sehr auf den Begriff der Politik an. Bezeichnet er eine Wirklichkeit, dann kann die Wissenschaft primär deskriptiv vorgehen. Wenn Politik aber ein Konzept ist, das erst von der Wissenschaft definiert wird, erhebt diese zwangsläufig normative Geltungsansprüche gegenüber ihrem Gegenstand. Tatsächlich definieren die verschiedenen politikwissenschaftlichen Schulen Politik sehr unterschiedlich: Die klassische, auf Platon und Aristoteles zurück gehende normative Schule, welche die frühere Einheit von politischer Philosophie und Politikwissenschaft unter modernen Verhältnissen weiter pflegen will, bezieht den Begriff auf ein öffentliches Handeln, das sich an bestimmten Gütern und Zwecken orientiert157. Hier ist der normative Geltungsanspruch explizit. Anders bei der realistischen Schule, welche sich auf das Phänomen der Macht konzentriert und Politik auf die Machtausübung im öffentlichen Raum reduziert158. Hier wird explizit nur eine instrumentelle Logik vertreten. Wenn nicht explizit, so doch gut erkennbar sind die normativen Ansprüche bei den Varianten der Carl Schmittschen und der marxistischen Politikdefinition: Die erstere setzt mit der Unterscheidung von Freund und Feind eine klare positive bzw. negative Wertung voraus, die letztere beruht auf einer materialistischen Geschichtstheorie mit klarer Parteinahme innerhalb des Modells eines Klassenkampfes159. Besondere Beachtung verdient die Frage der normativen Geltungsansprüche bei der Politikdefinition durch die empirisch-analytischen Sozialwissenschaften, etwa durch den Kritischen Rationalismus (seit Karl Popper und Hans Albert), weil diese Richtung dominant geworden ist. Ähnlich der realistischen Schule will diese Denkweise ohne normative Implikationen auskommen. Sie beschränkt sich auf einen Politikbegriff, der sich für die Operationalisierung der Erkenntnisse eignen soll. Politikwissenschaftliche Kategorien müssen sich am Kriterium der Brauchbarkeit oder Leistungsfähigkeit legitimieren. Politik wird aus dieser Sicht in typischer Weise als politisches System umschrieben, für welches die zu analysierenden Phänomene je eine bestimmte Funktion erfüllen. Die wissenschaftliche Untersuchung kann sich dann auf die instrumentelle Ebene der Zweck-Mittel-Rationalität im Rahmen des Systems beschränken. Die Frage, wie weit dessen physische Zwangsgewalt legitim ist, wird dabei ausgeklammert. Der Geltungsanspruch dieses Ansatzes bezieht sich auf diese Weise explizit nur auf die Funktionen innerhalb des politischen Systems. Dessen Rechtfertigung hingegen wird vorausgesetzt160. Die normative Dimension des Funktionalismus bleibt verborgen. 156 157 158 159
Goodin / Klingemann, Political Science (1998), S. 14, m. w. H. Berg-Schlosser / Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft (72003), S. 24 f. Berg-Schlosser / Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft (72003), S. 26 f. Vgl. Berg-Schlosser / Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft (72003), S. 28 f.
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Die verschiedenen Schulen definieren ihren Gegenstand somit teils mit, teils ohne Rückgriff auf normative Elemente. Letztlich kommt es aber nicht darauf an, ob eine Schule die normativen Aspekte in den Gegenstand ihrer Untersuchungen einschliesst oder ob sie sie ausklammert. Die Definition des Gegenstandes einer Wissenschaft, hier also die Konstituierung des Politikbegriffs, ist ein schöpferischer Vorgang, der durch die persönliche Haltung mit geprägt wird161. Der gewählte Politik-Begriff prägt sodann seinerseits die darauf abgestützte Forschung, indem er die Selektion bestimmter Aspekte der sozialen Realität vorweg nimmt und damit die Erkenntnis steuert162. Wird dies einmal eingesehen, hilft es nicht weiter, die wissenschaftliche Konstruktion von Welt normativ auf die funktionalen Kriterien von praktischer Leistungsfähigkeit und Brauchbarkeit zu reduzieren163. Die Mittelebene eines Instrumentalismus gewinnt ihren Sinn erst durch die Zielebene. Jede instrumentelle Logik stützt sich auf die Rationalität der Ziele, deren Legitimität vorausgesetzt werden muss. Auf der Zielebene bleibt der normative Geltungsanspruch jeder Form von Politikwissenschaft bestehen. Politikwissenschaft muss zu ihrer zeitgeschichtlichen Epoche Stellung beziehen. Das tut sie z. B. nach Manfred Mols, indem sie „als Aufklärungswissenschaft, als Emanzipationswissenschaft, als herrschaftskritische Wissenschaft auftritt, auch als radikale Friedenswissenschaft. Macht und Herrschaft, gegebene Entscheidungsprozesse und gegebene Partizipation, die vorfindliche internationale Ordnung und die herrschenden Verteilungsmuster in der Weltwirtschaft sind unermüdlich daraufhin abzuklopfen, ob sie elementaren Kriterien einer guten Ordnung, nachvollziehbaren Formen akzeptabler Legitimation und partizipativer Mündigkeit des Subjekts und einer ebenso elementaren Autonomie der Gruppen und Verbände entsprechen, oder ob nicht vielmehr gewaltige Manipulationsmechanismen in Gang gesetzt und unterhalten werden“164. Wer Politikwissenschaft so versteht, erhebt explizit den normativen Anspruch, einen sinnvollen Beitrag zur Lösung von Problemen im öffentlichen Raum zu leisten. Aber auch wer sein Wissenschaftsverständnis auf die instrumentelle Ebene reduziert, hat damit einen normativ zu rechtfertigenden Entscheid getroffen: Er behauptet nämlich das Gegenteil, nämlich, das seine Wissenschaft keinen Beitrag zur Zielebene leisten solle. Weicht er vom Normativen ins Faktische aus und greift zur Schutzbehauptung, die Wissenschaft könne diesen Beitrag mit ihren Mitteln gar nicht leisten, so behauptet er gleichzeitig, dass sie ohne normative Vorentscheidun-
160
Vgl. Berg-Schlosser / Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft (72003), S. 30 –
33. Berg-Schlosser / Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft (72003), S. 35. Berg-Schlosser / Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft (72003), S. 35. 163 So freilich Berg-Schlosser / Stammen, Einführung in die Politikwissenschaft (72003), S. 35, allerdings mit Hinweis auf die wissenschaftsgeschichtliche Bedingtheit dieses Standpunktes (S. 36 – 39). 164 Mols, Politik als Wissenschaft (52006), S. 56. 161 162
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
gen überhaupt möglich sei. Damit verkennt er aber den kreativen Charakter der Definition von Politik als Gegenstand der Politikwissenschaft. Normative Geltungsansprüche sind auch in dieser Disziplin unentrinnbar. c) Integrative Ansätze Ein hinreichend elaboriertes ganzheitliches Konzept disziplinübergreifender Integration fehlt auch in der Politikwissenschaft. Als Folge ihres internen methodischen Pluralismus ist die Politikwissenschaft freilich auf andere Disziplinen angewiesen und fordert gegenseitigen Respekt und Gleichberechtigung der disziplinären Methoden165. Die Analyse der Beziehungen beschränkt sich aber meist auf das Beschreiben von Berührungspunkten und Überschneidungen mit anderen Disziplinen166. Als eng verbundene Nachbardisziplinen wird v. a. die Geschichtswissenschaft167 anerkannt. Hinzu kommen Philosophie, empirische Sozialforschung, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft168, aber auch etwa die Psychologie169. So erfordert etwa die politische Ideengeschichte einen disziplinübergreifenden Zugang. Trotzdem wird kaum erörtert, welche Ergebnisse, Methoden und Ansätze anderer Disziplinen in den Forschungs- und Lehrbetrieb der Politikwissenschaft zugelassen werden170. Dabei war schon bei der Gründung der Politikwissenschaft als selbständige Disziplin erkannt worden, dass diese sich nicht mit einem engen Fokus auf Strukturen, Prozesse und Ergebnisse der Politik begnügen dürfe, sondern auch alle relevanten Fragestellungen aus den Nachbardisziplinen heranziehen solle171. Politikwissenschaft ist im Grunde selbst eine mehrere Ansätze integrierende Disziplin. Mols formuliert es so: „Weil Politik im Kern auf die verbindliche Gestaltung menschlichen Zusammenlebens abhebt, reichen die Einflüsse, die Normsetzung, die aus der Politik kommenden Möglichkeiten und Zwänge erkennbar in fast alle Lebensverhältnisse hinein, und daher kann man umgekehrt das Wirtschaftliche, das Juristische, Gesellschaftliche usw. kaum vom Politischen trennen“172. Er schliesst daraus auf gleitende Übergänge zwischen politikwissenschaftlichem und historischem, soziologischem, wirtschaftswissenschaftlichem Denken173. 165 166
Bellers / Kipke, Einführung in die Politikwissenschaft (1993), S. 234 – 241. Ausführlich z. B. Bellers / Kipke, Einführung in die Politikwissenschaft (1993), S. 242 –
284. 167 Dazu insb. die Beiträge im Abschnitt „History Matters“ in Goodin / Tilly, The Oxford Handbook of Contextual Political Analysis (2006), S. 415 – 505. 168 Mols, Politik als Wissenschaft (52006), S. 60 – 62. 169 Dazu insb. die Beiträge im Abschnitt „Psychology Matters“ in Goodin / Tilly, The Oxford Handbook of Contextual Political Analysis (2006), S. 129 – 224. 170 Mohr, Politische Ideengeschichte (1995), S. 155. 171 Göhler, Theorie als Erfahrung (2007), S. 94. 172 Mols, Politik als Wissenschaft (52006), S. 53.
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Damit stellt sich das Problem der Dominanz der einen oder der andern Denkweise: Wo das Wissen benachbarter Disziplinen einfach in die politikwissenschaftliche Darstellung übernommen wird, besteht die Gefahr, dass der originäre Beitrag der Politikwissenschaft unterschlagen wird174. Besonders eng ist dabei das Verhältnis von Politikwissenschaft und Ökonomie. Die Ökonomik bestimmt zunehmend die Methoden der Politikwissenschaft, insbesondere mit dem Ansatz der „Neuen Politischen Ökonomie“175. Der Geltungsanspruch dieses Ansatzes im Bereich anderer Disziplinen hat ihm denn auch den (umstrittenen) Vorwurf des „ökonomischen Imperialismus“ eingebracht176. Daneben gibt es allerdings auch Ansätze einer pluralistischen „Interdisziplinarität“ innerhalb der Politikwissenschaft. Die Repräsentanten der verschiedenen Denkströmungen müssen zwangsläufig akzeptieren, dass Politikwissenschaft auch von den Vertretern anderer Strömungen in Forschung und Lehre praktiziert wird.177 Insgesamt wird das wissenschaftstheoretische Verhältnis der Politikwissenschaft zu den Nachbardisziplinen allerdings nur oberflächlich reflektiert.
5. Rechtswissenschaft a) Logiken Ebenso wenig, wie sich alle bisher betrachteten Disziplinen durch eine einheitliche Logik charakterisieren lassen, gibt es auch „den“ juristischen Diskurs und „die“ Rechtswissenschaft. Wie überall herrscht auch in der Rechtswissenschaft Uneinigkeit. Wie jede wissenschaftliche Disziplin ist deshalb auch die Rechtswissenschaft zunächst einmal als ein Streitfeld zu betrachten, auf dem über die Gültigkeit von Konzepten, Konzeptionen und Theorien gestritten und um deren Geltung gerungen wird. Es folgt hier daher ein typologischer Überblick über in der Rechtswissenschaft vertretene Positionen. Es gilt wieder, die in der Disziplin vertreten Haupttypen an Logiken zu charakterisieren. Vorab gilt es allerdings noch zu klären, was es eigentlich heisst, sich in der „Rechtswissenschaft“ umzusehen bzw. den verschiedenen Lesarten des „juristischen Diskurses“ nachzugehen. Vor aller strittigen Auseinandersetzung bedarf es einer Vorklärung der Frage, auf die eine Antwort gesucht wird. Bei aller juristischen Uneinigkeit wird man wohl voraussetzen dürfen, dass die hauptsächlichste Frage in der Rechtswissenschaft darin besteht, wie normative Kontroversen über Rechte und Mols, Politik als Wissenschaft (52006), S. 53. Nassmacher, Politikwissenschaft (52004), S. 137. 175 Zum dogmengeschichtlichen Kontext dieses Ansatzes vgl. Kirsch, Neue Politische Ökonomie (52004), S. 9 – 14. 176 Hierzu bereits die Hinweise in Fn. 122. 177 Pelinka, Grundzüge der Politikwissenschaft (22004), S. 17. 173 174
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
Pflichten von Personen oder Personengruppen unter Beachtung rechtlicher Vorgaben im konkreten Konfliktfall zu entscheiden sind. Wir setzen dabei eine demokratisch-rechtsstaatliche Grundordnung voraus. Im begrenzten Rahmen dieser Übersicht lassen sich die verschiedenen typischen in der Rechtswissenschaft vertretenen Logiken vereinfacht in diejenigen von Skeptikern, Technikern und Praktikern einteilen. Skeptiker beantworten die Frage, wie zwischenmenschliche Konflikte unter rechtlichen Vorgaben vernünftig gelöst werden können, skeptisch und ziehen die Möglichkeit einer entsprechend vernünftigen Antwort letztlich ganz in Zweifel. Anders die Techniker, die heute wohl die dominante Mehrheit der Rechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler stellen. Die technischen Ansätze halten den skeptischen das geltende Recht entgegen und vertreten die Ansicht, dass dieses doch die Antworten auf die Fragen nach der richtigen Verteilung von Rechten und Pflichten gebe. Sie sehen die Aufgabe der Rechtswissenschaft demnach darin, diese vorgegebenen Antworten mit geeigneten Techniken herauszufinden und anzuwenden. Die Praktiker schliesslich krempeln die Ärmel noch einen Bund höher. Sie anerkennen das geltende Recht zwar als Entscheidungsgrundlage, sehen aber auch, dass die geltenden Rechtsbestimmungen für sich genommen noch keine Antworten geben. Vielmehr müsse das Recht von den Entscheidungstragenden in Arbeit genommen und verantwortlich konkretisiert werden. Im Folgenden werden (1) die skeptische, (2) die technische und (3) die praktische Logik anhand einiger typischer Beispiele illustriert. (1) Aufseiten der Skeptiker lässt sich etwa der v. a. in Skandinavien178 und in Amerika179 wirkungsvolle Rechtsrealismus180 anführen.181 Wie bei allen Skeptikern läuft das Konzept des Rechtsrealismus auf eine Fundamentalkritik des Glaubens an Normativität hinaus. Insofern normative Aussagen danach einem wahrheitsunfähigen, mithin wissenschaftlich nicht zugänglichen Bereich zugeschrieben werden müssten,182 bleibt das Recht als blosse Tatsache zurück.183 Im wissenschaftskritischen Blick des Rechtsrealismus kann Recht somit nur noch als sozial-psychisches Naturphänomen von einer Aussensicht her beschrieben werden: „Gesetze und Urteile sind“ für die Realisten „soziale Fakten, welche eine bestimmte Wahrschein178 Dazu Vogel, Der skandinavische Rechtsrealismus (1972); von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 115 – 119. 179 Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism, (1967); zu ausgewählten Autoren neuerlich Rea-Frauchiger, Der amerikanische Rechtsrealismus (2006). Hinzuweisen ist auf die v. a. in der angloamerikanischen Rechtswissenschaft uneinheitliche Verwendung von „Realismus“. Der hier dargestellte Rechtsrealismus deckt sich etwa nicht in jeder Hinsicht mit der amerikanischen Kontroverse zwischen Realisten und Anti-Realisten, die eher an die Gegenüberstellung von objektiver und subjektiver Lehre erinnert. Dazu Christensen, Wahres Recht? – Das Recht wahren (1999), insb. S. 96 – 103. 180 Dazu allgemein Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 704 – 714. 181 Vgl. Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 52 – 54 / 59 – 61, m. w. H. 182 Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 706. 183 Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 704.
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lichkeit schaffen, dass künftige Entscheidungen der zuständigen Behörden in bestimmter Richtung ausfallen werden. […] Ob diese Wahrscheinlichkeit zutrifft, hängt von soziologisch und psychologisch analysierbaren Faktoren ab. Eine Norm gilt dann, wenn sie tatsächlich angewendet wird (soziologische Komponente) und der Richter das Gefühl hat, an die Norm gebunden zu sein (psychologische Komponente).“184 Der Rechtsrealismus folgt damit einem bestimmten, nämlich an die Naturwissenschaften angelehnten Wissenschaftsideal, das rigoros zwischen Normativität und Faktizität trennt und sämtlichen normativen Anmassungen die wissenschaftliche Qualität abspricht.185 Der Rechtsrealismus sieht keine Möglichkeit, der normativen Unentscheidbarkeit juristischer Entscheidungen eine normative Alternative entgegenzusetzen. Normativität ist für den Rechtsrealismus eine schlicht verfehlte Kategorie. Was deshalb bleibt, ist der Rückzug in die seiner Meinung nach allein wissenschaftlich wahrheitsfähige Welt der Deskription. Das Recht lässt sich so lediglich als Sozialtechnologie beobachten und beschreiben.186 Rechtliche Normen werden nur noch für „Tatbestände sozialer Steuerung“187 genommen. Kriterien für die Steuerung und Kontrolle sozialer Geschehnisse sind aus einer konsequenten rechtsrealistischen Warte nicht in Sicht, da diese wiederum aus dem unwissenschaftlichen188 Bereich des Normativen importiert werden müssten. Die sozialtechnologische Betrachtungsweise bleibt damit eine konstative und im Verhältnis zur Hoffnung auf juristische Richtigkeit resignativ. In seiner idealtypischen Form kann sich der Rechtsrealismus lediglich in der Lage sehen, die überzogenen normativen Unterstellungen der Rechtswissenschaft zu problematisieren und zu bestreiten. Als konstruktiver Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Debatte kann nur die von ihm vertretene wissenschaftskritische Aufklärung gewertet werden.189 Nicht selten wird Skeptizismus von Dezisionismus begleitet. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Position von Carl Schmitt dar.190 Auch bei Schmitt191 findet sich
Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 704. 185 Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 706 – 709. Zur systemtheoretischen Stützung dieser Haltung Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 76 – 81, m. w. H. Ebd., S. 81 – 87, auch die Argumente für die Unhaltbarkeit dieser systemtheoretischen Schliessung des Rechtssystems. 186 Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 705 – 711. 187 Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 706, m. w. N. 188 Vgl. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft (1932 – 1936). 189 Schickt sich eine rechtsrealistische Konzeption dagegen an, die unzulänglich entscheidbare Urteilssituation zur Erfüllung bestimmter Ziele sozialtechnologisch-strategisch selbst zu manipulieren, so verlässt sie den Boden eines konsequenten Realismus und rutscht zu einem dezisionistischen Skeptizismus durch. In diesem Kontext etwa zum amerikanischen Instrumentalismus Summers, Instrumentalism and American Legal Theory (1982); Abgrenzung zum Rechtsrealismus insb. ebd., S. 36 f. 190 Vgl. hierzu Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 56 – 58 / 59 – 61, m. w. H. 184
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zunächst eine skeptische Kritik an falschen Vorstellungen von der Begründungsfähigkeit juristischer Entscheidungen.192 Er meint: „Die Vorstellung von der ‚Gesetzmäßigkeit‘ aller Entscheidungen kann heute als überwunden bezeichnet werden.“193 Anstatt jedoch wie der Rechtsrealismus in normativer Resignation zu verharren, entscheidet sich Schmitt für die Flucht nach vorn und erhebt die Entscheidung selbst zur zentralen Grösse: Die Dezision wird zur Grundlage der Normativität und das Verhältnis von Entscheidung und Begründung verkehrt: „Von dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung. Es wird nicht mit Hilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist.“194 Mit dieser Umkehrung des Verhältnisses von Entscheidung und Begründung und der „Nichtsgeborenheit“ von Normativität wird dem Entscheidungsprozess jede Möglichkeit rationaler rechtlicher Zurechnung genommen. Im Dezisionismus Schmitts wird das Juristische somit seines Wesens als rechtliche Gebundenheit in toto entledigt.195 191 Die wichtigsten juristisch-methodischen Stellungnahmen Schmitts finden sich in Schmitt, Politische Theologie (21934; ders., Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens (1934); und ders., Gesetz und Urteil (21969), m. w. H. auf S. V; dessen Verfassungstheorie als Gesamtkonzeption in ders., Verfassungslehre (1928). Zum Dezisionismus Schmitts Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 29 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 189 f., Rz. 192 / S. 241 – 243, Rz. 260 – 264 / S. 395 – 398, Rz. 422 – 424; Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 28 / 112 f. / 128; Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 256 f., Fn. 19; eingebettet in eine Auseinandersetzung mit der (philosophischen) Postmoderne Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 98. Zu Schmitts Verfassungstheorie ferner Hofmann, Legitimität gegen Legalität (31995); Meier, Die Lehre Carl Schmitts (22004); als Überblick Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 52 f., Kasten; von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 160 – 168. 192 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969), S. 1 – 45; vgl. auch Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), insb. S. 29 – 40. 193 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969), S. 11, m. w. H. 194 Schmitt, Politische Theologie (21934), S. 42 f. Diese „Normen“theorie wird auch auf die Rechtsordnung als ganze ausgeweitet: „Denn jede Ordnung beruht auf einer Entscheidung […]. Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm.“: Schmitt, Politische Theologie (21934), S. 16. 195 In den Augen Schmitts liegen die Dinge freilich anders: „Der Richter soll nicht legibus solutus werden; aber es wird ein brauchbareres Kriterium gesucht als die ‚Gesetzmäßigkeit‘.“: Schmitt, Gesetz und Urteil (21969), S. 44. Das massgebliche Kriterium findet er dann in der Formel „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ‚Ein anderer Richter‘ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen.“: ebd., S. 71. Was Schmitt in diesem Zusammenhang unter einem „modernen rechtsgelehrten Juristen“ versteht, zeichnet sich etwa ab in Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), S. 65: „Erst nach diesem kurz zusammenfassenden Überblick über die gegenwärtige Lage der deutschen Rechtswissenschaft kann die tiefe und entscheidende Bedeutung des neuen Begriffs vom Juristen erkannt werden, den die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland eingeführt hat. […]
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(2) Dem Pessimismus der Skeptiker steht der Optimismus der Techniker gegenüber, der in Theorie wie Praxis des Rechts heute immer noch dominiert.196 Charakteristisches Erkennungsmerkmal der Techniker ist die (bewusste oder unbewusste) Auffassung, dass die Rechtsnorm dem Rechtsfall als ontische Normativgrösse, als lex ante casum, bereits vorgegeben sei.197 Über dieses Thema lassen sich verschiedene Varianten durchspielen. In der einfachsten Variante fügen sich die Rechtsnormen in ein sinnvoll vorgefertigtes System von Rechtsbegriffen ein, durch das sie den zu entscheidenden Fällen in eindeutiger Weise zugewiesen werden können.198 Die Arbeitsbeschreibung rechtlichen Entscheidens wird dadurch gänzlich durch einen subsumtionslogischen Justizsyllogismus definiert, nach dem die entscheidende Person nichts weiter tun muss, als den zu entscheidenden Rechtsfall unter den passenden gesetzlichen Obersatz zu stellen und die entsprechende Rechtsfolge logisch abzuleiten. Damit rückt das Handeln der urteilenden Person vollkommen in den Hintergrund. „Das Recht ist in den Begriffen des Gesetzes eindeutig vorgegeben, ohne die Notwendigkeit von Wertungen kann es der Richter anwenden, wobei er die unpersönliche Einstellung eines Subsumtionsautomaten aufweist.“199 Diese einfache technische Variante versagt freilich, sobald die Eindeutigkeit von Gesetzestexten fraglich wird. Bereits in der einfachen Variante müssen deshalb Ausnahmen von der eindeutigen Zuordnungslogik zwischen Rechtsnorm und Fall einDem neuen ständischen Gebilde der deutschen Juristen soll jeder deutsche Volksgenosse angehören, der sich in seiner beruflichen Arbeit mit der Anwendung oder Weiterbildung des deutschen Rechts im öffentlichen Leben, in Staat, Wirtschaft und Selbstverwaltung, befasst und der auf solche Weise im deutschen Rechtsleben verwurzelt ist. Auf diesen neuen Begriffen von Recht, Jurist und Rechtsstand beruht soweit der Nationalsozialistische Deutsche Juristenbund, also der im besonderen Sinne mit dem deutschen Recht befasste Teil der nationalsozialistischen Bewegung, wie auch die im Herbst 1933 gegründete Akademie für Deutsches Recht.“ Tatsächlich bedeutet das die Perversion des rechtlich gebundenen Demokratieprozesses zu einer rechtsgelösten, rassisch-ideologisch gleichgeschalteten Zwangsordnung. 196 Vgl. hierzu Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 38 – 42 / 42 – 50. 197 Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 472 f., Rz. 471, u. ö.; bereits Müller, ‚Richterrecht‘ (1986), S. 47. Zur Verdinglichung des Rechts Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 106, Rz. 83. Mit der These von der Vorgegebenheit der Norm unmittelbar verbunden ist die These der Identität von Normtext und Norm: „Der Kern des positivistischen Missverständnisses liegt in der unausgesprochenen Voraussetzung, dass die Rechtsnorm mit ihrem Wortlaut identisch sei.“: ebd., S. 235, Rz. 249. 198 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 70 f., m. w. H.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 105, Rz. 81 f. Zur Begriffsjurisprudenz ferner Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie (82011), S. 116 – 118. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund des klassischen Gesetzespositivismus und der damit verbundenen Ausblendung des Wirklichkeitsbezugs rechtswissenschaftlicher Praxis Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 104 – 107, Rz. 79 – 84; und grundsätzlich Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994). 199 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 71; vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 472, Rz. 471; vgl. ebd., S. 256, Rz. 282. Zur Idee des Richters als Subsumtionsautomat und zur Relativierung dieses absoluten Bildes in historischer Analyse Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? (1986).
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geräumt werden,200 immer dann etwa, wenn das Gesetz mit sog. unbestimmten Rechtsbegriffen, Ermessensbegriffen oder wertausfüllungsbedürftigen Begriffen201 o. ä. operiert.202 Solche Probleme in den Blick genommen, kann eine weitere technische Variante typisiert werden, in welcher man der gesetzlichen Uneindeutigkeiten mit methodischen Mitteln Herr zu werden versucht.203 Auf das Subsumtionsmodell folgt dann das Auslegungsmodell.204 Die Vorstellung von der der Rechtsarbeit vorgegebenen Norm bleibt dabei bestehen: „Der ‚Rechtsanwender‘ legt nur aus, was vorher im Text schon enthalten war. Die Bedeutungssubstanz steht unabhängig vom juristischen Handeln fest und muss höchstens noch etwas präzisiert oder ergänzt werden. Die Logik der Metapher [der Auslegung] setzt voraus, dass schon der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Textformular die Rechtsnorm als textuelle Bedeutung enthält. Zwischen Textformular und Textbedeutung, zwischen Zeichen und Bedeutung besteht eine einzige notwendige Verknüpfung, die der ‚Rechtsanwender‘ heraus-finden oder eben aus-legen muss.“205 Juristische Methodenlehre wird damit zu einer Erkenntnislehre.206 Die juristische Methodik in der Hand der Techniker ist als Instrument zu deuten, das die Entscheidungstragenden in die Lage versetzt, den wahren Sinn des Gesetzes im bestimmten Fall zu erkennen. In Anschlag gebracht werden dafür bekanntlich die seit Carl Friedrich von Savigny als klassisch gehandelten Auslegungsweisen:207 die grammatische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung.208
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Im Grunde handelt es sich schon dabei um eine Erweiterung des einfachen Technizis-
mus. Dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 109, Rz. 86. Zum Problem der Generalklauseln Müller, ‚Richterrecht‘ (1986), S. 84 – 88. 202 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 70 f. Kritische Hinweise zur weiteren Entwicklung des klassischen Legalismus durch die Interessenjurisprudenz und die Typus-Lehre ebd., S. 71 – 77. 203 Vgl. Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 86. 204 Vgl. Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 88 – 108. 205 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 87. 206 Stellvertretend für das entsprechende wissenschaftstheoretische Hintergrundkonzept vgl. Rüthers, Rechtstheorie (42008), S. 186 – 216, Rz. 280 – 331, insb. S. 192 f. / 196 f., Rz. 289 f. / 292 f. 207 Zum differenziert zu betrachtenden Ursprung der Methodenelemente bei Savigny Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 112 – 116, Rz. 90 – 94. 208 Bei Savigny das logische, grammatische, historische und systematische Auslegungselement: von Savigny, Juristische Methodenlehre (1951), S. 18 / 19 / 32; von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I (1840), S. 212 ff. Die Referenz auf den Gesetzeszweck, das teleologische Element, wird (mit Zurückhaltung) erst in der Spätschrift befürwortet: Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I (1840), S. 220. Dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 114 – 116, Rz. 92 – 94. Synoptisch zur gängigen Auslegungslehre Röhl, Allgemeine Rechtslehre (22001), S. 596 – 610; Rüthers, Rechtstheorie (42008), Rz. 717 – 795; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 320 – 339. 201
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Soweit juristische Methodenlehre als Erkenntnislehre, als Lehre davon, wie die vorgegebene lex ante casum aufgedeckt werden kann, verstanden wird, wird die technische Grundposition nicht verändert. Die methodische Variante unterscheidet sich von der einfachen Variante lediglich dadurch, dass sie das Erkenntnisproblem differenziert und ein komplizierteres methodisches Instrumentarium bereithält. An der Ontologie der vorgegebenen Rechtsnorm wird weiterhin festgehalten, die rechtsurteilende Person bleibt „Mund des sprechenden Textes“209. Unterscheiden lässt sich die technisch-methodische Auslegungslehre noch danach, ob sie eher den (subjektiven) Willen des Gesetzgebers oder den (objektiven) Willen des Gesetzes zum leitenden Erkenntnismotiv der Gesetzesauslegung kürt.210 Die subjektive Variante211 will die Auslegung des Gesetzes am gesetzgeberischen Willen festmachen, den es demzufolge als historische Tatsache zu erkunden gelte, und weshalb einer historischen Auslegung der Vorzug zu geben sei.212 Die objektive Variante213 hebt dagegen hervor, dass der Gesetzestext mit seiner Verabschiedung eine eigene Objektivität erhalte, die sich durch den amtlichen Erlass vom gesetzgeberischen Willen distanziere, dadurch aber einen nicht minder vernünftigen Sinn als denjenigen in sich trage, den ihm der Gesetzgeber einst gab. Diesen Sinn gelte es, durch Auslegung zu ermitteln. Einen vorzugswürdigen Erkenntniszugang erlaube
Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989). Insofern indiziert die Stellungnahme für eine subjektive oder objektive Auslegungslehre eine technische Grundhaltung. Zum „seit Menschen- und Juristengedenken ohne sichtbaren Fortschritt in der Sache“ stattfindenden Kampf zwischen subjektiver und objektiver Auslegungslehre Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 458 – 460, Rz. 442 – 445, m. w. H.; sprachtheoretisch-kritisch Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 88 – 108; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 28 – 35. Auch durch das (nominelle) Bekenntnis des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur objektiven Lehre ist der Streit nicht entschieden – die gerichtliche Praxis ist in dieser Hinsicht keineswegs konsequent: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 45 f., Rz. 27, m. w. H. 211 Prominente Vertreter der subjektiven Lehre sind u. a. Windscheid, Enneccerus, Heck und Nawiasky. Dazu die Nachweise in Engisch, Einführung in das juristische Denken (81983), S. 88 f. In jüngerer Zeit etwa Jürgen Rödig: Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (1973), S. 277 – 300. 212 Systematisch und m. w. H. eingehend zur subjektiven Lehre Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 89 – 100; prägnant Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 28 f. 213 Prominente Vertreter der objektiven Lehre sind u. a. Binding, Wach und Kohler. Dazu die Nachweise in Engisch, Einführung in das juristische Denken (81983), S. 89. Zur objektiven Lehre zählen lassen sich zudem Gustav Radbruch und, auch wenn sich selbst einer „Vereinigungstheorie“ zurechnend, Karl Larenz: Radbruch, Rechtsphilosophie (81973), S. 206: „Rechtswissenschaft ist Wissenschaft vom objektiven Sinn, nicht vom subjektiven Sinn des Rechts.“; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 204: „Das Verstehen sprachlicher Äußerungen geschieht nun entweder unreflektiert, durch das unmittelbare Innewerden des Sinns der Äußerung, oder in reflektierter Weise, durch Auslegen. […] ‚Auslegen‘ ist ein vermittelndes Tun durch das sich der Auslegende den Sinn eines Textes, der ihm problematisch geworden ist, zum Verständnis bringt.“ Der Hinweis auf die Vereinigungstheorie m. w. H. ebd., S. 318, Fn. 15. 209 210
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
nach der objektiven Lehre dabei v. a. die teleologische Auslegung.214 In letzter Konsequenz verweist der so vom tatsächlichen Willen des Gesetzgebers gelöste Zugang zum Gesetzessinn auf den objektiven Geist einer auktorial sublimierten Rechtsidee.215 In diesen drei Stadien (einfache – methodische – subjektive und objektive Variante) lässt sich die technische Logik in unterschiedlichen Ansätzen im Grunde beliebig modifizieren.216 Was sich in den Stadien ändert, ist lediglich der theoretische Aufwand, der zur Aufrechterhaltung der positivistischen Grundthese betrieben wird. Die Vorstellung einer der Rechtserkenntnis vorgegebenen und aufzuspürenden Norm bleibt jedoch konstant. Abgerundet werden die drei Stadien der Rechtserkenntnis überdies durch eine – durch je unterschiedliche Grenzverläufe gekennzeichnete – Zwei-Welten-Doktrin217, welche die Tätigkeit der entscheidenden Personen in einen Auslegungsbereich und einen Bereich der Rechtsfortbildung spaltet: Solange sich die Auslegung unproblematisch im Rahmen technischer Rechtserkenntnis bewege – in der einfachen Variante ist er enger, in den anderen Varianten weiter –, könne die juristische Entscheidung als Subsumtion oder als durch Auslegung vermittelte Subsumtion betrachtet werden. Sofern dieser Rahmen jedoch gesprengt werde, in der technischen Sicht also immer dann, wenn die entscheidende Person nicht mehr nur das Gesetzte nachvollziehe, sondern selbst schöpferisch agiere, handele es sich um Rechtsfortbildung, um sog. Richterrecht218.219 So können schliesslich auch die letzten verbleibenden Lücken des positiven Rechts220 geschlossen werden, in diesem Fall nicht mehr durchs Gesetz, denn dieses ist ja gerade lückenhaft, sondern im Wege der schöpferischen Tätigkeit der entscheidenden Person.221 214 Dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 458, Rz. 442, insb. Fn. 856, m. w. H. eingehend Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 100 – 105; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 31 – 35. 215 In dieser Konsequenz etwa vertreten von Radbruch und Larenz: Radbruch, Rechtsphilosophie (81973), S. 212 – 214, insb. S. 213 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 333. 216 Die differenzierteste Darstellung findet sich wohl bei Ralph Christensen in Auseinandersetzung mit der Gesetzesbindungsproblematik: Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 66 – 181; ders., Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 48 – 72. 217 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 251. 218 Eingehend kritisch dazu Müller, ‚Richterrecht‘ (1986). 219 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 250 f.; vgl. Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 51 f. Weil sich die Zwei-Welten-Spaltung nicht nur auf das Problem der Rechtserkenntnis als solches, sondern daran anschließend auch auf den Gegenstand der Rechtsauslegung bezieht, spricht Christensen auch von einer „Verdopplung des Erkenntnisgegenstands“: Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 5. 220 Stellvertretend Rüthers, Rechtstheorie (42008), Rz. 822 – 935. 221 In aller Regel wird dann ein „zweiter Code hinter dem Gesetz“ zur Begründung herangezogen: Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 5. Gängige Re-
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(3) Die Praktiker stossen sich an der positivistischen Grundannahme der Techniker, es gäbe so etwas wie eine im Vorhinein verfügbare Rechtsnorm (die lex ante casum). Sie vertreten die Gegenthese, dass Recht in jeder Entscheidung jeweils erst praktisch herzustellen sei, und nicht erst in den Fällen sog. Lückenfüllung und Rechtsfortbildung. Den Unkenrufen der Skeptiker zum Trotz halten sie ausserdem dafür, dass eine demokratisch-rechtsstaatliche juristische Methodik gleichwohl möglich und geboten sei. Paradigmatisch für diese Position steht die von Friedrich Müller begründete Strukturierende Rechtslehre.222 Die Strukturierende Rechtslehre führt sowohl gegen die technischen als auch gegen die skeptischen Positionen insbesondere normen- und sprachtheoretische Argumente ins Feld.223 Den Kern der Argumentation bildet eine tiefgehende normentheoretische Analyse, in der die Rechtsnorm als „sachbestimmtes Ordnungsmodell“ erläutert wird224. Die Umschreibung einer Rechtsnorm als sachbestimmtes Ordnungsmodell wird dabei mithilfe der Begriffe Normprogramm und Normbereich differenziert: Eine Rechtsnorm sei nicht reines „Sollen“. Erst durch den „Normbereich“225 lasse sich der Rechtsnorm der sachliche, faktische Gehalt zuschreiben, den sie normativ steuern soll. Eine Rechtsnorm sei aber auch nicht reines „Sein“. Ausgewählt werde der Normbereich anhand des „Normprogramms“226, des sprachlich, nach den Regeln der Kunst interpretativ aufbereiteten Wortlauts des einschlägigen geltenden Gesetzestexts. Das Normprogramm trete jedoch neben den Normbereich, der die Rechtsnorm ebenso wie jenes mitpräge. Diese scheinbar einfache Analyse sei folgenreich. Denn „[i]st der Normbereich theoretisch ein Bestandteil der Norm, dann kann diese nicht mit ihrem Normtext gleichgesetzt werden.“227 Die Strukturierung ferenzgrössen bilden dabei etwa der Urteilenden als verfügbar unterstellte Rationalität, Wertvorstellungen oder die Rechtsidee. Dazu Müller, ‚Richterrecht‘ (1986), S. 104 / 124 f., m. w. N. Etwa Gerechtigkeit, nötigenfalls „nach seinem eigenen Rechtsgefühl, seinen persönlichen Zweckmässigkeitsvorstellungen oder auch in einem rechtsethischen Wagnis“ einfordernd Zippelius, Juristische Methodenlehre, (102006), S. 82 – 84, Zitat auf S. 84. 222 Hierzu Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 32 – 75, m. w. H., insb. S. 33 – 35 / 59 – 75. Zur Position der Praktiker hinzuzählen würden sich wohl auch die meisten der Law and Economics-Vertreter. Auch diese betonen die Notwendigkeit, die „Rechtswissenschaft als eine Entscheidungswissenschaft“ zu begreifen, in der Wahlentscheidungen zu treffen seien: z. B. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 30. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Anzumerken ist nur, dass die normative Begründung ökonomischer Rechtstheorie einige Fragwürdigkeiten mit sich bringt. 223 Vgl. Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 42 – 50 / 59 – 75. Die sprachtheoretischen Argumente können hier nur angedeutet werden; dazu ebd., insb. S. 47 f., m. w. H. 224 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 168 – 174; vgl. auch ebd., S. 77 – 93 / 168 – 174. 225 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 184 – 200 / 238 f. / 251 f. / 323 – 362, insb. 332 – 349, u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 16 / S. 217 – 228, Rz. 230 – 238, insb. S. 222 – 228, Rz. 235 – 238. 226 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 184 – 200 / 236 f. / 251 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 16, u. ö. 227 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
der Rechtsnorm auf der Achse Normtext / Wirklichkeit228 führe also auch zu einer differenzierten Strukturierung der Achse Normtext / Fall229. Die Herstellung einer Rechtsnorm sei folglich auf eine konstruktive Konkretisierungstätigkeit230 von Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeitern angewiesen. Normtext231 und Norm232 seien also zu unterscheiden,233 und mit dem Dahinfallen der Identität von Normtext und Norm sei auch die Vorstellung von einer dem Rechtsurteil „vor-findlichen“ Rechtsnorm aufzugeben. Was die Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeiter aus den Händen der Legislative erhielten, seien nicht fixfertige Normen, sondern Gesetzestexte bzw. Normtexte.234 Aus der Grundanalyse der Normstruktur werde auch die „Textstruktur“ des demokratischen Rechtsstaats235 erkennbar. In dessen Rahmen sei Gesetzesbindung nicht als eine Bindung an wie auch immer durch den Gesetzgeber „vor-gegebene“ Normen zu verstehen, sondern als eine Bindung an die von diesem gesetzten Gesetzestexte.236 In der demokratisch-rechtsstaatlich legitimen Rechtsarbeit gehe es daher um die methodisch korrekte Zurechnung von Rechtsurteilen zu diesen Texten.237 Juristische Arbeit wird in der Strukturierenden Rechtslehre folgerichtig als Textarbeit238 und als institutionell eingebettete „Arbeit mit Texten“239 bezeichnet. Den legislativ erlassenen Normtexten komme dabei nicht schon Bedeutung, auch nicht Normativität zu. Was diese auszeichne, sei vorerst nur ihre Bedeutsamkeit, für die rechtskonkretisierenden Personen seien sie von Bedeutung.240 Sofern sie in demo228 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 525, Rz. 550. Zu den beiden Strukturachsen der Rechtsnorm auch Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 166, mit den Hinweisen schon auf Müller, ‚Richterrecht‘ (1986). 229 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 524, Rz. 549. 230 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 184 – 200 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 14 / S. 250 – 259, Rz. 274 – 288, u. ö. 231 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147 – 167; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 15, u. ö. 232 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147 – 174. 233 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147 und durchgehend, insb. S. 147 – 174 / 234 – 240; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 36, Rz. 13, und durchgehend. 234 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264 / 270; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 237 – 240. 235 Hierzu Müller, Juristische Methodik und Politisches System (1976), S. 95 – 98; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 237 – 251; Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 99 – 171, insb. ab S. 116; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 210 – 214, Rz. 219 – 224. Ebd., S. 211, Rz. 221: „Der demokratische Rechtsstaat ‚hat‘ nicht, er ‚ist‘ eine Textstruktur.“ 236 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), insb. S. 290 f. 237 Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 166 f. 238 Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 37 – 97. 239 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 34 – 37, Rz. 7 – 13, insb. S. 35 f., Rz. 11, m. w. H., in Abgrenzung zu „Verstehen“ und „Interpretieren“.
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kratisch-rechtsstaatlich korrektem Verfahren in Kraft gesetzt worden seien, gälten diese Texte,241 bildeten sie in ihrer Gesamtheit die Menge des jeweils geltenden Rechts242. Normativität243 wird in der Strukturierenden Rechtslehre nicht als vorhandene Eigenschaft, sondern konsequent als Vorgang begriffen,244 in dem Sinn, dass sie im Konkretisierungsprozess erst zu erarbeiten sei. Gleichermassen erhalte der einschlägige Normtext auch erst durch die Konkretisierungsarbeit eine Bedeutung. Die Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeiter schrieben sie ihm in einem komplexen Semantisierungsvorgang245 erst zu, weshalb sich die juristische Tätigkeit mit der Strukturierenden Rechtslehre auch als semantische Praxis246 beschreiben lasse. In dieser Praxis legten jedoch die jeweils Entscheidenden selbst Hand an die Texte. Was die lex in casu bedeute, wie die Rechtsnorm im jeweiligen Fall laute, lasse sich nicht mehr auf eine scheinbar vorgegebene Bedeutung oder Normativität abschieben, sondern stehe in der Verantwortung derjenigen, die sie kreieren. Diese Argumentation der Strukturierenden Rechtslehre richtet sich interessanterweise nicht nur gegen die Techniker, sondern auch gegen die Skeptiker. Auch diese liessen die positivistische Grundaporie der angeblich vorgegebenen Rechtsnorm nämlich keineswegs hinter sich.247 Für die Einlösung juristischer Legitimität erwarteten sie weiterhin eine eindeutig nachvollziehbare Gesetzesnorm. Dass die skeptische Rechtslehre nicht in der Lage sei, eine im argumentativen Rechtsprozess selbst liegende Rationalität zu explizieren und damit eine aussichtsreiche Konzeption juristischer Richtigkeit zu formulieren, liege, so die Strukturierende Rechtslehre, „an den Mängeln und der Oberflächlichkeit ihrer Positivismuskritik. Die bloße Ideologiekritik lässt den Kern der positivistischen Rechtsnormtheorie als weiterwirkende Grundlage auch in dieser Theorie bestehen. Danach ist eine konkrete Entscheidung nur denkbar als aus dem Gesetzestext abgeleitet, in welchem sie substanMüller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 184 – 187, Rz. 185 – 190. 241 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 258; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 38 f., Rz. 17 f. / S. 471, Rz. 469. 242 Zu verstehen als Zugeständnis an den verbreiteten Sprachgebrauch, verstanden aber als die Menge der in Geltung stehenden Normtexte: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 38, Rz. 17 / S. 281, Fn. 237 / S. 471, Rz. 469. 243 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 17 / 256 – 263. Hinzuweisen ist auch auf die Unterscheidung der Strukturierenden Rechtslehre zwischen Normativität und Präskriptivität: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 520, Rz. 541. Dieser wird hier nicht gefolgt. Insofern die Unterscheidung aber nicht die dynamische Struktur der Größen berührt, ist dies im hier interessierenden Problembereich unerheblich. 244 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 17 und durchgehend; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 214 – 217, Rz. 225 – 229 / S. 253, Rz. 278, und durchgehend. 245 Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 166, Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 208, Rz. 214 / S. 494, Rz. 506. 246 Christensen, Was heisst Gesetzesbindung? (1989), S. 233; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 147 f., Rz. 141, und durchgehend. 247 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 251, Rz. 274, u. ö. 240
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ziell schon enthalten war.“248 Mit ihrer Infragestellung der herkömmlichen (technischen) Rechtsauffassung kehrten die Skeptiker lediglich die Vorzeichen um,249 ohne dem Kritisierten jedoch auf den Grund zu gehen.250 „Aber mit dem positivistischen Rechtsnormmodell fällt für sie auch gleichzeitig jede Möglichkeit weg, das Problem der Gesetzesbindung noch einzulösen. An diese Stelle tritt eine Analyse des juristischen Diskurses, welche allerdings ihren Gegenstand dadurch verkürzt, dass sie gerade das an den Rechtsstaat gebundene machtkritische Moment ausblendet.“251 Demgegenüber bietet die praktisch orientierte Strukturierende Rechtslehre auf der Grundlage der genannten Normkonstruktionsanalyse eine solche demokratischrechtsstaatlich rückgebundene juristische Methodik an, in der, sprachkritisch reflektiert, auch die klassischen Auslegungselemente Platz haben.252
b) Geltungsansprüche Was die Geltungsansprüche der erläuterten typischen Logiken betrifft, so lässt sich zunächst festhalten, dass sowohl die Techniker als auch die Praktiker einen – noch näher zu spezifizierenden – normativen Anspruch erheben. Beide beanspruchen mehr oder weniger explizit, dass die rechtlichen Beurteilungen und damit die Entscheidungen, die sie über die Rechtsverhältnisse anderer Menschen in einem Fall oder Falltyp vornehmen, mindestens in juristischer Hinsicht normativ richtig seien. Ein Unterschied besteht lediglich in der Begründung dieses Anspruchs. Während die Techniker die juristische Entscheidung schon durch das legislativ vorgegebene Gesetzesrecht legitimiert sehen, sehen sich die Praktiker in der Pflicht, sich auch in ihrer eigenen Entscheidungstätigkeit zu rechtfertigen. Die Skeptiker scheinen sich hingegen gegen normative Ansprüche zu verschliessen. Sie streiten die Möglichkeit gültiger normativer Aussagen gerade ab und distanzieren sich entweder von jeglicher expliziten Präskription (Rechtsrealismus)
Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 109. Deswegen spricht die Strukturierende Rechtslehre hier auch von „Anti“positivismus. 250 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 110; vgl. auch ebd., S. 98. Die Umkehr der Vorzeichen bei gleich gelagerter Grundlage lässt sich auch in diesem Punkt sprachtheoretisch erläutern: Die implizite regelplatonistische Sprachtheorie der Techniker wird zur impliziten regelskeptischen Theorie der Skeptiker. „An die Stelle der positivistischen Behauptung einer vollständigen Bindung und Ablehnung einer schöpferischen Rolle des Richters tritt damit die Betonung seiner schöpferischen Rolle und die Ablehnung der Möglichkeit, sein Sprechen mittels des Gesetzes zu binden. Die positivistische Überschätzung der Rolle der Sprache im juristischen Entscheiden wird durch die dezisionistische Unterschätzung ihrer Rolle nur abstrakt negiert.“: Christensen, Was heisst Gesetzesbindung (1989), S. 276; zum Ganzen ebd., S. 214 – 217 / 276 f. 251 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 110. 252 Ausführlich hierzu Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 60 – 75, m. w. H. Zur demokratisch-rechtsstaatlichen Rückbindung der Strukturierenden Rechtslehre insb. S. 68 – 71; zur Verwendung der Auslegungselemente S. 71 – 75. 248 249
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oder entscheiden sich (wie Schmitt) schlicht für die grundlose Entscheidung. Bei genauem Hinsehen, kommen aber auch die Skeptiker nicht darum herum, normative Geltungsansprüche zu erheben. Denn deren Auffassung, normative Argumente seien einer wissenschaftlichen Herangehensweise unzugänglich, liegt selbst eine normative Argumentation zugrunde. Indem sie den Wissenschaftsbegriff einengen, schaffen sie Raum für nicht begründungsbedürftige Entscheidungen – bei Schmitt sogar mit quasi-legitimatorischem Unterton. Die Ablehnung einer normativen Stellungnahme wie auch die Verabsolutierung der Entscheidung impliziert eine Apologie faktischer Machtausübung. Untersucht man die erhobenen Geltungsansprüche im Lichte einer differenzierteren Heuristik,253 so lassen sich bei allen genannten Logiken Wahrheits-, Wert- und Gerechtigkeitsansprüche ausmachen. Selbst die Skeptiker behaupten von sich, dass sie nach Wahrheit suchen bzw. wahren Aussagen nicht widersprechen wollen. Für die Techniker gilt dasselbe, wobei diese ihren expliziten Wahrheitsanspruch noch auf die „Erkenntnis“ des Rechts ausdehnen: Wahr sollen nicht nur die faktischen Umstände sein, in denen und über die entschieden wird, auch die Entscheidung selbst soll als „wahr“ erkannt werden. Die Techniker verkennen dabei, dass sie sich, sobald sie entscheidungsleitende Aussagen treffen, implizit normativ äussern und in diesem Umfang zur Verantwortung zu ziehen sind. Die Praktiker legen dies von Anfang an offen. Besonders in der Variante der Strukturierenden Rechtslehre heben sie unter dem Stichwort des Normbereichs aber auch die Bedeutung der wahrheitsrelevanten Aussagen hervor. Die von allen mindestens implizit auch erhobenen normativen Geltungsansprüche bestehen jeweils in Wert- und Gerechtigkeitsansprüchen. Einen Wertanspruch zu erheben, bedeutet zu behaupten, dass etwas für eine bestimmte Person von Wert oder Unwert sei. Wenn nun – mindestens implizit – behauptet wird, eine bestimmte Entscheidung sei richtig, so schliesst dies auch eine Wertaussage ein. In der Rechtswissenschaft geläufige Bezugspersonen von Wertaussagen sind etwa die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger („Gemeinwohl“, „öffentliches Interesse“) oder die am Rechtsproblem beteiligten Individualpersonen („privates Interesse“). Gerechtigkeit ist seit jeher ein unbestrittenes Ideal der Jurisprudenz, und es wird sich wohl kaum eine ernst zu nehmende Juristin oder einen ernst zu nehmenden Juristen finden lassen, die oder der nicht mindestens auch einen expliziten Gerechtigkeitsanspruch erhebt. Ein Gerechtigkeitsanspruch wird aber selbst dann erhoben, wenn dies nicht explizit gemacht oder ein solcher gar abgestritten wird. Denn erstens sind auch Wahrheits- und Wertansprüche mit Gerechtigkeitsansprüchen immer verbunden, zweitens setzt bereits die unterstellte Möglichkeit, Wahrheits- und Wertansprüche einzulösen, stets ein faires wissenschaftliches Diskursverfahren voraus, und drittens kann sich niemand seiner Position in einer Gemeinschaft moralischer Subjekte entziehen, in der jede Handlung, auch jede Sprachhandlung, gerechtigkeitsrelevante Implikationen in sich trägt.254 253
Eingehend hierzu nachfolgend.
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Ganz gleich also, ob Skeptiker, Techniker oder Praktiker – jede dieser Positionen erhebt mindestens implizit Wahrheits-, Wert- und Gerechtigkeitsansprüche. Die Skeptiker machen davon allenfalls den Wahrheitsanspruch explizit. Die Techniker legen je nachdem auch normative Geltungsansprüche offen, verstecken sie aber mindestens teilweise wieder hinter einer positivistischen Legitimationsfassade. Am ehrlichsten sind die Praktiker, die darum bemüht sind, allen genannten Geltungsansprüchen gerecht zu werden, auch wenn ihnen eine entsprechend differenzierte Heuristik heute noch fehlt. c) Integrative Ansätze Wie eine wissenschaftliche Logik mit den genannten Geltungsansprüchen umgeht, hat in aller Regel auch Konsequenzen in Bezug auf ihre Ausrichtung auf andere Disziplinen. Hinsichtlich möglicher integrativer Ansätze in der Rechtswissenschaft lässt sich zunächst festhalten, dass wie in allen Disziplinen immer dann schon auf andere Disziplinen zurückgegriffen wird, wenn die eigene wissenschaftliche Praxis reflektiert wird: auf Wissenschaftstheorie und Philosophie, in der Rechtswissenschaft insbesondere auch auf Sprachtheorie. Diese Art der disziplinübergreifenden Reflexion betreiben sogar die Skeptiker, die sich dem eigentlichen juristischen Diskurs ansonsten verweigern. Lässt man die Skeptiker als Diskursverweigerer einmal beiseite und fragt man nach Ansätzen der transdisziplinären Integration, welche auf die konkrete juristische Arbeit beim Treffen von Entscheidungen abzielen, so ergibt sich ein buntes Bild. Es liegt auf der Hand, dass dabei die Praktiker tonangebend sind, weil nur sie ein wirklich differenziertes Verständnis für die Vielschichtigkeit der juristischen Tätigkeit entwickeln. Ohne dass sie ein hinreichendes Hintergrundkonzept dafür besässen, schliessen sich hier gleichwohl auch Techniker an, die ihre Techniken der Rechtserkenntnis durch zusätzliche integrative Instrumente zu verbessern suchen. In der Rechtswissenschaft verbreitet ist danach insbesondere der Rückgriff auf sog. „Hilfswissenschaften“.255 Angesprochen sind damit sowohl Logiken aus anderen Disziplinen mit deskriptiv-empirischer Ausrichtung256 als auch normative Logiken der Moralphilosophie und der politischen Ethik257 oder der Ökonomie258. Während 254 Zur eingehenden Erläuterung und Begründung dieser Argumente vgl. den Zweiten Teil dieser Studie. 255 Vgl. hierzu beispielhaft Rüthers, Rechtstheorie (42008), S. 200 – 205, Rz. 302 – 308. 256 Z. B. Rüthers, Rechtstheorie (42008), S. 201 – 205, Rz. 303 – 307. 257 Neben Rüthers, Rechtstheorie (42008), S. 201, Rz. 302a, m. w. H., etwa Larenz, Richtiges Recht (1979); Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991); von der Pfordten, Rechtsethik (2001). Berühmtheit erlangt hat die sog. Radbruch’sche Formel: Radbruch, Rechtsphilosophie (81973), S. 345 f. 258 Deutlich normativ Schäfer / Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (42005); etwas differenzierter, im Ergebnis aber ähnlich Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 25 – 28.
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in der Rechtswissenschaft der Rückgriff auf deskriptiv ansetzende Logiken inzwischen wenigstens im Grundsatz akzeptiert zu sein scheint, sind nicht alle Juristinnen und Juristen nicht-juristischen normativen Logiken gegenüber offen eingestellt259.260 Festzustellen ist, dass sich trotz der verschiedentlichen in der Rechtswissenschaft anzutreffenden integrativen Ansätze entsprechend sorgfältige, operable Methodiken rarmachen.261 Eine Ausnahme bildet hier die Strukturierende Rechtslehre, deren Modell der Normkonstruktion als ein bedeutsamer Ansatz zur Grundlegung einer juristischen Methodik betrachtet werden kann, die eine echte, handhabbare Integration von Normativität und Faktizität erlaubt. Diese Methodik ermöglicht es, die Normbereichsanalyse als einen integralen Bestandteil der juristischen Arbeit zu begreifen. In normativer Hinsicht bleibt sie dagegen auf die juristischen Vorgaben beschränkt.262
259 Beispielsweise hierzu die z. T. heftige Kritik am Moralismus Alexys; dazu Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 164 – 169, m. w. H. Vgl. aber auch den bereits (oben, Fn. 222) angedeuteten Vorbehalt gegenüber den heute im Vormarsch befindlichen Law and EconomicsAnsätzen. 260 Die Strukturierende Rechtslehre gibt hierfür ein Muster ab: Vgl. etwa das originäre Engagement für die Normbereichsanalyse (z. B. oben, Fn. 225) einerseits und die Kritik an überzogenem Moralismus (Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 530 – 533, Rz. 561 – 565) andererseits. 261 Vgl. als Beispiel Becchi / Graber / Luminati, Interdisziplinäre Wege in der juristischen Grundlagenforschung (2007); oder Hilgendorf, Bedingungen gelungener Interdisziplinarität – am Beispiel der Rechtswissenschaft (2010). 262 Als Versuch, Jurisprudenz im Sinne der Strukturierenden Rechtslehre und Ethik zu integrieren, Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010). Zu den methodologischen Hintergründen ebd., S. 156 – 238, insb. S. 169 – 238.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
III. Kritik und Korrekturansatz Die heutige, in spezialisierte Disziplinen und Schulen gespaltene Sozialwissenschaft versagt in ihrem Anspruch auf wissenschaftliche Richtigkeit, wenn diese an ihrer Ausrichtung auf das Ideal der Vernunft gemessen wird. Insbesondere verfehlt die Wissenschaft ihre Aufgabe, Orientierungshilfe zu möglichst vernünftigen Entscheidungen zu bieten. Sie vermag die von ihr erwartete Lebens- und Entscheidungshilfe nicht zu leisten, weil sie zwecks Reduktion von Komplexität zu monokausalen Erklärungen und monistischen Begründungen neigt. Dadurch gelangt sie zu einseitigen Antworten. Ein Ansatz zur Korrektur dieser Entwicklung liegt im methodischen Prinzip der Pluralistischen Grundsätzlichkeit, welche den Pluralismus der normativen Massstäbe anerkennt und trotzdem die Ausrichtung aller wissenschaftlichen Entscheidungen auf generalisierungsfähige Grundsätze fordert. Als Methodik der Interrationalität anerkennt sie zunächst die Rationalitäten der einzelnen Disziplinen und Schulen als gleichberechtigt, verlangt von ihnen jedoch, sich über möglichst allgemeingültige Gründe zu rechtfertigen. Das Postulat der Pluralistischen Grundsätzlichkeit verlangt die Kombination von Vielfalt und Einheit nach dem Prinzip der Verallgemeinerung.
Die Umschau in den hier ausgewählten wissenschaftlichen Disziplinen lässt bereits ein – wenn nicht umfassendes, so doch – typisches Bild heutiger Sozialwissenschaft erkennen. Sie bringt ans Licht, in welch vielfältige Logiken und Rationalitäten sich die modernen Sozialwissenschaften selbst innerhalb der Disziplinen verzweigen. Deutlich sollte auch geworden sein, dass jede Wissenschaft gleichermassen normativ imprägniert ist. Keine deskriptiv verfahrende und keine sich noch so „wertfrei“ oder „-neutral“ gebärdende Logik kann sich den normativen Implikationen ihrer Rationalität entziehen. Dieser Implikationen sind sich jedoch längst nicht alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewusst, z. T. werden sie sogar bestritten. Angedeutet hat sich ferner, dass ein Zusammenspiel der verschiedenen Rationalitäten weitgehend fehlt. Andere Logiken, sei es derselben Disziplin, sei es einer „Nachbarwissenschaft“, werden in aller Regel unter den Vorgaben der eigenen Rationalität verwendet. Das Etikett der „Interdisziplinarität“ ändert daran meistens kaum etwas. In diesem Kapitel soll die Gesamtsituation heutiger Sozialwissenschaft nun am Massstab einer wissenschaftlichen Richtigkeit beurteilt werden, die sich am Ideal der Vernunft orientiert. Insgesamt muss dabei von einem Versagen gesprochen werden. Nach einer Erläuterung der hier verwendeten Begriffe (1.) sollen Zustand und Versagen der modernen Sozialwissenschaft in allgemeiner Weise analysiert werden (2.). Diese Gesamtanalyse setzt die Einzelanalysen der vorstehenden Umschau in einen gemeinsamen Bezugsrahmen. Als Antwort auf die Analyse des Versagens kann dann das methodische Konzept der Pluralistischen Grundsätzlichkeit entfaltet werden (3.), das dem zweiten Teil dieser Studie als Leitprinzip dienen soll.
1. Begriffserläuterung Eine kritische Analyse des Zustands der Wissenschaft muss die wissenschaftlichen Denkstrukturen (z. B. „Disziplin“, „Schule“, „Logik“, „Rationalität“) begriff-
III. Kritik und Korrekturansatz
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lich zu fassen suchen. Sie stösst sich dabei unweigerlich an herkömmlichen Bedeutungen, die vorweg möglichst zu klären sind. Um Missverständnisse zu reduzieren, erläutern wir im Folgenden die wichtigsten Strukturbegriffe, welche diese Studie verwendet. Diskurskultur der Disziplin Institutionelle Rahmung (institutioneller/ organisatorischer Aspekt)
Disziplinärer Fragenkomplex (substanzieller/ theoretischer Aspekt) disziplinäre Rationalität
Schulen schulische Rationalitäten
Subdisziplinen
Abbildung 2: Der Begriff der Disziplin
„Disziplin“: Als Disziplinen können bestimmte Arten wissenschaftlich begründeter Institutionen betrachtet werden. Im Verhältnis zu anderen zeichnen sich Disziplinen erstens durch eine mehr oder weniger einheitliche, eigene organisatorische Struktur aus (institutioneller oder organisatorischer Aspekt) und zweitens durch einen mehr oder weniger einheitlichen, eigenen Komplex von Fragestellungen oder Themen (substanzieller oder theoretischer Aspekt).263 Disziplinen untergliedern sich im Wege von Unterdisziplinen wieder in spezifischere Institutionen mit spezifi263 Vgl. die ähnliche analytische Herangehensweise in Joas, Neue Aufgaben für die Sozialwissenschaften (2005), S. 84 f. und dann durchgehend. – Die Definition von Disziplin hat auch forschungsstrategische Hintergründe. Mit dieser Ergänzung wird verständlich, weshalb in einem anderen Kontext mit einem etwas anders gelagerten Disziplinenbegriff operiert werden kann. In der Studie Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), ging es etwa prioritär darum, die materiellen Zusammenhänge verschiedener Perspektiven auf das Recht „interdisziplinär“ zu integrieren. Dieser eher am Fach- als am Organisationsgedanken orientierte Disziplinenbegriff drängt sich immer dann auf, wenn sich die Untersuchung vorrangig auf die Integration eines partialisierten Fragekomplexes konzentriert. Wenn, wie hier, allgemeiner die Integration des ganzen wissenschaftlichen Interaktionsprozesses in den Blick genommen wird, drängt sich demgegenüber ein Ansatz auf, welcher die institutionelle Seite stärker betont und die materiellen Zusammenhänge auf andere Weise verarbeitet. Vgl. bereits ebd., S. 183 f.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
scheren Fragestellungen. Bekannt sind uns Disziplinen von den einigermassen eingespielten Einordnungen wissenschaftlicher Fächer an den Universitäten, z. B. eben in Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Politik- und Rechtswissenschaft usw. Entscheidend sind dabei nicht die Bezeichnungen, sondern die oben genannten Merkmale. Dass Disziplinen wissenschaftlich begründet sind, bedeutet, dass ihre institutionelle Ordnung, zumindest vom Anspruch her, einer bestimmten substanziellen, theoretischen Ausrichtung folgt. Wissenschaftliche Disziplinen machen erst Sinn und erhalten ihre Berechtigung erst vor dem Hintergrund ihres theoretischen Bezugs. Daher ist dieser für die nähere Bestimmung von und den Umgang mit Disziplinen von vorrangiger Bedeutung. Obschon nach aussen mehr oder weniger abgrenzbar, gestalten sich wissenschaftliche Disziplinen im Innern, wie gesehen, recht uneinheitlich. Innerhalb der Disziplinen, ebenso in den Subdisziplinen, streiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit unterschiedlichen Logiken über richtige Antworten auf verschiedene disziplinäre oder subdisziplinäre Fragen. „Logik“: Der Begriff der Logik beschreibt dabei nicht etwa eine universelle analytische Grundstruktur sämtlicher Denk- und Sprachweisen („die“ Logik), sondern lediglich (irgend)eine in sich relativ geschlossene, auf die Beantwortung bestimmter Fragestellungen gerichtete Denkweise mit Distinktionspotenzial, ausgedrückt in Begriffen, Konzepten, Konzeptionen oder Theorien. Logiken werden immer von einer bestimmten Person oder Gruppe zum Ausdruck gebracht und treten daher im Plural auf. Verschiedene Logiken können sich miteinander vertragen, sich aber auch widersprechen und sich konkurrenzieren. „Disziplinäre Diskurskultur“: Disziplinen lassen eine tendenzielle Einheit der Logik vermissen. Trotzdem sind sie durch eine mehr oder weniger einheitliche Ausrichtung auf einen bestimmten Fragenkomplex und durch Fakultäten und Institute zu einer relativen Ganzheit verbunden. Diese Gemeinsamkeit äussert sich in einer (disziplinären) Diskurskultur. Disziplinen pflegen einen Bestand an geteilten theoretischen Voraussetzungen, der gewissermassen unterhalb des streitigen Anteils der Logiken liegt. Er bildet eine gemeinsame Perspektive, die mindestens so verbindend ist, dass die spezifischen disziplinären Fragestellungen weitgehend gleich verstanden werden. Die meisten Disziplinen entwickeln eine gemeinsame Fachsprache und einen Satz geteilter Dogmen. Sie pflegen eine spezifische Optik, von welcher aus sie die Welt verstehen. Kern der disziplinären Diskurskultur ist eine gemeinsame Sprache, in der die innerdisziplinären Kämpfe ausgetragen werden. Diese hat zugleich den Effekt einer disziplinären Identifikation sowie einer Abgrenzung und Eintrittsbarriere des disziplinären Diskurses gegenüber Aussenstehenden. Je nach Disziplin ist diese Sprachgemeinschaft unterschiedlich gehaltvoll und verpflichtend (in der Wirtschafts- und der Rechtswissenschaft z. B. mehr, in der Politikwissenschaft weniger). „Schule“: Die widerstreitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind zudem häufig in Schulen organisiert, die wiederum mehr oder weniger institutionell
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geordnete Zusammenhänge bilden und sich im Unterschied zu Disziplinen durch eine charakteristische methodische und inhaltliche Einheit, eine gewisse Einheit in der Logik der Beantwortung von wissenschaftlichen Fragen auszeichnen. Nicht selten werden Disziplinen von einer oder mehreren dominanten Schulen oder Logiken beherrscht (die Wirtschaftswissenschaft z. B. von der Ökonomik, die Politikwissenschaft ansatzweise von Public Choice und die Rechtswissenschaft vom Positivismus). Wissenschaftliche Schulen streiten sich nicht nur innerhalb einer Disziplin um die richtige Beantwortung von Fragestellungen. Oft führen die Schulen ihren Streit über die Disziplinengrenzen hinweg. Sie prägen Logiken, mit denen sie mehrere spezifische disziplinäre Fragen beantworten. Ein Beispiel dafür bildet die Ökonomik. Differenziert betrachtet, stellt die Ökonomik (nicht die Ökonomie, welche die Oberdisziplin aller Wirtschaftswissenschaften bildet), jedenfalls heutzutage, keine Disziplin, sondern eine (allerdings dominante und weit verbreitete) Schule dar, die sich mit den verschiedensten Fragestellungen befasst. Was sie über die verschiedenen disziplinären Fragestellungen hinweg verbindet, ist eine mehr oder weniger kohärente, mehr oder weniger in sich geschlossene Theorie, die sich auf so unterschiedliche Fragestellungen bezieht wie solche der Wirtschaftswissenschaften, der Politik- und der Rechtswissenschaften (z. B. kann Public Choice als politikwissenschaftlicher Arm der Ökonomik betrachtet werden; in der Rechtswissenschaft entsprechen dem etwa Ansätze von „Law and Economics“ oder die Ökonomische Analyse des Rechts). „Rationalität – insbesondere in Abgrenzung zu Logik“: In dieser Studie wird besonders mit dem Begriff der Rationalität operiert, weshalb er bereits zu Beginn eingeführt wurde264. Zur weiteren Verdeutlichung sollen hier die Begriffe Logik und Rationalität, die immer wieder verwechselt werden, nochmals voneinander abgegrenzt und miteinander in Verbindung gebracht werden. Im herkömmlichen Sprachgebrauch der Wissenschaften werden die technische Logik einer Denkweise und ihre ideale Rationalität einander oft gleichgesetzt. Wir möchten differenzieren: Die Logik einer Schule ist deren typische Denkweise, die sich durch eine spezifische Methodik und eine entsprechende Dogmatik kennzeichnet. Oft ist sie als System ausgeprägt. Manchmal gilt sie als wertfrei. In Bezug auf die von der Wissenschaftlerin oder dem Wissenschaftler, der Schule oder der Disziplin verfolgte Rationalität hat sie instrumentellen (technischen, dienenden) Charakter: Mithilfe einer Logik soll eine Rationalität erreicht werden. Die Rationalität hingegen ist der Anspruch einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers, einer Schule sowie, in gewissem Umfang, einer Disziplin auf Vernünftigkeit, der sich durch eine spezifische Ausprägung im Verhältnis der drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit auszeichnet. Man kann auch sagen, eine Rationalität sei das spezifische Konzept von Vernunft, das eine Person oder Gruppe in wissenschaftlicher Hin-
264
Vorne, Ziff. I.1.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
sicht – mithilfe ihrer Logik – verfolge und zu erreichen versuche, sei es explizit oder implizit. Der Streit zwischen Personen, unter Schulen, allenfalls auch zwischen Disziplinen, wird zwar in der Regel auf der technischen Ebene der Logiken ausgefochten; häufig dreht er sich aber auch um die divergierenden Rationalitäten, d. h. um ihre (expliziten und impliziten) Idealvorstellungen des Vernünftigen, insbesondere des Richtigen (Wertvollen und Gerechten). „Geltungsanspruch“: Rationalität impliziert den Anspruch auf Gültigkeit. Wer für seine wissenschaftliche Behauptung Rationalität beansprucht, erhebt den Geltungsanspruch, seine Äusserung sei gültig.265 Der Geltungsanspruch kann auch nur implizit erhoben sein und muss dann aus Sinn und Zweck der Äusserung herausgeschält werden. Er kann sich innerhalb der Rationalität einer bestimmten Schule oder Disziplin bewegen und explizit sogar auf eine einzelne der drei Vernunftdimensionen (Wahrheit, Wert oder Gerechtigkeit) beschränkt sein. Oft macht eine deskriptiv verfahrende Logik nur den Geltungsanspruch auf Wahrheit explizit. Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, dass immer alle drei Vernunftdimensionen betroffen sind266. Geltungsansprüche erheben wir in unseren Äusserungen regelmässig, sei es explizit oder implizit. Auch im zweiten Fall können unsere Gesprächspartner den impliziten Anspruch zum Gegenstand ihres Widerspruchs machen. In beiden Fällen hängt die Gültigkeit von Aussagen davon ab, ob man in der Lage ist, gute Gründe für sie vorzubringen. Das gilt sowohl für den Sprecher wie für den Adressaten. Wer eine Behauptung aufstellt oder ihr zustimmt, übernimmt damit die Gewähr, nötigenfalls gute Gründe dafür anbringen zu können, weshalb sie gültig sei. Wer die Zustimmung verweigert, zieht in Zweifel, dass für sie derartige Gründe stark gemacht werden können. Auch er erhebt mit seinem Zweifel einen Geltungsanspruch, den er begründen muss: Er übernimmt die Gewähr für die Gründe, aus denen die Zustimmung zu verweigern sei. Der Geltungsanspruch ist damit der subjektive Anspruch einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers, eine vernünftige Äusserung vorzubringen. In der Regel geschieht dies mit einer Behauptung, welche im Rahmen der Rationalität der Schule oder Disziplin als vernünftig anerkannt werden soll. Obwohl damit explizit nur Rationalität geltend gemacht wird, ist Vernunft gemeint. Die dafür verantwortliche Verknüpfung zwischen Rationalitätsanspruch und Geltungsanspruch auf Vernunft läuft über drei Stufen: 1. Die Vernunft gliedert sich in die drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. 2. Eine Rationalität ist das Ziel einer Person, Schule oder Disziplin, die Dimensionen der Vernunft mit den Mitteln der eigenen, spezifischen wissenschaftlichen Logik zu verwirklichen. 3. Der Geltungsanspruch einer Person, welche eine wissenschaftliche Behauptung 265 266
Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 65. Mehr dazu unter Ziff. VII.1.b).
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aufstellt, geht dahin, die Äusserung erfülle die Bedingungen der Rationalität – und habe daher Teil an der Vernunft. Auch dann, wenn der Geltungsanspruch explizit nur auf die eigene Rationalität bezogen wird, richtet er sich somit implizit immer auf die Vernunft als ganze. „Rationalität und Vernunft“: Das soeben Gesagte setzt ein spezifisches Verhältnis von Vernunft und Rationalität voraus. Wissenschaftliche Vernunft gliedert sich danach zunächst analytisch in die drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. In den Realvorgängen heutiger Wissenschaften spaltet und versprengt sie sich zusätzlich in die divergierenden Rationalitäten, also in beschränkte Perspektiven auf das Ganze der Vernunft, welche von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Schulen und in gewissem Umfang auch von Disziplinen mit den Mitteln der ihr eigenen Logik erreicht werden sollen. Jede Rationalität nimmt zwar Aspekte der drei Vernunftdimensionen auf, anerkennt und gewichtet sie aber unterschiedlich. Daher ist im Gegensatz zu „der“ Vernunft im Singular von „den Rationalitäten“ im Plural zu sprechen, die immer im Verein mit den entsprechenden, diese verfolgenden Logiken zu begreifen sind. Die Einzelanalysen der vorstehenden Umschau zu ausgewählten Sozialwissenschaften267 lassen beispielsweise einige spezifische Rationalitäten erkennen. „Rationalität und Interrationalität“: Die spezifisch eingeschränkte Rationalität einer bestimmten wissenschaftlichen Denkweise ist in ihrem Anspruch auf Vernünftigkeit immer defizitär, da ihre Perspektive immer partikulär bleibt. Innerhalb wissenschaftlichen Bemühens lässt sich Vernunft nur annähern, wenn versucht wird, die Spezialisierung durch eine Integration mit anderen Perspektiven zu überwinden. Es braucht einen qualifizierten Diskurs zwischen den Rationalitäten mit dem Ziel, Interrationalität herzustellen. Wenn Wissenschaftlichkeit auf Vernunft ausgerichtet werden soll, muss die Vielzahl der wissenschaftlichen Rationalitäten in eine integrale Interrationalität überführt werden. Jede Rationalität behält dabei Ihre Berechtigung, aber nur als Teil eines grösseren Ganzen der interrationalen Wissenschaftlichkeit. Rationalität und Interrationalität werden dabei in je eigenen Diskursen hergestellt: „Rationale Diskurse“ beziehen sich auf das partikuläre Vernunftkonzept der selektiven Rationalitäten einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihrer Schulen oder Disziplinen. „Interrationale Diskurse“ beziehen sich auf diese selektiven Rationalitäten im gegenseitigen Zusammenhang, mit dem Ziel ganzheitlicher Vernünftigkeit. Rationalität ist damit stets nur ein Schritt auf dem interrationalen Weg zur Vernunft.268 „Wissenschaft“ schliesslich ist nach dem hier vertretenen Verständnis mehr als nur methodisch angeleitete Erkenntnis. Zum einen ist sie nicht nur Erkenntnis: Sie beschränkt sich nicht auf Wahrheitsfragen, sondern beschlägt immer zugleich die 267 268
Vorne Ziff. II. Mehr dazu unter Ziff. VI.1.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
Dimensionen Wert und Gerechtigkeit. Sie ist rationale und interrationale Entscheidung über ein Forschungsproblem im Lichte aller Dimensionen der Vernunft. Zum andern genügt die Methodik nicht zum Ausweis von Wissenschaftlichkeit: Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens muss eingebunden sein in das dialektische Spannungsfeld von Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität – wissenschaftliche Methodik muss als Diskurs unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über einen gemeinsamen Gegenstand verfasst werden. Wissenschaft lässt sich daher nicht als Ausgangspunkt dieser Studie definieren. Was sie ist, kann sich erst aus dem Gesamtzusammenhang der Argumentation ergeben. Zur Illustration ein Beispiel: Eine Expertenkommission in Finanzmarktfragen wird so zusammenzusetzen sein, dass sie nicht nur – wie üblich – verschiedene Disziplinen abdeckt (etwa Ökonomie, Banking, öffentliches Recht), sondern alle in Bezug auf ihr Thema relevanten Geltungsansprüche divergierender Rationalitäten (etwa Monetarismus, Keynesianismus, Banking- vs. Currency-Theorie der Geldverfassung, Wirtschaftsfreiheit vs. öffentlicher Dienst, etc.). Sie wird ihren Entscheidungsprozess so gestalten müssen, dass all diese Rationalitäten einem fairen interrationalen Diskurs unterzogen werden. Dies ist nötig, weil innerhalb jeder Disziplin unterschiedliche Rationalitäten vertreten werden (z. B. wollen Vertreter der Banking-Theorie die private Geldschöpfung durch Geschäftsbanken zulassen und diesen gestatten, durch Kreditvergabe eine aktive Geldmengenpolitik zu betreiben – demgegenüber anerkennen die Vertreter der Currency-Theorie ausschließlich staatliches Geld als Zahlungsmittel und wollen dem Staat die Kontrolle der verfügbaren Geldmenge vorbehalten).
2. Zustand und Versagen der heutigen Sozialwissenschaften Die heutige Wissenschaft differenziert sich zunehmend in Disziplinen, Subdisziplinen, Schulen und Konzepte einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diese Gesamtentwicklung lässt sich nach drei Richtungen kennzeichnen: Spezialisierung, Isolierung und Vereinnahmung. Spezialisierung: Als Spezialisierung kann zunächst der Umstand bezeichnet werden, dass Wissenschaft heute dazu neigt, sich immer weiter auszudifferenzieren und immer spezifischeren Fragestellungen nachzugehen. Die Tendenz geht vom Allgemeinen (Generellen) zum Besonderen (Speziellen). Diese Tendenz spiegelt sich auch in den institutionellen Vorgängen: Die Zahl immer spezifischerer Fachbereiche und Fakultäten, Lehrstühle, Fachzeitschriften und dergleichen nimmt stetig zu. In der Debatte über Interdisziplinarität etwa werden solche Vorgänge seit Langem dokumentiert und diskutiert.269 Die Feststellung der Spezialisierung bezieht sich aber nicht nur auf die oberflächliche Definition und Bearbeitung spezifischerer Fragestellungen. Sie reicht tiefer und erstreckt sich auch auf die Konzepte der Vernunft, d. h. die Rationalitäten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neigen heute dazu, ihre Theorie allein innerhalb ihrer Rationalität zu entfalten und zu begründen. 269
Vgl. z. B. schon Mittelstrass, Die Stunde der Interdisziplinarität? (1987), S. 152.
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Sofern eine Rationalität (z. B. über eine Schule) institutionell gepflegt wird, kann die Spezialisierung dazu führen, dass die gleiche Rationalität über die Grenzen mehrerer Disziplinen hinweg herrscht. Substanzielle und institutionelle Spezialisierung: Spezialisierung bedeutet meist eine Konzentration auf die jeweilige Rationalität, mit den entsprechenden substanziellen und institutionellen Implikationen: Indem sich die Angehörigen wissenschaftlicher Schulen und Disziplinen spezialisieren, streben sie in aller Regel nach partikulärer Rationalität (substanzielle Spezialisierung). Zudem beschränken sich die entsprechenden Institutionen auch, was ihre Manifestationen in Forschung, Lehre und Ausbildung angeht, mehrheitlich auf den jeweiligen spezialisierten Kontext (institutionelle Spezialisierung). Wissenschaft spaltet sich so in partikuläre Rationalitäten, die in einem partikulären Diskurs der ausgewählten scientific community gepflegt werden. Isolierung: Die Spezialisierung auf eine bestimmte Rationalität bedeutet in aller Regel auch eine Isolierung. Insofern eine Rationalität nämlich ein Konzept wissenschaftlicher Vernunft abgibt, läuft die Konzentration auf eine bestimmte, einzelne Rationalität im Grunde immer auf einen Ausschluss, zumindest die Ausblendung anderer wissenschaftlicher Vernunftkonzepte hinaus. Sich auf eine bestimmte Rationalität zu spezialisieren, heisst oft, sich in seiner Forschung und Lehre von nur einem bestimmten Vernunftkonzept leiten zu lassen. Allenfalls kann die Neigung zu einem exklusiven Vernunftkonzept auch unabhängig von einem Spezialisierungsvorgang beobachtet werden. Insbesondere dann, wenn die eigene Rationalität im Impliziten (vielleicht sogar im Unbewussten) verbleibt, ist ihre Exklusivität und damit ihre Isolation gegenüber anderen Rationalitäten besonders stark. Die Konsequenz einer Isolierung der eigenen Rationalität ist in allen Fällen die gleiche: Logiken, die einer anderen Rationalität entstammen, werden nicht verstanden, als falsch oder uninteressant beurteilt oder schlichtweg der eigenen Rationalität einverleibt. Mit der Zeit vergisst man sogar, dass es neben der eigenen noch andere Rationalitäten geben mag bzw. diese ebenso eine Berechtigung haben könnten. Vereinnahmung: Soweit Spezialisierung und Isolierung die eigene Rationalität für alle Fragen als massgeblich bezeichnen, ist auch von Vereinnahmung oder von Reduktionismus zu reden. Die Rationalität erhebt dann den Geltungsanspruch, allein für das Ganze wissenschaftlicher Vernunft zu stehen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Gruppierungen von ihnen, die sich einer einzigen Rationalität verschreiben, vereinnahmen die wissenschaftliche Vernunft als ganze für sich. Wissenschaftliche Vernunft besteht für sie, und sei dies nur implizit, in nichts anderem als in der eigenen Rationalität. Sie vermögen die Wirklichkeit, auch soweit sie Gegenstand anderer Disziplinen und Schulen bildet – und damit anderen Rationalitäten zugänglich ist –, nur aus ihrer eigenen Perspektive zu betrachten. Ihre partikuläre Rationalität vereinnahmt damit das Ganze der Vernunft. Von diesen drei Entwicklungstendenzen ist die Spezialisierung wohl die grundlegende Erscheinung. Sie prägt das wissenschaftliche Bewusstsein am stärksten. Sie
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wirkt systembildend und ausschliessend. Isolierung und Vereinnahmung sind weitgehend eine Folge der Spezialisierung. Mit dieser muss sich ein integrativer Ansatz, wie er hier verfolgt wird, daher besonders auseinandersetzen: Wissenschaftliche Spezialisierung hat zunächst durchaus gute Gründe. So verfügen die Spezialisten jeweils über das konzentrierte Wissen ihrer Disziplin oder Schule in Bezug auf die relevante Fragestellung. Der Spezialdiskurs zwingt ferner in besonderem Masse zu der argumentativen Differenziertheit, die moderner Wissenschaft ansteht. Spezialisierung ist unter den Gesichtspunkten der Konzentration und der Differenziertheit also begrüssenswert. Auf der Grundlage von mindestens partiell Bewährtem „diszipliniert“ sie zu exakter Auseinandersetzung, und mit der Ausrichtung auf ein gemeinsam verstandenes Set von Fragestellungen ermöglicht sie es überhaupt erst, effektiv und produktiv zu streiten. Spezialisierung ermöglicht so eine wesentliche Komplexitätsreduktion. Spezialisierung bedeutet aber auch Beschränkung der eigenen Rationalität. Die wissenschaftliche Tätigkeit wird auf die jeweils eigene Vernunftvorstellung ausgerichtet und diese mit einer je eigenen Logik verfolgt. Die Fachsprachen differenzieren sich dadurch so weit, dass eine Verständigung nur noch über immer engere Teilbereiche der Welt möglich wird. Das bringt zwar eine Reduktion der Komplexität, führt aber zu einer institutionellen und substanziellen Partialisierung der Wissenschaft. Die Folge ist die Unterkomplexität und Einseitigkeit der wissenschaftlichen Modelle und ein Mangel an normativer Orientierung. Es entsteht eine irrationale Kluft zwischen der Forderung nach vernünftiger Entscheidung und der wissenschaftlichen Anleitung dazu. Von da her werden die Phänomene der Isolierung der wissenschaftlichen Rationalitäten und der Vereinnahmung fremder Ansätze besser verständlich. Spezialisierung bedeutet nicht einfach nur Indifferenz gegenüber anderen Denkweisen. Das Bild eines berührungslosen Nebeneinander-Her, einer friedlichen Koexistenz wissenschaftlicher Einheiten, trügt. Die Isolierung impliziert eine Parteilichkeit zugunsten derjenigen Rationalitäten und entsprechenden Logiken, die sich faktisch durchsetzen, besser bewerben oder für ein Entscheidungsproblem einfach zu passen scheinen.270 Solange die von den verschiedenen Wissenschaftlerinnen, Schulen und Disziplinen verfolgten Rationalitäten und die darauf bezogenen Logiken nicht rationalitätsübergreifend zueinander in Beziehung gesetzt werden, können es jedoch nicht gute Gründe sein, welche die Entscheidung für eine bestimmte spezialisierte Rationalität rechtfertigen. Vielmehr geht es um strategisch bessere Erfolgspositionen im praktischen (oft politischen oder wirtschaftlichen) Umfeld. Die Entscheidung für eine exklusive Rationalität geht schliesslich mit einer Vereinnahmung der Vernunft einher. Damit ist die Reduktion perfekt: Die partikuläre
270 Vgl. mit Blick auf eine kritische Analyse einer scheinbar unparteiischen Koexistenz in anderem Kontext die „Parteilichkeit der Sachzwänge“ in Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 159 – 174.
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Sichtweise steht bereits für das Ganze und muss sich anderen gegenüber nicht mehr rechtfertigen. Das Ergebnis ist jedoch paradox: Die wissenschaftliche Begründung verbürgt keine Vernünftigkeit. Entscheidungen werden trotz hoher Wissenschaftlichkeit heute eher als willkürliche Machtentscheide getroffen statt als vernünftige Entscheidungen. Komplexitätsreduktion ist gewiss eine wertvolle Leistung jeder Wissenschaft, wenn ihr Ziel sein soll, die Unübersichtlichkeit der Welt abzubauen. Wissenschaft soll dem handelnden Menschen ein möglichst grosses Mass an Sicherheit und Orientierung bieten. Wissenschaftliches Ideal wird deshalb die Suche nach Einheit in der Vielheit. Wenn die Vielheit der Phänomene und Probleme auf ein einziges Gesetz oder Prinzip zurückgeführt werden könnte, wäre das Maximum an wissenschaftlicher Erkenntnis erreicht. Mit diesem Ziel vor Augen sucht daher jede Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler, jede Schule und jede Disziplin nach Modellen der Erklärung und der Orientierung, welche dem Handelnden eine richtige Entscheidung nach möglichst wenigen Kriterien gestatten. Die Modellbildung verfährt daher selektiv, indem unerhebliche Aspekte aussen vor gelassen und wichtige Fragen ins Zentrum gerückt werden. Das Problem wird dadurch vereinfacht. Da Wissenschaft nach modernem Verständnis ausserdem systematisch vorzugehen hat, wird das entworfene Modell wenn möglich zu einem System generalisiert, welches den Anspruch erheben soll, das Ganze des Problems in einer bestimmten Logik zu erfassen. In cartesianischer Tradition hat eine solche Logik linear und hierarchisch zu verfahren: Die Denkschritte führen induktiv zu einem obersten Prinzip und von diesem deduktiv zu konkreten Lösungen. Kausalität, Widerspruchsfreiheit und logischer Schluss sind Grundstrukturen dieses Denkens. Unter diesen Voraussetzungen neigt der wissenschaftliche Zugang zur Problemlösung dazu, je eine Ursache mit einer Wirkung zu verknüpfen und je ein Prinzip zum Mass der richtigen Entscheidung zu erheben. Monokausale Erklärungen und monistische Begründungen haben den Vorteil der grössten Vereinfachung und vermitteln den Eindruck des Gelingens wissenschaftlicher Einheit. Sie versagen aber in der Regel gegenüber der Vielheit der Welt und der Komplexität der zu lösenden Probleme. Reduktionistische wissenschaftliche Systeme, seien sie deskriptiver oder normativer Natur, verfehlen den Anspruch, der Vielseitigkeit des Wahren und des Richtigen gerecht zu werden. Innerhalb etwa der Rechtswissenschaft zeigt sich dies in der Tendenz, bei Konkurrenz verschiedener Normen eine Norm anwendbar zu erklären und die andere aus der Betrachtung auszuschliessen. Ein Fall fällt entweder unter das eine oder das andere „einschlägige“ Gesetz; er wird von einem bestimmten Grundrecht oder Grundsatz beherrscht, während andere „zurückzutreten“ haben. Solche Relevanzentscheidungen sind unausweichlich, die Suche nach Vereinfachung verleitet aber dazu, sie möglichst früh im Entscheidungsprozess zu treffen, damit die Gewichtung vereinfacht wird.
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In der modernen Wissenschaft, einschliesslich der Sozialwissenschaften, ist eine ausschliesslich auf objektiver Wahrheit ausgerichtete Rationalität vorherrschend geworden. Als rational gilt im Grossen und Ganzen nur noch, was unabhängig vom Subjekt der Untersuchung, objektiv, anhand empirischer Daten messbar nachgewiesen werden kann. Aspekte des Subjektiven und Normativen, Wertung und Abwägung werden als unwissenschaftlich abgetan. Sofern normative Handlungsanleitung neben deskriptiver Erklärung überhaupt noch Platz in der Wissenschaft hat, beschränkt sie sich darauf, anhand vorgegebener Zielgrössen (Präferenzen) und Handlungsrestriktionen (natürliche oder rechtliche und gesellschaftliche Grenzen) die effizienteste Alternative zu berechnen. Die Grundlagen lebenspraktischer Entscheidungen hingegen gelten als wissenschaftlich nicht fassbar. Sie bleiben der Willkür oder dem Zufall persönlichen und politischen Gutdünkens überlassen und mögen sich allenfalls noch philosophisch diskutieren lassen. Kritikwürdig an dieser Rationalität ist nicht das Streben nach objektiver Wahrheit. Nur darf Wissenschaft nicht darauf reduziert werden. Objektive Wahrheit ist nur eine Dimension wissenschaftlicher Vernunft. Zusammenfassend ist festzuhalten: Vom Standpunkt der Lebens- und Entscheidungshilfe aus versagt die heutige Wissenschaft in ihrer Aufgabe. Wie gesehen, präsentiert sich die Wissenschaft heute als eine in hochspezialisierte Fachbereiche und Schulen ausdifferenzierte Expertenkultur. An sich ist an Ausdifferenzierung und Spezialisierung nichts auszusetzen, doch haben sich im Zuge der Vervielfältigung der Wissenschaft die Zusammenhänge verflüchtigt. Wir haben es nicht mit einer koordinierten Teilung der Arbeit am Wissen, sondern mit einer fortschreitenden Spaltung des Wissens zu tun, durch welche die Rationalitäten den Kontakt zueinander verlieren. Die fortschreitende Isolation der Rationalitäten bewirkt, dass die Vernunft von immer mehr Einzelwissenschaften vereinnahmt wird. Statt eines produktiven Pluralismus im Dienst der Vernunft bilden sich immer mehr partikuläre Einheiten heraus, die beanspruchen, das Ganze zu vertreten. Dadurch macht sich ausserdem eine Vereinseitigung breit. Bestimmte partikuläre Rationalitäten setzen sich durch und verdrängen alle anderen. Der im Grunde aussichtsreiche Weg der Wissenschaft, dem vielfältigen Orientierungsbedarf des Lebens zu entsprechen, führt so hinterrücks zu einer Verarmung wissenschaftlicher Vernunft. Spaltende Spezialisierung, separierende Isolierung und partikuläre Vereinnahmung führen zu einem wissenschaftlichen Reduktionismus, durch den die Wissenschaft ihrer Aufgabe vernünftiger Entscheidungshilfe insgesamt nicht gerecht werden kann. Diese Vorgänge in der Wissenschaft liessen sich vielleicht noch hinnehmen, wenn sie sich im Mangel an wissenschaftlicher Orientierungshilfe für die Lebenspraxis erschöpfen würden. Dies ist aber nicht der Fall. Der Reduktionismus der Wissenschaft greift auch auf die Lebenspraxis über und desorientiert diese in entsprechendem Masse. In der Konsequenz büsst die Lebenspraxis an Gerechtigkeit ein und erleidet einen Orientierungsverlust in der Dimension des Sinn- und Wertvollen.
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3. Die Methode der Pluralistischen Grundsätzlichkeit Es fragt sich nun, wie dieser Entwicklung der Wissenschaft zu begegnen ist. Dazu ist vorab das hier vertretene Wissenschaftsverständnis, besonders unter dem Aspekt des Verhältnisses von Theorie und Praxis, zu begründen (a)). Auf dieser Grundlage kann sodann das methodische Leitprinzip der Pluralistischen Grundsätzlichkeit entworfen werden (b)).
a) Wissenschaft als Lebens- und Entscheidungshilfe Wissenschaft ist unserer Auffassung nach nicht als von der Lebenspraxis gelöste Schau (theoría), sondern, von der praktischen Philosophie her gedacht, als Lebensund Entscheidungshilfe zu verstehen. Theorie ist nach unserem Verständnis nicht Selbstzweck, sondern ein Beitrag zu einem möglichst vernünftigen Leben, und d. h. möglichst vernünftigen Entscheidungen. Normativ gewendet, bedeutet dies die Pflicht und Aufgabe der Wissenschaft, zum Zweck möglichst vernünftiger Entscheidungen Orientierungshilfe zu geben. (1) Zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis: Um den Zusammenhang zwischen realer Problemlösung und wissenschaftlicher Anleitung zu verstehen, ist es hilfreich, zunächst grundsätzlich anzusetzen und Theorie und Praxis als zwei Grundtypen menschlichen Handelns zu begreifen. Als grundlegender Handlungszusammenhang besteht „Theorie“ oder „theoretisches Handeln“ in der sprachlichen, argumentativen Auseinandersetzung mit den Problemen dieser Welt. Es geht darum zu wissen. Die Probleme können in der Theorie nicht eigentlich gelöst, sondern bestenfalls adäquat artikuliert und als Fragen beantwortet werden. „Praxis“ oder „praktisches Handeln“ bezeichnet demgegenüber den grundlegend anderen Handlungstyp, durch den die Probleme manifest, substanziell gelöst werden sollen. Es geht darum zu wirken. Jedenfalls auf die Sozialwissenschaften bezogen und vereinfacht, heisst das Folgendes: In der Theorie soll die Welt in der Vorstellung, in der Praxis in Wirklichkeit in den Griff bekommen werden; Theorie ist Kognition, Praxis Aktion. Die theoretische, also sprachlich-argumentative Beantwortung von Fragen löst die Probleme freilich nicht eigentlich. Abgesehen davon, dass Theorie schon als solche immer auch Praxis, theoretische Praxis, ist, zielt sie letztlich aber gleichwohl darauf ab, handfest erfahrbare Probleme praktisch zu lösen. Andernfalls hätte Theorie gar keinen Sinn: Es muss immer über etwas nachgedacht werden. Und dieses Etwas ist immer ein Problem der praktisch wirksamen Welt. Es kann also gesagt werden, dass Wissenschaft immer schon auf Entscheidungen in der Welt der Probleme angelegt ist. Nicht weniger, als die Theorie die Praxis braucht und auf sie hinwirkt, benötigt allerdings auch die Praxis die Theorie. Damit die praktischen Probleme gelöst wer-
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den können, braucht es Antworten auf die Fragen, die diese Probleme aufwerfen. Wirkungsvolle Praxis, könnte man sagen, bedarf der weisen Theorie. Der landläufige, schon von Kant kritisierte Satz: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, operiert daher mit einer unzulänglichen Vorstellung von Theorie. Er geht davon aus, dass Theorie nicht auf Praxis angewiesen sei, Theorie könne „richtig sein“, ohne in der Praxis zu taugen. Tatsächlich ist Theorie aber nichts anderes als die (nach Möglichkeit vernünftige) sprachliche Reflexion realer Praxis. Wenn die Theorie in der Praxis nicht taugt, dann stimmt eben auch die Theorie nicht.271 Zu bedenken ist dabei allerdings, dass, was „taugen“ bedeutet, wiederum theoretisch reflektiert werden muss. Theorie und Praxis, Problemlösen und Fragenbeantworten sind hermeneutisch verquickt. (2) Die Dimensionen vernünftiger wissenschaftlicher Entscheidung: Mithilfe dieser grundsätzlichen Ausführungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis wird die prinzipielle Relevanz der Wissenschaft für die Richtigkeit realer Entscheidungen verständlich. Diese allgemeinen Ausführungen lassen sich zudem dadurch stützen, dass in wissenschaftlichen Theorien gerade die Geltungsansprüche erhoben werden, die sich auf eine vernünftige Lösung praktischer Probleme beziehen: die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. Um dies plausibel zu machen, braucht es zunächst nicht viel mehr, als den Aufweis, dass in den Wissenschaften tatsächlich mindestens irgendeiner der genannten Geltungsansprüche erhoben wird. Hierfür liefert bereits die im vorstehenden Kapitel vorgenommene Umschau in den Einzeldisziplinen zahlreiche Beispiele. Wer Wissenschaft für mehr als nur eine eitle Veranstaltung der Darbietung beliebigen Gutdünkens hält, sollte zumindest mit der Minimalanforderung, dass in wissenschaftlichen Debatten überhaupt um vernünftige Antworten gerungen wird, keine Mühe haben. Schon schwerer hat es die Behauptung, dass in den Wissenschaften gerade diejenigen Geltungsansprüche erhoben werden, welche auch für die gute Begründung vernünftiger Entscheidungen massgeblich sind: die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. Aber auch dies hat bereits die Umschau in den verschiedenen Einzeldisziplinen hinlänglich bestätigt. Es wird auch hier nicht schwerfallen, das Zugeständnis abzuringen, dass in den verschiedenen Disziplinen mindestens eine Art Wahrheitsanspruch erhoben wird. Diese Auffassung ist nach dem Selbstverständnis der allermeisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ohnehin gegeben. Bereits damit wäre ein spezifischer Bezug zur Arbeit, die in der Wissenschaft vor sich geht, zur Problematik vernünftiger Entscheidungen ausgemacht. Denn wer den Wahrheitsanspruch erhebt, behauptet, es sei richtig, Entscheidungen auf wahre Tatsachenbehauptungen abzustützen. Unsere These geht freilich über die Wahrheitsfrage hinaus: In dieser Studie vertreten wir die Auffassung, dass sämtliche für vernünftige Entscheidungen relevanten Geltungsansprüche in den Wissenschaften vertreten sind und dass prinzipiell 271
Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch (1977).
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sämtliche in den Wissenschaften vertretenen Theorien mindestens implizit mit allen drei genannten Vernunftdimensionen verknüpft sind. Neben den plausibilisierenden Einzelanalysen des vorstehenden Kapitels sprechen sprachpragmatische Argumente, die in der Diskurstheorie eine wichtige Rolle spielen272, für unsere These. Danach lassen sich alle denkbaren Arten von Sprechakten pragmatisch mindestens implizit mit den grundlegenden, auf den wesentlichen Aktor-Welt-Beziehungen beruhenden Geltungsansprüchen (in dieser Studie: die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit) verbinden, unabhängig davon, welcher (expliziten) semantischen Struktur sie folgen273. Wenn nun aber sämtliche als Sprechakte rekonstruierbaren Aussagen mit den genannten Geltungsansprüchen verbunden werden können, dann gilt dies auch für Aussagen in den Wissenschaften. Jede wissenschaftliche Aussage ist zugleich die Äusserung eines Menschen. Wissenschaft darf daher nicht von den Sprechhandlungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler getrennt werden. Alle Wissenschaft bleibt menschliches Handeln und muss in allen drei Dimensionen dieses Handelns verstanden werden. Damit gelten die grundlegenden handlungstheoretischen Implikationen auch für die Aussagen der Wissenschaft: Diese beziehen sich (wenn nicht explizit, so mindestens implizit) letztlich immer auf Probleme des Subjektiven, Objektiven und Intersubjektiven. Damit geht es stets um die möglichen Aktionsbeziehungen, in denen wir Menschen mit unserer Welt stehen. Und diese bestehen letztlich in nichts anderem als in Wahrheits-, Wert- und Gerechtigkeitsproblemen. Wenn wir nun als Handlungsträger grundsätzlich immer in diesen Beziehungen gefangen bleiben, dann ereilen sie auch die in den Wissenschaften in Sprachpraxis erarbeitete Theorie. Wissenschaft ist daher nicht nur selbst (Sprach-)Praxis, sondern immer auch der Versuch, die Lebenspraxis vernünftig anzuleiten. Wissenschaft ist Lebens- und Entscheidungshilfe und sollte auch als solche eingesetzt werden. Hinzuzufügen ist noch, dass die Wissenschaft der Lebenspraxis die Entscheidungen weder abnehmen kann noch soll. Zu entscheiden haben die in der Lebenspraxis dazu legitimierten Entscheidungsträger. In dieser Studie geht es nur um den Beitrag wissenschaftlicher Vernunft zur Lebenspraxis, soweit diese auf Wissenschaft zurückgreift. Soweit wissenschaftliche Theorie jedoch einen Beitrag zur Vernünftigkeit lebenspraktischer Entscheidungen leisten kann, sollte sie dies nach allen Kräften tun. Alles andere hätte wohl (zu Recht) etwas von dem, was in der Praxis als „Theorie im Elfenbeinturm“ geschmäht wird.
272 Vgl. dazu insb. die erste Zwischenbetrachtung in Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987); und ders., Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987), S. 97 – 117. 273 Insbesondere geben sich normative Geltungsansprüche an der formalsprachlichen Oberfläche gerne deskriptiv. Denn Geltungsansprüche aller Art können in assertorischer Form, in der Form von Wahrheitsaussagen ausgedrückt werden: Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987), S. 103.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
b) Pluralistische Grundsätzlichkeit als Methode zur Überwindung des wissenschaftlichen Reduktionismus Die wissenschaftliche Reduktion von Vernunft auf partielle Rationalität verdrängt zentrale Aspekte wissenschaftlichen Entscheidens. Der Reduktionismus setzt Massstäbe absolut, welche nur relative Geltung im Verein mit anderen Kriterien beanspruchen dürfen. Mit dem Ausblenden der Pluralität anderer Massstäbe immunisiert er sich zugleich davor, im eigenen Geltungsanspruch grundsätzlich hinterfragt zu werden. Die eigene Perspektive beansprucht ganzheitliche Gültigkeit. Gegen solche Vereinseitigungen wendet sich das Postulat der „Pluralistischen Grundsätzlichkeit“274: Diese verknüpft Pluralismus mit Grundsätzlichkeit und verlangt von uns, trotz pluralistischer Relativierung aller Massstäbe grundsätzlich zu handeln: „Pluralismus“ fordert die Anerkennung gleichberechtigter normativer Standpunkte. Er bedeutet den Verzicht auf eine einheitliche, hierarchische Wertordnung. Kein Prinzip kann von vornherein einen Vorrang vor anderen beanspruchen. Insofern sind alle Standpunkte relativ und von gleichem Gewicht. „Grundsätzlichkeit“ fordert, alles Handeln normativ zu begründen. Die pluralistische Relativierung aller Standpunkte befreit nicht von der Pflicht, Entscheide nach möglichst allgemeingültigen Grundsätzen zu rechtfertigen.
Das Anliegen der Pluralistischen Grundsätzlichkeit ist, alle normativen Gesichtspunkte einer Entscheidung ihrem grundsätzlichen Gewicht entsprechend zur Geltung zu bringen. Das klingt einleuchtend oder sogar selbstverständlich, ist es aber nicht. Pluralistische Grundsätzlichkeit nimmt Partei gegen den Reduktionismus des Systemdenkens moderner Wissenschaft. Sie vertritt diesem gegenüber die Forderung, auch solche normativen Standpunkte anzuerkennen, welche nicht systemkonform sind. Sie verlangt die Unterordnung des Systemdenkens unter das Problemlösungsdenken: Wissenschaftliche Systeme haben keinen Selbstwert. Sie rechtfertigen sich nur dadurch, dass sie eine Leistung bei der Lösung von Problemen erbringen. Die Forderung nach pluralistischer Grundsätzlichkeit ist daher unter modernen Bedingungen nicht einfach eine neutrale Methode. Sie nimmt Stellung im Widerstreit der wissenschaftlichen Rationalitäten, indem sie die Relativierung der einzelnen Positionen fordert und der Tendenz zu funktionaler Optimierung (unter einen einzigen Wert) die Forderung nach fairem Ausgleich unter konfligierenden legitimen Geltungsansprüchen entgegenstellt. Sie ist eine „Kampfmethode der Gerechtigkeit“275. Dieses der Rechtswissenschaft entstammende Prinzip gilt, so unsere These, in der gesamten Wissenschaft, jedenfalls in allen Sozialwissenschaften. Wenn das 274 Mastronardi, Angewandte Rechtstheorie (2009), S. 238 – 262, Rz. 567 – 628; ders., Juristisches Denken (22003), S. 291 – 295, Rz. 1008 – 1022. 275 Windisch, Eine Kampfmethode der Gerechtigkeit (2011).
III. Kritik und Korrekturansatz
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zutrifft, dann liegt die Qualität von Wissenschaftlichkeit nicht darin, dass eine bestimmte Rationalität zum ausschliesslichen beherrschenden Massstab erhoben wird, sondern darin, wie der Pluralismus normativer Massstäbe unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Dimensionen vernünftigen Entscheidens auf faire Weise bewältigt werden kann. Wegen seiner speziellen disziplinären (also seinerseits partikulären) Herkunft bedarf die Herleitung und Entfaltung des Gebots der Pluralistischen Grundsätzlichkeit für die Sozialwissenschaften im Allgemeinen einer besonders sorgfältigen Begründung. Um dem zu erwartenden Vorwurf eines „juristischen Imperialismus“276 zu begegnen, soll an dieser Stelle etwas ausgeholt werden. Die entsprechenden Anknüpfungspunkte in der Rechtswissenschaft sollen transparent gemacht und die Verallgemeinerung der Pluralistischen Grundsätzlichkeit sorgfältig entwickelt werden. Der Transfer von der Rechtswissenschaft auf die Sozialwissenschaft im Allgemeinen erfolgt in drei Schritten: In einem ersten Schritt (1) ist das methodische Idealmodell des juristischen Diskurses darzulegen, von dem hier ausgegangen wird. Dafür kann an die Ausführungen zur Rechtswissenschaft des vorstehenden Kapitels angeknüpft werden. In einem zweiten Schritt (2) wird daraus das Ideal einer wissenschaftlichen Entscheidungslehre rekonstruiert, um von dort aus (3) das Prinzip der Pluralistischen Grundsätzlichkeit als Methode der Interrationalität zu entfalten. (1) Das Idealmodell des juristischen Diskurses: Für die Entwicklung eines methodischen Idealmodells des juristischen Diskurses kann in Anknüpfung an die Umschau des vorherigen Kapitels auf die Strukturierende Rechtslehre277 zurückgegriffen werden. Ihrer elaborierten Argumentation ist zuzustimmen: Solange juristische Methodenlehre als Erkenntnislehre, als methodischer Apparat zur „Nach-vollziehung“ eines in der gesetzten gesetzgeberischen Absicht oder im Sprachsystem bereits „Vor-vollzogenen“278 verstanden wird, versteht sich die Jurisprudenz selbst nicht recht.279 Juristisches Entscheiden ist eine schöpferische, produktive Tätigkeit. Die Entscheidung, welche die Juristin oder der Jurist „trifft“, ist ein Produkt ihres oder seines eigenen Schaffens. Die Auslegungsmetapher gibt dafür nur ein verkürztes Bild ab. Mit gutem Grund stellt die Strukturierende Rechtslehre dem Auslegungsmodell daher das Modell der praktischen Konkretisierung gegenüber, in dem die juristische Tätigkeit als ein konstruktives Herstellen einer Rechts- und Entscheidungsnorm durch die juristische Arbeit mit dem Gesetzestext zu verstehen ist.280 In diesem Sinne „geht es bei juristischer Falllösung um Normkonstruktion: die Rechts276 Vgl. bereits den Hinweis auf den (seinerseits allerdings nur selten unberechtigten) Vorwurf des ökonomischen Imperialismus in Ziff. II.3.c), m. w. H. in Fn. 122. 277 Zuvor, Ziff. II.5.a)(3). 278 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 14, u. ö. 279 Dabei soll die juristische Methodenlehre doch gerade diesem Zweck dienen: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 243 – 249. 280 Vgl. hierzu bereits vorn, Ziff. II.5.a)(3), m. w. N. zur Strukturierenden Rechtslehre.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
norm muss im Fall jeweils erst produziert werden.“281 Die juristische Entscheidung ist ein Werk-Urteil, und „Rechtswissenschaft in diesem Sinn ist Rechtserzeugungsreflexion.“282 In methodischer Hinsicht lässt sich der juristische Diskurs demnach durch ein Rechtserzeugungs- oder Konkretisierungsmodell, ein Ablaufmodell der Rechtsnormkonkretisierung283 abbilden, das „vereinfachend gesprochen, fünf Textstufen“ durchläuft284: den Normtext, den Text des Normprogramms und des Normbereichs sowie den Text der Rechtsnorm und der Entscheidungsnorm. Die Eingangsdaten der Rechtsarbeit285 bilden zum einen der Sachverhalt286 und zum andern die in Geltung stehenden Normtexte. Vom Sachverhalt angeregt und durch Ausbildung und Übung geschult, wählt die entscheidende Person zunächst diejenigen Normtexte des geltenden Rechts aus, die ihr für den vorliegenden Fall als einschlägig erscheinen, sie stellt Normtexthypothesen287 auf. Die dadurch vage vorveranschlagten Rechtsnormen verweisen sodann auf den Sachbereich288, also den noch relativ weiten Ausschnitt der Wirklichkeit, der durch diesen Vorentwurf präsumtiv betroffen ist. Besonders dann, wenn lediglich die Beurteilung eines bestimmten Falls ansteht, wird dieser Sachbereich ferner auf einen am Sachverhalt orientierten engeren Fallbereich289 eingegrenzt. Auf der anderen Seite werden die einschlägigen Normtexte unter Zuhilfenahme der juristischen Konkretisierungselemente („Auslegung“) zum Normprogramm290 verarbeitet. Aus dem Sach- bzw. Fallbereich sind dann diejenigen Wirklichkeitsaspekte zu bestimmen, die für das zuvor erarbeitete Normprogramm sowohl relevant als auch vereinbar mit ihm sind. Das ergibt den Normbereich291. Erst Normprogramm und Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 14. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 250, Rz. 274; vgl. auch S. 207 f., Rz. 214. 283 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264 – 266 mit Beispiel / 432 f., Abbildung auf S. 434; in eingehender Begriffserläuterung ebd., S. 250 – 274 im Ganzen; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37 f., Rz. 15 f. / S. 253 – 259, Rz. 278 – 288, Abbildung auf S. 258 / S. 524 – 526, Rz. 549 – 552. Vereinfacht mit Abbildung etwa in Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rz. 584 – 586. Fürs Folgende überall dort. 284 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 524, Rz. 549. 285 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264; vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 15 / S. 253 f., Rz. 278, u. ö. 286 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 254 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 15 / S. 524, Rz. 549. 287 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 253 f., Rz. 278 / S. 255, Rz. 281, u. ö. 288 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 238 f. / 251 / 332 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 16, u. ö. 289 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 254 – 256; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 16, u. ö., insb. S. 483, Rz. 488. 290 Dazu schon Fn. 226. 281 282
III. Kritik und Korrekturansatz
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Normbereich zusammen ergeben so die Rechtsnorm292, die im letzten Schritt noch zur individuell-konkreten Entscheidungsnorm293, zum Urteil im konkreten Fall, zu individualisieren ist. Fall
geltend → normativ
Sachverhalt
faktisch
Normtext («Gesetz» o.ä.)
Fallbereich / Sachbereich Rechtsnorm
Normprogramm
(«In einem Fall wie diesem gilt…»)
Normbereich Subsumtion
Normbereichsanalyse
Entscheidungsnorm / «Urteil» («In diesem Fall gilt…»)
Abbildung 3: Der juristische Entscheidungsprozess I
Für das Rechtsurteil werden also einerseits primär sprachliche Daten, Sprachdaten294, herangezogen. Darunter sind all die Texte zu verstehen, die ihrer Herkunft nach von vornherein als sprachlich vertextete Elemente in den Konkretisierungsprozess einfliessen, neben den Normtexten also v. a. die begleitenden Texte des legislativen Prozesses sowie früher geltende Normtexte, aber auch dogmatische, theoretische und weitere Texte. Das Normprogramm ist als „Summe der (jeweils) normativ relevanten Sprachdaten“ zu betrachten.295 Daneben fliessen in den Konkretisierungsprozess andererseits auch Realdaten296 ein, Daten also, die in der juristischen 291 Dazu schon Fn. 225. Zur Differenzierung von rechtserzeugtem und nicht-rechtserzeugtem Normbereich Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 239; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 219 f., Rz. 232 f. 292 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 263 – 274; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rz. 17, u. ö. Danach hat der Wortlaut der Rechtsnorm folgende Struktur: „In einem Fall wie diesem gilt …“. 293 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 264 – 267; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37 f., Rz. 16 / S. 220 f., Rz. 233, u. ö. Der Wortlaut der Entscheidungsnorm, des Tenors, lautet in Anschluss an den der Rechtsnorm dann: „Weil ein eben solcher Fall vorliegt, ergeht dieses Urteil: …“. 294 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 238 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 36, Rz. 13 / S. 431 – 433, Rz. 485 – 488, u. ö. Fürs Folgende überall dort. 295 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 482, Rz. 486. 296 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 238 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 36 f., Rz. 13 / S. 431 – 433, Rz. 485 – 488, u. ö. Fürs Folgende überall dort.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
Textarbeit zwar sprachlich geformt und vermittelt sind,297 ihrer Herkunft nach jedoch der natürlichen und sozialen Wirklichkeit entstammen. Sie sind nicht-primärbzw. sekundär-sprachliche Elemente, deren jeweils am Normprogramm gemessene normativ relevante Summe den Normbereich konstituiert298. Hier setzt die Normbereichsanalyse299 an, die in der Jurisprudenz eher vernachlässigte auch empirischdeskriptive Untersuchung der normativ relevanten Wirkungszusammenhänge. Dieses methodische Modell des juristischen Diskurses macht eine weit treffendere und präzisere Aussage über das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit bzw. Faktizität und Normativität als etwa das in der Jurisprudenz bekannte „Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“300.301 Fakt und Norm, Faktizität und Normativität, stehen sich in der juristischen Arbeit nicht disparat gegenüber, lassen sich nicht durch hin- und herblicken miteinander vermitteln. Mit der Strukturierenden Rechtslehre lässt sich vielmehr zeigen, wie, ausgehend vom geltenden Recht, d. h. von demokratisch-rechtsstaatlich korrekt in Geltung gesetzten Texten, durch methodisch strukturiertes Heranziehen von sowohl Sprachals auch Realdaten Normativität und letztlich Rechts- und Entscheidungsnormen erst geschaffen werden.302 (2) Das Ideal einer wissenschaftlichen Entscheidungslehre: Der juristische Entscheidungsprozess erweist sich als Konkretisierung eines allgemeinen wissenschaftlichen Entscheidungsverfahrens. Im Lichte einer allgemeinen methodisch angeleiteten wissenschaftlichen Entscheidungslehre lassen sich der juristische wie der sozialwissenschaftliche Prozess als Methoden vernünftigen wissenschaftlichen Entscheidens rekonstruieren. Auf der Metaebene der wissenschaftstheoretischen Reflexion unterscheidet sich die Rechtswissenschaft von anderen Sozialwissenschaften unserer Ansicht nach zwar durch ihren Gegenstand und durch ihre disziplinäre Methodik, nicht aber durch die Struktur ihrer Wissenschaftlichkeit: Alle Sozialwissenschaften stellen den Gegenstand ihrer Arbeit erst her, lassen sich dabei aber durch Regeln leiten, welche einerseits durch bereits in ihrer Disziplin oder Schule getroffene inhaltliche Entscheidungen (den Stand der wissenschaftlichen Dogmatik), anderseits durch ihre spezifische Methodik der Herstellung neuer Entscheidungen über ihren GegenMüller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 481 f., Rz. 485, u. ö. 298 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 482, Rz. 486. 299 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 239; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 478 – 487, Rz. 481 – 492: dies., Juristische Methodik II (22007), S. 345 – 383, Rz. 467 – 513. 300 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung (31963), S. 15. 301 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 335, m. w. H. 302 Diese normstrukturelle Analyse entspricht schliesslich auch der neueren pragmatischen Sprachtheorie und -philosophie. Zu Parallelen der Strukturierenden Rechtslehre zur pragmatischen Wende etwa Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 374 – 380, m. w. H.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 203 – 210, Rz. 209 – 218, ebenso m. w. H. 297
III. Kritik und Korrekturansatz
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standsbereich (die disziplinäre oder schulische Methodologie) vorbestimmt sind. Nicht nur die Rechtswissenschaft, auch die andern Sozialwissenschaften sind spezialisierte Entscheidungslehren. Sie entscheiden darüber, was in ihrem Bereich für wahr, wert und gerecht gelten soll. Zur Explikation dieser These soll nochmals auf die Eigenheit der Rechtswissenschaft eingegangen werden. Die Rechtswissenschaft entwirft dogmatische und methodische Regeln, nach welchen der Prozess der juristischen Entscheidung ablaufen soll. Sie hilft, Entscheidungen zu treffen, welche innerhalb der geltenden Rechtsordnung vertretbar begründet sind. Zu diesem Zweck bieten die verschiedenen Teildisziplinen und Schulen der Rechtswissenschaft unterschiedliche Methoden und Rationalitäten an. Sie erheben in divergierender Perspektive Geltungsansprüche auf das richtige Erfassen der Wahrheit, auf die angemessene Gewichtung von Werten der Rechtsordnung und auf den gerechten Ausgleich zwischen diesen Werten. Dabei verstehen sie sich in unterschiedlichem Ausmass als interdisziplinär oder integrativ, d. h. sie anerkennen (die zwar meist dienende) Rolle anderer wissenschaftlicher Ansätze in ihrem Entscheidungsprozess. Methodisch beruht die juristische Arbeit auf einem „Methodenpluralismus“303. Die Gesetzestexte, deren Genese, ihre systematischen Zusammenhänge und ihre Ausrichtung auf gesetzgeberische Ziele und Zwecke sollen zu einem Gesamtbild, zur zeitgemässen Interpretation des Rechts, zusammengefügt werden. Dieser methodische Pluralismus ist nicht Selbstzweck. Er dient einem inhaltlichen Pluralismus, dessen Ziel es ist, die Vielheit der Ziele, Grundsätze und Regeln einer Rechtsordnung in eine praktische Konkordanz304 zu bringen. Wenn nicht auf der abstrakten Ebene des Rechtssystems, so doch zumindest im konkreten Fall soll ein kohärentes und in sich konsistent begründetes Urteil ermöglicht werden. Der juristische Entscheidungsprozess verläuft dabei in einem Wechselspiel von Beobachter- und Teilnehmerperspektive, wobei zwischen Analyse und Beurteilung von Sachverhalt und Norm ein hermeneutischer Zirkel durchlaufen werden muss. Der Jurist führt in einem Kreisprozess den Sachverhalt an die Norm heran und die Norm an den Sachverhalt: Einerseits verallgemeinert er Merkmale des Einzelfalls, anderseits konkretisiert er Merkmale der Norm, bis beide auf einer gemeinsamen Ebene integriert werden können. Dieser Zirkelprozess ist besser als Spirale zu verstehen, welche sich auf den idealen (freilich nicht „vor-handenen“) Fluchtpunkt des zu treffenden Urteils zu bewegt305.
303 Aus der schweizerischen Judikatur hierzu insb. BGE 130 III 76, S. 82, E. 4. Aus den verschiedenen Rechtsgebieten jüngst etwa BGE 136 II 187, S. 194, E. 7.3; BGE 136 III 23, S. 37, E. 6.6.2.1; BGE 134 IV 297, S. 302, E. 4.3.1; BGE 136 V 216, S. 217 f., E. 5.1. Der Methodenpluralismus verlangt – entgegen dem auch unter seinem Namen oft praktizierten Eklektizismus – das Beiziehen sämtlicher methodischer Kriterien. 304 Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte (1961), S. 26 – 36, insb. S. 30. 305 Mastronardi, Juristisches Denken (22003), S. 168 – 176, Rz. 573 – 602, insb. S. 172, Rz. 586.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
Die hermeneutische Spirale ist das Grundgerüst des juristischen Diskurses. Juristische Wissenschaftlichkeit besteht in der methodischen Überprüfbarkeit der Schritte, mit welchen der Jurist Sachverhalt und Rechtsnorm einander annähert. Dabei stehen Methode und Ergebnis in einer wechselseitigen Beziehung. Ähnlich wie die Norm nur im Hinblick auf den Sachverhalt verstanden werden kann (und umgekehrt), ist das Urteil nicht nur eine Folge der Methodik, sondern es gilt auch das Umgekehrte: Die Methode lässt sich nur im Hinblick auf das Urteil bestimmen. Die Methodenwahl findet zwangsläufig schon mit Blick auf das mutmassliche Urteil statt. Der auf dem Vorverständnis der urteilenden Person beruhende Vorausentwurf des Urteils steuert die zu verwendenden Methoden – freilich nicht einseitig, sondern im Gegenspiel der kritischen Kontrolle des Vorverständnisses durch den Pluralismus der Methoden. Der hermeneutische Zirkel ist daher auch auf der Ebene der Methodenwahl unentrinnbar. Solange der Pluralismus der Methoden ernst genommen wird, liegt darin kein Rationalitätsverlust, sondern ein Gewinn. Die Normbereichsanalyse – insbesondere die Rückkoppelung des Urteils an seine tatsächlichen Voraussetzungen und Wirkungen – erhöht die Qualität der Reflexion innerhalb des Urteilsprozesses.
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Abbildung 4: Der juristische Entscheidungsprozess II
Der Zirkel ist auch deshalb notwendig, weil die Methode des Urteilens stets durch Inhalte des materiellen Rechts mitbestimmt wird. Grundsätze und Regeln des Verfassungsrechts – wie die Rechtsgleichheit, die Verhältnismässigkeit oder die Gewaltenteilung und das Legalitätsprinzip – sind zugleich Vorgaben der Methodik. Die Bindung des Gerichts an das Gesetz ist ein materielles Prinzip, setzt aber Massstäbe für die Gewichtung der verschiedenen methodischen Elemente. Dabei versteht der Urteilende erst mit Hilfe der Methodik, was diese Bindung im konkreten Fall für das zu treffende Urteil bedeutet. Methode und Resultat müssen daher auch aus Gründen des materiellen Rechts in einer hermeneutischen Spirale stets argumentativ aufeinander Bezug nehmen306. Da der Einzelne kaum in der Lage ist, alle diese Gesichtspunkte richtig zu erfassen, wird der Urteilsprozess methodisch und institutio306
Mastronardi, Juristisches Denken (22003), S. 177 – 181, Rz. 607 – 622.
III. Kritik und Korrekturansatz
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nell als Diskurs ausgestaltet:307 Methodisch erfordert er die Auseinandersetzung mit Lehre und Rechtspraxis, institutionell wird er durch die Behördenorganisation und das Verfahrensrecht diskursiv verfasst. Die explizit normative Aufgabe des juristischen Urteilens macht den hermeneutischen Zirkel wissenschaftlichen Entscheidens nur besonders sichtbar. Er lässt sich aber auch in den analytisch und empirisch verfahrenden Sozialwissenschaften erkennen. Wird die Perspektive vom reinen Beobachter- auf einen integralen, auch die Teilnehmerperspektive einschliessenden Blickwinkel ausgeweitet, wird deutlich, dass alle Wissenschaften, insbesondere jene über den Menschen und seine Gesellschaft, strukturell ähnlich verfahren. Sie wählen ihren Gegenstand, den Sachverhalt aus einem bestimmten Erkenntnisinteresse her aus. Sie untersuchen ihn in einschränkender Perspektive aus dem Blickwinkel einer richtungsweisenden Forschungsfrage. Sie bestimmen ihre Erkenntnismethoden nach dem Gegenstand, genauer: nach ihrem Erkenntnisinteresse am Gegenstand und ihrer Forschungsfrage, d. h. ihrer Vernunftperspektive. Damit wird Sozialwissenschaft stets von einer idealen Prämisse, einer Rationalität und deren Geltungsanspruch auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit geprägt. Der Fokus mag stärker auf Wahrheitsfragen gerichtet sein als in der Jurisprudenz, aber die methodische Struktur ist analog. Das zuvor kritisierte Versagen der Sozialwissenschaften in ihrem Anspruch auf Vernünftigkeit erweist sich als Folge der perspektivischen Einengung ihres methodischen Selbstverständnisses. Spezialisierung, Isolierung und Vereinnahmung sind Phänomene eines methodischen Reduktionismus, welcher die Vielheit der wissenschaftlichen Kriterien auf möglichst ein einziges zurückführen möchte, um die reale Komplexität der Lebenswelt in den Rahmen eines logisch anwendbaren Systems einzufangen und die wissenschaftlich angeleiteten Entscheidungen zu vereinfachen. Richtigerweise muss auch die moderne Sozialwissenschaft dem Pluralismus der realen Phänomene mit einem Pluralismus von Perspektiven und Methoden begegnen, die sich an den Idealen von Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit orientieren. Wissenschaftlichkeit muss sich der Spannung von Realität und Idee stellen: Sie kann sich dem Pluralismus der Phänomene und der Kriterien nicht entziehen. Vielfalt bleibt im Gegenständlichen wie im Normativen unentrinnbar. Werden aber Faktum und Norm methodisch transparent aufeinander bezogen, lassen sich konkrete Entscheidungen wissenschaftlich begründbar treffen. Pluralismus und Grundsätzlichkeit lassen sich zu einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Methodik der Interrationalität verknüpfen. Der dazu notwendige Gedankengang führt über einen Dreischritt von der juristischen Praxis über das Ideal einer allgemeinen wissenschaftlichen Entscheidungslehre zur sozialwissenschaftlichen Methodik. Im hermeneutischen Vorgriff auf ein Bild vernünftigen Entscheidens lässt sich das juristische Arbeiten als eine herme307 Als Versuch einer umfassenden integralen Verfassung des juristischen Urteilsprozesses Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), zur Übersicht insb. S. 473 – 481. Vgl. auch vorn, Fn. 262.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
neutische Spirale wechselnder Rationalität von empirischer Sachverhaltsanalyse und normativer Entscheidung verstehen. Im Urteil treffen sich optimale Annäherungen an Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit zur methodisch angeleiteten wissenschaftlichen Entscheidung. Im Prozess der methodischen Rekonstruktion der juristischen Arbeit klären sich gleichzeitig Praxis und Ideal wissenschaftlicher Vernunft: Juristisches Arbeiten zeigt seinen Charakter als Anwendungsfall vernünftigen wissenschaftlichen Entscheidens, gleichzeitig werden die Konturen einer allgemeinen wissenschaftlichen Entscheidungslehre geschärft: Im Idealisierungsschritt zeigen sich die Anforderungen der Interrationalität als Integration von Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit in einem fairen Diskurs unter allen legitimen Geltungsansprüchen. Im dritten Schritt, jenem der Transformation des Idealbilds zur Methodik der Sozialwissenschaften, findet die Konkretisierung der allgemeinen Anforderungen auf den Prozess der interrationalen sozialwissenschaftlichen Entscheidung statt. Hier geht es um die Bewährung des Postulats der Pluralistischen Grundsätzlichkeit. Dies muss sich als Methode der Interrationalität ausweisen lassen. (3) Pluralistische Grundsätzlichkeit als Methode der Interrationalität: Diesem Postulat kommt unserer Behauptung nach in der gesamten Sozialwissenschaft Gültigkeit zu: Die verschiedenen Schulen und Disziplinen sollen sowohl ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen der Welt (ihre sektoralen Wirklichkeiten) als auch ihre divergierenden idealen Konzepte und normativen Beurteilungsgrundsätze (disziplinären oder schulischen Normen) beisteuern. Der wissenschaftliche Prozess wird so zum Diskurs unter diesen Wahrnehmungen und Normen, der ähnlich dem juristischen Urteilsprozess als eine hermeneutische Spirale dargestellt werden kann.
Abbildung 5: Der wissenschaftliche Entscheidungsprozess
Diese Darstellungsweise setzt voraus, dass sich das für die Jurisprudenz entwickelte Konzept der pluralistischen Grundsätzlichkeit aus seiner disziplinären Beschränkung lösen und für den interrationalen Diskurs fruchtbar machen lässt. Dies wiederum setzt das zuvor begründete Wissenschaftsverständnis voraus: Wissenschaft ist demnach ein methodisch angeleiteter Entscheidungsprozess, der den Menschen helfen soll, ihre Welt besser zu verstehen und zu bewältigen. Diese Aufgabe
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bedingt die Integration der Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit in der wissenschaftlichen Entscheidung. Die deskriptive Dimension Wahrheit muss auch in den Sozialwissenschaften mit den normativen Dimensionen Wert und Gerechtigkeit verknüpft werden, und dies rationalitätsübergreifend, über die Grenzen der individuellen Konzepte, Schulen und Disziplinen hinaus. Deshalb gilt das aus der Jurisprudenz hergeleitete Gebot der Pluralistischen Grundsätzlichkeit auch hier. Es fordert auch im Zusammenspiel aller Sozialwissenschaften, sämtliche normativen Massstäbe unter fairer Berücksichtigung ihrer grundsätzlichen Dimension zu integrieren. So, wie Juristinnen und Juristen einen Methodenpluralismus pflegen oder Rechtsgüter zu einem Ausgleich bringen, sollte im Zusammenspiel aller Sozialwissenschaften ein Ausgleich der disziplinären Werte und Normen angestrebt werden. Wenn wir dem Anspruch auf Vernünftigkeit von Entscheidungen umfassend gerecht werden wollen, gilt es, das Streben nach Rationalität zu einem Streben nach Interrationalität zu erweitern. Die Rationalitäten bestimmter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von Schulen und Disziplinen sollen nicht länger je für sich, sondern im Zusammenhang verfolgt werden. Neben der Frage nach eigenen Leitideen wie Gerechtigkeit oder Verhältnismässigkeit sollten Juristinnen und Juristen auch die Frage nach Leitideen anderer Disziplinen, etwa der Effektivität oder der Kostenoptimierung stellen. Freilich stellt sich dann aber auch die Anschlussfrage der richtigen Deutung solcher weiteren Leitgedanken sowie die Frage nach ihrer richtigen Integration.
Zwischen den Schulen und Disziplinen ist ein interrationaler Diskurs über die Vernünftigkeit von Entscheidungen gefordert. Der über die disziplinären und schulischen Grenzen hinweg geführte Diskurs soll zu mehr Interrationalität (und dadurch auch zu mehr Rationalität) führen. Dieser interrationale Diskurs soll die rationalen Diskurse nicht etwa ersetzen, sondern konsequent ergänzen. Die Leitidee der Pluralistischen Grundsätzlichkeit wird in diesem Kontext zur Methodik der Interrationalität, nach welcher sich der Diskurs richten muss, wenn er die Chance der Vernünftigkeit verwirklichen will. Pluralistische Grundsätzlichkeit verlangt die Kombination von Vielfalt und Verallgemeinerung im interrationalen Diskurs. Damit erhebt sie gleichzeitig zwei Forderungen: Pluralismus: Die Rationalitäten und Logiken der verschiedenen Schulen und Disziplinen sollen prima facie als gleichberechtigt anerkannt und in einem interrationalen Diskurs geprüft werden. Die Methoden des Umgangs der Diskursteilnehmenden miteinander sind auf das Ziel auszurichten, durch wechselseitiges Lernen einen Zugewinn an Vernunft zu erreichen. Dazu gilt es, Antworten auf eine Mehrzahl von Fragen zu geben, welche sich im Diskurs als legitime Perspektiven des Problems erweisen, das zu entscheiden ist. Im Kontext einer wissenschaftlich zu begründenden Spitalfinanzierung z. B. gilt es, die Topoi aller beteiligten Disziplinen und Schulen zu beachten: den medizinischen Heilungserfolg, den volkswirtschaftlichen Nutzen und die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung, aber auch die juristischen und ethischen Gerechtigkeits- und Fairnessgesichtspunkte, je mit ihren zahlreichen Unteraspekten).
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
Der Pluralismus bildet dabei das Inklusionskriterium, welches dafür sorgt, dass kein schützenswerter Standpunkt ausgeschlossen wird. Zentral ist hier die Forderung nach Inklusion des Andersartigen in den Diskurs über die richtige Entscheidung. Der Pluralismus korrigiert hier das Gleichheitsprinzip, indem er die Gleichbehandlung von Gleichartigem (oder gleich Gewertetem) durch die gleichberechtigte Anerkennung des Andern ergänzt. Die Inklusionsforderung ergibt sich aus dem Anerkennungsanspruch aller in ihrer eigenen Rationalität begründeten Geltungsansprüche im interrationalen Diskurs. Grundsätzlichkeit: Sowohl die Regeln des Diskurses wie die Regeln im Diskurs müssen sich über möglichst allgemeingültige Gründe rechtfertigen lassen. Das Postulat der Grundsätzlichkeit verlangt die grösstmögliche Annäherung an den Massstab der Verallgemeinerung. In diesem Rahmen sind Aussagen anzustreben, die nicht beim Erfordernis der Rationalität Halt machen, sondern darüber hinaus das Erfordernis der Interrationalität beachten. Z. B. darf die Funktionalität des Spitals nicht ausschlaggebend sein. Die Entscheidung der Effizienzfrage muss sich vor Massstäben rechtfertigen lassen, die sich aus der Würde der Patienten und der Gleichberechtigung nach dem Leitbild der gleichen Freiheit aller für die Aufgabe eines Spitals entwickeln lassen.
Die Grundsätzlichkeit dient als Selektionskriterium. Sie formuliert das Begründungserfordernis nach dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit. Sie fordert normative Richtigkeit unter Einschluss sowohl der Wert- wie der Gerechtigkeitsdimension. Der Grundsatz giesst ein Ziel in die Form der Gerechtigkeit. Er formuliert das Ziel auf einer generell-abstrakten Ebene so, dass es für alle Menschen und in allen ähnlichen Fällen gleich gelten soll. Der Grundsatz stellt damit die interne Verknüpfung von Wert und Gerechtigkeit als den beiden normativen Dimensionen der Vernunft her. Grundsätzlichkeit geht aus von Werten, welche im Diskurs faktisch vertreten werden und dank guten Gründen als anerkennungswürdig gelten dürfen; sie fordert sodann die Herstellung eines gerechten Verhältnisses zwischen diesen Werten und anderen, ebenso vertretungswürdigen Wertpositionen. Grundsätze sind dabei immer Normen, nicht Werte. Sie enthalten eine Handlungsanweisung, nicht bloss eine Bewertung308. Werte sagen aus, was für ein bestimmtes Subjekt (ein Individuum oder ein Kollektiv) gut ist. Die Anerkennungswürdigkeit eines Werts liegt in der Begründbarkeit seines universalistischen Anspruchs: Wer einen Wert geltend macht, behauptet, gute Gründe dafür vorbringen zu können, dass etwas für sie oder ihn einen bestimmten Wert habe. Diese Gründe müssen für alle einsichtig sein, wenn sie sich in die Lage dessen versetzen, der den Wert geltend macht. Das bedeutet nicht, dass dieser Wert für alle gültig, also universal sein muss. Die Wertfrage bleibt der Vernunftdimension Wert verhaftet. Wer aber
308 Analytisch sind Werte das Ergebnis einer Beurteilung (als gut oder schlecht), was noch keine Handlung impliziert. Der Schritt von der Bewertung zur Handlungsanweisung bedingt die Formulierung einer Norm (dazu ausführlich Ziff. VIII.1.).
III. Kritik und Korrekturansatz
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behauptet, ein Wert sei für alle gültig, wechselt in die Dimension der Gerechtigkeit und macht aus seiner Wertvorstellung eine Handlungsanweisung in der Form einer Gerechtigkeitsnorm: Er macht einen verallgemeinerbaren Handlungsanspruch geltend, wonach alle nach seinem Wert zu handeln haben. Diesen Anspruch muss er in der Dimension der Gerechtigkeit rechtfertigen. Gerechtigkeitsnormen sind universalisierbare Verhaltensanforderungen, welche den Anspruch erheben, das von ihnen geforderte Handeln sei für alle gleichermassen gut. Grundsätze vertreten Werte somit nur insoweit, als diese sich universalisieren lassen. Wer aus seinem Wert einen Grundsatz machen will, muss diesen Wert in eine Anforderung der Gerechtigkeit transformieren.309 Die Effizienz des Produktionsprozesses mag beispielsweise einen Wert eines Unternehmers bilden. Will er diesen Wert für seine Mitarbeitenden verbindlich machen – also zum Grundsatz erheben –, so muss er daraus eine Handlungsnorm entwickeln, die für alle einsichtig ist. Er wird sich dabei etwa auf das Leistungsprinzip berufen, wonach alle für ihren Beitrag zu einer effizienten Unternehmung gerecht belohnt werden.
Aus diskurstheoretischer Sicht liefert das Konzept der Pluralistischen Grundsätzlichkeit eine Methodik des Begründens, und zwar sowohl auf der Meta-Ebene der Diskurstheorie selbst wie auf der Ebene konkreter Diskurse. Zum einen liefert sie eine Methodik für die Begründung der diskursethischen Regulierung selbst, zum andern leitet sie die Argumente im Diskurs methodisch an und vermag die bisher meist unscharfe Figur der „guten Gründe“ zu konkretisieren: Als Meta-Methode prüft die Pluralistische Grundsätzlichkeit die Regeln der Diskurstheorie darauf hin, ob sie einerseits pluralistisch genug, anderseits hinreichend verallgemeinerungsfähig sind. Sie fragt also danach, ob die Diskurstheorie der Idee der kommunikativen Rationalität entspricht und deshalb für den wissenschaftliche Auseinandersetzung massgeblich sein kann. Hier finden die Fragen zur Interrationalität des wissenschaftlichen Diskurses ihren Platz. Das Konzept verwirft das Postulat der vorgegebenen Universalität des Diskurses, liefert aber eine Methode für dessen Universalisierung: Die Diskursethik muss im Verfahren der Pluralistischen Grundsätzlichkeit überzeugen können. Hier geht es um die Pluralistische Grundsätzlichkeit des Diskurses. Als Methode im wissenschaftlichen Diskurs selbst hingegen prüft das Erfordernis der Pluralistischen Grundsätzlichkeit, ob die Argumente innerhalb einer sprachlichen Auseinandersetzung „gute Gründe“ darstellen. Gute Gründe sind solche, welche sowohl dem Inklusionskriterium des Pluralismus als auch dem Selektionskriterium der Grundsätzlichkeit, d. h. der Verallgemeinerbarkeit in den Vernunftdimen309 Neben Gerechtigkeitsnormen gibt es auch Zielnormen, welche nur in der Wertdimension begründet werden müssen: Wer das für ihn Gute zu seiner Handlungsnorm macht, errichtet für sich eine Zielnorm oder Maxime. Diese erhebt nur einen universalistischen, nicht aber eine universalen Geltungsanspruch und will nur für das handelnde Subjekt richtig sein. Solche Zielnormen haben als solche noch keine Grundsatzqualität, da sie noch keiner Überprüfung in der Gerechtigkeitsdimension unterzogen wurden (mehr dazu hinten unter Ziff. VIII.3.).
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
sionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit entsprechen. Die Pluralistische Grundsätzlichkeit verleiht damit der Figur der „guten Gründe“ in der Diskurstheorie stärkere Konturen. Sie ist eine Konkretisierung des Diskursprinzips und dient als Methode zur Ermöglichung überlappender Konsense unter divergierenden Rationalitäten. Hier geht es um Pluralistische Grundsätzlichkeit im Diskurs. Das Konzept der Pluralistischen Grundsätzlichkeit hat seine Wurzeln zwar in einer juristischen Rationalität. Wenn wir die Sozialwissenschaften aber insgesamt als Entscheidungshilfe zur Lösung von Lebensproblemen begreifen, kann die Rechtswissenschaft einen disziplinübergreifenden Beitrag leisten. In der juristischen Methodik zeigt sich etwas Allgemeineres, das uns bei der Überwindung der Einseitigkeit, welche die fortschreitende Spezialisierung unserer Wissenschaften mit sich bringt, helfen kann. Die Methodik des juristischen Diskurses zeigt uns Schritte eines Argumentationsprozesses, welche die Vernünftigkeit einer Entscheidung erhöhen, wenn es darum geht, deskriptive und normative Beiträge unterschiedlicher Schulen und Disziplinen zu einem interrational begründbaren Ergebnis zu integrieren.
c) Exkurs: Das Gute und das Gerechte im wissenschaftlichen Diskurs Eine zentrale Forderung der Pluralistischen Grundsätzlichkeit und des hier vertretenden Konzepts von Wissenschaft als Entscheidungslehre ist die Ergänzung der Dimension Wahrheit durch die beiden Dimensionen Wert und Gerechtigkeit in allen wissenschaftlichen Fragestellungen. Philosophisch steht dahinter die Ausrichtung allen menschlichen Handelns auf das Gute und das Gerechte. Im Rahmen dieser Studie müssen an dieser Stelle einige Hinweise darauf, wie das Gute und das Gerechte auf den wissenschaftlichen Diskurs einwirken, genügen. (1) Das Gute: In der Wertdimension nimmt die Argumentation eine spezifische Struktur an: Infrage steht jeweils, was gut für jemanden ist. Evaluative Ansprüche sind stets auf einzelne Personen, im Singular oder Plural, bezogen. Der Bezugsrahmen der Diskussion variiert dabei je nach dem zuzurechnenden Subjekt. Der evaluative Diskurs (Wertfrage) unterscheidet sich vom legitimatorischen Diskurs (Gerechtigkeitsfrage) besonders deutlich durch die Möglichkeit einer graduellen Taxonomie: Werte sind mehr oder weniger hoch bzw. etwas ist mehr oder weniger gut, während Gerechtigkeitsnormen entweder verletzt sind oder nicht und allenfalls Intensitätsgrade der Verletzung bestimmt werden können, nicht aber Grade der Gerechtigkeit. Als Kategorie der Wertdimension ist die Bezeichnung „Wert“ derjenigen des „Nutzens“ vorzuziehen, weil diese die Idee des Guten besser ausfüllt als der (eher kurzfristige, partikuläre) Begriff des Nutzens. Nutzenargumentationen werden dadurch nicht ausgeschlossen, sie werden aber in einen grösseren Zusammenhang des Guten gestellt. Auf diese Weise wird etwa die Frage zulässig, ob etwas, das (situativ) nützt, auch als wertvoll betrachtet werden kann. Die Perspektive des Guten kann somit immer nur auf ein bestimmtes, partikuläres Individual- oder Kollektivsubjekt bezogen werden. Das Gute in Bezug auf mehrere
III. Kritik und Korrekturansatz
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(Individual- oder Kollektiv-)Personen ist demgegenüber nicht unter dem Aspekt des Guten, sondern unter dem Aspekt des Gerechten zu betrachten (ein Subjekt im Verhältnis zu einem oder mehreren anderen). Aber auch die Beschränkung auf die Sichtweise einzelner Personen bedarf bereits im konkreten Fall der Konkretisierung. Die Person kann in den verschiedenen Kontexten eine unterschiedlich definierte Subjektivität erhalten, deren „Gutes“ unter jeweils anderen Bedingungen zu bestimmen sein wird. Beispielsweise besteht das für mich persönlich Gute vorderhand in etwas anderem als z. B. das Gute für meine Familie, meine Unternehmung, mein Land oder meinen Kulturkreis, mit denen ich mich allen ebenso identifizieren mag. Aus den verschiedenen hier betrachteten disziplinären Perspektiven treten als „Subjekte des Guten“ z. B. das Individuum (herkömmliche Entscheidungstheorie, Mikroökonomie, Rechtswissenschaft), die Unternehmung (Betriebswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft), die Volkswirtschaft (Makroökonomie, Rechtswissenschaft), die politische Gemeinschaft (Politikwissenschaft) oder gar die Weltgemeinschaft (Ökonomie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft) hervor. Jede Entscheidung wird mindestens auch von einer einzelnen, individuellen Person (mit-)getroffen, und für jede entscheidende Person hat diese Entscheidung auch eine Auswirkung, die sie als mehr oder weniger gut bewerten und deren Bewertung sie zu einem Entscheidungsgrund erheben kann. Dieser – in der herkömmlichen Entscheidungstheorie (vorne Ziff. II.1) im Grunde als einziger behandelte – Aspekt des individuellen Guten des Entscheidungsträgers selbst bildet durchaus einen wichtigen, ebenfalls zu berücksichtigenden Aspekt jeder normativen Entscheidung. Auch wer über das Gute eines anderen Subjekts entscheidet, muss sein eigenes Wohl in der Entscheidungssituation reflektieren und offenlegen. Da je nach Entscheidungsproblem ganz unterschiedliche Subjektivitäten eine Rolle spielen, sollte prinzipiell offenbleiben, welche Subjektdefinitionen im konkreten Fall vorzunehmen sind. Es sollten jeweils sämtliche relevanten „Subjektivitäten“ des Subjekts unter dem Aspekt des für es Guten berücksichtigt werden. Auf diese Weise öffnen sich pro Entscheidungsproblem verschiedene Wertdiskurse oder „Sphären“ der Selbstkritik, die jeweils danach fragen, inwieweit etwas für jemanden gut oder wertvoll ist. (2) Das Gerechte: Im Unterschied zum Guten betrifft das Gerechte die Frage, wie unter dem Aspekt des Verhältnisses zwischen verschiedenen so oder so definierten Subjekten legitimer Weise zu handeln ist. Zusätzlich zu den Einzelpersonen des Guten kommen hier alle weiteren Personen mit in den Blick. Die Legitimität der Handlung bemisst sich dabei danach, ob die intersubjektiven Verhältnisse für alle Betroffenen gleichmässig gut sind, also unter gleichmässiger Berücksichtigung des Guten auch der anderen. Dieser grundsätzliche Aspekt findet sich insbesondere in der Rechtswissenschaft (und vielerorts in der Ethik), der Politikwissenschaft, z. T. auch in der Ökonomie, in der Betriebswirtschaftslehre eher selten. Wie schon in Bezug auf das Konzept des Guten gehen die konzeptionelle Auffassung und die entsprechenden Begründungsstrategien teilweise weit auseinander.
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Erster Teil: Das Problem der rationalen Spaltung der Wissenschaft
In der Gegenüberstellung zum Guten mag dann die Frage aufkommen, ob es in der Gerechtigkeitsdimension ähnlich wie in der Wertdimension unterschiedliche „Varianten des Gerechten“ geben kann. Je nach konkreter Betroffenheit spielen sicherlich die Differenzen im Wohl unterschiedlicher Subjekte eine Rolle, verschiedene „Gerechtigkeiten“ resultieren daraus jedoch grundsätzlich nicht. Konzeptionell ist von einer Gerechtigkeit auszugehen. Der Kern des Gerechten liegt in der universellen Entgrenzung aller Einzelbezüge durch den Einbezug aller, denen Subjektivität zukommt. Eine Partialisierung des Gerechten kommt daher nicht infrage. Was dagegen möglich und zum Zweck der Universalisierung normativer Entscheidungshypothesen methodisch hilfreich ist, ist jeweils eine transparente Definition verschiedener relevanter Subjektkonstellationen, d. h. personellen Beziehungsgefüge in denen das Problem der Gerechtigkeit jeweils spielt. Die Forderungen der Gerechtigkeit variieren, je nachdem, ob die Handlung im Markt, in der Unternehmung, in Politik und Gesellschaft oder im privaten Bereich stattfindet. Solche Konstellationen würden dann nicht eigene „Gerechtigkeiten“ thematisieren. Vielmehr würde dieselbe Gerechtigkeit über unterschiedliche personen- und sachbezogene Kontexte hinweg zu konkretisieren versucht. Eine solche differenzierte Sicht auf dieselbe Gerechtigkeit bietet die Chance, auch den Aspekt des Gerechten nicht nur als ganzen, sondern auch in den relevanten Bezugspunkten jeweils spezifisch zu diskutieren. Die Gerechtigkeitsdiskussionen sind an die jeweiligen Diskussionen über das für ein Subjekt spezifisch Gute anzuschliessen. An jede Diskussion darüber, wie gut oder wertvoll etwas für ein Subjekt ist, soll sich auch eine Diskussion darüber anschliessen, wie sich derselbe Wert zu den Wertansprüchen aller anderen Subjekte unter dem Blickwinkel der Gerechtigkeit verhält. Auf diese Weise entstehen mehrere, unterschiedlich relationierte Gerechtigkeitsdiskurse, die stets dasselbe verfolgen: die Gerechtigkeit der intersubjektiven Beziehung zwischen verschiedenen, je nach ihrem jeweils Guten strebenden Subjekten. Das Gute ist somit der Zielpunkt der Subjektivität – das Gerechte jener der Intersubjektivität (so wie das Wahre den Zielpunkt der Objektivität darstellt). Pluralistische Grundsätzlichkeit verlangt sowohl die Differenz von Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität wie deren Integration in einer richtigen Entscheidung: Die differenzierenden Diskurse jeder Dimension stellen den Pluralismus her, die integrierenden Diskurse zwischen den Dimensionen prüfen die ersten Diskurse auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin, mithin auf die Zustimmungswürdigkeit ihrer Ergebnisse (Grundsätzlichkeit). Wissenschaftlich richtig ist erst jene Entscheidung, welche die Differenzierungen zu integrieren vermag.310
310 Näheres zum Verhältnis des Guten und des Gerechten im wissenschaftlichen Entscheidungsprozess unten, in Ziff. VIII.3.
Zweiter Teil
Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses IV. Der Gedankengang einer vernunftorientierten wissenschaftlichen Entscheidungslehre Unter welchen Voraussetzungen darf Wissenschaft den Anspruch erheben, Vernunft anzustreben? Der erste Teil dieser Studie hat gezeigt, dass die heutigen Sozialwissenschaften diesen Anspruch nicht einlösen. Im Ansatz wurde ein methodisches Prinzip entwickelt, welches dem Anspruch gerecht werden kann: die Pluralistische Grundsätzlichkeit. Im Folgenden sollen fünf Voraussetzungen umschrieben werden, die erfüllt werden müssen, damit sich dieses Prinzip verwirklichen lässt. Es gilt, den wissenschaftlichen Diskurs so zu verfassen, dass er die Vermutung der Vernünftigkeit begründet. Zunächst ist der Beitrag zu ermitteln, den Wissenschaft überhaupt an die Vernunft leisten kann. Als wissenschaftliche Ausprägung von Vernunft soll sich das Streben nach Richtigkeit ausweisen lassen (Kap. V). Richtigkeit fordert dabei den Schritt von Rationalität zu Interrationalität (Kap. VI) und die Orientierung an den drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit (Kap. VII), das Einlassen in einen integrativen Entscheidungsprozess (Kap. VIII) und die Gestaltung dieses Prozesses nach den Regeln der Diskurstheorie (Kap. IX). Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen lässt sich dann für jeden konkreten wissenschaftlichen Diskurs eine auf ihn zugeschnittene interrationale Verfassung bestimmen (Kap. X).
Im Anschluss an die bisherigen Überlegungen kann die Grundfrage dieser Studie folgendermassen formuliert werden: Was macht eine Entscheidung vernünftig, und was muss die moderne Wissenschaft tun, um diese Vernunfterfordernisse einzulösen? Bei der Beantwortung dieser Frage dürfen fundamentale Voraussetzungen moderner Wissenschaftlichkeit nicht missachtet werden. Unter diesen Voraussetzungen gilt es v. a. zu beachten, dass sich richtige Entscheidungen nicht als vorgegebene finden lassen, sondern als aufgegebene (kreativ und normativ) konstruiert werden müssen. Den Entscheidenden auferlegt das die Last, die Konstruktion ihrer richtigen Entscheidung zu begründen. Weil man den Entscheidungen ihre Richtigkeit nicht ansehen kann, braucht es gute Gründe dafür, weshalb vorgeschlagene Entscheidungen als richtig beurteilt werden können. Was gute Gründe für eine richtige Entscheidung sind, ist damit noch nicht gesagt, und es wird die Aufgabe der nachfolgend zu entwickelnden Entscheidungslehre sein, dies zu erörtern. Gesagt werden kann bereits, dass, wie schon die richtigen und damit gut begründeten Entscheidungen selbst nicht vorgegeben sind, es auch
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
die guten Gründe nicht sein werden. Auch sie müssen erarbeitet werden. Was es daher braucht, ist ein Verfahren der Herstellung guter Gründe für richtige Entscheidungen. Dieses Verfahren ist dann der Ort, an dem über die Richtigkeit von Entscheidungen gestritten werden kann und gestritten werden muss. Dieses Verfahren wird letztlich als interrationaler Diskurs über die Richtigkeit von Entscheidungen zu verfassen sein. Somit lässt sich bereits festhalten, dass die angestrebte Vernünftigkeit von Entscheidungen erstens einen idealen Charakter hat (gute Gründe) und zweitens prozedural, d. h. verfahrensabhängig ist (die guten Gründe sind in einem entsprechenden Verfahren herzustellen). Der nachfolgende Gedankengang gliedert sich demnach in sechs Schritte, denen je ein Kapitel gewidmet ist: 1. Wie lässt sich das Ziel prozeduraler Richtigkeit als Forderung der Vernunft formulieren? Wissenschaftliche Erkenntnis muss als methodisch angeleitete Entscheidung verstanden werden, die sich am Leitbild der Richtigkeit orientiert (V.). 2. Angesichts der zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften bedeutet die Vernunftforderung die Ausrichtung der verschiedenen Rationalitäten auf das Ziel der Interrationalität (VI.). 3. Sowohl innerhalb jeder Rationalität wie im interrationalen Verhältnis gilt die Forderung nach Offenlegung der wissenschaftlichen Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit (VII.). 4. Wenn vernünftige Entscheidungen prozedural herzustellen sind: Wie sieht der (ideale) Entscheidungsprozess aus und auf welche Weise können die Erfordernisse der Vernunft dort erfüllt werden? Diese Frage führt zu einer Analyse der Struktur eines (idealen) wissenschaftlichen Entscheidungsprozesses (VIII.). 5. Wenn sich die Vernünftigkeit der im Verfahren herzustellenden richtigen Entscheidungen letztlich auch (real) einlösen lassen muss: Wie lässt sich die Forderung nach Verfahren, welche vernünftige Entscheidungen hervorbringen, realistisch einlösen? Diese Frage führt zu einer Konkretisierung der Diskurstheorie im Hinblick auf den wissenschaftlichen Entscheidungsprozess (IX.). 6. Was die Schritte 1 bis 5 auf abstrakter Ebene versprechen, muss schliesslich konkret für jeden einzelnen wissenschaftlichen Diskurs eingelöst werden: Wie sollen wissenschaftliche Auseinandersetzungen über reale Probleme der Gesellschaft verfasst werden, damit sie die optimale Chance der Annäherung an das Ideal der Vernunft haben? Dazu braucht jeder institutionalisierte wissenschaftliche Diskurs eine interrationale Verfassung (X.). Zur Illustration unseres Modells eines interrationalen wissenschaftlichen Diskurses wählen wir ein Beispiel aus dem Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Praxis aus: Dieses soll einerseits wissenschaftlichen Charakter haben, anderseits den Verwertungszusammenhang wissenschaftlicher Aussagen sichtbar machen, also
IV. Der Gedankengang vernunftorientierter wissenschaftlicher Entscheidungslehre
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nicht nur Forschungsfragen beschlagen, sondern auch die damit zu lösenden gesellschaftlichen Probleme beleuchten. Denkbar wäre dafür ein nationales Forschungsprogramm, ein Kongress oder ein Weiterbildungskurs. Um den Transfer von der Theorie in die Praxis zu gewährleisten, wählen wir ein Beispiel aus der wissenschaftlichen Politikberatung. Ein Expertengremium soll im Auftrag einer Verwaltung wissenschaftliche Daten sammeln und Szenarien einer künftigen Entwicklung formulieren. Wir verlegen das Beispiel in die Schweiz, doch kann es in abgewandelter Form überall vorkommen: Das Eidgenössische Finanzdepartement setzt eine Studienkommission ein, wie sie im Gesetzgebungsleitfaden des Bundesamtes für Justiz vorgesehen ist, wenn es darum geht, eine Vorstudie mit wissenschaftlich-methodischem Anspruch zu verfassen. Im Gegensatz zu den oft in einem späteren Stadium der Gesetzgebung eingesetzten Expertenkommissionen hat die Studienkommission nicht auf gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und geografische Ausgewogenheit zu achten, sondern sie wird nach fachlichen Kriterien bestellt. Sie ergänzt verwaltungsinterne Fachleute mit externen Fachpersonen und soll höchstens 15 Mitglieder aufweisen. Der Vorsitz wird durch das zuständige Departement bestimmt und kann einer Fachperson innerhalb oder ausserhalb der Verwaltung zugewiesen werden311. Thematisch wählen wir den (fiktiven) Fall einer „Studienkommission Finanzmarktregulierung“. Die Kommission soll die Ursachen und Wirkungen der aktuellen Entwicklung im internationalen Finanzmarkt analysieren und Varianten einer staatlichen Regulierung (national und international) entwerfen, welche auf mittlere und längere Frist und mit oder ohne Systemwechsel in der Geld- und Finanzmarktverfassung das Funktionieren des Finanzmarktes im Interesse der Allgemeinheit gewährleistet. 1. Die Studienkommission wird ihren Anspruch auf wissenschaftliche Erkenntnis so relativieren müssen, dass er praktisch einlösbar wird: Sie wird ihr Ergebnis als methodisch richtige Entscheidung verstehen und durch faire Prozeduren herstellen müssen (V.). 2. Sie wird das Ziel prozeduraler Richtigkeit dadurch verfolgen müssen, dass sie Interrationalität anstrebt (VI.). 3. Sie wird die drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit beachten müssen (VII.). 4. Sie wird einen integrativen Entscheidungsprozess zu durchlaufen haben (VIII.). 5. Sie wird ihre wissenschaftlichen Entscheidungen in einem qualifizierten Diskursverfahren treffen müssen (IX.). 6. Sie wird formell und materiell so zu verfassen sein, dass sie die genannten Bedingungen erfüllen kann (X.).
311
Bundesamt für Justiz, Gesetzgebungsleitfaden (32007), S. 34.
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V. Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft Wissenschaft ist als methodisch angeleitetes Entscheidungsverfahren zu begreifen. Wissenschaft antwortet auf die menschliche Notwendigkeit zur Entscheidung über unser Handeln mit einer Methode, welche Richtigkeit im Sinne möglichster Annäherung an Vernünftigkeit gewährleisten soll. Als freie Menschen in einer aufgeklärten Zeit erleben wir unsere Entscheidungen sowohl als Notwendigkeit als auch als normative Forderung: Einerseits müssen wir fortwährend Entscheidungen treffen, anderseits sollen diese Entscheidungen möglichst vernünftig sein.
Die in dieser Studie zu entwickelnde Entscheidungslehre verfolgt das Ziel, ein Verfahren auszuarbeiten, aus dem zumindest vermutungsweise vernünftige Entscheidungen hervorgehen. Wissenschaft soll als Methodik verstanden werden, welche die Richtigkeit von Entscheidungen gewährleistet, wobei Richtigkeit die wissenschaftlich mögliche Annäherung an das Ideal der Vernunft bedeutet. Grundlegend dafür ist das Konzept der Erkenntnis als Entscheidung. Ausgehend von der faktischen Entscheidungsnotwendigkeit und der normativen Forderung nach vernünftiger Entscheidung (1.) wird daher im Folgenden die Leitidee der richtigen wissenschaftlichen Entscheidung entfaltet (2.).
1. Die vernünftige Entscheidung als Notwendigkeit und normative Forderung Üblicherweise verstehen wir die menschliche Entscheidungsfähigkeit als Freiheit. Wir Menschen entscheiden in freier Wahl zwischen Alternativen. Das soll hier nicht bestritten werden. Ausgangspunkt soll im Folgenden aber nicht die Freiheit, sondern der Zwang zur Entscheidung sein. Warum? Solange wir den Menschen als freies, d. h. zukunftsoffenes Wesen begreifen, gehört es zu unseren Existenzbedingungen, dass wir Entscheidungen treffen müssen. Wären wir in die Zukunft hinein determiniert, gäbe es für uns kein Entscheidungsproblem. Da die Zukunft aber unterbestimmt ist und wir darin handeln können, sind wir gezwungen, über unser Handeln Entscheidungen zu treffen. Der Entscheidungszwang ist die faktische Seite der von einem humanistischen Menschenbild normativ geforderten Entscheidungsfreiheit. Als aufgeklärte Menschen wollen wir unsere Entscheidungen zudem möglichst vernünftig treffen. Wir suchen daher die Offenheit der Zukunft, die für uns als Ungewissheit zum Entscheidungsproblem wird, durch Wissen ein Stück weit zu schliessen. In der Wissenschaft suchen wir eine Orientierungshilfe bei der uns obliegenden Entscheidung. Wissenschaft wird so zum Versuch des Menschen, Ungewissheit abzubauen. Wissenschaft ist Entscheidungshilfe. Unter den normativen Prämissen der Aufklärung stellt Wissenschaft den Versuch des modernen Menschen dar, Vernunft herzu-
V. Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft
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stellen. Wissenschaftliche Erkenntnis soll uns befähigen, vernünftig zu entscheiden – oder zumindest die Chancen dazu zu verbessern. Das Faktum der Entscheidungsnotwendigkeit ist nicht nur Ausgangspunkt der Wissenschaft, sondern durchdringt sie in jedem ihrer Schritte. Oft wird angenommen, die Erkenntnis gehe der Entscheidung voraus. Zuerst müsse erkannt werden, was wahr oder richtig sei, und erst dann könne entschieden werden. Der Prozess der Erkenntnis ist der Entscheidung jedoch nicht vorgelagert, sondern ist selbst auch ein Entscheidungsprozess. Entscheidungen prägen den gesamten Prozess der Wissenschaft. Entscheidung wird aber in einer aufgeklärten Konzeption auch zum normativen Inhalt von Wissenschaft: Diese soll eine möglichst vernünftige Entscheidung anleiten. Wissenschaft soll nicht als Hilfsmittel beliebiger Entscheidungen dienen, sondern die Richtigkeit der Entscheidungen fördern. Die Richtigkeit wird zur normativen Vorgabe für die konkrete Entscheidung.
2. Von der vernünftigen zur richtigen wissenschaftlichen Entscheidung Im Folgenden gilt es, die Aufgabe der vernünftigen Entscheidung zu differenzieren: Als erstes soll der Richtigkeitsanspruch als Form der Forderung nach Vernunft im Kontext der Wissenschaft eingeführt werden. Vernunft wird im wissenschaftlichen Kontext in der Form der Richtigkeit angestrebt. Dabei ist zu zeigen, wie der Richtigkeitsanspruch in pragmatische Massstäbe der Vertretbarkeit und der Satisfizierung umgesetzt werden kann (a)). Diese Klärung setzt freilich eine Prozeduralisierung des Richtigkeitsbegriffs voraus. Richtigkeit bezieht sich nicht mehr primär auf das Ergebnis, sondern auf den Prozess, in welchem eine wissenschaftliche Entscheidung getroffen wird (b)). Der so verwendete Richtigkeitsbegriff bleibt trotzdem umfassender als in einem Sprachgebrauch, der das Richtige allein auf Gerechtigkeitsfragen bezieht: Mit Richtigkeit bezeichnen wir den normativen Geltungsanspruch von Wissenschaft in allen drei Dimensionen der Vernunft (c)).
a) Der Richtigkeitsanspruch als Relativierung der Forderung nach vernünftiger wissenschaftlicher Entscheidung Was bedeutet die Forderung nach vernünftiger Entscheidung in der konkreten Entscheidungssituation? Diese zwingt uns zu einer zweistufigen Relativierung von der Vernunft zur Richtigkeit und von dieser zur Vertretbarkeit: Das Vernunftideal wird im konkreten Handeln zur Richtigkeitsforderung, die ihrerseits meist nur nach dem Massstab der Vertretbarkeit erfüllt werden kann. In idealer Weise würde die Vernunft von uns verlangen, die einzig richtige Entscheidung zu treffen. Diese kann aber nur der Fluchtpunkt einer Zielvorstellung der Richtigkeit sein, der als regulative Idee dienen kann, jedoch unerreichbar bleibt. In der faktischen Ent-
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
scheidungssituation lässt sich die Richtigkeitsforderung meist nur in der Form der vertretbaren oder befriedigenden Begründung umsetzen: Die Idee der Richtigkeit hilft uns, die besten Argumente für die Rechtfertigung der zu treffenden Entscheidung zu finden. Auch hier mag ein Blick in die Methodik der Strukturierenden Rechtslehre hilfreich sein. Diese richtet das Vernunftgebot, unter dem jedes rechtliche Urteil steht, auf die Figur der Entscheidungsnorm312 aus. Man kann danach sagen, dass der Satz, der die Entscheidung am Ende des Entscheidungsprozesses anleitet, folgendermassen lautet: „In diesem Fall, unter den konkreten Umständen der vorliegenden Entscheidungssituation, ist es richtig, so und so zu handeln.“ Der Anspruch, der mit einer solchen Aussage erhoben wird, besteht darin, dass es vernünftig sei, so zu handeln, wie es die als richtig qualifizierte Handlungsalternative vorsieht. Richtiges Entscheiden ist – im Beispiel der Rechtswissenschaft – nicht nur eine abstrakte normative Vorgabe der Vernunft, sondern eine konkrete Aufgabe oder Pflicht, die als richtig befundenen Handlungsalternative auch zu verwirklichen. Sie besagt demnach, wie sich die Entscheidenden bzw. die von der Entscheidung Betroffenen konkret verhalten sollen und stellt damit eine Vorschrift oder Präskription dar. In diesem Sinne kann auch die hier verfolgte Entscheidungstheorie als normativ klassifiziert werden.313 Ihr Ziel besteht darin, ein Verfahren hervorzubringen, anhand dessen die Richtigkeit von Entscheidungshypothesen beurteilt werden kann und richtige Entscheidungen herausgearbeitet werden können. Ausgehend von unserer Fachdisziplin verstehen wir somit die in dieser Studie verfolgte Entscheidungstheorie als die Forderung der Vernunft an die Wissenschaft, nach dem Massstab der Richtigkeit zu entscheiden. Die Vernunft bleibt am idealen Horizont aller Wissenschaft. In allen Entscheidungen, die hier und jetzt zu treffen sind, geht es um die wissenschaftlich begründbare richtige Entscheidung. Diese Auffassung enthält allerdings weitere – durchweg normativgeprägte – Implikationen, die es von Anfang an einem besseren Verständnis zuzuführen gilt: (1) Gibt es eine „einzig richtige Entscheidung“? (2) Muss die Vorstellung von einer „richtigen“ Entscheidung in der Praxis der Wissenschaft selbst wieder relativiert werden? (1) Richtigkeit wird oft mit der normativen Forderung nach einer einzig richtigen Entscheidung gleichgesetzt. Wenn etwas richtig ist, so scheint es, dass alles Abweichende eben nicht richtig sein kann. Hier werden zwei Fragen vermischt: Zutreffend ist, dass faktisch immer nur eine Entscheidung zugleich getroffen werden kann. Es gibt im Entscheidungsprozess jeweils nur eine einzige Entscheidung. Diese folgt aus dem faktischen Selektionszwang, der Entscheidungsnotwendigkeit, von welcher diese Studie ausgeht, wenn sie Wissenschaft als methodisch strukturierten EntscheiVgl. z. B. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 470 f., Rz. 467 f. Zu Unterscheidung von deskriptiver und normativer oder präskriptiver Entscheidungstheorie bereits oben, Ziff. II.1.a). 312 313
V. Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft
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dungsprozess thematisiert. Die normative Frage ist sodann, ob diese Entscheidung richtig ist. Dazu gibt es mehr oder weniger gute Begründungen. Je besser die Begründung ausfällt, desto näher wird das Ideal der Richtigkeit verwirklicht. Die normative Forderung nach einer einzig richtigen Entscheidung wird aber immer nur annäherungsweise erfüllt. Nie kann vorausgesetzt werden, dass es eine bestimmte richtige Entscheidung gebe. Die Vorstellung der Richtigkeit ist immer nur ein Vorausentwurf, ein Ziel, das es anzustreben gilt. (2) Daher muss die normative Vorstellung von der „richtigen Entscheidung“ relativiert werden. Es fragt sich nämlich, in welchem Mass diese Vorstellung in der wissenschaftlichen Entscheidung verwirklicht werden kann. Als Operationalisierung von Richtigkeit werden in der Literatur v. a. die Massstäbe der Vertretbarkeit und des Satisficing diskutiert: Die Vertretbarkeit stammt aus dem juristischen Kontext, das Satisficing aus dem ökonomischen. In beiden Fällen geht es darum, einen hinreichend begründeten bzw. befriedigenden Grad der Annäherung an das Ideal der Richtigkeit zu erzielen. Richtigkeit wird zu einem Standard vernünftiger Entscheidung konkretisiert. Vertretbarkeit: Als vertretbar bezeichnen wir eine Entscheidung meist nur, wenn wir daneben auch andere Entscheidungen für begründbar halten.314 Diese Konsequenz lässt sich mit der oben dargelegten prozeduralen Perspektive vereinbaren: Die Wahl eines bestimmten Vorgehens ebenso wie die nachträgliche Beurteilung, ob die Verfahrensregeln eingehalten wurden, lässt stets Spielräume offen. Diese Spielräume können sogar so gross sein, dass sich die verschiedenen vertretbaren Entscheidungsalternativen widersprechen. Es ist die Aufgabe der Verfahrenskonstruktion und Methodik, die unweigerlich verbleibenden Spielräume so zu strukturieren, dass die Entscheidung immer noch als vernünftig qualifiziert werden kann. Die Vertretbarkeit eignet sich zwar als Kriterium für die Richtigkeit bestimmter Entscheidungen. Denn als Prüfkriterium für die Akzeptabilität von methodisch disziplinierten Entscheidungen verweist sie einerseits auf die Anforderungen an eine methodenkorrekte Vorgehensweise und führt mit dem Hinweis auf die unvermeidlichen Spielräume andererseits vor Augen, dass die Kriterien der Richtigkeit die Entscheidung nicht vollständig steuern können. Die Vertretbarkeit ersetzt die Idee der Richtigkeit von Entscheidungen aber nicht. Die Entscheidungssituation der Handelnden definiert sich weiterhin durch deren Streben nach der richtigen Entscheidung als dem idealen Ziel. Überprüfbar wird die Erreichung dieses Ziels aber nur nach dem Massstab der Vertretbarkeit sein. Das Kriterium der Vertretbarkeit hat einen engen Bezug zur Diskurssituation. Als vertretbar werden jene Argumente gewürdigt, welche sich mit guten Gründen im Diskurs bewähren. Vertretbarkeit ist damit ein Qualitätsgrad von Gründen und Ar-
314 Vgl. die Analyse aus rechtlicher Sicht bei Schuhr, Zur Vertretbarkeit einer rechtlichen Aussage (2008), insb. S. 603 f.
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gumenten. Sie gewährleistet die Vermutung auf begründete Zustimmung. Diese Vermutung bleibt aber stets widerlegbar. Eine weitere Charakteristik der Vertretbarkeit liegt in ihrem Bezug zur Gerechtigkeitsfrage. Vertretbare Gründe können zwar sowohl Wert- wie Gerechtigkeitsfragen betreffen, aber sie können den Gerechtigkeitsaspekt nicht ausschliessen. Vertretbare Entscheidungen können zwar bestimmte Personen mit Zumutungen belasten. Diese müssen sich aber noch im Rahmen des Zulässigen bewegen: Sie müssen auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten vertretbar sein. Die grosse Verbreitung der Vertretbarkeit in der Rechtswissenschaft ist deshalb nicht zufällig. Satisficing (Satisfizierung): Satisfizierung beschlägt hingegen nur Wertprobleme. Damit lässt sich auch die Herkunft des Satisfizierungsgedankens aus der ökonomischen Entscheidungstheorie erklären.315 Satisfizierung bedeutet dabei, eine Entscheidung anzustreben, die mit Blick auf das Interesse nach einer optimalen Verwirklichung persönlicher Ziele ein befriedigendes, ein genügend gutes Niveau erreicht. Die Entscheidung mag zwar nicht optimal sein, immerhin aber zufriedenstellend. Die Parallele des Satisfizierungskriteriums zum Vertretbarkeitskriterium lässt sich daran erkennen, dass bei beiden das ideale Entscheidungsziel auf ein vor dem Horizont dieser Zielvorstellung noch akzeptables Niveau gesenkt wird – dessen Erreichen nicht nur leichter ist, sondern auch besser überprüft werden kann. Dementsprechend gilt aber auch für die Satisfizierung, dass sie die entsprechende regulative Idee der Richtigkeit, nicht ersetzt. Ebenso, wie Vertretbarkeit lässt sich Satisfizierung erst vor dem Horizont eines Ideals begreifen. Auch hier kann die Vorstellung von Richtigkeit als wissenschaftlich anzustrebende Vernunft nicht aufgegeben werden. Vergleicht man die beiden Massstäbe, so zeigt sich, dass die Vertretbarkeit umfassender ist. Während Satisfizierung nur der Wertdimension Rechnung trägt, umfasst Vertretbarkeit auch die Gerechtigkeitsdimension. Zudem lässt sich die Satisfizierung weniger gut auch als höherstufiges Kriterium zur Beurteilung des gewählten Verfahrens verwenden. Satisfizierung hängt nicht davon ab, ob bestimmte Verfahrensvorgaben eingehalten werden. Hier zählt nicht die Qualität des Vorgehens, sondern jene des Ergebnisses. Es muss ein bestimmtes Niveau der Befriedigung materieller Präferenzen erreicht werden. Satisfizierung und Vertretbarkeit erheben damit nicht den gleichen Geltungsanspruch. Satisfizierung zielt auf substanzielle Werthaltigkeit ab, während Vertretbarkeit sich darüber hinaus auch auf prozedurale Gerechtigkeit ausrichten kann. Während Satisfizierung sich nur auf das Ergebnis einer Optimierung von Werten ausrichtet, kann Vertretbarkeit sich auch an einem Verfahren des gerechten Ausgleichs orientieren.
315 Zum auf Herbert Simon zurückgehenden Ansatz in der Ökonomie etwa Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 54 – 59.
V. Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei der Vertretbarkeit und der Satisfizierung um durchaus sinnvolle Ergänzungen, nicht aber um Ersetzungen der Richtigkeitsvorstellung handeln kann, der (im beschriebenen Sinne) die regulativideelle oder fluchtpunktartige Charakteristik der Einzigkeit eingeschrieben bleibt. Die Richtigkeit bleibt der Zielpunkt am Horizont, vor dem überhaupt erst über die Vertretbarkeit von Entscheidungen gestritten werden kann.
b) Zur Prozeduralisierung des Richtigkeitsanspruchs Richtigkeit ist im Vorstehenden einerseits zur massgebenden Qualität wissenschaftlicher Entscheidung erhoben worden; anderseits haben wir sie auf ihren bloss prozeduralen Charakter reduziert. Vor allem gegen die zweite These mag die Frage aufgebracht werden, ob sie nicht der Alltagserfahrung widerspricht: Dass wir, so sehr wir uns auch anstrengen mögen, gut begründete Entscheidungen zu treffen, doch immer wieder auch Fehlentscheidungen treffen, also Entscheidungen, welche unsere inhaltlichen Richtigkeitsvorstellungen verfehlen. Hinter dieser Feststellung steht ein materieller Vernunftbegriff, der noch einmal die Ontologie einer substanziellen Richtigkeit rehabilitieren will und etwa besagt, dass wir es letztlich oder zumindest teilweise einfach nicht in der Hand hätten, uns richtig zu entscheiden – gute Begründung hin oder her. Wie steht es z. B. mit Entscheidungen, die – trotz guter Begründung – zu einem misslichen Ausgang führen, weil ein nicht vorhergesehenes Unglück eingetreten ist? Wer so argumentiert, müsste belegen können, dass es eine vorgegebene materiell richtige Entscheidung gegeben hätte. Damit hat er aber eine viel grössere Argumentationslast zu tragen, als derjenige, der sich auf einen prozeduralen Richtigkeitsbegriff beschränkt. Zudem spricht gerade die Alltagserfahrung für eine Beschränkung auf einen bescheideneren Richtigkeitsanspruch. Wer unbedingte Richtigkeit für sich beansprucht, riskiert früher oder später, widerlegt zu werden. Inhaltlich ist dem Vorwurf möglicher Fehlentscheidung mit einer zweifachen Argumentation zu widersprechen. Als Erstes kann dem substanziellen Richtigkeitsoder Vernunftverständnis mit dem Argument begegnet werden, dass die getroffenen Entscheidungen eben nicht gut begründet und daher nicht richtig waren. So könnte es im genannten Beispiel etwa sein, dass das eingetretene Unglück wegen einer unzureichenden Untersuchung der Faktenlage nicht vorhergesehen wurde. Als Zweites gilt es ausserdem klarzustellen, worauf sich die Richtigkeit einer Entscheidung beziehen kann. Wenn das Unglück nicht vorhergesehen wurde, aber hätte vorhergesehen werden können, dann war die Entscheidung falsch, weil eben schlecht begründet. Konnte das Unglück zum Zeitpunkt der Entscheidung allerdings nicht vorhergesehen werden, dann kann – trotz des eingetretenen Unglücks – die Entscheidung nicht als falsch bezeichnet werden: Es war eben Unglück. Entscheidungen beziehen sich nur auf das, was entschieden werden kann.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
Eine differenziertere Analyse des Problems, die auch mit Wahrscheinlichkeiten operiert, ändert daran im Grundsatz nichts: Die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks wäre dann zur Risikobereitschaft der Entscheidenden ins Verhältnis zu setzen. Tritt das Unglück nach erfolgter Entscheidung dann ein, dann kann auch hier nicht von einer Fehlentscheidung gesprochen werden. Es war kalkuliert in Kauf genommen worden. – Es sei denn, die Entscheidenden haben sich über die Wahrscheinlichkeit oder ihre Risikobereitschaft – trotz möglichen besseren Wissens – getäuscht. Dann aber wäre wiederum ihre Entscheidung nicht gut begründet. Das Beispiel zeigt, dass der prozedurale Richtigkeitsbegriff durchaus mit inhaltlichen Argumenten umgehen kann. Die Beurteilung eines Arguments bezieht sich bloss nicht auf einen vorausgesetzten Massstab materieller Richtigkeit, sondern auf die Zustimmungswürdigkeit im Diskurs.
c) Richtigkeit als Geltungsanspruch in allen drei Dimensionen der Vernunft Trotz ihrer Beschränkung auf das diskursive Verfahren und die darin ausgetragenen Argumente beschränkt sich Richtigkeit im hier verstandenen Sinn nicht auf die Dimension der Gerechtigkeit. In diesem eingeschränkten Sinn verwendet etwa Jürgen Habermas den Begriff der Richtigkeit in seiner Sprach- und Handlungstheorie. Bei ihm hat Richtigkeit (nur) den spezifischen Sinn einer „Gerechtigkeitsrichtigkeit“, die in Gänze auf den Geltungsanspruch „richtiger“, d. h. gerechter interpersonaler Beziehungen gerichtet ist.316 Schon gemessen am Alltagsverständnis erscheint dieser Gebrauch von Richtigkeit als mindestens unvollständig. Wenn wir von richtigen Entscheidungen reden, meinen wir mehr als „nur“ gerechte Entscheidungen. Der Anspruch richtiger Entscheidungen zielt vielmehr auf eine umfassend zu verstehende „Handlungsrichtigkeit“ oder „Entscheidungsrichtigkeit“317. Richtigkeit bezeichnet die höchste normative Qualität einer Entscheidung und umfasst neben der Gerechtigkeitsdimension auch die Wertdimension, ja sogar die Wahrheitsdimension.318 Handlungs- oder Entscheidungsrichtigkeit will alle in einer Entscheidung implizierten Geltungsansprüche ganzheitlich erfüllen: den Wahrheitsanspruch, den Wert-
Grundlegend Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 66 – 71. Vgl. Hoffmann-Riem, Organisationsrecht als Steuerungsressource (1997), S. 360 f., m. w. H. 318 In diese Richtung hätte auch Habermas’ spätere Differenzierung der praktischen Vernunft nach pragmatischen, ethischen und moralischen Fragestellungen gehen können: Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft (1991). Mit der gleichursprünglichen Ausdifferenzierung von „pragmatischen“ und „ethischen“ sowie einer lexikalischen Ordnung zwischen „ethischen“ und „moralischen“ Fragestellungen geht Habermas jedoch einen anderen Weg, dem hier nicht gefolgt wird. 316 317
V. Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft
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und den Gerechtigkeitsanspruch (eingehend zu den Geltungsansprüchen im Einzelnen und im Zusammenhang unten, Kap. VII). 1. Der Wahrheitsanspruch bezieht sich auf die Wahrheit der vorausgesetzten Tatsachen und der Zustände, die als mögliche Wirkung einer Handlung erwartet werden; 2. der Wertanspruch bezieht sich auf den Wert einer Situation oder Handlung für die infrage stehenden Personen (oft die Entscheidenden selbst); 3. der Gerechtigkeitsanspruch schliesslich bezieht sich auf die gerechte Gestaltung der sozialen Beziehungen, in denen sich die Entscheidung vollzieht. Insgesamt meint der hier verwendete Begriff der Richtigkeit die ideale Qualität einer wissenschaftlichen Entscheidung. Richtigkeit ist die optimale Annäherung an die Vernunft mit wissenschaftlicher Begründung. Sie umschreibt das Ziel, mit den Methoden der Wissenschaft die drei Dimensionen der Vernunft optimal zu verwirklichen. Wie die Vernunft bleibt auch sie ein Fluchtpunkt, ein Regulativ, aber beschränkt auf den wissenschaftlich fassbaren Bereich. Richtigkeit ist das Ideal der Vernunft in den Formen der Wissenschaftlichkeit.
3. Beispiel Die Studienkommission Finanzmarktregulierung wird ihren Geltungsanspruch auf Wissenschaftlichkeit praktikabel machen wollen, indem sie sich auf gut begründete, insbesondere nach den wissenschaftlichen Standards vertretbare Methoden und Ergebnisse konzentriert. Sie muss deshalb den Gegenstand ihrer Arbeit und die Fragestellungen dazu definieren und festlegen, auf welchem Wege sie ihr Ziel anstreben will. Insbesondere wird sie den Entscheidungsprozess so zu gestalten haben, dass er dazu führen kann, dass alle Vernunftdimensionen (Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit) und alle relevanten Aspekte Berücksichtigung finden. Am besten wird sie sich dafür eine Geschäftsordnung und einen Arbeitsplan geben.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft Wissenschaftliche Vernunft fordert die gegenseitige Integration spezifischer Rationalitäten mit dem Ziel der Interrationalität. Der rationale Diskurs ist immer partikulär. Er muss in einen Prozess der Integration mit anderen Rationalitäten eingebracht werden, um die Chance der Vernunft zu erlangen. Nur durch Interrationalität kann der Geltungsanspruch auf Vernünftigkeit erfüllt werden, den Wissenschaft erhebt.
Zunächst gilt es, das Ziel der Interrationalität zu begründen (1.). Danach soll ein Analyseschema entworfen werden, welches hilft, den Übergang von Rationalität zu Interrationalität zu bewältigen. Im Gespräch unter verschiedenen Rationalitäten geht es darum, nicht beim Vergleich der Antworten anzusetzen, sondern bei den unterschiedlichen Fragen, welche zu Beginn jeder Forschung gestellt werden, also beim Verhältnis von Frage zu Frage (2.). 1. Interrationalität als Ziel Vernunft und somit wissenschaftliche Richtigkeit impliziert die Transformation von Rationalität zu Interrationalität. Rationalität zielt immer auf eine beschränkte Wahrheit, auf selektionierte Werte und auf partielle Formen von Gerechtigkeit. Sie reduziert ihre Aufgabe, Vernunft anzustreben, durch ihre spezifische Denkformen und Methoden und diszipliniert mit diesen Instrumenten ihre eigene Vorstellung von Richtigkeit. Sie verfehlt damit notwendigerweise das Ganze der Vernunft, ja, sie verfehlt auch das wissenschaftlich Mögliche an Richtigkeit. Der Pluralismus der Rationalitäten muss daher in einen Prozess der gegenseitigen Verständigung eingebracht werden. Im gegenseitigen Übersetzen und Verstehen sind die beteiligten wissenschaftlichen Positionen in eine ganzheitlichere Form von Richtigkeit überzuführen. Das ist kein hierarchischer Prozess, sondern eine horizontale Begegnung zunächst gleichberechtigter Wahrheiten, Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen. Es wird keine Super-Rationalität angestrebt, sondern eine Interrationalität, in welcher die einzelnen Rationalitäten nicht aufgelöst, sondern nur integriert werden, d. h. als teilautonome Einheiten erhalten bleiben. (1) Erläuterung: Interrationalität bedeutet, dass eine Begründung nicht nur innerhalb der Vernunftvorstellung einer bestimmten Denkweise (von Personen, Schulen oder Disziplinen) überzeugen muss (Rationalität oder zur Abgrenzung auch betont Intrarationalität). Darüber hinaus muss sie auch in der Auseinandersetzung mit allen anderen Rationalitäten zustimmungswürdig sein (Interrationalität). Auf der methodischen Ebene unterscheiden sich Rationalität und Interrationalität durch die Fragen und Antworten, sie sie stellen (mehr dazu sogleich unter (2.): Im rationalen Diskurs wird der Anspruch erhoben, innerhalb einer bestimmten Rationalität richtige Antworten auf ausgewählte Fragen zu finden. Ein solcher Diskurs über Rationalität wird häufig – wenn auch nicht ausschliesslich – innerhalb der Grenzen bestimmter institutionalisierter Schulen oder Disziplinen
VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft
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geführt. Er bezieht sich dabei meist auf eine spezifische, ausgewählte Fragestellung (z. B. auf die Effizienz unseres Gesundheitswesens). Der interrationale Diskurs setzt hingegen meist bei der Relation zwischen verschiedenen Fragen mit unterschiedlicher Rationalität an und versucht, – erstens zwischen diesen Fragen eine wechselseitige Verständigung herzustellen (Diskurs zur Verständlichkeit unterschiedlicher Fragestellungen: hier geht es um eine Übersetzung in der Relation von Fragen – z. B. ist zu fragen, ob Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen oder Schulen das Gleiche unter der Frage nach einem möglichst effizienten – oder umfassender: richtig geführten – Spital verstehen); erst dann kann der interrationale Diskurs – zweitens auf die verschiedenen rationalen Antworten auf die ausgewählten Fragestellungen bzw. die Integration der Rationalitäten bei der Problemlösung eintreten (materieller interrationaler Diskurs – z. B. ob die Einführung einer Fallpauschale die Effizienz des Spitals erhöht – sowie anderen Leitprinzipien entspricht, die sich aus dem Diskurs ergeben).
Die Forderung nach „interrationaler Richtigkeit“ stellt die Gültigkeit von wissenschaftlichen Entscheidungen unter die Anforderung, richtige Entscheidungen mit wissenschaftlichen Mitteln im umfassenden Sinn des Wortes vernünftig (d. h. nicht nur rational, sondern interrational) herzustellen. Interrationalität beschreibt das Bemühen, Wissenschaft gezielt rationalitäts-, und d. h. personen-, schulen- und disziplinenübergreifend zu praktizieren. In substanzieller Hinsicht heisst das zum einen, dass die verschiedenen rationalitätsspezifischen Fragestellungen in einen Zusammenhang gebracht und im Zusammenhang auch beantwortet werden. Die entsprechende Forderung nach Interpersonalität, Interdisziplinarität und auch nach einem schulenübergreifenden Ansatz ist dabei eine zwingende Implikation der Forderung nach Interrationalität, da die isoliert kultivierten Rationalitäten ihren Sitz ja immer in den spezialisierten Schulen und Disziplinen oder im Denken einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben. Das interrationale „Zusammendenken“ der unterschiedlichen Rationalitäten und Fragestellungen soll schliesslich besseres Wissen hervorbringen als die Erforschung isolierter Kontexte. Zum andern bedeutet das Interrationale den Versuch, qualifizierte Uneinigkeiten einander anzunähern. Zu einem erheblichen Teil betreffen die Differenzen zwischen den rational differenzierten Logiken nämlich nicht nur die „Frage – Frage“-Problematik, sondern auch die „Antwort – Antwort“-Problematik. Mit ihrer integrativen Herangehensweise will Interrationalität beide Arten von Differenz in Arbeit nehmen, statt sie einfach hinzunehmen. Interrationalität verfolgt also das doppelte Ziel einerseits der Übersetzung (des Verständlichmachens) zum Zweck der kontextuellen Verknüpfung, andererseits der Verständigung zum Zweck der Einigung. Interrationalität wird genau aus diesem Grund aber auch mit grossen Schwierigkeiten konfrontiert. Mit dem Blickwechsel zur Interrationalität brechen die Pro-
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
bleme der beiden analytischen Differenzen voll auf: Neben dem wohl üblicheren Problem des Widerstreits um die richtigen Antworten (Relation „Antwort – Antwort“) bringt sich auch das Problem der Vermittlung zwischen verschiedenen Fragen (Relation „Frage – Frage“) voll ein. Zudem darf die Herausforderung der bereits intern vorfindlichen Uneinheitlichkeit insbesondere der Disziplinen nicht unterschätzt werden. Gerade die disziplinäre Differenzierung hat auch eine erhöhte binnendisziplinäre Vielfalt, soll heissen eine gesteigerte Anzahl innerdisziplinär unverstandener Fragestellungen und widerstreitender Rationalitäten zur Folge. Interrationale Theorie muss daher einen Weg finden, wie der jeweiligen Vielzahl binnendisziplinärer Rationalitäten Genüge getan werden kann. Den gesuchten binnendisziplinären Zusammenhang bilden allenfalls die – jeweils nachvollziehbar herauszuarbeitenden – disziplinären Rationalitäten, soweit sie sich als typische disziplinäre Ansätze operationalisieren lassen. Wichtig bleibt ausserdem, dass die um die interrationale Dimension erweiterte wissenschaftliche Praxis die rationale nicht ablöst. Rationalität und Interrationalität sind realistisch zu integrieren, wodurch sich Interrationalität methodisch als ein hermeneutischer Prozess wechselnder Rationalität präsentiert. In jeder Hinsicht gilt es einen entdifferenzierenden, Assimilation anstrebenden Unitarismus ebenso zu vermeiden wie einen indifferenten, nach Parallelität strebenden Partikularismus. Anzustreben ist eine faire praktische Integration der verschiedenen Sichtweisen.319 Wir verwenden den Begriff der Interrationalität oft dort, wo bisher der Begriff der Interdisziplinarität üblich gewesen ist. Interdisziplinarität ist nur ein Sonderfall von Interrationalität, der dann eintritt, wenn eine bestimmte Streitfrage innerhalb der beteiligten Disziplinen gleich gestellt (und beurteilt) wird, jedoch anders als in anderen Disziplinen. Soweit Interrationalität daher nach Interdisziplinarität verlangt, heisst Interdisziplinarität, die in den verschiedenen Disziplinen beheimateten Rationalitäten und Logiken aus ihrer Kleinräumigkeit heraus zu bitten und an der Begründung von integralen Richtigkeitsentscheidungen zu beteiligen. Der Begriff der Interrationalität soll dabei in Erinnerung bringen, dass die partiellen wissenschaftlichen Rationalitäten und Logiken nicht über Bord geworfen werden können. Das Heraustreten aus dem rationalen Kontext muss im Wechselspiel mit der Rückkehr in die rationalen Streiträume geschehen. „Interrationale“ Richtigkeit bezeichnet daher v. a. die methodische Stossrichtung einer integrativen Entscheidungslehre, der es letztlich darum geht, in jeder (wissenschaftlich greifbaren) Hinsicht überzeugende oder zumindest zustimmungswürdige Begründungen für richtige Entscheidungen zu liefern. Der Weg über ein integratives Zusammenspiel von Rationalitäten und Logiken aus den verschiedenen persönlichen Denkweisen, Schulen und Disziplinen ist dazu schlicht notwendig.
319
Vgl. Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 169 – 210.
VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft
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Der Begriff der Interrationalität hat demnach zwei Bedeutungen: 1. Interrationalität ist primär ein Ziel: die Integration der wissenschaftlichen Rationalitäten zu einer möglichst richtigen, am Vernunftideal orientierten Entscheidung. Sie ist die Form, in welcher Wissenschaft sich der Vernunft annähern kann. 2. Interrationalität ist zugleich eine Methode zur Herstellung richtiger Entscheide: Sie fordert ein Verfahren, in welchem die Verständigung unter wechselnden Rationalitäten im wissenschaftlichen Diskurs angestrebt wird. Die einzelnen Rationalitäten können sich im Laufe des Diskurses durch den einsetzenden Lernprozess zwar verändern, sollen dabei nicht aufgehoben werden. Jeder Teilnehmer bleibt primär seiner Rationalität verhaftet; nur das Diskursresultat wird interrational, weil der Diskurs auf dieses Ziel ausgerichtet wird. Interrationalität ist als Methode ein Prozess der wechselnden Rationalitäten. Als Ziel bleibt sie der Anspruch auf Integration der Rationalitäten in ein interrationales Ergebnis. (2) Verteidigung: Die hier vorgetragene These fordert die Integration von Wissen und Kontextwissen. Da jede Rationalität immer auch auf ein (interrationales) Ganzes der Vernunft verweise, sei es nötig, die Kategorie des Ganzen in den Prozess der Wissensgenerierung zu integrieren. Ohne Interrationalität sei Rationalität nur eine halbierte Vernunft. Die hier angesprochene Kategorie des „Ganzen“ begegnet in wissenschaftlichen Diskursen heutzutage rasch grundsätzlicher Skepsis. Diese Skepsis richtet sich üblicherweise zunächst (zu Recht) gegen die Vorstellung einer vorgegebenen Einheit. Diese Skepsis wird in dieser Studie durchaus geteilt. Sofern sich die Skepsis im Weiteren aber auch auf die Vorstellung bezieht, unterschiedliche Perspektiven auch unter dem Aspekt eines gemeinsam geteilten Zusammenhangs zu vermitteln, ist hier zu widersprechen. Die These der notwendigen Interrationalität wissenschaftlicher Vernunft ist sicherlich anspruchsvoll. Können Skeptiker die Forderung nach Rationalität möglicherweise noch nachvollziehen – nichts anderes beanspruchen sie mit ihrer Skepsis selbst –, so weigern sie sich aber, auch die Forderung nach „Kontextabilität“, soll heissen Interrationalität, anzuerkennen. Tatsächlich aber tragen wir alle diese Forderung nach Interrationalität zumindest im Ansatz tagtäglich mit uns herum. Die wohl einfachste Form einer Plausibilisierung dafür bildet der bereits mehrfach angeführte erforderliche Zusammenhang zwischen deskriptiven Aussagen über Fakten und deren normativer Beurteilung. Auch wenn die spezifischen Antworten auf diese Fragen einerseits für sich beantwortet werden wollen, so setzen sie doch immer auch zusätzlich voraus, sich im weiteren Fragenzusammenhang zu bewähren. Eine Wahrheitsaussage z. B. will eben nicht nur als wahre Aussage taugen, sondern auch als deskriptive Grundlage für eine normative Bewertung oder Rechtfertigung. Und dafür gibt es je nach Perspektive unterschiedliche Gründe, wie wir täglich erfahren.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
Die Forderung nach Interrationalität ist uns dem Ansatz nach noch aus einem anderen, nicht weniger geläufigen Zusammenhang vertraut: demjenigen von Abstraktion und Konkretion. So nimmt etwa ein grundlegendes Naturgesetz in Anspruch, nicht nur „überhaupt“ zu gelten, sondern auch in jedem konkreten Fall. Dort treffen aber oft mehrere Gesetze aufeinander. So folgt die Bewegung der Gewitterwolken etwa der Gravitation, der Thermodynamik und der Elektrizität zugleich. Ganz ähnlich liegt die Situation z. B. in Bezug auf Gerechtigkeitsprinzipien, die mit universellem Anspruch auftreten. Weil „jeder Fall“ nicht einfach nur eine Anwendung eines universell gültigen Prinzips ist, sondern auch für sich wieder einen eigenen Kontext mit spezifischen Fragestellungen konstituiert, ist auch diese Art der Generalisierung bzw. Konkretisierung auf eine Art Interrationalität angewiesen. Die Praxis zwingt uns laufend, den konkreten Fall aus der Perspektive mehrerer Prinzipien zu beurteilen. Eine beliebte Strategie von Skeptikern ist es, angesichts solcher Plausibilitäten gewissermassen die Spur zu wechseln. Mangels griffiger Gegenargumente verfolgen sie nicht mehr die Absicht, das Vernunfterfordernis als solches zu bestreiten – sie bestreiten jetzt nur, dass es möglich sei, es einzulösen: Mag die Forderung nach Interrationalität „in der Theorie“ oder „abstrakt“ bestehen können, so sei es doch „in der Praxis“ oder „im konkreten Anwendungsfall“ zum Scheitern verurteilt. Hinter dieser Behauptung steht ein absoluter Anspruch: Alles, was das Ideal verfehlt, ist ein Scheitern. Dabei gilt auch für den Aspekt der Interrationalität, was für vorne (in Ziff. V.2.a)) die Richtigkeit als ganze ausgeführt worden ist. In aller Regel genügt es auch im interrationalen Diskurs, Vertretbarkeit oder Satisfizierung zu erreichen. Wird der Anspruch auf diese Weise relativiert, besteht aber kein Anlass, daran zu zweifeln, dass die Forderung nach Interrationalität auch einlösbar ist. Die Gründe hierfür liegen dabei nicht (allein) – wie Skeptiker vielleicht glauben mögen – in einer idealen Hoffnung auf die Leistungsfähigkeit sorgfältiger Wissenschaft (das allein wäre in der Tat Wunschdenken). Es kann mindestens dreierlei angeführt werden: Erstens und vorweg bedeutet die Forderung nach Interrationalität von vornherein gar nichts so Riskantes, weil sie auch von „Konkurrenzdruck“ entlastet. Sie erweist sich für alle Beteiligten als annehmbare Herausforderung. Wer zu Interrationalität beitragen will, kann nicht allein verlieren, sondern höchstens gemeinsam scheitern – oder dazugewinnen. Zweitens fusst der Gedanke der Interrationalität nicht auf Spekulation im luftleeren Raum, sondern auf einer präzisen Rekonstruktion überzeugender Zusammenhänge. Z. B. liefert erst die Idee der Interrationalität eine ausreichende Erklärung für das richtige Zusammenspiel von Normativität und Faktizität, Abstraktion und Konkretion, Allgemeinem und Besonderem usw. Drittens stellt die Forderung nach der Relationierung spezialisierter Rationalitäten auch keine überzogenen Anforderungen. Sie verlangt nicht mehr als die Vervollständigung des Verständnisses von Wissenschaftlichkeit. Im Übrigen ist Interrationalität auch praktisch unentrinnbar: Die Welt erscheint uns zwar immer nur in einer selektiven Wahrnehmung von Einzelproblemen. Letzt-
VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft
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lich – das merken wir immer dann, wenn wir uns in konkreten Problemlösungen versuchen – bilden die Einzelprobleme aber ebenso wie die dazugehörenden Fragen einen ganzen Problemzusammenhang.
2. Von der Rationalität zur Interrationalität Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erheben explizit oder implizit einen idealen Anspruch auf Rationalität: Sie wollen auf ihre Weise „richtige“ Antworten auf ihre Fragen liefern. Sie streiten sich aber gewöhnlich auf der Ebene des Verhältnisses von Antwort zu Antwort – in der Annahme, es werde von allen die gleiche Frage gestellt (Konkurrenz der Antworten). Diese Annahme gilt es zu hinterfragen: Vor dem Eintritt in das „Antwort – Antwort“-Verhältnis ist nach dem „Frage – Frage“-Verhältnis zu fragen (Relationierung der Fragen): Antworten die strittigen Antworten auf andere Fragen, so gilt es, sich über die Fragen zu verständigen und ihre gegenseitige Relation zu thematisieren. Auf diese Weise werden die divergierenden Logiken zu einander in eine interrationale Beziehung gesetzt. Die spezialisierten Logiken werden so durch die Interrationalität der Verständigung über verschiedene Fragen und deren Antworten ergänzt. Erst der wechselseitige Diskurs über Rationalität und Interrationalität schafft die Chance zur Annäherung an die regulative Idee der Vernunft. Die Unterscheidung von Rationalität und Interrationalität gründet in zwei Differenzierungen: Zunächst in der analytischen Unterscheidung danach, ob eine bestimmte Antwort sich auf die gleiche Frage bezieht, wie eine andere: Dem Verhältnis von Antwort zu Antwort wird analytisch das Verhältnis von Frage zu Frage vorgelagert (a)). Diese analytische Struktur ist sodann, aber nur dann rationalitätsrelevant, wenn sie sich auf Fragestellungen bezieht, die sich durch unterschiedliche Rationalitäten verschiedener Wissenschaftlerinnen, Schulen oder Disziplinen kennzeichnen (b)). a) Die Fragenabhängigkeit von Antworten Der analytische Unterschied zwischen den sich widersprechenden Antworten handelt davon, ob Antworten sich auf die gleiche Frage beziehen oder nicht. Unterschiedliche Antworten können sich auf eine gemeinsame Fragestellung beziehen. Hier wird mit Blick auf eine bestimmte Fragestellung darüber gestritten, wie die richtige Antwort lauten soll. Die widerstreitenden Meinungen gehen also von einer gemeinsamen, mehr oder weniger gleich verstandenen Fragestellung aus, in deren Beantwortung sie jedoch uneinig sind. Wir bezeichnen diese Art der Differenz kurz als die Problematik „Antwort – Antwort“. Gemeint ist damit, dass hier verschiedene Antworten mit Blick auf eine Frage in Konkurrenz stehen. Ein typisches Beispiel dafür wäre etwa der Streit bezüglich eines bestimmten Geltungsanspruchs, z. B. den auf Gerechtigkeit (z. B.: „Diese Handlung ist gerecht / ungerecht.“). In
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
diesem Fall herrscht Uneinigkeit darüber, wie eine bestimmte Handlung unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zu beurteilen ist. Mindestens implizit besteht dabei aber eine Art Einigkeit darüber, dass die Handlung unter dem Aspekt der Gerechtigkeit beurteilt werden soll. Die konkurrierenden Antworten verfolgen die Beantwortung derselben Frage.
Vielleicht weniger geläufig, keinesfalls aber minder bedeutend ist der Fall, in welchem Antworten auf differente Fragestellungen eingehen. Hier besteht bereits eine Art Uneinigkeit darüber, was überhaupt Gegenstand der Auseinandersetzung ist (z. B.: „Wie sieht die Welt (faktisch) aus?“ / „Wie sollte die Welt (normativ) aussehen?“). In diesem Fall antworten die Beteiligten auf verschiedene Fragen. Sofern hier ein gegenseitiges Unverständnis besteht, reden die Beteiligten gewissermassen aneinander vorbei. Da diese Art der Differenz nicht das Verhältnis von Antworten in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung betrifft, sondern vielmehr das Verhältnis zwischen verschiedenen Fragestellungen untereinander, charakterisieren wir sie als die Problematik „Frage – Frage“. Sofern diese Art von Differenz vorliegt, muss sich die Argumentation darum bemühen, zwischen den verschiedenen Fragestellungen zu vermitteln.
und im Zusammenhang
Abbildung 6: Fragen und Antworten
Von Interesse ist letztlich der Zusammenhang zwischen den beiden Verhältnissen. Er führt auf das Verhältnis zwischen Frage und Antwort. Es scheint offensichtlich, dass Antworten auf Fragen angewiesen sind. Umgekehrt verlangen aber auch Fragen nach nichts mehr als nach Antworten. Die beiden sind also wechselseitig voneinander abhängig. (Hermeneutisch reflektiert, lässt sich sogar sagen, dass Fragen und Antworten einander schon in ihrer Genese gegenseitig voraussetzen.) Der entscheidende Punkt ist nun, dass die Qualität von Antworten nicht nur von ihrer Referenz auf „ihre“ spezifische Fragestellung lebt, sondern auch von der Beziehung zu allen anderen Fragen abhängt. Diese zusätzliche Abhängigkeit macht sich über die Brücke des „Frage – Frage“-Verhältnisses schliesslich in der Beziehung zwischen
VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft
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den Antworten auf verschiedene Fragen bemerkbar. Deshalb müssen Antworten nicht nur für sich überzeugen, sie müssen es auch im Verhältnis zu allen anderen überzeugenden Antworten auf andere Fragen.
b) Fragen, Antworten, Rationalität und Interrationalität Wissenschaftlich relevant wird das „Frage – Frage“-Verhältnis, wenn die beteiligten Fragen sich auf unterschiedliche Rationalitäten beziehen. Das analytische Verhältnis von Frage zu Frage wird dann zum Mittel, um (1) das grundlegende Erfordernis zu erfüllen, verschiedene Rationalitäten zu Interrationalität zu integrieren. Dies erfordert (2) die Relationierung unterschiedlicher Rationalitäten unter Anwendung des soeben entworfenen Analyseschemas. (1) Das Erfordernis der Integration von Rationalitäten zu Interrationalität: Hier geht es um das Verhältnis von partiellen Vernunftvorstellungen einzelner Personen, Schulen oder Disziplinen zu jenem anderer Personen, Schulen oder Disziplinen. Hier begegnen und streiten sich je unterschiedliche Teilansprüche an das Ganze der Vernunft. Jeder dieser Teilansprüche erhebt Wahrheits-, Wert- und Gerechtigkeitsbehauptungen, freilich in unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung. Daraus ergeben sich je unterschiedliche Mängel an Ganzheitlichkeit. Diese Defizite lassen sich erst richtig erkennen, wenn sie nicht nur je für sich, also unter dem Aspekt des jeweiligen Vernunftbildes, sondern auch im gemeinsamen Zusammenspiel untersucht werden. Wer etwa Aussagen darüber macht, wie die Welt beschaffen sein soll, sei es aus Wert- oder Gerechtigkeitsüberlegungen, tut gut daran, seine normativen Vorgaben mit der faktischen Beschaffenheit und den faktischen Möglichkeitsbedingungen der Welt passend zu verknüpfen. Das Vernunfterfordernis geht nicht nur da hin, einerseits normativ richtig zu entscheiden (eine vornehmlich normative Rationalität) und andererseits die faktisch zutreffenden und möglichen Ursache-Wirkung-Verhältnisse zu beschreiben (eine vornehmlich deskriptive Rationalität). Sie geht darüber hinaus auch da hin, die jeweiligen Rationalitäten miteinander zu vermitteln (Interrationalität).
Das Doppelerfordernis der Intra- und Interrationalität spielt freilich nicht erst, wie im vorherigen Beispiel, über die genannten Grundfragen des Normativen und des faktischen hinweg. Es spielt schon innerhalb dieser grundlegend verschiedenen Fragestellungen. Als Beispiel sei etwa nur die Gerechtigkeitsfrage herausgegriffen: Wer meint, eine bestimmte Handlung sei zwar juristisch erlaubt (juristische Perspektive), moralisch oder ethisch jedoch unzulässig (ethische Perspektive) und sich damit begnügt, bleibt auf halber Strecke stehen. Er trifft vom Standpunkt zweier verschiedener Rationalitäten aus je separate Aussagen über die Gerechtigkeit einer Handlungsweise, versäumt es dabei aber, die beiden Rationalitäten in eine Beziehung zueinander zu bringen. Im vorliegenden Beispiel führt das zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass die beiden herangezogenen Rationalitäten zu widersprechenden Aussagen führen können – und offenbar dennoch einfach nebeneinander ste-
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
hen bleiben sollen. Es wird nicht geklärt, dass die beiden Rationalitäten unter Gerechtigkeit etwas anderes verstehen, und eine interrationale Vermittlung wird nicht einmal versucht.
Das Pochen auf das Erfordernis der Interrationalität deckt sich dabei nicht ohne Weiteres mit der Behauptung, aus dem Blickwinkel verschiedener Rationalitäten getroffene Aussagen dürften sich nicht widersprechen. Was es besagt, ist zunächst einmal nur, dass vom Standpunkt verschiedener Rationalitäten aus getroffene Aussagen nicht einfach „indifferent“ nebeneinander stehen bleiben sollen, sondern dass auch versucht werden muss, diese Aussagen überzeugend zu relationieren. Das zusätzliche Erfordernis der Interrationalität bildet dann nicht nur eine zusätzliche, eigene Vernunftbedingung. Es bildet zugleich auch einen kritischen Prüfstein für die auf die verschiedenen Rationalitäten bezogenen Einzellogiken: Aussagen, die nur im Rahmen einer bestimmten Rationalität bestehen können, nicht aber in der Lage sind, sich auf irgendeine Weise auch zu anderen relevanten Rationalitäten in eine sinnvolle Beziehung bringen zu lassen, verlieren nämlich schon für sich, unter dem Blickwinkel ihres eigenen Rationalitätsanspruchs, an Glaubwürdigkeit. Eine normative Aussage über die Beschaffenheit der Welt wird auch normativ irrational, wenn sie die relevanten faktischen Bedingungen verkennt. Eine (scheinbar) juristisch rationale Aussage über die Zulässigkeit einer Handlung wird schon als juristische fragwürdig, wenn sie nicht überzeugend dartun kann, dass ein widersprechendes ethisches Urteil falsch liegt – oder zumindest juristisch nicht beachtlich ist.
Entscheidend bei diesem Doppelerfordernis der Vernunft ist, dass der Intra- und der Interrationalität kumulativ Genüge getan wird. Die Vernunftforderung nach Integration der Rationalitäten in Interrationalität geht von der grundsätzlichen Vorstellung aus, dass es aus Vernunftgründen geboten und praktisch annäherungsweise möglich ist, Vielfalt und Einheit gleichermassen zu erreichen. Herausfordernd daran ist insbesondere die Vorstellung, dass ein übergreifender, ganzheitlicher Zusammenhalt möglich ist. Unter der Voraussetzung dieser Möglichkeit bietet die Forderung nach Kohärenz zwischen den Rationalitäten jedoch auf der Metaebene des übergreifenden Kontexts – des Ziels der Interrationalität – einen zusätzlichen Anhaltspunkt für die Bewältigung von Entscheidungsproblemen. Das sozusagen doppelte Fragezeichen der Vernunft verdoppelt nämlich nicht nur das Unwissen. Die doppelte Zielrichtung erzeugt zugleich eine produktive Spannung, durch welche die nur einseitigen Ausrichtungen einen Widerpart erhalten, an dem sie sich nicht nur reiben, sondern auch halten können und der ihnen eine Orientierung vermittelt. Die Feststellung von Inkohärenzen zwischen den normativen Forderungen und den faktischen Gegebenheiten oder zwischen verschiedenen gerechtigkeitsbezogenen Aussagen bescheinigt der Argumentation nicht einfach nur ihre Unzulänglichkeit. Zur gleichen Zeit weist sie sie auch genau auf diejenigen Schwachstellen hin, bei denen anzusetzen wäre, um mehr Kohärenz zu erreichen.
(2) Die Relationierung unterschiedlicher Rationalitäten: Die beiden Vernunfterfordernisse der Rationalität und der Interrationalität unterscheiden sich hinsicht-
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lich ihrer Begründungsstruktur. Um dies zu zeigen, kann jetzt auf die zuvor getroffene analytische Unterscheidung zwischen dem „Antwort – Antwort“- und dem „Frage – Frage“-Verhältnis zurückgegriffen werden. Es wurde gesagt, dass sich das „Antwort – Antwort“-Verhältnis als eine Konkurrenzsituation zwischen widerstreitenden Alternativen präsentiert. Demnach geht es hierbei jeweils darum, die richtige von den falschen Alternativen zu trennen oder zumindest die beste Alternative auszumachen. Das Konkurrenzverhältnis zwischen den Antworten hat seinen Ursprung im selektiven Charakter von Fragen: Fragen verlangen nach nur einer Antwort: der „richtigen“. Die (intra-)rationale Auseinandersetzung über eine konsentierte Frage setzt primär an diesem „Antwort – Antwort“-Verhältnis an. Das „Frage – Frage“-Verhältnis ist hingegen der Hauptansatzpunkt der Interrationalität. Dieses Verhältnis hat eine andere Struktur als das „Antwort – Antwort“-Verhältnis. Denn untereinander stehen Fragen (als solche) in keinerlei Konkurrenz. Es können unzählige, beliebige Fragen nebeneinander bestehen; „falsche Fragen“ gibt es nicht. Allerdings macht das die Beziehung zwischen verschiedenen Fragen nicht einfacher. Im Unterschied zur recht geläufigen, alltäglichen Aufgabe des „Antwort – Antwort“-Verhältnisses, mit konkurrierenden Alternativen umzugehen, besteht die Aufgabe des „Frage – Frage“-Verhältnisses darin, einen kohärenten Zusammenhang zwischen Fragen herzustellen, die bisher nicht in einem Zusammenhang gestanden sind. Anders als in Konkurrenzverhältnissen muss die Erzeugung von Kohärenz ohne ein Denken in Hierarchien auskommen, denn ebenso wenig, wie es „richtige“ und „falsche“ Fragen gibt, gibt es „bessere“ und „schlechtere“ (in Bezug auf eine bestimmte, vorausgesetzte weitere Frage zwar schon – dann mag es geeignetere und weniger geeignete (Nach-)Fragen geben; nicht aber in Bezug auf Fragen überhaupt). Im Verhältnis von Frage zu Frage geht es daher darum, die eine im Lichte der anderen verständlich zu machen. Innerhalb der von einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Schulen oder auch Disziplinen verfolgten Rationalitäten spielt v. a. das „Antwort – Antwort“-Verhältnis. Zwar besteht bereits jede partielle Rationalität immer auch aus einem ganzen Bündel unterschiedlicher Fragestellungen. Die jeweilige Rationalität verlangt daher immer auch, diese, auf die jeweilige Rationalität bezogene Vielzahl von Fragestellungen in der „Frage – Frage“-Relation miteinander zu verknüpfen. Doch stellt sich dieses rationalitätsspezifische Fragenbündel für die betreffende Person, Schule oder Disziplin als ein bereits recht kohärenter Komplex typischer Teilfragen dar. Für die betreffende Person, Schule oder Disziplin sind die Zusammenhänge zwischen den Teilfragen klar; sie bereiten ihr keinerlei Verständnisschwierigkeiten. Was hier im Vordergrund steht, ist vielmehr die strittige Auseinandersetzung über die richtige Beantwortung der für relevant gehaltenen und gleich verstandenen Fragen. Für das Erreichen von Rationalität ist daher die „Antwort – Antwort“-Relation von vorrangiger Bedeutung. In den Beziehungen zwischen den Rationalitäten rückt hingegen die „Frage – Frage“-Relation in den Vordergrund. Da die verschiedenen Personen und Schulen,
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in bestimmtem Umfang auch ganze Disziplinen nur partiellen Aspekten der Vernunft – eben einer bestimmten Rationalität – nachstreben, unterscheiden sich die jeweiligen Rationalitäten in ihrer substanziellen Dimension häufig von den anderen. Die divergierenden spezialisierten Rationalitäten müssen dann zuerst über die differenten Fragestellungen relationiert werden. Erst dann, wenn dies gelungen ist und die Vertreterinnen der verschiedenen Rationalitäten ihre Fragestellungen im Zusammenhang begreifen, ist es aussichtsreich, dazu überzugehen, auf der Grundlage des jetzt gemeinsamen Fragenzusammenhangs über dessen Beantwortung zu streiten. Aber auch dann, wenn sich die verschiedenen Rationalitäten hinsichtlich ihres substanziellen Gehalts überschneiden und zu ergänzen scheinen, ist zunächst einmal eine Relationierung der mit ihnen verbundenen Fragestellungen geboten. Ob solche substanziellen Überschneidungen tatsächlich vorliegen, liegt im Vorhinein nämlich keineswegs auf der Hand. Aufgrund der fortgeschrittenen Spezialisierung der Wissenschaften ist eher davon auszugehen, dass sich mit den Spaltungen immer auch der Fragenkontext ausdifferenziert hat. Erst eine sorgfältige Untersuchung der jeweiligen rationalitätsspezifischen Fragestellungen kann unter Rückgriff auf die „Frage – Frage“-Relation begründeten Aufschluss darüber geben, ob die von den verschiedenen Personen, Schulen oder Disziplinen verfolgten Rationalitäten hinsichtlich ihres substanziellen Gehalts nun differieren oder nicht. Der erste Schritt zur Herstellung eines interrationalen Zusammenhangs ist somit die Relationierung der Rationalitäten mit Hilfe einer Klärung des „Frage – Frage“Verhältnisses. Das Erfordernis der Interrationalität erschöpft sich freilich nicht in der Relationierung der Fragen. In einem zweiten Schritt, unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Horizonts gleich verstandener Fragen, gilt es, den jetzt – meist komplexeren – interrationalen Zusammenhang auch zu beantworten. An diesem Punkt der Interrationalität wird daher auch wieder die „Antwort – Antwort“-Relation relevant: Das Erfordernis der Interrationalität verlangt einen Rückgriff auf beide Relationen, sowohl auf jene zwischen Frage und Frage als auch auf jene zwischen Antwort und Antwort.
3. Beispiel Mit dem Ziel der Interrationalität vor Augen soll die Studienkommission Finanzmarktregulierung versuchen, ihr Thema sowohl rational wie interrational zu bearbeiten. 1. Rationale Diskurse wird sie über die aktuelle Entwicklung am Finanzmarkt führen können. Solche entfalten sich z. B. unter jenen Ökonomen, die unter sich das gleiche monetaristische (oder keynesianische) Marktmodell teilen; ebenso zwischen Soziologen oder Politologen oder Juristen je unter sich, soweit sie sich über die zu verfolgende Rationalität einig sind.
VI. Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft
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2. Interrationale Verständigung wird sie unter den Vertretern verschiedener Schulen oder Disziplinen suchen müssen, indem sie a) sich darum bemüht, dass alle Mitglieder einander ihre je spezifischen Fragestellungen verständlich machen (Stellen wir die gleichen Fragen? Können wir sie einander übersetzen? In welcher Relation stehen unsere Fragen zueinander?). b) die argumentative Auseinandersetzung darüber führt, ob sie (als ganze) über die richtigen Antworten auf die jeweiligen Fragen verfügt. Dazu muss jedes Mitglied versuchen, in die Rationalität der andern einzutreten und unter deren Prämisse die Richtigkeitsfrage stellen, um zu prüfen, wie weit die so hergestellten Antworten an die eigene Rationalität anschlussfähig sind.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
VII. Die drei Vernunftdimensionen: Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit Die drei Dimensionen der Vernunft bestimmen die grundlegende Ausrichtung der wissenschaftlichen Fragestellungen und dienen daher als strukturierende Kategorien der Analyse. Dabei sind alle drei Vernunftdimensionen interdependent. Es gibt keine Wahrheitsbehauptung ohne Wert- und Gerechtigkeitsbedeutung. Entsprechendes gilt für Wert- oder Gerechtigkeitsbehauptungen. Erst, wenn die spezifischen Gültigkeitserfordernisse einer wissenschaftlichen Fragestellung in allen drei Dimensionen berücksichtigt werden, hat die entsprechende Entscheidung eine Chance auf Vernünftigkeit.
Eine wissenschaftliche Entscheidungslehre, die Wissenschaft auf Vernunft ausrichten will, muss die drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit von der Akteursperspektive her verknüpfen. Sie muss zeigen, dass und wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihren Fragen und Antworten Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit erheben. Im Folgenden sollen die Geltungsansprüche auf Wahrheit, auf Wert und auf Gerechtigkeit je im Einzelnen analysiert und in ihrem Zusammenhang mit den andern Geltungsansprüchen erläutert werden. Vernunft verlangt nach dem bisher Gesagten nicht nur, dass wir unsere jeweils verfolgte Rationalität erreichen, sie fordert auch, dass wir unsere jeweiligen Rationalitäten zueinander in Beziehung setzen und im Zusammenhang erreichen. Die zusätzliche Forderung nach Interrationalität zwingt dazu, darüber nachzudenken, auf welche Weise Fragestellungen grundsätzlich strukturiert sein können. Fragen selektionieren die möglichen Gegenstände der Aufmerksamkeit und lenken das Bewusstsein in bestimmter Richtung. Sie orientieren die Suche nach Antworten auf bestimmte Aspekte der Vernunft hin. Von besonderer Bedeutung sind in der Wissenschaft die drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. Wer eine Frage stellt, richtet seine Aufmerksamkeit stets auf eine oder mehrere dieser Dimensionen. In den Antworten auf seine Fragen erhebt er einen entsprechenden Geltungsanspruch auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. Im Folgenden sollen diese Geltungsansprüche näher analysiert und strukturiert werden. Mit Geltungsanspruch bezeichnen wir den Anspruch eines Sprechers auf Erfüllung mindestens einer der drei Vernunftforderungen. Wer einen Geltungsanspruch erhebt, behauptet, eine gemachte Aussage sei gültig (vgl. vorne Ziff. III.1). Dabei stehen Geltungsansprüche in einem engen Zusammenhang mit den forschungsleitenden Fragestellungen. Geltungsansprüche können als in Aussageform konvertierte Fragestellungen begriffen werden. Einen Geltungsanspruch zu erheben bedeutet zu behaupten, die richtige Antwort auf eine Frage zu geben. Die Gründe für die Erfüllung des Anspruchs sind dieselben, welche die Antwort auf die entsprechende Frage stützen sollen. Um die Struktur der leitenden Fragestellungen einer Rationalität zu erfassen, gilt es somit, die Struktur der mit den Fragen erhobenen Geltungsansprüche zu analysie-
VII. Die drei Vernunftdimensionen
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ren. Die Qualität von Geltungsansprüchen als „Ansprüche“ verdeutlicht, dass diese – wie Fragen – jeweils eine bestimmte (mögliche) Rationalität definieren und herausfordern. Eine sorgfältige Geltungsanspruchstheorie wird somit auch Aufschluss über die Art von Gründen geben, nach denen die spezifischen Rationalitäten verlangen.320 Die Beziehungen zwischen den Geltungsansprüchen beschreiben zudem die Bedingungen und Möglichkeiten einer zusätzlich angestrebten Interrationalität. Die nachfolgend zu entfaltende Strukturanalyse der hier relevanten basalen Geltungsansprüche bildet damit die Grundlage dafür, dem Erfordernis der Integration der Rationalitäten in Interrationalität gerecht werden zu können. Die drei Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit sind jederzeit miteinander verknüpft und voneinander abhängig. Jeder der Geltungsansprüche ist in dem Sinne auf die beiden anderen angewiesen, dass er auf die beiden anderen zurückgreifen muss. Dies zeigt sich jeweils in drei Punkten: (1) bei der grundsätzlichen Verstrickung des sich äussernden Menschen in seinen sachlichen, persönlichen und interpersonellen Weltbezügen (die Aussage als Äusserung eines Menschen), (2) beim hervorgehobenen Geltungsanspruch selbst (die Aussage als solche im Zusammenhang der Vernunftdimensionen); sowie (3) bei der Einlösung des erhobenen Geltungsanspruchs (die Aussage als Handlung im Diskurs). (1) Die Aussage als Äusserung eines Menschen: Wenn wir uns wissenschaftlich betätigen, tun wir dies immer als Menschen. Als Menschen sind wir zu jeder Zeit zugleich in drei Weltbezüge eingebunden: Wir sind immer Teil einer sachlichen (objektiven) Welt, die wir als wahre Welt in ihren Zusammenhängen zu begreifen suchen; in dieser objektiven Welt bewegen wir uns immer auch als zielstrebige, an Werten orientierte Personen (Subjekte), welche die (objektive und soziale) Welt so einzurichten suchen, dass sie uns je für uns ein wertvolles Leben ermöglicht; nicht zuletzt bewegen wir uns bei unserem Bemühen um ein gelungenes Leben stets in sozialen (interpersonellen oder intersubjektiven) Beziehungen zu anderen Personen, denen wir gerecht werden müssen, mit denen wir fair umgehen sollen. Aus diesen drei grundlegenden Aktor-Welt-Bezügen können wir uns nicht herausdrehen. Das hat allerdings auch für unsere wissenschaftliche Tätigkeit eine Bedeutung. Es bedeutet, dass wir, selbst dann, wenn wir uns in unserem wissenschaftlichen Tun nur auf einen dieser grundlegenden Bezüge konzentrieren (die Wahrheit der objektiven Welt, die wertvolle Existenz eines Subjekts oder die Fairness der intersubjektiven Interaktionen), zur selben Zeit dennoch auch in den anderen beiden verstrickt bleiben. (2) Die Aussage als solche im Zusammenhang der Vernunftdimensionen: Die wechselseitige Verquickung zwischen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit lässt sich auch auf der Ebene der Aussagen als solche sichtbar machen. Ganz generell, aber auch in jedem spezifischen Fall kann gezeigt werden, dass beliebige wissenschaftliche Aussagen selbst dann, wenn sie einen bestimmten der drei Geltungsansprüche fokussieren (oder die anderen gar verleugnen), gleichwohl auch die beiden anderen
320
Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 67.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
beanspruchen müssen. Die Aussage, dass eine Norm gerecht sei, hat immer auch Wert- und Wahrheitsaussagen zur Voraussetzung; die Aussage, dass etwas für eine bestimmte Person wertvoll sei, setzt immer auch ein Wissen über Wahrheit und Gerechtigkeit voraus; und nicht zuletzt setzt auch die Gültigkeit von Aussagen über wahre Tatsachen gültige Wert- und Gerechtigkeitsaussagen voraus. (3) Die Aussage als Handlung im Diskurs: Schliesslich kommen alle drei Geltungsansprüche auch auf der Ebene der Einlösung der Gültigkeit aller drei Geltungsansprüche wieder zum Tragen. Die Einlösung wissenschaftlicher Aussagen ist nämlich an die Zustimmung ihrer Adressaten geknüpft: Die Aussagen müssen die Zustimmung der Adressaten verdienen, d. h. als Handlung zustimmungswürdig sein Hierdurch wird der Handlungscharakter von Aussagen (als Äusserungen) der äussernden Person deutlich. Wissenschaftliche Äusserungen sind immer auch Handlungen, die wiederum in ihren sachlichen, persönlichen und interpersonellen Weltbezügen zu erfassen sind. Das Kriterium der Zustimmungswürdigkeit hebt insbesondere den Aspekt der Intersubjektivität und damit die Dimension Gerechtigkeit hervor. Aber auch die Wert- und die Wahrheitsdimension sind dabei betroffen. Im Folgenden sollen die genannten Geltungsansprüche auf Wahrheit (1.), auf Wert (2.) und auf Gerechtigkeit (3.) eingehender erläutert werden. Sie sollen dabei jeweils hinsichtlich ihres Gehalts und ihrer Begründungsstruktur (a)) sowie hinsichtlich ihrer Beziehungen zu den jeweils anderen Geltungsansprüchen untersucht werden (b)), wobei dort wieder auf die soeben zugrunde gelegten Aspekte (1) der Aussage als Äusserung eines Menschen, (2) der Aussage als solche im Zusammenhang der Vernunftdimensionen und (3) der Aussage als Handlung im Diskurs zurückgegriffen wird. Zum Schluss soll ausserdem noch geprüft werden, ob diese drei Geltungsansprüche zum Zweck einer überzeugenden Entscheidungslehre durch weitere Geltungsansprüche ergänzt werden müssen (4.).
1. Der Wahrheitsanspruch Am prominentesten ist wohl der Anspruch auf „Wahrheit“. Dieser wird allerdings nicht selten undifferenziert mit dem allgemeinen Anspruch auf Gültigkeit gleichgesetzt. Eine solche Terminologie erschwert es einerseits, den Anspruch auf Wahrheit selbst differenziert zu fassen, und andererseits verwischt sie die durchaus nötigen Differenzierungen zwischen dem spezifischen Wahrheitsanspruch und anderen Geltungsansprüchen.
a) Inhalt und Begründungsstruktur Als spezifischer Geltungsanspruch besteht der Wahrheitsanspruch darin, die faktischen Verhältnisse der objektiven bzw. zum Objekt gemachten subjektiven und sozialen Welt, richtig zu beschreiben. Von Interesse sind hier die Ursache-Wirkung-
VII. Die drei Vernunftdimensionen
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Verhältnisse. Der Anspruch auf Wahrheit kann dabei für die Vergangenheit und Gegenwart oder für die Zukunft oder auch für nur vorgestellte Fakten erhoben werden. In Vergangenheit und Gegenwart bestehen die Produkte der Wahrheitsanalyse aus „Fakten“. Fakten sind zum Objekt gemachte Zustände, Ereignisse, Handlungen und sich daraus ergebende regelhafte Zusammenhänge, die sich tatsächlich (in Wahrheit) ereignen bzw. ereignet haben. Soweit die Wahrheit von Zukünftigem zur Debatte steht, spricht man sowohl beim Prozess der Analyse wie bei dessen Produkt von „Prognosen“, bei der Wahrheitsanalyse von Vorstellungen potenzieller Massnahmen (also bei hypothetischen Beschreibungen) heissen die Produkte der Analyse „Möglichkeiten“. Erfüllt werden Wahrheitsansprüche dadurch, dass die behaupteten Fakten (oder Prognosen oder Möglichkeiten) nachgewiesen werden, d. h. einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Bei Fakten besteht diese Überprüfung darin, dass sie empirisch überprüft werden. Dabei handelt es sich freilich in den seltensten Fällen um eine einfache Übereinstimmung in der Wahrnehmung zwischen jenem, der die Wahrheit eines Faktums behauptet und jenem, der sie überprüft. In wissenschaftlichen Kontexten wird die Wahrheit meist sehr komplexer Fakten durch Argumentationen verteidigt, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen weiteren Fakten behaupten. Aber auch solche komplex strukturierten Fakten müssen an irgendeinem Punkt wieder gezeigt und wahrgenommen werden können. Die Erfüllung des Wahrheitsanspruchs unterscheidet sich in seiner Struktur nicht von jener der anderen Geltungsansprüche. In Wahrheits- wie in Wert- oder Gerechtigkeitsfragen stützt sich der Geltungsanspruch zu Beginn auf eine prima-facie-Qualität einer ersten Wahrnehmung, Wertung oder relativen Gewichtung, die mindestens teilweise emotionalen oder intuitiven Charakter hat. Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Überprüfung ist ein Vorverständnis, das in einem ersten Schritt entworfen wird. Erst in einem zweiten Schritt wird dieser Entwurf einer Antwort auf die gestellte Frage einer rationalen Überprüfung unterzogen und in einem hermeneutischen Prozess von Kritik und Begründung methodisch überarbeitet, bis die optimal begründete Aussage hergestellt ist.
b) Verhältnis zu den anderen Geltungsansprüchen Deskriptive, auf Wahrheit ausgerichtete Aussagen bleiben stets aufs Engste mit den normativen Geltungsansprüchen auf Wert und Gerechtigkeit verbunden, ja ihre Gültigkeit von Wert- und Gerechtigkeitsaussagen abhängig. Dies kann anhand der oben ausgeführten Kristallisationspunkte dargetan werden: (1) Die Wahrheitsaussage als Äusserung eines Menschen: Wer die Wahrheitsfrage erörtert, bleibt auch in diesem Moment eine zielstrebige, an Werten orientierte Person. Die Wahrheitsfrage ist nur scheinbar autark. Als solche wäre sie sinnlos, weil sie die Frage ausklammern würde, wozu sie denn diene. Diese Sinnlosigkeit
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
verflüchtigt sich erst, wenn auf den Zweck zurückgegriffen wird, dem das propositionale Wissen dient. Die Wahrheitssuche kommt immer mit einem Wertanspruch daher, der auf einen bestimmten Verwertungszusammenhang des deskriptiven Wissens bezogen ist. Auch für ausschliesslich in deskriptiver Absicht Forschende hat die Tätigkeit des Forschens irgendeine für ihr Leben relevante Bedeutung, und sei es die Befriedigung „purer“ Neugier. Sie vertreten die These, dieser Anspruch sei ein hoher oder gar der höchste Wert einer wissenschaftlichen Arbeitsweise. Insbesondere, wer die These vertritt, die deskriptive Wahrheit sei das alleinige Ziel der Wissenschaft (sog. „Wertfreiheitsthese“), erhebt die Wahrheitssuche nicht nur für sich, sondern sogar universell, für alle anderen zu einem unverzichtbaren Wert. Zudem bleibt jede an Wahrheitsfragen interessierte Person in unzähligen interpersonellen Beziehungen verwickelt. Kein noch so abgeschottetes Labor und kein noch so „reines“ Erkenntnisinteresse an der deskriptiven Forschung kann diese von ihrer sozialen Einbettung und somit auch von ihrer Gerechtigkeitsrelevanz entkoppeln: Werden durch die deskriptive Forschung Gerechtigkeitsnormen verletzt? Steht sie möglicherweise im Dienst einer ungerechten Verwertung? Trifft sie ausreichende Massnahmen zur Verhinderung des Missbrauchs ihrer Ergebnisse? Oder auch: Wäre unter Gerechtigkeitsaspekten statt des gewählten nicht ein anderes Forschungsfeld zu bevorzugen? Oder wäre die deskriptive Forschung zurzeit nicht einem Einsatz für die Verringerung von Ungerechtigkeiten hintanzustellen? All diese Fragen sprechen keineswegs pauschal gegen die konzentrierte deskriptive Forschung. Entscheidend ist aber, dass sie einen Kontext gerechtigkeitsrelevanter Interaktionen thematisieren, aus dem wir uns zu keiner Zeit herausdrehen können. (2) Die Wahrheitsaussage als solche im Zusammenhang der Vernunftdimensionen: Der Wahrheitsanspruch ist auch als solcher nur scheinbar nicht-normativ. Jedenfalls, wenn es sich bei den Objekten der deskriptiven Forschung um Menschen handelt, gilt es zu bedenken, dass diese Objekte immer auch Subjekte sind. Als solche müssen sie immer auch als zielstrebige, an Werten orientierte Personen begriffen werden, deren Handlungen, sei es prognostisch in der Zukunft, sei es historisch in der Vergangenheit, erst dann wirklich erklärt und verstanden werden können, wenn man sich die wertende Perspektive dieser Subjekte aneignet. M.a.W. muss die deskriptive Beobachtung auch die wertende Teilnahmesicht des beobachtenden Subjekts umfassen. Die in Weberscher Tradition dagegengehaltene These, die Werturteile der zu beschreibenden Subjekte könnten rein beobachtend begriffen werden, greift zu kurz, weil Wertaussagen eben immer auch wertend, aus dem Sinnhorizont der betreffenden Person heraus getroffen werden müssen. Die Implikation des Wertanspruchs bei der Erhebung des Wahrheitsanspruchs reicht im Grundsatz sogar bis zur deskriptiven Untersuchung nicht-menschlicher Objekte, denen das Vermögen wertender Zielstrebigkeit abgesprochen werden mag. Genau dann nämlich, wenn man diesen Objekten den „Sinn fürs Gute“ in Abrede stellt, trifft man schon eine auf diese Objekte bezogene mindestens grundsätzliche Wertaussage. Nur zu ergänzen ist schliesslich noch, dass, sobald ein Wertanspruch erhoben wird, dies auch einen Rückgriff auf den Gerechtigkeitsanspruch verlangt, da der Wert eines Ziels für ein Subjekt ansonsten nicht
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zureichend bestimmt werden könnte; der Wert der Gerechtigkeit – wie subjektiv auch immer – spielt im Sinnhorizont eines Subjekts immer eine Rolle. (3) Die Wahrheitsaussage als Handlung im Diskurs: Schliesslich spielen die normativen Geltungsansprüche beim Wahrheitsanspruch auch in Bezug auf dessen Einlösung eine entscheidende Rolle. Denn Gültigkeit, gleich welcher Art von Aussage, impliziert Anerkennungswürdigkeit und enthält damit neben faktischen immer auch normative Elemente. Wenn ich z. B. von einer deskriptiven Tatsachenaussage behaupte, meine Aussage sei gültig, meine ich nie nur, dass sie wahr sei, sondern auch, dass meine Adressaten vernünftigerweise anerkennen sollten, dass sie wahr ist (dabei wird die Aussage zur Äusserung, d. h. zu einer Handlung, die man richtig finden kann oder nicht: Ist es richtig, dass die Aussage als wahr gelten soll?). Diese Anerkennung werden meine Adressaten nur geben, wenn sie keine guten normativen Gründe (also solche des Werts oder der Gerechtigkeit) dafür haben, meiner Aussage zu widersprechen. Sie können das gegenüber Aussagen mit Wahrheitsanspruch z. B. dadurch tun, dass sie den Stellenwert der Aussage bestreiten und verlangen, dass sie in eine Relation zu anderen Aussagen gebracht werden müsse, welchen eine andere Bewertung zukomme. Wer behauptet, die Wahrheit zu sagen, bürgt auch für Wahrhaftigkeit und muss bereit sein, seine Behauptung gegenüber anderen zu begründen. Sofern eine Wahrheitsaussage nicht bloss als Aussage, sondern auch als Äusserung, als Handlung eines Menschen verstanden wird, wird mit ihr auch ein Geltungsanspruch erhoben, dessen Einlösung auf die Erfüllung von Gerechtigkeitsanforderungen angewiesen ist: Wer Wahrheit beansprucht, will gegenüber anderen, die eine abweichende Auffassung vertreten, Recht haben. Und wer die Gerechtigkeitsfrage stellt, muss zudem auch auf die Wertfrage zurückgreifen.
2. Der Wertanspruch Der Wahrheitsanspruch (als solcher) erscheint heute (im Vergleich zu den nachfolgenden Geltungsansprüchen) als relativ unumstritten. Der Vernunftanspruch, welcher in der Dimension „Wert“ erhoben wird, bedarf hingegen einer etwas ausführlicheren Erörterung. a) Inhalt und Begründungsstruktur Unter einem „Wertanspruch“ wird in dieser Studie der Anspruch verstanden, dass etwas für jemanden wertvoll und daher erstrebenswert sei.321 Der Anspruch verlangt dabei sogleich nach folgender Spezifizierung. Anders als beim Anspruch
321 Vgl. hierzu, was Habermas inzwischen unter den Stichworten ethischer oder ethischexistenzieller Fragestellungen bzw. Diskurse thematisiert: z. B. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch (1991), S. 103 – 110 / 111 f.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
auf Wahrheit, die sich für alle unterschiedslos gestaltet (so jedenfalls der Anspruch: was wahr ist, gilt für mich, dich und jede andere Person ebenso als wahr), ist der Wertanspruch personenbezogen: Er geht dahin, dass etwas für eine bestimmte Person wertvoll sei. Subjekt eines Wertanspruchs kann sowohl ein Individuum wie ein kollektives Subjekt (eine Gruppe, ein Unternehmen, ein Land usw.) sein. Traditionell ist gerade die Vorstellung kollektiver Werte in der Werte-Diskussion verbreitet. Ein kollektives Subjekt kann sich zwar nicht in gleicher Weise Werte bewusst machen wie ein Individuum, weil es keine unmittelbare kollektive Wahrnehmung gibt. Kollektive können ihre Werte nur über interne Diskurse herstellen. Aber auch der Einzelne ist aufgerufen, mit sich einen Diskurs über seine Werthaltungen zu führen. Zudem sind seine Werte in erheblichem Ausmass durch die Diskurse geprägt, die er mit andern – also innerhalb eines Kollektivs – über Wertfragen pflegt. Wird die Konstituierung der individuellen Persönlichkeit durch die Intersubjektivität der Bewusstseinsbildung ernst genommen, schwindet der Unterschied zwischen dem Prozess der individuellen und der kollektiven Bewusstseinsbildung. Auf kollektiver Ebene stellt sich freilich die Frage der Gerechtigkeit gegenüber den Werten der Teilsubjekte als Mitglieder des Kollektivs: Kollektive müssen ihre Werte nach innen in einem fairen Diskurs begründen, was zur Folge hat, dass die Wertdimension von Kollektiven in besonderer Weise konstitutiv von der Gerechtigkeitsdimension abhängt. Beim Einzelnen hingegen geht es mehr darum, dass er im internen Diskurs der Pluralität seiner Werte bewusst wird und diese in ein für ihn stimmiges Verhältnis bringt. Ungeachtet dessen sei noch einmal betont, dass der Wertanspruch nicht ausschliesslich für Individuen oder Kollektive oder gar nur ausgewählte Individual- oder Kollektivsubjekte reserviert werden kann. Er verbindet sich mit allen möglichen Subjekten, die sich generell und konkret als solche definieren lassen.322 So, wie Fakten die entscheidende Rolle in Bezug auf den Wahrheitsanspruch spielen, so spielen sie sodann die Werte in Bezug auf den Wertanspruch. „Werte“ sind zunächst abstrakte Vorstellungen von (für jemanden) wertvollen und erstrebenswerten Situationen. Sie bringen einen Anspruch auf eine gewisse Dauerhaftigkeit mit und wollen nicht nur spontan gelten. Solche spontanen „Werte“ wären eher kurzfristige Nutzenvorstellungen. Werte implizieren in Bezug auf eine bestimmte (individuelle oder kollektive) Person generelle Werturteile. Die Werte eines kollektiven Subjekts können z. B. in Gesundheit, Sicherheit und Freizeit bestehen, was besagt, dass es in diesem Kollektiv generell geschätzt wird, gesund und in Sicherheit zu leben und Freizeit zu verbringen. Solche Werte könnte auch eine Einzelperson haben; an Gesundheit, Sicherheit und Freizeit wäre ihr dann generell gelegen.
Wertaussagen verbinden sich dabei in eigentümlicher Weise mit „Zielvorstellungen“ oder kurz „Zielen“. Etwas wertvoll zu finden, impliziert, dass das Wertvolle auch erstrebenswert ist. Damit Werte zu Zielen konkretisiert werden, bedarf es allerdings noch eines Willens zur Wertverwirklichung („Interesse“). Gesundheit, Sicher322
Vgl. dazu bereits vorn, Ziff. III.3.c) (1).
VII. Die drei Vernunftdimensionen
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heit und Freizeit können nicht nur für (generell) gut befunden werden, mit dem entsprechenden Interesse kann es ein Subjekt auch anstreben, dass diese Werte auf die eine oder andere Weise durch Verwirklichung entsprechender Ziele auch fernerhin einen Platz in seinem Leben haben sollen. Letztlich stehen Wertvorstellungen in einem direkten Zusammenhang mit dem, was für eine Person insgesamt erstrebenswert ist: mit ihrem guten, gelungenen Leben. Die Gesamtheit der Wert- und Zielvorstellungen, über die eine Person verfügt, gibt ein Bild davon, wie sie ihr Leben gestalten will, was für sie eine gelungene Existenz ausmacht. Aus diesem Grund ist der Wertanspruch mehr als nur die Gültigkeitsbehauptung einer (wenn auch generellen) Wertschätzung. Er steht für den Anspruch auf Gültigkeit der Aussage, dass etwas für die gelungene Existenz eines Individual- oder kollektiven Subjekts von Bedeutung ist. Das Ziel einer gelungenen Existenz ist die Realisierung eines komplexen Bündels von Werten. Ein gelungenes Leben hat vielfältige Facetten, und etwas kann für dieselbe Person nicht nur in unterschiedlichen Situationen von unterschiedlichem Wert sein (Freizeit mag z. B. in der Kindheit eine grössere Rolle spielen als zu späteren Zeiten), insbesondere haben die verschiedenen „Wertkandidaten“ immer auch einen bestimmten, graduell bestimmbaren Wert: Etwas ist in diesem und jenem Ausmass gut. Das hat damit zu tun, dass wir es zur gleichen Zeit immer mit mehreren Dingen zu tun haben, die in unserem Leben um Bedeutung kandidieren. Eine Grippe mag z. B. als weniger schlimm eingeschätzt werden als eine Lungenentzündung, und ein arbeitsfreier Tag, der an der frischen Luft verbracht wird, mag etwa als besser bewertet werden als einer, an dem man zu Hause bleibt. Diesen Vergleichscharakter der Bewertung bringen wir nicht immer explizit zum Ausdruck, er ist aber impliziert, wenn wir z. B. sagen, etwas war „nicht so schlimm“ (wie eben etwas anderes) oder (gegenüber allem anderen) „ausgezeichnet“. Selbst wenn wir, ohne irgendwelche Stufengrade, einfach nur von „schön“, „gut“ oder „schlecht“ usw. sprechen, impliziert das stets, dass etwas im Verhältnis zu anderem (Vergleichbarem) gut oder schlecht usw. sei. Hier wird nun die zuvor angesprochene entscheidende Rolle der Werte sichtbar. Insoweit Werte eine generelle Wertaussage über bestimmte Tatsachen implizieren, geben sie uns zugleich Massstäbe oder Kriterien an die Hand, die uns auch in die Lage versetzen, konkrete Tatsachen zu bewerten. Dass die Grippe z. B. als weniger schlimm einzuschätzen ist als die Lungenentzündung, wird wohl am Wert der Gesundheit gemessen, der enthält, dass es für eine Person wertvoll und erstrebenswert ist, von Krankheitsbeschwerden möglichst verschont zu bleiben. Die Intensivität und die Langwierigkeit der Lungenentzündung widersprechen dem in aller Regel stärker als dies die Symptome einer Grippe tun. Ein anderes Beispiel: Der Wert, den ein Auto323 für eine Person hat (der „Marktwert“ liefert dabei lediglich einen Aspekt), bestimmt sich danach, welche Werte diese Person hat. Je
323 Es gäbe freilich sinnvollere Wertobjekte als Autos. Mit dem Beispiel greifen wir lediglich die Theoriegeschichte auf: Vgl. z. B. von der Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskrip-
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nachdem also, ob ihr an Schnelligkeit, Sicherheit, gutem Aussehen usw. gelegen ist, wird sie das infrage stehende Auto so oder anders einschätzen.
Eine Person ist „ihren“ Werten dabei nicht ausgeliefert. Die Werte, die in jeder Situation der Bewertung als Kriterien dienen, entstammen ihrerseits Wertüberlegungen, die sich für die bestimmte Person (bisher) als gültig erwiesen haben. In jeder neuen Wertüberlegung bringen bestehende Werte dann zwar einerseits insofern „Erfahrungswert“ mit sich, als sie gewissermassen die aggregierte Erinnerung an gültigen Werten in sich tragen. Andererseits stellt jede neue Wertüberlegung auch die als Kriterien fungierenden Werte wieder auf die Probe: Die Werthaltungen, die in bestimmten Situationen eingenommen worden sind, können sich ändern. Hinzu kommt, dass die Situationen, auf die sich Wertaussagen beziehen, niemals genau die gleichen sind. Eine Grippe kann z. B. einmal besonders schwer ausfallen, sodass der Unwert der Grippe im Verhältnis zur Lungenentzündung tendenziell steigt. Das wird vielleicht am abstrakten Wert der Gesundheit als solchem nicht viel ändern, ihn vielleicht sogar bestätigen. Sein Inhalt wird sich mit dem Unwert der Grippe jedoch verändern: Die Vorstellung von Gesundheit definiert sich entsprechend den als wertvoll bzw. unwert beurteilten Situationen jedes Mal neu.
Bedenkt man nun ausserdem noch, dass wir – weil die verschiedenen Dinge in unserem Leben jeweils um Bedeutung kandidieren – immer zahlreiche Werte haben, es also immer verschiedene Dinge in unserem Leben gibt, die wir für wichtig halten, so stellen Wertansprüche stets komplexe Abwägungs- und Bewertungsfragen dar. Typischerweise verlangen im Wertanspruch verschiedene, oft widersprüchliche Werte nach Realisierung.324 Der Fall der Einschätzung des Werts eines Autos gibt dafür ein einfaches Beispiel. Hier könnten etwa die Werte der Schnelligkeit, Sicherheit und Schönheit miteinander konkurrieren und entsprechende partikuläre Interessenaspekte hervorrufen. Der Wertanspruch verlangt dann, die verschiedenen interessierenden Teilaspekte nach Massgabe aller betroffenen Werte gegeneinander abzuwägen und sie im Lichte all dieser Werte zu ordnen.
Es gilt, die verschiedenen Interessenaspekte nach Massgabe der Werteordnung in ausgeglichener Weise zu gewichten. Es ist zu bestimmen, wie bedeutsam die verschiedenen Vor- und Nachteile des zur Diskussion stehenden Wertobjekts (des zu bewertenden „Guts“) für die gelungene Existenz einer Person insgesamt sind. Werturteile konstituieren sich also in aller Regel nicht isoliert, sondern durch die Abwägung nach Massgabe aller betroffenen Werte. Der Grad der Bedeutsamkeit tion (1993), S. 260 f. / 266 / 271 / 280 f. / 282 f.; und Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 130 – 132. 324 Das ist, was Nicolai Hartmann als „Tyrannei der Werte“ bezeichnet hat: Hartmann, Ethik (1926), S. 524 – 526. Von Carl Schmitt wird dies als grundlegend problematisch betrachtet: Schmitt, Die Tyrannei der Werte (1979), S. 36 – 39. Die Beurteilung der Tyrannei der Werte hängt jedoch davon ab, wie damit umgegangen wird. Dazu ferner hinten, IX.2 (2), zum Wertdiskurs.
VII. Die drei Vernunftdimensionen
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eines Wertobjekts für die gelungene Existenz einer Person lässt sich erst aus dem Verhältnis der verschiedenen betroffenen Werte bestimmen. Das Ergebnis der Abwägung konkreter Werturteile lässt sich dann durch ein Rangverhältnis der um Bedeutung kandidierenden partikulären Interessenaspekte zum Ausdruck bringen. „Das Auto ist insgesamt OK: Besonders schnell ist es zwar nicht, dafür aber ziemlich sicher, und es sieht auf jeden Fall gut aus.“ – Das Interesse an der Schnelligkeit wurde in diesem Fall den Interessen an der Sicherheit und des guten Aussehens untergeordnet. Das Interesse an Sicherheit und am guten Aussehen wurden mit wohl leichter Präferenz für das Interesse am guten Aussehen ungefähr gleich gewichtet.
Solche situativen Bewertungen wirken jedes Mal auch auf die Bedeutung der Werte selbst (die Bedeutung der Schnelligkeit, Sicherheit und der Schönheit im Leben einer Person überhaupt) ein, indem sich getroffene Einzelentscheidungen über Wertfragen zu einer grundsätzlichen Werthaltung ausprägen. Ein so ständig neu (möglicherweise auch bestätigend) konstituiertes generelles „Wertgefüge“ bildet jeweils wieder den Ausgangspunkt für neue Werturteile. Zur universalistischen Natur des Wertanspruchs: Wenn soeben die subjektive Bedeutung und die situative Gewichtung von Werten betont wurde, bedeutet das keineswegs, dass Werte nicht ebenso wie Wahrheit und Gerechtigkeit einen Anspruch auf Universalität erheben. Allerdings besteht eine verbreitete Skepsis gegenüber universell gültigen Wertestandards325, die nicht selten die Tendenz hat, den Wertanspruch als ganzen zu diskreditieren. Hier gilt es zu differenzieren: Werte werden in dieser Studie als personenbezogen verstanden. Die Diskussion über die Universalität von Werten bringt daher den Wertanspruch als solchen in keinerlei Schwierigkeiten. Der Zweifel an der Universalität von Wertestandards tritt nämlich meist der Behauptung entgegen, mit der Gültigkeit von Werten werde zwingend ein Universalitätsanspruch im Sinne einer Überpersonalität erhoben. Da dieser Anspruch unserer Ansicht nach von Werten nicht zwingend erhoben werden muss, steht dieses Verständnis des Wertanspruchs offensichtlich nicht in der Kritik. Der Geltungsanspruch, etwas sei für jemanden von Wert, impliziert nicht, dass damit ein universal gültiger Wert vertreten werde. Falls der Zweifel auch die universalistische Struktur des Wertanspruchs negieren wollte, müsste diesem Einwand allerdings entgegen getreten werden. In diesem Fall unterlassen es die Kritiker, zwischen „universell“ oder „universal“ einerseits und „universalistisch“ andererseits sorgfältig zu unterscheiden. Während sich „universell“ und „universal“ als Ansprüche auf Universalität auf den Personenkreis beziehen für den etwas gilt, bezieht sich „universalistisch“ auf die Qualität eines Geltungsanspruchs als solchen: Ein universalistischer Geltungsanspruch bedeutet, dass sich eine Behauptung, welchen Inhalts auch immer, gegenüber allen denkbaren Personen begründen lässt. Das aber ist genau der Anspruch dessen, der andern gegen325 Vgl. dazu etwa Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 71; vgl. auch ebd., S. 41.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
über den Wert von etwas geltend machen will. Er tritt an mit der Behauptung, gute (von allen anzuerkennende) Gründe dafür vorbringen zu können, dass etwas für jemanden einen bestimmten Wert habe. Zu einem Geltungsanspruch wird der Wertanspruch erst durch die universalistische Struktur des Anspruchs, eine gegenüber allen Adressaten anerkennungswürdige Wertaussage zu machen. Der universalistische Charakter des Wertanspruchs liegt allerdings nicht darin, dass der Wert von etwas für jemanden auch für alle anderen gelten würde, sondern darin, dass er (als personenbezogene Werteposition und daher nur für diese) gegenüber allen anderen gültig ist. Wer gültig behauptet, dass etwas für sie oder ihn wertvoll ist, kann das gegenüber jedermann mit guten Gründen vertreten. Von der Frage der überpersonellen Universalität von Werten absorbiert, übersehen die Kritiker der Universalität diesen in der Wertfrage entscheidenden Punkt gerne. Was sind nach alledem gute Gründe für die Einlösung eines Wertanspruchs – dafür, dass etwas für die gelungene Existenz einer Person „wirklich“ wertvoll ist? Wie in Wahrheitsfragen, aber noch besser erkennbar, gliedert sich die Einlösung eines Geltungsanspruchs in der Wertdimension in ein prima facie plausibles Vorverständnis und in einen rationalen Begründungsprozess. Zu Beginn steht eine affektive oder emotionale Empfindung, die durch eine kognitive oder rationale Analyse des Wertzusammenhangs überprüft werden kann. Im ersten Schritt der Artikulation einer Wertempfindung geht es in erster Linie um das authentische Gefühl einer Person in Bezug auf etwas („Lust“ und „Unlust“). Die authentischen Empfindungen einer Person spielen für die Überzeugung, etwas sei für diese Person wertvoll, zweifellos eine Rolle. Um solche Empfindungen in die Wertbegründung einzubringen, muss nachvollziehbar gezeigt werden können, dass sich die Empfindungen der betreffenden Person tatsächlich, authentisch vollziehe. Da hierzu jeweils nur die betreffende Person selbst privilegierten Zugang hat, müssen die entsprechenden Begründungen an der Authentizität und Deutung der Empfindungsäusserungen der betroffenen Person ansetzen. Damit aber von Wert (und nicht einfach nur von situativer Lust oder kurzfristigem Nutzen) die Rede sein kann, bedarf es in Bezug auf diese Empfindungen ferner auch der Gründe hinsichtlich des Aspekts eines gesamthaft gelungenen, sinnvollen Lebens und damit der kognitiven Analyse der Wertempfindung. Da die situativen Empfindungen von Personen so weit nicht reichen, müssen die entsprechenden Gründe hier über das Emotionale hinausgehen und rational ansetzen. Es muss überzeugend dargelegt werden, weshalb eine bestimmte Wertaussage vor dem Horizont eines gesamthaft gelungenen Lebens und damit auch bezüglich des Verhältnisses sämtlicher infrage kommender Werte der betreffenden Person Sinn macht. Wie oben erläutert, muss die dazu nötige Argumentation dafür die verschiedenen infrage kommenden Werte einer Person aufweisen sowie die konfligierenden Interessenaspekte nach Massgabe dieser Werte gewichtend zueinander in Beziehung setzen. Es geht um die Begründung eines vertretbaren Verhältnisses unter den für die
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betreffende Person relevanten Werten, somit um eine wertrationale Relationierung verschiedener Interessenpositionen, in welcher jede Position im Gesamtzusammenhang der subjektiven Vorstellung vom guten Leben die für sie richtige Stellung erhält. Eine solche wertende Abwägung bedeutet daher nur vordergründig eine Priorisierung nach dem Muster einer Hierarchie. Ihr Ziel ist eine ausgewogene, ausgleichende Berücksichtigung der subjektbezogenen Werte. Dieser Abwägungsprozess muss den massgeblichen Werten je gerecht werden und die um vordringliche Bedeutung ringenden Teilinteressen in ausgeglichener Weise bewerten. Eine vernünftige Argumentation in der Wertdimension kommt damit auch intern nicht ohne die Vernunftdimension der Gerechtigkeit aus. Zudem muss diese Relationierung auch für Dritte einsichtig gemacht werden können, wenn der Universalisierungsanspruch eingelöst werden soll.
b) Verhältnis zu den anderen Geltungsansprüchen Wie schon beim Wahrheitsanspruch ergibt sich auch beim Wertanspruch hinsichtlich der Beziehung zu den anderen Geltungsansprüchen ein Bild der wechselseitigen Bedingtheit. Wertaussagen bleiben immer auch an die Dimensionen Wahrheit einerseits und Gerechtigkeit andererseits geknüpft. Das kann wiederum über die drei bekannten Ebenen hinweg erläutert werden: (1) Die Wertaussage als Äusserung eines Menschen: Wer einen Wertanspruch erhebt, bleibt in der objektiven Welt verstrickt und auf die Erhebung eines Wahrheitsanspruchs angewiesen. Sie oder er kommt aber auch nicht darum herum, begleitend zur Wertaussage mindestens implizit auch einen Gerechtigkeitsanspruch zu erheben. Denn auch wer zeitweise eine andere als die Frage der Gerechtigkeit fokussiert, steckt stets inmitten einer Unzahl sozialer Beziehungen, die immer auch einen gerechtigkeitsrelevanten Aspekt mit sich bringen. (2) Die Wertaussage als solche im Zusammenhang der Vernunftdimensionen: Wahrheitsfragen sind notwendigerweise in jedem Wertanspruch mit enthalten. Ein Wertanspruch umfasst die Beurteilung von Wahrheitsfragen aus dem Sinnhorizont der wertenden Person. Ähnliches gilt für Gerechtigkeitsfragen. Da die Wertfrage stets in Bezug auf ein sich in sozialen Interaktionen befindliches Subjekt beantwortet werden muss, bildet die interpersonelle Gerechtigkeitsfrage immer auch einen Parameter der personenbezogenen Wertüberlegungen; bei der Beantwortung der Wertfrage kommt man nicht umhin, auch den Preis für die Missachtung (oder auch den Wert der Beachtung) der Gerechtigkeit mit zu berücksichtigen. Wer den Wert von etwas bestimmen will, muss über die entsprechenden gerechtigkeitsrelevanten Voraussetzungen ebenso Bescheid wissen wie über die wahrheitsrelevanten. (3) Die Wertaussage als Handlung im Diskurs: Hinzu kommt auch beim Wertanspruch der schon oben, beim Wahrheitsanspruch ausgeführte unhintergehbare Gerechtigkeitsaspekt in Bezug auf die Einlösung: Wer (für eine bestimmte Person) gegenüber anderen die Zustimmungswürdigkeit einer Wertaussage vertritt, behauptet
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damit zugleich dass er berechtigt sei, dies zu tun. Einen Wertanspruch gegenüber anderen zu vertreten ist eine Handlung, die gerechtfertigt sein will.
3. Der Gerechtigkeitsanspruch Nach den Geltungsansprüchen auf Wahrheit und auf Wert ist für eine überzeugende Entscheidungslehre schliesslich noch derjenige auf „Gerechtigkeit“ einzuführen. a) Inhalt und Begründungsstruktur Gerechtigkeit bezieht sich nicht auf die faktischen Verhältnisse zwischen verschiedenen Objekten oder objektivierten Gegebenheiten (Wahrheit) oder die evaluativen Verhältnisse zwischen objektiven oder objektivierten Gegebenheiten und einem bestimmten Subjekt (Wert), sondern auf die legitimatorischen Verhältnisse zwischen verschiedenen Subjekten. Unter dem Aspekt des Gerechten sind die interpersonellen Beziehungen nach Rechten und Pflichten zu strukturieren. Als gerecht dürfen diejenigen interpersonellen Beziehungen gelten, bei denen die konfligierenden Wertpositionen aller Beteiligten in einem fairen, ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen. Die Perspektive der Gerechtigkeit zielt darauf ab, die Wertpositionen verschiedener Subjekte im Konfliktfall in eine gleichmässige, verhältnismässige oder ausgeglichene Beziehung zueinander zu bringen. Im Unterschied zur Wertperspektive geht es hier darum, die gegenseitigen Beziehungen so zu gestalten, dass sie für alle Beteiligten gleichermassen gut oder wertvoll sind. In der Gerechtigkeitsperspektive wird der singuläre Bezugspunkt einzelner (individueller oder kollektiver) Subjekte überstiegen und auf das Zusammenspiel von diesen um alle betroffenen zweiten und dritten Personen erweitert. Damit tritt die Gerechtigkeitsfrage nicht unversehens in Konkurrenz zur Frage des Guten: Es verändert sich zunächst einmal die ganze Fragestellung. Ging es bei der Wertfrage noch um das für eine bestimmte Person Gute, so geht es bei der Gerechtigkeitsfrage darum, wie die für die verschiedenen betroffenen Personen Vorstellungen vom Guten fair miteinander vereinbart werden können. Um dartun zu können, dass eine interpersonelle Beziehung gerecht ist oder nicht, sind Aussagen über Rechte und Pflichten zu treffen, die den Betroffenen zustehen bzw. zukommen. Ein „Recht“ ist die unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zustehende oder moralische Befugnis zu einer bestimmten Handlung; eine „Pflicht“ bedeutet das moralische Gebotensein einer bestimmten Handlung. Werden in einer interpersonellen Situation Rechte oder Pflichten verletzt, so kann diese Situation als ungerecht bezeichnet werden. Wer (in einer bestimmten Situation) ein Recht hat, etwas zu tun, dem ist unter Gerechtigkeitsaspekten nichts vorzuwerfen; und wer (in einer bestimmten Situation) die Pflicht hat, etwas zu tun, dies aber unterlässt, oder
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wer das Recht eines anderen verletzt, ist unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten dafür zur Verantwortung zu ziehen. Rechte und Pflichten präsentieren sich somit als die einzelnen Personen (unter dem moralischen Gesichtspunkt) zuzuschreibenden Ausstattungen, anhand derer ein Urteil über die Legitimität von Handlungen in interpersonalen Beziehungen gefällt werden kann. Wie gelangt man aber zu solchen Rechten und Pflichten? Rechte und Pflichten gründen in Gerechtigkeitsnormen. Als „Gerechtigkeitsnormen“ sind diejenigen Vorschriften zu bezeichnen, die interpersonale Beziehungen unter dem moralischen Gesichtspunkt regeln. Sie bilden die Regeln, nach denen Rechte und Pflichten unter die verschiedenen Personen einer Handlungssituation zu verteilen sind. Erst aus diesen Regeln ergeben sich die Rechte und Pflichten, also die Befugnisse und Gebote für das Handeln von Personen. Gerechtigkeitsnormen können also als Distributoren von Rechten und Pflichten betrachtet werden. So ist die Aussage zu verstehen, Rechte und Pflichten „gründeten“ in Gerechtigkeitsnormen. Die Gerechtigkeitsnorm regelt die interpersonale Beziehung; das Recht oder die Pflicht regelt das Verhalten der einzelnen Subjekte in dieser Beziehung. Bei der Frage der inhaltlichen Begründung von Gerechtigkeitsnormen gelangt man schliesslich wieder zur Ausgangsfrage der Gerechtigkeit zurück. Wie begründet man gerechte, ausgeglichene bzw. das Vorliegen ungerechter, unausgeglichener intersubjektive Beziehungen? Das Gerechtigkeitsproblem unterscheidet sich vom Wertproblem strukturell dadurch, dass die Bezugnahme auf das Gute nicht auf ein einziges Subjekt, sondern auf jedes betroffene Subjekt abstellt. Das „gerechte Gute“ muss den Test einer intersubjektiven Ausgeglichenheit bestanden haben. In der Gerechtigkeitsdimension ist es nicht mehr das Gute, Wertvolle einer Person, sondern dasjenige, das sich aus der Perspektive der Wertvorstellungen aller einzelnen Beteiligten ergibt – das demzufolge im gerechten Zusammenspiel der vorgebrachten Werte der verschiedenen Beteiligten hergestellt werden muss. Man stelle sich beispielsweise einen Fall vor, in dem über die Lohnverhältnisse in einem Unternehmen entschieden werden soll: Soll die Unternehmensführung den Lohn in wirtschaftlich schwierigen Zeiten kürzen? Wessen Lohn wäre wie stark zu kürzen? Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten ist zu prüfen, ob die jeweils personenbezogen bewerteten Ziele im intersubjektiven Verhältnis in ausgeglichener Weise beeinträchtigt sind. Was lässt sich zu den Fragen des Lohnbeispiels etwa aus dem Blickwinkel ökonomischer, betriebswirtschaftlicher, wirtschaftsethischer oder rechtswissenschaftlicher Rationalitäten sagen? Wie die verschiedenen Wertpositionen der Betroffenen im gegenseitigen Verhältnis zueinander abzuwägen sind, dazu werden die verschiedenen Disziplinen und Schulen unterschiedlich Stellung beziehen und verschiedene Argumente beibringen.
In der Gerechtigkeitsfrage wechselt gewissermassen der Strukturmodus der Wertfrage von subjektiv zu intersubjektiv. Es steht infrage, wie die Perspektiven verschiedener Subjekte auf das Gute richtig ins Verhältnis zu setzen sind. Darin liegt die gegenseitige Anschlussfähigkeit der Gerechtigkeits- und der Wertfrage. Hier kann, muss sogar wieder darüber diskutiert werden, wie viel etwas für jeman-
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den wert ist. Allerdings müssen die daraus resultierenden personellen Werturteile unter dem moralischen Gesichtspunkt dann zum Wert von etwas für jemand anderen ins Verhältnis gesetzt werden, und zwar in gleichmässiger Weise. Hierfür ist das infrage stehende Gerechtigkeitsproblem zunächst sorgfältig zu analysieren. Es ist danach zu fragen, worin es aus der Sicht sämtlicher Beteiligten eigentlich besteht. Im verwendeten Beispiel würde ein wichtiger Aspekt der Gerechtigkeitsproblematik etwa im Verhältnis zwischen dem Interesse der Unternehmensführung am Unternehmenserfolg und denjenigen der Angestellten an einem ungekürzten Einkommen liegen. Ein weiterer gerechtigkeitsrelevanter Aspekt könnte darin liegen, dass einzelne Mitarbeitende oder Mitarbeitergruppen (z. B. die Mitarbeiter der operativen Ebene oder die Frauen) nicht bereit sein werden, eine allfällige Lohnkürzung alleine hinzunehmen. Die differenten Positionen mögen sich seitens verschiedener Rationalitäten stützen lassen. So mögen sich zu Gunsten der Lohnkürzung etwa bestimmte volks- und betriebswirtschaftliche oder juristische Argumente ins Feld führen lassen, dagegen etwa ethische oder evtl. ebenfalls juristische. Eine soziologische Analyse könnte die Gesichtspunkte beispielsweise dadurch erweitern, dass sie feststellt, inwieweit die strategische Ebene oder die männlichen Angestellten des Unternehmens bei der Benachteiligung ihrer Kolleginnen und Kollegen eine Rolle spielen.
Die Grundstruktur eines solchen typischen Gerechtigkeitsproblems liegt so, dass sich ein Subjekt in seinen Zielen beeinträchtigt sieht und diese Beeinträchtigung angesichts der Handlung oder Situation eines anderen Subjekts als unverhältnismässig oder unzumutbar beurteilt wird. Es liegt eine behauptete unverhältnismässige Wertbeeinträchtigung vor. Gegen die Lohnkürzung werden die Angestellten ihr Interesse an einem möglichst hohen Einkommen vorbringen. Die Unternehmensführung wird dem etwa das Interesse an der Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit und die Unternehmensprosperität entgegenhalten. Beide Seiten werden dabei geltend machen, dass ihre Ziele durch diejenigen der anderen in unverhältnismässiger Weise beeinträchtigt würden. Mit Blick auf die Verteilung der Löhne werden einzelne Mitarbeitende oder Mitarbeitergruppen geltend machen, dass ihr Einkommen in unverhältnismässiger Weise zugunsten desjenigen anderer Mitarbeitender oder Mitarbeitergruppen beeinträchtigt werde, z. B. dasjenige der operativen Ebene im Verhältnis zur strategischen oder dasjenige der Frauen im Verhältnis zu den Männern. Diese werden ihnen entgegnen, dass die unterschiedlichen Löhne im Verhältnis durchaus angemessen seien.
Die sich gegenüber stehenden Beeinträchtigungen gilt es dann zu überprüfen und, sofern geboten, zu korrigieren. Die dafür nötige Abwägungsmethode der Gerechtigkeit muss sowohl das intersubjektive Moment der Verallgemeinerbarkeit gewährleisten, als auch den Einzelsichtweisen der betroffenen Subjekte gerecht werden. Beides sind unverzichtbare Aspekte einer fairen Bewältigung von Interessenkonflikten. Liesse sich die Universalisierbarkeit nicht ausweisen, so verlöre die behauptete Gerechtigkeitslösung ebenso ihre Gültigkeit, wie wenn sie die „Einzelfallgerechtigkeit“ missachten würde.326
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Vor diesem Hintergrund ist die Gerechtigkeitsabwägung über zwei Stufen zu strukturieren: (1) die Stufe des Verallgemeinerungstests (liegen überhaupt verallgemeinerungsfähige Werte vor?) und (2) die Stufe des Ausgleichs (werden diese Werte im Konfliktfall gleichmässig beeinträchtigt?). (1) Die erste Stufe richtet sich zunächst auf die vordergründigen Interessen und die mit ihnen angeführten Werte, deren Beeinträchtigung zur Diskussion steht, im Einzelnen. Zwar steht es jedem betroffenen Subjekt in einem Gerechtigkeitsdiskurs zu, seine Interessen und Werte geltend zu machen. Die Interessen und Werte, die sich in der Wertdimension als begründet erwiesen haben (mögen), müssen jedoch zunächst einmal auch in der Gerechtigkeitsdimension als berechtigt gelten können, indem sie sich auf einer ersten Stufe als verallgemeinerbar ausweisen lassen. Gefragt sind hier also nicht – wie in der Wertdimension – subjektive, sondern für alle betroffenen Subjekte gleichermassen gültige Werte. Diese „Eintrittsbedingung“ in die Abwägung verlangt somit zunächst einen Universalisierungstest auf einer abstrakten Ebene. Während in der Wertdimension Begründungen nur spezifisch auf das Subjekt der Wertung zu beziehen sind, ist das Moment der Universalisierung, als der Anspruch auf Anerkennung der Gültigkeit für alle, in der Gerechtigkeitsdimension unabdingbare Voraussetzung. Die Testfrage lautet hier nicht, ob etwas für jemanden gut und erstrebenswert sei, sondern ob es dies in gleichem Masse für alle Betroffenen sei. Die allgemeinen Achtungsnormen, welche diese verallgemeinerbaren Werte gewährleisten, können als „Wertgarantien“ bezeichnet werden. Im Wege allgemeiner, d. h. für alle Betroffenen gleichermassen anrufbaren Rechte und Pflichten leisten sie Gewähr für jene Konkretisierungen des Guten, die über die verschiedenen Einzelsubjekte hinweg allgemein als anerkennungswürdig gelten dürfen. Sie können auch als „Grundsätze“ bezeichnet werden: Zum einen neigen sie aufgrund der Verallgemeinerung zum Abstrakten und liefern dadurch nur mittelbaren Entscheidungsgehalt. Zum andern liefern sie gleichwohl die massgebliche normative Grundlage für den Entscheid über die Gerechtigkeit, indem sie die verallgemeinerbaren Werte gewährleisten, welche den Entscheid anleiten. In einer dritten Hinsicht spricht die „Grundsätzlichkeit“ alltagssprachlich zu Recht auch die unvollkommene Realisierbarkeit „eigentlich“ vollkommener Werte an, die sich bei jedem Realisierungsversuch schmerzlich bemerkbar macht: „Grundsätzlich“ gilt der Wert zwar vollumfänglich und ohne Weiteres, alle Dinge zusammen betrachtet, sind jedoch Beeinträchtigungen hinzunehmen. Die verallgemeinerbaren Werte und die sie gewährleistenden allgemeinen Wertgarantien oder Grundsätze kommen in den Logiken der einzelnen Rationalitäten nicht immer klar zum Ausdruck. Je nach Ausrichtung einer Rationalität werden 326 In der Abwägungsmethode der Gerechtigkeit zeigt sich die Idee der Pluralistischen Grundsätzlichkeit ein weiteres Mal. Auch hier geht es wiederum um die faire Integration von Vielfalt und Einheit. Tatsächlich hat die Pluralistische Grundsätzlichkeit hier ihren Ursprung. Vgl. vorn, Ziff. III.3.b).
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eher explizite Werte proponiert, und die auf sie bezogenen Garantien bleiben implizit, oder umgekehrt. Rationalitäten, die traditionell auf die Wertdimension ausgerichteten Disziplinen entstammen (etwa ökonomische), neigen tendenziell zur Betonung von Werten, während Rationalitäten mit einem traditionell gerechtigkeitsbezogenen disziplinären Hintergrund (etwa ethische oder juristische) eher die Wertgarantien betonen. Beides ist jedoch immer impliziert. Als geläufige Kandidaten für verallgemeinerbare Werte bieten sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Rationalitäten beispielsweise die – etwa ethische – Existenzsicherung und soziale Sicherheit, die – etwa volkswirtschaftliche – Produktivität und Effizienz oder die – etwa betriebswirtschaftliche – Unternehmensprosperität an. Die traditionell auf Normen bezogenen – etwa juristischen oder bestimmte ethische – Rationalitäten mögen dagegen etwa von Wertgarantien wie dem Recht auf Existenzsicherung oder von Wirtschaftsfreiheit sprechen. Freilich stehen auch dahinter Werte wie soziale Sicherheit, Persönlichkeitsentfaltung und wirtschaftlicher Erfolg. Umgekehrt unterstellen, sofern sie als verallgemeinerbare Werte proponiert werden, auch Produktivität, Effizienz oder Unternehmensprosperität entsprechende allgemeine Achtungsnormen. Im Beispielfall der Lohngleichheit werden sich für das Einkommensinteresse der Angestellten etwa ethische, evtl. auch juristische Garantien sozialer Sicherheit oder der Persönlichkeitsentfaltung anführen lassen. Für die Lohnkürzung das etwa ökonomische Prinzip der Preisbindung am Markt, das betriebswirtschaftliche Leistungsprinzip oder die ebenfalls juristische Wirtschaftsfreiheit und die Privatautonomie. Zusätzlich mögen sich die von denselben oder weiteren Rationalitäten vertretenen Werte bzw. Grundsätze der Konkurrenzfähigkeit und die Unternehmensprosperität für verschiedene Betroffene ohne weitere Abstraktion anführen lassen. – Bestehen all diese Werte bzw. die implizierten Werte den Verallgemeinerungstest? Dienen sie allen einzelnen Betroffenen gleichermassen?
Der diskursiv durchzuführende Verallgemeinerungstest der ersten Stufe der Gerechtigkeitsprüfung selegiert auf diese Weise die verallgemeinerbaren Interessen. Wer einen Zusammenhang zwischen vorgebrachtem Interesse und verallgemeinerbarem Wert nicht herstellen kann, wird es mit seinem Interesse unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten bereits von vornherein schwer haben. Partikularinteressen werden auf ihre verallgemeinerbaren Wertaspekte hin diszipliniert. So stünde es beispielsweise um die Begründungssituation männlicher Mitarbeiter, die einen „Partikulargrundsatz“ genereller Besserstellung männlicher Mitarbeiter geltend machen wollten. Sie werden ihre Interessen zwar evtl. auf andere, verallgemeinerbare Werte stützen können (möglicherweise etwa die Unternehmensprosperität). Ihre partikulären Wertvorstellungen können Sie jedoch nicht zur Grundlage der Interessenabwägung machen.
(2) Auf der zweiten Stufe sind die von den Betroffenen erlittenen Beeinträchtigungen im Lichte der verallgemeinerbaren Werte auf ihre Gleichmässigkeit hin zu prüfen. Es geht hier um das Problem, dass die „grundsätzlich“ gewährleisteten Werte im Zusammenspiel nur leidlich verwirklicht werden können. Hierfür ist ein weiteres Mal zu differenzieren: Besteht der Konflikt darin, dass sich die Parteien auf gegensätzliche verallgemeinerbare Werte (oder unterschiedliche Ausprägungen des gleichen Werts) berufen, so reden wir (a) von einem „Kollisionskonflikt“, d. h.
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von einem Konflikt, in dem nicht nur die Interessen der Subjekte, sondern auch die mit ihnen verbundenen verallgemeinerbaren Werte kollidieren. Besteht der Konflikt darin, dass der Anteil der Parteien an einem einzigen Wert in ungleicher Weise verteilt zu werden droht, dann reden wir (b) von einem „Distributionskonflikt“, d. h. von einem Konflikt, in dem es um die Teilhabe mehrerer Subjekte an der gleichen Wertverwirklichung geht. Verallgemeinerbare Werte Allgemeine Rechte und Pflichten (Grundsätze)
Resultierende Konflikte aufgrund von • Wert-Kollision • Wert-Distribution (Kollision von Werten) (Distribution eines Werts) → Gleichmässigkeit der gegenseitigen Beeinträchtigungen
→ Gleichmässigkeit der geteilten Beeinträchtigungen
Abbildung 7: Begründungsstruktur des Gerechtigkeitsanspruchs
Die Beeinträchtigungen können also zum einen daraus resultieren, dass die Realisierung eines verallgemeinerbaren Werts durch ein Subjekt mit der Realisierung eines anderen Werts bei einem anderen Subjekt kollidiert (Kollisionskonflikt). Der Gerechtigkeitskonflikt ergibt sich hier daraus, dass sich die Parteien auf widersprüchliche Rechte oder Pflichten berufen, welche von gegensätzlichen Wertgarantien gewährleistet bzw. auferlegt werden. Dabei können verschiedene Werte oder derselbe Wert in einer anderen Ausprägung kollidieren. Zum andern können die Gerechtigkeitskonflikte aber auch durch den Streit darüber entstehen, wie derselbe Wert in derselben Ausprägung auf die Betroffenen zu verteilen ist (Distributionskonflikt). Auch hieraus resultieren bei den Betroffenen gerechtigkeitsrelevante Beeinträchtigungen. Angenommen, aufseiten der Angestellten könnte sich z. B. die (ethische / juristische) soziale Sicherheit als verallgemeinerbarer Wert behaupten, aufseiten der Unternehmensführung z. B. die (ökonomische / betriebswirtschaftliche / juristische) Unternehmensprosperität. Mit der veranschlagten Lohnkürzung stünde die Unternehmensprosperität mit der sozialen Sicherheit in Konflikt (Kollisionskonflikt). Im Hinblick auf die soziale Sicherheit durch die betriebliche Entlöhnung stellt sich aber auch die Frage, wie viel die einzelnen Mitarbeitenden oder Mitarbeitergruppen (operative, strategische Ebene, Männer, Frauen usw.) jeweils daran teilhaben sollen (Distributionskonflikt).
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(a) Beim Kollisionskonflikt bildet das Ausgangsproblem die Situation, dass Werte miteinander in Konflikt stehen, die – aufgrund ihrer jeweiligen Verallgemeinerbarkeit (bzw. der jeweiligen Allgemeinheit der sie gewährleistenden Wertgarantien) – nicht hierarchisch geordnet werden dürfen. Sie sind von gleichem Rang. In dieser Situation geht es dann deshalb darum zu prüfen, wie intensiv die gegenseitigen Beeinträchtigungen der jeweils anrufbaren verallgemeinerbaren Werte ausfallen. Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten müssen die Beeinträchtigungen gleichrangiger kollidierender Werte im Verhältnis gleich gross, verhältnismässig sein. Das „gleich gross“ hat dabei eigentlich den Sinn eines „gleich klein“. Denn die jeweiligen verallgemeinerbaren Werte bilden nach wie vor die anvisierten Zielhorizonte. Es gilt, möglichst wenig und für alle gleichmässig von ihnen abzuweichen. Mit der Lohnkürzung büsst die soziale Sicherheit der Angestellten ein. Umgekehrt büsst das Unternehmen an Prosperität ein, wenn auf die Lohnkürzung verzichtet würde. Es gilt zu prüfen, ob die veranschlagte Lohnkürzung die soziale Sicherheit der Angestellten in gleichem Masse beeinträchtigt wie die Aufrechterhaltung des Lohnniveaus die Unternehmensprosperität belasten würde. Mit welcher Massnahme liegen gleich kleine Beeinträchtigungen vor?
Bei dieser Abwägungsmethode werden die vorgebrachten Interessen jeweils bewertet und verglichen („(Gewichts-)Wertzumessung“ und „-vergleich“). Dabei ist darauf zu achten, dass sich die Wertzumessung tatsächlich im Rahmen der einschlägigen verallgemeinerbaren Werte bewegt, weil sonst ihre Verallgemeinerbarkeit und, soweit möglich, damit ihre intersubjektive Vergleichbarkeit verloren ginge. Ausserdem muss sie subjektmässig konkretisiert werden, weil Wertpositionen nur mit Blick auf bestimmte Subjekte Sinn machen und eine relative Vergleichbarkeit der sich gegenüber stehenden Wertzumessungen erst besteht, wenn die SubjektWert-Konstellationen auf derselben Konkretionsebene liegen. Entscheidend bei den einzelnen Wertzumessungen wird dann insbesondere sein, welche alternativen Realisierungsmöglichkeiten den Beeinträchtigten im Lichte der verallgemeinerbaren Werte und ihrer (ebenso verallgemeinerbaren) Zusammenhänge ausserdem noch zur Verfügung stehen. Auf der Seite der Angestellten wäre für jede Angestellte zu prüfen, wie intensiv sich die Lohnkürzung auf ihre soziale Sicherheit auswirkt. Dabei wäre etwa zu fragen, welche sonstigen allgemeinen (empirischen und normativen) Bedingungen die Lohneinbusse in dieser Hinsicht verschlimmern oder abmildern. Z.B.: Wie schwer trifft es diese und jene Angestellte etwa unter Berücksichtigung der Möglichkeiten ihrer persönlichen Entfaltung, ihrer Beitragspflichten an die Familie und die Altersvorsorge? Welche subsidiären Sozialleistungen bestehen? Wie würden sich diese auswirken? Nicht ins Gewicht fiele hingegen die Durchkreuzung des möglichen Ziels eines Angestellten, sich der Unternehmensführung gegenüber (formal) möglichst stark zu behaupten. Hierfür dürfte eine allgemeine Wertgarantie fehlen. Auf der Seite des Unternehmens wären insbesondere alternative Handlungsmassnahmen zu erwägen. Z.B.: Gibt es die Möglichkeit einer zeitweisen Kurzarbeit? Bestehen andere staatliche Überbrückungsinstrumente? Kann der schwache Unternehmensbereich querfinanziert werden? Wie wirken sich all diese Massnahmen aus? Um Vergleichbarkeit mit der Wertzumessung aufseiten der Angestellten herzustellen, wäre der Wert der Unternehmensprosperität zudem subjektmässig zu konkretisieren: Wer ist „das Unternehmen“, „die Volkswirtschaft“? D. h., die Wertpositionen welcher Individualsubjekte stehen den Wertpositionen
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der Angestellten gegenüber? Für genau welches Subjekt bzw. welche Subjektgruppe würde sich das Absehen von einer Lohnkürzung in welcher Hinsicht wie stark auswirken? Welche alternativen Realisierungsmöglichkeiten der implizierten Wertpositionen bestehen für dieses Subjekt oder diese Subjektgruppe in dieser Hinsicht? Je nach den weiteren Umständen kann es sein, dass erst dann gerechte Verhältnisse vorliegen, wenn alle Beteiligten etwas weniger finanzielle Abgeltungen erhalten, solange das Unternehmen einen Verlust erwirtschaftet. Je nachdem kann es aber auch sein, dass das Unternehmen seinen Angestellten auch in schlechten Zeiten denselben Lohn schuldet. Die Antwort auf diese Gerechtigkeitsfrage ist im interrationalen Diskurs unter den genannten strukturellen Vorgaben zu suchen.
(b) Damit in vollem Umfang von gerechten Verhältnissen die Rede sein kann, müssen nicht nur die Kollisionskonflikte, sondern auch die Distributionskonflikte fair bewältigt werden. Beim Distributionskonflikt richtet sich der Fokus auf einen einzigen bestimmten verallgemeinerbaren Wert in einer ganz bestimmten Ausprägung, an welchem die Subjekte in gleicher Weise teilhaben wollen. Die Beeinträchtigungen sind hier in der Knappheit des umstrittenen Wertes selbst begründet, welche den Betroffenen eine Werteinbusse aufnötigt. Wie beim Kollisionskonflikt sind auch beim Distributionskonflikt die von den verallgemeinerbaren Werten herrührenden Beeinträchtigungen gleichmässig unter die betroffenen Parteien zu verteilen. Angenommen, im obigen Beispiel stehe eine Lohnkürzung nur der Frauen (oder eine andere Massnahme geschlechterweiser Lohndiskriminierung) zur Debatte. Ausserdem angenommen, die Unternehmensprosperität als verallgemeinerbarer Wert rechtfertige eine Lohnkürzung. Damit ist der Kollisionskonflikt (zwischen der Unternehmensprosperität und der sozialen Sicherheit) bereits vorentschieden. Der entscheidende Aspekt dieses Gerechtigkeitsproblems bezieht sich dann noch auf den von allen Angestellten in gleicher Weise angestrebten Wert der sozialen Sicherheit. Die Beeinträchtigungen der Angestellten sind zu vergleichen. Wird von den männlichen Angestellten gleich viel an sozialer Sicherheit abverlangt wie von den weiblichen?
Die Struktur der Verhältnismässigkeitsprüfung beim Distributionskonflikt gleicht derjenigen des Kollisionskonflikts. Erneut sind die vorgebrachten Interessen als Beeinträchtigungen verallgemeinerbarer Werte zu bewerten und zu vergleichen. Dafür ist abwägend zu überprüfen, wie sehr die Beeinträchtigungen, welche von den einzelnen Subjekten abverlangt werden, jeweils ins Gewicht fallen. Wieder ist hierfür auf die empirischen und normativen Bedingungen abzustellen. Nicht selten spielen in diesen Distributionskonstellationen insbesondere fehlende Fähigkeiten oder unverschuldet geringere Mittelausstattungen eine Rolle. Dass die Beeinträchtigungen der sozialen Sicherheit, welche die weiblichen Kolleginnen zum Zweck der Unternehmensprosperität bei geringerer Entlöhnung hinnehmen sollen, nicht grösser sind als diejenigen der besser bezahlten männlichen Kollegen, dürfte kaum auszumachen sein. Eine normativ verallgemeinerbare Mehrbelastung der Männer ist (unter gewöhnlichen Bedingungen) nicht in Sicht. So mag (annahmeweise) im Lichte der Unternehmensprosperität eine allgemeine Lohnkürzung gerechtfertigt werden können (Kollisionskonflikt), eine einseitige Lohnkürzung zulasten der Mitarbeiterinnen jedoch nicht (Distributionskonflikt).
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Gleichmässige Wert-Distributionen können allerdings auch (nominell) ungleiche Ergebnisse zur Folge haben. So sind etwa Unterstützungsleistungen (Entschädigungen für Zusatzaufwände, Hilfsmittel usw.) an die soziale Sicherheit von Behinderten, von denen nur sie profitieren, gerechtfertigt, soweit die soziale Sicherheit zwischen Behinderten und nicht Behinderten im Ergebnis (wieder) ausgeglichen ist. Entscheidend ist nicht die gleiche Mittelverteilung, sondern die gleichmässige Teilhabe an den verallgemeinerbaren Werten.
In dieser doppelten Hinsicht (Kollisions- und Distributionskonflikt) wird je über zwei Stufen (Verallgemeinerungstest der Werte und situationsbezogene Abwägung) in einem Gerechtigkeitsproblem eine konkrete Gerechtigkeitsnorm geschaffen, welche für die einzelnen Beteiligten konkrete Rechte und Pflichten begründet. Den Kern der Gerechtigkeitsprüfung bildet dabei die erläuterte Wertzumessung in Abhängigkeit der verallgemeinerbaren Werte.
b) Verhältnis zu den anderen Geltungsansprüchen Die unauflösliche Verknüpfung von Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit lässt sich auch beim Gerechtigkeitsanspruch deutlich nachvollziehen, der Übersicht halber wieder entlang der drei Ebenen (1), „der Äusserer als Mensch“, (2), „die Aussage im Geltungszusammenhang“ und (3), „die Äusserung als Handlung“: (1) Die Gerechtigkeitsaussage als Äusserung eines Menschen: Wer einen Gerechtigkeitsanspruch erhebt, bleibt dabei gleichwohl immer auch eine wertorientierte Person mit Zielen und Interessen, die in jeder Handlungssituation, mithin auch beim Treffen einer gerechtigkeitsbezogenen Aussage präsent bleiben. Zudem bleiben wir auch dann, wenn wir ins Ideale weisende Gerechtigkeitsansprüche erheben, als im Hier und Jetzt tätige Menschen der objektiven Welt verfangen, in der wir uns zu jeder Zeit immer auch mit Wahrheitsanspruch verorten müssen; wir sind immer auch zugleich Teil dieser objektiven Welt. (2) Die Gerechtigkeitsaussage im Zusammenhang der Vernunftdimensionen: Zur schon internen Beziehung des Gerechtigkeitsanspruchs zu den anderen Geltungsansprüchen kann zunächst gesagt werden, dass auch er gleichermassen wie der Wertanspruch auf den Wahrheitsanspruch angewiesen ist. Auch unter Gerechtigkeitsaspekten gilt es, etwas als gerecht oder ungerecht zu beurteilen. Schon innerhalb der Begründungsstruktur des Gerechtigkeitsanspruchs ist auch ein Bezug zur Wertfrage enthalten. Gerechtigkeit bedeutet die gleichmässige Berücksichtigung von Wertpositionen verschiedener Personen. Das bedeutet aber, dass, damit die beteiligten Wertpositionen zueinander in Beziehung gesetzt werden können, diese jeweiligen Wertekonstellationen der Beteiligten zunächst auch jeweils für sich bestimmt werden müssen. Und diese jeweiligen Wertpositionen bedeuten die Beantwortung der Wertfrage: der Frage, wie wertvoll etwas für eine bestimmte Person (hier nun: jede einzelne am Gerechtigkeitsproblem beteiligte) sein mag. Die Wertfrage bildet so immer einen strukturellen Bestandteil der Gerechtigkeitsfrage. Ebenso, wie der Gerechtigkeitsanspruch auf eine Wahrheitsanalyse der gerechtigkeitsrelevanten Fak-
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ten angewiesen ist, ist er hinsichtlich der einzelnen vom Gerechtigkeitsproblem Betroffenen auf den Wertanspruch angewiesen. (3) Die Gerechtigkeitsaussage als Handlung im Diskurs: Auch ein erhobener Gerechtigkeitsanspruch will schliesslich eingelöst werden, was wie bei allen anderen Geltungsansprüchen einen fairen Diskurs voraussetzt, in dem die verschiedenen Betroffenen um die Anerkennungswürdigkeit ihrer Argumente ringen. Da hier die Fairness, also das gerechte Zusammenwirken der Beteiligten wiederum eine entscheidende Rolle spielt, sind, wie soeben gesehen, auch wieder die beiden anderen Geltungsansprüche betroffen; Gerechtigkeit setzt Wert und Wahrheit in jeder Anwendungssituation voraus. Zur Frage, in welcher Beziehung der Gerechtigkeitsanspruch zum Wertanspruch insgesamt steht, kann auf die vorherigen Ausführungen verwiesen werden: Werden die beiden Geltungsansprüche jeweils insgesamt betrachtet, so betreffen sie zwei grundsätzlich verschiedene Fragen. Beim Gerechtigkeitsanspruch geht es um die Beantwortung der Frage nach den interpersonell legitimen Beziehungen (darin spielt der Wertanspruch eine zusätzliche Rolle). Beim Wertanspruch geht es hingegen um die Beantwortung der Frage, wie wertvoll etwas für eine bestimmte Person ist. Die beiden Geltungsansprüche sind sorgfältig voneinander zu unterscheiden. Sie bewegen sich zunächst in grundsätzlich unterschiedlichen, selbständigen Vernunftdimensionen. Im vernunftorientierten wissenschaftlichen Entscheidungsprozess sind die beiden Dimensionen dann – unter ihrer Bezugnahme auf die Wahrheit der von ihnen unterstellten Verhältnisse – in einer diskursiven Auseinandersetzung zu einem möglichst vernünftigen Ergebnis zu integrieren. Wahrheit Wert Gerechtigkeit
Vernünftige Entscheidung Abbildung 8: Wahrheit – Wert – Gerechtigkeit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die zu Beginn der Theorie der Geltungsansprüche eingeführte These der jederzeitigen wechselseitigen Bedingtheit von
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Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit für jeden einzelnen der drei Geltungsansprüche nachgewiesen werden kann. Das bedeutet: Alle drei Geltungsansprüche, auf Wahrheit, auf Wert und auf Gerechtigkeit, verlangen bei jeder wissenschaftlichen Tätigkeit nach Einlösung. Erst, wenn die spezifischen Gültigkeitserfordernisse einer wissenschaftlichen Fragestellung in allen drei Dimensionen berücksichtigt werden, hat die entsprechende Entscheidung eine Chance auf Vernünftigkeit.
4. Weitere Geltungsansprüche? Mit der vorstehenden Strukturanalyse des Wahrheits-, des Wert- und des Gerechtigkeitsanspruchs verbindet sich in dieser Studie die These, dass damit die für eine überzeugende Entscheidungstheorie wesentlichen Geltungsansprüche benannt sind.327 Diese These wird von Ansätzen herausgefordert, die für rationale Entscheidungen noch weitere Geltungsansprüche für grundlegend halten, besonders prominent darunter den Anspruch auf Zweckrationalität. Zudem könnte erwogen werden, ob nicht auch der Anspruch auf Schönheit in dieser Entscheidungslehre eine Rolle spielen könnte. Abschliessend soll daher noch kurz dargelegt werden, (1) weshalb es sich beim angeblich grundlegenden Geltungsanspruch auf Zweckrationalität nur um einen abgeleiteten Wertanspruch handelt. Zudem soll (2) auch die Möglichkeit eines zusätzlichen Geltungsanspruchs auf Schönheit gewürdigt werden. (1) Zweckrationalität: Die Zweckrationalität oder Zweckmässigkeit wird in herkömmlichen Entscheidungstheorien geradezu als die massgebliche Rationalität (und der Anspruch darauf mithin als der entscheidende Geltungsanspruch) gefeiert.328 In jüngerer Zeit kommen „pragmatische“ Fragestellungen“ in erstaunlich unkritischer Weise auch in solchen Theorien in Mode, die dem Zweckrationalen gegenüber eigentlich kritisch eingestellt waren. Bei Habermas etwa ist die pragmatische Fragestellung diejenige, die bei gegebenen Zielen eine vernünftige Mittelwahl oder im Falle mehrerer infrage kommender Ziele bei bestehenden Präferenzen eine vernünftige Auswahl unter diesen vornimmt (das „Zweck – Mittel“-Schema bleibt in beiden Fällen grundsätzlich gleich). Es gehe um zweckrationale Techniken, Strategien, Programme usw. unter Effizienz- oder ähnlichen Gesichtspunkten, die unter Beiziehung der Theorie rationaler Wahl durchzuführen wären. Zur Debatte stünde v. a. die Klärung empirischer Fragen, die letztlich entscheidend wären. So spricht Habermas auch von einer „Wahrheit technischer oder strategischer Empfehlungen“.329 327 In Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), S. 185 – 195, wurde bereits ein umfassendes, flexibles Geltungsanspruchssystem entworfen. In diesen Kategorien steht hier nur die grundlegende horizontale Differenzierung methodischer Ansprüche wissenschaftlicher Praxis zur Diskussion (vgl. ebd., insb. S. 190 f.). Die mögliche weitere vertikale Differenzierung der methodischen Ansprüche sowie die Ausdifferenzierung möglicher thematischer Ansprüche bleibt auch in der nachfolgenden Auseinandersetzung im Hintergrund. 328 Vgl. dazu vorn, Ziff. II.1.
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Aber auch wenn sich zahlreiche – alltägliche und wissenschaftliche – Entscheidungsprobleme derart als durch Ziel- o.ä. Vorgaben fixierte „pragmatische“ Fragestellungen präsentieren, gilt es, diese genauer zu analysieren. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere zu untersuchen, wie weit die „pragmatische“ Fragestellung einen eigenständigen Geltungsanspruch definiert, der für die Vernünftigkeit von Wissenschaft von Bedeutung sein könnte. Hier wird es allerdings schwierig. Denn ganz offensichtlich bleibt die Frage des Zweckmässigen, vereinfacht: der Mittelwahl, mit der Frage des Wertvollen verknüpft. Welche Mittel zielführend sein mögen, macht nur vor dem Hintergrund der Frage Sinn, in welchem Masse die dahinter stehenden Ziele wiederum einer gelungenen subjektiven Existenz dienen. Auch die richtigen Mittel dienen also dem Ziel eines gelungenen Lebens. Die Zweckmässigkeit daher als einen u. a. dem Guten gegenüberstehenden Geltungsanspruch zu verstehen, scheint prima vista einmal nicht plausibel. Die Behauptung der Eigenständigkeit des Zweckmässigen trägt von vornherein also die Beweislast. Es müsste gezeigt werden können, dass zweckrationale Überlegungen unabhängig davon bestehen können, was für mein, dein oder irgendjemandes Leben wertvoll ist. Das ist jedoch nicht ersichtlich. Entweder entstammen zweckrationale Überlegungen nämlich aufs ganze Leben bezogenen Sinnfragen, oder sie verlangen nach einem Anschluss daran. Andernfalls machen sie buchstäblich keinen Sinn. Zwecke vertreten zwangsläufig eine Vorstellung des Guten oder Gerechten und müssen sich „wertrational“ (soll heissen: nach dem Geltungsanspruch eines Werts oder einer Gerechtigkeitsforderung) begründen lassen: Sie rufen nach einer normativen Begründung ihres zweckrationalen Vorrangs über die Mittel. Ein Mittel begründet sich nur über einen Zweck, der sich seinerseits als konsenswürdig ausweisen lässt. Daran ändert auch die starke Präsenz zweckrationaler Denk- und Handlungsweisen in unserem Alltag nichts. Vielmehr werfen diese die Frage nach ihrem Wert für unser Leben auf. Die entlastende Funktion systemförmiger Zweckschemen bleibt nur so lange bestehen, wie sie den Anschluss an das, was entlastet werden soll, beibehält. Komplexitätsreduktion ist also nicht Selbstzweck. Ob dieser Anschluss gewahrt bleibt, kann jedoch nicht ausgemacht werden, ohne dass auf den finalen Bezugspunkt, das sinnerfüllte Leben eben, Rückgriff genommen wird. Jede Mittelwahl steht daher zumindest unter dem Risiko der Sinnlosigkeit, dem nur mit einer Rückbesinnung auf das gelungene Leben begegnet werden kann. „Pragmatische“ Fragen sind letztlich Wertfragen. Vor diesem Hintergrund nähert Habermas die „pragmatischen“ Fragestellungen auch zu sehr an empirische Fragestellungen an. Natürlich bilden empirische Fragen in der Wertfrage immer auch einen Gesichtspunkt. Es muss ja etwas (Wirkliches oder Mögliches) sein, das unter Wertaspekten betrachtet wird. Für die Wertfrage entscheidend ist letztlich aber nicht die faktische Beschaffenheit der objektiven, 329 Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft (1991), S. 101 – 103 / 105 / 108 / 109 / 111 / 115, das wörtliche Zitat auf S. 115.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
subjektiven und sozialen Welt, sondern, wie gut sich diese für mein, dein usw. Leben ausnehmen. Diese Frage lässt sich nicht einfach durch eine Theorie „rationaler Wahl“ beantworten, sondern verlangt nach einer normativen Klärung des eigenen Selbstverständnisses unter den genannten Aspekten – ganz so übrigens, wie sie Habermas unter dem Titel des „Ethischen“ inzwischen selbst behandelt. (2) Schönheit: Abschliessend sei hier noch eine Anmerkung zur Frage des gemeinhin der Kunst zugeschriebenen Geltungsanspruchs der „Schönheit“ angebracht. Unterläuft die landläufige Auffassung von Kunst und das Problem des Schönen nicht die These, es gebe genau drei Geltungsansprüche der Richtigkeitsentscheidung: Wo bleibt neben dem Wahren, Guten und Gerechten das Schöne? In der Tat ist das Schöne als ein ernst zu nehmender Kandidat für einen eigenen Geltungsanspruch zu betrachten. Andererseits deuten einige Anzeichen auch darauf hin, dass es sich beim Schönen um einen Aspekt oder eine spezifische Variante des Wertvollen handeln könnte. Der hierzu bestehende Forschungsbedarf soll ausdrücklich anerkannt werden. Für die in dieser Studie verfolgte Grundlegung einer Entscheidungslehre kann diese Frage jedoch vorerst offengelassen werden. So weit ersichtlich, bestehen keine Anzeichen dafür, dass eine spätere Integration des Schönen in diese Entscheidungslehre an ihrer Grundstruktur rütteln würde.
5. Beispiel Mit dem Anspruch auf die drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit muss die Studienkommission Finanzmarktregulierung versuchen, die drei Geltungsansprüche sowohl einzeln wie in ihrem Zusammenhang einzulösen. 1. Dem Wahrheitsanspruch soll sie dadurch gerecht werden, dass sie empirische Analysen durchführt und diese auf ihre konzeptionellen Voraussetzungen und Implikationen hin überprüft. Zu diesem Zweck wird sie Wahrheitsaussagen in den Zusammenhang mit Wert- und Gerechtigkeitsfragen stellen müssen. Z. B. wird sie die Entwicklung von Finanzblasen kausal analysieren und dabei sowohl die Frage nach einem möglichen Marktversagen wie jene nach einem möglichen Staatsversagen als (Teil-)Ursache stellen. 2. Dem Wertanspruch soll sie dadurch gerecht werden, dass sie die Wertvorstellungen untersucht, welche im Finanzmarkt gepflegt werden – und dabei auch reflektiert, welche Werte die Mitglieder der Kommission in Bezug auf die untersuchten Fragen vertreten. Sie muss sich bemühen, diesen Werten optimal zu entsprechen. Z. B. wird sie volkswirtschaftlich und gesellschaftlich nützliche Interessen der Banken und Finanzintermediäre von schädlichen zu unterscheiden suchen und prüfen, wie hoch die Anlegerinteressen zu veranschlagen sind oder welche öffentlichen Interessen im Finanzmarkt betroffen sind. 3. Den Gerechtigkeitsanspruch soll sie erfüllen, indem sie einen fairen Ausgleich zwischen den in der Wertdimension begründeten Wertansprüchen herstellt.
VII. Die drei Vernunftdimensionen
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Hier ist sie in besonderem Masse zu interrationaler Verständigung aufgerufen, weil die verschiedenen Rationalitäten zu unterschiedlichen Gewichtungen zwischen den Interessen und Werten neigen. So werden Vertreter der in der Wertdimension begründeten Interessen geltend machen, ihre Anliegen seien auch in der Gerechtigkeitsdimension legitim. Zwischen diesen kollidierenden Geltungsansprüchen wird sie einen gerechten Ausgleich finden müssen. Z. B. wird sie versuchen, die Wirtschaftsfreiheit der Banken einerseits, den Schutz der Rechte von Anlegern und Steuerzahlern anderseits gleichberechtigt zur Geltung zu bringen.
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VIII. Integrativer Entscheidungsprozess Der sozialwissenschaftliche Entscheidungsprozess durchläuft drei Ebenen in je drei Dimensionen: Zuerst die Ebene des Vorverständnisses, dann jene der Problembeurteilung und schliesslich jene der Normierung der richtigen Handlung, wobei jede Ebene in den drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit zu analysieren ist. Als Ergebnis entsteht aus diesem Prozess eine Entscheidungsnorm, nach welcher die wissenschaftlich richtige Entscheidung getroffen werden kann. Das Idealmodell des Entscheidungsprozesses gestaltet danach einen integrativen Entscheidungsprozess in drei bzw. vier Schritten: Zuerst die Klärung der Vorverständnisse, insbesondere der daraus folgenden Leitfragen zum Thema in den drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit, anschliessend die Beurteilung des zu lösenden Problems in den gleichen drei Dimensionen, sodann die Entwicklung einer Entscheidungsnorm, welche ebenfalls alle drei Vernunftdimensionen einschiesst, dabei braucht es meist die Ausgleichung der Konflikte zwischen Zielnormen und Gerechtigkeitsnormen, sei es durch fairen Konsens oder durch fairen Kompromiss zwischen den konfligierenden Normen.
Nachdem die vorstehenden Ausführungen die wichtigsten Erfordernisse der Vernunft und der für eine Entscheidungstheorie grundlegendsten Fragestellungen (Rationalität, Interrationalität, Geltungsansprüche) ganz allgemein aufgearbeitet haben, soll jetzt der Entscheidungsprozess näher betrachtet werden. Mithilfe der zuvor untersuchten Geltungsansprüche ist es nun möglich, den Entscheidungsprozess in der Struktur seiner Handlungen und Geltungsansprüche präzise zu fassen. Es kann jetzt gezeigt werden, dass es sich beim Prozess der Entscheidung um ein komplexes, aus verschiedenen Handlungsabschnitten bestehendes Verfahren der Herstellung einer Entscheidungsnorm handelt, in dem die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit die „entscheidenden“ Rollen spielen. Im Folgenden soll dargetan werden, wie der nach Handlungen und Geltungsansprüchen strukturierte Entscheidungsprozess idealerweise verläuft, sodass am Ende eine Entscheidungsnorm resultiert, welche den Erfordernissen der Vernünftigkeit gerecht werden kann. Vorab gilt es klarzustellen, dass die im Folgenden zu zeichnenden Abläufe lediglich einem Strukturschema folgen und nicht chronologisch gemeint sind. Was erläutert werden soll, ist ein Ablaufmodell, das die Entscheidungsrichtung und die dieser folgenden Handlungsformen und Geltungsansprüche eines idealen Entscheidungsprozesses sichtbar macht. Es versteht sich, dass die einzelnen darin benannten Handlungsabschnitte im konkreten Entscheidungsfall nicht einmalig oder auch nur eingleisig zum Einsatz kommen. Auch hier handelt es sich um einen hermeneutischen Prozess miteinander verschränkter Handlungen, die im Anwendungsfall hin und her laufen, und auch hin und her laufen können müssen, damit letztlich eine vernünftige Entscheidung zustande kommen kann. Ein Ablaufmodell des idealen Entscheidungsprozesses kann aber deutlich machen, in welchem strukturellen Zu-
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sammenhang die einzelnen Handlungsabschnitte und Geltungsansprüche miteinander stehen. Dies nachzuvollziehen, bildet eine wichtige Voraussetzung für das Ziel, Entscheidungsnormen herzustellen, die vermutungsweise als vernünftig betrachtet werden können. Unter diesen Vorzeichen kann die Grundstruktur des Entscheidungsprozesses in Ebenen gegliedert werden. Zunächst sollen die Einzelabschnitte dieser Ebenen als Grundschema des Entscheidungsprozesses vorgestellt und erläutert werden (1.). Als Nächstes soll dann das Verhältnis zwischen den Ebenen untersucht werden (2.). Nach diesem Blick auf das Grundschema des Entscheidungsprozesses kann schliesslich der schwierigste Abschnitt gegen Ende des Entscheidungsprozesses untersucht werden, um die für eine integrative Entscheidungslehre kritischste Frage zu beantworten, wie der mögliche Konflikt zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen bewältigt werden soll (3.).
1. Der Entscheidungsprozess über drei Ebenen und drei Dimensionen In den verschiedenen herkömmlichen, vornehmlich ökonomisch orientierten Entscheidungstheorien finden sich einige Vorschläge, wie der Entscheidungsprozess sinnvollerweise zu strukturieren sei. Die verschiedenen, sich aber mehr oder weniger deckenden Handlungsabläufe umfassen dabei regelmässig Analyse-, Beurteilungs-, Entwurfs-, Auswahl- und Umsetzungsphasen. Betont wird zudem, dass die Entscheidungsschritte nicht als isoliert oder in einer festen Reihenfolge liegend zu betrachten seien.330 Die den üblichen Entscheidungstheorien zu entnehmenden „Phasen“ sind für die Entwicklung eines Entscheidungsverfahrens einigermassen brauchbar. Sie können daher als Ausgangspunkt für das sogleich darzustellende Modell eines integrativen Entscheidungsprozesses verstanden werden. Vorab muss dazu jedoch zweierlei angemerkt werden: Erstens sei angesichts der „Phasen“-Rhetorik der herkömmlichen Entscheidungstheorien nochmals klargestellt, dass es hier zunächst darum geht, die grundlegende Handlungsstruktur, welche die Herstellung einer vernünftigen Entscheidung verlangt, darzulegen. Ein chronologischer Handlungsablauf steht damit vorerst nicht zur Debatte. Ein solcher wird erst in Angriff zu nehmen sein, wenn die strukturellen Voraussetzungen offenliegen. Zweitens ist anzumerken, dass die in den herkömmlichen Entscheidungstheorien so gern genannten „Umsetzungsphasen“ hier ausser Betracht fallen. Die „Umsetzung“, verstanden als das Umsetzen von theoretisch erarbeiteten Entscheidungsnormen in die praktische Realität, gehört zwar zum Problemlösungsprozess. Das Umsetzen ist aber dem Entscheidungsprozess nachgelagert und setzt ihn voraus. Der Entscheidungsprozess ist freilich auf die Umsetzung ausgerichtet, insofern alle Theorie auf Praxis zielt. Z. B. bei Laux oder Gomez / Probst: Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 8 – 13; Gomez / Probst, Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens (31999), S. 26 – 30. Betonung v. a. in Laux, Entscheidungstheorie (62005), S. 8 f. / 12 f. 330
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
Nach diesen Vorbemerkungen lässt sich der Entscheidungsprozess folgendermassen über drei Ebenen und drei Dimensionen strukturieren: Die erste Ebene dient der „Klärung der Leitfragen“. Dem eigentlichen wissenschaftlichen Entscheidungsprozess vorgelagert ist das Vorverständnis, mit dem wir an die tatsächliche Situation herantreten. Das mehr oder weniger bewusste Ergebnis der persönlichen und beruflichen Erfahrung bildet ein Vorwissen, das die Grundlage des aktuellen Entscheidungsprozesses bildet. Auch in unreflektierter Form prägt dieses Vorwissen unsere Entscheidung über die Leitfragen, mit denen wir an das zu lösende Problem herantreten. Vorab gilt es daher, vorwissenschaftliche Prämissen und Meinungen der entscheidenden Personen zu reflektieren. Die Aufklärung dieser leitenden Fragestellungen ist Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Verständigung. Hier geht es ein erstes Mal um das Verhältnis „Frage – Frage“, wobei ebenfalls erstmals alle drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit zu beachten sind. Auf der zweiten Ebene, die der „prüfenden Beurteilung“ dient, wird das sich den Entscheidenden real aufdrängende Problem zuerst analysiert und beurteilt. Hier wird eine faktische Situation zum Problem gemacht. Ein Entscheidungsproblem stellt sich den Entscheidenden immer als reales Hindernis ihrer gelungenen Lebensführung oder als Verhinderung einer gerechten Welt, deren Teil die Entscheidenden sind, in den Weg. Auf der zweiten Ebene geht es darum, dies durch das Beibringen der entsprechenden faktischen und normativen Gründe möglichst exakt darzutun. Nach dem Durchlaufen dieser Ebene des Entscheidungsprozesses resultieren schliesslich Urteile darüber, in welcher Hinsicht das auch deskriptiv untersuchte Problem in normativer Hinsicht „problematisch“ ist. Da es mit dem Urteil über etwas Problematisches jedoch noch nicht sein Bewenden hat, verlagert sich der Entscheidungsprozess sodann auf die dritte Ebene, die der „gestaltenden Normierung“ gewidmet ist. Hier muss, ausgehend von den faktischen Bedingungen und der normativen Beurteilung der Problemlage auf der zweiten Ebene, die entsprechende Entscheidungsnorm ausgearbeitet werden, der zu folgen ist, damit das Entscheidungsproblem gelöst werden kann. Auch für diese Normierung muss sowohl deskriptiv als auch normativ vorgegangen werden. Die verschiedenen Handlungsalternativen, die dort die möglichen Entscheidungshypothesen konstituieren, müssen sowohl hinsichtlich ihrer Bedingungen und möglicher Folgen analysiert als auch normativ begründet werden, sodass nach dem Durchlaufen auch dieser Ebene schliesslich eine vernünftige Entscheidungsnorm resultiert. Mit den Hinweisen auf die teilweise deskriptive und teilweise normative Prägung des Entscheidungsprozesses ist bereits angedeutet worden, dass „quer“ zu diesen drei Ebenen die drei verschiedenen Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit liegen. Zusammen mit den zuvor beschriebenen Ebenen der Klärung der Leitfragen, der Beurteilung und der Normierung formieren sie die Hauptstrukturlinien des vernünftigen Entscheidungsprozesses. Die drei Handlungsebenen und drei Dimensionen liegen so übereinander, dass auf jeder Ebene jeweils jede der drei Dimensionen
VIII. Integrativer Entscheidungsprozess
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relevant wird. Jede Verkürzung des Modells – sei es in horizontaler oder in vertikaler Richtung – führt zu einer Verzerrung des Entscheidungsprozesses.331
Wahrheit
Wert
Gerechtigkeit
Klärung der Leitfragen
Wahrheitsfragen
Wertfragen
Gerechtigkeitsfragen
Beurteilung
Beschreibung
Bewertung
De-/Legitimation
Normierung
Zwischen den drei Ebenen – Klärung der Leitfragen, Problembeurteilung und Normierung der Entscheidung – läuft immer ein hermeneutischer Zirkel, welcher dafür sorgt, dass die hier gezeigte Struktur nicht nur intern, sondern auch gegenüber der Wahrnehmung des Problems in permanente Rückkoppelungsprozesse eingebettet wird. Das folgende Schema hat somit analytischen Wert und darf nicht zur Ansicht verleiten, es sei möglich, die Ebenen oder die Dimensionen voneinander zu isolieren. Z. B. ist es nicht möglich, die Wahrheitsfrage voraussetzungslos, insbesondere ohne normative Prämissen in Bezug auf das zu lösende Problem, zu beantworten.
Beschreibung
Zielsetzung & Zielnormierung
Ausgleichung
Abbildung 9: Integrativer Entscheidungsprozess
Aus der in diesem Schema hervorgehenden Kreuzung von Handlungsebenen und Vernunftdimensionen ergeben sich im systematischen Zusammenhang die folgenden Handlungsabschnitte, gegliedert nach den erläuterten drei Ebenen (1) der Klärung der Leitfragen, (2) der Beurteilung der Problemlage und (3) der Normierung der Entscheidung. (1) Die wissenschaftlichen Fragestellungen zu einem Problem werden meist durch vorwissenschaftliche Leitfragen bestimmt, welche sich aus dem Vorverständnis, also auf vorwissenschaftlichen Orientierungen der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers ergeben. Zur Klärung dieser Prämissen und Meinungen bedarf es 331 Das nachstehende Modell macht insbesondere deutlich, welcher Reduktionismus in einem Wissenschaftsverständnis läge, das sich auf die Wahrheitsfrage und auf die Ebene der Problembeurteilung beschränken würde. Ein rein deskriptives Vorgehen, welches das Vorverständnis und den Entscheidungscharakter aus der wissenschaftlichen Erkenntnis ausblendet, verkennt die Komplexität wissenschaftlichen Arbeitens.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
einer wechselseitigen Auseinandersetzung über die vertretenen Vorverständnisse und Leitfragen. Erst sie gestattet eine Verständigung unter den unterschiedlichen Rationalitäten der Beteiligten. Die Teilnehmenden des interrationalen Diskurses verstehen häufig nicht, worüber die anderen sprechen. Gefangen im eigenen spezialisierten Argumentationszusammenhang kann dafür sogar das Bewusstsein fehlen: Man diskutiert, obwohl die anderen eigentlich von etwas anderem reden. Analytisch betrachtet, besteht das Problem in einer solchen Situation darin, dass Antworten auf unterschiedliche Fragen gegeben werden. Bei der Klärung der Leitfragen wird es somit darum gehen, die unterschiedlichen Vorverständnisse und Fragestellungen, welche hinter einer bestimmten Entscheidungsproblematik stehen, herauszuarbeiten und in einen für alle verständlichen Zusammenhang zueinander zu bringen. Nach diesem Schritt wird es einfacher sein zu sagen, wie sich die unterschiedlichen Fragestellungen zueinander verhalten und ob und gegebenenfalls inwiefern sie zueinander in Konkurrenz stehen. Bei der Klärung der vorwissenschaftlichen Leitfragen wird es zudem bereits ein erstes Mal darum gehen, die meist impliziten Geltungsansprüche in den drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit zu analysieren. Vor allem die unausgesprochenen normativen Prämissen müssen aufgedeckt und expliziert werden, damit der materielle Diskurs auf den Ebenen zwei und drei (über die Beurteilung der Problemsituation und die daraus abzuleitende Handlungsnormierung) nicht verzerrt wird. Das diffuse Vorverständnis wird sich in der Regel nur beschränkt in spezifische Leitfragen der drei Vernunftdimensionen ausdifferenzieren lassen. Die vorwissenschaftlichen Leitfragen enthalten aber immer Annahmen sowohl über Wahrheiten wie über Werte und Gerechtigkeitsnormen. Sie wirken damit sowohl in deskriptiver wie evaluativer und legitimatorischer Hinsicht auf den materiellen wissenschaftlichen Diskurs ein. Beispielsweise wirkt die meist unausgesprochene anthropologische Annahme eines natürlichen Egoismus des Menschen auf die Theoriebildung in der Ökonomie ein. Einerseits richtet sie die Beobachtung und Deskription auf bestätigende Phänomene aus, anderseits stützt sie den methodischen Individualismus als Wertansatz und ist kausal für die Vernachlässigung der Gerechtigkeitsdimension bei der Legitimation der ökonomischen Handlungstheorie. Wer hingegen von einem ebenso begründbaren natürlichen Hang des Menschen zur Kooperation ausgeht332, gelangt zu gegensätzlichen Leitfragen.
Während das Ziel die Klärung der Leitfragen ist, besteht die Methode in einem gegenseitigen Übersetzen und Lernen von Fragen. Die Klärung der Leitfragen muss in einem Diskurs über das Verhältnis der zu klärenden Fragen gesucht werden. Methodisch geht es um einen reziproken didaktischen Prozess, in dem die Beteiligten, welche eine wissenschaftliche Frage vortragen, den anderen zuerst zu verstehen geben sollen, wie sie das zur Debatte stehende Entscheidungsproblem verstehen und was das in den Sprachen aller anderen bedeutet. Dafür bietet es sich an, das übliche Frage-Antwort-Schema umzukehren: Zunächst ist es angebracht, die verschiedenen 332
So Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2006).
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Lösungsvorschläge als Antworten auf bestimmte Fragen zu begreifen und die in ihnen implizierten Fragestellungen genau zu analysieren. Der Sachgehalt der Vorschläge interessiert in diesem Zusammenhang nur als Indiz für die Bestimmung der implizierten Fragestellungen. Diese, nicht die Antworten stehen nun zur Diskussion. Dadurch werden die Beteiligten vorerst von der Last befreit, die Richtigkeit ihrer bisherigen Antwort zu begründen (Fragen stehen allenfalls in zeitlicher Konkurrenz zueinander, können aber nicht richtig oder falsch sein). Zu beachten ist in diesem Prozess des gegenseitigen Verständlich-Machens, dass der Wettbewerbsgedanke, der dem Ringen ums bessere Argument eingeschrieben bleibt, dahinfällt. Bei der Aufgabe, den anderen Teilnehmenden des interrationalen Diskurses die eigene Interpretation des Entscheidungsproblems verständlich zu machen, geht es nicht darum, in einer egoistischen Weise zu gewinnen. Der „Gewinn“ stellt sich erst dann ein, wenn sich alle Beteiligten gegenseitig verstehen, d. h. über die Frage verständigt haben. Freilich bleibt auch die Aufgabe der Explikation der eigenen Frage und die Pflicht zum Respekt der Frage eines andern eine hohe Anforderung an sämtliche Beteiligten, die zumutbar sein muss. Gefordert ist die Bereitschaft, die eigene Ausrichtung infrage zu stellen. Das wird von vielen als Zumutung empfunden und kann erheblichen Widerstand wecken. Daher kann sich auch die „Frage – Frage“-Relation zu einer Streitfrage entwickeln, etwa wenn zwischen zwei Schulen über die richtige Fragestellung gestritten wird. Was methodisch als Übersetzung und Verständlich-Machung dargestellt werden kann, muss daher intersubjektiv als Anerkennungsprozess ausgestaltet und institutionell verfasst werden. Wenn Wissenschaftlichkeit die intersubjektive Verständlichkeit über die Rationalitätsgrenzen hinweg verlangt, muss der Wissenschaftsbetrieb die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die gegenseitige Spiegelung der Vorverständnisse unter den Beteiligten zumutbar und entsprechenden Fairnessregeln unterstellt ist.333 Deshalb darf der Verständigungsprozess nicht unilateral verlaufen. Diejenigen, die ihre implizite Fragestellung den anderen zu verstehen geben, müssen ihre Vermittlungsbemühungen so lange fortsetzen, bis beide, die Lehrenden und die Lernenden der begründeten Auffassung sind, dass der Vermittlungsprozess erfolgreich war. Dafür sind beide Seiten aufeinander angewiesen. Der Vermittlungspflicht der Lehrenden entspricht eine Ermittlungspflicht der Lernenden. Die Reziprozität dieses Lehr-Lern-Vorgangs ergibt sich also nicht nur daraus, dass sich die Teilnehmenden einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung stets gegenseitig als gleichwertig anerkennen müssen. Sie ergibt sich auch aus der Zielsetzung der Verständigung über die jeweiligen Leitfragen selbst. Im Gegensatz zu den Ebenen zwei und drei, auf denen über Antworten gestritten wird, geht es auf der ersten Ebene nicht darum, Recht zu haben. Vielmehr geht es um das gegenseitige Erkennen und Anerkennen der Leitfragen des Gegenübers. Es 333
Vgl. dazu die Verfassung des wissenschaftlichen Diskurses hinten in Ziff. X.2.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
geht um Respekt und Reflexion der Ausgangspunkte des wissenschaftlichen Prozesses. Die Leitfragen können nicht richtig oder falsch sein. Ihre Explikation kann höchstens relativierend wirken, wenn es um die Priorisierung von wissenschaftlichen Fragestellungen geht. Leitfragen beleuchten immer bestimmte Aspekte von Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit eines Gegenstandes der Wissenschaft. Diese können sich im materiellen Diskurs als mehr oder weniger entscheidungsrelevant erweisen. Die Methodik, mit welcher die Leitfragen geklärt werden, wiederholt sich auch auf den beiden Ebenen des materiellen Diskurses: Auch dort geht es immer wieder um den Rückgriff von den vorgeschlagenen Antworten auf die Fragen, welche dahinter stehen. Das „Frage – Frage“-Verhältnis steht immer dann zur Diskussion, wenn die Vermutung besteht, dass divergierende Antworten nicht in echter Konkurrenz stehen, sondern sich auf verschiedene Fragen beziehen. Sodann kann es jederzeit vorkommen, dass auf die Klärung der Vorverständnisse und Leitfragen zurückgegriffen werden muss, weil sich zeigt, dass die Verständigung darüber nicht tragfähig ist. Solche Rückgriffe gehören zur hermeneutischen Spirale des Verstehens. Erst nach der Klärung der vorwissenschaftlichen Leitfragen stehen die wissenschaftlichen Fragen fest, über die ein materieller Diskurs über die richtigen Antworten Sinn macht. Erst wenn die Verständlichkeit der zu beantwortenden Fragen hergestellt ist, lässt sich das zu lösende Problem angehen. Der materielle Diskurs beginnt also erst auf einer zweiten Diskursebene, welche den Diskurs über die Leitfragen voraussetzt. Er gliedert sich selbst wiederum in zwei Diskursebenen, welche einander strukturell nachgeordnet sind: Zuerst gilt es, (2) die Problemlage zu beurteilen, bevor (3) die für die Lösung des Problems angemessenen Handlungsnormen festgelegt werden können. (2) Unter der Annahme eines (mindestens vorläufigen Zwischen-)Entscheids über eine für alle einigermassen gleich verstandene normative Fragestellung geht es nun darum, das entsprechende Entscheidungsproblem interrational richtig zu bewältigen. Dieser materielle Diskurs beginnt mit der Prüfung der Problemlage (2) und führt zur gestaltenden Normierung der Entscheidung (3) Auf diesen Ebenen wird das Frage-Antwort-Schema, das bei der Klärung der Leitfragen zum Zweck der Verständlichkeit und Prioritätensetzung umgekehrt wurde, wieder in Position gebracht. Was hier vordergründig ansteht, ist die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen, sehr wahrscheinlich konkurrierenden Antworten auf eine konsentierte Frage. Während auf der ersten Ebene also das Verhältnis „Frage – Frage“ im Vordergrund stand, geht es nun v. a. um das Verhältnis „Antwort – Antwort“. Auch im materiellen Diskurs ist es wieder ratsam, sich die analytischen Hintergründe des Entscheidungsverfahrens, das es methodisch zu normieren gilt, zu vergegenwärtigen. Der interrationale Diskurs bewegt sich in einem Wechselverhältnis zwischen Faktizität und Normativität. Das zeigt sich schon ganz zu Beginn: Von bestimmten faktischen Verhältnissen affiziert, hat sich für die Beteiligten bereits in der Ausgangslage ein normatives Entscheidungsproblem gestellt, bei dem es zu ent-
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scheiden gilt, ob und gegebenenfalls auf welche Weise sie auf die faktischen Verhältnisse zurückwirken sollen. Die Richtigkeitsfrage verknüpft immer Wahrheits-, Wert- und Gerechtigkeitsfragen. Diese Verquickung zwischen Faktizität und Normativität muss sich auch über den gesamten Verlauf des interrationalen Diskurses hinweg methodisch niederschlagen. Insbesondere muss sich jedes Richtigkeitsargument stets auf wahre und mögliche faktische Verhältnisse beziehen können, und diesen soll wiederum mit überzeugenden normativen Entscheidungsgründen begegnet werden. Auch im interrationalen Diskurs gilt es, das Hin und Her zwischen Faktizität und Normativität ausgewogen zu einer in faktischer und normativer Hinsicht überzeugenden „Entscheidungsnorm“ zu verdichten. Die Entscheidungsnorm, die letztlich zu konstruieren ist, ist ein aus Normbereich und Normprogramm zusammengesetztes Gebilde. Analytisch lässt sich die Beurteilung der Problemlage in mehrere Schritte aufteilen: Es sind die drei Schritte (a) der Beschreibung, (b) der Bewertung und (c) der Gerechtigkeitsbeurteilung. (a) „Beschreibung“: Vorausgesetzt, die Vorverständnisse sind durch den Prozess auf der ersten Ebene einigermassen geklärt, besteht auf der zweiten Ebene, jener der materiellen Beurteilung der Problemlage, der erste Handlungsabschnitt in einer Beschreibung. Ziel der Beschreibung oder Deskription ist die exakte, mit dem Geltungsanspruch auf Wahrheit durchgeführte deskriptive Wahrheitsanalyse der zur Debatte stehenden wahrgenommenen oder vorgestellten Problemsituation (die entscheidende Person nimmt hier die Stellung einer „Beobachterin“ ein). Hier geht es darum, eine wahre Deutung der tatsächlichen Ereignisse und Handlungen vorzunehmen, d. h. deren wahre Ursache-Wirkung-Verhältnisse anhand von Fakten darzulegen. Die Beschreibung kann sich auf dieser Ebene einerseits auf bereits vorhandene Fakten beziehen; dann steht vornehmlich infrage, welche Ursachen konkret zu ihnen geführt haben und welche allgemeinen Kausalitätsverhältnisse hinter dieser konkreten Ursache-Wirkung-Beziehung stehen. Andererseits kann sich die Beschreibung auch auf noch nicht eingetretene Ereignisse beziehen, z. B. auf zukünftige Ereignisse, für welche eine Prognose erwünscht ist. In diesem Fall steht vornehmlich infrage, welche Wirkungen bereits vorhandene Fakten wahrscheinlich zeitigen werden. Nicht zur Beschreibung zählt die Frage der Verwertbarkeit von Dingen, Ereignissen, Handlungen und deren Zusammenhänge. Hierbei handelt es sich bereits um einen normativen Aspekt mit entsprechendem Geltungsanspruch, genauer auf Wert, indem gefragt wird, wozu das Beschriebene gut ist (Ver„wert“ung). Selbstverständlich lässt sich diese normative Frage nicht ohne wahrheitsbezogene Beschreibungen vornehmen. Die zu unterscheidende Teilfrage der Verwertbarkeit ist jedoch keine deskriptive, sondern eine normative. „Pragmatische“ Überlegungen und Fragen der Geeignetheit können daher zwar (wie allerdings alle normativen Fragen) als mit deskriptiven Fragestellungen verbunden betrachtet werden. Als solche sind sie jedoch als normativ zu qualifizieren. So melden sich auf der zweiten Ebene als Nächstes die Handlungsabschnitte der Bewertung und der Gerechtigkeitsbeurteilung an. Zusammen mit der Beschreibung
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
bilden sie den Handlungsabschnitt der Beurteilung. Ziel des Prozesses auf der zweiten Ebene ist die kritische, normative Stellungnahme zu wahrgenommenen oder vorgestellten Situationen (die entscheidende Person nimmt hier die Stellung einer Teilnehmerin ein). Der Differenzierung der normativen Geltungsansprüche nach einem Wert- und einem Gerechtigkeitsanspruch entsprechend, unterteilt sich die Beurteilung in die zwei Handlungsabschnitte der Bewertung sowie der Gerechtigkeitsbeurteilung. (b) „Bewertung“: In der Bewertung oder Evaluation werden die in der Beschreibung analysierten faktischen Gegebenheiten mit dem Geltungsanspruch auf Wert danach beurteilt, wie und in welcher Hinsicht sie für bestimmte Personen wertvoll sind. In dieser Bewertung werden die Gegebenheiten unter Rückgriff auf die verschiedenen konkurrierenden Werte, der Präferenzordnung der entsprechenden Bezugsperson, einer bestimmten Werthöhe zugeordnet. Das sprachliche Gesamtergebnis dieses Handlungsabschnitts bildet ein „Werturteil“. Da in jeder Problemsituation sowohl positive wie negative Kriterien zur Geltung kommen, muss das Werturteil sowohl Werte und Güter wie ihr Gegenteil (Unwerte und Ungüter) beurteilen. (c) „Gerechtigkeitsbeurteilung“: Die Beurteilung der Gerechtigkeitsfrage kann zu einer „Rechtfertigung“ oder „Verurteilung“ („Legitimation“ oder „Delegitimation“) führen. Mit ihr wird die Problemsituation auf ihren Gerechtigkeitsgehalt hin beurteilt. In diesem Handlungsabschnitt geht es demnach darum, ein Gerechtigkeitsurteil zu bilden und zu begründen. Hierfür sind die möglicherweise implizierten Handlungsdimensionen des Entscheidungsproblems danach zu beurteilen, ob die Zumutungen, die den beteiligten Personen dadurch widerfahren, in einem fairen, ausgeglichenen Verhältnis stehen. Diese Ausgleichung von Zumutungen macht die Gerechtigkeitsbeurteilung zu einem Zumutungs-Vergleich. Wie bei der Erläuterung des Gerechtigkeitsanspruchs dargelegt, bildet das Kriterium hier die allenfalls durch Gerechtigkeitsnormen formulierte Frage, ob die gegenseitigen Zielbeeinträchtigungen auf zumutbare Weise auf die Betroffenen verteilt sind. Je nachdem, ob und gegebenenfalls wie stark dieses Kriterium verletzt ist, besteht das resultierende „Gerechtigkeitsurteil“ in einer Rechtfertigung oder in einer Aussage darüber, wie sehr die in der Problemsituation implizierten Handlungsdimensionen unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zu verurteilen sind. Damit stellt der Entscheidungsprozess auf der zweiten Ebene ein Urteil über die Faktenlage her. Er macht diese erst eigentlich zu einem Problem, einer normativen Beurteilung von Tatsachen im Hinblick auf ihren Wert und ihren Gerechtigkeitsgehalt. Eine Handlungsanweisung ist damit noch nicht geschaffen. Dies ist die Aufgabe auf der dritten Ebene. (3) Damit eine vernünftige Entscheidung getroffen werden kann, muss auf die dritte Ebene der Normierung, gewechselt werden. Hier geht es um die Diskussion möglicher Handlungsalternativen und das Aufstellen von Normen richtigen Handelns. Auch dort gliedern sich die Handlungsabschnitte wieder nach den schon auf
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der ersten und zweiten Ebene relevanten Vernunftdimensionen. Im Unterschied zur Beurteilungsebene beziehen sich die Diskussionen in den Abschnitten der Normierungsebene im Wahrheitsbereich nicht auf Fakten, sondern vornehmlich auf Hypothetisches, also auf mögliche künftige Handlungen. Während auf der zweiten Ebene alle das Entscheidungsproblem konstituierenden Elemente, auch Zustände und Ereignisse, Objekt der Beschreibung und Beurteilung waren, stehen jetzt die für die Lösung des Problems denkbaren Handlungen im Zentrum. M.a.W. besteht die Aufgabe auf dieser Ebene darin, Handlungsnormen zu generieren, anhand derer das konkrete Entscheidungsproblem bewältigt werden soll. Eine „Handlungsnorm“ oder kurz „Norm“ ist eine Vorschrift, unter bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise zu handeln.334 Unter den konkreten Bedingungen der infrage stehenden Entscheidungssituation soll die zu generierende Entscheidungsnorm genau die Handlungsanweisung angeben, nach der im konkreten Entscheidungsproblem vernünftigerweise vorzugehen ist. Auch auf der Normierungsebene ist daher nach den Dimensionen Wert und Gerechtigkeit zu unterscheiden. Innerhalb der Wertdimension ist zuerst (a) die Zielsetzung zu bestimmen, bevor daraus (b) eine Zielnorm entwickelt werden kann. Dieser Zielnorm gegenüber fordert die Gerechtigkeitsdimension (c) die faire Ausgleichung unter den zielkonformen Handlungsmöglichkeiten. (a) „Zielsetzung“: Unter dem Aspekt des Werts ist auf der Normierungsebene zwischen Zielsetzung und Zielnorm zu unterscheiden. Bei der Zielsetzung oder Zielbestimmung besteht die Aufgabe darin, eine hypothetische Situation zu konstruieren, welche die ideal mögliche Wert- und Güterordnung der für die Handlung massgeblichen Bezugsperson widerspiegelt. Die Zielsetzung zielt demnach darauf ab, ausgehend und in Antithese zur Problemsituation eine personenbezogene Idealsituation zu explizieren, welcher die Präferenzordnung dieser Person entspricht. Diese Idealsituation kann als das anzustrebende Ziel bezeichnet werden. Das aus der Zielbestimmung resultierende Ziel ist diejenige Situation, welche die Wertordnung der Bezugsperson in Bezug auf das zu lösende Problem am besten verwirklicht. (b) „Schaffung einer Zielnorm“: Bei der Zielsetzung handelt es sich um einen eigenständigen Handlungsabschnitt auf der Normierungsebene, der mit dem Geltungsanspruch auf Wert antritt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass mit der Vornahme einer Zielsetzung noch nicht die verfolgte Handlungsvorschrift vorliegt. Dafür bedarf es des Weiteren, ebenso der Wertdimension zuzuordnenden Handlungsabschnitts der Schaffung einer Zielnorm. Die Zielnorm regelt dabei nicht das Ziel (dieses wird im Prozess der Zielsetzung hergestellt), sondern eine Handlung oder einen Handlungszusammenhang, der auf die Verwirklichung des Ziels angelegt ist. In diesem Handlungsabschnitt sind – im Wechselspiel mit allen Werten und anderen Zielen der Bezugsperson – diejenigen hypothetischen Handlungen zu konstruieren, die zu befolgen sind, damit die als Ziel vorgestellte Idealsituation Wirklichkeit werden kann. Im Ergebnis resultiert hieraus eine „Zielnorm“. 334
Vgl. zur Normkonstruktion bereits die Ausführungen insb. in Ziff. III.3.b) (1) und (2).
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Zu diesem nochmals zweigestuften Prozess der Herstellung einer Zielnorm auf der Normierungsebene sei noch Folgendes hinzugefügt. Es versteht sich, dass auch auf der dritten Ebene der Normierung sämtliche normativen Handlungsabschnitte mit dem deskriptiven Handlungsabschnitt – der Wahrheitsfrage – verbunden bleiben müssen. In Bezug auf die soeben erläuterte Bestimmung eines Ziels und einer Zielnorm heisst das, dass Normierung und Beschreibung wieder in einem hermeneutischen Wechsel mit einander vorgenommen werden müssen. Die besondere Art der Beschreibung auf der Normierungsebene liegt darin, dass sie sich im Gegensatz zur Beschreibung auf der Beurteilungsebene in stärkerem Masse auf Hypothetisches, insbesondere auf künftige Handlungsmöglichkeiten, bezieht. Die beiden Handlungsabschnitte der Zielsetzung und der Zielnormierung sind besonders eng miteinander verknüpft. Auch wenn es sich bei beiden um unterscheidbare Handlungen mit eigenen Binnenstrukturen handelt, bilden Handlungsziel und Zielhandlung eine unauflösliche Schicksalsgemeinschaft: Ein Ziel, zu dem keine überzeugende Zielnorm entwickelt werden kann, ist ebenso fragwürdig, wie eine Zielnorm, die am eigentlichen Ziel vorbeischiesst.335 (c) „Ausgleichung“: Gegenüber den soeben erläuterten ersten beiden Handlungsabschnitten der dritten Ebene, die mit Wertanspruch auftreten, unterscheidet sich der dritte Handlungsabschnitt, der dort mit Gerechtigkeitsanspruch auftritt: die Ausgleichung. Sie ist Gegenstand der Gerechtigkeitsnorm. Anders als die Zielnormierung, die zusätzlich auf eine (strukturell) vorgängige Zielsetzung angewiesen bleibt, kommt die Ausgleichung ohne einen solchen Zwischenschritt aus. Das liegt daran, dass die Gerechtigkeitsfrage sozusagen von Haus aus auf Handlungen ausgerichtet ist. Das Idealbild der fairen Ausgleichung, bezieht sich unter dem Gerechtigkeitsanspruch immer unmittelbar auf Handlungen (während eine Situation nicht immer als Handlungssituation zu deuten ist). Denn gerechte „Situationen“ zeichnen sich immer dadurch aus, dass die intersubjektive Beziehungen, und d. h. Interaktionen, so gestaltet sind, dass die dadurch entstehenden gegenseitigen Zumutungen ausgeglichen sind. Die Ausgleichung vergleicht nicht Situationen (oder deren Bewertung); sie betrifft bereits die Handlungsweisen, die bestimmte Situationen betreffen (d. h. den Umgang mit den Bewertungen). Sie ist nicht wert- sondern handlungsbezogen. Die Ausgleichung stellt auf der Normierungsebene daher den einzigen Handlungsabschnitt dar. Bei ihm besteht die Aufgabe darin, die gegebenenfalls zuvor auf der Beurteilungsebene festgestellten Legitimitätsdefizite konstruktiv so in ein Gleichgewicht zu bringen, dass die Zielbeeinträchtigungen, welche die verschiedenen von einem Gerechtigkeitsproblem Betroffenen hinnehmen müssen, fair und ausgeglichen verteilt sind. Das Ergebnis dieses Vorgangs wird schliesslich in einer konkreten „Gerechtigkeitsnorm“ formuliert. Auch zur Ausgleichung ist zudem zu sagen, dass sie wieder in einem hermeneutischen Wechselprozess mit der Beschreibung steht. Gerechtigkeitsvorschriften
335
Zur Frage der Zweckrationalität / Effizienz bereits vorn, Ziff. VII.4.
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müssen auf der Grundlage einer sorgfältigen deskriptiven Wahrheitsanalyse der faktischen Grundlagen und Möglichkeiten bestimmt werden. Ebenso gilt für die Gerechtigkeitsnormierung bezüglich des Problems mehrerer Handlungsalternativen sinngemäss das, was schon für die Wert- oder Zielnormierung gesagt worden ist. Idealerweise zielt auch die Gerechtigkeitsnormierung auf eine einzige Handlungsalternative ab. Soweit im konkreten Fall begründbar, genügt jedoch eine vertretbare Entscheidung. Zusammenfassend ergibt sich für den Entscheidungsprozess somit folgendes Grundschema: Im Diskurs zur Klärung der Leitfragen werden die Prämissen und vorwissenschaftlichen Meinungen der beteiligten Entscheider in ihren Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit reflektiert und die Fragestellungen, die sich daraus ergeben, priorisiert, damit der anschliessende materielle Diskurs auf einer hinreichenden Verständigungsbasis stattfinden kann. Die Beurteilung der Problemlage beginnt mit einer Deskription der Gegebenheiten, welche das Entscheidungsproblem ausmachen. Darauf folgt eine Bewertung und eine Gerechtigkeitsbeurteilung, in denen einerseits Wert- und andererseits Gerechtigkeitsurteile gefällt werden. Das Problem wird so als Differenz zwischen Soll und Ist ausgewiesen. Gestützt auf diese Beurteilung lässt sich eine bestimmte Handlung normieren. Je nachdem, wie die Urteile auf der Beurteilungsebene ausfallen, werden hier auf der Wert- oder auf der Gerechtigkeitsseite die entsprechenden Handlungen relevant. Auf der Wertseite geht der Weg über die Zielsetzung zur Schaffung einer Zielnorm. Auf der Gerechtigkeitsseite führt eine Ausgleichung der als ungerecht beurteilten interpersonellen Beziehungen zur konkreten Gerechtigkeitsnorm. Dieses Grundschema bildet den Kern eines vernünftigen Entscheidungsprozesses. Nachfolgend soll dieses Grundschema an zwei besonders „entscheidenden“ Stellen noch weiter differenziert und vervollständigt sowie um die Frage des Umgangs mit bereits institutionalisierten Normen erweitert werden.
2. Der Übergang von der Beurteilung zur Normierung Im vorangegangenen Abschnitt wurde der Übergang von der zweiten Ebene der Beurteilung zur dritten Ebene der Normierung bereits angesprochen. Dieser Übergang verwirklicht den eigentlichen Sinn jeder Entscheidung: den Schritt vom Befund einer Situation zur Handlungsregel. Er macht deutlich, dass zwischen Beurteilung und Handlung ein methodischer Zwischenschritt erforderlich ist, der die Handlung nach Massgabe des Urteils im Lichte der beiden Ideale, des Guten und des Gerechten, normiert. Diese These leuchtet ein, wenn man bereits das Entscheidungsproblem als ein Hindernis der gelungenen Lebensführung oder als Verhinderung einer gerechten Welt, an der man teilnimmt, versteht. Dass dem so ist, sieht man dem Entscheidungsproblem freilich nicht an. Erst durch die normative Beurteilung unter Wert-
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und Gerechtigkeitsgesichtspunkten wird begründbar, dass es diese beiden Aspekte, präziser: Vernunftdimensionen sind, die ein Problem überhaupt als Problem erscheinen lassen. Auch wenn nur halb reflektiert oder verschwommen erkannt, sind es diese beiden Vernunftdimensionen Wert und Gerechtigkeit, die den Entscheidungsprozess anleiten. Die Kriterien, die in der Beurteilung einer Faktenlage herangezogen werden – hier Werte und letztlich die Vorstellung eines gelungenen Lebens als solche, dort Gerechtigkeitsnormen und letztlich die Vorstellung gerechter interpersoneller Beziehungen als solche – haben nämlich eine selektive Funktion. Die Selektion findet immer nach Massgabe von Idealen statt, an denen eine Situation oder Handlung gemessen wird. So werden in jeder Beurteilung immer potenzielle ideale Situationen oder ideale Handlungen aktualisiert. M.a.W. nehmen wir in jeder Beurteilung bereits einen hermeneutischen Vorgriff auf die dahinter stehenden Ziele oder gerechten Handlungen vor. Diese Ideale ziehen den Entscheidungsprozess auf die dritte Ebene der Normierung weiter. Sich den Übergang zwischen den beiden Ebenen so vorzustellen, dass zunächst einmal – quasi aus dem Nichts – normative Urteile zu treffen wären, dann – quasi ebenso aus dem Nichts (oder mithilfe trickreicher „Kreativitätstechniken“) – mögliche Handlungsalternativen vorgeschlagen würden, die dann wieder einer normativen Beurteilung unterzogen werden, ist daher verfehlt. Aufgrund der hermeneutischen Verquickung, in der wir uns im Entscheidungsprozess befinden, sind wir immer schon zur Entscheidung getrieben. Die Ideale des Guten und des Gerechten fungieren als Kriterien, weil sie „Vor-Bilder“ darstellen, die nach Verwirklichung verlangen. Aus diesem Grund müssen wir den Übergang zur Normierungsebene nicht suchen. Wir haben ihn schon längst überschritten. Was im vorgestellten Entscheidungsprozess als „Normierung“ erläutert wurde, ist also genau betrachtet der Versuch einer rationalen Explikation impliziter Idealvorstellungen, die uns in der Beurteilung unbefriedigender oder illegitimer Situationen als Gegenbilder bereits anleiten. Auf der Seite des Werts treiben sie uns durch „Aufgaben“, auf der Seite der Gerechtigkeit als „Pflichten“ an. Aufgaben führen zu Zielnormen, Pflichten zu Gerechtigkeitsnormen. Ihr Verhältnis richtig zu gestalten, ist die Kernaufgabe jeder Entscheidung. Deshalb ist dieses Verhältnis nachfolgend näher zu analysieren. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei nochmals betont, dass hier von einer „rationalen Explikation“ die Rede ist. Gemeint ist nicht, dass irgendwelchen schon „vorgegebenen“ Idealen nachzueifern sei. Die Aufgaben und Pflichten, die sich aus den zu konstruierenden Entscheidungsnormen ergeben sollen, sollen vielmehr an jeder Stelle des Entscheidungsprozesses durch ein rationales Verfahren irritiert und neu konzipiert werden, bis sie als vernünftig gelten dürfen.
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3. Das Verhältnis zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormierung Das Gute und das Gerechte, als letztlicher Sinn der Entscheidung verstanden, drängen also auf die Verwirklichung von Ziel- oder von Gerechtigkeitsnormen. Je nachdem, welche normative Vernunftdimension das Entscheidungsproblem vordringlich betrifft, wird das Gute oder das Gerechte primär durch den Entscheidungsprozess führen. Betrifft das Problem vornehmlich die gelungene Lebensführung, wird seine Lösung in einer Aufgabe bestehen. Sofern das Problem vornehmlich in ungerechten interpersonellen Beziehungen besteht, wird seine Lösung in der Achtung der verletzten Pflichten liegen. Natürlich können die Beeinträchtigungen des Werts und der Gerechtigkeit auch mehr oder weniger gleich stark sein, sodass Zielund Gerechtigkeitsvorstellungen den Entscheidungsprozess gleichermassen in Gang halten. Von massgeblicher Bedeutung für eine vernünftige, integrative Entscheidungstheorie ist, dass in jeder Entscheidung beide normativen Vernunftdimensionen zum Zug kommen. Das hat allerdings die unbequeme Konsequenz, dass sich die beiden Vernunftdimensionen im Entscheidungsprozess immer auch in die Quere kommen können. Der Konflikt zwischen Wert und Gerechtigkeit verlangt daher, dass das Grundschema des Entscheidungsprozesses in Bezug auf die Herstellung von Zielnormen einerseits und Gerechtigkeitsnormen andererseits differenziert werden muss. Es handelt sich hierbei um die kritischste und wohl umstrittenste Stelle des gesamten Entscheidungsprozesses. Um diese Problematik deutlich genug hervorzuheben, empfiehlt es sich vorab, den potenziell konkurrierenden Handlungsbezug von Gerechtigkeitsnormen einerseits und Zielnormen andererseits in noch etwas eingehenderer Gegenüberstellung zu untersuchen (a)). Daraufhin kann ausgeführt werden, auf welche Weise die Konkurrenz zwischen den beiden Normarten zu bewältigen ist (b)). a) Zur Konkurrenz von Ziel- und Gerechtigkeitsnormen Bei der Wertfrage und bei der Gerechtigkeitsfrage handelt es sich, wie bereits in der Erläuterung der Vernunftdimensionen deutlich gemacht,336 um verschiedene Fragestellungen, die jeweils für sich und auch nebeneinander beantwortet werden können, ohne dass die Beantwortung der einen der Beantwortung der anderen widerspricht. Ob etwas für eine bestimmte Person von Wert ist und wie wertvoll etwas für eine andere Person ist, sind andere Fragen als diejenige, wie die Wertvorstellungen der beiden (oder weiterer betroffener) Personen im Konfliktfall gegenseitig ausgeglichen werden sollen. Obwohl die beiden normativen Fragestellungen als solche zu einander nicht in Konkurrenz treten können, so können es doch ihre Antworten. Die Wertfrage und die Gerechtigkeitsfrage können in derselben Entscheidung gleichermassen handlungsrelevant werden und dabei unterschiedliche Antworten verlangen. 336
Ziff. VII.3.b); vgl. auch Ziff. III.3.c).
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Die Handlungsrelevanz tritt bei der Gerechtigkeitsfrage besonders deutlich hervor. Denn ihr Gegenstand sind letztlich immer Handlungen. Die Aussage, etwas sei moralisch berechtigt oder geboten, äussert sich immer dazu, ob gewisse Handlungen verboten, erlaubt oder geboten sind. Das ist der Inhalt der Rechte und Pflichten, die durch Gerechtigkeitsnormen auferlegt werden. Bei der Wertfrage ist das etwas anders. Denn zunächst können sich Wertaussagen zwar auf Handlungen beziehen, sie müssen es aber nicht. Als gut oder schlecht können neben Handlungen auch das Wetter oder andere nicht-menschengemachte oder subjektoriginäre Zustände oder Ereignisse beurteilt werden. Wichtiger ist noch, dass Wertaussagen auch nicht in demselben Masse unmittelbaren handlungsnormierenden Charakter haben wie Gerechtigkeitsnormen, die typischerweise mit einem „In dieser und jener Situation soll man …“ beginnen. Wertaussagen sind zunächst nach dem Muster „Dieses und jenes ist für eine bestimmte Person so und so wertvoll“ strukturiert. Gleichwohl verbindet sich der Wertanspruch auf ganz eigentümliche Weise – nicht weniger stark wie der Gerechtigkeitsanspruch – mit der Handlungsdimension. Die Einschätzung, wie wertvoll etwas für jemanden ist, lässt die betreffende Person nämlich nicht unberührt. Wie im Grundschema des Entscheidungsprozesses dargelegt, motiviert sie sie mittelbar zu einer entsprechenden Handlung. „Entsprechend“ bezieht sich dabei auf die durch die Bewertung begründete Wertekonstellation. Die mindestens implizit gebildeten Idealvorstellungen des Guten, an denen der jeweilige Bewertungsgegenstand gemessen wird, werden sozusagen im Hintergrund von personenbezogenen Zielnormen begleitet. Sie haben den Charakter von Handlungsplänen und wurden von Kant als hypothetische Imperative bezeichnet.337 Der Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen, d. h. zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen, den Kant mit Blick auf die Begründung des kategorischen Imperativs entwickelt, birgt allerdings auch Missverständnisse, denen es vorzubeugen gilt: Zunächst einmal gilt es vorweg den wichtigen Unterschied in der personellen Bezugnahme zu verstehen. Während sich Zielnormen stets auf ein Subjekt (und sei es ein Kollektivsubjekt bzw. dessen „Organe“) beziehen, richten sich Gerechtigkeitsnormen immer auf eine Mehrzahl von Personen, die hinsichtlich ihrer gegenseitigen Interaktionen in bestimmter Weise handeln sollen. Mit diesem ersten Unterschied verbindet sich sodann die Art des Verhältnisses der Vorschriftstypen zum Willen der betreffenden Subjekte. Kant geht von einer privilegierten Art der „Nötigung des Willens“ aus und versteht Gerechtigkeitsnormen in diesem privilegierten Sinn als „kategorisch“ nötigend oder verpflichtend, Zielnormen dagegen als nur bedingt, als „hypothetisch“ nötigend oder verpflichtend. Dies soll natürlich am zutreffenden Unterschied zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen anknüpfen, dass Zielnormen stets („hypothetisch“) auf ein Ziel ausgerichtet sind, der Zweck von Gerechtigkeitsnormen dagegen sozusagen („kategorisch“) in 337
Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968), insb. S. 43 – 49.
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diesen selbst liegt. Die Terminologie könnte aber auch dazu verleiten, Zielnormen als Normen zweiter Klasse erscheinen zu lassen, die nicht in gleichem Masse (nur „hypothetisch“) zu befolgen seien wie („kategorische“) Gerechtigkeitsnormen. Damit wäre jedoch eine Vorentscheidung getroffen, die der Sache nicht gerecht wird: diejenige nämlich, dass auch die nötigende Qualität von Zielnormen „eigentlich“ am Vorbild von verpflichtenden Gerechtigkeitsnormen zu messen wäre. Das ist insofern fragwürdig, als Zielnormen nun einmal die Antwort auf eine andere Frage geben als Gerechtigkeitsnormen („Wie führt eine bestimmte Person eine gelungene Existenz?“ versus „Wie verhält man sich in interpersonellen Beziehungen gerecht?“). Es gilt also klarzustellen, dass es sich bei der „Willensnötigung“ durch Zielnormen nicht um eine mindere Art, sondern um eine anderer, eigener Art handelt. Zielnormen sind in diesem Sinne von vornherein also ebenso wenig „hypothetisch“, d. h. durch etwas Höheres bedingt und damit in ihrer Geltung davon abhängig, wie die „kategorischen“ Gerechtigkeitsnormen. Sorgfältig erwogene Ziele legen die entsprechenden Zielnormen ebenso dringend nahe, wie es die direkten Handlungsgebote mit Gerechtigkeitsanspruch tun. Dies gilt freilich nicht vom Blickwinkel der Gerechtigkeit aus (aus dem Kant die Sache betrachtet); allerdings ist die Gerechtigkeit die falsche Dimension zur Beurteilung von Zielnormen. Diese sollen zunächst nur gut sein, nicht auch noch gerecht. In Bezug auf das (für das betreffende Subjekt) Gute „nötigen“ Zielnormen gleichermassen stark wie Gerechtigkeitsnormen. Es ist gleich schlimm, sein Leben zu verfehlen wie ungerecht zu handeln. Diese Aussage gilt freilich nur bei je isolierter Betrachtung der Dimensionen Wert und Gerechtigkeit. Denn Normen lassen sich sowohl als Ziel- wie als Gerechtigkeitsnormen interpretieren. Sie haben immer sowohl einen Wert- wie einen Gerechtigkeitsgehalt. Die beiden Vernunftdimensionen des Guten und des Gerechten berühren sich nämlich an einem bestimmten Punkt des Entscheidungsprozesses trotz ihrer unterschiedlichen Fragestellung so, dass sie in ein Konkurrenzverhältnis zueinander treten können. Auch wenn der Handlungsbezug des Wertanspruchs ein indirekter bleibt und die Zielnormen im Gegensatz zum Sollen der Gerechtigkeitsnormen dem eigentümlichen Konjunktiv eines „Sollte“ verhaftet bleiben, so treffen sich Ziel- und Gerechtigkeitsnormen als Vorschriften oder eben Normen, die sie beide sind, im Entscheidungsprozess auf der Ebene der Normierung. Auch wenn Ziel- und Gerechtigkeitsnormen im Rahmen einer je anderen Fragestellung gebildet werden und mit einem je anderen Geltungsanspruch auftreten, so werden dadurch gleichwohl jeweils bestimmte Handlungen projiziert, die nach Durchlaufen des Grundschemas des Entscheidungsprozesses zu einander in Widerspruch stehen können. M.a.W.: Das Gute und das Gerechte können auf der Ebene der Normen konfligieren. Das gilt jedenfalls aus der Sicht des praktischen Entscheidungsprozesses, auch wenn idealerweise erst das gerechte Gute wirklich gut ist, und von dort her gesehen,
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das Gerechte nicht im Widerspruch zum Guten stehen kann. Die Inhalte der Ansprüche aufs Gute und Gerechte können sich in einer Entscheidungssituation widersprechen. Was für eine bestimmte Person als eine zielführende Handlung erachtet wird, kann aus moralischen Gründen als unzulässig betrachtet werden; und was moralisch geboten zu sein scheint, kann für eine bestimmte Person zu einem wertlosen, vielleicht sogar unwerten Zustand führen, zu einer Situation, die ihrer gelungenen Existenz abträglich wäre. Nur in einem sehr idealen Sinn können das Gute und das Gerechte zusammenfallen, nämlich dann, wenn für eine moralische Person erst das gerechte Gute zum höchsten Gut wird. Dies ist die Leitidee, welche John Rawls verfolgt, wenn er die Utilitaristen davon zu überzeugen sucht, dass die Gerechtigkeit der höhere Massstab sei: Danach sei die Gerechtigkeit das höchste Gut – allerdings lässt sich diese Synthese auch so lesen, dass Gerechtigkeit ein qualifizierender Aspekt von Gütern sei und daher einer Wertethik eingeordnet werden könne. Deshalb kann das Zusammenfallen des Guten und des Gerechten höchstens das Angebot eines idealen Fluchtpunkts bilden. Dieser darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Vernunftdimensionen selbständig und nicht automatisch harmonisch sind.
b) Zur Bewältigung des Konflikts zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen Wie mit solchen Konflikten umzugehen ist, ergibt sich, so könnte man vielleicht meinen, bereits aus dem allgemeinen Verhältnis zwischen den Vernunftdimensionen. Bei der allgemeinen Erläuterung der Vernunftdimensionen und ihrer gegenseitigen Verknüpfung wurde gesagt, dass das Gerechte die gegeneinander abgewogenen und ausgeglichenen beteiligten Positionen des Guten bezeichnet. Hieraus könnte man versucht sein, den Schluss zu ziehen, dass das Gerechte das Gute in gewisser Weise konsumiert, weil die verschiedenen beteiligten Positionen des Guten durch die Perspektive des Gerechten gewissermassen verarbeitet werden. Dies wäre aber ein Fehlschluss. Es darf nicht übersehen werden, dass keine der in der Diskussion der Vernunftdimensionen genannten „Stufenfolgen“ eine Hierarchie konstituiert, sondern jeweils immer nur einen strukturellen Zusammenhang bildet, der im Effekt lediglich die entsprechende Vernunftdimension erläutert. Dabei konnte gezeigt werden, dass alle Vernunftdimensionen stets von allen anderen interdependent mitkonstituiert werden. Die auf der Aussagenebene anzusiedelnden Zusammenhänge des Gerechten mit dem Guten (und dem Wahren) vermögen nicht zu zeigen, dass das Gute dadurch in dem Sinn „konsumiert“ würde, dass es als solches kein eigenes Recht mehr hätte und nur noch im Gerechten Platz hätte. Insofern der Wert- und der Gerechtigkeitsanspruch unterschiedliche Fragen thematisieren, können sie nicht, weder von der einen noch von der anderen Seite her, durcheinander ersetzt werden. Eine im Vergleich zu einer Gerechtigkeitsnorm möglicherweise anderslautende (unter dem Wertanspruch vorderhand aber gut begründete) Zielnorm verliert durch
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ihre inhaltliche Abweichung von einer (unter dem Gerechtigkeitsanspruch vorderhand ebenso gut begründeten) Gerechtigkeitsnorm also nicht ohne Weiteres ihre Gültigkeit. A priori ist das Gerechte nicht „entscheidender“ als das Gute – und umgekehrt. Wie sind solche Konflikte zwischen dem Guten und dem Gerechten dann aber zu lösen?338 Auch unter diesen Vorzeichen lässt sich aus dem Bisherigen etwas ziehen. Das Problem, das sich zwischen dem Guten und dem Gerechten im Konfliktfall stellt, entspricht strukturell nämlich wieder genau dem Problem der Gerechtigkeit. Der Konflikt zwischen dem Guten und dem Gerechten wiederholt die Frage, die sich bereits innerhalb des Gerechtigkeitsanspruchs in Bezug auf die konfligierenden Wertpositionen verschiedener Personen stellt. Auch hier stehen sich prinzipiell Gleichberechtige mit einander konkurrierenden Ansprüchen gegenüber. Handelt es sich bei den „Gleichberechtigten“ dort um (gleich würdige) Personen, so handelt es sich hier um (gleich relevante) Vernunftdimensionen: Der Konflikt unter Normen ist analog einem Konflikt unter Menschen zu behandeln. Wie unter Subjekten ist auch zwischen den (immer von Subjekten vertretenen) Normvorschlägen ein Ausgleich zu suchen, der allen in sich legitimen Ansprüchen gerecht wird. Die Aufgabe, die sich bei einem Konflikt zwischen dem Guten und dem Gerechten mithin stellt, besteht darin, das Gute und das Gerechte je zu seinem Recht kommen zu lassen. Der Grund dafür, dass zwischen den Vernunftdimensionen nicht eine Zielhierarchie, sondern ein Verhältnis der gleichberechtigen Ausgleichung herzustellen ist, liegt nicht etwa in einer Überordnung des Gerechten über das Gute, sondern im Nicht-Wissen über das zu suchende Ergebnis: Weil wir nicht wissen, welcher Vernunftdimension im Konflikt welches Gewicht zuzumessen ist, müssen wir darüber einen Diskurs führen, in welchem alle Gründe vorerst gleichermassen zuzulassen sind. Jede der beiden Normen beansprucht, den Vorrang zu verdienen und muss dies dartun. Weil es dabei nicht um die Zielhierarchie innerhalb einer einzigen Dimension geht, sondern um das Verhältnis zweier Dimensionen zueinander, hat das Entscheidungsproblem die Struktur einer Gerechtigkeitsfrage: Jede Dimension wird verletzt, wenn die andere ohne hinreichende Begründung den Vorrang zugesprochen erhält. Gerade weil es über den konfligierenden Dimensionen keinen Richter gibt, der über eine Meta-Ordnung verfügt, kann kein Regress auf eine übergeordnete Zielnorm gefunden werden. Es bleibt nur die horizontale (transversale339) 338 Vgl. zum hier verfolgten Ansatz die in ähnliche Richtung steuernden (allgemeinen) Ausführungen in Joas, Die Entstehung der Werte (1997), S. 252 – 293. Joas spricht mit Charles Taylor, John Dewey und George H. Mead in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem „Guten“ und dem „Rechten“ von einem „Reflexionsgleichgewicht“ (S. 264 / 270 / 273 f.). Wie dieses pragmatistisch ansetzende Reflexionsgleichgewicht statt „als blosser Mittelweg zwischen Extremen oder als schaler Kompromiss“ (S. 264 f.) in der konkreten Entscheidungssituation zu operationalisieren sei, bleibt allerdings noch sehr offen. Vgl. auch die weiteren Hinweise ebd., S. 291 f., Fn. 80. 339 Vgl. Welsch, Vernunft und Übergang (1996), insb. S. 152 – 162; insgesamt ders., Vernunft (1995).
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Vergleichung unter den Geltung beanspruchenden Normen und damit der faire Ausgleich unter ihren Handlungsanweisungen im Entscheidungsfall. Die Entscheidung im Konflikt unter Ziel- und Gerechtigkeitsnormen hat die Struktur der Entscheidung in Gerechtigkeitsfragen. Um den Unterschied zur „normalen“ Gerechtigkeitsfrage zu verdeutlichen: Umstritten ist hier nicht einfach, ob ein Ziel eine Gerechtigkeitsnorm verletze, sondern vielmehr, ob und wie sich Ziel- und Gerechtigkeitsnormen gegenseitig beeinflussen. In einer Problemsituation kann eine Zielnorm eine Aufgabe stellen, die unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten als unzulässig beurteilt werden muss. Umgekehrt kann unter dem Gerechtigkeitsanspruch eine Gerechtigkeitsnorm mit einer Pflicht resultieren, die unter Wertgesichtspunkten als nicht erstrebenswert, vielleicht sogar als unwert eingeschätzt werden muss. Im ersten Fall muss die Wertfrage unter Gerechtigkeitsaspekten überprüft werden, im andern Fall die Gerechtigkeitsfrage unter Wertaspekten. Die je in einer Dimension getroffene Vorentscheidung muss in der andern Dimension neu getroffen werden. Die von den potenziellen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen geforderten Handlungen zur Erfüllung von Aufgaben bzw. Pflichten werden hier selbst wieder zum Gegenstand einer Beurteilung, jetzt unter dem jeweils anderen normativen Geltungsanspruch, im Licht und aus der Fragestellung der jeweils anderen normativen Vernunftdimension. Die Beurteilung unter dem Blickwinkel der jeweils anderen Vernunftdimension ergibt dann die Korrekturbedürftigkeit der von der anderen Vernunftdimension vorgeschlagenen Handlung, und es wird auf der zweiten Ebene der Normierung eine entsprechende, vom vorherigen Vorschlag abweichende Norm gebildet.
Abbildung 10: Der Konflikt zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnorm
Das Schwierige an diesem Konflikt ist, dass es vorderhand an direkten Übersetzungsmöglichkeiten zwischen den Dimensionen fehlt. Zunächst einmal kann z. B. der Aussage, eine bestimmte Handlung sei (für eine bestimmte Person) wertvoll,
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nur entgegengehalten werden, dass sie ungerecht sei, und umgekehrt. Wenn es nun stimmt, dass das Gute und das Gerechte als grundlegende Geltungsansprüche als gleichberechtigt, als gleich relevant zu betrachten sind, dann kann es nicht angehen, die beiden gegeneinander so abzuwägen, dass die Bevorteilung des einen die Benachteiligung des anderen „aufwiegt“. Das wäre eine unzureichende Logik nach dem Schema des Utilitarismus, welche der hier anzustrebenden Gerechtigkeit nicht genügt. Der Grund für den Rückgriff auf die Gerechtigkeit liegt eben darin, dass zwischen dem Guten und dem Gerechten keine Hierarchie ausgemacht werden kann und die beiden Vernunftdimensionen deshalb als gleichberechtigt gelten müssen. Alle Versuche, einen Konflikt zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen aufzulösen, müssen also im Modus der Gerechtigkeit erfolgen. Unter dieser Voraussetzung bleiben prinzipiell zwei denkbare Wege der Konfliktlösung: (1) eine faire Angleichung einer Norm an die andere (quasi eine fair herbeigeführte „gegenseitige Angleichung durch Konsens“ zwischen den vormals widersprechenden Normen) oder (2) eine faire Angleichung zwischen den beiden Normen, in der beide auf die jeweils andere zu geht, ohne aber dass eine inhaltliche Einigung hergestellt werden kann (quasi eine fair herbeigeführte „gegenseitige Angleichung durch Kompromiss“ zwischen den beiden Normen). (1) Die gegenseitige Angleichung durch fairen Konsens: Diskurse sind Lernprozesse, die Konsense ermöglichen können, wo zuvor nur Kompromisse erreichbar schienen. Deshalb ist es denkbar, dass im Konflikt zwischen einer Zielnorm und einer Gerechtigkeitsnorm eine Übereinstimmung erzielt werden kann. Denn die im Rahmen einer bestimmten Vernunftdimension (hier Wert bzw. Gerechtigkeit) gefertigten Normen sollen nicht leichtfertig aufgegeben werden. Der reflektierte Prozess der Herstellung einer solchen Norm verdient zunächst einmal Respekt. Allerdings bemisst sich die Beachtung, die eine Norm verdient, letztlich danach, wie vernünftig sie ist. D. h., dass jeder Norm zwar prinzipiell zugetraut werden sollte, dass sie Vernünftigkeit verbürgt, dass sie darin aber auch scheitern kann. Wenn nun zum selben Entscheidungsproblem zwei widersprüchliche Entscheidungsnormen vorgebracht werden, so sollte, bevor gleich beide infrage gestellt oder aber vollumfänglich anerkannt werden, doch erst einmal der Möglichkeit Rechnung getragen werden, dass nur eine von beiden, nicht aber die andere im Test durch die Vernunft scheitern könnte. M.a.W. gilt es unter dem Titel der Angleichung durch Konsens zunächst einmal zu überprüfen, ob die Ziel- oder die Gerechtigkeitsnorm überzeugt, und zwar so, dass die jeweils andere Norm, ohne dass deren Vernunftdimension Abbruch getan wird, so modifiziert werden kann, dass sie der anderen nicht mehr widerspricht. Was bedeutet das? Damit die Angleichung durch Konsens nicht zu einer diktatorischen Unterjochung der einen Norm durch die andere wird, ist die Bedingung entscheidend, dass sie nur dann als taugliche Konfliktbewältigung betrachtet werden darf, wenn keiner der beteiligten Vernunftdimensionen Unrecht widerfährt. D. h., dass eine allfällige Modifikation der einen oder anderen Norm auch unter ihrem
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eigenen Geltungsanspruch nötig wäre. Unter diesen Voraussetzungen würde die im Konfliktfall an die Zielnorm gerichtete, selbstvergewissernde Nachfrage lauten: „Ist die von der Gerechtigkeitsnorm geforderte (oder eine ähnliche) Pflicht nicht doch erstrebenswert?“ (Frage nach dem Wert der Gerechtigkeitsnorm). Zugleich wäre an die Gerechtigkeitsnorm die Frage zu richten: „Ist die von der Zielnorm geforderte (oder eine ähnliche) Aufgabe nicht doch berechtigt?“ (Frage nach der Gerechtigkeit der Zielnorm). Nur wenn diese Fragen auf der einen oder anderen Seite zu einer überzeugenden Selbstmodifikation führen, wird die versuchte Angleichung dem zu folgenden Gerechtigkeitspostulat gerecht und ein Konsens möglich. Wie ist das denkbar? Angestossen durch den Konflikt würden die beiden Entscheidungshypothesen gewissermassen erst einmal wieder „nach Hause“ geschickt. Sowohl die Zielnorm als auch die Gerechtigkeitsnorm sind im Hinblick auf ihre bisher resultierenden Inhalte nochmals selbstvergewissernd zu überdenken. Es würde also darum gehen, die Zielnorm einerseits und die Gerechtigkeitsnorm andererseits im Lichte ihrer eigenen Vernunftdimension („zu Hause“: bei der Zielnorm die Wertdimension, bei der Gerechtigkeitsnorm die Gerechtigkeitsdimension) jeweils nochmals zu überprüfen. In dieser nochmaligen, strengeren Überprüfung wäre dann besonders darauf zu schauen, ob die Ziel- oder die Gerechtigkeitsnorm inhaltlich nicht doch so zu modifizieren wäre, dass sie der jeweils anderen Norm nicht mehr widerspricht. Zu überprüfen wäre damit, ob die Ziel- oder die Gerechtigkeitsnorm aus Einsicht (im Rahmen ihrer eigenen Vernunftdimension) zugunsten der jeweils anderen Vernunftdimension zu korrigieren ist. Insofern wäre danach zu fragen, ob die Ziel- oder die Gerechtigkeitsnorm (oder beide) zugunsten des Inhalts der jeweils anderen Norm von ihrem ursprünglichen Inhalt abrücken müsste. Die Frage nach der Gerechtigkeit der Zielnorm kann so zu neuen Kriterien des Guten führen und die Frage nach dem Wert der Gerechtigkeitsnorm zu neuen Kriterien der Gerechtigkeit. Den Stoff für die jeweilige Selbstvergewisserung gibt ihnen der Konflikt selbst. Dieser offenbart unweigerlich mindestens ansatzweise, was die Zielnorm „an“ der Gerechtigkeitsnorm „stört“, und umgekehrt. Hierbei kommt den beiden Vernunftdimensionen ihre normative Verwandtschaft zugute, welche die zunächst konstatierte Übersetzungsschwierigkeit zwischen dem Guten und dem Gerechten wieder relativiert. Wie bereits gesehen, operieren nämlich beide Ansprüche erstens mit Wertüberlegungen: der Wertanspruch zum Zweck einer sinnvollen Lebensführung einer bestimmten Person, der Gerechtigkeitsanspruch mit solchen sinnvollen Lebensentwürfen verschiedener Personen. Die Vokabeln, könnte man sagen, sind im Grunde die gleichen, nur die Grammatik arbeitet jeweils anders. Auf der Wertseite kann demnach daran erinnert werden, dass die Gerechtigkeitsnorm unter ihrer Oberfläche mindestens implizit einen ganzen Begründungszusammenhang bereithält, in dem die Wertpositionen der verschiedenen Beteiligten abgewogen und ausgeglichen werden, darunter natürlich auch die Wertposition der Person, die an der widersprechenden Gerechtigkeitsnorm Anstoss nimmt, deren Wert-
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position also einer erneuten kritischen Überprüfung zu unterziehen wäre. In der neuerlichen Beurteilung unter dem Wertanspruch soll das vorherige Spiel jedoch nicht einfach wiederholt werden (auch das kann freilich fruchtbar sein). In der neuerlichen Bewertung gilt es v. a. zu prüfen, ob nicht auch weitere Werte, die zuvor möglicherweise nicht beachtet worden sind, den Wertanspruch besser einlösen können. Möglicherweise sind auch weitere, zuvor unberücksichtigte Fakten prüfenswert (Stichwort „aufgeklärtes Eigeninteresse“). Es wären dabei insbesondere die folgenden drei Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen: 1. Würde die Erfüllung der von der Gerechtigkeitsnorm geforderten Pflicht nicht möglicherweise auf lange Sicht auch der Bezugsperson zugutekommen („Langfristigkeitserwägung“)? In dieser Erwägung, in der die Präferenzen der Bezugsperson relativ stabil bleiben, geht es v. a. darum, die faktische Grundlage der Wertfrage noch besser zu reflektieren und in die Zukunft zu verlängern. 2. Wenn wir die Zumutungen oder gar das Leid, das die anderen am Entscheidungsproblem Beteiligten im Fall der Verwirklichung der vorgeschlagenen Zielnorm hinnehmen müssten, ernsthaft reflektieren: Würde das nicht auch die Präferenzordnung der Bezugsperson und daher die bisherige Zielnorm infrage stellen („Empathie-“ oder „Mitleidserwägung“)? Hier würden die Präferenzen der Bezugsperson entsprechend umgebildet. 3. Wäre das Verwirklichen von Gerechtigkeit für die Bezugsperson nicht ein massgeblicher Wert („Gerechtigkeitserwägung“)? Sofern die Realisierung von Gerechtigkeit als ein Wert der Bezugsperson begründet werden kann, nährt sich der Gehalt der Zielnorm im entsprechenden Ausmass aus dem Gehalt der Gerechtigkeitsnorm. Das Gleiche gilt auf der Seite der Gerechtigkeit: Soll die Gleichberechtigung zwischen dem Guten und dem Gerechten ernst genommen werden, darf der Konflikt zwischen den beiden nicht einseitig das Gute zur erneuten Selbstüberprüfung anhalten. Auch die bisherige Gerechtigkeitsnorm muss sich daher „zu Hause“ einer neuerlichen Überprüfung unterziehen lassen. Wie die behauptungsweise Erfüllung des Wertanspruchs gilt es auch die Gerechtigkeitsnorm im Ganzen nochmals zu überprüfen. Besonderes Augenmerk ist dabei vorzugsweise auf die abwägende und ausgleichende Beurteilung der Wertposition zu richten, die an der bisherigen Gerechtigkeitsnorm anstösst. Freilich müssen im Rahmen der Revision der Gerechtigkeitsnorm aber auch alle anderen beteiligten Wertpositionen einer neuerlichen Überprüfung unterzogen werden, insbesondere auch diejenigen, die mit der „anstössigen“ Wertposition in Konflikt stehen. Hier wären insbesondere die folgenden beiden Überlegungen anzustellen: 1. Wurde bei der Konstruktion der bisherigen Gerechtigkeitsnorm möglicherweise das berechtigte Eigeninteresse derjenigen Person vernachlässigt, deren Zielnorm mit der Gerechtigkeitsnorm konfligiert? Hier wäre die genügende Selbstachtung der entsprechenden Person zu überprüfen.
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2. Wurden bei der Konstruktion der bisherigen Gerechtigkeitsnorm möglicherweise die Interessen anderer Beteiligter zu hoch geachtet? Das bedeutet die Überprüfung einer möglicherweise überhöhten Fremdachtung. Ein Grund dafür kann darin liegen, dass hier Gerechtigkeit mit Altruismus verwechselt wurde. Die jeweils wieder eindimensional durchgeführten Beurteilungen und Normierungen müssen im Wechsel so lange sorgfältig fortgeführt werden, bis auch nach einer solcherart angestossenen Rückbesinnung im Angesicht der anderen Vernunftdimension mit guten Gründen dargetan werden kann, dass die Ziel- oder die Gerechtigkeitsnorm (oder beide) zugunsten der anderen modifiziert werden kann – oder nicht. Im Erfolgsfall berücksichtigen die von der Zielnorm nun verfolgten Interessen auch die Gerechtigkeitsfragen (nach der Berechtigung der Interessen) und die von der Gerechtigkeitsnorm vertretenen Ansprüche auch die Wertfrage (danach, wie weit die geltend gemachten Pflichten des andern auch für diesen erstrebenswert sind). Das (zugegebenermassen eher seltene) Ergebnis eines gerechten Guten oder guten Gerechten wäre erreicht. (2) Die gegenseitige Angleichung durch fairen Kompromiss: Unter den pluralistischen Bedingungen unserer Zeit sind echte Angleichungen durch Konsens nicht immer möglich. Daran ist aber auch nichts Schlimmes. Die Vernünftigkeit von Entscheidungen hängt nicht davon ab, ob sie einen harmonischen Ursprung hat, sondern davon, dass mit den allfälligen Disharmonien fair umgegangen wird. Nicht weniger ideal als die Angleichung durch Konsens ist daher der Versuch zu betrachten, den potenziellen Konflikt zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen im Wege einer fairen Angleichung durch Kompromiss aufzulösen. In der Angleichung durch Kompromiss müssen die partout nicht zu vereinbarenden und gegenseitig auch (fair) nicht überzeugungsfähigen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen so zu einer Synthese gebracht werden, dass die daraus hervorgehende Entscheidungsnorm von den wohlreflektierten, aber nach wie vor widersprüchlichen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen verhältnismässig gleich viel abverlangt. Dieser auf der Metaebene durchzuführende Kompromiss hat prinzipiell dieselbe Struktur wie die „normale“ Herstellung von Gerechtigkeitsnormen. Im Grunde handelt es sich bei der aus Ziel- und Gerechtigkeitsnorm synthetisierten Entscheidungsnorm ja wiederum um eine Gerechtigkeitsnorm – sozusagen um eine Gerechtigkeitsnorm zweiter Stufe, insofern sie nämlich die beiden Vernunftdimensionen einander gleichberechtigt annähert. Allerdings hat diese Art der Angleichung im Vergleich zu den bisher betrachteten „normalen“ Gerechtigkeitsproblematiken, die letztlich immer auf eine Ausgleichung hinauslaufen, eine etwas andere Oberflächenstruktur. Bei der Ausgleichung ging es bisher immer darum, eine zuvor als unausgeglichen beurteilte Beziehung in ein ideales Gleichgewicht zu bringen. Hier geht es nun darum, die Situation, in der weder der einen noch der anderen Seite (hier der Ziel- und der Gerechtigkeitsnorm) durch Konsens ein Vorrang zugesprochen werden kann, so zu verändern, dass sie für beide gleichermassen akzeptabel wird. Hier muss es gelingen, eine Norm zu
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schaffen, welche die Welt so verändert, dass die Veränderungen für die beteiligten Vernunftdimensionen möglichst wenig und, wo doch, gleichmässig beeinträchtigend sind. Bildhaft formuliert, muss sich jede Position von ihrer Mitte gleich weit wegziehen lassen: Die jeweiligen Ideale (bei der Zielnorm das Ziel, bei der Gerechtigkeitsnorm die gerechten Beziehungen) sind in dieser Angleichung durch Kompromiss nicht wie bei der Ausgleichung der Fluchtpunkt am Horizont, sondern der Ankerpunkt im heimischen Hafen – also der prima facie Ausgangspunkt, von dem aus die konfligierenden Normen sich auf die Angleichung zu bewegen. Vergegenwärtigt man sich dann aber das Problem der Gerechtigkeit wieder im Ganzen, so wird erkennbar, dass auch diese Struktur im Grunde jedem Gerechtigkeitsproblem vertraut ist. Auch das Gerechtigkeitsproblem, das es bei der Ausgleichung zu bewältigen gilt, hat auf den Seiten der verschiedenen Beteiligten (dort die beteiligten Menschen) Ideale zum Ausgangspunkt, die später nur noch als Ankerund nicht mehr als Fluchtpunkte fungieren – die jeweiligen Vorstellungen nämlich vom gelungenen Leben. In diesem Sinne muss deshalb auch dort gegebenenfalls eine „Angleichung durch Kompromiss“ stattfinden: Die dort zu schaffende Gerechtigkeitsnorm muss sozusagen einen für die Beteiligten möglichst wenig und gleichmässig beeinträchtigenden „Kompromiss“ zwischen den jeweiligen idealen Zielsituationen zum Ziel haben. Der gleichmässig beeinträchtigende Kompromiss wird so selbst zum Ideal und Fluchtpunkt der Angleichung: eben das Ideal einer möglichst geringen und, wo nötig, gleichmässigen, fairen Abweichung von den Ausgangsidealen. Zu bedenken ist dabei, dass sowohl die Zielnorm wie die Gerechtigkeitsnorm differenzierungsfähig sind. Offenkundig ist das für die Zielnorm. Sie weist zwar auf ein ideales Ziel, kann aber auf dem Weg dahin unterschiedliche Wichtigkeitsstufen verwirklichen wollen. Es gibt Grade der Zielerreichung. Die Zielnorm ist daher gewichtungsfähig. Ihr kann ein bestimmter Wert zugemessen werden, der dann in den Vergleich mit der Gerechtigkeitsnorm eingebracht wird. Je nach dem zugemessen Wert lässt sich die zumutbare Beeinträchtigung bestimmen. Weniger offensichtlich ist dies für die Gerechtigkeitsnorm. Die Gerechtigkeit ist eine kategorische Dimension. Es gibt keine Grade der Gerechtigkeit. Aber es gibt Verletzungsgrade der Gerechtigkeit. Denn auch die Gerechtigkeit bezieht sich auf Ziele dessen, der den Gerechtigkeitsanspruch erhebt. Je nach dem Ausmass, in welchem eine Ungerechtigkeit diese Ziele verletzt, liegt eine zumutbare oder unzumutbare Beeinträchtigung der Gerechtigkeitsnorm vor. Für die Angleichung durch Kompromiss bedeutet dies, dass sowohl für die Ziel- wie für die Gerechtigkeitsnorm eine Wertzumessung möglich ist, welche die Bestimmung der je zumutbaren Beeinträchtigung gestattet. Die grosse verbleibende Frage, die sich bei der so interpretierten Kompromissangleichung stellt, ist freilich, wie so etwas aussehen kann, zumal Ziel- und Gerechtigkeitsnormen im Unterschied zur „normalen“ Gerechtigkeitsproblematik ja eine andere Sprache sprechen (Wert- versus Gerechtigkeitsdimension). Hierfür ist wieder an die normative Verwandtschaft zwischen den beiden Vernunftdimensionen des Guten und des Gerechten zu erinnern, aufgrund derer beide bei der Herstellung von
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Normen mit Werten operieren, der Wertanspruch mit denjenigen einer einzigen Person, der Gerechtigkeitsanspruch mit denjenigen aller am Gerechtigkeitsproblem beteiligten Personen. Auch hier sind also die Vokabeln vorhanden. Bei der Kompromissangleichung der konfligierenden Ziel- und Gerechtigkeitsnormen gilt es aber im Auge zu behalten, dass sich das „Wertideal“ auf der Seite des Gerechtigkeitsanspruchs etwas komplizierter gestaltet als das auf der Seite des Wertanspruchs. Von der Seite des Gerechtigkeitsanspruchs her sind es die abgewogenen und ausgeglichenen Wertpositionen sämtlicher Betroffenen, die in die Waagschale zu legen sind. Der Kompromiss zwischen den beiden Normen muss aus dem Blickwinkel der Zielnorm die ausgeglichenen Wertverhältnisse aller Beteiligten daher jeweils im Ganzen angehen und dabei die Wertverhältnisse zwischen den verschiedenen Beteiligten unberührt lassen. Eine Modifikation dieser Verhältnisse ist nur wieder zum Preis einer (sorgfältig durchgeführten) eigenständigen Gerechtigkeitsdiskussion zu haben. Vom Blickwinkel der Gerechtigkeitsnorm her ist demgegenüber die Wertekonstellation der auf die Zielnorm bezogenen Person als insgesamt gleich gewichtig wie die Wertekonstellationen aller in der Gerechtigkeitsnorm integrierten Wertekonstellationen zu betrachten. Nur so kann von einer echten Gleichberechtigung zwischen der Ziel- und der Gerechtigkeitsnorm die Rede sein. Zur Illustration sei das vorherige Beispiel der Lohngleichheit nochmals aufgegriffen: Es steht zur Debatte, welche Lohnpolitik das Unternehmen in wirtschaftlich schlechten Zeiten verfolgen soll. Angenommen, man kommt unter Gerechtigkeitsaspekten zum – ethisch und rechtswissenschaftlich gut begründbaren – Ergebnis, das Unternehmen müsse weiterhin gleich hohen Lohn auszahlen (Gerechtigkeitsnorm). Angenommen aber ausserdem, man kommt aus Wertüberlegungen zum – volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich ebenfalls gut begründeten – Ergebnis, das Unternehmen solle die Löhne kürzen (widersprechende Zielnorm340). Zudem können die beiden Vernunftdimensionen auf faire Weise nicht zur Deckung gebracht werden (keine „Angleichung durch Konsens“ möglich). Demnach ist eine „Angleichung durch fairen Kompromiss“ durchzuführen. D. h., die Plicht der Aufrechterhaltung der Löhne und die Aufgabe des Unternehmens, die Löhne zu senken, müssen, soweit nötig, gleichermassen einander angenähert werden. Die Schwierigkeit besteht nun darin, diesen fairen Kompromiss so mit Inhalt zu füllen, dass die Verhältnisse sowohl auf der Wert- als auch auf der Gerechtigkeitsseite im Gleichgewicht bleiben. Das kann z. B. heissen, dass eine Geldeinheit Lohnes für das Unternehmen einen anderen Wert hat als eine Geldeinheit Lohnes für die Angestellten. Wichtig ist auch, dass der Kompromiss nicht darauf hinauslaufen darf, dass die Lohnkürzung nur die Frauen (oder Männer) trifft.
Werden die Ziel- und die Gerechtigkeitsnorm unter diesen Voraussetzungen einander angenähert, so kann im Ergebnis von einem fairen Kompromiss gesprochen werden. Die resultierende Entscheidungsnorm kann dann aus der Sicht sowohl des Wertals auch des Gerechtigkeitsanspruchs als hinnehmbar gelten. Anders als in der zuvor erläuterten Angleichung durch Konsens dient die Entscheidungsnorm nicht „berech340 Die genannten Disziplinen sollen hier nur vereinfachend für den Konflikt unter divergierenden Rationalitäten stehen, der ebenso innerhalb der Disziplinen besteht.
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tigten Interessen“ und auferlegt sie nicht „erstrebenswerte Pflichten“, sondern sie dient dann „vertretbaren Interessen“ und auferlegt „vertretbare Pflichten“. (3) Ein Plädoyer für die Gerechtigkeit: Es sollte deutlich geworden sein, dass der naheliegende potenzielle Konflikt, der sich nach Durchlaufen des Grundschemas des Entscheidungsprozesses zwischen einer Ziel- und einer Gerechtigkeitsnorm abzeichnet, wiederum im Modus der Gerechtigkeit bewältigt werden soll. Das ist freilich wiederum eine normative These, die bestritten werden kann. Es lässt sich insbesondere fragen, ob damit die ansonsten vertretene These von der Gleichberechtigung der Geltungsansprüche durchkreuzt wird und so ein „Vorrang des Gerechten vor dem Guten“, eine Hierarchie der Vernunftdimensionen also zugunsten der Gerechtigkeit eingeschmuggelt wird. Was sind unsere Gründe, den Konflikt zwischen dem Guten und dem Gerechten wiederum gerecht – und nicht etwa effizient oder nach einer sonstigen Lesart des Guten – auflösen zu wollen? Es ist zu verneinen, dass der Gerechtigkeitsdimension hier ein Vorrang vor der Wertdimension eingeräumt wird. Was hier beabsichtigt ist, ist lediglich, dem Gerechten dieselbe Berechtigung zuzugestehen, wie dem Guten. Sofern dieses Ansinnen aber als grundsätzlich berechtigt anerkannt wird, dann stellt sich an einer bestimmten Stelle zwangsläufig die Frage, wie mit dem potenziellen Konflikt zwischen dem Guten und dem Gerechten umzugehen ist. Dass wir hierfür wieder auf die Gerechtigkeit zurückgreifen, hat im Wesentlichen zwei Gründe, von denen der erste eine Konsequenz aus dem Zugeständnis bildet, die Gerechtigkeit überhaupt zu anerkennen, und der im Masse dieser Anerkennung zwingend ist. Der zweite, nicht zwingende Grund ist zugleich ein Angebot an die Vorstellung eines sinnerfüllten, d. h. guten Lebens. Wer prinzipiell bereit ist, Gerechtigkeit als diejenige Dimension der Vernunft zu würdigen, in der interpersonelle Konflikte zu bewältigen sind, sollte eigentlich keine Mühe damit haben, auch den Konflikt, der sich aus dem Zusammendenken der Wert- und der Gerechtigkeitsdimension ergeben kann, im Modus der Gerechtigkeit zu lösen. Die aus der Konfliktsituation zwischen Menschen bekannte Gerechtigkeit lässt sich nämlich ohne Weiteres als der allgemeine Modus für die faire Konfliktlösung zwischen den grundsätzlich gleichen Respekt verdienenden Positionen jeglicher Art verstehen. Gerechtigkeit bildet dann nicht nur den Massstab in der Auseinandersetzung zwischen Menschen, sondern auch in jener zwischen Grundsätzen oder Rationalitäten, die miteinander um Geltung ringen. Insofern im Konflikt zwischen den Wert- und Gerechtigkeitsdimensionen auch die der Wertdimension entspringende Zielnorm und die der Gerechtigkeitsdimension entspringende Gerechtigkeitsnorm als grundsätzlich Gleichberechtigte, als gleichen Respekt Verdienende zu betrachten sind, muss auch dieser Konflikt zwischen dem Gerechten und dem Guten in eben diesem Modus der Gerechtigkeit bewältigt werden. Wie unter Menschen ist auch unter Grundsätzen oder Rationalitäten der „Vorrang“ des Gerechten nicht in einer Hierarchie begründet, sondern im Nichtwissen über das zu suchende Ergebnis: Weil wir nicht wissen, welcher Rationalität der Vorrang zu geben ist, müssen wir sie gleichberechtigt in den Diskurs einbringen, um zwischen ihnen
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den Ausgleichungsprozess durchzuführen. Die Offenheit des Diskurses verlangt nach der Gleichberechtigung der Positionen und diese nach dem Modus der Gerechtigkeit. Jede Frage nach dem Verhältnis unter Gleichberechtigten ist eine Gerechtigkeitsfrage. Wer daher Gerechtigkeit abstrakt anerkennt, ihre Anwendbarkeit im Konkreten aber verneint, bleibt es schuldig, dafür die Gründe zu liefern. Wer der Gerechtigkeit allerdings schon von vornherein die Anerkennung verweigert, setzt sich, so scheint es, diesem Widerspruch nicht aus. Leichter hat er es dadurch freilich nicht: Was er dann schuldig bleibt, ist eine Erklärung dafür, warum das Erlebnis der Ungerechtigkeit seit Menschengedenken ein Streben nach Gerechtigkeit ausgelöst hat und sämtliche Kulturen der Welt diese Sehnsucht teilen. Zudem genügt ein einziger Vertreter des Gerechtigkeitsanspruchs, um dem Alleinanspruch der Zielnorm die Begründungslast aufzubürden: Wer die Gerechtigkeit der Zieldimension unterordnen will, muss begründen, warum die Erreichung der Werte des einen die Verletzung der Werte des andern rechtfertigt. Damit ist er unversehens in die Gerechtigkeitsfrage hineingeraten. Die Gerechtigkeitsfrage muss also gar nicht darauf warten, dass man sie stellt – es genügt, dass sie gestellt wird. Dem Bedürfnis vieler, Ihre Zieldimension als vorrangigen Massstab zu setzen, können wir allenfalls dadurch entgegenkommen, dass wir einräumen, dass gerechte interpersonelle Beziehungen selbst einen Wert, und zwar einen unverzichtbaren, darstellen. Ein Verzicht darauf würde das Leben lebensunwert machen, seine Annahme hingegen schafft die Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Gerecht zu leben, kann sogar das höchste Ziel einer moralischen Persönlichkeit sein (Rawls). Allerdings kann diese Person ihre Werte nicht einfach anderen übertragen. Sie kann diesen ihre Werte nur anbieten und versuchen, deren Vorzüge aufzuzeigen. Die anderen werden diese Werte nur dann gelten lassen, wenn sie sich entweder von ihnen überzeugen lassen oder wenn sie sie aus Vernunftgründen anerkennen. Letztlich bleibt damit auch der Vertreter der Zieldimension auf die Gerechtigkeitsdimension angewiesen, wenn er seine Ziele mit anderen teilen will. In dieser Studie wollen wir zeigen, dass die Anerkennung auch des Gerechten sowohl realistisch als auch annehmbar ist. 4. Exkurs: Institutionalisierte Normen als äussere Begründungsstruktur des Entscheidungsprozesses Die Struktur des Entscheidungsprozesses wurde bis hierhin noch vereinfacht dargestellt. Wissenschaftliche Entscheidungen ergehen stets im Kontext bestehender Institutionen, welche die Entscheidungsstruktur durch äussere Vorgaben mitprägen. Eine Analyse, welche partielle Rationalitäten integrieren will, muss auch diese äusseren Einflüsse beachten, weil sie sonst Bedingungen übersieht, welche die Vernünftigkeit der Entscheidung beeinträchtigen können. Das Thema betrifft die Frage, wie im Kontext eines aktuellen Entscheidungsprozesses mit bereits vorhandenen
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normativen Handlungsvorgaben umzugehen ist. Die zusätzliche Fragestellung kann auch so formuliert werden, dass es darum gehe, welche Geltungskraft Entscheidungsnormen, die aus einem Entscheidungsprozess hervorgehen, für die Zukunft entfalten sollen. Wie sind einmal institutionalisierte Normen im wissenschaftlichen Entscheidungsprozess zu handhaben?341 Die Problematik dieser zusätzlichen Fragestellung dürfte freilich ebenso bekannt sein, wie die Antwort darauf, jedenfalls im Grundsatz, nahe liegt. In alltäglichen Zusammenhängen gilt als selbstverständlich, dass einmal gültig getroffene Vereinbarungen einzuhalten sind. Solche Verpflichtungen reichen von formlosen privaten Abmachungen über rechtlich verbindliche Verträge bis zu zwingenden Gesetzen. Korrekt geschaffene Normen sind, soweit sie auch „einschlägig“ sind, grundsätzlich verbindlich und verdienen ihrem Verbindlichkeitsgrad entsprechend Respekt. Dieser Grundsatz verlangt in komplexen Anwendungssituationen allerdings noch nach einigen Differenzierungen. Im Folgenden werden diese Zusammenhänge (1) noch weiter ausgeführt und (2) auf ihre grundsätzliche Begründungsstruktur hin analysiert. Die institutionalisierten Normen müssen schliesslich (3) in die Gesamtstruktur des Entscheidungsprozesses integriert werden. (1) Bei der Frage des Umgangs mit normativen Vorgaben darf nicht vergessen gehen, dass Normen von Menschenhand geschaffen werden; Normen werden institutionalisiert. Und diese konstruktive Arbeit verdient der legitimen Verbindlichkeit des Normsetzungsprozesses entsprechend Respekt. D. h., dass einmal korrekt in Kraft gesetzte Normen zunächst einmal gelten. Das bedeutet zwar keineswegs, dass diese Geltung nicht mehr infrage gestellt werden dürfte. Das darf sie jederzeit. Es bedeutet aber, dass die Überprüfung der Geltung von Normen unter dem Vorbehalt ihrer jeweiligen Verbindlichkeit steht und im dafür vorgesehenen Verfahren vonstatten gehen muss. Der verfahrensgemässe Erlass von Normen – der je nach Kontext ganz unterschiedlich aufwendig sein kann (von völliger Formlosigkeit ohne spezifische institutionelle Rahmenbedingungen bis hin zu einem völkerrechtlichen Verfahren mit Einstimmigkeitserfordernis) – begründet sozusagen einen begründungsrelevanten Vertrauensvorschuss zugunsten der Gültigkeit einer Norm: Eine einmal korrekt in Kraft gesetzte Norm gilt so lange, bis sie im dafür vorgesehenen Weg revidiert worden ist. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere, dass je nach Geltungsstufe der infrage stehenden Norm spezifische Voraussetzungen einer Normrevision342 zu beachten sind: je höher die Geltungsstufe, desto höher die Anforderung an die Normrevision.
341 Der vorliegende Exkurs expliziert näher, was unten, Ziff. X.2(1), im Rahmen insb. der formellen Verfassung des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses als Stufengerechtheit postuliert wird. Der Exkurs an dieser Stelle soll dabei helfen, die Entscheidungssituation in ihrer gesamten Komplexität zu verstehen. 342 Der Terminus der Revision hat in der Rechtswissenschaft eine spezifische Bedeutung. Er bezieht sich dort meist auf eine besondere Form der Entscheidungskorrektur. Der Begriff wird hier allgemeinsprachlich verwendet.
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Das Konzept der Geltung institutionalisierter Normen erweitert die Gesamtstruktur des Entscheidungsprozesses. Zusätzlich zum inneren, materiellen Begründungszusammenhang von Entscheidungsnormen ist auch der äussere, formelle Begründungszusammenhang bereits früher institutionalisierter Normen zu beachten. Wissenschaftliche Entscheidungen werden immer in Institutionen des Wissenschaftsbetriebs getroffen: Universitäten, nationale oder internationale Förderungsinstitutionen und Scientific Communities haben ihre Regeln, mit denen sie die wissenschaftliche Kommunikation steuern. Diese Normen verfassen die Struktur jedes Entscheidungsprozesses und sind daher mit in die Analyse einzubeziehen. Dasselbe gilt für die thematischen Zusammenhänge, auf welche die wissenschaftliche Entscheidungshilfe bezogen ist, also auf die bereits geltenden Regelungen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Bevor nun der Zusammenhang zwischen den normativen Vorgaben der äusseren und der inneren Begründungsstruktur dargestellt werden kann, ist zunächst die Frage zu klären, welcher Begründungsstruktur institutionalisierte Normen im allgemeinen folgen. Wir greifen dafür auf bewährtes Wissen der juristischen Methodik zurück und beantworten die Frage somit aus unserer disziplinären Perspektive. Dies scheint uns gerechtfertigt, weil es bei der Frage nach der institutionellen Einbettung wissenschaftlicher Entscheidungsprozesse meist um rechtlich mitgeprägte Kontexte geht. Die vom Juristischen ausgehenden Verallgemeinerungen sollen sich dabei an ihrer interrationalen Gültigkeit messen lassen. (2) Die wissenschaftlichen Institutionen schaffen für den einzelnen Entscheidungsprozess einen Rahmen, der aus geltenden Normen besteht, d. h. aus Regeln, die innerhalb dieses Entscheidungsprozesses nicht oder nur erschwert verändert werden können. In der Rechtswissenschaft spielt der Rückgriff auf geltende Normen seit jeher eine zentrale Rolle. Die Anwendungsprobleme verteilen sich hier auf zwei Hauptbereiche, einerseits auf das Thema der „Einschlägigkeit“ einer Norm (ist die infrage kommende Norm inhaltlich, hinsichtlich ihrer Anwendungsbedingungen im konkreten Entscheidungsproblem wirklich anwendbar?), andererseits auf das Thema des Begründungszusammenhangs zwischen mehreren einschlägigen Normen (wie ist insbesondere mit Normenkollisionen umzugehen?). Wir konzentrieren uns hier auf das zweite Subthema und belassen es bezüglich des ersten Subthemas mit einem Verweis auf die vorherigen Ausführungen zur juristischen Methodik.343 Mit Blick auf die Einschlägigkeit von Normen sind deren systematischen und genetisch-historischen Kontexte (Stichwort Normprogramm) sowie deren Wirkungsbezüge (Stichwort Normbereich) zu verarbeiten. Wie aber ist das Verhältnis zwischen mehreren institutionalisierten Normen zu verstehen, die je auf den internen Prozess einwirken? Die Normen sind dazu in ihrem Kontext zu begründen. Aus dem Gefüge aller geltenden Normtexte gilt es, einen kohärenten Begründungskontext herzustellen. In Bezug auf ihre Geltungs343
Vorn, Ziff. II.5. und III.3.b) (1).
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kraft unterscheiden sich Normen dabei nach ihrer Stufenhöhe (Normenhierarchie entsprechend dem Grad ihrer Verbindlichkeit). So lassen sich Normen über ihre inhaltlichen Bezüge hinaus auch in Bezug auf ihre Geltungsstufen zueinander in einen Begründungszusammenhang bringen. Geltungstiefere Normen dürfen geltungshöheren Normen nicht widersprechen (bzw. unterliegen rangtiefere Normen ranghöheren im Kollisionsfall). Diese Hinweise sollen nicht vortäuschen, dass es solche Begründungszusammenhänge im Vorhinein „gibt“. Zwar „finden“ sich bestimmte Normen in ihren verschiedenen institutionellen Kontexten – behauptungsweise – immer irgendwie „vor“, ihren inhaltlichen Zusammenhang und ihre Geltungshöhe gilt es jedoch bei jeder Inanspruchnahme konstruktiv zu begründen (bzw. begründen zu können). Die Begründungen können dabei mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert werden. Die Schwierigkeiten zeigen sich v. a. beim Problem der „Normenkollision“ oder des „Normenkonflikts“.344 Darunter ist eine Situation zu verstehen, in der zwei oder mehrere behauptete Normen zur Verfügung stehen (sie beziehen sich gleichzeitig auf den zu entscheidenden Fall, sind gleichermassen „einschlägig“), diese Normen jedoch verschiedene, und zwar sich widersprechende Handlungsanweisungen geben. Die Kollision kann dabei nicht durch eine versöhnliche Lesart der gleichermassen nach Anwendung ringenden Normtexte aufgelöst werden, weil die divergierenden Normprogramme unvereinbar sind. Ein erstes, einfaches Beispiel: Die Aufforderung des Freundes, mit ihm doch auch bei Rot die Strasse zu überqueren, konfligiert in den meisten Fällen mit den bekannten Normen der staatlichen Strassenverkehrsordnung. Ein zweites, etwas komplexeres Beispiel: In einem Land könnten Frauen und Männer einen gesetzlichen Anspruch auf gleichen Lohn bei gleichwertiger Arbeit haben. Im selben Land könnte jedoch ein Gliedstaat eine Vorschrift erlassen, wonach ein Unternehmen von dieser Pflicht zur Gleichbehandlung der Geschlechter abweichen darf, wenn es keinen Gewinn mehr ausweisen kann. Hier erlaubt es die Regelung des Gliedstaates, eine geschlechterweise Lohndifferenzierung vorzunehmen, während die landesweite Regelung dies untersagt.
In solchen Fällen von Normenkollisionen kommen verschiedene Lösungsansätze infrage. Am einfachsten lässt sich der Konflikt durch Rekurs auf eine formale Vorrangregel entscheiden. Erst wenn dies nicht möglich ist, muss nach inhaltlichen Gründen der Gerechtigkeit gesucht werden. Das formale Kriterium zur Bestimmung eines Vorrangs ist der Grad der Verbindlichkeit oder die Geltungshöhe der infrage stehenden Normen. Der Grad der Verbindlichkeit oder die Geltungshöhe bemisst sich wiederum nach dem Grad der Legitimität, in dem die fraglichen Normen in Geltung gesetzt, institutionalisiert worden sind. In Bezug auf das erste Beispiel der Strassenüberquerung ist die Entscheidung leicht: Während die amtlich erlassene Strassenverkehrsordnung von hoher öffentlich-rechtlicher Gel-
344
216.
Vgl. hierzu und zum Folgenden Müller, Die Einheit der Verfassung (22007), S. 195 –
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tung ist, die sich letztlich auf höchst verbindliches Verfassungsrecht stützen kann, entspringt die Norm des Freundes wohl dessen eher unverbindlichem Privatkalkül. Die verbindlichere öffentliche Strassenverkehrsordnung hat Vorrang vor der weniger verbindlichen privaten Aufforderung des Freundes. Auf das zweite Beispiel bezogen, ist die Entscheidung weniger klar: Sie hängt von der Verbindlichkeit oder Geltungshöhe der beiden kollidierenden Normen ab. Es ist zu fragen, ob der Erlass der landesweiten oder diejenige der gliedstaatlichen Norm als verbindlicher gelten darf.
Einfach ist die Entscheidung dann, wenn für den vorliegenden Fall bereits eine klare Vorrangregel besteht, die einer bestimmten Art des Normerzeugungsverfahrens vor allen anderen einen Vorrang zuspricht. Zum Beispiel kann eine vorrangige Norm (etwa die Verfassung) vorsehen, dass Landesrecht dem Recht der Gliedstaaten im Kollisionsfall vorgeht (vgl. z. B. in der Schweiz die derogatorische Kraft des Bundesrechts).
Fehlt allerdings eine solche klare, verbindliche Vorrangregel, dann braucht es neue Gründe zur Bestimmung des Vorrangs. Dies ist v. a. dann der Fall, wenn die sich widersprechenden behaupteten Normen derselben Normstufe entstammen und damit im Grunde gleich viel Legitimität für sich in Anspruch nehmen dürfen. Man müsste dazu das Beispiel des geschlechterweisen Lohndifferenzierungsverbots nun so abwandeln, dass beide Vorschriften im prinzipiell selben Erlassverfahren entstanden sind. Es könnte sich jetzt z. B. bei beiden um landesweite gesetzliche Regelungen handeln.
Auch in diesem Fall mag freilich wieder auf Vorrangregeln zurückgegriffen werden können (z. B., dass jüngere Vorschriften ältere generell ersetzen) oder die Legitimität der Normen bei genauem Hinsehen trotz prinzipiell gleichem Typus doch entscheidende Unterschiede aufweisen (z. B., weil beim Erlass der einen Norm eine wichtige Verfahrensvorschrift verletzt wurde). Falls all dies aber nicht genügend begründbar ist, muss gleichwohl entschieden werden, und es fragt sich, wo hierfür die guten Gründe im interrationalen Diskurs liegen. An diesem Punkt der Normenkollision muss auf inhaltliche Gründe der Gerechtigkeit zugegriffen werden. Die Gerechtigkeit kommt hier ein weiteres Mal als methodisches Prinzip zum Einsatz, weil erneut eine Situation vorliegt, in welcher Gleichrangige miteinander in Konflikt stehen, ohne dass für die eine oder die andere Seite ein pauschaler Vorrang geltend gemacht werden könnte. Nach seiner gerechtigkeitsinternen Anwendung (Ziff. VII.3.a)) und dem potenziellen Konflikt zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen in der inneren Begründungsstruktur des Entscheidungsprozesses (Ziff. VIII.3.b)) ist also auch im Rahmen der äusseren Begründungsstruktur des Entscheidungsprozesses auf die Gerechtigkeit als Abwägungsmethode zurückzukommen. Wie schon bei der Lösung des Konflikts zwischen Zielund Gerechtigkeitsnormen übernimmt sie hier die Funktion einer metamethodischen Konfliktlösung. In der typischen Situation einer Normenkollision stehen gleichrangige Programmpositionen miteinander in Konflikt, denen es gleichermassen gerecht zu wer-
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den gilt. Zur Lösung des Konflikts sind die mit den jeweiligen Normprogrammen verbundenen geltenden Zweckhorizonte herauszuarbeiten. An diesen ist dann jeweils zu messen, wie weit die Realisierung der einen Norm die Realisierung der anderen Norm beeinträchtigt. Unter der Voraussetzung der Gleichrangigkeit der Normen müssen die Abstriche, welche im Licht der jeweiligen Zweckhorizonte unter den gegebenen Wirkungsbedingungen hinzunehmen sind, dann gleich gross (besser: gleich klein) sein. Wie bereits betont, beschränkt sich der Anspruch dieser allgemeinen normentheoretischen Ausführungen nicht auf rechtliche Zusammenhänge im engeren Sinn. So könnte man sich neben spezifischen wissenschaftlichen Kontexten auch einen weiteren Alltagskontext vor Augen führen. Z. B. könnte eine Person verschiedenen Freunden versprochen haben, für sie da zu sein, wenn sie ihre Hilfe benötigen, und zu einem bestimmten Zeitpunkt möchten zwei Freunde diesen Anspruch zur gleichen Zeit in sich ausschliessender Weise geltend machen. Die Gleichrangigkeit der entsprechenden Versprechen vorausgesetzt, stellt sich hier dasselbe Problem wie im vorherigen Beispiel. Aufgrund der eingegangenen Versprechen kollidiert die Handlungsnorm, dem einen Freund zur Seite zu stehen, mit derjenigen, für den anderen da zu sein. In diesem Fall liegen zwei identische oder ähnliche Programmhorizonte vor. Die Versprechen beziehen sich jeweils darauf, dem Freund nach Massgabe seiner Hilfsbedürftigkeit zu helfen. Die gleichmässige Berücksichtigung der Hilfsansprüche der Freunde bemisst sich damit nach der jeweiligen Intensität der Hilfsbedürftigkeit der einzelnen Freunde und den Möglichkeiten der verpflichteten Person, die entsprechende Hilfe zu leisten. Im Föderalismus-Beispiel der Lohngleichheit könnte sich die Struktur der Lösung noch dadurch komplizieren, dass es sich beim Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ selbst um eine Konkretisierung des Gerechtigkeitsgedankens handelt. Wie zuvor (Ziff. VIII.3.) gesehen, haben Gerechtigkeitsnormen zwar keinen pauschalen Vorrang vor anderen Zielnormen (hier etwa die Erhaltung der wirtschaftlichen Prosperität im Gliedstaat). Unter realistischen Bedingungen dürfte sich heute aber jeder moderne Gliedstaat auch dem Gleichberechtigungsgrundsatz unterworfen haben. Im entsprechenden Masse ginge der Kollision der bundes- und der gliedstaatlichen Regelung dann eine interne gliedstaatliche Kollisionsprüfung voraus. Je nachdem würde dies die vordergründige Gleichrangigkeit der kollidierenden Bundesregelung mit der gliedstaatlichen Regelung zugunsten des Gleichberechtigungsgrundsatzes relativieren.
(3) Betrachtet man die Begründungsstruktur des wissenschaftlichen Entscheidungsprozesses im Gesamtzusammenhang, so ist ihre Doppelspurigkeit augenfällig. Auf der einen Seite haben wir den äusseren, formellen Begründungszusammenhang unter bereits institutionalisierten Normen des Wissenschaftsbetriebs und auf der anderen Seite den gewissermassen „basalen“ Begründungszusammenhang, der sich aus den materiellen Verhältnissen der zu treffenden Entscheidung ergibt. Wie genau hängen diese beiden Begründungsstrukturen zusammen? Sowohl der formelle als auch der materielle Begründungszusammenhang sind für die Einlösung des Vernunftanspruchs unabdingbar. Behauptete Entscheidungsnormen verlieren beides Mal ihre Gültigkeit, wenn es misslingt, den jeweiligen Begründungszusammenhang herzustellen. Die beiden Begründungszusammenhänge fallen grundsätzlich stets in gleicher Weise ins Gewicht.
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Dabei gilt es insbesondere klarzustellen, dass die Begründungszusammenhänge nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Da ist keine schlichte „Normanwendung“ auf der einen und keine schlichte „Normbegründung“ auf der anderen Seite. Diese verkürzte Vorstellung rührt oft von der zu einfachen Wahrnehmung des demokratisch-politischen Gesamtprozesses her, wonach Normen einerseits in einem Parlament „politisch“ „begründet“ werden, diese Normen anderseits durch ein Gericht „juristisch“ oder „rechtlich“ – anscheinend ohne Wertung und Abwägung – „angewendet“ werden. Bei genauer Betrachtung ist allerdings festzustellen, dass weder die Schaffung von abstrakten Normtexten, z. B. durch ein Parlament, noch die Schaffung von konkreten Normen, z. B. durch ein Gericht einfach als „Normbegründung“ oder „Normanwendung“ bezeichnet werden kann und auf jeder Ebene der Normkonkretisierung Elemente von beidem von Relevanz sind.345 Es handelt sich um einen dynamischen diskursiven Gesamtprozess der Normgenerierung. Insofern die Begründung einer Entscheidung sowohl beim formellen Normenzusammenhang als auch bei der materiellen Begründung scheitern kann, darf weder dem einen noch dem anderen Begründungszusammenhang eine Vorrangstellung eingeräumt werden. Es mag sich im konkreten Fall allenfalls arbeitsökonomisch anbieten, zunächst bestehende Normen für die Begründung einer Entscheidungsnorm heranzuziehen. Dies entlastet jedoch nicht von einer materiellen „Nachprüfung“. Die formelle und die materielle Begründungsstruktur bleiben hermeneutisch wie begründungslogisch unauflöslich ineinander verwoben. Die Erweiterung des Entscheidungsprozesses um die formelle Perspektive auf bereits institutionalisierte Normen führt damit auch auf die Frage der Revisionsvoraussetzungen, also die Bedingungen der Geltungsbeständigkeit der bestehenden Normen. Dieses Konzept relativiert die Entscheidungskraft beider Begründungszusammenhänge quasi gleichermassen, indem es die in ihnen entwickelten Gründe zusätzlich an die Revisionsbedingungen der bestehenden einschlägigen Normen bindet. Im realen wissenschaftlichen Entscheidungsprozess kann das Ergebnis eines Diskurses durch die Machtverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb verzerrt sein. Daher stellt sich immer die Frage, ob die zu treffende Entscheidung ohne Revision der institutionalisierten Normen vernünftig getroffen werden kann oder nicht. Wenn dies nicht möglich ist, ist zu prüfen, wie das institutionelle Normengefüge so revidiert werden kann, dass die Entscheidung nicht durch äussere Begründungsstrukturen verzerrt wird. Es muss möglich sein, sowohl die geltende Diskursverfassung wie die inhaltlichen Vorgaben aus höherstufigen Diskursen infrage zu stellen. Auch hierbei entkommt man dem hermeneutischen Zirkel der Normgenerierung nicht. Denn auch die Revisionsvoraussetzungen gründen wieder in Normen, die es im Ausmass ihrer Konkretisierungsbedürftigkeit zu konkretisieren gilt (sind die Vo345 Eingehend Windisch, Jurisprudenz und Ethik (2010), etwa S. 399 – 402. Zur Abgrenzung in diesem Punkt gegen Habermas und Günther ebd., insb. S. 148 – 153 / 218 – 220 m. w. H.
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raussetzungen für die Revision der fraglichen Entscheidungsnorm erfüllt?). Auch hierüber ist wieder ein normativer Diskurs zu führen, für den dieselben Vorgaben gelten wie den materiellen Diskurs, dessen Ergebnisse gerade in Frage stehen. Der „Revisionsdiskurs“ ist insbesondere auch dann zu führen, wenn der institutionelle Rahmen, in welchem sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung bewegt, bisher noch keine formellen Revisionsbedingungen vorsieht. Im Ergebnis lässt sich zur Begründungsstruktur des Entscheidungsprozesses insgesamt somit etwa Folgendes sagen: Entscheidungen gründen in Entscheidungsnormen, die ihrerseits einer materiellen Begründung bedürfen (innere oder materielle Begründungsstruktur) und andererseits ohne Widerspruch im kohärenten formellen Zusammenhang aller (einschlägigen) in Geltung stehenden Normen begründet werden können müssen (äussere oder formelle Begründungsstruktur). Auch wenn einmal institutionalisierte Normen stets zu beachten sind, gilt allerdings kein genereller Vorrang des formellen vor dem materiellen Begründungszusammenhang. Die innere und die äussere Begründungsstruktur des Entscheidungsprozesses sind gleichermassen zu beachten. Die Vielfältigkeit der Normgenerierung im inneren und äusseren Begründungszusammenhang kann dabei zu Normenkollisionen führen, welche nach einer Revision früher institutionalisierter Normen verlangen. Weil die Revision von Normen bereits für sich ein Entscheidungsproblem darstellt, sind auch hierfür entsprechende Normen diskursiv zu konkretisieren. Alle formellen Geltungsbedingungen bleiben jederzeit hermeneutisch wie begründungslogisch mit dem materiell zu lösenden Entscheidungsproblem verwickelt.
5. Beispiel Die Studienkommission Finanzmarktregulierung hat den Auftrag, einen integrativen Entscheidungsprozess in folgenden Schritten zu gestalten: Zuerst wird sie sich mit den Vorverständnissen und Leitfragen der Mitglieder zum Problem befassen müssen, indem sie zu klären versucht, mit welchen Prämissen die Teilnehmenden an die Arbeit herantreten. Hier geht es darum, das diffuse Vorwissen der Kommission explizit zu machen und zu klären. Z. B. wird sie alle Mitglieder auffordern, ihre Erfahrungen und bisherigen Stellungnahmen im Bereich des Finanzmarkts darzulegen. Auf der Ebene der Problembeurteilung soll die Kommission sodann die Situation, welche das Problem ausmacht, nach den Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit beurteilen. Dazu kann sie z. B. analysieren, ob und inwiefern von einer Krise des Finanzmarktes auszugehen ist. Dabei wird sie Wahrheitsaussagen, Werturteile und Gerechtigkeitsurteile miteinander verknüpfen müssen. Z. B. wird sie die Entwicklung der Geldmenge ins Verhältnis zum Wachstum der Volkswirtschaft setzen und sich fragen müssen, welche Bedeutung die Schöpfung von neuem Buchgeld durch die Geschäftsbanken für dieses Verhältnis hat. Kann die Nationalbank unter
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den gegebenen Verhältnissen ihren Auftrag erfüllen, eine Geld- und Währungspolitik zu betreiben, die dem Gesamtinteresse des Landes dient (Art. 99 Abs. 2 BV)? Damit sie aus der Problemlage Schlussfolgerungen ziehen kann, muss die Kommission eine Entscheidungsnorm ausarbeiten, nach welcher sich ihre Empfehlungen richten sollen: Sie muss ein Ziel definieren, Handlungsalternativen prüfen und diese in den Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit beurteilen. Der Zielwert eines funktionierenden Finanzmarktes wird so in eine Handlungsnorm überführt, welche die Entscheidung über konkrete Empfehlungen anleitet. Z. B. kann die Kommission als Ziel ein Geldmengenwachstum festsetzen, das sich im Gleichschritt mit dem realen Wirtschaftswachstum bewegt. Als Handlungsnorm zu diesem Ziel könnte sie dann allenfalls festlegen, dass die Nationalbank die Geldmenge unmittelbar selber bestimmen können soll und den Banken gewisse volkswirtschaftlich schädliche Geschäftstypen verboten werden müssen. Beim Versuch der Integration der drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit ergeben sich Konflikte zwischen Ziel- und Gerechtigkeitsnormen. Zielnormen, welche die Interessen der Banken schützen, werden gegen Gerechtigkeitsnormen stehen, welche die Interessen der Öffentlichkeit vertreten, und umgekehrt. Ob die öffentlichen Interessen überwiegen, ist dabei nicht einfach eine Frage abwägender Präferenzbildung, sondern eine Gerechtigkeitsfrage, in welcher sich die Banken – die sich sonst eher an Nützlichkeitszielen orientieren – auf das Gerechtigkeitsargument stützen können: Die Kommission wird nämlich auf das heikle Problem stossen, wie der Konflikt zwischen einem nützlichen Ziel für die Allgemeinheit (Zielnorm) und einer schädlichen Auswirkung auf die Finanzbranche (Gerechtigkeitsnorm) auszugleichen sei. Im Idealfall lässt sich zeigen, dass die Zielnorm gerecht oder die Gerechtigkeitsnorm zielführend ist (gegenseitige Angleichung durch fairen Konsens). Oft wird aber nur ein Ausgleich dadurch begründet werden können, dass sowohl an der Zielnorm wie an der Gerechtigkeitsnorm in verhältnismässiger Weise Abstriche gemacht werden (gegenseitige Angleichung durch fairen Kompromiss). Z. B. wird die Kommission zunächst prüfen, inwiefern eine Stärkung der Kompetenzen der Nationalbank auch im langfristigen Interesse der Banken ist – und umgekehrt, inwiefern das Wohlergehen der Banken im Allgemeininteresse liegt. In jenen Themenbereichen, in welchen auf diese Weise kein Konsens hergestellt werden kann, wird sie nach Gründen suchen, welche es vertretbar erscheinen lassen, dass von der Verwirklichung der beiden konfligierenden Normen Abstriche gemacht werden: Wie weit ist es mit wissenschaftlichen Gründen vertretbar, das Geldmonopol der Nationalbank zu relativieren? Wie weit ist es mit wissenschaftlichen Gründen vertretbar, die Wirtschaftsfreiheit der Banken einzuschränken? Da diese Fragen sehr kontrovers sein dürften, wird es eine Aufgabe der Verfassung des Diskurses in der Kommission sein, dafür zu sorgen, dass alle in der Wert- oder Gerechtigkeitsdimension begründeten Standpunkte in gerechter Weise zum Zuge kommen (vgl. dazu Ziff. X). Damit ist freilich erst die innere Begründungsstruktur des integrativen Entscheidungsprozesses der Kommission beschrieben. Wie weit sie in ihrer Arbeit gehen
VIII. Integrativer Entscheidungsprozess
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kann, wird durch äussere Vorgaben aus institutionalisierten Normen geprägt: Dürfen die Ergebnisse der Kommission eine Verfassungsänderung bedingen? Ist auf die politische Realisierbarkeit der Empfehlungen zu achten? Gilt das geltende politische System als unantastbar? Möglicherweise wird die Kommission daher auch Anträge stellen müssen, welche die institutionellen Vorgaben ihrer Arbeit infrage stellen.
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IX. Diskurstheorie wissenschaftlicher Entscheidungen Ziel des wissenschaftlichen Diskurses ist das Erreichen von Interrationalität als wissenschaftliche Form von Vernunft in deren drei Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. Dieser Diskurs hat sein Ergebnis in allen drei Dimensionen als richtig auszuweisen. Der Richtigkeitsdiskurs dient allerdings nicht nur zur Legitimation getroffener Entscheidungen. Er hat konstitutive Bedeutung; er stellt Entscheidungen her, welche die Vermutung der Vernünftigkeit verdienen.
Als fünfte Voraussetzung des hier vorgelegten Modells dient die Weiterentwicklung der Diskurstheorie zu einer Theorie wissenschaftlicher Entscheidungen. Ein Richtigkeitsdiskurs soll einen integrativen Prozess der Entscheidung ermöglichen. Hier geht es um die Diskursqualität des wissenschaftlichen Entscheidungsprozesses (alle Geltungsansprüche nach Kap. VII müssen einer diskursiven Überprüfung unterzogen werden und alle Schritte der Entscheidung nach Kap. VIII müssen auf diskursiv legitime Weise vollzogen werden). Für diesen Richtigkeitsdiskurs gelten die Grundsätze der Diskurstheorie als Leitbild (z. B. die allgemeine Hermeneutik, das Konzept der Intersubjektivität, das Ideal der kommunikativen Verständigung oder das Erfordernis der Zustimmungswürdigkeit aller Argumente). Der wissenschaftliche Diskurs lässt sich nach zwei Aspekten analytisch differenzieren: Zum einen nach je eigenen Diskursen zu Wahrheitsfragen, Wertfragen und Gerechtigkeitsfragen, zum andern nach einer Diskursintegration. Die drei Teildiskurse sind so zu integrieren, dass die Teilergebnisse in einander übersetzt werden. Alle Argumente für eine bestimmte Entscheidung müssen sich zugleich als wahr, werthaltig und gerecht ausweisen können. Die Diskurstheorie verstehen wir dabei nicht als eine abgehobene, abstrakte Metatheorie. Im Gegenteil: Die bisherigen Überlegungen bewegen sich zwar auf einem theoretischen Niveau hoher Idealität. Wir möchten aber eine Entscheidungstheorie anbieten, die auch unter realen Bedingungen praktisch Fuss fassen kann. Daher müssen wir auch dartun, wie das in der Hand von fehlbaren Menschen Realität werden kann. Hierfür scheint uns gerade die Diskurstheorie hilfreich. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, wie eine vernünftige Entscheidung im zuvor geforderten Sinn unter realen Bedingungen diskursiv erreicht werden kann. In dieser Studie wird dafür argumentiert, dass vernünftige Entscheidungen dann eine Chance haben, wenn sie in einem Diskurs zustande kommen. Es wird daher nachfolgend die Forderung nach einer Diskurstheorie richtiger Entscheidungen erhoben (1.) und es soll erläutert werden, was diese Forderung für die drei grundlegenden Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit im Einzelnen bedeutet (2.), aber auch welche Konsequenzen sie insbesondere im Hinblick auf das Erfordernis nach Interrationalität nach sich zieht (3.). Im nächsten Kapitel (X.) kann dann gezeigt werden, wie konkrete wissenschaftliche Diskurse auf dieser Grundlage verfasst werden müssen.
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1. Eine Diskurstheorie richtiger Entscheidungen Die Voraussetzungen der modernen Wissenschaft erlauben es nicht mehr, die Entscheidung über die Gültigkeit von Begründungen einer vorausgesetzten Autorität zu überlassen. Unter den pluralistischen Bedingungen heutiger Gesellschaft und Wissenschaft machen die vorhandenen Begründungsangebote zudem keine Evidenzen, sondern eher Widersprüche und Unverständlichkeiten sichtbar. Daher bleibt für die Einlösung von Geltungsansprüchen nicht viel mehr, als sie zur Diskussion zu stellen. Es muss sich in der Argumentation herausstellen, ob die vorgebrachten Gründe tatsächlich überzeugen. Die Zustimmungswürdigkeit von Thesen muss sich real im Hier und Jetzt erweisen. Grundlegende Voraussetzung jeder Diskurstheorie ist der hermeneutische Zugang zur Wirklichkeit. Die Spaltung von Subjekt und Objekt im modernen Weltverständnis kann nicht durch einen direkten Zugriff des Bewusstseins auf die Wirklichkeit im Sinne eines unmittelbaren Abbilds der Realität durch die menschliche Vorstellung behoben werden. Vielmehr braucht es einen iterativen Prozess der Verständigung unter Menschen mit dem Ziel des Verstehens der Welt in ihren realen und idealen Dimensionen. Darin sind gleich mehrere Bedingungen der Erkenntnis miteinander verknüpft: eine allgemeine Hermeneutik, ein Konzept der Intersubjektivität und ein Ideal der kommunikativen Verständigung: Allgemeine Hermeneutik: Zumindest in den Sozialwissenschaften lässt sich der wissenschaftliche Zugang zum Gegenstand der Erkenntnis nicht technisch, d. h. nach dem Vorbild der Fotografie oder der Korrespondenztheorie der Wahrheit beschreiben. Das Subjekt der Erkenntnis, also die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler, ist als Mensch mit dem Gegenstand der Forschung, also dem menschlichen Zusammenleben, untrennbar verknüpft. Erkenntnis ist nur als Vorgang des Verstehens begreifbar. Alle Welt ist Text und Kontext. Wir erkennen immer vom Vorentwurf eines Urteils über unseren Gegenstand her unter Nutzung unseres Vorverständnisses über die zu erkennende Sache. Dieses Vorverständnis überprüfen und korrigieren wir mittels der Methoden unserer Wissenschaft, um zu einem begründeten Entscheid über den Erkenntnisgegenstand zu gelangen. Alle analytischen Denkvorgänge und empirischen Messungen sind nur Teilschritte in diesem Verständnisprozess. Konzept der Intersubjektivität: Hermeneutik allein genügt freilich nicht zum Verständnis des wissenschaftlichen Entscheidungsprozesses, wenn sie nicht mit einem Konzept der Intersubjektivität verknüpft wird. Das Verstehen darf nicht als isoliertes Verhältnis von Subjekt und Text begriffen werden. Es ist erst in einem intersubjektiven Prozess adäquat erfassbar. Nicht nur jedes Objekt der Erkenntnis ist mit seinem Kontext interobjektiv verwoben und daher nur in seinem Gesamtzusammenhang richtig verstehbar, auch das erkennende Subjekt ist intersubjektiv konstituiert, d. h. nur aus seinen eigenen zwischenmenschlichen Bezügen zu einem bewussten Subjekt geworden. Es kann überdies seine Erkenntnis nur in einem Prozess intersubjektiver Verständigung über den Gegenstand der Erkenntnis bilden – sei dies in Aus-
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einandersetzung mit früheren Erkenntnissen, sei dies im Austausch mit aktuellen Partnern des wissenschaftlichen Prozesses. Die Intersubjektivität, die schon für Alltagserfahrungen gilt, wird in der Wissenschaft zur Methode erhoben, indem nur das für anerkennungswürdig gilt, was sich im intersubjektiven Austausch als begründbar erweist und bewährt. Wissenschaftlich angestrebte Objektivität ist, genau besehen, nichts anderes als (interrational geläuterte) Intersubjektivität. Verständlich wird dies, wenn wir uns klar machen, dass wir als Menschen nicht ausserhalb des Geschehens stehen und vom archimedischen Punkt aus auf die Welt blicken, sondern immer auch selbst ein Teil von ihr sind. Wir sind nicht nur Beobachter, sondern immer auch Teilnehmer. Dieser Grundbedingung entspricht ein hermeneutisches Welt- und Menschenbild, in dem sich Subjektives, Objektives und Intersubjektives zwar analytisch unterscheiden, nicht aber voneinander trennen lassen – und dies nicht erst in Bezug auf Wert- oder Gerechtigkeitsfragen, sondern bereits in Bezug auf Aussagen zur Wahrheitsfrage. Ebenso wie wir die objektive Welt und die anderen Subjekte begreifen, konstituieren auch diese uns mit. Weil wir uns unserer Teilnehmerrolle nicht entledigen können, stecken wir immer schon in einem hermeneutischen Zirkel voller Vorverständnisse und Vorausentwürfe. Dessen müssen wir uns auch als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewusst sein. Wir müssen miteinander in einen Diskurs eintreten und unsere Vorverständnisse und Vorausentwürfe in der Kommunikation mit andern kritisch prüfen. Wissenschaftlichkeit erschöpft sich nicht in unbefangener Beobachterposition und methodischer Klarheit des Vorgehens. Sie erfordert die Reflexion des eigenen Standpunktes und dessen Begründung gegenüber den andern. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer diskurstheoretischen Fundierung der Wissenschaft. Wissenschaft erhöht nur dann die Chance auf Herstellung von Vernunft, wenn sie ihren eigenen Entscheidungsprozess in diskursethisch legitimer Weise strukturiert. Ideal der kommunikativen Verständigung: Wissenschaftliche Intersubjektivität gelingt nur dank einer besonderen Qualität der wissenschaftlichen Sprache. Zwar ist alle Intersubjektivität in wichtigen Teilen sprachlich vermittelt, aber nicht alle Sprache erhebt den wissenschaftlichen Rationalitätsanspruch. Wissenschaftlich richtig ist erst jene Äusserung, welche mit dem Geltungsanspruch auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit erhoben wird und mit den Methoden der beteiligten Schulen und Disziplinen im interrationalen Diskurs begründet werden kann. Die wissenschaftliche Qualität liegt in der Diskursqualität der Auseinandersetzung. Wissenschaft orientiert sich am Ideal eines machtentlasteten, offenen und konsensualen Diskurses unter Gleichberechtigten. Der Wissenschaftsbetrieb muss sich an diesem Massstab messen lassen. Der wissenschaftliche Diskurs ist eine qualifizierte Form von Dialog. Zustimmungswürdigkeit: Die Idee des „Diskurses“ (als terminus technicus) greift diese Überlegungen auf und versucht zugleich, der Argumentation eine reale verfahrensmässige Struktur zu geben, an der sich die Gültigkeit von Argumenten messen lässt. Die Gültigkeit von Aussagen bemisst sich dabei nicht nur danach, ob sie reale Zustimmung erhalten, sondern ob sie diese Zustimmung auch verdienen (des-
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halb nicht „Zustimmung“, sondern „Zustimmungswürdigkeit“ als Gültigkeitskriterium). Die Argumentation darf also nicht gänzlich frei laufen, sondern soll in Bahnen erfolgen, die für die daraus resultierenden Ergebnisse letztlich die Vermutung der Vernünftigkeit begründen. Eine entscheidende diskurstheoretische Aufgabe besteht daher in der Rekonstruktion – ihrerseits wieder – zustimmungswürdiger Diskursvoraussetzungen. Konstitutiver Charakter des Diskurses: Die Diskursidee führt den dialogischen Ansatz so auf qualifizierte Weise weiter. Ihr geht es nicht nur darum, Aussagen überhaupt zur Diskussion zu stellen. Im Diskurs hat die Argumentation nicht nur instrumentellen, sondern auch konstitutiven Charakter. Der Diskurs dient nicht nur als Testgelände ingeniöser Begründungsangebote, sondern auch als Ort originärer Meinungsbildung. Der Diskurs wird damit zu einer „Deliberation“, zu einer kommunikativen Interaktion, die Grund und Voraussetzung für vernünftige Aussagen und Entscheidungen ist. Im Geben und Nehmen von Gründen, im Austausch von Argumenten, aber auch zugrunde liegenden Gefühlen, Einstellungen und Wünschen, sollen sich die Gründe und die sich aus ihnen ergebenden Thesen auch bilden. Die Diskursidee integriert somit die nur allzu realistische Vorstellung einer meinungsund bedeutungskonstituierenden Kraft sozialer Interaktion, im Besonderen des Gesprächs. Diese konstitutive Bedeutung des Diskurses ist eine bewusste Weiterführung des originären Verständnisses der Diskurstheorie bei Jürgen Habermas. Der Diskurs wird nicht nur als Verfahren zur Prüfung hypothetisch vorgeschlagener Normen verstanden346. Er dient nicht nur der Rechtfertigung individuell vorgefasster Entscheidungen, sondern der Herstellung der Entscheidungen selbst. Er wird zur Methode der Überprüfung von Vorverständnissen und der Entwicklung von begründeten Entscheidungen. Dies ist eine Konsequenz zweier grundlegender Prämissen dieser Studie: des Entscheidungscharakters von Erkenntnis einerseits, der Intersubjektivität des Einzelnen anderseits. Wenn Erkenntnis in einem Entscheidungsprozess zustande kommt, muss dieser Prozess zum Gegenstand einer vernünftigen Verfassung gemacht werden. Wollte man von der Möglichkeit reiner Beobachtung der sozialen Wirklichkeit ausgehen, könnte man diese Beobachtung der diskursiven Verfassung vorschalten und sich mit der Begründung eingebrachter Wahrnehmungen begnügen. Will man aber alle Erkenntnis als Entscheidung verstehen, muss diese einer methodischen Anleitung zugänglich gemacht werden. Es geht nicht mehr nur um die Rechtfertigung getroffener oder vorgeschlagener Urteile, sondern um deren diskursive Entwicklung. Zudem muss bereits der Prozess, der zur Behauptung eines Diskursteilnehmers führt, zum Gegenstand des Diskurses gemacht werden können. Wohl darf jeder seine (z. B. emotionalen) Anliegen einbringen, aber die Gültigkeit seiner Aussagen kann nicht von der subjektiven Wertung abgekoppelt werden, die er damit verbindet. Der
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Habermas, Diskursethik (1983), S. 113.
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Entstehungszusammenhang einer These wird damit zu einem Element des Geltungszusammenhangs der Aussage im Diskurs. Wenn Intersubjektivität konstitutiv für Subjektivität ist, muss jede subjektive Wertung, die in den wissenschaftlichen Prozess eingehen soll, auf ihre intersubjektiven Quellen hin befragt werden. Sie ist dann selbst das Ergebnis eines mehr oder weniger qualifizierten Diskurses und keine externe Vorgabe, die kraft der Legitimation der einzelnen Diskursteilnehmenden in die Auseinandersetzung aufzunehmen wäre. Wohl bleibt jede Person, die sich in einen Diskurs einbringt, autonom in allem, was sie darin geltend machen will. Sie muss aber ihre Vorentscheidungen nicht nur rechtfertigen, sondern auch transparent machen. Behauptungen haben ihre eigene Diskursgeschichte, bevor sie aufgestellt werden. Damit wird das Diskursmodell vielschichtig. Im Diskurs, der zu einer wissenschaftlichen Entscheidung führt, muss sowohl die Geschichte der eingebrachten Positionen rekonstruiert wie deren Integration zu einem gemeinsamen Entscheid angeleitet werden. Die Diskursgrundsätze sind sowohl Massstab der Analyse der einzelnen Behauptungen wie des Argumentationsprozesses, auf dem die Entscheidung aufbaut. Wie ist demnach wissenschaftlich richtig zu entscheiden? Unter den genannten Voraussetzungen muss die Entscheidung über die richtige wissenschaftliche Handlungsalternative in einem Diskurs über die Richtigkeit der Entscheidung oder kurz in einem „Richtigkeitsdiskurs“ getroffen werden.347 Die zuvor eingehend erläuterten Begründungsanforderungen vor Augen, ist dieser Richtigkeitsdiskurs dann als ein „Diskurs über rational und interrational richtige Entscheidungen“ zu verfassen. D. h., dass der Diskurs über die Richtigkeit von Entscheidungen so eingerichtet werden muss, dass er sowohl einer Einlösung der verschiedenen einzelnen Rationalitäten Raum gibt als auch die Voraussetzungen dafür schafft, dass in ihm auch eine interrationale Verständigung Platz greifen kann. Der Richtigkeitsdiskurs muss sich auf alle drei Ebenen des Entscheidungsprozesses beziehen (vgl. vorne, Ziff. VIII.1.): Strukturell beginnt er mit der Klärung der Leitfragen, welche das meist implizite Vorverständnis der Beteiligten in die wissenschaftlichen Fragestellungen einbringt (welche Prämissen stehen hinter den wissenschaftlichen Fragestellungen?). Sodann erfasst er die Beurteilungsebene, auf welcher die Faktenlage erst zum Problem erklärt wird (aus welchen Gründen stellen die zu untersuchenden Sachverhalte normativ ein Problem dar?). Schliesslich gipfelt der Richtigkeitsdiskurs in der Ebene der gestaltenden Normierung, auf welcher die Entscheidungsnorm erarbeitet wird (wie soll das Problem richtig gelöst werden?). Auf allen drei Ebenen beschlägt der Richtigkeitsdiskurs die für eine Entscheidungstheorie grundlegenden Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtig-
347 Zur umfassenden entscheidungsleitenden Bedeutung des hier verwendeten Richtigkeitsbegriffs in Abgrenzung etwa zu Habermas’ verengter „Gerechtigkeitsrichtigkeit“ bereits vorn, Ziff. V.2.c).
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keit. Daher ist er zunächst einmal analytisch in drei Teildiskurse auszudifferenzieren: in einen Wahrheits-, einen Wert- und einen Gerechtigkeitsdiskurs. Diese analytischen Teildiskurse müssen dabei genügend offen bleiben, damit die in ihnen angestrebten Teilaspekte der Vernunft, den spezifischen Begründungsstrukturen der Geltungsansprüche und der Struktur des Entscheidungsprozesses entsprechend, auch miteinander vermittelt werden können.
2. Die drei analytischen Teildiskurse: Wahrheits-, Wertund Gerechtigkeitsdiskurs Im nächsten Schritt seien daher die drei grundlegenden Teildiskurse, (1) der Wahrheitsdiskurs, (2) der Wert- und (3) der Gerechtigkeitsdiskurs jeweils einzeln eingeführt. Dabei wird sich zeigen, dass bei den Diskursvoraussetzungen nach Massgabe der spezifischen Begründungsstruktur des jeweils betroffenen Geltungsanspruchs unterschiedliche Akzente zu setzen sind. (1) Was Wahrheitsaussagen betrifft, die in dieser Studie der Handlungsform der Beschreibung zugeschlagen werden, so mag sich hier erst einmal die Frage stellen, ob der Diskurs dafür tatsächlich die passende Herangehensweise sein kann. Denn die objektive Welt, die es hier zu beschreiben gilt, erscheint jedem wissenschaftlichen Handeln als vorgegeben und nicht als Produkt eines diskursiven Prozesses. Die objektive Welt ist, sollte man meinen, so, wie sie ist – ganz unabhängig davon, was in irgendeinem Diskurs über sie gesagt wird. Einen solchen Einwand können wir in Wahrheitsfragen getrost offenlassen. Unser Punkt ist – hermeneutisch reflektiert – nämlich, dass uns, wenn wir als Menschen etwas über die Welt wissen wollen, nichts anderes bleibt, als unsere Erfahrung der objektiven Welt im Diskurs zu klären. Bei aller Objektivität, mit der sich uns die Welt entgegenstellen mag, ist ein Wahrheitsdiskurs für unser deskriptives Wissen über sie daher konstitutiv für unser Wissen. Der Streit zwischen Korrespondenztheorie der Wahrheit und Konsenstheorie der Wahrheit muss nicht dahingehend entschieden werden, dass es keine Korrespondenz zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung gebe. Es genügt, dass zwischen Wahrnehmung und Wissen ein Verstehensprozess stattfinden muss, der intersubjektiv abläuft und damit diskursiv zu verfassen ist. Im „Wahrheitsdiskurs“ gilt es demnach, eine möglichst exakte Beschreibung der objektiven Welt zu befördern. Dies geschieht aber auch in Diskursform, denn wir müssen uns in der Argumentation über die Welt verständigen. Zwar relativiert die objektive Welt das konstitutive Moment des Diskurses stärker als in Wert- oder Gerechtigkeitsfragen. Der „realistische Stachel“ unverfügbarer Objektivität lässt sich aus dem Wahrheitsdiskurs nicht einfach entfernen. Dennoch sind wir darauf verwiesen, all das, was uns die Welt auf dem Weg über unsere Erfahrung von sich preisgibt, in der Argumentation zu deuten. Erst die für alle durch gute Gründe ak-
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zeptable Rekonstruktion der objektiven Welt im Diskurs berechtigt zu der Annahme, dass Aussagen mit Wahrheitsanspruch gültig sind.348 Um die Diskursvoraussetzungen an den Wahrheitsdiskurs zu erfüllen, muss dafür gesorgt werden, dass die Beobachtungen der objektiven Welt einerseits einer möglichst offenen und fairen Auseinandersetzung unter den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugeführt werden, dass dieser Diskurs andererseits aber immer auch für die Überraschungen durch die objektive Welt offen bleibt. Zudem ist bereits im Wahrheitsdiskurs darauf zu achten, dass die unentrinnbare Teilnahmeposition der Beobachtenden sorgfältig reflektiert und realistisch in den Griff genommen wird sowie an den relevanten Stellen im Wahrheitsdiskurs auch zum Tragen kommt. Die Wahrheitssuche dient ja einer Wert- oder Gerechtigkeitsabsicht, weil Wissen Lebenshilfe ist. Die Beobachtungen der objektiven Welt müssen allen Personen offenstehen und für diese durchweg nachvollziehbar gehalten werden. Sodann sind die Argumentationen über das Beobachtete ebenso für alle offen zu halten und fair zu gestalten. Insbesondere müssen sowohl die Behauptungen wie die diskursiv gewonnenen Erkenntnisse für Revisionen offen bleiben, sofern bessere Beobachtungen und bessere Gründe dies nahelegen. Denn es kann nicht nur sein, dass genauere Beobachtungen und bessere Argumente jederzeit neues, besseres Wissen generieren – die Welt kann uns auch zu jeder Zeit wieder überraschen. (2) Die grundlegende Aufgabe des „Wertdiskurses“ besteht darin, die authentischen Wertvorstellungen einer Bezugsperson ungehindert aufzunehmen und nachvollziehbar zu machen, sowie die darauf bezogenen Wertargumentationen im Gesamtzusammenhang all dessen, was für die betreffende Person im Leben wichtig sein könnte, möglichst kritisch zirkulieren zu lassen. Auch hier könnte die Frage aufkommen, ob der Wertanspruch überhaupt in dem Sinn diskursfähig ist, dass er in einer Diskursgemeinschaft zur Diskussion gestellt wird – bezieht er sich doch immer auf eine bestimmte Person, deren Wertvorstellungen für sie infrage stehen. Die Empfindungen, die jemand in Bezug auf Wertfragen hat, erscheinen ja als höchstpersönlich und bestenfalls partiell kommunizierbar. Deshalb fallen auch die geäusserten Wertvorstellungen einer Person primär in deren private Zuständigkeit und scheinen keiner intersubjektiven Rechtfertigung zu bedürfen. Deshalb fragt sich, ob andere Personen zur Einlösung des Anspruchs, dass etwas für eine bestimmte Person wertvoll sei, überhaupt etwas beitragen können. Wenn wir die intersubjektive Konstituierung des menschlichen Bewusstseins bedenken, müssen wir die Frage bejahen. Denn aus hermeneutischer Perspektive ist es sogar zwingend, dass die reflexive Selbstverständigung über das eigene Leben zumindest in einer Form des Austauschs mit anderen stattfindet. Erst im verständigen-
348 Eingehend hierzu Habermas’ pragmatistisch gedeuteter Diskursbegriff der Wahrheit in Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit (1999), S. 284 f. / 286 – 295. Das wörtliche Zitat ebd., S. 288.
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den Austausch mit anderen wird die Selbstverständigung über die eigenen Gefühle, erst recht über Sinn und Zweck des eigenen Lebens überhaupt möglich. Die Wertvorstellung lässt sich somit bereits in ihrer Genese diskursiv überprüfen. Gegenstand dieser Überprüfung sind freilich nicht die originären Empfindungen, sondern die Herstellung einer Wertvorstellung aus diesen Empfindungen heraus. Denn in einem Wertanspruch gegenüber Dritten geäussert wird erst diese Vorstellung eines Werts, die persönliche Werthaltung eines Subjekts. Die Empfindung von Werten wird erst in der Form eines intersubjektiv geäusserten Anspruchs auf Anerkennung zum Gegenstand des Diskurses. Eine Wertvorstellung wird somit dadurch zum Thema eines Diskurses, dass derjenige, der sie äussert, damit gegenüber anderen einen Geltungsanspruch erhebt: Wertansprüche sind zwar (nicht-universal) immer auf eine bestimmte Person bezogen, wollen aber (universalistisch) gegenüber jedermann Gültigkeit haben.349 Dieser Anspruchscharakter macht evident, dass der Wertanspruch einer diskursiven Prüfung unterzogen werden kann: Zu vertreten, dass etwas für eine bestimmte Person wertvoll ist, heisst zu beanspruchen, dass man dies gegenüber jedermann mit guten Gründen dartun kann. Dabei kann es sogar vorkommen, dass eine andere als die Bezugsperson den Wertanspruch, der sich also nicht auf sie selbst bezieht, besser begründet als die Person, auf die er bezogen ist. Selbstverständlich gestaltet sich das insofern schwierig, als nur die betreffende Person über einen privilegierten Zugang zu ihrer eigenen Innenwelt besitzt. Allerdings kann sie sich aber erstens auch über ihre eigene Authentizität täuschen. Hier sind es die äusserlichen Manifestationen etwaiger innerlicher Empfindungen, die den Ansatzpunkt für eine interpersonelle Auseinandersetzung über die subjektive Authentizität bilden. Und zweitens lässt sich der Anspruch auf Anerkennung der eigenen Werthaltung durch die andern nur in einer interpersonellen Diskussion einlösen, deren kognitive Kritisierbarkeit sich von derjenigen des Wahrheits- und des Gerechtigkeitsanspruchs kaum unterscheidet.350 Den Besonderheiten, insbesondere dem personellen Bezug des Wertanspruchs gilt es bei der Bestimmung der entsprechenden Diskursbedingungen Rechnung zu tragen. So sollten z. B. sämtliche Wertaussagen, Zielsetzungen und -normierungen stets zu einer Bezugnahme auf die authentischen Wertvorstellungen der betreffenden Person verpflichtet werden. Ausserdem muss die Authentizität der persönlichen Haltung dieser Person wirksam geschützt und gefördert werden. Ihre Empfindung darf z. B. nicht manipuliert werden. Für den kognitiven Teil des Wertdiskurses, für den Teil also, in dem die Wertvorstellungen der betreffenden Person auf der GrundVgl. dazu bereits vorn, Ziff. VII.2.a). Auch Habermas, der den Wertdiskurs in diesem Kontext als ethisch-existenziellen Diskurs bezeichnet, meint: „Von einem Diskurs ist gleichwohl die Rede, weil auch hier die Argumentationsschritte nicht idiosynkratisch sein dürfen, sondern intersubjektiv nachvollziehbar bleiben müssen.“: Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft (1991), S. 111. 349 350
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lage vorhandener Sinnangebote kritisiert und geordnet werden, gelten sodann mehr oder weniger dieselben normativen Forderungen wie für den Wahrheitsdiskurs, auf jeden Fall aber mit der Besonderheit einer strengen Bezugnahme auf die infrage stehende Person. (3) Die grundlegende Aufgabe des „Gerechtigkeitsdiskurses“ besteht in einer fairen Normierung interpersoneller Beziehungen unter gleichmässiger Berücksichtigung der Wert- und Zielvorstellungen aller Betroffenen. Ganz im Gegensatz zum Wahrheitsdiskurs und teilweise im Gegensatz zum Wertdiskurs sind die aus dem Gerechtigkeitsdiskurs hervorgehenden Resultate originäre Diskursprodukte. Die Gültigkeit von Aussagen scheitert hier letztlich nicht – wie insbesondere im Wahrheitsdiskurs möglich – an der unverfügbaren objektiven Welt, sondern, weil Gerechtigkeit eben originär erst durch den Diskurs hergestellt wird, einzig am Misserfolg des Diskurses.351 Bei der Regulierung des Diskurses ist dementsprechend sorgfältig darauf zu achten, dass die Bedingungen der interpersonellen Generierung von Gerechtigkeit so gestaltet sind, dass die Resultate für alle Beteiligten (gleichermassen) akzeptabel sind. Das allgemeine Gültigkeitserfordernis der Zustimmungs- oder Anerkennungswürdigkeit erhält hier den emphatischen Sinn einer Zustimmung, die den berechtigten Ansprüchen aller Betroffenen würdig ist, gerecht wird. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Diskursidee ihren eigentlichen Ursprung und ihren Schwerpunkt bis heute in der Gerechtigkeitstheorie hat. Die allgemeinen Gründe, die sie zur Problematik der Einlösung von Geltungsansprüchen anbringen kann, rechtfertigen es, wie gesagt, jedoch, sie auch für eine allgemeine Diskurstheorie der Vernunft und insbesondere der Richtigkeit von Entscheidungen zu verwenden. Nicht zuletzt angesichts dieser Theoriegeschichte muss sich aber auch die Diskurstheorie der Gerechtigkeit konkret bewähren. Ihre Überzeugungskraft und die Tauglichkeit des Gerechtigkeitsdiskurses für die Einlösung der Gerechtigkeitsforderung hängen dabei wieder entscheidend von der Ausgestaltung der Diskursbedingungen ab. Sie müssen die Fairness der gegenseitigen Auseinandersetzung in kontrollierbarer Weise sicherstellen. Gefordert ist daher eine fundamentale Gleichberechtigung aller vom Gerechtigkeitskonflikt Betroffenen, was auch die Chance für sämtliche Betroffenen einschliessen muss, überhaupt am Diskurs teilzunehmen. Zudem muss den Beteiligten ein ausreichendes Mass an Gelegenheit – und wo dies allenfalls durch Schwäche begründet ist, die nötige Unterstützung – gegeben werden, damit sie die Wichtigkeit von durchkreuzten Lebensplänen und die Gravität von persönlichen Verletzungen wirkungsvoll mitteilen können. Auf der Seite der Diskurspartner ist jeweils sicherzustellen, dass solche Rufe nach Gerechtigkeit nicht ungehört bleiben, sondern – mit gleich grossen Chancen auf Entgegnung – disku351 Vgl. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit (1999), S. 295, wobei, anders, als es sich bei Habermas andeutet, der Dissens nicht unmittelbar als Misserfolg interpretiert werden kann. Auch Kompromisse und Dissense haben ihren Platz im Gerechtigkeitsdiskurs, solange die gerechtigkeitskonstitutiven Diskursbedingungen gewahrt bleiben.
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tiert werden. Schliesslich muss auch ein Modus gefunden werden, wie das Verfahren des gegenseitigen Ausgleichs von Gerechtigkeitsansprüchen auf faire Weise zu einem Ende kommt.
3. Diskursübersetzung und Diskursintegration Die drei erläuterten grundlegenden Diskurse bilden die analytischen Grundsteine eines Diskurses über rational und interrational richtige Entscheidungen. Den drei in jeder Entscheidung massgeblichen Geltungsansprüchen können damit nun real institutionalisierbare Verfahren zugeordnet werden, also konkret durchführbare Diskurse, in welchen die Geltungsansprüche überprüft werden können. Die doppelte Anforderung an die Diskurstheorie besteht jetzt darin, mindestens die grundsätzlichen Bedingungen anzugeben, unter denen die jeweiligen Diskurse sowohl Rationalität wie Interrationalität herstellen können: Was angesichts dieser Anforderung in analytischer Hinsicht noch erforderlich ist, ist der Ansatz der „Diskursübersetzung“. D. h., dass die Gegenstände der jeweiligen Diskurse auch in den anderen Diskursen verständlich gemacht werden müssen. Die Bedeutung der Gegenstände eines Diskurses muss auch in den jeweils benötigten anderen Diskursen deutlich gemacht werden. Betonung verdient diese Forderung deshalb, weil es sich bei „den Diskursen“ nicht einfach um irgendwelche nach Belieben aktivierbare Diskussionsplattformen handelt, sondern letztlich immer um sich ständig in Gang befindliche reale Streitgeschichten, mit realen Diskussionen, Themen, verschiedenen methodischen Ansätzen und v. a. auch institutionellen und personellen Prägungen, kurz: um lebendige Diskurswelten. Die Thematisierung eines aus einem anderen Diskurs stammenden Problems mag es daher nicht immer leicht haben. Die Übersetzungsaufgabe, die hier zwischen den Diskursen zu leisten ist, besteht also mehr in einem Kampf um Anerkennung (Honneth352) als in der schlichten Aufgabe, „dasselbe“ in einer anderen Sprache zu wiederholen. Das Über-Setzen in eine andere Diskurswelt verlangt, sich mit seinen Ausgangsfragen auf die Sichtweise der anderen Welt einzulassen. Mit dem Wechsel der Sprache muss auch der Wechsel in eine andere Diskurskultur gelingen. Wer z. B. vom Wahrheits- zum Gerechtigkeitsdiskurs wechselt, muss sich bewusst machen, dass nun sämtliche Bemühungen um eine möglichst exakte Beobachtung zwar immer noch relevant bleiben, das Schwergewicht jetzt jedoch auf ein ernsthaftes, zumal noch reziprok auszugleichendes Einlassen auf echte, subjektiv begründete Wertaussagen zu legen ist. Und dennoch soll mit dem Über-Setzen und dem Rück-Übersetzen eine Argumentationslinie beibehalten werden, die zur Entscheidung führt. Die Diskursübersetzung soll also nicht Selbstzweck bleiben, sondern einer „Diskursintegration“
352
Honneth, Kampf um Anerkennung (1994), insb. S. 274 – 280.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
dienen. Ziel ist es, die in den verschiedenen Diskursen geführten Argumentationen zu einem kohärenten Begründungskontext zusammenzuführen, mit dem die richtige Entscheidung unter allen relevanten Aspekten in umfassender Weise überzeugend getroffen werden kann. Überzeugend darzulegen, wie genau dies unter den Bedingungen der modernen, rational gespaltenen Wissenschaft vonstatten gehen muss, ist die Aufgabe des Rests der Studie. Es wird hier aufzuzeigen sein, wie die heute real stattfindenden wissenschaftlichen Diskussionen über Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit so einzurichten sind, dass sie einen integrativen interrationalen Diskurs über richtige Entscheidungen bilden.
4. Zur Kritik an der Diskurstheorie Von einigen Seiten wird bestritten, dass der Anspruch auf Gerechtigkeit überhaupt eingelöst werden kann – auch nicht im Wege eines Diskurses. Es sei an diesem Punkt daher die Gelegenheit genutzt, die Diskurstheorie stellvertretend als Diskurstheorie der Gerechtigkeit grundsätzlich zu verteidigen. Es sei dabei nur auf das im vorliegenden Kontext Wichtigste eingegangen. Was zunächst den fundamentalen Angriff auf die Einlösbarkeit des Gerechtigkeitsanspruchs betrifft, muss mit Habermas nur ein wahrheits- oder erkenntnisanaloger Status des Gerechtigkeitsproblems gefordert werden.353 Mit der nur wahrheitsanalogen Bestimmung des Gerechtigkeitsanspruchs wird einerseits die überzogene Erwartung von Kritikern konterkariert, Gerechtigkeit müsse quasi „messbar“ nachvollzogen werden können. Dieser verfehlten Erwartung konnte vorne bereits im Wege einer präzisen Analyse der Begründungsstruktur des Gerechtigkeitsanspruchs begegnet werden. Die guten Gründe liegen innerhalb einer Gerechtigkeitsargumentation (in erster Linie) nicht im Nachweis bestimmter Fakten, sondern in der Überzeugungskraft von Gerechtigkeitsnormen, die letztlich in der – diskursiv vermittelten – gleichmässigen Verteilung von gegenseitigen Zumutungen gründet. Nichts Anderes gilt letztlich auch für die Begründung von Geltungsansprüchen auf Wahrheit im Wahrheitsdiskurs. Andererseits wird die anspruchsvolle Forderung nach begründbarer Gültigkeit aufrechterhalten. Der Diskurs ist dabei das zugleich realistische wie genügend anspruchsvolle Medium, mit dem Gerechtigkeitsansprüche eingelöst werden können. Die schwergewichtige Verlagerung der Gerechtigkeitsbedingungen auf die Verfahrensvoraussetzungen des Diskurses entlastet den Diskurs vom Erfordernis einer „messbaren“ Pseudo-Wissenschaftlichkeit normativer Argumente. Die Fokussierung auf die Bedingungen des Diskurses begeht dabei auch nicht den Fehler, dann auf der Metaebene Zuflucht bei einer (von den entsprechenden Kritikern offenbar vorausgesetzten) ontologisch verfügbaren Objektivität zu suchen. 353 Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit (1999); ders., Diskursethik (1983), S. 67 – 86; ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991) S. 130 f.
IX. Diskurstheorie wissenschaftlicher Entscheidungen
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Indem die Diskursbedingungen selbst wieder zur Diskussion stehen, bilden sie lediglich (abstraktere) Instanziierungen der regulativen Idee der prozeduralen Vernunft, die uns auf nachmetaphysischem Begründungsniveau als einzige zur Verfügung steht. Aus diesem Grund entgeht die Diskurstheorie auch dem Vorwurf, sie könne eine dogmatische „Letztbegründung“ nicht einlösen. In der Fassung, die in dieser Studie Verwendung finden soll, will sie das gar nicht. Ihr Ziel ist lediglich, die kommunikativ vermittelte Praxis menschlicher Handlungen vernünftig zu rekonstruieren. Geboren aus einem kritischen hermeneutischen Selbstverständnis soll sie „von innen her“ arbeiten und sich zugleich auch jederzeit „von aussen“ irritieren lassen. In dieser Spannung stellt sie sich daher bereitwillig unter die Voraussetzung ihrer eigenen Widerlegbarkeit, wohlwissend freilich, dass dies wiederum nur im Diskurs geschehen kann. Dieser Zirkelschluss ist kein logischer, sondern ein hermeneutischer.
5. Beispiel Die Studienkommission Finanzmarktregulierung hat den wissenschaftlichen Diskurs nach den Kriterien der Diskursethik zu gestalten, indem sie ihre Arbeitsweise auf bestmögliche intersubjektive Verständigung unter den Mitgliedern ausrichtet. Sie muss versuchen, Erkenntnis als möglichst einstimmige Entscheidung herzustellen. Dazu hat sie folgende Schritte zu unternehmen: Zunächst muss sie je einen analytischen Diskurs zu Wahrheitsfragen, Wertfragen und Gerechtigkeitsfragen führen. Z. B. prüft sie unter Mitwirkung aller in ihr vertretenen Disziplinen und Schulen, ob es faktisch zutrifft, dass die Banken Buchgeld „aus dem Nichts“ schöpfen. Sodann hat sie – ebenfalls anhand aller einschlägiger Rationalitäten – zu prüfen, welchen Wert dieser Geldschöpfungsprozess für die Banken, die Wirtschaft und die Allgemeinheit hat. Schliesslich soll sie sich fragen, ob dieser Geldschöpfungsprozess für alle Betroffenen gerecht ist. Sodann muss sie die drei Teildiskurse integrieren, indem sie die Teilergebnisse in einander übersetzt. Alle Argumente für eine bestimmte Entscheidung müssen sich zugleich als wahr, werthaltig und gerecht ausweisen können. Z. B. darf es der Kommission nicht genügen, anzuerkennen, dass die Banken tatsächlich Buchgeld schöpfen. Sie wird abzuwägen haben, welchen Nutzen oder Schaden dies für die einzelnen Betroffenen bringt. Schliesslich wird sie zu beurteilen haben, ob diese Nutzenund Schadensverteilung als gerecht begründet werden kann. Erst dann hat sie ein Wissen über die Buchgeldschöpfung hergestellt, aus dem sie ihre Schlussfolgerungen ziehen kann. Diese Diskursintegration wird sie nur schaffen, wenn sie zu diesem Zweck richtig verfasst ist (sowohl organisatorisch wie methodisch und nach inhaltlichen Grundsätzen; dazu nun nachfolgend, X.).
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
X. Eine interrationale Verfassung des wissenschaftlichen Diskurses Jeder konkrete Richtigkeitsdiskurs bedarf sowohl einer formellen, wie einer methodischen und einer materiellen Verfassung: Formell sind die organisatorischen und methodischen Vorgaben des Diskurses zu bestimmen (institutionelle Strukturen und Prozesse, methodische Argumentationsstrukturen und -abläufe), materiell geht es um ein inhaltliches Argumentarium guter Gründe im Diskurs.
In den vorangehenden Kapiteln haben wir die fünf Voraussetzungen einer Theorie des wissenschaftlichen Entscheidens zusammengetragen: Richtigkeit als wissenschaftliches Kriterium der Vernunft (V.) – Interrationalität als Ziel wissenschaftlicher Vernunft (VI.) – die drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit (VII.) – integrativer Entscheidungsprozess (VIII.) – Diskurstheorie wissenschaftlicher Entscheidungen (IX.). Nun geht es darum, diese Elemente zusammenzuführen und daraus das Modell einer Verfassung der konkreten wissenschaftlichen Diskurse zu entwickeln.
1. Voraussetzungen Die bisherigen Grundlagenreflexionen haben Folgendes ergeben: Nachdem das richtige Entscheiden in Problemsituationen gleichermassen als Notwendigkeit wie als normative Aufgabe vor Augen geführt worden war, musste kritisch festgestellt werden, dass die moderne Wissenschaft in ihrer Aufgabe einer vernünftigen Anleitung dieser Entscheidungen versagt, weil sie in der heutigen Form zu spezialisiert ist und den Blick auf das Ganze scheut. Es galt daher, einen neuen Ansatz für gültige Wissenschaftlichkeit zu suchen. Den Ausgangspunkt dafür bildete die vernunfttheoretische Überlegung, dass vernünftige Entscheidungen sowohl die Bedingung der Rationalität als auch diejenige der Interrationalität erfüllen müssen. Es konnte dann gezeigt werden, welchen grundlegenden Vernunftdimensionen Entscheidungen genügen müssen und wie sie im Prozess der Herstellung von Entscheidungsnormen miteinander verschränkt sind. Die diskurstheoretischen Überlegungen haben schliesslich die grundsätzlichen Bedingungen aufgezeigt, unter denen diese Anforderungen an vernünftige Entscheidungen praktische Wirklichkeit werden können. An diesem Punkt sind die idealen Gedanken zur Herstellung vernünftiger Entscheidungen nun wieder an die reale Ausgangslage des unzureichenden Wissenschaftsbetriebs anzuschliessen. Die Idee eines interrationalen Diskurses über die Richtigkeit von Entscheidungen soll einen Weg anbieten, wie die Beschränkungen der modernen Wissenschaft aufgebrochen und die entscheidungsrelevanten Beiträge der verschiedenen Wissenschaftlerinnen, Schulen und Disziplinen auf faire Weise integriert werden können. Ziel ist die Rekonstruktion eines Diskursverfahrens, in dem die verschiedenen Rationalitäten so an einem Diskurs beteiligt werden, dass
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sie den strukturellen Voraussetzungen richtiger Entscheidungen gemeinsam gerecht werden. Die aus solchen Diskursen resultierenden Entscheidungen sollen dann die Vermutung umfassender, d. h. rationaler und interrationaler Vernünftigkeit für sich haben. Die angestrebte Interrationalität einer wissenschaftlichen Entscheidung muss jeweils mit Blick auf einen konkreten Kontext und eine praktische wissenschaftliche Aufgabe verfasst werden. Es gilt somit, das ideale Projekt richtiger wissenschaftlicher Entscheidungen praktisch durchzuführen. Dazu muss es als Diskurs institutionalisiert werden. Die Idee der interrationalen Richtigkeit verlangt nach einem „interrationalen Diskurs über die Richtigkeit von Entscheidungen“. Der wissenschaftliche Dialog muss die Qualität eines Diskurses haben, damit er die Chance hat, vernünftige Ergebnisse zu erzeugen. Die Forderung nach „Interrationalität“ der richtigen Entscheidung bzw. der Entscheidungsrichtigkeit verschiebt sich damit auf die Forderung nach Interrationalität des Verfahrens zur Herstellung solcher Entscheidungen. Die Aufgabe interrationaler Richtigkeit muss darin bestehen, die in den verschiedenen persönlichen Denkweisen, Schulen und Disziplinen beheimateten Rationalitäten und Logiken in einen interrationalen Diskurs einzubringen, der an den institutionellen, aber auch substanziellen Grenzen der eingespielten Einzel-, schulischen und disziplinären Diskurse nicht Halt macht. Die wichtigsten Bedingungen für ein Gelingen dieses Anspruchs sind: eine für alle Beteiligten verständliche, mindestens zumutbar erlernbare Sprache; Grundstrukturen richtiger Entscheidungen, die von allen anerkannt werden können; ein Forum fairer gegenseitiger Verständlichmachung und Verständigung; Offenheit für den jederzeitigen Rückgriff auf die rationalen Teilforen.
2. Die Verfassung des wissenschaftlichen Diskurses Der wissenschaftliche Diskurs soll sich durch die Zustimmungswürdigkeit seiner Ergebnisse legitimieren. Damit stellt sich freilich die Frage, wie ein solcher Diskurs ausgestaltet sein muss, hängt die Zustimmungswürdigkeit der Ergebnisse eines solchen Diskurses doch massgeblich davon ab, wie er eingerichtet ist. Von den spezifischen Eigenheiten in den spezialisierten Einzeldiskursen ausgehend, wird es darum gehen, Diskursanforderungen zu entwerfen, die nicht einfach nur zur richtigen Entscheidung führen, sondern dies gerade deshalb tun, weil sie sämtlichen Beteiligten auf einer für alle akzeptablen Grundlage die faire Chance zur Mitgestaltung geben. Dies führt zur Idee einer „Verfassung des interrationalen Diskurses über die Richtigkeit wissenschaftlicher Entscheidungen“. „Verfassung“ meint in diesem Zusammenhang die normative Ausgestaltung der institutionell, methodisch und inhalt-
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lich zu regelnden Anforderungen eines Diskurses, aus dem richtige Entscheidungen resultieren sollen. „Normativ“ ist dabei durchaus im vollen Sinn des Wortes, also auch mit dem Bezug zur Gerechtigkeit zu verstehen. Denn die Forderung nach Interrationalität stellt eine Zumutung dar, die nur dank dem Versprechen der Gerechtigkeit tragbar ist. Die Forderung an die verschiedenen wissenschaftlichen Akteure, nicht nur in ihren rational spezialisierten Kontexten zu wirken, sondern auch aus ihnen herauszutreten und Wissenschaft auch interrational zu praktizieren, ist in sich bereits eine Zumutung. Das gilt in noch stärkerem Mass hinsichtlich der Konsequenzen, die ein solcher interrationaler Diskurs für die Beteiligten untereinander haben kann. Der interrationale Diskurs ist nicht als zusätzliches isoliertes Forum zu betrachten, das den rationalen Foren gleichsam als Abstellgleis dient, auf dem mögliche rationalitätstranszendierende Überlegungen einfach abgestellt werden können. Vielmehr ist er ein ernsthafter, integrativer Bestandteil des wissenschaftlichen Diskurses (mit allen Implikationen). Daher bleibt er für die bestehenden spezialisierten Diskurse nicht ungefährlich. Theoreme, die in einzelnen persönlichen, schulischen und disziplinären Denkweisen für selbstverständlich und unumstösslich gehalten werden, können sich in der riskanten Interaktion mit Vertreterinnen anderer Rationalitäten als fragwürdig, sogar als falsch erweisen. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Relation „Antwort – Antwort“ in den Konstellationen, in denen die Beteiligten vor dem Hintergrund einer bestimmten Fragestellung miteinander um die richtige Antwort streiten, sondern auch hinsichtlich der Relation „Frage – Frage“. Zwar geht es hier strukturell nicht darum, „Recht“ zu bekommen, sondern darum, sich verständlich zu machen und die anderen zu verstehen. Aber auch hierbei können Situationen der Zumutung entstehen: durch die Unbequemlichkeit etwa, anderen seine doch so selbstverständliche Welt erläutern zu müssen oder etwa dadurch, auch noch die doch so fernliegende Sicht der anderen anhören und verstehen zu müssen. Gerechtigkeitsprobleme also allerorten. Entscheidend wird bei der Verfassung des interrationalen Diskurses sein, die fundamentale Gleichberechtigung zwischen den Beteiligten in den verschiedenen, komplizierten Kontexten der Herstellung richtiger Entscheidungen aufrecht zu erhalten und zugleich zu einer für alle akzeptablen Entscheidung zu gelangen. Diese Anforderungen gelten auch für die Konzipierung der Verfassung eines interrationalen Diskurses selbst. Gültig (vermutungsweise gültig) sind die Anforderungen des interrationalen Diskurses erst, wenn sie für alle Beteiligten, und d. h. für alle, die von einer wissenschaftlichen Lösung von Entscheidungsproblemen irgendwie betroffen sind (und wer wäre das nicht?), aus guten Gründen akzeptabel (zustimmungswürdig) sind – eine äusserst weitreichende Gültigkeitsbedingung. Eine Chance, diese Gültigkeitsbedingung erfüllen zu können, eröffnet dabei der diskurstheoretische Ansatz, der für die Konzipierung der Verfassung interrationaler Diskurse zur Anwendung kommt. Dem Diskursansatz entsprechend wird sich diese
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Verfassung schwergewichtig auf die diskursiven Bedingungen des Zustandekommens richtiger Entscheidungen beschränken. Sie kommt aber nicht ohne einen materiellen Teil aus. Die Verfassung der interrationalen Diskurse gliedert sich in die folgenden Bereiche: (1) die formelle Verfassung, (2) die methodische Verfassung und (3) die materielle Verfassung: (1) „Formelle Verfassung“: Die formelle Verfassung soll die Strukturen und Prozesse eines wissenschaftlichen Diskurses institutionalisieren. Ziel ist, für die Entscheidungsnormen, die aus dem interrationalen Diskurs hervorgehen, die Vermutung umfassender Vernünftigkeit zu begründen. Eine wesentliche Herausforderung für die Gestaltung der formellen Verfassung besteht dabei darin, einerseits bereits den konkreten Weg erkennen zu lassen, wie richtige Entscheidungen im interrationalen Diskurs herzustellen sind, andererseits aber auch noch hinreichend allgemein zu bleiben, um in beliebigen Situationen Anwendung zu finden. Welche äusseren Strukturen sind für den Diskurs einzurichten und wie sind die Prozesse in und zwischen diesen Strukturen zu gestalten? Zu fordern ist hier z. B. die Gleichberechtigung aller Beteiligten und die Symmetrie der Strukturen, in welchen entschieden wird. Soweit Regeln der Diskursverfassung die Freiheit der unbegrenzten Äusserung begrenzen (z. B. aus Zeitgründen), müssen diese Einschränkungen sich auf verallgemeinerbare Gründe stützen und alle gleich oder doch verhältnismässig treffen. Die Prozesse eines konkreten Diskurses (z. B. die Tagesordnung einer Ratssitzung), nach welchen ein Diskurs verfasst wird, sollen das Vertrauen aller Beteiligten fördern und ihre Zustimmung verdienen. Die Sitzungsleitung und der Diskussionsverlauf sowie die Durchführung allfälliger Abstimmungen soll die Anerkennungswürdigkeit des Diskursergebnisses gewährleisten. Wichtig ist auch die Gewährleistung der Verbindlichkeit (der Geltung) der Resultate, die aus dem Diskurs hervorgehen. Es bedarf klarer Vorgaben darüber, unter welchen prozessualen Bedingungen Diskursentscheidungen Geltung beanspruchen dürfen und unter welchen Bedingungen sie wieder revidiert werden können. Die zuletzt genannten Aspekte der Verbindlichkeit lassen sich im Prinzip der „Stufengerechtheit“ zusammenführen. Es schützt das Vertrauen in einmal getroffene Entscheidungen und besagt, dass konkrete Entscheidungen erst dann normative Geltungskraft entfalten, wenn dadurch nicht höherrangige Handlungsnormen verletzt werden, die in höherrangige Diskursen hergestellt worden sind, bzw. nicht die Diskursvoraussetzungen erfüllt sind, welche für die Generierung der konkreten Entscheidungsnorm erfüllt sein müssen. Die „Stufen“ des wissenschaftlichen Diskurses ergeben sich zum einen aus der verbindlichen Diskursgeschichte einmal institutionalisierter Entscheidungsnormen354, zum andern aus einer echten Rangordnung nach allgemeinen Grundregeln und spezielleren Regeln des wissenschaftlichen Entscheidungsprozesses. Eine solche Rangordnung kann aus Gründen der Komplexität 354
Dazu bereits der Exkurs vorn, Ziff. VIII.4.
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des Entscheidungsproblems als solchem oder dessen institutioneller Bewältigung (Gewaltenteilung) nötig sein. Bei komplexen wissenschaftlichen Problemen suchen die Beteiligten auf höchster Stufe nach den Strukturen und Prozessen, in denen entschieden wird, wie über die Diskursregeln zu konkreten wissenschaftlichen Problemen zu befinden ist. Hier wird die konkrete Diskursverfassung selbst gestaltet. Auf mittlerer Stufe wird anhand dieser Verfassungsregeln erörtert, wer welche Fragen in den Problemlösungsdiskurs einbringen darf. Hier wird der konkrete Diskurs zu einem bestimmten Problem organisiert. Auf unterster Stufe wird der konkrete Diskurs dann über das zu lösende Problem praktisch durchgeführt. Dabei bedürfen freilich die Diskurse aller Stufen sowohl einer formellen Verfassung, welche die Fairness der Auseinandersetzung gewährleistet, einer methodischen Verfassung zur Strukturierung der Argumente wie einer materiellen Verfassung, welche die inhaltlichen Grundfragen anspricht. Das gilt auch für den Diskurs höchster Stufe (also jenen, der die Diskursverfassung selbst gestaltet). Die hier vorgeschlagenen Verfassungsprinzipien (aller drei Aspekte: des formellen, methodischen und des materiellen) verstehen wir als allgemeine Grundregeln sämtlicher Konkretisierungen interrationaler wissenschaftlicher Diskurse. Darin liegt freilich kein Dogmatismus, solange akzeptiert wird, dass alle wissenschaftlichen Diskurse – auch jene über die oberste Verfassung wissenschaftlicher Auseinandersetzung – einer demokratischen Legitimation bedürfen. Die Institutionen der Wissenschaft (z. B. Universitäten, Forschungsinstitute oder Fachvereinigungen) sind rechtlich und oft finanziell den demokratisch bestellten Behörden verantwortlich. Der demokratische Verfassungsstaat bildet mit seinen Grundrechten und Organisationsprinzipien die übergeordnete Diskursstufe aller wissenschaftlichen Diskursverfassungen. Es ist letztlich an ihm, auch über die (hier vorgeschlagenen) Grundregeln des wissenschaftlichen Diskurses zu befinden. Als Kriterien der formellen, organisatorischen Verfassung dienen danach die folgenden vorne entwickelten Grundsätze der Interrationalität: Die Diskursprinzipien der Gleichberechtigung und der Fairness der Strukturen und Verfahren, in denen argumentiert und entschieden wird, einschliesslich das Prinzip der Stufengerechtheit; das Prinzip der Pluralistischen Grundsätzlichkeit in seinem Aspekt der Inklusion von Vertretern aller Betroffenen Rationalitäten in das Entscheidungsverfahren.
(2) „Methodische Verfassung“: Zusätzlich zur Verfassung der institutionellen Strukturen und Prozesse bedarf es auch einer Verfassung der Argumentation als solcher (also nicht nur der Strukturen und Prozesse, in denen die Argumentation stattfinden soll). Auch die Argumentation im Diskurs als solche muss verfasst werden. Die Auseinandersetzung um Fragen und Antworten zum Problem, das zu lösen ist, muss sich in methodische Strukturen und Abläufe einfügen lassen, damit die Chance auf Vernünftigkeit gewahrt bleibt. An welchen grundlegenden Denkstruktu-
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ren ist daher die Argumentation zu orientieren und wie soll die strukturierte Argumentation methodisch ablaufen? Den Diskursteilnehmenden sind methodische Denkstrukturen und Abläufe an die Hand zu geben, nach denen sie ihre Argumente ordnen und gegenseitig einer nachvollziehbaren Kritik unterziehen können. Z. B. müssen die Argumente in ihrer Fragen- und Antwortdimension analysiert, Übersetzungsprozesse und Auseinandersetzungen unterschieden, oder es muss sichergestellt werden, dass die vorgebrachten Argumente das gesamte Spektrum der relevanten Geltungsansprüche (auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit) abdecken. Als methodische Kriterien dienen die folgenden vorne entwickelten Grundsätze der Interrationalität: die gleichrangige Beachtung und Integration der drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit, Ausgleichung im Konflikt zwischen Wert und Gerechtigkeit; die systematische Unterscheidung des Verhältnisses zwischen Frage und Frage von jenem zwischen Antwort und Antwort und die strukturelle Vorordnung des ersten Verhältnisses; das Prinzip der Pluralistischen Grundsätzlichkeit mit seinen Aspekten der Inklusion aller zumindest in einer Vernunftdimension begründbaren Argumente (Pluralismus) einerseits, der Verpflichtung aller Argumentierender auf möglichste Verallgemeinerung der eingebrachten Gründe (Grundsätzlichkeit) anderseits.
(3) „Materielle Verfassung“: Hier geht es um ein inhaltliches Argumentarium guter Gründe im Diskurs („Dogmatik“): Welche Argumente haben sich im bisherigen Diskurs bewährt, und welche bereits getroffenen Entscheidungen dürfen als vernünftig gelten? Die materielle Verfassung verfasst nicht mehr eigentlich den Diskurs, sondern liefert erste Ansätze dafür, welche inhaltlichen Entscheidungsnormen aus dem interrationalen Diskurs resultieren sollen. Vor dem diskurstheoretischen, prozedural ansetzenden Hintergrund des Entscheidungsprozesses versteht sich, dass die hier vorgeschlagenen Normierungen nur sehr zurückhaltend ausgearbeitet werden können. Die materielle Verfassung eines Diskurses darf sich erst aus den Antworten ergeben, die sich in früheren Diskursen (gleicher oder höherer Stufe) in zustimmungswürdiger Weise (d. h. unter Beachtung der formellen und methodischen Verfassungsregeln) ergeben haben. Gleichwohl darf und soll der Diskurs auch zu den materiellen Grundfragen innerhalb der unter (1) und (2) genannten formellen und methodischen Vorgaben geführt werden. Aus einer bewährten Diskurspraxis können sich allgemein anerkannte Argumente oder Kataloge von Argumenten ergeben, welche ohne triftige Gegengründe auch für spätere Diskurse als materiell gültig anzuerkennen sind. Sie müssen freilich methodisch sorgfältig auf die jeweilige Problemsituation übertragen werden.
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Die materielle Verfassung will inhaltliche Vorschläge für Richtigkeitsentscheidungen mit interrationaler Gültigkeit machen. Dieser Gültigkeitsanspruch bewegt sich im Spannungsfeld von Abstraktion und Konkretion. Denn die materielle Verfassung erhebt zwar den Anspruch auf allgemeine Zustimmung, kann aber nur für je konkrete Diskurse bestimmt werden. Sie wird zwar auf der Grundlage der soeben genannten methodischen Kriterien einige Maximen der Wissenschaftlichkeit aufnehmen, die für alle Diskurse Geltung beanspruchen. Das Gleiche gilt für allgemein anerkannte moralische oder rechtliche Grundsätze wie die Beachtung fundamentaler Menschenrechte oder das Fairnessprinzip. In dieser Hinsicht wird sie relativ abstrakt bleiben müssen. Sie wird aber auch diese allgemeingültigen Inhalte für den eigenen Bereich konkretisieren müssen und praktische Handlungsgrundsätze für den fraglichen Problembereich normieren. In einer Universität, an einem Kongress oder in einem wissenschaftlichen Gremium der Politikberatung werden unterschiedliche Handlungsgrundsätze erforderlich sein. Als inhaltliche Kriterien dienen die folgenden vorne entwickelten Grundsätze der Interrationalität: die Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit in ihren für den konkreten Diskurs ausgeprägten materiellen Richtlinien (etwa Verfassungsnormen, wissenschaftliche Standards oder Standesregeln); das Prinzip der Pluralistischen Grundsätzlichkeit in den problembezogenen Ausprägungen seiner beiden Dimensionen des Pluralismus und der Verallgemeinerungsfähigkeit (etwa die Wissenschaftsfreiheit als Garant des Pluralismus im wissenschaftlichen Diskurs, die Universalisierung von Menschenrechten als Garant der Grundsätzlichkeit).
Konkret werden sich die Konzepte einer formellen und materiellen Verfassung immer in einem bestimmten Kontext realisieren müssen. Wissenschaftliche Diskurse stehen z. B. im Umfeld einer Universität, eines Spitals, eines Parlaments oder in der allgemeinen Öffentlichkeit. Je nachdem werden unterschiedliche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um den je spezifisch drohenden Verzerrungen der Diskurse zu begegnen. Diese Verzerrungen wirken in die Auseinandersetzung der Wissenschaft und ihrer Einzelvertreter, Schulen und Disziplinen hinein. Diese Rahmenbedingungen können durch Übereinkunft unter den Beteiligten oder durch rechtliche oder administrative Regulierung hergestellt werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sollen Qualitätskriterien für diese Regulierung bilden. Als Muster für die Verfassung eines konkreten wissenschaftlichen Diskurses soll das hier dargestellte Schema dienen: Den äusseren Rahmen bildet die formelle Verfassung mit den Strukturen und Prozessen des Diskurses. Darin bewegt sich die methodische Verfassung der Denkstrukturen und Argumentationsabläufe im Diskurs.
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Zuinnerst entwickelt sich die materielle Verfassung, welche bewährte und zustimmungswürdige inhaltliche Grundsätze für die zu treffende Entscheidung abgibt.
Wie sollen die Prozesse in und zwischen den Strukturen ablaufen?
Welche Strukturen?
Welche Denkstrukturen?
Welche Argumentationsabläufe? aller
„
Was ist konkret zu tun? Welchen Inhalt haben die Entscheidungsnormen?
“
Welche bisherigen Ergebnisse bewähren sich? Welche neuen Lösungen braucht es?
Abbildung 11: Die Verfassung des interrationalen Diskurses
3. Beispiel Die Studienkommission Finanzmarktregulierung und ihr Entscheidungsprozess sind organisatorisch, methodisch und inhaltlich so zu verfassen, dass die gestellte wissenschaftliche Aufgabe richtig erfüllt werden kann: (1) Formelle Verfassung: Stellung nach aussen: Die Kommission muss gegenüber dem auftraggebenden Departement, aber auch gegenüber externen Einflüssen aus Politik und Wirtschaft unabhängig sein. Es dürfen keine Vorgaben oder Weisungen bestehen, welche den Diskurs innerhalb der Kommission verzerren können. Der Kommission einen fairen Rahmen zu setzen ist zwar zunächst Aufgabe des Departements. Die Kommission muss ihre Rahmenbedingungen jedoch nach wissenschaftlichen Kriterien kritisch prüfen dürfen. Je nachdem muss die Kommission mit dem Departement (oder sogar mit den politischen Behörden) einen übergeordneten Diskurs darüber führen. Zusammensetzung: Die Kommission muss personell so zusammengesetzt sein, dass alle für den Auftrag relevanten Rationalitäten vertreten sind. Es genügt somit nicht, verschiedene Disziplinen vertreten zu lassen (z. B. durch Ökonomen, Politikwissenschaftler, Betriebswirtschaftler (insb. Bank- und Finanzwissenschaftler) und
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Juristen). Zu unterscheiden ist auch zwischen den verschiedenen Rationalitäten von Monetaristen, Keynesianern, Mainstream-Ökonomen und Finanzmarktkritikern oder von Vertretern unterschiedlicher wirtschaftsethischer Ansätze. Bei den Juristen kann es z. B. entscheidend sein, ob sich ein Aktienrechtler oder ein Verfassungsrechtler äussert, weil sie oft zugleich andere Werte oder Gerechtigkeitsnormen vertreten. Entscheidend ist, dass die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit in allen normativen Ausrichtungen zum Zuge kommen. Die gebotene Diversität kann etwa dadurch verletzt sein, dass Frauen fehlen (gerade in Finanzmarktfragen ist z. B. erwiesen, dass Diversity Risiken limitiert). Nötigenfalls sind für bestimmte Aspekte externe Experten hinzuzuziehen. Ein inhaltlicher Konflikt zwischen Werten oder zwischen diesen und Gerechtigkeitsnormen wird unterschiedlich beantwortet, je nachdem, welchen Erfahrungsbereich die Kommissionsmitglieder vertreten: Unternehmensorientierte Teilnehmende werden eher die privaten Gewinnchancen betonen, Mitglieder mit Verwaltungs- oder mit Non-Profit-Erfahrung eher die Risiken für die Öffentlichkeit. Geschäftsordnung und Verfahren: Rechte und Pflichten der Mitglieder und des Vorsitzes sind nach bewährten parlamentarischen Regeln der Deliberation zu gestalten. Die diskursethischen Grundsätze eines fairen Meinungsbildungsprozesses sind möglichst weitgehend zu verwirklichen. (2) Methodische Verfassung: Wissenschaftlichkeit: Die Grundregeln der Wissenschaftlichkeit aus Philosophie, Wissenschaftstheorie und Verfassungsrecht bilden die Voraussetzung für den fairen Diskurs unter den Mitgliedern der Kommission. Denkstrukturen: Jedes Thema ist in allen drei Vernunftdimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit zu behandeln. Zu jeder Frage sind zunächst alle vertretenen Rationalitäten gleichberechtigt zur Geltung zu bringen. Sodann ist darüber eine interrationale Argumentation zu führen. Argumentationsabläufe: Jede rationale Argumentation muss sich der interrationalen Bewährung stellen. Zu jeder Argumentation ist zunächst die Fragestellung verständlich zu machen (d. h. von ihrer ursprünglichen Rationalität in die anderen Rationalitäten zu übersetzen), bevor über die möglichen Antworten auf die Frage gestritten wird. Bei Normkonflikten zwischen der Wert- und der Gerechtigkeitsdimension ist zunächst zu prüfen, ob eine Angleichung durch Konsens möglich ist, bevor eine solche durch Kompromiss gesucht wird. (3) Materielle Verfassung: Wissenschaftliche Richtigkeit: Richtig ist immer erst das Ergebnis des Diskurses, z. B. das Verbot von Eigenhandel der Banken oder die Einführung eines Trennbankensystems. Das inhaltlich Richtige lässt sich allerdings nicht losgelöst von Organisation und Methode bestimmen. Es ergibt sich insbesondere aus einer fairen Verteilung der Argumentationslasten. Der Begründungslast derjenigen Mitglieder, welche
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neue Lösungen vorschlagen, entspricht eine Pflicht zur Offenheit gegenüber neuen Argumenten, die jenen Mitgliedern obliegt, welche an den herkömmlichen Konzepten festhalten wollen. Diese Mitglieder trifft die Last, plausible neue Ansätze zu widerlegen. Stand der Wissenschaft: Bewährte Ergebnisse aus früheren wissenschaftlichen Diskursen zur Finanzmarktregulierung sind aufzugreifen und für den neuen Diskurs fruchtbar zu machen. Die Dogmengeschichte aller beteiligten Disziplinen ist daraufhin zu untersuchen, ob sie Lösungsansätze für das aktuelle Problem liefert. Neue Lösungen sind nur dort erforderlich, wo die herkömmlichen Konzepte Mängel aufweisen. Z. B. ist in einer liberalen Gesellschaftsordnung ein Staatsmonopol nur dann einzuführen, wenn der Wettbewerb auf dem Markt nicht die volkswirtschaftlich und gesellschaftlich erwarteten Ergebnisse zeitigt. Anerkannte Grundsätze materieller Richtigkeit: In jedem Sachbereich haben sich wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Praxis zu Grundsätzen des Richtigen verbunden, die ohne Not nicht übergangen werden sollen. Die Stellungnahmen der Kommission zum Eigenhandel und zum Trennbankensystem sollen auch von solchen Grundsätzen abhängen. So gefährdet z. B. das Modell der integralen Bank die Krisensicherheit des Zahlungsverkehrs (Konkursrisiko bei riskanten Eigengeschäften der Bank), fördert aber die Kundeninteressen gewisser Anleger. Je nach der Gewichtung von Zahlungsverkehr einerseits, Vermögensverwaltung anderseits wird das Urteil daher unterschiedlich ausfallen. Die Verfassung der Kommissionsarbeit ist in ihren organisatorischen, methodischen und materiellen Aspekten interdependent. Materielle Richtigkeit ist nur auf methodisch und organisatorisch korrekte Weise herzustellen. Insbesondere lässt sich die „materielle Verfassung“ nicht ohne Rekurs auf methodische Begründungsregeln und organisatorische Deliberationsformen darstellen Z. B. sind inhaltliche Aussagen über die Bedeutung des Wettbewerbsprinzips oder der Geldwirtschaft einerseits bewährte Resultate früherer wissenschaftlicher Diskurse und gehören damit zum Stand der Wissenschaft (oben (3) – so wird die liberale Wettbewerbsidee durch die private Geldwirtschaft gefördert; diese bewährt sich auch als effizienter als die Tauschwirtschaft); die beiden Prinzipien sind aber selber methodisch begründet und können auf methodisch korrekte Weise infrage gestellt werden (oben (2) – z. B. indem ihre Begründetheit in der Wertdimension aus der Perspektive der Gerechtigkeitsdimension relativiert wird: Wann ist Wettbewerb ungerecht? Wo ist Geld nicht der richtige Massstab?). Ob wissenschaftliche Kritik und Weiterentwicklung solcher anerkannter Prinzipien auf faire Weise möglich ist, wird schliesslich im Wesentlichen durch die organisatorische Verfassung festgelegt (oben (1) – z. B. indem Zusammensetzung und Verfahren der Kommission die Entwicklung von Standpunkten zulassen, welche von der herrschenden Meinung abweichen). Organisation, Methode und Inhalt bilden eine Gesamtheit. Es gibt kein wissenschaftlich richtiges Ergebnis ohne eine diskursiv legitime Genese.
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XI. Fazit In der modernen Wissensgesellschaft sind Entscheidungen zunehmend wissenschaftlich geprägt. Menschen wie Institutionen treffen ihre Entscheidungen unter wissenschaftlicher Anleitung. Aber auch innerhalb der Wissenschaft werden laufend Entscheidungen getroffen. Wissenschaft ist ein methodisch angeleiteter Entscheidungsprozess. Die vorliegende Studie versucht, die Bedingungen zu bestimmen, unter welchen dieser Entscheidungsprozess die grösste Chance hat, ein Ergebnis zu zeitigen, welches sich dem Leitbild der Vernunft annähert: Wie können wir vernünftig wissenschaftlich entscheiden? Eine Antwort auf diese Frage setzt ein Konzept voraus, welches zentrale Begriffe wie „Frage“, „Logik“, „Schule“, „Disziplin“, „Rationalität“, „Vernunft“ und „Geltungsanspruch“ in eine passende Relation bringt: Vernunft ist die regulative Idee aller Wissenschaft. Sie gliedert sich in drei Dimensionen: Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit. Wissenschaftlich richtige Entscheidungen streben eine möglichst integrale Verwirklichung aller drei Vernunftdimensionen an. Eine Rationalität ist nach unserem Konzept der ideale Anspruch, den insbesondere eine Schule oder Disziplin explizit oder implizit erhebt, indem sie in bestimmter, für sie typischer Weise mit den Geltungsansprüchen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit umgeht. Die Rationalität ist also eine bestimmte Ausprägung der Trias der Geltungsansprüche, durch welche sich eine wissenschaftliche Denkweise charakterisieren lässt. Als Logik hingegen bezeichnen wir die methodische Denkweise, welcher sich die Schule oder Disziplin typischerweise bedient, um ihre Rationalität zu verfolgen. Eine Rationalität kann sich bereits in einer einzelnen Fragestellung manifestieren, wenn diese die besondere Eigenart der schulischen oder disziplinären Denkweise offenbart. Analytisch ist es daher sinnvoll, von der Rationalität einer einzelnen Frage zu sprechen. Konzeptionell hingegen müssen verschiedene Fragen mit ähnlicher Ausrichtung zu typischen Fragestellungen gebündelt werden. Erst wenn diese Bündel sich in ihrer typischen wissenschaftlichen Denkweise von andern Fragebündeln relevant unterscheiden lassen, wird es sinnvoll, ihnen eine gemeinsame Rationalität zuzusprechen. Für die Belange des interrationalen Diskurses werden solche Rationalitäten erst bedeutsam, wenn sie als idealer Anspruch einer Schule oder Disziplin erkennbar werden. Die Fragen einer Schule oder Disziplin weisen jeweils eine typische, gemeinsame Rationalität auf, die sich von jener anderer Schulen oder Disziplinen unterscheidet. Es sind die Differenzen zwischen diesen Rationalitäten, welche die Verständigungsschwierigkeiten in der Wissenschaft – und damit das zentrale Thema dieser Studie – ausmachen. Gewiss können „Frage – Frage“-Übersetzungen auch innerhalb einer bestimmten Disziplin, Schule oder sogar Logik auftreten. In den meisten Fällen teilen diese
XI. Fazit
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Übersetzungen dann aber die gleiche Rationalität. Wenn nicht, weisen die Differenzen auf eine interne Spaltung innerhalb der – prima vista als geschlossen vermuteten – Denkweise hin. Konzeptionell treten Logiken, Schulen und sogar Disziplinen mit dem Anspruch auf, intern eine einheitliche Rationalität – also einen gemeinsamen normativen Modus im Umgang mit den drei Geltungsansprüchen zu pflegen. Gerade weil diese Einheitlichkeit den Disziplinen meist nicht gelingt, ist es möglich und sinnvoll, von Schulen zu sprechen oder mehrere disziplinäre Logiken auszumachen, gleichgültig, ob sich diese nur innerhalb der Disziplin bewegen oder ob sie ihre Rationalität auch auf andere Disziplinen übertragen. Interrationalität bezeichnet dann die Integration mehrerer Rationalitäten auf dem Weg über einen Diskurs, der an den typischen Fragen einer Logik, Schule oder Disziplin ansetzt, diese wechselseitig in die Rationalität der anderen Denkweisen übersetzt und gestützt auf beidseitig verständliche Fragestellungen eine Argumentation über richtige Antworten pflegt.
Unter diesen begrifflichen Voraussetzungen gelangt die vorliegende Studie zu folgenden Aussagen: (1) Vernunft lässt sich nur annähern, indem die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren eigenen rationalen Diskurs einem interrationalen Diskurs unterstellen (Interrationalitätserfordernis der Vernunft): 1. Im rationalen Diskurs wird der Anspruch erhoben, innerhalb einer bestimmten Rationalität richtige Antworten auf ausgewählte Fragen zu finden (Diskurs zur Konkurrenz im „Antwort – Antwort“-Verhältnis). Ein solcher Diskurs über Rationalität wird häufig innerhalb der Grenzen bestimmter institutionalisierter Schulen oder Disziplinen geführt. Die spezifische Fragestellung einer bestimmten Rationalität kann jedoch auch institutionelle Grenzen überschreiten. Der rationale Diskurs kann deshalb auch schulen- und disziplinübergreifend geführt werden (z. B. die Frage nach dem Verhalten eines rationalen Nutzenmaximierers). 2. Der interrationale Diskurs setzt bei der Relation zwischen verschiedenen Fragen mit unterschiedlicher Rationalität an und versucht, a) zwischen diesen Fragen eine wechselseitige Verständigung herzustellen (Diskurs zur Verständlichkeit: Übersetzung in der „Frage – Frage“-Relation), bevor er b) auf den Diskurs über die Richtigkeit von Antworten verschiedener Fragestellungen bzw. die integrale Erreichung verschiedener Rationalitäten im Zusammenhang eintritt (materieller interrationaler Diskurs). Auch ein solcher Diskurs über Interrationalität kann sowohl schulen- und disziplinintern als auch -übergreifend durchgeführt werden. Unabhängig davon, ob institutionalisierte Grenzen dabei überschritten werden oder nicht, ist hier entscheidend, dass der Diskurs fragen- bzw. rationalitätsübergreifend erfolgt (z. B. der Diskurs über die Bürgerverantwortung des Unternehmers).
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3. Interrationalität ist primär ein Ziel: die Integration der wissenschaftlichen Rationalitäten zu einer möglichst richtigen, am Vernunftideal orientierten Entscheidung. Der Begriff enthält aber zugleich die Methode zur Herstellung richtiger Entscheide: Interrationalität ist das Verfahren der wechselnden Rationalitäten im wissenschaftlichen Diskurs. 4. Vernunft ist das Ziel des interrationalen Diskurses. Sie dient als regulative Idee, auf welche der dialektische Prozess einer diskursiv legitimen wissenschaftlichen Auseinandersetzung über gute Gründe abzielt. 5. Die Leitidee der Pluralistischen Grundsätzlichkeit dient als Methodik der Interrationalität, nach welcher sich der Diskurs richten muss, wenn er die Chance der Vernünftigkeit verwirklichen will. Pluralistische Grundsätzlichkeit erhebt gleichzeitig zwei Bedingungen: a) Pluralismus: Die idealen Geltungsansprüche, die von den verschiedenen Schulen und Disziplinen erhoben werden, sollen als gleichberechtigt anerkannt und in einem interrationalen Diskurs geprüft werden. Prüfenswert sind dabei alle Geltungsansprüche, die aus der Rationalität einer wissenschaftlichen Denkweise heraus in mindestens einer der drei Vernunftdimensionen begründbar erscheinen. Die Methoden des Umgangs der Diskursteilnehmenden miteinander sind auf das Ziel auszurichten, durch wechselseitiges Lernen einen Zugewinn an Vernunft zu erreichen. Dazu gilt es, Antworten auf eine Mehrzahl von Fragen zu geben, welche sich im Diskurs als legitime Perspektiven des Problems erweisen, das zu entscheiden ist. Der Pluralismus soll die Inklusion aller möglicherweise relevanten Argumente in den Diskurs gewährleisten. b) Grundsätzlichkeit: Sowohl die Regeln des Diskurses wie die Regeln im Diskurs müssen sich über möglichst allgemeingültige Gründe rechtfertigen lassen. Das Postulat der Grundsätzlichkeit verlangt die grösstmögliche Annäherung an den Massstab der Verallgemeinerung. In diesem Rahmen sind Aussagen anzustreben, die nicht nur dem Erfordernis der Rationalität, sondern auch dem Erfordernis der Interrationalität genügen. Die Grundsätzlichkeit soll die Selektion der massgeblichen Argumente im Laufe des Diskurses gewährleisten. 6. Richtigkeit ist das Ziel der Annäherung an die Vernunft, soweit diese mit den Mitteln der Wissenschaft erreicht werden kann. Richtige Entscheide müssen im Rahmen eines interrationalen Diskurses getroffen werden, der nach der Methode der pluralistischen Grundsätzlichkeit verfährt. Richtigkeit wird erzielt, wenn es gelingt, Diskurse über wissenschaftliche Entscheidungen nach Massgabe pluralistischer Grundsätzlichkeit über die Grenzen wissenschaftlicher Rationalitäten hinweg zu führen und in diesem interrationalen Diskurs einen Konsens (oder Kompromiss) herzustellen. (2) Der Richtigkeitsdiskurs, in welchem die Antworten auf die relevanten Fragen des Entscheidungsproblems innerhalb oder zwischen Schulen und Disziplinen ge-
XI. Fazit
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sucht werden, gliedert sich jeweils nach drei Dimensionen: in einen Wahrheitsdiskurs, einen Wertdiskurs und einen Gerechtigkeitsdiskurs. Diese Teildiskurse prüfen die je erhobenen Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit und müssen je eigens für diese Geltungsansprüche ausgestaltet werden. 1. Wahrheitsdiskurs: Auch die Beobachtung und Beschreibung der objektiven Welt wird erst dadurch zu Wissen über die Welt, dass wir uns darüber in einer Argumentation verständigen. Erst die für alle durch gute Gründe zustimmungswürdige Rekonstruktion der objektiven Welt legitimiert den mit Wahrheitsbehauptungen erhobenen Geltungsanspruch. 2. Wertdiskurs: Werte sind subjektiv, insoweit sie immer auf eine bestimmte Person bezogen sind. Sie sind aber intersubjektiv, insoweit sie gegenüber jedermann vertreten werden können und in einem Diskurs auch gegenüber allen Gültigkeit beanspruchen (universalistischer Anspruch): Wer einen Wert vertritt, behauptet, dafür Gründe zu haben, die von allen respektiert werden können. Dabei hat jeder Wertdiskurs einen kognitiven Teil, für den die Anforderungen des Wahrheitsdiskurses in ähnlicher Weise gelten. 3. Gerechtigkeitsdiskurs: Gerechtigkeit ist eine Qualität intersubjektiver Beziehungen; sie wird erst als Ergebnis eines fairen Diskurses hergestellt. Dieser hat zur Aufgabe, zwischen den Ansprüchen der Betroffenen einen Ausgleich zu schaffen, der sich als allgemeingültige Norm fassen und begründen lässt. Gerechtigkeit entsteht, wo ein Diskurs auf die Zustimmungswürdigkeit der Verteilung aller Wertansprüche abstellt. Die drei Geltungsansprüche stehen zueinander in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Auf den ersten Blick scheint der Wahrheitsanspruch von den beiden andern unabhängig zu sein, während der Wertanspruch auf Sachverhalte abstellen muss, die als wahr anerkannt sind, und der Gerechtigkeitsanspruch zudem noch anerkennungswürdige Werte voraussetzt, die auf gerechte Weise verwirklicht werden sollen. Sobald Aussagen aber als Äusserungen von Menschen verstanden werden, sind sie Handlungen, die immer unter allen drei Geltungsansprüchen zugleich beurteilt werden müssen. 1. Der Gerechtigkeitsanspruch: Wer einen Gerechtigkeitsanspruch erhebt, erklärt Gerechtigkeit zum erstrebenswerten Wert und bekennt sich als Mensch zum Sinn des gerechten Zusammenlebens. Damit bewegt er sich auch in der Wertdimension. Gerechtigkeit setzt aber auch schon als Aussage die Wahrheitsund die Wertdimensionen voraus, weil sie die gerechte Verteilung von Wertansprüchen unter für wahr gehaltenen Verhältnissen anstrebt. 2. Der Wertanspruch: Wer einen Wertanspruch erhebt, äussert damit eine Sinnvorstellung als wertender Mensch. Er bezieht den Wert, den er vertritt, auf für wahr gehaltene Verhältnisse und beansprucht, ihn als gerechtfertigt begründen zu können. Werte setzen aber auch schon als Aussage die interpersonale Gerechtigkeitsbeziehung dessen, der sie äussert, voraus; die subjektive Wertung
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
muss stets im Vergleich zu möglichen Wertungen anderer verstanden werden. Sie muss auch ihnen gegenüber als gerecht verteidigt werden können. Analoges gilt für den Wahrheitsgehalt der werthaltigen Äusserung. 3. Der Wahrheitsanspruch: Wahrheit hat auch bei rein deskriptiver Absicht eine subjektiv und intersubjektiv relevante Bedeutung und damit einen Wert, der gerechtfertigt werden muss. Wer Wahrheit anstrebt, entscheidet damit über die Sinnfrage seines Suchens, also über die Wertdimension Wahrheit. Wahres Wissen dient auch bereits als Aussage immer einer bestimmten Zweckbestimmung, die der Wahrheit einen Wert verschafft. Wer Wahrheit sucht, will dieses Ziel darüber hinaus intersubjektiv rechtfertigen können. Die Entscheidung darüber, die Wahrheit über ein bestimmtes Forschungsthema zu suchen, ist somit immer eine Selektionshandlung, die zugleich wertvoll und gerecht sein muss. Wer Wahrheit beansprucht, will schliesslich gegenüber anderen, die eine andere Auffassung vertreten, Recht haben. Er muss seine Wahl als wertvoll und gerecht begründen können. Die drei Geltungsansprüche stehen somit in einem gegenseitigen hermeneutischen Abhängigkeitsverhältnis. Es gibt keine wissenschaftliche Aussage, welche nicht normative Ansprüche umfasst oder voraussetzt. (3) Der Richtigkeitsdiskurs bedarf der interrationalen Verfassung, wenn er dem Massstab der pluralistischen Grundsätzlichkeit genügen will. Für die Verfassung konkreter wissenschaftlicher Diskurse lassen sich allgemeine Vorgaben für die Verwirklichung möglichst vernünftiger Entscheidungen machen, welche sich insbesondere aus der Diskurstheorie entwickeln lassen. Für jede gesellschaftliche Situation lassen sich spezifische Vorgaben bestimmen, welche die Verfassungsidee für den Einzelfall konkretisieren. Die Verfassung jedes konkreten interrationalen Diskurses muss dafür sorgen, dass faire Strukturen und Abläufe institutionalisiert und vernünftige Methoden anerkannt werden; zudem hat sie anerkannte und anerkennungswürdige Grundsätze der Argumentation vorzugeben, für welche die Vermutung der Gültigkeit besteht. Jede Diskursverfassung muss daher die folgenden Dimensionen umfassen: 1. die formelle Verfassung, 2. die methodische Verfassung und 3. die materielle Verfassung. 1. Formelle Verfassung: Organisatorische Strukturen und Prozesse (Institutionalisierung): Welche äusseren Strukturen sind für den Diskurs zu schaffen und wie sind die Prozesse in und zwischen diesen Strukturen zu gestalten? 2. Methodische Verfassung: Methodische Argumentationsstrukturen und -abläufe (Methodik): An welchen grundlegenden Denkstrukturen ist die Argumentation zu orientieren, und wie soll die so strukturierte Argumentation methodisch ablaufen? 3. Materielle Verfassung: Inhaltliches Argumentarium guter Gründe im Diskurs (Dogmatik): Welche Argumente haben sich im bisherigen Diskurs bewährt, und welche Entscheidungen dürfen als vernünftig gelten?
XI. Fazit
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Was heisst nach alledem „vernünftig wissenschaftlich entscheiden“? Es heisst, den Anspruch der Wissenschaftlichkeit in differenzierter Weise zu entfalten, wie es hier versucht worden ist. Wer Wissenschaft betreibt, ist nicht nur erkennendes Subjekt, sondern Teil einer intersubjektiven Kommunikation um ein Objekt der Erkenntnis. Wissen ist mehr als Erkenntnis eines Objekts. Es gewinnt zur blossen Beobachtung eine Dimension der methodisch angeleiteten Entscheidung hinzu, die in einem fairen Diskurs zu treffen ist. Ziel dieser Auseinandersetzung ist, sich gemeinsam der Vernunft anzunähern, indem die Dimensionen Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit reflektiert und zu einer Entscheidungsnorm integriert werden. Wissenschaft ist der moderne Diskurs der Experten bei der Suche nach Vernunft.
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Zweiter Teil: Das Modell des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses
XII. Schlusswort Unsere Studie will als Beitrag zum Diskurs über Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie verstanden werden. Sie soll eine Brücke von den Sozialwissenschaften zur Philosophie schlagen. Wissenschaft ist aus ihrer Spezialisierung auf Rationalität zu befreien und als Teil der menschlichen Suche nach Vernunft zu verstehen. Eine mögliche philosophische Verallgemeinerung dieses Ansatzes über den Rahmen der Wissenschaft hinaus wäre die Aufforderung an uns alle, in der hier vorgeschlagenen Weise vernünftig über die Fragen unseres Zusammenlebens auf dieser Welt zu reden. Damit wäre auch eine Brücke geschlagen, welche die Philosophie in ihrem Namen trägt: die Brücke von der Wissenschaft zur Weisheitsliebe.
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Sachwortverzeichnis Abwägung siehe Ausgleichung Antwort – Fragen-Abhängigkeit 107 – 112 – Verhältnis zu anderen Antworten 107 – 108, 111 – 112, 146 Argumentation 177, 192 – 194, siehe auch Diskurs Aufgabe 152 – 153, 158 – 162, 164 – 165 Ausgleichung 150 – 151, siehe auch Gerechtigkeit – und Angleichung 162 – 163 Aussage – als Äusserung 115 – Gerechtigkeitsanspruch 134 – Wahrheitsanspruch 117 – 118 – Wertanspruch 125 – als Handlung 116 – Gerechtigkeitsanspruch 135 – Wahrheitsanspruch 119 – Wertanspruch 125 – 126 – als solche 115 – 116 – Gerechtigkeitsanspruch 134 – 135 – Wahrheitsanspruch 118 – 119 – Wertanspruch 125 Beispiel Studienkommission 92 – 93, 101, 112 – 113, 138 – 139, 173 – 175, 187, 195 – 197 Betriebswirtschaftslehre 29 – 34 das Gerechte 89 – 90, siehe auch das Gute; Gerechtigkeit 127 das gerechte Gute 155 – 156, 162 das Gute 88 – 89, siehe auch Wert – und das Gerechte 88 – 90, 126 – 128, 135, 151 – 166 – Gleichrangigkeit 165 – 166 demokratische Legitimation 192
Diskurs 176 – 197, 202 – disziplinärer 64 – interrationaler 85 – 88, 103, 199 – juristischer 47 – 58, 77 – 83 – Idealmodell 77 – 80 – konstitutiver Charakter 179 – rationaler 67, 102 – 103, 199 – Stufengerechtheit 191 – 192 – über Gerechtigkeitsfragen 184 – 185, 201 – über Richtigkeit 176, 180 – 181, 200 – 202 – über Wahrheitsfragen 181 – 182, 201 – über Wertfragen 182 – 184, 201 – Verfassung 16 – 17, 179 – 180, 189 – 195, 202 – formelle 191 – 192, 195 – 196, 202 – interrationale 202 – materielle 193 – 194, 196 – 197, 202 – methodische 192 – 193, 196, 202 – Schema 194 – 195 Diskursintegration 185 – 186 Diskurstheorie 75, 177 – 181 – Begründung 87 – 88 – Verteidigung 186 – 187 Diskursübersetzung 185 – 186 Disziplin 63 – 64 Entscheidung 94 – 95 – einzig richtige? 96 – 97 – Freiheit 94 – vernünftige 11, 70 – 71, 85, 91 – 92, 94 – 101, 153, 162, 166 – 167, 176, 198 – 203 – wissenschaftliche – Dimensionen 74 – 75 – Prozess 99 – 100, 140 – 166, siehe auch Entscheidungsprozess – Zwang 94 Entscheidungslehre (Ideal) 80 – 84, 114, siehe auch Entscheidungsprozess Entscheidungsnorm 79, 96, 146 – 147 Entscheidungsprozess 140 – 175
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Sachwortverzeichnis
– äusserer Begründungszusammenhang 166 – 173 – und innerer Begründungszusammenhang 168, 171 – 173 – Beurteilung der Problemlage 142, 146 – 148 – De- / Legitimation 148 – Deskription 147 – 148 – Evaluation 148 – drei Ebenen und drei Dimensionen 142 – 143 – gestaltende Normierung 142, 148 – 151 – Ausgleichung 150 – 151 – Schaffung einer Zielnorm 149 – 150 – Zielsetzung 149 – Grundschema 141 – 151 – institutioneller Kontext 166 – 173 – integrativer 140 – juristischer 77 – 83 – Klärung der Leitfragen 142 – 146 – systematische Ordnung der Elemente 17 – 18 – Verhältnis zwischen Beurteilung und Normierung 151 – 152 – wissenschaftlicher 17 – 18, 80 – 88, 140 – 166 Entscheidungstheorie (herkömmliche) 23 – 29, 141 Frage – und Antwort 108 – 109, 143 – 146 – Verhältnis zu anderen Fragen 108 – 109, 111 – 112, 143 – 146, 198 – 199, siehe auch Verständlichkeit Gedankengang 18 – 21, 92 Geltungsanspruch 66 – 67, 114 – 139, 201 – 202 – auf Gerechtigkeit 126 – 136, 201, siehe auch Gerechtigkeit – auf Schönheit? 138 – auf Wahrheit 116 – 119, 202, siehe auch Wahrheit – auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit 27 – 28, 32 – 33, 37 – 39, 44 – 46, 58 – 60, 74 – 75, 115 – 116, 201 – 202, siehe auch Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit
– auf Wert 119 – 126, 147, 201 – 202, siehe auch Wert – auf Zweckrationalität? 136 – 138 Gerechte, das, siehe das Gerechte gerechte Gute, das, siehe das gerechte Gute Gerechtigkeit 126 – 136, 148, 150 – 151, 156 – 166, 170 – 171, 184 – 187, 190 – als Modus der Konfliktlösung 156 – 159, 165 – 166, 170 – 171 – Begründungsstruktur 126 – 134 – 1. Stufe (Verallgemeinerung) 129 – 130 – 2. Stufe (Ausgleich) 130 – 134 – Distributionskonflikt 130 – 131, 133 – 134 – Kollisionskonflikt 130 – 133 – und Wahrheit / Wert 134 – 136 – und Wert siehe das Gute – wahrheitsanaloger Status 186 Gerechtigkeitsanspruch siehe Geltungsanspruch Gerechtigkeitsdiskurs siehe Diskurs Gerechtigkeitsnorm 127, 150 – 151, 162 – und Zielnorm siehe Zielnorm Gerechtigkeitsproblem siehe Gerechtigkeit Grundsatz 86 – 87, siehe auch Wertgarantie Grundsätzlichkeit 76, 83, 86 – 87, 200 Gute, das siehe das Gute Handlungsnorm siehe Norm Hermeneutik 177 – 180 hermeneutischer Zirkel 13, 81 – 83, 143, 172 – 173, 178, 187 homo oeconomicus 35 Interdisziplinarität siehe Interrationalität Interrationalität 15 – 16, 84 – 88, 102 – 113, 199 – 203 – als Integration von Rationalitäten 105 – als Methode 105, 200 – als Ziel 105, 200 – als Zumutung 190 – und Interdisziplinarität 104 – und Rationalität siehe Rationalität – Verteidigung 105 – 107 – Zumutbarkeit 106 – 107 Intersubjektivität 177 – 180 Intra-Rationalität 102
Sachwortverzeichnis juristischer Imperialismus 17, 77, siehe auch ökonomischer Imperialismus Komplexitätsreduktion 70 – 71, 137 Leitfrage siehe Entscheidungsprozess Logik 12, 64 – 66, 198 – Abgrenzung zu Rationalität siehe Rationalität Norm 148 – 149 – als sachbestimmtes Ordnungsmodell 55 – 57 – Geltung 166 – 173 – Gerechtigkeitsnorm siehe dort – institutionalisierte siehe auch Entscheidungsprozess – als Vorgabe wissenschaftlicher Diskurse 166 – 173 – Handhabung in der Rechtswissenschaft 168 – 171, siehe auch Strukturierende Rechtslehre – Normierung des Beurteilten 151 – 152 – Revision 172 – 173 – Zielnorm siehe dort Normativität und Faktizität 55 – 57, 80, 146 – 147 Normenkollision 169 – 171, siehe auch Zielnorm – als Gerechtigkeitsproblem 170 – 171, siehe auch Gerechtigkeit Normierung siehe Entscheidungsprozess Ökonomie 34 – 42 ökonomischer Imperialismus 39 – 42, siehe auch juristischer Imperialismus Pflicht 126 – 127, 152 – 153, 158 – 162, 164 – 165 Pluralismus 76, 83, 85 – 86, 200 Pluralistische Grundsätzlichkeit 62, 76 – 88, 90, 200 – als Kampfmethode der Gerechtigkeit 76 – als Methode der Interrationalität 84 – 88 – als Methode und Metamethode 87 – 88 – Argumentationsschritte 77, 83 – 84 Politikwissenschaft 42 – 47 Praktische Konkordanz 81 Problem 73 – 74, 148, 151 – 152
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Rationalität 12, 65 – 68, 198 – 199 – Abgrenzung zu Logik 65 – 66, 198 – Isolierung 69 – und andere Rationalitäten 110 – und Interrationalität 67, 102 – 113 – und Vernunft 66 – 67 – vorherrschende 12 – 13, 72 Recht (subjektives) 126 – 127 Rechtswissenschaft 11 – 17, 47 – 61, 76 – 84 Reduktionismus 13, 69 – 72, 76 – 77 Richtigkeit 94 – 101, 200 – als Entscheidungs- / Handlungsrichtigkeit 100 – 101 – als wissenschaftliche Vernunft 99 – in den drei Vernunftdimensionen 100 – 101 – interrationale 103, 189 – Prozeduralisierung 99 – 100 Richtigkeitsdiskurs siehe Diskurs Satisfizierung 98 – 99 Schönheit 136, 138 Schule 64 – 65 Spaltung des Wissens 11, 72 Strukturierende Rechtslehre 55 – 58, 61, 77 – 84, 96 – Normkonstruktionsmodell 55 – 57, 78 – 80 Theorie und Praxis 73 – 74 Verfassung 189 – 190, siehe auch Diskurs Vernunft 114, 198, 200, siehe auch Rationalität; Wissenschaft – drei Dimensionen 14 – 15, siehe auch Geltungsanspruch; Gerechtigkeit; Wahrheit; Wert – Relativierung zu Richtigkeit 95 – 99 – und objektive Wahrheit 12 – 13, 72 – und Wissenschaft siehe Wissenschaft – Vereinnahmung 12, 69 – 71 – wissenschaftliche 16 – 17, 20, 67, 69, 95 – 99, siehe auch Wissenschaft Verständigung 13, 178, siehe auch Diskurs Verständlichkeit 111, 143 – 146 Vertretbarkeit 97 – 99 Vorverständnis 142 – 146, siehe auch Hermeneutik; hermeneutischer Zirkel
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Sachwortverzeichnis
Wahrheit 116 – 119, 147, 181 – 182 – als nur eine Dimension der Vernunft 13, 72 – und Wert / Gerechtigkeit 117 – 119 Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit 114 – 116, siehe auch Geltungsanspruch – in analytischen Teildiskursen 181 – 185 Wahrheitsanspruch siehe Geltungsanspruch Wahrheitsdiskurs siehe Diskurs Wert 119 – 126, 148 – 150, 182 – 184 – Begründungsstruktur 124 – 125 – Handlungsrelevanz 155 – 156 – Subjektbezogenheit 88 – 89, 119 – 124 – subjektiver 86 – 87, 120 – und Gerechtigkeit siehe das Gute – und Wahrheit / Gerechtigkeit 125 – 126 – universalistische Natur 124 – verallgemeinerbarer 86 – 87, 129 – 130 Wertanspruch siehe Geltungsanspruch Wertdiskurs siehe Diskurs Wertfreiheit 34 Wertgarantie 129 – 130, siehe auch Grundsatz Wertzumessung 132 – 134 Wissenschaft 11 – 17, 62 – 90, 178, 198 – 203 – als Entscheidung 95 – als Lebens- und Entscheidungshilfe 11, 73 – 75, 94 – 95
– als methodisch angeleitete Entscheidungslehre 13 – 14 – Definition 67 – 68, 203 – Isolierung siehe Rationalität – Spezialisierung 68 – 70 – Systemdenken 71, 76 – und Vernunft 11 – 17, 204 – Vereinfachung 71 – 72 – Vereinnahmung siehe Vernunft – Vereinseitigung 12 – Versagen 11, 62, 68 – 72 Zielnorm 149 – 150 – und Gerechtigkeitsnorm 156 – 166 – Abgrenzung zu Kant 154 – 155 – Angleichung durch Kompromiss 162 – 165 – Angleichung durch Konsens 159 – 162 – Konkurrenz 153 – 156 – Verhältnis als Gerechtigkeitsproblem 156 – 159, 162 – 166, siehe auch Gerechtigkeit Zustimmungswürdigkeit 100, 178 – 179, 184, 189 – 191 Zweckrationalität 136 – 138, siehe auch Betriebswirtschaftslehre; Entscheidungstheorie (herkömmliche)