Verlorene Patienten?: Für mehr Menschlichkeit in der Medizin 3896787551, 9783896787552

Ist unsere moderne Medizin noch menschlich genug? Karlheinz Engelhardt legt hier ein leidenschaftliches Plädoyer für ein

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German Pages 160 [162] Year 2011

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Medizin in der Krise?
1.1 Fortschritt und Spezialisierung
1.2 Wird die Medizin unbezahlbar?
1.3 Probleme im Krankenhaus
1.4 Auswege aus der Krise?
2. Arzt und Kranker
2.1 Was hat sich verändert?
2.2 Selbstbestimmung und Fürsorge
2.3 Erwartungen an den Arzt
2.4 Der Patient als Kunde, der Arzt als Anbieter?
2.5 Was heißt Patient-zentrierte Medizin?
3. Diagnostik: Triumphe und Defizite
3.1 Der Siegeszug des naturwissenschaftlichen Paradigmas
3.2 Labortests und bildgebende Verfahren
3.3 Fortschritte und Fallgruben: Gen-Diagnostik
3.4 Vernachlässigung von Anamnese und unmittelbarer Untersuchung?
3.5 Das diagnostische Gespräch
4. Therapie ist mehr als ein Rezept
4.1 Vom Nutzen und Nachteil der Pillen
4.2 Die beiden Seiten einer Münze oder die Macht des Placebos
4.3 Über Arzneimittel muss man sprechen
4.4 Für jedes Gesundheitsproblem ein Medikament?
4.5 Der medizinisch-industrielle Komplex
4.6 Kann weniger mehr sein?
5. Alternative Medizin
5.1 Warum ist die alternative Medizin populär?
5.2 Homöopathie
5.3 Anthroposophie
5.4 Pflanzenmedizin oder zurück zur Natur
5.5 Chinesische Akupunktur
5.6 Können Schul- und Alternativmedizin voneinander lernen?
5.7 Ganzheitlichkeit: Ideologie oder Aufgabe?
6. Einheit von Leib und Seele
6.1 Vom Körper zur Seele und zurück: moderne Psychosomatik
6.2 Du sollst nicht spekulieren!
6.3 Stress und soziale Ungleichheiten
6.4 Ein „Kreuz“ der Medizin: Beschwerden ohne Befunde
6.5 Umgang mit chronischer Krankheit
6.6 Die Angst vor dem Psychiater
7. Für und wider die Medikalisierung
7.1 Das Problem
7.2 Routine Check-up?
7.3 Arzneimittel nach Maß
7.4 Das Jahrhundert des Gehirns?
7.5 Warum wir mehr ärztliche Beratung brauchen
8. Alter und Altern: Optimismus und Resignation
8.1 Vier Lebensalter
8.2 Verluste und Gewinne
8.3 Zwischen Heilsversprechen und Nihilismus
8.4 Körperliche und psychosoziale Probleme
8.5 Der gute Hausarzt
8.6 Was kann ich tun?
9. Kann es ein gutes Sterben geben?
9.1 Die Furcht vor einem schlechten Sterben
9.2 Was wünschen wir?
9.3 Der Sinn der Patientenverfügung
9.4 Palliative und Hospizbetreuung
9.5 Was bedeutet Euthanasie?
9.6 Ärztliche Beihilfe zum Suizid?
10. Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung
10.1 Ein titanisches Zeitalter wird besichtigt
10.2 Barrieren gegen medizinische Vernunft?
10.3 Unbestellte Felder
10.4 Nur Gesundheitsreform oder auch Reform der Medizin?
10.5 Nochmals Patient und Arzt: Ausblick mit Hoffnung
Personenregister
Sachregister
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Verlorene Patienten?: Für mehr Menschlichkeit in der Medizin
 3896787551, 9783896787552

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Karlheinz Engelhardt Verlorene Patienten?

Karlheinz Engelhardt

Verlorene Patienten? Für mehr Menschlichkeit in der Medizin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; fi detaillierte bibliografische fi Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi filmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Ingrid Hilgers, Hannover Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim in Zusammenarbeit mit Thurid Th Wadewitz Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Umschlagabbildung: Headbox ©Aenne Bauck – Fotolia.com Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-23768-5 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag. Umschlaggestaltung: Christian Hahn, Frankfurt a. M. Bild: © picture alliance / chromorange www.primusverlag.de ISBN 978-3-89678-755-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72070-5 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-72071-2 (für Mitglieder der WBG) eBook (PDF): 978-3-86312-719-0 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-86312-720-6 (Buchhandel)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Medizin in der Krise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 1.2 1.3 1.4

Fortschritt und Spezialisierung Wird die Medizin unbezahlbar? Probleme im Krankenhaus Auswege aus der Krise?

2. Arzt und Kranker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Was hat sich verändert? Selbstbestimmung und Fürsorge Erwartungen an den Arzt Der Patient als Kunde, der Arzt als Anbieter? Was heißt Patient-zentrierte Medizin?

3. Diagnostik: Triumphe und Defizite fi .......................... 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Der Siegeszug des naturwissenschaftlichen Paradigmas Labortests und bildgebende Verfahren Fortschritte und Fallgruben: Gen-Diagnostik Vernachlässigung von Anamnese und unmittelbarer Untersuchung? Das diagnostische Gespräch

4. Therapie ist mehr als ein Rezept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Vom Nutzen und Nachteil der Pillen Die beiden Seiten einer Münze oder die Macht des Placebos Über Arzneimittel muss man sprechen Für jedes Gesundheitsproblem ein Medikament? Der medizinisch-industrielle Komplex Kann weniger mehr sein?

5. Alternative Medizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Warum ist die alternative Medizin populär? Homöopathie Anthroposophie Pfl flanzenmedizin oder zurück zur Natur Chinesische Akupunktur

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Inhaltsverzeichnis 5.6 Können Schul- und Alternativmedizin voneinander lernen? 5.7 Ganzheitlichkeit: Ideologie oder Aufgabe?

6. Einheit von Leib und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Vom Körper zur Seele und zurück: moderne Psychosomatik Du sollst nicht spekulieren! Stress und soziale Ungleichheiten Ein „Kreuz“ der Medizin: Beschwerden ohne Befunde Umgang mit chronischer Krankheit Die Angst vor dem Psychiater

7. Für und wider die Medikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Das Problem Routine Check-up? Arzneimittel nach Maß Das Jahrhundert des Gehirns? Warum wir mehr ärztliche Beratung brauchen

8. Alter und Altern: Optimismus und Resignation . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6

Vier Lebensalter Verluste und Gewinne Zwischen Heilsversprechen und Nihilismus Körperliche und psychosoziale Probleme Der gute Hausarzt Was kann ich tun?

9. Kann es ein gutes Sterben geben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6

Die Furcht vor einem schlechten Sterben Was wünschen wir? Der Sinn der Patientenverfügung Palliative und Hospizbetreuung Was bedeutet Euthanasie? Ärztliche Beihilfe zum Suizid?

10. Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung . . . . 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5

Ein titanisches Zeitalter wird besichtigt Barrieren gegen medizinische Vernunft? Unbestellte Felder Nur Gesundheitsreform oder auch Reform der Medizin? Nochmals Patient und Arzt: Ausblick mit Hoff ffnung

82 84 88 88 90 93 95 97 99 104 104 105 107 109 111 115 115 116 118 121 123 125 128 128 129 130 132 136 139 143 143 146 149 151 153

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

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Für Elisabeth

Vorwort

Vorwort Früher tödlich verlaufende Krankheiten lassen sich heute gut behandeln und kurieren. Geht der Fortschritt endlos weiter? Werden sich eines Tages alle Krankheiten erfolgreich bekämpfen und eliminieren lassen? Wird die Lebensspanne immer größer und erleben wir eine Medizin ohne Grenzen? Trotz allem Optimismus existieren auch Grenzen. 2010 wurde prognostiziert, dass durch die steigenden Ausgaben im Folgejahr den Krankenkassen ein Defi fizit von elf Milliarden Euro droht. Ursache sind neue diagnostische und therapeutische Methoden sowie die Alterung der Gesellschaft. Grenzen setzen auch die Nebenwirkungen von diagnostischen Prozeduren und Therapien. Eine weitere weniger sichtbare, aber trotzdem einschneidende Grenze entsteht durch die Medizin im Hightech-Zeitalter, die vor allem auf Krankheiten und ihre Mechanismen, aber weniger auf den Patienten fokussiert ist. Mehr als eine Gesundheitsreform brauchen Patienten und Ärzte eine Reform der Medizin. Unsere Hightech-Ära verfügt über viele medizinische Innovationen bei gleichzeitiger Übertechnisierung, Überdiagnostik und Übertherapie. Das Buch macht deutlich, warum erstens eine kritische Überprüfung der gängigen Praxis notwendig ist. Dabei kommen Nutzen und Nachteile, Licht und Schatten der modernen Medizin zur Sprache. Zweitens braucht technische Machbarkeit als Kompensation Menschlichkeit. Die ausschließlich krankheitszentrierte Medizin sollte durch eine Patient-zentrierte Medizin ergänzt werden. Um dieses Ziel einer menschlichen und zugleich kritischen Medizin zu erreichen, sind vor allem Patienten und Ärzte gefordert. Deshalb wendet sich das Buch an mitdenkende Nichtärzte und Ärzte. Es ist kein banales Ratgeberbuch, sondern setzt sich mit den Grund-, Lebens- und Grenzfragen der Medizin auseinander und bezieht das Patient-Arzt-Verhältnis, die Alternativmedizin, die seelische Ausgeglichenheit sowie unsere Positionen zum Altern und Sterben mit ein. Solche Fragen lassen sich nur beantworten, wenn sich Nichtärzte und Ärzte am Diskurs beteiligen. Um diesen Zweck zu erreichen, ist das Buch allgemein verständlich geschrieben.

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Vorwort

Als Allgemeininternist habe ich mich Jahrzehnte mit den genannten Themen beschäftigt und präsentiere mit diesem Buch eine Summe meiner Erfahrungen als Arzt, Patient und Leser. Möge es zur inneren Reform der Medizin beitragen, damit Menschen, die eines Tages Patienten werden, besser über sich selbst bestimmen und mitentscheiden können. Karlheinz Engelhardt

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Medizin in der Krise?

1.1 Fortschritt und Spezialisierung Im 19. Jahrhundert begann die Medizin eine angewandte Naturwissenschaft zu werden. Ernst von Leyden ’ 1 sagte in seiner Eröff ffnungsrede zum Internistenkongress 1887: „Die Naturwissenschaft, welche in der Gegenwart die größten Triumphe feiert, prägt auch den Versammlungen den Charakter auf. Unter ihrer Flagge segelt auch die Medizin. Pathologie und Therapie sollen mechanische Wissenschaften werden.“ Zwei Jahre zuvor hatte Louis Pasteur seinen Impfstoff ff gegen Tollwut entwickelt. In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das erste Antibiotikum, das Penicillin, eingesetzt. 1953 entdeckten Watson und Crick die Doppelhelixstruktur der Desoxyribonukleinsäure (DNS). Der vorläufi fige letzte Schritt der Genforschung ist das „Human Genome Project“, das die menschlichen Gene auf den Chromosomen genau aufschlüsselt. Fortschritt bringt Nutzen: molekularbiologische Erkenntnisse der Krankheitsentstehung, Labortests, bildgebende diagnostische Verfahren wie Ultraschall, Computertomografi fie und magnetische Resonanztomografi fie. Krankheiten werden wirkungsvoller als früher behandelt, beispielsweise Herz- und Lungenkrankheiten, Magengeschwüre und Infektionen. Vielleicht besiegt die Medizin eines Tages, so hofft ff man, alle Krankheiten und sogar den Tod. Das wird eine Illusion sein, aber Technikfeindlichkeit wäre falsch. Sie vergisst die Hilfe, durch naturwissenschaftliches Wissen und technisches Können vorteilhaft eingreifen zu können. Die moderne Medizin richtet ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf kranke Organe und die physikochemischen Mechanismen der Krankheiten, um eff ffektiv die gestörte Funktion und Struktur

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1.

Medizin in der Krise?

dieser Organe wiederherzustellen. Seit mehr als hundert Jahren hat sich dieses Paradigma als erfolgreich erwiesen. Aber es gibt auch Widerspruch. Eine oft gehörte Kritik an der modernen Medizin bezieht sich auf die mangelnde Zeit und das zu geringe Zuhören der Ärzte. Experten, die viele medizinische Techniken bis zur Perfektion beherrschen, können nicht mehr viele Lebensumstände des Kranken kennen. Ist der heutigen Medizin das Interesse am Subjekt, ist ihr die Kunst des Heilens abhandengekommen ’ 2, 3 ? Vielen Patienten, Angehörigen und Ärzten ist eine überwiegend krankheits- und nicht gleichzeitig Patient-zentrierte Medizin zu eindimensional ’ 4. Mit dem Fortschritt sind zwei Dinge verbunden: Erstens ist er teuer. Jede Leistungsexplosion führt zu einer Kostenexplosion. Zweitens ist jeder Fortschritt mit einer zunehmenden Spezialisierung verbunden. Sie hat durchaus Vorteile: Gastroenterologen, Kardiologen und andere Spezialisten beherrschen meistens ihre Techniken und Interventionen. Die Spezialisierung brachte es auch mit sich, dass es viele Psychoexperten einerseits, reine Somatiker andererseits gibt. Dieser zunehmende Trend zur Spezialisierung ist nicht immer günstig, weil es viele Patienten mit chronischen Krankheiten gibt, die eine kontinuierliche Betreuung von einem Generalisten, einem guten Hausarzt, benötigen. Ein alter Mensch hat oft mehrere Krankheiten gleichzeitig. Ihre Integration und ihre Behandlung, die die Verträglichkeit verschiedener Medikamente sorgfältig überprüft, ist eine Aufgabe des Generalisten. Psychologisches und somatisches Spezialistentum, das den psychophysischen Dualismus des Descartes in die tägliche Praxis überträgt, vergisst leicht, dass auch der kranke Mensch eine Einheit ist, die nur künstlich in Psyche und Soma aufzuteilen ist. Der Spezialist hat nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch hierzulande ein höheres Prestige als der Generalist. Zwischen 1997 und 2005 fiel fi in den USA die Zahl der Studenten, die Allgemein-, bzw. Familienmedizin wählten, um 50 ’ 5. Ein wesentlicher Grund: Operative Eingriffe ff und Prozeduren des Spezialisten werden wesentlich besser bezahlt als das Sprechen des Hausarztes mit seinem Patienten, der von ihm eingehend beraten wird. Das gilt auch für Deutschland. Wenn die Vergütung eines Allgemeinarztes so gering ist, dass er für einen Patienten nur acht Minuten oder weniger erübrigen kann, ist dann ein Eingehen auf psychosoziale und emotionale Th Themen noch realistisch?

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Wird die Medizin unbezahlbar?

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Die Beurteilung der modernen Medizin durch die Bevölkerung erscheint zwiespältig. Einerseits werden naturwissenschaftlich-technische Meilensteine bewundert, andererseits wird von einer „seelenlosen Medizin“ gesprochen. Die Schulmedizin wird nicht selten mit Etiketten wie „böse Chemie“ oder „kalte Apparatemedizin“ versehen. Viele Kranke, vor allem solche, denen die Schulmedizin sagt, sie könne bei ihnen trotz Schmerzen und Leidensdruckes nichts finden, fi wenden sich der alternativen Medizin zu. Sie suchen off ffenbar das „Medikament Arzt“, das vertrauensvolle Gespräch und das Gefühl, mit den eigenen Sorgen und Ängsten nicht allein gelassen zu werden. Bei einer Befragung meinten 31 % der deutschen Erwachsenen, das Gesundheitswesen sei dringend reformbedürftig und 58 % stuften ihr eigenes Befinden als schlecht ein ’ 6. Trotz der medizinischen Fortschritte besteht ein „Gesundheitsparadox“ ’ 7 : Man ist mit der persönlichen Gesundheit unzufrieden. Je mehr man sich mit Gesundheit und dem eigenen Körper beschäftigt, wozu Medizin, Medien und Pharmaindustrie anregen, umso mehr steigen Besorgnis und Unsicherheit.

1.2 Wird die Medizin unbezahlbar? Es ist einsehbar, dass die Zunahme von naturwissenschaftlich-technischem Wissen und Können die Medizin teurer macht. Kosten werden durch neue Technologien gesteigert. Labor- und Vorsorgeuntersuchungen, bildgebende diagnostische Verfahren und medikamentöse Verschreibungen nehmen zu ’ 8. Dadurch kann das Leben verlängert werden. Teurer werdende Medizin ist off ffenbar eine unausweichliche Folge des Fortschritts. Es gibt aber noch andere Ursachen für hohe medizinische Kosten, von denen ich einige nenne: Labortests und bildgebende Verfahren werden zu oft angeordnet. Das Gespräch mit dem Patienten über seine Beschwerden und ihre Vorgeschichte, die Anamnese, und eine gründliche körperliche Untersuchung würden ergeben, dass viele Hightech-Untersuchungen wie Computertomogramme unnötig sind. Hier schlägt die wissenschaftliche Medizin in Irrationalität um, wird sehr teuer und schadet dem Patienten durch Strahlenbelastung. Wenn bei einer Frau oder einem Mann mit unkomplizierten Kreuzschmerzen und fehlenden Zeichen einer „roten Flagge“, also beispielsweise Lähmungserscheinungen, gleich ein Compu-

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1.

Medizin in der Krise?

tertomogramm oder ein magnetisches Resonanztomogramm veranlasst wird, können Pseudobefunde, die nicht kausal für die Schmerzen verantwortlich sind, zu einer unnötigen Operation führen ’ 9. Zu vermeidende Kostensteigerungen gelten auch für die Kardiologie. Mit 6441 Herzkathetern pro Million Einwohner zur Darstellung von Herzkranzgefäßen, koronaren Angiografien, fi war bereits 1998 die Zahl dieser Interventionen in Deutschland die höchste in Europa. Solche Prozeduren sind nicht nur teuer, sie sind auch mit Komplikationen belastet. Eine sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung würden zeigen, dass viele invasive Darstellungen der Herzkranzgefäße überflüsfl sig sind ’ 10. Nicht indizierte und somit entbehrliche Prozeduren nützen nicht dem Kranken, sondern der Amortisierung teurer Geräte. Verteuert wird die Medizin auch durch den medizinisch-industriellen Komplex ’ 11. Darunter versteht man die zunehmende Verfl flechtung von Gerätehersteller- und Pharmaindustrie mit der Medizin. Die Industrie bezahlt zahlreiche Fortbildungen für Ärzte, auf denen mehr oder weniger versteckt für ein medizinisches Produkt geworben wird. Eine kluge Arzneimitteltherapie wird nicht durch Werbung, sondern durch eine kritische Arzneimittellehre, die Pharmakologie ’ 12, ermöglicht, die Wirksamkeit und Sicherheit der Medikamente objektiv beurteilt. Pharmavertreter, die Ärzte besuchen, sagen nicht, dass ihr neuestes Präparat nicht immer das beste ist. Je häufi figer die ärztlichen Kontakte mit solchen Industrievertretern sind, umso mehr steigen die medizinischen Kosten ’ 13. Schließlich ist ein weiterer Grund der Kostenexplosion, dass immer mehr Ereignisse des täglichen Lebens, Sexualität, Schwangerschaft, scheues Verhalten, männlicher Haarverlust und Altern medizinisch betreut werden ’ 14. Man nennt diesen Vorgang Medikalisierung des Alltags. Diese Medikalisierung bringt uns in eine zunehmende Abhängigkeit von der Medizin und ist mit einem hohen finanziellen Preis verbunden.

1.3 Probleme im Krankenhaus Das Diagnosis Related Groups (DRG)-System wurde 2003 / 2004 zur Kostensenkung im Krankenhaus eingeführt ’ 15. Die ökonomische Logik wurde damit zum Maß der Dinge. Die Krankenkassen rechnen bei Klinikpatienten nicht mehr in Tagessätzen ab, sondern auf der Basis

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Probleme im Krankenhaus

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diagnosebezogener Fallpauschalen. Viele ältere Kranke haben aber mehrere Krankheiten gleichzeitig, für das Krankenhaus ist es jedoch aufgrund des DRG-System weniger wirtschaftlich, mehrere Krankheiten eines Patienten während seines stationären Aufenthalts zu behandeln, da nur eine Hauptdiagnose abgerechnet werden kann. Zeit für menschliche Kommunikation zwischen dem Arzt und seinem Patienten ist unter DRG-Bedingungen nicht vorgesehen. Ärzte und Pfl flegekräfte berichten, dass sie immer weniger Zeit haben. Erklärungen, Information und persönliche Betreuung kommen zu kurz. Krankheiten werden anvisiert, aber der kranke Mensch mit seinen Problemen gerät aus dem Blickfeld. Was sind die Ursachen? Durch das DRG-System ist die Verweildauer drastisch verkürzt worden, die Patienten werden also wesentlich schneller als früher durch die Klinik geschleust. Um bei der kurzen Liegezeit nichts zu versäumen, werden zu Beginn viele, teils unnötige technische Untersuchungen angeordnet, durch die Zeit und Aufmerksamkeit der Ärzte absorbiert werden. Ärzte und Krankenschwestern verbringen weniger Zeit als früher auf den Stationen ’ 16. Ihre Zeit wird zunehmend von den Aufgaben der Funktionsräume, von Sonografie, fi Gastroskopie, Echokardiografi fie etc. beansprucht. Dadurch besteht weniger Zeit, sich dem individuellen Kranken zu widmen. Auch die bürokratische Arbeit der Verschlüsselung und Kodifi fizierung des DRG-Systems verkürzt den ärztlichen Kontakt mit dem Patienten. 25 bis 40 % der ärztlichen Arbeitszeit wendet der Kliniker für artfremde Dokumentationstätigkeiten auf ’ 17. In einer groß angelegten medizinsoziologischen Studie ’ 18 untersuchte Werner Vogd die Folgen des DRG-Systems: Auf der Inneren Abteilung war 2004 im Vergleich zu 2000 / 2001 die durchschnittliche Liegezeit von elf auf sieben Tage zurückgegangen. Anstelle der persönlichen Begegnung mit dem Patienten spielte die von der Aufnahmestation übernommene Krankenakte eine zunehmende Rolle. Vogd beobachtete: „Im Sinne des Primats der kurzen Liegezeiten wird versucht, Patienten schneller zu verlegen …“ Es „wird nun schneller und häufi figer (invasive) Diagnostik angefahren. Der Internist erscheint weniger verantwortlich für den ›ganzen‹ Patienten, sondern bedient oft nur noch ein Teilsegment der Behandlung, ohne – wie vor einigen Jahren noch die Regel – dabei den Gesamtprozess überblicken zu können …“ Der Internist sieht sich „nur

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1.

Medizin in der Krise?

noch bedingt in der Lage, so zu arbeiten, wie es seinem ärztlichen Ethos entspricht.“ Die ärztliche-professionalle Identität ist bedroht: „Im Sinne der Kriterien, wie sie die klassische Professionstheorie beschreibt, erfahren sie (die Internisten) eine Deprofessionalisierung vom Arzt zum technokratischen Spezialisten.“ Für ältere Patienten ist es charakteristisch, dass sie oft mehrere Krankheiten gleichzeitig haben, die alle zu berücksichtigen sind. Gerade für sie wird, wie Vogd hervorhebt, das DRG-System problematisch: „Da pro Krankenhausaufenthalt nur jeweils eine DRG abgerechnet werden kann, lohnt es sich für das Haus aus ökonomischer Sicht nicht mehr, verschiedene Krankheiten gleichzeitig zu behandeln.“ Polymorbide Menschen mit mehreren chronischen Krankheiten werden für das wirtschaftlich denkende Krankenhaus zur Last. Auch psychosoziale Aspekte sind wegen Zeitmangels kaum noch zu berücksichtigen ’ 18. Ein Medizinsystem, in dem der Arzt nicht mehr zum Aufatmen und zur Besinnung kommt, ist ungesund. Was ist in den letzten Jahrzehnten mit der Medizin geschehen? Das vergangene Jahrhundert war Zeuge einer mächtigen Entwicklung der naturwissenschaftlich-technischen Medizin, der allerdings der Patient abhandenzukommen drohte ’ 2. Um die hohen Kosten der modernen Medizin zu senken, wurde das DRG-System eingeführt, das den Patienten noch mehr an den Rand drängt. Ein Teufelskreis!

1.4 Auswege aus der Krise? Die Frage, ob es Auswege aus der Krise der Medizin gibt, ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt keine schnellen Rezepte, sondern es wird ein Umdenken nötig sein, das die Medizin erneuern würde. Das ist schwer. Trotzdem mache ich einige Vorschläge, die in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt werden. Was wäre zu beachten? Erstens: Es gibt viele Fortschritte der Medizin. Wenn ihre HightechInterventionen und diagnostisch-therapeutischen Methoden wie Herzkathetereingriffe, medikamentöse Behandlungen und Computertomogramme mehr Nutzen als Risiken bringen sollen, dann sind sie mit Augenmaß und Besonnenheit einzusetzen. Das ist heute leider nicht immer der Fall. Wenn Anamnese und körperlicher Untersuchung individuell und kritisch durchgeführt werden, können sinnlose und teure

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Auswege aus der Krise?

1. 4

Überdiagnostik sowie Nebenwirkungen, wie Röntgenstrahlenbelastungen durch ein unnötiges Computertomogramm, vermieden werden. Zweitens sind die Krankheitsdiagnose und die Aufklärung über ihre Mechanismen wichtige Aufgaben, damit der Arzt helfend eingreifen kann. Dieses Paradigma hat sich in mehr als hundert Jahren als erfolgreich erwiesen. Aber diese krankheitszentrierte Medizin ist durch eine Patient-zentrierte Medizin ’ 19 zu ergänzen. Dazu gehört, dass der Arzt sich eingehend um das Befinden, fi die Perspektive und Probleme des Patienten kümmert, damit er sich nicht zurückgestoßen und einsam fühlt. Patient-zentrierte Ärzte hören genau zu, unterstützen die Kranken auch emotional und geben Hoff ffnung. Eine solche Patient-zentrierte Medizin ist nicht bloß ein Desiderat der Ethik, sie führt zu besseren Krankheitsverläufen und zu größerer Zufriedenheit von Patienten und Ärzten. Drittens: Spezialisten wie Kardiologen, Herzchirurgen, Transplantationsmediziner und Gastroenterologen werden gebraucht. Da sind sich alle einig. Neben den Spezialisten ist jedoch der Allgemein- und Primärarzt stärker als bisher zu beachten. Er hat die wichtige Aufgabe, verschiedene und komplexe Krankheiten bei einem Patienten zu koordinieren und darauf zu achten, dass sich die Medikamente miteinander vertragen. Chronische Krankheiten wie Herz-, Lungen- und Gelenkkrankheiten, Diabetes, Depression und Karzinome gelten heute mit Recht als erstes medizinisches Thema. Patienten mit chronischen Krankheiten brauchen einen guten Hausarzt. Sie bevorzugen eine ganzheitliche Sicht, zu der die Fragen gehören: Wie sieht der Patient seine Krankheit? Was erwartet er vom Arzt? Welche psychosozialen Aspekte sind zu beachten? In hoch spezialisierten universitären und städtischen Kliniken der Inneren Medizin kommt heute die Ausbildung zum Generalisten zu kurz, der Allgemeinmediziner wird unterbewertet. Das Einkommen der Allgemeinärzte ist im Vergleich zum Spezialisten relativ gering ’ 20. Technische Prozeduren werden viel höher bewertet und bezahlt als eine ausführliche Beratung. Da die Arzt-Patient-Kommunikation, Beratung und Information in der Sprechstunde schlecht honoriert werden, fassen sich viele Ärzte kurz. Zu viele Patienten müssen durch die Praxis geschleust werden. Viertens: Naturwissenschaften erklären Krankheiten, sie verstehen aber nicht den einzelnen Kranken, das Subjekt, das sich mit seiner chronischen Krankheit auseinandersetzt und das mit ihr umgehen und zurechtkommen muss. Die Naturwissenschaften wären daher durch Geis-

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1.

Medizin in der Krise?

teswissenschaft und Philosophie zu ergänzen. Aber ist das nicht eine unnötige Komplizierung der Ausbildung? Das braucht nicht so zu sein. Nach Aristoteles beginnt die Philosophie mit dem Erstaunen. Wenn wir erstaunt fragen, warum die Medizin trotz ihrer Fortschritte und Erfolge in die oben beschriebene Krise geraten ist, sind wir der Philosophie ganz nahe. Philosophie sollte in einer klaren und verständlichen Sprache einige Grund- und Lebensfragen an die moderne Medizin stellen. Ohne diese Fragen schmort die Medizin im eigenen Saft. Wer nur innerhalb der Medizin und ihrer technischen Routine arbeitet, kann sie nicht so objektiv und vorurteilslos wie einer beschreiben, der sie auch als Patient erlebt hat. Literatur ’1 ’2 ’3 ’4 ’5 ’6 ’7 ’8 ’9 ’ 10 ’ 11 ’ 12 ’ 13 ’ 14 ’ 15 ’ 16

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Leyden E. von. Kongresseröffnungsrede. In: 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, hg. Von H. G. Lasch und B. Schlegel. Bergmann, München 1982 Engelhardt K: Kranke Medizin. Das Abhandenkommen des Patienten. Agenda, Münster 1999 Lown B. Die verlorene Kunst des Heilens. Schattauer, Stuttgart 2002 Engelhardt K: Patienten-zentrierte Medizin und Ethik. Dtsch Med Wochenschr. 2003; 128: 1969 – 1971 Bodenheimer T. Primary care – will it survive? N Engl J Med. 2006; 355: 861 – 864 Bartens W. Der deutsche Patient. Kranke wie Gesunde sind mit der Heilkunde unzufrieden – und die Medizin sucht nach einer Therapie für sich selbst. SZ. 04./ 05. 03. 2006 Barsky AJ. The paradox of health. N Engl J Med. 1988; 318: 414 – 418 Fuchs VR. Health care expenditures reexamined. Ann Intern Med 2005;143: 76 – 78 Jensen MC, Brant-Zawadzki MN, Obuchowski N et al. Magnetic resonance imaging of the lumbar spine in people without back pain. N Engl J Med. 1994; 331: 69 – 73 Dissmann W, De Ridder M. The soft science of German Cardiology. Lancet 2002; 359: 2027 – 2029 Engelhardt K: Der medizinisch-industrielle Komplex. Dtsch Med Wochenschr. 2005;130: 1778 – 1780 Lüllmann H, Mohr K, Hein L. Pharmakologie und Toxikologie. Arzneimittelwirkungen verstehen – Medikamente gezielt einsetzen. 16. Aufl. Thieme, Stuttgart 2006 Dana J, Loewenstein G. A social science perspective on gifts to physicians from industry. JAMA 2003; 290: 252 – 255 Mc Lellan F. Medicalisation: a medical nemesis. Lancet 2007;369: 627 – 628 Flintrop J. Auswirkungen der DRG-Einführung. Dtsch Ärztebl 2006; 103: C 2574 – 2577 Teale K. What’s wrong with the wards? BMJ. 2007; 334: 97

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1. 4

’ 17

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2.

Arzt und Kranker

2.1 Was hat sich verändert? Im 19. Jahrhundert beginnt der Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die Ursachen vieler Krankheiten aufgedeckt. Louis Pasteur (1822 – 1895) und Robert Koch (1843 – 1910) begründeten die Bakteriologie. Eine neue Zeit brach an. Früher gepfl flegte magische und okkulte Praktiken, die Alchemie, Zauberinnen und Teufelsbanner wurden den Menschen fremd. Sie wollten nicht mehr aus der „Heilsamen Drecksapotheke“ behandelt werden. Noch 1696 behauptete der Münsteraner Arzt Paullini, mit Kot und Urin „fast alle, ja auch schwerste giftigste Krankheiten und bezauberte Schäden“ therapieren zu können ’ 1. Wahrscheinlich wäre es unzutreff ffend, zu behaupten, die Medizin habe vor der naturwissenschaftlichen Ära gar keine spezifischen fi Mittel besessen, um rational in gestörte Körpervorgänge eingreifen zu können. Eins ist aber sicher: Eine gute Arzt-Patient-Beziehung und Vertrauen des Kranken auf Hilfe, d. h. positive Kontextfaktoren, müssen die Voraussetzung gewesen sein, dass viele ungesicherte Arzneistoffe ff das Befi finden besserten. „Allen guten Ärzten von Hippokrates (460 – 375) bis Charcot (1825 – 1893)“, sagte der Medizinhistoriker Ackerknecht ’ 2 , „war bewusst, dass körperliche und psychische Vorgänge eng zusammengehören, obwohl es das Fach Psychosomatik noch nicht gab.“ Im letzten Teil des 19. Jahrhunderts und später sind alte leibseelische Einsichten „in der Menge faszinierender objektiver Entdeckungen mit der nachfolgenden Übermechanisierung und Überspezialisierung verloren“ gegangen ’ 2.

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Was hat sich verändert?

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Ohne Zweifel wollen Patienten mit einem Diabetes, einer Herzkranzgefäßkrankheit oder einem Karzinom nicht wie in früheren Zeiten leben und mit der „Heilsamen Drecksapotheke“ behandelt werden. Durch moderne Medizin und Hygiene hat sich die Lebenserwartung erhöht. Doch gibt es unrealistische Versprechungen und eine scheinbar grenzenlose Medizin, sodass mancher glaubt, die Medizin könne eines Tages alle Krankheiten und vielleicht sogar den Tod besiegen ’ 3. Im Verlauf des Buches werde ich erörtern, dass in unserer HightechÄra Ärzte in Klinik und Praxis von der pharmazeutischen und Geräteindustrie beeinfl flusst werden. Die Sponsoren von Fortbildungen haben ein Interesse, dass ihre Produkte im besten Licht dastehen. Es ist zweifelhaft, ob von der Industrie bezahlte Fortbildungsredner über neue Medikamente und Techniken wirklich balanciert sprechen. Wir brauchen mehr unabhängige Weiterbildung, die sowohl Vorteile als auch Risiken von Innovationen beim Namen nennt ’ 4. Gewiss, die naturwissenschaftlich-technische Medizin wird fortschreiten. Bei diesem Fortschritt können Nebenwirkungen auftreten, die nicht zu verschweigen sind. Es ist, um ein Beispiel aus der elektronischen Kommunikation zu nennen, noch nicht genau erforscht, wie der Computer die Patient-Arzt-Begegnung während des ersten Kontakts verändert. Früher erzählte der Patient während der Anamnese seine Beschwerden, der Arzt saß ihm gegenüber. Sie hatten Augenkontakt. Zwischendurch machte er sich Notizen. Heute sitzt der Arzt oft, während der Kranke berichtet, dem Computer gegenüber und gibt Daten ein. Durch die elektronische medizinische Akte wird der Patient-Arzt-Dialog verändert. Hinzu kommt Zeitdruck, der zu einer unpersönlichen Sammlung elektronisch gesammelter Krankheitsdaten führen mag ’ 5. Auch durch das Internet hat sich die klinische Praxis geändert. Ärzte und Nichtärzte benutzen zunehmend das Web. Früher floss einseitig Information vom Arzt zum Patienten. Heute kann der Nichtarzt viel über das Netz erfahren, das virtuell unbegrenzte Mengen von Informationen liefert. Populäre Suchmaschinen wie Google vermitteln Daten aus medizinischen Zeitschriften. Positiv ist zu werten, dass dadurch der Machtund Wissensgraben zwischen Patient und Arzt verringert wird. So machen manche Patienten durch Internetkenntnisse ihren Arzt auf eine neue Th Therapie aufmerksam. Aber es gibt auch widersprüchliche und falsche Angaben. Nicht richtig ist beispielsweise die Behauptung im Netz,

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dass durch eine besondere Diät ein Lymphdrüsenkrebs geheilt werden könne. Ärzte müssen heute fähig sein, verschiedene Informationen abzuwägen und ihre Patienten ausgeglichen zu beraten ’ 6.

2.2 Selbstbestimmung und Fürsorge Bei einer Befragung von 3058 Personen in Deutschland ’ 7 sprach sich die Mehrheit für eine gemeinsame Entscheidungsfi findung von Arzt und Patient aus. Ein Viertel der Befragten wollte allein der Fürsorge ihres Arztes vertrauen. Im paternalistischen Zeitalter der Medizin, das bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts reichte, bestimmte der Arzt über Diagnostik und Therapie. Th Der Kranke hoff ffte auf seine Fürsorge und sein Wohlwollen. Ihm sollte nicht geschadet werden, er sollte auch psychisch nicht belastet werden, sodass ungünstige Diagnosen und Prognosen, z. B. bei einem fortgeschrittenen Karzinom, meistens verschwiegen wurden. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde die Selbstbestimmung (Autonomie) des Kranken wenig beachtet. Im Vordergrund stand die ärztliche Fürsorge, dem Kranken zu nützen und Schaden von ihm abzuwenden. Heute ist neben den beiden ethischen Prinzipien des Nutzens und der Schadensvermeidung das dritte Prinzip der Selbstbestimmung getreten. Deshalb muss der Arzt den Patienten genau informieren. Nichts darf ohne seine Zustimmung erfolgen („Informed Consent“). Diese Autonomie erfordert, sich nach den Präferenzen, Werten und Perspektiven des Patienten in Bezug auf Krankheit, Diagnostik und Behandlung zu erkundigen. „Es gehört zur Menschenwürde dazu“, schreibt der Medizinethiker Hartmut Kreß ’ 8 , „dass jeder, der dazu in der Lage ist – also jeder urteilsfähige und erwachsene Mensch – über sein Tun und Lassen und über sein Schicksal selbst bestimmen darf.“ Es hängt mit der Aufklärung im Sinne von Immanuel Kant zusammen, dass in den letzten Jahrzehnten versucht wurde, den früheren Arzt-zentrierten Paternalismus durch ein anderes Konzept zu ersetzen, das den Graben zwischen dem wissensmächtigen Arzt und dem Kranken überbrückt. Je mehr diagnostische und therapeutische Möglichkeiten bestehen, umso mehr – sieht man einmal von Notfallbehandlungen ab – brauchen Patienten Gespräche über Optionen, damit gemeinsame Entscheidungen möglich sind. Der Arzt ist allerdings nicht verpflichtet, fl sinnlose Wünsche zu erfüllen. Respekt vor der Selbstbestimmung bedeutet nicht, nutzlose Konsu-

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Erwartungen an den Arzt

2. 3

mentenansprüche zu befriedigen. Die Medizin ist kein Warenhaus. Es ist falsch, dem Kranken alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten aufzuzählen, um ihm dann bei der Entscheidung nicht zu helfen und allein zu lassen. Der Patient wird hier zum überforderten Kunden, gleichzeitig schwinden Fürsorge und Verantwortung des Arztes, der zum Anbieter und Techniker wird. Patienten benötigen eine eingehende, objektive ärztliche Beratung, damit Nutzen, Risiken und Unsicherheit klinischer Optionen verstanden werden. Allerdings honoriert die deutsche Gebührenordnung vor allem technische Prozeduren, nicht zeitaufwendige Beratungen. Ist der Patient durch eine schwere Krankheit, beispielsweise durch eine Alzheimer Demenz, nicht mehr in der Lage, sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben, dann muss der Arzt sich an die Familie wenden, die für den entscheidungsunfähigen Patienten seine Wünsche formulieren soll. Weil wir durch Krankheit und Alter oft entscheidungsunfähig werden, ist eine Patientenverfügung sinnvoll, die mit ärztlicher Hilfe frühzeitig verfasst werden kann. Sie beschreibt die Wünsche eines Menschen für den Fall, dass er in Zukunft über medizinische Interventionen, die den Sterbeprozess künstlich verlängern, nicht mitbestimmen kann. Die Amerikanerin Terri Schiavo ’ 9 war seit 1990 in einem persistierenden vegetativen Status (Wachkoma) ohne Hoff ffnung auf Besserung. Weil keine Patientenverfügung vorlag, stritt sich die Familie erbittert, ob die Ernährungssonde entfernt werden dürfe, um die Krankheit nicht weitere Jahre am natürlichen Verlauf zu hindern. Erst 2005 wurde auf Beschluss eines Gerichts die Sonde entfernt. Die Patientin durfte sterben. Nicht selten wird versucht, ärztliche Fürsorge, die Leben erhalten will, gegen die Selbstbestimmung auszuspielen. Autonomie-Skeptikern ist entgegen zu halten, dass jeder bewusstseinsklare Mensch das Recht hat, ärztliche Eingriff ffe abzulehnen. Ärztliche Fürsorge ist essenziell. Sie sollte die Achtung vor der Selbstbestimmung mitumfassen.

2.3 Erwartungen an den Arzt Viele Krankheiten wie Herzkranzgefäßverengungen mit Angina Pectoris, Karzinome, chronische Bronchitis, Magen- und Zwölffi ffingerdarmgeschwüre lassen sich besser als früher behandeln. Vor wenigen Jahren bestieg eine 42-jährige Amerikanerin mit einem Herztransplantat das

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Matterhorn ’ 10. Die Menschen hoff ffen, dass die Medizin weiter fortschreitet und die Ärzte sich entsprechend fortbilden. Diese Hoff ffnung ist berechtigt, aber ein unkritischer Glaube an eine Medizin ohne Grenzen, an ein Leben ohne Krankheit und Tod, führt zu Enttäuschung. Auf der einen Seite existieren unter Nichtärzten und Ärzten utopische Vorstellungen von medizinischer Machbarkeit, auf der anderen Seite begegnet man einem scheinbar paradoxen Unbehagen an der HightechMedizin. Man wirft der an den Universitäten gelehrten „Schulmedizin“ vor, sie sei „kalte Apparatemedizin“ und behandle mit nebenwirkungsreicher „Chemie“. Viele Menschen wenden sich der alternativen Medizin zu. Vielleicht suchen sie hier das vertrauensvolle Gespräch und mehr Zeit eines Arztes für sie, der sich für ihre Vorstellungen und Sorgen interessiert. Mit anderen Worten: Sie suchen das „Medikament Arzt“. Das Patient-Arzt-Verhältnis ist von Natur aus asymmetrisch. Der Arzt ist gesund und besitzt mehr Fachwissen, der Patient, vor allem wenn es sich um eine schwere oder chronische Krankheit handelt, fühlt sich oft ohnmächtig, emotional angespannt und dem Arzt ausgeliefert. Auch im Krankenhaus wird oft vergessen, dass die naturwissenschaftlichtechnische Medizin nicht alles ist, dass sie Grenzen hat und durch eine menschlich-verstehende Medizin ergänzt werden muss ’ 11. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass der Patient im Krankenhaus den Namen des behandelnden Arztes kennt. Bei der Befragung von 2807 Patienten einer Universitätsklinik waren 75 % nicht in der Lage, den Namen eines Arztes zu nennen ’ 12. In einer großen, geschäftigen Klinik kann der Kranke rätseln, wer für ihn verantwortlich ist. Junge Ärzte stellen sich nicht immer richtig und deutlich vor und die Ärzte wechseln. Wenn man seinen Betreuer nicht zu identifi fizieren vermag, wagt man nicht zu fragen und wird weniger informiert. Machbarkeit sucht Menschlichkeit. Dass beide eine Allianz bilden, kommt nicht von allein. An Universitäts- und anderen Kliniken sollten deshalb Studenten besser auf ihre zukünftige Berufspraxis vorbereitet werden ’ 13. Patienten erwarten Wissen und Können des Arztes. Gleichzeitig wünschen sie eine gute zwischenmenschliche Beziehung. Das gilt vor allem für den Primär- und Hausarzt. Ein Arzt, der zuhört und sich für die Sicht des Kranken interessiert, schaff fft Vertrauen. Eine Untersuchung ’ 14 ergab, dass Patienten in der Sprechstunde durchschnittlich nur 22 Sekun-

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Der Patient als Kunde, der Arzt als Anbieter?

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den Zeit haben, ihre Beschwerden darzustellen, dann übernimmt der Arzt die Führung, der off ffenbar „Langatmigkeit“ fürchtet. Ohne Unterbrechung dauerte die mittlere spontane Redezeit 92 Sekunden. Ärzte riskieren demnach nicht, von Symptomschilderungen überschwemmt zu werden. Stattdessen unterbrechen sie den Kranken. Dabei führt ärztliches Zuhören zu Vertrauen, Befriedigung des Kranken und zu besseren Krankheitsverläufen ’ 15.

2.4 Der Patient als Kunde, der Arzt als Anbieter? Ratsuchende werden heute oft zu wohlinformierten Kunden, die gewisse ärztliche Leistungen wünschen: Medikamente zur Jungerhaltung des Gedächtnisses, Steigerung der sexuellen Leistung, Wachstumshormon bei kleiner Statur, Antidepressiva bei sozialer Angst und Lampenfiefi ber. Wird bei Befriedigung dieser Wünsche medizinisch Notwendiges getan oder gibt der Arzt Forderungen von Kunden nach? Die Industrie behauptet: Fast ein Drittel aller Männer leide unter einem Mangel an Testosteron ’ 16. Zwar gibt es Krankheiten mit einem Testosteronverlust, aber die Werbung verspricht, Testosteron könne im Alter die Jugend zurückbringen. Es gibt Hinweise, dass Testosteron, wenn nicht ein wirklicher Ausfall vorliegt, mehr schadet als nützt. Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) sind wissenschaftlich ungesichert und werden mit Recht von den Kassen nicht bezahlt. Zu ihnen gehören sonografi fische Vorsorge-Untersuchungen ohne Symptome, fragwürdige Hormonbestimmungen und Bluttests zur Krebsfrüherkennung wie Prostata-spezifi fisches Antigen (PSA), Vitaminspritzen, Vitalund Aufbaukuren. Aus Furcht vor einer Praxispleite wird der Arzt zum Anbieter, der Patient zum Kunden und Medizin zum Geschäft. In Fachzeitschriften ’ 17 werden Praxistipps gegeben, wie man richtig „igelt“. Individuelle Gesundheitsleistungen seien aus dem deutschen Gesundheitswesen nicht wegzudenken. In den Medien wird für diagnostische Bildgebung, z. B. für einen „vorsorglichen“ Ganzkörper-Check-up in vier Stunden ’ 18, 19 geworben. Reklamebroschüren betonen Gesundheit und versprechen Gewissheit über den eigenen Körper. Es wird nicht empfohlen, sich an eine unabhängige Informationsquelle zu wenden. Diese sich direkt an den Kunden wendende Werbung gibt keine balancierte Auskunft über Nutzen und Risi-

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ken. Die Strahlenbelastung durch ein Computertomogramm wird nicht erwähnt, auch falsch krankhafte Ergebnisse mit aggressiven Folgeprozeduren werden nicht genannt. Die Reklame verschweigt, dass es falsch normale Befunde gibt, sodass sich die untersuchte Person unangebracht sicher und gesund fühlt. Die Medizin wird hier zu einem Teil des Marktes, der Patientenfurcht benutzt, um Geld zu verdienen. Krankenhausmanager nennen den Patienten einen Kunden, der von den Leistungen der Klinik befriedigt werden will ’ 20. Krankhäuser konkurrieren heute miteinander um Kunden. Klinikpatienten sind für Krankenhausmanager externe Kunden. Die Definition fi lautet: Kunden nehmen Leistungen in Anspruch, eine Ware oder Dienstleistung. In dieser Defi finition schwingt besonders für Privatpatienten mit: Je mehr gemacht wird, je teurer die Leistung ist, umso besser muss die angebotene Medizin sein. Ich werde auch in den nächsten Kapiteln diskutieren, ob diese Annahme richtig ist. Krankenhausmanagern ist der Begriff ff Patient – das lateinische Wort patiens heißt erduldend – zu passiv. Er soll souveräner Kunde werden. Bei dem Konkurrenzkampf um den Kunden soll die Freundlichkeit des Personals dem geschäftlichen Erfolg dienen. Zuwendung geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern wird Mittel zum Zweck. Einfühlung in den Kunden und Freundlichkeit können gemimt werden, sodass Gefühle kommerzialisiert werden. Viele Patienten spüren jedoch, ob es sich bei Krankenschwestern, Pfl flegern und Ärzten nur um ein gespieltes Verhalten oder um wirkliches Interesse am Kranken handelt. Da der Kunde Geld bringt, ist die Möglichkeit unnötiger Labortests, bildgebender Verfahren und Eingriffe ff sehr real. Ein Kunde kann in unserer Warenwelt alles kaufen, wozu er Lust hat, wenn er das nötige Geld besitzt: einen Anzug, einen bestimmten Autotyp, eine Reise. Wenn Krankenhausmanager fragen, was technische Angebote einbringen, muss man gegenfragen: Sind die technischen Interventionen, z. B. die vielen in Deutschland üblichen Herzkatheter, immer angebracht oder werden sie eingesetzt, um die hohen Kosten der Apparate zu amortisieren? Der Arzt muss im Gegensatz zum Verkäufer auch Nein sagen können ’ 21, wenn der Patient unangemessene Tests und eine unangemessene Behandlung wünscht. Nur befriedigt ein nacktes Nein nicht. Der Patient möchte seine Perspektive verstanden und den Grund der Ablehnung wissen. Dazu braucht er gute Kommunikation.

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Was heißt Patient-zentrierte Medizin?

2. 5

2.5 Was heißt Patient-zentrierte Medizin? In Deutschland ist relativ früh das Konzept einer Patient-zentrierten Medizin ’ 22 entwickelt worden. Das Ziel war und ist, nicht die naturwissenschaftlich-technische oder krankheitszentrierte Medizin zu ersetzen, sondern sie zu ergänzen und kompensieren. Während in Deutschland dieses Konzept keine nennenswerte Resonanz fand, wurde es in den Vereinigten Staaten von Amerika Jahrzehnte später entdeckt. Das „Institute of Medicine“ sieht in „Patient-centered care“ die Grundlage einer qualitativ hochwertigen Medizin ’ 23. Zu ihr gehört, die Präferenzen eines Kranken bei Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen und ihn eingehend zu beraten. Eine Barriere ist das finanzielle System, das überall technische Leistungen, aber nicht Zuhören und Beratung honoriert. Patient-zentrierte Ärzte sehen den Kranken nicht nur als Fall mit Gallenstein, Magengeschwür oder Brustkrebs, sondern auch als Persönlichkeit. Dazu ein Beispiel: Ein Arzt kommt bei der Visite zu einer 83-jährigen Frau, die wegen einer Lungenembolie in einer Klinik liegt. Er begrüßt sie freundlich und erfährt, dass sie in ihrer Jugend im Nazi-besetzten Frankreich der „Résistance“ angehörte. Der Arzt hört aufmerksam zu. Das Gespräch dauert nicht länger als fünf Minuten. Für den Arzt war sie plötzlich kein Fall mehr mit Lungenembolie in Raum 8, sondern eine Frau mit einer sehr persönlichen Geschichte ’ 24. Wie wichtig es ist, bei diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen die Perspektive des Patienten zu berücksichtigen, erfährt der Arzt, wenn er selbst erkrankt und mit einem Karzinom oder einem Herzinfarkt konfrontiert wird. Er muss jetzt lernen, mit der neuen Situation umzugehen, er erfährt unmittelbar, dass es neben dem objektiven Krankheitsprozess gleichzeitig ein subjektives Erlebnis mit Sorge und Angst gibt. Zur Patient-zentrierten Medizin gehören Umgangsformen: Es ist nicht selbstverständlich, dass der Arzt dem Kranken bei der Visite die Hand gibt und ihn fragt, wie er sich in der Klinik fühlt. Es ist noch weniger selbstverständlich, sich zu dem liegenden Kranken zu setzen, um auf gleicher Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Patient-zentrierte Medizin hat viele Vorteile: Sie befriedigt den Kranken, er hält die empfohlene Therapie besser ein und seine Krankheit

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verläuft günstiger. Sie nützt auch dem Arzt, weil sie hilft, ein Burnout-Syndrom zu vermeiden ’ 25, 26, das durch Verlust der Freude an der Arbeit (emotionale Erschöpfung), Behandlung der Patienten als Objekte (Depersonalisation) und dem Gefühl des eigenen Versagens charakterisiert wird. Die Arbeit erscheint dann sinnlos. Medizinische Fakultäten lehren vorwiegend krankheitszentrierte Medizin, d. h. die Ursachen und Mechanismen von Krankheiten, aber viel zu wenig die Bedeutung einer persönlichen Arzt-Patient-Beziehung, die heilsam für beide Partner ist. Literatur ’1 ’2 ’3

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Literatur ’ 14 ’ 15 ’ 16 ’ 17 ’ 18 ’ 19

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3.1 Der Siegeszug des naturwissenschaftlichen Paradigmas Die Medizin wandte sich von naturphilosophischen Spekulationen ab. Die genaue Beobachtung des kranken Körpers und die Einbeziehung physikalischer, chemischer und experimenteller Methoden gehörten zum neuen Paradigma. „Die experimentelle Methode“, sagte der französische Physiologe Claude Bernard (1813 – 1873), „ist, genau betrachtet, nichts anderes als eine logische Schlussfolgerung, mit deren Hilfe wir unsere Ideen methodisch der Prüfung durch Tatsachen unterwerfen!“ ’ 1. René Descartes (1596 – 1650), der erste Denker der Moderne, hatte eine Voraussetzung für das experimentelle Verfahren geschaffen, ff indem er den Menschen in zwei Substanzen, das denkende Ich (res cogitans) und die Körpermaschine (res externa), zerlegte. Ernst von Leyden ’ 2 diagnostizierte in seiner Eröff ffnungsrede zum Internistenkongress 1887: „Die Naturwissenschaft, welche in der Gegenwart die größten Triumphe feiert, prägt auch den Versammlungen den Charakter auf. Unter ihrer Flagge segelt auch die Medizin. Pathologie und Therapie sollen mechanische Wissenschaften werden.“ Die Medizin begann exakt zu werden. Die an den heutigen Universitäten gelehrte Medizin, die Schulmedizin, verdankt ihre Erfolge der konsequenten Anwendung der Naturwissenschaften und Technik. Krankheit ist nicht mehr, wie Religionen glaubten, eine Folge der Sünde, eine Gottesstrafe oder die Auswirkung dämonischer Kräfte, sondern ein veränderter und labiler Zustand des Körpers, der durch Umwelt- und genetische Faktoren verursacht wird. Der Begriff ff Schulmedizin ist erstmals 1876 in der homöopathischen Li-

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teratur im abwertenden Sinn nachzuweisen ’ 3. Als Schulmediziner und Internist benutze ich den Begriff ff neutral. Schulmedizin ist nicht zu verteufeln, ihre naturwissenschaftlichen und technischen Methoden tragen dazu bei, Krankheiten besser zu erkennen und zu behandeln. Die Medizin und die mit ihr eng verbundene Hygiene steigerten und steigern die durchschnittliche Lebenserwartung in unserem Kulturkreis. Drei wichtige Prinzipien der Schulmedizin sind: die Falsifizierbarkeit fi medizinischer Hypothesen im Sinn von Karl R. Popper. Zweitens die Evidenz-basierte Medizin und drittens das Prinzip des Reduktionismus. Falsifi fizierbarkeit. Die Philosophie Karl Poppers unterscheidet sich von dogmatischen Weltanschauungen, indem er wie Albert Einstein Experimente vorschlägt, die manche Th Theorie als unhaltbar erweisen. „So kam ich“, formuliert Popper in der Beschreibung seiner intellektuellen Entwicklung ’ 4 , „gegen Ende des Jahres 1919 zu dem Schluss, dass die wissenschaftliche Haltung die kritische war; eine Haltung, die nicht auf ›Verifizierung‹ ausging, sondern kritische Überprüfungen suchte: Überprüfungen, die die Theorie widerlegen konnten; die sie falsifi fizieren konnten …“ Was bedeutet das für die Diagnostik? Nachdem ein Patient seine Beschwerden und Symptome dem Arzt berichtet und der Arzt ihn gründlich untersucht hat, wird beispielsweise die Vermutungsdiagnose einer Schilddrüsenunterfunktion gestellt. Diese Vermutung ist durch eine Hormonbestimmung zu überprüfen. Ergibt sie normale Werte, ist die ärztliche Hypothese widerlegt. Allerdings gibt es falsch-normale Laborteste, sodass bei einer begründeten klinischen Verdachtsdiagnose die Hormonbestimmung zu wiederholen ist. Kritische Überprüfungen, wie sie Popper für die Wissenschaft anmahnt, tragen zu genauen Diagnosen bei und nützen dem Kranken. Evidenz-basierte Medizin. Dieses zweite Prinzip fragt nach Beweisen für das ärztliche Handeln, die vor fragwürdigen diagnostischen und therapeutischen Techniken schützen. Evidenz-basierte Medizin setzt auf rationale Diagnostik und Behandlung, die auf wissenschaftlichen Nachweisen beruhen. Bildgebende Verfahren wie Röntgenaufnahmen und Ultraschall (Sonografie) fi sind wertvolle Hilfsmittel, aber sie sind überlegt anzusetzen, damit es nicht zur Idololatrie, zu einem unkritischen Bilderdienst, kommt ’ 5.

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Die meisten akuten Rücken- oder Kreuzschmerzen ohne Zeichen der „Roten Flagge“, d. h. ohne stärkere neurologische Symptome und ohne klinische Hinweise auf Entzündungen, Systemkrankheiten, Karzinome und andere organische Ursachen, haben eine gute Prognose und benötigen keine bildgebenden Verfahren wie Computer- oder Magnetische Resonanztomografi fie. An diese Leitlinie der Evidenz-basierten Medizin sollte sich der Arzt halten, denn eine Bildgebung der Wirbelsäule ohne Begründung (Indikation) bessert nicht das Ergebnis. Im Gegenteil: Es gibt schädliche Auswirkungen einer Überdiagnostik wie die Strahlenbelastung eines Computertomogramms. Außerdem stehen abnorme Befunde der Bildgebung oft nicht mit den aktuellen Beschwerden in einem ursächlichen Zusammenhang. Solche Befunde vermindern das Bewusstsein der eigenen Gesundheit, verunsichern und führen zu unnötigen Operationen ’ 5. Wegen der großen praktischen Bedeutung akuter Kreuzschmerzen werde ich auf dieses Problem etwas ausführlicher zurückkommen. Nur so viel an dieser Stelle: Wenn die Leitlinien der Evidenz-basierten Medizin bei unkomplizierten Rückenschmerzen keine bildgebenden Verfahren empfehlen – warum erfolgen sie so häufi fig? Patienten mögen sie wünschen, weil sie das Visuelle überzeugt, Ärzte wollen den Kranken zufriedenstellen oder fürchten juristische Prozesse, falls etwas übersehen wird. Das Patient-Arzt-Verhältnis in der Hightech-Ära sollte ein Gespräch darüber einschließen, wie unnötige und schädliche Überdiagnostik zu vermeiden ist. Ein wichtiger Bezugspunkt für die Evidenz-basierte Medizin sind randomisierte kontrollierte Studien oder, wie sie angloamerikanisch genannt werden, Randomized Controlled Trials (RCTs). Um zu testen, ob ein neues Medikament einem Placebo (Scheinmedikament) überlegen ist, werden zwei Gruppen nach dem Zufallsprinzip, gegenübergestellt. Nach vorheriger Aufklärung und Einwilligung der freiwilligen Versuchspersonen erhält die eine Gruppe das neue Medikament, die andere Placebo. Um Vorurteile, psychische Einfl flüsse und Verzerrungen der Ergebnisse auszuschließen, wissen weder Arzt noch Patient, wer Placebo oder das aktive Medikament genommen hat (Doppelblindversuch). 1948 wurde in Großbritannien die erste RCT mit dem Tuberkulosemittel Streptomycin veranstaltet. Der deutsche Internist Paul Martini (1889 – 1964) sprach sich in einer „Methodenlehre der thera-

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peutischen Untersuchung“ schon früh für eine vergleichende und kritische Medikamentenbeurteilung aus, obwohl der Name Evidenz-basierte Medizin erst um 1995 entstand ’ 6. Da diese sich auf RCTs bezieht, kommt es auf ihre Verlässlichkeit an. Für viele triff fft das zu. Allerdings gibt es Hinweise, dass von pharmazeutischen Unternehmen finanzierte fi RCTs im Vergleich zu unabhängig von den Firmen durchgeführte Untersuchungen häufi figer ein Ergebnis haben, das für den Wirkstoff ff der Firma günstig ausfällt ’ 7. Wenn umgekehrt RCTs zu Resultaten kommen, die für das neue Medikament des pharmazeutischen Herstellers ungünstig sind, dürfen die Studien oft nicht publiziert werden ’ 8. Dadurch kommt es zu einem „Bias“, zu einer verzerrten Einschätzung des therapeutischen Wertes. Randomisierte kontrollierte Studien sind für eine Evidenz-basierte Medizin essenziell. Deshalb benötigen wir mehr RCTs, die unabhängig von pharmazeutischen Firmen fi finanziert werden. Reduktionismus. Was bedeutet dieses dritte Prinzip für die Hochleistungsmedizin? Frühere metaphysische Th Theorien wurden von der Empirie abgelöst, der es auf Beobachtung und Messung ankommt. Deshalb geht die Schulmedizin analytisch vom Symptom zur Diagnose vor. Ihr Ziel ist die Lokalisation von Krankheiten in Organen, Zellen und Molekülen. Der leidende Mensch als Subjekt und Person steht dabei nicht im Fokus dieses eff ffektiven, jedoch einseitigen Reduktionismus. Seine Methode ist angebracht auf der Ebene der Krankheitsmechanismen mit ihrer Anatomie, Biochemie und Pathologie. Dabei führt das objektive Vorgehen des Messens, Zählens und Quantifizierens fi zu einer überzeugenden Krankheitsbekämpfung. Man hat beispielsweise erforscht, dass bei der Parkinsonkrankheit (Schüttellähmung) der Nervenbotenstoff ff Dopamin fehlt, der therapeutisch verabreicht wird. Reduktionismus, Evidenz-basierte Medizin und kritische Überprüfungen von Vermutungsdiagnosen (Falsifizierbarkeit) fi sind wertvolle Elemente der naturwissenschaftlich-technischen Medizin. Allerdings lassen diese Methoden den Patienten mit seinem Befi finden, seinem Umgang mit chronischer Krankheit und seine persönliche Perspektive aus dem Spiel. Reine naturwissenschaftlich-technische f Medizin hat Grenzen und muss durch Kommunikation mit dem Kranken, durch Empathie und Beratung ergänzt werden.

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Diagnostik: Triumphe und Defizite fi

3.2 Labortests und bildgebende Verfahren Labortests und bildgebende Verfahren wie Ultraschall, Herzkatheter, Magnetische Resonanz- und Computertomographie haben die Diagnose organischer Krankheiten präzisiert. Labortests prüfen die Funktion von Nieren, Leber, Herz und anderen Organen. Sie umfassen Untersuchungen zur Früherkennung und Verlaufsbeobachtung von Karzinomen. Labortests und bildgebende Verfahren haben seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts viel mehr Prestige als Anamnese und unmittelbare Untersuchung. Damit Hightech-Methoden sinnvoll eingesetzt werden können, sind aber Anamnese und unmittelbare körperliche Untersuchung die Voraussetzung. Außerdem muss der Arzt die Grenzen der technischen Methoden kennen. Ihre begrenzte Sensitivität und Spezifi fität werde ich erörtern. Welchen Wert technische Methoden haben, sieht man am besten, wenn durch Unterdiagnostik Krankheiten nicht erkannt werden: Leidet eine ältere Frau plötzlich unter starken Rückenschmerzen, dürfen sie nicht als banal abgetan werden. Der Arzt muss an eine Osteoporose und an eine dadurch hervorgerufene Wirbelkörperfraktur denken, für deren Diagnostik ein Röntgenbild notwendig ist. Unterdiagnostik ist auch dann der Fall, wenn bei einem Verdacht auf Tuberkulose oder Lungentumor nicht geröntgt wird. Bei klinischen Hinweisen auf eine Herzgefäßkrankheit ist es ein Fehler, kein Elektrokardiogramm zu schreiben und nicht Blutdruck, Cholesterin und Blutzucker zu untersuchen. Vorbedingung einer guten Diagnostik, die sowohl Unter- als auch Überdiagnostik vermeidet, sind im Hightech-Zeitalter Anamnese und körperliche Untersuchung. Unter Anamnese wird die vom Arzt erhobene Vorgeschichte der Krankheit und des Kranken verstanden. Sie umfasst die aktuellen Beschwerden, überstandene Krankheiten und die biografische fi Anamnese. Die Familien-Anamnese beschäftigt sich mit Krankheiten und Todesursachen in der Familie. So ist bei Herzbeschwerden eines fünfundvierzig Jahre alten Rauchers die Auskunft des Kranken sehr ernst zu nehmen, dass sein Vater mit fünfzig einen Herzinfarkt hatte. Zur Anamnese gehören Fragen nach vegetativen Funktionen (Appetit, Gewicht, Schlaf, Stuhlgang u. a.), nach dem Alkoholkonsum, nach Rauchen und nicht zuletzt nach eingenommenen Medikamenten. Die eben

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Labortests und bildgebende Verfahren

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erwähnte biografische fi und die soziale Anamnese fokussieren auf die Lebenswelt des Kranken. Wie geht er mit einer chronischen Krankheit um? Irritiert ihn ein Berufsstress? Leidet er unter seinen Arbeitsbedingungen? Bestehen depressive Symptome wegen Arbeitslosigkeit? Auch Labortests und bildgebende Verfahren werden durch die Anamnese gesteuert. Um technische Zusatzdiagnostik richtig zu beurteilen, müssen wir außerdem ihre Grenzen kennen. Sie werden mit den Begriffen der Sensitivität und Spezifität fi bezeichnet ’ 9. Die Sensitivität gibt den Anteil richtig-positiver Befunde bei Kranken an. Dazu ein Beispiel: Bei 100 Patienten mit einer Herzkranzgefäßkrankheit erfolgt ein EKG mit körperlicher Belastung (Ergometrie). Bei 90 Patienten fällt der Test pathologisch (richtig-positiv) aus. Die Sensitivität beträgt 90 %, und 10 Patienten haben einen falsch-negativen (falsch-normalen) Befund. Der Begriff ff der Spezifi fität gibt die richtig-negativen Befunde bei Gesunden an. Bleiben wir bei der Ergometrie: 100 Personen ohne Herzgefäßkrankheit wünschen eine Ergometrie: 90 Ergebnisse sind richtignegativ, aber 10 falsch-positiv. Die Spezifi fität beträgt 90 %. So besitzt jede Methode unter Einschluss der Labortests und der bildgebenden Verfahren ihre je verschiedene Sensitivität und Spezifität, fi die man berücksichtigen sollte, um sich nicht in falscher Sicherheit zu wiegen oder sich unnötig zu ängstigen. Der folgende Fall stellt dar, welche Folgen es haben kann, wenn die Sensitivität einer Methode nicht beachtet wird: Eine Frau bekommt im Alter erstmals epileptische Anfälle, die der englische Neurologe Jackson (1884 – 1911) beschrieben hat und die nach ihm benannt sind. Aufgrund dieses klinischen Befundes ist die Verdachtsdiagnose einer organischen Gehirnkrankheit, vor allem eines Hirntumors, begründet. Es wird ein Computertomogramm veranlasst, das völlig normal ausfällt. Daraufhin diagnostiziert der konsultierte Nervenarzt „psychogene Anfälle“, ohne die begrenzte Sensitivität im Computertomogramm mit falsch-negativen Ergebnissen zu berücksichtigen. Die Jackson-Anfälle treten weiter auf. Ein zweites Computertomogramm Wochen später zeigt einen schon inoperablen, bösartigen Hirntumor, an dem die Patientin stirbt. Labortests sind wichtig, sie müssen aber gezielt nach Anamnese und körperlicher Untersuchung eingesetzt werden. Außerdem sind ihre Grenzen zu beachten, die durch Sensitivität und Spezifi fität gesetzt werden. Eine ungezielte „Schrotschuss“-Labordiagnostik ist nachteilig. In

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Diagnostik: Triumphe und Defizite fi

einem deutschen Krankenhaus stiegen trotz verminderter Bettenzahl die Laboruntersuchungen von 150 000 im Jahr 1965 auf 2,25 Millionen im Jahr 2007 ’ 10. Sehr viele Untersuchungen werden batteriemäßig und unkritisch angeordnet. Das ist eine Ursache dafür, dass die Laborkosten dieses Krankenhauses von 1965 bis 2007 auf das Fünff ffache anstiegen. Durch falsch positive Ergebnisse der Tests kommt es häufi fig zu Angst, Sorge und teilweise aggressiven Nachuntersuchungen. Einer 55-jährigen Frau mit Ermüdbarkeit und Stimmungsschwankungen wurden ohne ausreichende Begründung fünf Röhrchen Blut abgezapft. Dabei fiel ein sogenannter „Tumor-Marker“, das Carcino-embryonale Antigen (CEA), wegen seiner begrenzten Spezifität fi falsch positiv aus ’ 10. Die Frau bekam Angst. Es musste eine Koloskopie folgen, die ein normales Ergebnis hatte. Das CEA ist für die Prüfung des Behandlungserfolgs und für die Entdeckung von Rückfällen eines operierten Magen-Darm-Karzinoms geeignet, nicht aber als Vorsorgeuntersuchung, bzw. als „Screening“-Test, da CEA bei vielen gutartigen Zuständen erhöht sein kann ’ 11. Routinemäßig werden vor der Operation eines grauen Stars oft Laboruntersuchungen angeordnet, obwohl ihr Wert unsicher ist ’ 12. Auch bei anderen einfachen Operationen sollte mehr Wert auf Anamnese und unmittelbare Untersuchung gelegt werden, um dann Tests selektiv anzuordnen. Zu extensives Testen schadet, weil es häufi fig zu falsch-positiven Ergebnissen mit Beunruhigung des Patienten und Folgeuntersuchungen kommt. Nur 15 % der Patienten wurden präoperativ von einem Arzt untersucht. Dabei wird übersehen, dass Gespräch und Untersuchung die Furcht des Kranken vor Anästhesie und Operation reduzieren ’ 13. 2004 wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika mehr als eine Million Stents (Metallröhrchen) in verengte Kranzgefäße über Herzkatheter eingelegt, davon 85 % bei stabiler Angina Pectoris, also bei Patienten, die nicht in Ruhe, sondern nur bei körperlicher Belastung Herzschmerzen haben ’ 14. Eine stabile Angina lässt sich ohne Katheter optimal mit Medikamenten behandeln. Patienten dürfen deshalb erwarten, dass Kardiologen mit ihnen über verschiedene Optionen sprechen und nicht gleich einen Herzkatheter anraten. Kardiologen haben einen Interessenkonfl flikt: Auf der einen Seite wollen sie Kranken helfen, auf der anderen Seite lässt die zunehmende Kapazität von Geräten die Zahl unnötiger Herzkatheteruntersuchungen ansteigen. 20 % dieser mit einer Strahlenbelastung und mit potenziellen Nebenwirkungen verbunde-

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Labortests und bildgebende Verfahren

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nen Interventionen erfolgen in Deutschland an Privatpatienten, während man aufgrund des Versicherungsstatus nur mit einem Anteil von 10 % rechnen würde ’ 15. Herzkatheter mit und ohne koronare Eingriffe ff sind finanziell einträglicher als eine ebenso gute medikamentöse Behandlung mit Lebensstilberatung bei Kranken mit stabiler Angina. Zur Lebensstilberatung gehören Normalgewicht, körperliche Aktivität, Nichtrauchen und gesunde Ernährung. Die hohen Kosten im Gesundheitswesen entstehen nicht nur durch den Fortschritt, sondern auch durch unnötige Übertechnisierung. Bereits 1998 war die Zahl der Herzkatheter mit 6441 pro Million Einwohner in Deutschland die höchste in Europa ’ 16. Ein 58-jähriger Mann mit stabiler Angina Pectoris wird zu einer „HerzPerfusions-Bildgebung“ bei körperlicher Belastung (Belastungs-Myocard-Perfusion) überwiesen. Da das Ergebnis leicht krankhaft ausfällt, folgen eine Computer-Koronarangiografie fi und ein Herzkatheter. Alle drei Tests haben bei diesem Mann einen unsicheren Wert, der Patient könnte aber auch ohne alle Tests medikamentös ausgezeichnet behandelt werden ’ 17. Alle drei Tests verursachen hohe Kosten und Strahlenbelastung. Zwei Prozent der Karzinome mögen durch medizinische Strahlen verursacht werden. Unser medizinisches System sieht nichts Falsches in der Diagnostik des 58-jährigen Mannes. Patienten sind oft zufrieden, wenn viel Hightech angewendet wird, aber sie sind nicht ausreichend über die Strahlendosis informiert. Als hohe Strahlendosis gelten 20 Millisieverts (mSv). Die eben erwähnte Computer-Untersuchung der Herzkranzgefäße (CT-Koronarangiografie) fi mit 22 mSv entspricht 309 Routine-Röntgenaufnahmen des Brustraums ’ 18. Viele Patienten wissen das nicht, sie müssten über Vorteile und Risiken besser aufgeklärt werden. Ein modernes Paradigma lautet: Je mehr Tests gemacht werden, umso besser. Aber mehr Technologie bedeutet nicht automatisch gute Medizin. Computertomogramme sollten nur erfolgen, wenn sie wirklich angebracht, d. h. indiziert sind. 30 % oder mehr der Computertomogramme sind jedoch unnötig ’ 19. Rücken- und Kreuzschmerzen sind sehr häufi fig. Fast jeder Erwachsene wird in seinem Leben einmal mit ihnen konfrontiert. Deshalb komme ich auf dieses wichtige Thema zurück. Es geschieht nicht selten, dass bei Rückenschmerzen ohne Anamnese und Untersuchung geröntgt wird und dann dem unglücklichen Kranken Bilder gezeigt werden, die ihm die Hoffff

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Diagnostik: Triumphe und Defizite fi

nung rauben, ein normales Leben führen zu können ’ 20. Von den fünf A der Diagnostik gehört die Anamnese an den Beginn. Es folgen Ausziehen, Anschauen und Anfassen. Wer bei diesen vier A verweilt, zeigt, dass er Arzt ist. Das weithin beliebteste A, die Apparatemedizin, haben Schmerzexperten mit Recht an die fünfte Stelle verbannt. Wenn aufgrund der Bilder Worte fallen wie „Das ist keine Wirbelsäule, sondern ein Trümmerhaufen!“ oder „Bewegen Sie sich bloß vorsichtig, sonst sitzen Sie im Rollstuhl!“, dann tragen sie zur Schmerzsteigerung und Chronifi fizierung bei ’ 21. ’ 22 Bereits 1994 wurde bei 98 Freiwilligen ohne Rückenschmerzen die Lendenwirbelsäule mit Magnet-Resonanztomografi fie (MRT) untersucht. Nur 36 % dieser völlig beschwerdefreien Personen hatten normale Bandscheiben. 52 % wiesen Extensionen, 27 % sogar den Vorfall einer Bandscheibe auf. Bildgebende Verfahren wie MRT sind nur angemessen, wenn Anamnese und unmittelbare Untersuchung den Verdacht auf Nervenschädigung, Metastasen, Entzündung oder eine andere organische Ursache ergeben, wenn also eine „Rote Flagge“ weht. Nicht angebrachte Bildgebung kann Befunde zeigen, die ursächlich nichts mit den aktuellen Beschwerden zu tun haben. Die Zunahme der Operationen an der Lendenwirbelsäule ist teilweise durch nicht indizierte Bildtechniken zu erklären ’ 23. Deshalb empfehlen Richtlinien der Evidenz-basierten Medizin bei unkomplizierten Kreuzschmerzen ohne Zeichen der „Roten Flagge“ keine bildgebenden Verfahren. Stattdessen sollte der Arzt mit dem Patienten über die günstige Prognose sprechen, ihn zu Aktivität und einer Übungsbehandlung anleiten sowie ihm ein Schmerzmittel mit den geringsten Nebenwirkungen wie Paracetamol verordnen und weiter beobachten. Die Praxis sieht jedoch anders aus: Ein Viertel der Betroffenen ff wurde zu Bildtechniken überwiesen, nur 20,5 % wurden beraten ’ 24. Gerade die richtige Beratung der Patienten mit Kreuzschmerzen, eine der fünf häufi figsten Ursachen für Arztbesuche, ist jedoch für eine gute Prognose entscheidend ’ 25.

3.3 Fortschritte und Fallgruben: Gen-Diagnostik Die Propheten des Alten Testaments hatten oft Unglück prophezeit. Genetisches Screening ist eine Form der säkularen Prophetie. „Zum früheren religiösen Welt- und Menschenbild“, sagt der Medizinethiker Hartmut Kreß ’ 26 , „gehörte die Vorstellung einer Determination oder

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Fortschritte und Fallgruben: Gen-Diagnostik

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Prädestination des Menschen durch Gott. Im heutigen, weitgehend postreligiösen, medizinisch-technisch bestimmten Zeitalter wird dies säkularisiert. Bei manchen Menschen entwickelt sich das Gefühl, ihr persönliches Zukunftsschicksal sei durch ihr Genom, also durch genetisch-biologische Vorgaben, geradezu determiniert.“ Das kann zu dem Gefühl von Ohnmacht und dem Schicksal Ausgeliefertsein führen. Der folgende Text wird sich mit der Gen-Diagnostik Erwachsener beschäftigen. Nehmen wir das Beispiel eines dreißigjährigen gesunden Menschen. Durch genetische Tests kann er erfahren, dass er ein geringes genetisches Risiko für Prostatakrebs und Alzheimerkrankheit, aber ein hohes für Dickdarm- und Lungenkrebs hat. Er kann, falls er Raucher ist, mit dem Rauchen aufhören. Ein anderer mag erfahren, dass kein genetisches Risiko für Lungenkrebs besteht, und setzt das schädigende Rauchen fort. Wenn wir zu viel von den Genen erwarten, vernachlässigen wir möglicherweise die Umwelt und unseren Lebensstil. Bekommt ein eineiiger Zwilling Dickdarmkrebs, entwickelt der andere Zwilling mit weniger als 15 % Wahrscheinlichkeit ebenfalls Dickdarmkrebs ’ 27. Das zeigt die Macht der Umweltfaktoren. Die Alzheimer-Krankheit tritt bei weniger als 30 % der Personen auf, die ein bestimmtes Gen in sich tragen ’ 28. Trotzdem wurden von der Industrie Tests mit der Behauptung eingeführt, sie könnten die Krankheit voraussagen. Eine Überschätzung der Gen-Diagnostik mag bei einem pathologisch ausgefallenem Ergebnis zu einer fatalistischen Haltung, bei einem normalen zu unbegründeter Sorglosigkeit führen. Befürworter von Tests für komplexe Krankheiten, die durch mehrere Gene (polygen) mitbestimmt werden, argumentieren folgendermaßen ’ 29: Eine gesunde Person lässt sich testen und entdeckt zum Beispiel, dass sie ein geringes genetisches Risiko für Prostatakarzinom und Alzheimer Krankheit hat, aber ein erhöhtes für Herzkranzgefäßkrankheit, Kolonund Lungenkarzinom. Nun könne sie ihr Verhalten ändern. Möglicherweise werden zusätzlich regelmäßige Darmspiegelungen und Computertomogramme der Lunge mit hoher Strahlendosis gemacht. Wenn aber eine zweite Person ein größeres Risiko für Prostatakarzinom und Alzheimerkrankheit, jedoch ein geringes für Herzkranzgefäßkrankheit, Kolon- und Lungenkarzinom hat, bleibt ihr nicht mehr viel übrig, als regelmäßig das Prostata-spezifi fische Antigen (PSA) auf

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Diagnostik: Triumphe und Defizite fi

ein beginnendes Prostatakarzinom untersuchen zu lassen. So kann das Leben dieser Person durch eine unsichere Zukunft und Sorge bestimmt werden. Komplexe, polygene Krankheiten wie Asthma, Herzgefäßkrankheit, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Fettsucht, Alzheimerkrankheit und Karzinome werden durch viele Gene beeinfl flusst, die nicht überschätzt werden dürfen. Bei einem übergewichtigen Typ-2-Diabetiker sind Lebensstil und Gewichtsnormalisierung für eine Besserung entscheidend. Eine unkritische Propagierung genetischer Tests ist kommerziell motiviert. Viele Firmen in Amerika wenden sich direkt an den Kunden, damit sie solche Tests nutzen, obwohl die Voraussage einer polygenen Krankheit ungenau ist ’ 30. Auch bei einem positiven Test auf Alzheimerkrankheit muss sich das Leiden nicht manifestieren, dennoch bleiben Verunsicherung und Ungewissheit. Die Person mit einem solchen Testergebnis vermeidet vielleicht einen notwendigen Wohn- und Berufswechsel. Sie kann Schwierigkeiten mit der Krankenversicherung bekommen und riskiert einen Verlust sozialer Beziehungen, falls der Test bekannt wird ’ 31. Der klinische Wert der meisten Tests für polygene Krankheiten ist unbewiesen, da eine Genom-Variante nicht die Krankheit manifestieren muss. Trotzdem beginnt oft nach einem positiven Gen-Test mit der geringen Möglichkeit eines Karzinoms oder einer koronaren Herzkrankheit (Herzkranzgefäßkrankheit) eine diagnostische Kaskade ’ 22. Der Arzt fühlt sich verpfl flichtet, andere Untersuchungen, eine Darmspiegelung, ein Computertomogramm oder andere Prozeduren, anzubieten. Doch ist die Umwelt für einen viel größeren Anteil der Krankheiten verantwortlich als genetische Unterschiede. Das gilt ebenfalls für die meisten sporadisch auftretenden Karzinome ’ 33. Es gibt Ausnahmen des familiären Karzinoms, wozu die „Adenomatöse Polypose“ des Dickdarms zählt. Zur Umwelt gehören Ernährungsweise, Tabak, Alkohol, Infektionen, Berufstoxine und Röntgenstrahlen. Eine Person mag im Fernsehen über Computertomografi fie gehört haben und bittet aus Vorsorgegründen um eine solche Untersuchung. Wird diese Person darüber informiert, dass die Strahlendosis eines abdominellen Computertomogramms 250 Röntgenaufnahmen des Brustraums entspricht? ’ 34. Die Summe aller diagnostischen Röntgenstrahlen mag zu einem Karzinomrisiko beitragen.

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Fortschritte und Fallgruben: Gen-Diagnostik

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Genetische Tests können bei Frauen mit familiärem Brustkrebs angebracht sein. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es pro Jahr etwa 40 000 Neuerkrankungen an Brustkrebs, von denen 5 % familiär bedingt sind ’ 35. Wenn Mutationen der Gene BRCA 1 und BRCA 2 vorliegen, wird ein engmaschiges Früherkennungsprogramm angeboten. Eine genetische Beratung ist nötig, da BRCA-1- und -2-Mutationen nicht nur mit einem erhöhten Risiko für Brust-, sondern auch für Ovarkarzinom verbunden sind ’ 36. Viele Frauen erwägen eine vorbeugende Operation, weil sie sich vor der ungewissen Zukunft fürchten. Die genetische Beratung sollte die Familienanamnese, die persönlichen Werte und den Grad der Sorge einbeziehen. Die Huntingtonsche Nervenkrankheit („Veitstanz“, Chorea Huntington) wird durch autosomal-dominante Gene übertragen, die penetrant sind. Wenn ein Verwandter 1. Grades eine solche Krankheit hat, besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, sie im Verlauf des Lebens ebenfalls zu bekommen ’ 37. Der Vater und Großvater eines gesunden Mannes Mitte dreißig hatten eine Chorea Huntington ’ 38. Dieser Vater von zwei Kindern wagte eine genetische Diagnostik. Es wurde ihm ein positiver Befund mitgeteilt, der sein Leben nun belastet, weil es keine adäquate Therapie gibt. Um Suizide zu vermeiden, ist eine genetische Beratung vor und nach dem Test erforderlich. Sie sollte auch das Recht auf Nichtwissen einschließen, denn einige Menschen erfahren durch das positive Resultat einen schweren Schock mit Auswirkungen auf das Ehe- und Berufsleben, sie werden depressiv, persönliche Beziehungen können zerbrechen. Ehegatten von Trägern des Huntington-Gens befürchten, dass die Krankheit bei ihren Kindern ausbricht ’ 39. Seit einigen Jahren hoff fft die Medizin, dass durch Gen-Diagnostik eine „personalisierte“ Therapie möglich sein wird. Sie ist nicht mit der früher besprochenen Patient-zentrierten Medizin zu verwechseln. „Personalisierte“ Therapie will durch Gen-Tests erreichen, dass Patienten gewisse Arzneimittel besser tolerieren. Die Tests sollen voraussagen, wie Patienten auf Medikamente reagieren, zum Beispiel auf einen gerinnungshemmenden oder Cholesterin-senkenden Arzneistoff. ff Wird man in Zukunft häufi figer das ganze Genom sequenzieren und auf Gen-Varianten bzw. Mutationen untersuchen? Wie wird ein Mensch reagieren, wenn er von vielen potenziellen Gefährdungen weiß? Welche

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Diagnostik: Triumphe und Defizite fi

Beratung wird gewährleistet und wer soll sie vornehmen? Die komplette Sequenzierung des menschlichen Genoms kostet heute weniger als 10 000 Dollar, in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch wesentlich weniger. Sind diese Summen bei einer Genom-Sequenzierung breiterer Bevölkerungsschichten gerechtfertigt? Die Gesellschaft muss demokratisch entscheiden, welche Schwerpunkte der Prävention, Diagnostik und Therapie sie bei begrenzten Ressourcen setzen will. Falls sich in Zukunft mehr Menschen zu einer Sequenzierung des ganzen Genoms entschließen, müssten sie vorher genetisch beraten werden, welche Folgen die Tests für sie haben.

3.4 Vernachlässigung von Anamnese und unmittelbarer Untersuchung? Eine zweiundsiebzigjährige Ärztin hat Schmerzen unter dem rechten Rippenbogen, die auf der gleichen Höhe und Seite zum Rücken ausstrahlen. Der Schmerzcharakter wird als bohrend, stechend und brennend beschrieben. Ein Gastroenterologe unterlässt eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung. Es erfolgen Ultraschalluntersuchung, Darmspiegelung und Labortests, die keinen krankhaften Befund ergeben. Vier Tage nach Beginn der Schmerzen beginnt ein Exanthem, das die Ärztin als Gürtelrose (Herpes zoster) identifiziert. fi Sie informiert telefonisch den Gastroenterologen über die Diagnose. Ihre heftigen Nervenschmerzen halten an. Tage später erhält die Patientin einen Brief mit den technischen Ergebnissen der Ultraschalluntersuchung und Koloskopie, ohne dass mit einem Wort auf Anamnese, Diagnose und vor allem auf die Therapie Th der neuropathischen Schmerzen eingegangen wird. Wir haben es hier mit einem Fall segmentierter Betreuung zu tun, die in der Ära zunehmender Spezialisierung nicht selten ist. Diese Segmentierung betont die technischen Einzelbefunde, ohne Zeit zu haben, diese Teilaspekte in das Ganze zu integrieren. Dabei wird vergessen, dass die Anamnese, auf die im Abschnitt „Labortests und bildgebende Verfahren“ (3.2) eingegangen wurde, drei wesentliche Funktionen besitzt: Erstens trägt sie im hohen Maß zur Diagnose bei. Zweitens lernt der Arzt durch das Erstgespräch den Patienten als Person kennen. Wie reagiert er auf die Krankheit? Welche Ideen hat er? Umgekehrt bekommt der Kranke

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Vernachlässigung von Anamnese und unmittelbarer Untersuchung?

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bei dieser Begegnung einen Eindruck vom Arzt. Nimmt er sich Zeit? Lässt er mich aussprechen? Untersucht er gründlich? Die Anamnese bedeutet ein gegenseitiges Sich-Kennenlernen. Drittens beginnt mit einer ’ 40. Vertrauen und Hoff guten Anamnese bereits die Therapie Th ffnung wirken sich positiv auf den Verlauf einer Erkrankung aus. Die Anamnese umfasst zum Beispiel auch die Sorgen eines 50-jährigen Mannes, der seit drei Wochen Husten und leichtes Fieber hat ’ 41. Er ist Raucher und erwähnt seinen Freund, der an Lungenkrebs starb. In dem, was dieser Mann dem Arzt erzählt, schwingt die Furcht mit, dass seine Symptome Ausdruck eines beginnenden Lungenkarzinoms sein könnten. Ein guter Arzt wird die Selbstdiagnose eines Patienten, seine Ideen und Werte berücksichtigen. Patienten mit körperlichen Symptomen, mit Herzbeschwerden oder Rückenschmerzen, wünschen eine Untersuchung, das Abhorchen von Herz und Lungen, das Abtasten der Muskulatur. Die unmittelbare Untersuchung von Kopf bis Fuß bringt viele Aufschlüsse und diagnostische Hinweise. Sie ist Ausdruck der Betreuung. Anamnese und körperliche Untersuchung werden heute als bekannt und gekonnt vorausgesetzt. Diese Annahme ist falsch. Längst beherrschen nicht mehr alle Fachärzte die Kunst der unmittelbaren Untersuchung mit Besichtigung (Inspektion), Abtasten (Palpation), Abklopfen (Perkussion) und Behorchen (Auskultation) ’ 42. Das ist tragisch, denn bei nahezu 80 % der Patienten tragen Anamnese und unmittelbare Untersuchung ganz wesentlich zur richtigen Diagnose bei. In anderen Kulturen ist es üblich, dass Heiler und Schamanen die Hände auf den Kranken legen ’ 43. Der moderne Mensch kennt die Bedeutung von Glauben und Vertrauen, die durch eine gründliche ärztliche Untersuchung gestärkt werden. Doch stehen in der modernen Medizin viele Dinge der unmittelbaren Berührung im Weg: Apparate für Diagnostik und Therapie oder Gummihandschule aus Hygienegründen. Auf Intensivstationen ist es für Angehörige oft schwer, dem Patienten wegen der Elektroden, Katheter und Sonden nahe zu kommen. Eine 55-jährige Frau lag nach einer Herzoperation auf der Intensivstation, wo ihre vitalen Funktionen komplett aufgezeichnet wurden. Alle technischen Befunde waren verfügbar. Sie hatte einen Tubus in der Luftröhre, Infusionen und EKG-Ableitungen. Ein Arzt war zu einem Konsil gerufen worden, sprach mit der Krankenschwester, las die Befunde und

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erschrak beim Verlassen der Intensivstation, weil ihm jetzt erst bewusst wurde, dass er die Patientin weder untersucht noch berührt hatte ’ 44. Trotz aller modernen Technologie sind Untersuchung und mitfühlende Berührung das älteste und wohltuendste Werkzeug des Arztes. Wir beobachten das bei Kindern, die sich wehgetan haben und Besserung empfi finden, wenn die schmerzende Stelle angehaucht und sanft berührt wird. Einer meiner klinischen Lehrer, der Kieler Internist Helmuth Reinwein (1895 – 1966), legte größten Wert auf körperliche Untersuchung. Er kümmerte sich persönlich um jeden einzelnen Patienten, indem er mit ihm sprach, kranke Teile seines Körpers abtastete, die Lungen abklopfte und mit seinem altmodischen Holzstethoskop das Herz abhörte. Schwerkranke tröstete er und legte schützend seinen Arm um sie. Alte und sozial isolierte Menschen werden häufi fig nicht gern berührt. Warum das so ist, wusste schon Nietzsche ’ 45 : „Jedes Anzeichen von Erschöpfung, von Schwere, von Alter …, vor allem der Geruch, die Farbe, die Form der Aufl flösung, … das alles ruft die gleiche Reaktion hervor, das Werturteil ›hässlich‹.“ Diese Abneigung führt dazu, dass Berührungen vermieden werden. Für ältere und einsame Menschen kann Berührung in Form einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung therapeutisch wirksam sein. In der Hightech-Ära dominiert die optische Sicht der Welt und Dinge. „Der Grundvorgang der Neuzeit“, meinte Heidegger in seiner Analyse „Die Zeit des Weltbildes“ ’ 46 , „ist die Eroberung der Welt als Bild.“ Das gilt auch für die Medizin, ihre Unterschätzung von Anamnese und unmittelbarer Untersuchung und ihre oft unkritische Überschätzung bildgebender Diagnostik. Der frühere Abschnitt „Probleme im Krankenhaus“ beschrieb das Diagnosis-Related Groups (DRG) System, das auf Hauptdiagnosen und technische Prozeduren fokussiert. Viele Stationsärzte erheben aus Zeitdruck nicht mehr die Anamnese, sondern verlassen sich auf die Akte der Aufnahmestation. Die betriebswirtschaftlich erzwungene Konzentration auf Hauptdiagnosen und Prozeduren lässt kaum Zeit für den „ganzen Menschen“ ’ 47. Vergütet wird, was messbar ist. Gerade diagnostische Gespräche, Beistand und Beratung lassen sich schlecht messen und werden nicht honoriert. Wenn aber vor allem technische Machbarkeit zählt und die „Soft Skills“ von Beistand und Beratung wirtschaftlich als irrelevant gelten,

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Das diagnostische Gespräch

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verkümmert das Patient-Arzt-Verhältnis. Viele Ärzte klagen, dass die Zeit für Zuwendung abhandengekommen ist, weil das DRG-System die Medizin zu einer Fließbandarbeit werden lässt. Gefährdet wird dadurch ebenfalls das im nächsten Abschnitt zu diskutierende „diagnostische Gespräch“, das keine objektive Prozedur darstellt und daher schlecht verzifferbar und abrechenbar ist.

3.5 Das diagnostische Gespräch Patienten wünschen vor und nach der Diagnostik eine ärztliche Beratung. Bei einem lokalisierten Prostatakarzinom, also bei einem Karzinom ohne Metastasen, bestehen verschiedene Möglichkeiten: Radikaloperation (Prostatektomie), Bestrahlung, hormonelle Therapie Th und abwartendes Verhalten (watchful waiting). Jede dieser Optionen hat Vor- und Nachteile. Für die Mehrzahl der Männer über 65 Jahre haben Radikaloperation und „watchful waiting“ bei einer Nachbeobachtung über zwölf Jahre eine ähnliche Mortalität ’ 48. Welche Wahl schließlich getroff ffen wird, hängt leider weniger von objektiven Kriterien und mehr von dem Spezialisten ab. Urologen empfehlen vor allem die Radikaloperation, Radiologen die Bestrahlung ’ 49. Ein 75-jähriger beschwerdefreier Mann lässt das Prostata-spezifische fi Antigen (PSA) bestimmen, ohne dass er vorher über Pro und Kontra eines solchen Tests beraten wird. PSA ist erhöht, die Gewebsuntersuchung ergibt ein Karzinom. Der Urologe empfiehlt fi die Radikaloperation. Danach ist er inkontinent und muss Windeln tragen. Die meisten älteren Männer sterben nicht an, sondern mit dem Tumor. Bei einem entdeckten Prostatakarzinom müsste das Gespräch deshalb beinhalten, dass viele Ältere auch bei „watchful waiting“ eine sehr gute Prognose haben. Dass Spezialisten selbst bei alten Patienten häufi fig Radikalmaßnahmen vorschlagen, kann finanzielle fi Motive haben, denn große Investitionen für Operationsräume und Protonenstrahltherapie verlangen danach, das Geld wieder einzubringen ’ 48. Notwendig sind demnach objektive Informationen. Ein Primär- bzw. Hausarzt hat zwar keine finanziellen Interessenkonfl flikte, er benötigt allerdings Zeit und Wissen für eine ausgewogene Beratung. Schwere Gespräche vermitteln die Diagnose von chronischen Krankheiten mit unsicherem und schlechtem Verlauf ’ 50. Zu ihnen gehören

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Karzinome mit oder ohne Metastasen, Multiple Sklerose, Parkinson, rheumatoide Arthritis, Alzheimer-Krankheit und HIV-Infektionen bzw. AIDS. Ein solches Gespräch ist nicht eine einseitige, Wissen erweiternde Information des Kranken, sondern ein gegenseitiger Austausch von Botschaften. Nonverbale Signale wie Gestik und Mimik stellen einen beachtlichen Teil der Kommunikation dar. Was der Arzt sagt, ist bedeutungsvoll, aber ebenso, wie er es sagt. Wenn Worte und Sätze des Arztes sowie Ton der Stimme und Mimik nicht übereinstimmen, wirkt die Botschaft unecht. Übermittlung schlechter Botschaften erfordern einen ruhigen Raum. Der Patient entscheidet, ob ein Angehöriger an dem schweren Gespräch teilnimmt. Der Arzt muss allen Fachjargon vermeiden und verständlich sprechen. Die meisten Menschen wollen über Diagnose, Behandlung und Nebenwirkungen der Therapie aufgeklärt werden. Es gibt aber eine Minorität, die nicht so viel wissen will. Das Recht auf Wissen oder Nichtwissen ist zu respektieren. Zwei Fehler sind zu vermeiden: unangebrachter Optimismus aufseiten des Arztes. Er verspricht z. B. eine „85 % Chance auf einen Erfolg“, obwohl es keine Beweise dafür gibt. Er hat die Zahl spontan und gefühlsmäßig gesagt, um zu trösten, aber diese unrealistische Angabe kann den Kranken zu einer aggressiven und risikoreichen Therapie Th verleiten. Der zweite Fehler ist unangemessener Pessimismus, der keine Hoffff nung lässt. Selbst für Patienten mit fortgeschrittenen Karzinomen kann mit einer palliativen Betreuung viel getan werden. Darauf wird im neunten Kapitel dieses Buches eingegangen. Palliative Medizin lindert quälende Symptome und gibt dem Patienten und seiner Familie psychische, soziale und spirituelle Hilfe. Nie darf er die Empfi findung haben, dass er in seiner Not allein gelassen wird. 98 Familienmitglieder von Kranken auf der Intensivstation und 2 noch entscheidungsfähige Patienten wurden über ihre Zufriedenheit mit ärztlichen Informationen befragt ’ 51 : 80 % sagten, dass sie keine Information über den zu erwartenden Funktionszustand erhalten hätten. Oft müssen Überlebende mit extremer Abhängigkeit und schweren kognitiven Beeinträchtigungen nach der Intensivstation ins Pfl flegeheim. Trotz schlechter Prognose werden oft lebenserhaltende Interventionen wie künstliche Beatmung (mechanische Ventilation) eingesetzt. Das geschieht teils deshalb, weil Ärzte auf der Intensivsta-

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Literatur

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tion nicht genügend mit Angehörigen sprechen, um die Problematik von Prozeduren zu vermitteln und nach den Werten des Patienten zu fragen. Dieser ist auf der Intensivstation oft zu krank, um für sich bestimmen zu können. Umso zentraler ist eine Patientenverfügung, mehr dazu in Kapitel 9. Literatur ’1 ’2

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Literatur ’ 36 ’ 37 ’ 38 ’ 39 ’ 40 ’ 41 ’ 42 ’ 43 ’ 44 ’ 45 ’ 46 ’ 47 ’ 48 ’ 49 ’ 50 ’ 51

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4.

Therapie ist mehr als ein Rezept

4.1 Vom Nutzen und Nachteil der Pillen Ein Arzneimittel, von dem behauptet wird, dass es keine Nebenwirkungen habe, steht im dringenden Verdacht, auch keine Hauptwirkung zu besitzen. Gustav Kuschinsky

1960 wurde ein Hormonpräparat zur Empfängnisverhütung in den USA zugelassen. Die „Pille“ war das erste „Lifestyle“ Medikament für breite Bevölkerungsschichten ’ 1. Mit ihr begann die „sexuelle Revolution“. Von den meisten Frauen wurde sie als Mittel zur sexuellen Selbstbestimmung begrüßt. Ein Jahr später kam die Antibabypille in Deutschland auf den Markt. Sie gab Frauen neben der freien Sexualität die Chance, eine berufliche Karriere zu beginnen, weil Schwangerschaft planbar geworden war. Mitte der 1960er Jahre veröffentlichte ff der New Yorker Frauenarzt Robert Wilson ein Buch mit dem Titel „Feminine forever“. Er plädierte für die dauerhafte Hormontherapie mit dem Beginn der Wechseljahre. Diese Hormonersatztherapie (HET) wurde als Jungbrunnen und als Verhinderung verschiedener Krankheiten gepriesen. Erst seit 2002 weiß man durch die „Woman ’s Health Initiative“, dass eine Langzeit-HET ihre Risiken hat. Zu ihnen gehören das häufi figere Auftreten von Brustkrebs und die Tendenz zu einer erhöhten Blutgerinnung mit Thrombosen Th und Embolien in der Menopause. Die HET mit den weiblichen Geschlechtshormonen Östrogen und Progestin erhöht in der Menopause auch das

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Vom Nutzen und Nachteil der Pillen

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Risiko einer Herzgefäßkrankheit in den ersten Jahren nach Beginn der Behandlung ’ 2. Zu empfehlen ist daher bei heißen Wallungen oder anderen Symptomen eher eine Kurzzeitbehandlung. Andere Medikamente haben ebenfalls Nutzen und Nachteile, wobei bei vernünftiger Anwendung die Vorteile überwiegen. Glücklicherweise befi finden wir uns heute nicht mehr im therapeutischen Nihilismus des 19. Jahrhunderts, in dem eine Therapie nur sehr begrenzt möglich war. Damals stellte Skoda, ein berühmter Internist der „Wiener Schule“, einem Schwerkranken eine Diagnose, die wenig später von dem Pathologen Rokitansky bei der Obduktion bestätigt wurde. Im letzten Jahrhundert hat die Pharmakologie, die Lehre von den Arzneistoffen ff ’ 3 , eine große Zahl von guten Medikamenten entwickelt. Früher galten Magenund Zwölffi ffingerdarmgeschwüre (peptische Ulcera) als psychosomatische Krankheiten. 2005 wurde Robin Warren und Barry Marshall der medizinische Nobelpreis verliehen, weil sie entdeckt hatten, dass Gastritis und peptische Ulcera häufi fig durch eine Infektion mit dem Bakterium Helicobacter pylori verursacht werden. Sie überwanden damit ein Dogma, das behauptete, Bakterien könnten im sauren Milieu des Magens nicht überleben. Wenn Helicobacter Pylori antibiotisch beseitigt wird, heilen die Geschwüre und kommen nicht wieder. Allerdings können peptische Geschwüre oder Magenblutungen auch als Nebenwirkungen von Antirheumatika und Acetylsalicylsäure (Aspirin®) auftreten. Deshalb sollten Kreuz- und degenerative (arthrotische) Gelenkschmerzen zunächst mit Paracetamol behandelt werden. Auch die koronare Herzkrankheit kann heute durch mehrere Medikamente ausgezeichnet konservativ behandelt werden. Zu ihnen gehören die Betarezeptoren-Blocker. Wie andere Arzneistoffe ff sind sie durch ihren Wirkungsmechanismus zu erklären: Das sympathische Nervensystem lässt unser Herz bei Stress und Anstrengung zu schnell schlagen, indem sich die körpereigenen Botenstoffe ff Noradrenalin und Adrenalin an gewisse Empfangsstellen (Rezeptoren) des Herzens binden. Dadurch kommt es bei verengten Herzkranzgefäßen zu Schmerzen, zu einer Angina Pectoris. Betarezeptoren-Blocker binden sich an diese Empfangsstellen, hemmen auf diese Weise den schädlichen Einfluss fl von Noradrenalin und Adrenalin und schützen das Herz. Der Nutzen der Pillen erweist sich gleichfalls bei den Infektionskrankheiten, bei früher oft tödlichen Lungenentzündungen, bei der Tuberku-

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Therapie ist mehr als ein Rezept

lose und der HIV-AIDS-Epidemie. Medikamentöse Fortschritte gibt es auch, um nur wenige Beispiele zu nennen, bei der Therapie Th des Asthma bronchiale, der chronischen Bronchitis, der rheumatischen Krankheiten und vieler Karzinome. Allerdings bereitet es manchem Arzt Schwierigkeiten, das richtige Medikament für seine Patienten zu wählen. Das liegt zum Teil an der Unübersichtlichkeit des deutschen Arzneimittelmarktes. Die „Rote Liste“, das Arzneimittelverzeichnis der deutschen pharmazeutischen Industrie, enthält in der Ausgabe des Jahres 2009 die verwirrende Fülle von 8778 Präparaten ’ 3. Im Gegensatz dazu enthält die Liste der Weltgesundheitsorganisation von 1999 nur 309 essenzielle Arzneimittel ’ 4. Wie ist das unsinnige Arsenal von 8778 Präparaten zu erklären? Viele sind Nachahmerpräparate mit dem Wirkstoff ff eines älteren Originalpräparats und mit einem neuen Fantasienamen, andere sind sogenannte „Analog-Präparate“, die einen Wirkstoff ff enthalten, der sich chemisch nur geringfügig von dem Wirkstoff ff des Originalpräparats unterscheidet („me too“ Arzneimittel). Mit „Me too“ Pharmaka aus der Gruppe der Blutfettsenker, Betarezeptoren-Blocker, Antidepressiva oder auch AntiTumor-Medikamenten wollen Konkurrenzunternehmen der pharmazeutischen Industrie einen Anteil am florierenden Markt erobern. Diese „Me too“ Nachfolger sind bei vergleichbarer Dosierung nicht besser als der ursprüngliche Arzneistoff ff. Im Gegenteil: Es kommt vor, dass ein solches Konkurrenzmittel nach großem Werbeaufwand wegen gefährlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen werden muss. So geschah es 2001 mit dem Blutfettsenker Cerivastatin. Bei jedem Eingriff ff in die Natur sind mögliche Nebenwirkungen zu bedenken. Viele Millionen Liter Erdöl sind 2010 im Golf von Mexiko ausgeströmt und schadeten dem Leben, als der Ölkonzern BP die Kontrolle über seine Tiefenbohrung im Macondo-Feld verloren hatte. Nebenwirkungen sind ebenfalls bei Medikamenten zu berücksichtigen. Das wurde besonders deutlich bei der Contergan-Katastrophe ’ 5. Durch das Schlafmittel Thalidomid (Contergan) wurden mehr als 5000 Kinder mit schweren Missbildungen von Armen und Beinen geboren. 1959 war Contergan das in der Bundesrepublik Deutschland am meisten verkaufte Schlafmittel. In einer schon früh erfolgten und Aufsehen erregenden Untersuchung ’ 6 analysierten Rolf Burger und Mitarbeiter während eines Jahres die medikamentösen Nebenwirkungen in einer internistischen Klinik. Von 1756

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Vom Nutzen und Nachteil der Pillen

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Patienten hatten 20,6 % unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Die Hälfte von ihnen bestand bereits bei der Aufnahme in die Klinik. Bei vier Patienten war eine Medikamentennebenwirkung als wesentliche Todesursache anzusehen. Mehr als 100 000 US-Amerikaner sterben jährlich durch Medikamente ’ 7, 8. Zwar sind durch Ärzte ausgelöste, iatrogene Krankheiten so alt wie die Medizin selbst, doch sind in der Hightech-Ära die Eingriff ffsmöglichkeiten in die menschliche Natur größer als früher. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen. Der Arzt hat eine besondere Verantwortung, sich um die Folgen seiner Therapie Th zu kümmern. Als Immanuel Kant (1724 – 1804) alt und schwach wurde, sagte er: „Ich will sterben, nur nicht durch Medizin.“ Er erinnerte sich an die „Grabschrift eines Menschen, der im gesunden Zustand fortwährend Arzenei genommen hatte, um nicht krank zu werden, und sich durch übermäßigen Gebrauch derselben das Leben verkürzte. Diese Grabschrift hieß: ›N. N. war gesund, weil er aber gesunder als gesund sein wollte, so ist er hier‹“ ’ 9. Es gibt neben chemischen auch Nebenwirkungen durch negative Vorstellungen, durch Misstrauen und schlechte Vorerfahrungen mit Medikamenten. Es handelt sich um sogenannte Noceboeff ffekte (Nocebo: ich werde schaden). Solche Noceboeffekte ff können sich schon bald nach der Einnahme eines neuen Arzneimittels einstellen und sich beispielsweise als Schwindel, Kopfdruck, Übelkeit, Verstopfung und Durchfall äußern. Eine Frau entwickelte bereits 15 Minuten nach der Einnahme eines neuen Medikaments unerträgliche allgemeine und Herz-Unruhe. Das Gespräch ergab, dass sie früher elf verschiedene Medikamente zu sich nahm, die zu großer Aversion gegen Pillen führten, deren Nutzen sie nicht einsah und deren Nebenwirkungen sie fürchtete. Schon beim Anblick von Tabletten wurde ihr „schlecht“. Dabei spielt der Kontext, in dem ein Medikament verordnet wird, bei der Entstehung von Noceboeffekten ff eine Rolle. Es versteht sich von selbst, dass ein rezeptierender Arzt, der unfreundlich, kurz angebunden oder abweisend ist, oft zu Noceboeff ffekten und zum Abbruch der Therapie beiträgt. Eine gute Arzneimitteltherapie ist in vielen Fällen sehr hilfreich. Nebenwirkungen durch Pharmaka sind aber stets zu berücksichtigen. Welche Folgerungen ergeben sich daraus? Erstens sollte sich der Arzt intensiv mit Pharmakologie beschäftigen, anstatt sich von Pharmareferenten

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Therapie ist mehr als ein Rezept

beraten zu lassen. Zweitens ist nicht stets das neueste Medikament zu wählen, das mit großen Reklameaktionen auf den Markt kommt. Drittens sind Lebensalter, Begleitkrankheiten und andere, gleichzeitig eingenommene Medikamente zu berücksichtigen. Schließlich gilt: so viel Arzneimittel wie nötig und so wenig wie möglich. Wie Kant gesagt hat, fragt die Ethik danach, was wir tun sollen ’ 10. Auf die Arzneimitteltherapie bezogen, bedeutet dies, dass sich der Arzt, solange er berufl flich tätig ist, fortbilden muss. Dazu braucht er klare Wissensquellen, die nicht durch Industrie- und Profitinteressen fi kontaminiert werden. Dann wird der Nutzen der Pillen größer als deren Nachteil sein.

4.2 Die beiden Seiten einer Münze oder die Macht des Placebos Medikamente – ein Schmerzmittel, Betarezeptorenblocker, Bronchienerweiterndes Arzneimittel – haben neben ihren spezifischen fi molekularen noch unspezifi fische Wirkungen. Wie eine Münze mit Zahl und Bild zwei Seiten hat. So besteht die Gesamtwirkung eines Medikaments aus zwei Effekten, einem pharmakologischen und dem therapeutischen Kontexteff ffekt ’ 11. Jedes Arzneimittel gibt zwei völlig verschiedene Botschaften: Eine chemische, die aus der gewünschten Wirkung und einer möglichen Nebenwirkung besteht, und eine psychosoziale Botschaft, die günstige Placebo- oder ungünstige Noceboeffekte ff verursacht. Was ist ein Placebo und welche Bedeutung hat es? Reine Placebos sind Tabletten oder Kapseln, die Stärke oder Laktose enthalten, und Ampullen mit physiologischer Kochsalzlösung. Placebos sind also inert, das heißt pharmakologisch inaktiv. Im 116. Psalm, Vers 9, steht in der lateinischen Version des Alten Testaments: „Placebo domino in regione vivorum.“ Placebo, also: „Ich werde gefallen.“ Luther übersetzt frei: „Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.“ In der Medizin taucht der Begriff ff Placebo zuerst 1811 als ein Stoff ff auf, der den Menschen mehr gefällt als nützt ’ 12. Placebos haben aufgrund von Doppelblindstudien ein eher negatives Image. Eine Gruppe von Freiwilligen erhält das aktive Arzneimittel, die andere Placebo. Als wirksam gilt das getestete Arzneimittel nur, wenn es Placebo, dem Scheinpräparat, überlegen ist. Placebos sind also in dieser Perspektive unwirksam. Und doch überrascht bei diesen Doppelblind-

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Die beiden Seiten einer Münze oder die Macht des Placebos

4. 2

studien die Macht der Placebos: 30 – 40 % der Patienten mit Schmerzen und 30 – 50 % der Patienten mit Depression erleben nach Placebo (von dem sie nicht wissen, dass es sich um Placebo handelt) eine Besserung ihrer Symptome ’ 13. Bei Reizdarm-Syndrom, einer häufi figen Funktionsstörung, wurden in Doppelblindstudien sogar Ansprechraten bis über 70 % der Patienten gefunden ’ 14. Nun ist einzuwenden, dass eine Besserung nach Placebo durch Faktoren verursacht werden kann, die unabhängig von der Placebointervention sind. Dazu gehört der natürliche Verlauf einer Krankheit mit Fluktuationen der Symptome und mit spontanen Besserungen. Aber die Zeit heilt nicht immer, was folgende Untersuchung ’ 15 zeigt: Schwangere mit Übelkeit und Erbrechen hatten chinesische oder Schein(Placebo-)Akupunktur. Beide Gruppen waren gleich erfolgreich und erfuhren gegenüber der nicht behandelten dritten Gruppe eine Symptombesserung. Der Placeboeff ffekt ist ein psychobiologisches Ereignis durch einen therapeutischen Kontext, der dann entsteht, wenn die Patient-Arzt-Interaktion zur Hoff ffnung auf Besserung führt. Placeboeff ffekte können im Gehirn durch bildgebende Verfahren sichtbar gemacht werden ’ 16. Bei Patienten mit Parkinson Krankheit ist ein Placebo in der Lage, den Botenstoff ff Dopamin freizusetzen, der die Symptome der Krankheit reduziert. Erklärung der Krankheit und der Therapie, emotionale Unterstützung des Patienten vonseiten des Arztes und Vertrauen des Patienten sind positive Kontextfaktoren, durch die ein Placebo wirksam wird ’ 17. Unerfreuliche Arzt-Patienten-Begegnungen, d. h. negative Kontexteffekff te, bewirken das Gegenteil, nämlich die bereits besprochenen Nocebowirkungen. Mit Placebo haben Ärzte, Medizinmänner, Priester und Schamanen seit Beginn der Menschheitsgeschichte behandelt. Manche Ärzte glauben auch heute, eine Placebotherapie sei erlaubt, „wenn eine echte Pharmakotherapie nicht möglich oder nicht notwendig ist und wenn beim Arzt das Bewusstsein vorhanden ist, mithilfe einer Scheintherapie eine Psychotherapie zu betreiben“ ’ 3. Ich bin jedoch der Auff ffassung, dass der Arzt Placebo nicht geben sollte. Seine Verordnung ist eine Irreführung des Patienten, der weder aufgeklärt wurde noch zugestimmt hat. Die ethische Regel des „informed consent“ wird also verletzt. Entdeckt der Kranke den Betrug, verliert er das Vertrauen zu dem Arzt. Außerdem

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Therapie ist mehr als ein Rezept

wird ein Placebo verschreibender Arzt nie den Erfolg eines Homöopathen oder Anthroposophen haben, der an sein Mittel ebenso fest wie der Patient glaubt. Ethisch vertretbar wäre eine Placeboinjektion mit physiologischer Kochsalzlösung bei einem schmerzgeplagten Patienten, wenn keine Analgetika zur Verfügung stehen. In einer solchen Notsituation befanden sich amerikanische Ärzte im 2. Weltkrieg am italienischen Anzio-Brückenkopf. Morphin war ihnen wegen der vielen Verwundeten ausgegangen. Zur Überraschung der Ärzte wirkte bei vielen Verletzten die Injektion physiologischer Kochsalzlösung. Grundsätzlich sollte aber nicht mit Placebo betrogen werden. Vielmehr sind zusätzliche Placeboeffekte ff bei jeder aktiven Therapie auszunutzen. Das geht aus einem Vergleich „offener“ und „versteckter“ Behandlungen hervor ’ 16. Bei der „off ffenen“ Behandlung, beispielsweise bei der Injektion eines Schmerzmittels, steht der Arzt mit dem Patienten in einem verbalen und averbalen Kontext. Er gibt Zuspruch und ermutigt. Hingegen wird bei einer „versteckten“ Behandlung das Medikament durch eine Computerpumpe in Abwesenheit des Arztes infundiert. Eine „versteckte“ Behandlung mit Schmerzmitteln ist wesentlich weniger wirksam als eine „off ffene“ Behandlung mit den gleichen Medikamenten. Die für die Reduktion der Schmerzen nötige Dosis war bei der „versteckten“ Behandlung um 50 % höher als bei der „off ffenen“. Immer sollte der Arzt beide Seiten einer Münze bedenken. Wenn er zuhört und Zeit hat, wenn er sich in den Patienten mit Empathie einfühlt, wird seine Therapie durch positive Kontextfaktoren besser wirken ’ 17. Studenten und junge Ärzte erfahren während ihrer Ausbildung viel über den chemischen Wirkungsmechanismus der Pharmaka, aber fast nichts darüber, dass die Therapieergebnisse bei einem optimalen ArztPatient Verhältnis viel besser sein könnten. Einem solchen wünschenswerten Verhältnis steht die klinische Realität gegenüber: das schnelle „Durchschleusen der Kranken in der Klinik“ unter den Bedingungen des DRG-Systems, die kurze Sprechstundenzeit in der Praxis, die Hochbewertung von Hightech-Prozeduren und die Niedrigbewertung der „sprechenden Medizin“ in der Gebührenordnung. Patienten und Ärzte sollten sich aber nicht entmutigen lassen, sondern darauf bestehen, dass es in der Therapie auf eine gute Arzt-Patient-Beziehung ankommt. Placebos werden dann überfl flüssig.

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Über Arzneimittel muss man sprechen

4. 3

4.3 Über Arzneimittel muss man sprechen Rezepte schreiben ist leicht, aber im übrigen sich mit den Leuten verständigen, ist schwer. Franz Kafka

Die Hälfte der Patienten hält die medikamentöse Therapie nicht genau ein ’ 18. Das verschlechtert die Prognose und führt zu unnötigen Krankenhausaufenthalten. Andererseits: Ein neues Medikament zu nehmen, ist ein Entschluss, der nicht leicht fällt, besonders dann, wenn bereits andere Medikamente wegen einer chronischen Krankheit genommen werden. Nur 57 % der nach einem Herzinfarkt aus der Klinik Entlassenen verstanden den Sinn ihrer Arzneimittel ’ 19. Wird der Sinn einer Therapie nicht erklärt, wird sie schwerer akzeptiert. Ärzte sollten die Wissenschaftssprache der Pharmakologie in verständliches Umgangsdeutsch übersetzen. Etwa 75 % der Kranken mit einer chronischen Gelenkentzündung fühlten sich nach Klinikentlassung bezüglich ihrer Medikamente, ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen ratlos ’ 20. Mangelnde Aufklärung kann ängstigen und zum Abbruch einer Th Therapie führen. Viele Patienten setzen berechtigte Hoff ffnungen auf Medikamente, andere ängstigen sich vor „Chemie“. Deshalb müssen Arzt und Patient über Arzneimittel sprechen, zum Beispiel über einen Betarezeptorenblocker bei einem Kranken mit stabiler Angina Pectoris. Das Medikament besetzt die Empfangsstellen für Stresshormone am Herzen, sodass es abgeschirmt wird. Zu den Hauptwirkungen gehören die Verlangsamung des Pulses und die Senkung des Blutdruckes. Bei manchen Kranken können sie zu Nebenwirkungen werden, zu denen auch kalte Hände und Füße zählen. Patienten mit chronischer Bronchitis, Diabetes, Gelenkleiden oder einer Herzkrankheit geht es besser, wenn sie an der Th Therapie aktiv beteiligt sind und ein Gefühl der Kontrolle haben. Ein Patient mit Asthma bronchiale ist über die Therapiemaßnahmen genau zu belehren, damit er bei Anfällen entsprechend ihrer Schwere und Häufi figkeit die richtigen Inhalationsmittel in der adäquaten Dosis nimmt. Er ist gleichfalls über die Handhabung eines Messgeräts zur Bestimmung der maximalen Ausatmungsgeschwindigkeit zu informieren.

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Therapie ist mehr als ein Rezept

Nun könnte argumentiert werden, der Arzt habe für Gespräche über Arzneimittel keine Zeit und außerdem gäbe es ja den Beipackzettel, die Gebrauchsinformation. Aber der Patient sollte gerade nicht mit dem Beipackzettel, der ein Pfl flichtdokument für jedes Medikament ist, allein gelassen werden. Die Gebrauchsinformation ist zwar für den mündigen Patienten wichtig und aus juristischen Gründen nötig. Aber sie kann einschüchtern und ängstigen, weil sehr seltene Nebenwirkungen genannt werden müssen. Der Beipackzettel kann das persönliche Gespräch über das Arzneimittel nicht ersetzen. Kranke wollen über die Therapie mitentscheiden. Rezepte, die passiv von einem Arzt empfangen werden, sind Ausdruck einer paternalistischen Medizin. Skeptische Fragen müssen erlaubt sein, eine gemeinsame Übereinstimmung ist notwendig, sonst wird das Medikament über kurz oder lang weggelassen. So setzten zwei Drittel älterer Menschen, denen ein Cholesterin-senkendes Statin verordnet wurde, das Mittel innerhalb von zwei Jahren ab ’ 21. Wenn man von Ausnahmen wie von einer Tuberkulosebehandlung absieht, sollte der Patient mitentscheiden, ob er das Medikament haben will. Das gilt vor allem in unserer Ära, in der Arzneimittel exzessiv verschrieben werden. Um sich ein Bild machen zu können, braucht er mehr Wissen über Nutzen und Nachteil von Arzneien. Wenn eine Therapie vom Kranken nicht eingehalten wird, spricht der Arzt von Non-Compliance. Er wünscht sich bei seinen Patienten Compliance. Was heißt Compliance? Wenn man das Wort mit Gefügigkeit oder Gehorsam übersetzt, dann entspricht Compliance dem paternalistischen Modell der Patient-Arzt Beziehung. Der Arzt bestimmt in diesem Modell, der Patient gehorcht. Wenn jedoch die Selbstbestimmung des Kranken respektiert wird, kommt es auf Mitbestimmung und Übereinstimmung an. Zum Gespräch über eine Therapie gehört, Optionen nicht zu verschweigen. Patienten mit einer stabilen Angina Pectoris haben zwei Optionen: Sie können optimal mit Medikamenten allein oder mit Herzkatheter und Einlegen eines Metallröhrchens in das verengte Herzkranzgefäß (Stenting) und zusätzlichen Medikamenten behandelt werden. Der zweite Weg ist viel teurer und schließt mögliche Komplikationen ein. Die Evidenz-basierte Medizin sagt, dass die Mehrzahl dieser Kranken mit Lebensstiländerungen und Medikamenten und nur bei Nichtan-

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Für jedes Gesundheitsproblem ein Medikament?

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schlagen der Therapie mit einem invasiven Stenting behandelt werden sollte ’ 22. Trotzdem werden die meisten Patienten, ohne dass zuvor ein balanciertes Gespräch über gleichwertige Optionen erfolgt, mit Stenting behandelt. Das derzeitige Gesundheitssystem gibt einen starken fi finanziellen Anreiz für Katheterprozeduren. 2004 wurden in den USA mehr als eine Million koronarer Stent-Prozeduren ausgeführt, davon 85 % bei Patienten mit stabiler Angina, obwohl die Richtlinien zunächst eine optimale medikamentöse Therapie allein empfehlen ’ 23. Weder Patienten noch die Öff ffentlichkeit werden über die Gleichwertigkeit beider Optionen aufgeklärt, sodass geglaubt wird, Stenting sei als Ausdruck von Hightech der Goldstandard der Behandlung. Oft haben Menschen bei der Behandlung von Karzinomen eine zu optimistische Sicht. Das liegt zum Teil an einseitigen Berichten der Medizin. Eine Analyse von 436 Presseartikeln ’ 24 zeigte, dass nur 13,1 % darüber schreiben, dass eine aggressive Therapie versagen kann. Nur 30 % informierten über Nebenwirkungen. Zeitungsartikel über Karzinome tendieren zur Überschätzung von Machbarkeit. Das Patient-ArztGespräch muss deshalb manche Vorstellungen zurechtrücken. Eine utopische Perspektive von der Allmacht der Medizin ist ebenso falsch wie Resignation oder gar Nihilismus. Selbst bei fortgeschrittenen Karzinomen lässt sich durch eine palliative Betreuung, ein Thema Th des 9. Buchkapitels, viel tun. Das Gespräch über Therapie kann nicht isoliert gesehen werden. Vielmehr ist eine Patient-zentrierte Behandlung nur ein Ausdruck „ganzheitlicher“ Medizin. Aber geht eine „ganzheitliche“ Sicht nicht an der Realität der modernen Verhältnisse vorbei? Niedergelassene und Klinikärzte stehen oft unter Zeitdruck. Daraus ergibt sich eine zweite Frage: Könnte eine Medizin, die wenig Zeit findet, mit Kranken eingehend über Therapie zu sprechen, selbst krank sein?

4.4 Für jedes Gesundheitsproblem ein Medikament? Medikamente können viel, aber unrealistische Erwartungen und mangelndes pharmakologisches Wissen führen zu einer Übertherapie. Jeder Kliniker kennt den Fall: Ein älterer Mensch kommt ins Krankenhaus und bringt einen großen Beutel voller Tablettenschachteln mit. Nach dem Absetzen unnötiger Tabletten bessern sich seine Beschwerden.

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Therapie ist mehr als ein Rezept

50 – 70 % der Arztbesuche führen zu einem Rezept ’ 25. Neben Pillenfeinden gibt es Pillengläubige, die meinen für jede Beschwerde und jedes Symptom sei ein Medikament angebracht: für besseres Gedächtnis, gegen Lampenfi fieber, für albtraumlosen Schlaf und den Erhalt der Jugend. Ein besorgter Patient mag bei einem Virusinfekt Antibiotika verlangen, die nichts nützen, aber Nebenwirkungen verursachen können und resistente Keime züchten. Ein von der Pharmakologie geschulter Arzt wird auch nicht im Rahmen der fragwürdigen „Individuellen Gesundheitsleistungen“ (IGeL) Vitaminspritzen, „Vital- und Aufbaukuren“ anbieten. In dem von der pharmazeutischen Industrie herausgegebenen Sammelwerk, „Rote Liste“, gibt es viele ungesicherte und unbewiesene Mittel, z. B. „Leberschutzpräparate“, „durchblutungsfördernde“ Substanzen und „Gehirn-schützende“ Stoff ffe. Nicht jedes Medikament ist sinnvoll. Weil viele Ärzte unter Zeitdruck stehen, kann das Ausstellen eines Rezeptes ein Mittel sein, die Sprechstunde zu beenden. Es geht schneller, ein Rezept zu schreiben, als mit dem Ratsuchenden zu sprechen. Manche Menschen wünschen in der Sprechstunde ein Antidepressivum, obwohl keine Depression und keine andere Indikation für ein solches Mittel vorliegen ’ 26. Diese Menschen sind nicht zufrieden, wenn ihr Wunsch vom Hausarzt ohne Erklärung abgelehnt wird. Eine Überweisung zu einem Psychiater wird oft nicht akzeptiert oder als Abschiebung interpretiert. Verweigert der Hausarzt ein Antidepressivum, sind sie eher damit einverstanden, wenn er ihre Perspektive berücksichtigt. Warum wird ein Antidepressivum gewünscht? Gibt es Alternativen? Auch bei einem Nein sollte das Interesse des Arztes am Wohlbefi finden des Patienten spürbar sein. Es gilt verständlich zu machen, warum ein Medikament keinen Nutzen bringt. Andere nicht medikamentöse Strategien sind zu besprechen. Geschieht das nicht, wird das Unterlassen einer sinnlosen Maßnahme leicht als „Rationierung“ missverstanden, die eine vermeintlich notwendige Therapie Th vorenthält. Das eigene Verhalten und der Lebensstil sind für die Gesundheit wichtiger als fragwürdige Medikamente. Eine der häufi figsten Todesursachen ist heute die koronare Herzkrankheit, zu deren Risikofaktoren Rauchen, falsche Ernährung, Bewegungsmangel und chronische Stressbelastungen gehören. Wir können viel tun, um eine Krankheit zu verhindern (Erstprävention) oder um ihr Fortschreiten aufzuhalten (Zweitpräven-

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Der medizinisch-industrielle Komplex

4. 5

tion). Auch ein Patient mit Bluthochdruck trägt wesentlich zu seiner Gesundheit bei, indem er sein Übergewicht normalisiert, salzreiche Kost und übermäßigen Alkoholgenuss meidet. Die Fettleibigkeit (Adipositas) ist ein Risikofaktor für den Typ-2-Diabetes. Gelingt eine dauerhafte Gewichtsabnahme von zehn Kilogramm, dann sinkt der zu hohe Blutzucker. Für die Krankheitsverhütung sind gesunde Ernährung, Adipositasbehandlung, Vermeidung eines Alkoholmissbrauchs, körperliche Bewegung und Stresstherapie wichtig. Relaxationsverfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung sind bewährte Mittel, „Verkrampfungen“ zu lösen. Dass der Lebensstil wichtig ist, wusste bereits Epikur (341 – 270), der im Jahr 306 seine Philosophenschule in einem Athener Garten eröff ffnete. Er wollte, dass der Mensch freier und gesünder wird. Wie ist das möglich? Nicht „eine endlose Reihe von Trinkgelagen und Festschmäusen, nicht das Genießen schöner Knaben und Frauen“ begehrte er, sondern „keine Schmerzen haben im körperlichen Bereich und im seelischen Bereich keine Unruhe verspüren“ ’ 27. Deshalb empfahl Epikur das Maßhalten, die Beachtung des Zuträglichen und die Vermeidung des Schädlichen.

4.5 Der medizinisch-industrielle Komplex Du sollst dich nicht durch Geschenke bestechen lassen; denn Geschenke machen den Sehenden blind und verdrehen die Sache derer, die im Recht sind. 2. Mose 23,8

Universität und Industrie tragen dazu bei, dass neue segensreiche zielgerichtete Medikamente entwickelt werden. Kein vernünftiger Mensch möchte auf Antibiotika, Insulin oder Mittel gegen Krebs verzichten. Während Pharmafirmen fi in den sozialistischen Ländern kaum Arzneimittelinnovationen hervorbrachten, haben sie im Kapitalismus wertvolle Medikamente entwickelt. Keine Verteufelung der Industrie soll hier erfolgen, es dürfen aber auch die Nachteile des medizinisch-industriellen Komplexes nicht verschwiegen werden. Der medizinisch-industrielle

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Therapie ist mehr als ein Rezept

Komplex beschreibt die enge Verfl flechtung von pharmazeutischen und Gerätefi firmen mit der Medizin. Ärzte erhalten von dieser Industrie Geld für Beratung der Firmen, für Forschung und als Redner bei Industriegesponserten Fortbildungen. Sie bekommen auch kleinere oder größere Geschenke, wie Hotelmahlzeiten im Rahmen von Fortbildungen oder bezahlte Reisen zu Kongressen. Wissenschaftler werden heute von der Universität aufgefordert, mit der Industrie zusammenzuarbeiten, die begehrte „Drittmittel“ für die Forschung zur Verfügung stellt. Das hat Nutzen und Risiken. Einerseits kann die Medizin durch randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), die ein neues Arzneimittel mit Placebo in Doppelblinduntersuchungen vergleichen, zu neuen Therapieeinsichten Th kommen. Dabei werden nach dem Zufallsprinzip (Random) zwei Gruppen gegenübergestellt, von denen die eine den aktiven Stoff ff, die andere das Scheinpräparat erhält. Andererseits haben von der pharmazeutischen Industrie bezahlte RCTs häufi figer ein positives Ergebnis als Studien, die nicht vom Hersteller des neuen Medikaments bezahlt werden ’ 28. Eine Analyse von 370 RCTs ergab, dass das untersuchte Medikament von 16 % der Studien empfohlen wurde, die von Nichtprofi fitorganisationen bezahlt, jedoch von 51 % der Studien, die von Profi fitorganisationen finanziert wurden ’ 29. Hinzu kommt, dass für den Hersteller des Produktes ungünstig ausfallende Ergebnisse oft nicht publiziert werden ’ 30. Die Evidenz-basierte Medizin, die sich auf RCTs bezieht, wird dadurch gefährdet, weil die Wirklichkeit durch finanzielle fi Interessen verzerrt werden kann. Klinische Forschungsstudien mit neuen Medikamenten werden zum größten Teil vom Hersteller finanziert, fi der mitbestimmt, wie über die Ergebnisse berichtet wird. Heute reden „die Unternehmen in allen Einzelheiten der Forschungsvorhaben mit, von der Planung der Untersuchung über die Auswertung der Daten bis zur Entscheidung, ob die Ergebnisse veröff ffentlicht werden. Wegen dieser Mitwirkung ist eine Verzerrung nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Über die klinischen Studien bestimmen nicht mehr ausschließlich Wissenschaftler, sondern die Geldgeber“ ’ 31. Klinische Richt- und Leitlinien sollen den Arzt auf der Basis Evidenzbasierter Medizin zu einem richtigen diagnostischen und therapeutischen Handeln anleiten. Sie spielen auch bei Kunstfehlerprozessen

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Der medizinisch-industrielle Komplex

4. 5

gegen Ärzte eine Rolle, da Juristen aufgrund der Richtlinien feststellen können, wie weit Ärzte von diesen Leitlinien abgewichen sind. Solche Richtlinien haben aber einen Haken, denn sie werden von Experten aufgestellt, die teilweise finanzielle fi Interessenkonfl flikte haben, weil sie ’ 32 Geld von Pharmafi firmen erhalten . Hierin liegt ein großes Problem, da Experten mit finanziellen Konfl flikten in Gefahr sind, nicht mehr objektiv zu urteilen. Klinische Richtlinien sollten durch Autoren ohne solche Konfl flikte entwickelt werden. Die von der Pharmaindustrie bezahlten Arztfortbildungen beeinflussen das Verschreibungsverhalten der Ärzte. Bezahltes Essen, kleine Geschenke und andere Annehmlichkeiten fördern den Vertrieb der besprochenen Medikamente. Solche Geschenke können bewusst oder unbewusst dazu führen, eine Gegenleistung zu erbringen, beispielsweise ein neu vorgestelltes Arzneimittel bevorzugt zu rezeptieren. Ärzte vermuten mit Recht, dass ihre Kollegen durch Geschenke in der Wahl ihrer Therapie beeinfl flusst werden können. Sie selbst nehmen sich allerdings von dieser Kritik aus. Redner klinischer Fortbildungen erhalten von der Industrie oft viel Geld, sodass sie vor Beginn des Vortrags ihre finanziellen Konfl fi flikte der Interessen off ffenlegen sollten. Nicht alle Informationen, die Pharmakonzerne den Ärzten anbieten, sind falsch. „Aber die Informationen der Unternehmen sind gemischt mit Übertreibungen, einseitigen und falschen Aussagen, und häufi fig kann man das eine vom anderen nicht unterscheiden“ ’ 31. Eine solche Aufklärung über verschreibungspfl flichtige Medikamente kann nicht objektiv sein. Etwa 90 % der deutschen medizinischen Fortbildungen wurden im Jahr 2001 von der Industrie gesponsert ’ 33. Die von der Industrie bezahlten Redner, vom Volksmund „Mietmäuler“ genannt, stellen das Produkt des Sponsors heraus. Dabei kommt es dem Hersteller sehr entgegen, wenn in einem Vortrag über die Therapie Th des Bluthochdrucks positive Arzneimittelstudien, jedoch keine medikamentösen Nebenwirkungen angesprochen werden. Ärzte beziehen einen großen Teil ihres Arzneimittelwissens durch Besuche von Pharmavertretern, die in Praxen und Kliniken die neuen Produkte ihres Arbeitgebers vorstellen. Solchen Vermittlungen neuer Medikamente fehlt die Objektivität. Bereits fünf sogenannte Statine zur Cholesterinsenkung waren auf dem Markt, als 1997 mit großem Werbeaufwand ein sechstes Statin, Cerivastatin, erschien. Medizinisch unnö-

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4.

Therapie ist mehr als ein Rezept

tig, aber die Firma wollte einen Marktanteil erobern. Doch bald musste Cerivastatin zurückgezogen werden, da es bei Patienten zu Muskelschädigung und Nierenversagen mit tödlichem Ausgang kam. Rofecoxib, ein neues Schmerzmittel und Antirheumatikum, hat ca. 160 000 zusätzliche Herzinfarkte und Schlaganfälle pro 10 Millionen exponierter Patienten ausgelöst, ehe es vom Markt genommen wurde ’ 34. Durch selektive Weitergabe von Daten an die Zulassungsbehörden hatte der Hersteller das Wissen um Nebenwirkungen der Öff ffentlichkeit längere Zeit vorenthalten. Das Verschweigen von Ergebnissen, die der Vermarktung einer Substanz hinderlich sind, ist ein Mittel der Manipulation. Umso wichtiger wird eine balancierte und Industrie-unabhängige Fortbildung der Ärzte in der Arzneimitteltherapie. Der Berufsstand der Mediziner müsste diese Fortbildung selbst bezahlen. Gerade hier beginnen aber die Schwierigkeiten. Die ärztliche Weiterbildung ist zu abhängig vom industriellen Sponsering. Die einfache Wahrheit heißt: Geldgeber der Pharma- und Geräteindustrie ersparen der Ärzteschaft eigene Ausgaben; aber diese Industrieunterstützung fördert einen engen Fokus auf Industrieprodukte und missachtet eine breitere Ausbildung und alternative Strategien der Krankheitsbehandlung ’ 35. Man könnte das kommerzielle Sponsering beenden, wenn die Ärzte bereit wären, mehr für die eigene Fortbildung zu bezahlen. Es ist die Frage, ob Kliniker und niedergelassene Ärzte bereit sind, so zu handeln. 2005 wurde in einer deutschen medizinischen Zeitschrift der medizinisch-industrielle Komplex kritisiert ’ 36. Darauf hieß es in einer Stellungnahme ’ 37 , ein großer Kongress, aber auch ein kleines Symposium ließe sich ohne Sponsering der Industrie nicht verwirklichen. Es sei utopisch, von Ärzten zu erwarten, dass sie ihre eigene Fortbildung selbst finanzieren. fi Die Industrie dürfe ruhig weiter sponsern – so der Leserbrief –, allerdings sei das von den Rednern positiv Dargestellte um 90 % zu minimieren, das angedeutet Kritische mit dem Faktor fünf zu multiplizieren. Dieser Kommentar zeigt ungeschminkt die Bereitwilligkeit, sich weiter unbalanciert von Industrie-bezahlten Sprechern informieren zu lassen und gleichzeitig die Unwilligkeit, in die eigenen Taschen zu greifen. Man spricht heute viel von einer politischen „Gesundheitsreform“. Vielleicht wäre eine Reform der Medizin wichtiger, die von mutigen Ärzten ausgehen müsste. Zu ihr würde eine unabhängige Fortbildung gehören, die Patienten nützt und Millionen unnötiger Kosten spart.

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Kann weniger mehr sein?

4. 6

4.6 Kann weniger mehr sein? Es gibt Situationen, in denen für den Patienten nicht genug getan wird. Er braucht beispielsweise eine Operation oder er benötigt ein adäquates Medikament, anstatt die Hände in den Schoß zu legen. Unterdiagnostik und Untertherapie sind meist durch mangelndes medizinisches Wissen bedingt, in Entwicklungsländern, etwa im Subsahara-Afrika, vor allem durch fehlende Ressourcen. Sowohl Unter- als auch Überbehandlung sind zu vermeiden. Wenn die medizinische Versorgung gut ist, dann folgern viele Menschen: noch mehr Medizin ist besser. Doch das muss nicht so sein. In Kapitel 3 wurde gezeigt, dass zu viele Labortests und bildgebende Verfahren nachteilig sind. Das gilt auch für eine Überbehandlung. Der Schaden kann größer als der Nutzen sein, beispielsweise bei der Behandlung beschwerdefreier Frauen mit einer langjährigen Hormonersatztherapie in der Menopause. Bei Kniegelenksverschleiß mit Schmerzen und verminderter Funktion wird auch in Deutschland oft eine Kniegelenksspiegelung (Arthroskopie) mit Spülung (Lavage) und Glättung der Gelenkoberflächen fl empfohlen. Diese arthroskopische Chirurgie wird häufi fig benutzt, obwohl nicht bekannt ist, ob die Wirksamkeit über einen starken Placeboeff ffekt hinausgeht. 2008 wurde deshalb diese Methode mit einer physikalischen und medikamentösen Therapie verglichen ’ 38. Dabei zeigte sich, dass die arthroskopische Chirurgie keinen zusätzlichen Gewinn im Vergleich mit einer optimalen konservativen Behandlung bringt. Da jeder größere chirurgische Eingriff ff mit Komplikationen verbunden sein kann, gilt: Weniger kann mehr sein. Trotzdem wurde die Methode in den USA pro Jahr 650 000-mal ausgeführt ’ 39. Diese Prozedur trägt ebenfalls in Deutschland dazu bei, die Kosten im Gesundheitswesen unnötig zu erhöhen. Wenn jemand von zu hohen Kosten spricht, gerät er leicht in Verdacht, die Th Therapie einschränken und rationieren zu wollen. Aber das Weglassen einer zwar äußerst populären, gleichzeitig überfl flüssigen und potenziell schädlichen Therapie ist keine Rationierung. Ein anderes Beispiel der Überbehandlung ist die unkritische Behandlung mit Protonenpumpenhemmern (PPH), die die Magensäure maximal reduzieren. Sie sind gut wirksam bei Entzündungen der Speiseröhre,

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4.

Therapie ist mehr als ein Rezept

der Kurzzeitbehandlung des Magen- und Zwölffi ffingerdarms als Teil eines Kombinationsregimes und bei einigen anderen organischen Veränderungen. Jedoch sind 53 % bis 69 % der Verschreibungen von PPH unangemessen ’ 40. So werden PPH oft bei Patienten mit Reizmagen, einer funktionellen Störung, mit Völle-, Druck- und vorzeitigem Sättigungsgefühl rezeptiert. Sie sind hier nicht angebracht. Außerdem wird offenbar ff nicht an die möglichen Nebenwirkungen der PPH gedacht. Die Magensäure schützt vor Infektionen, sodass das Risiko von Lungenentzündungen ’ 40 und Darmentzündungen mit Durchfällen (Clostridium-difficile-Infektiffi onen) erhöht ist ’ 41. Warum werden so viele Menschen unnötig mit PPH behandelt? Ein Grund ist, dass der Reizmagen häufi fig auftritt. 25 % der Erwachsenen berichten über seine Symptome. Ein Umdenken der Therapie Th ist erforderlich. Es gibt andere Optionen beim Reizmagen, zum Beispiel das Essen kleinerer Mahlzeiten abends, eine Gewichtsnormalisierung, Nichtrauchen und eine Stress-Reduktion; aber unser medizinisches System belohnt Gespräche und Beratung nicht, und oft setzt der Patient eine medizinische Intervention wie die Gabe eines PPH mit einer besseren Behandlung gleich. Außerdem geht es schneller, ein Rezept zu schreiben, als dem Patienten zu erklären, warum ein PPH, von dem er Gutes gehört hat, in seinem Fall nicht sinnvoll ist. Ein letztes Beispiel unserer Prozeduren-getriebenen Medizinkultur: Wenn im Rahmen einer Osteoporose ein Wirbel frakturiert, wird oft Zement (Polymethylmethaacrylat) in den Wirbel injiziert (Vertebroplastie). Die Schmerzen lassen nach. Zwei kontrollierte Untersuchungen ’ 42, 43 verglichen die Vertebroplastie mit einer Scheinprozedur, die nicht schlechter als die Zementinjektion abschnitt. Sie ist eine Modeerscheinung ’ 44. In den letzten sechs Jahren hat sich die Zahl der Vertebroplastien in den USA verdoppelt, obwohl die Prozedur ebenfalls wie ein starkes Placebo wirkt. Unter einer guten konservativen Behandlung heilt die Fraktur von selbst. Die Vertebroplastie besitzt Risiken: Zement kann in eine angrenzende Bandscheibe ausfließen, fl Weichteile mögen geschädigt werden, Nervenwurzelschmerzen sind durch Austritt von Zement möglich. Patienten, die gut über Optionen informiert werden, sind weniger gefährdet, die operative Prozedur zu wählen. Massenmedien und Firmen-gesponserte Fortbildungen tendieren zur Überbetonung der Erfolge neuer Interventionen, während sie gleichzeitig die Nebenwirkungen

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Literatur

4. 6

bagatellisieren. Wir benötigen jedoch eine ehrliche und ausgeglichene Berichterstattung für unsere medizinischen Entscheidungen. Eine neue Studie ’ 45 zeigt eine Überlegenheit der Vertebroplastie im Vergleich zur konservativen Behandlung. Allerdings wusste jeder Teilnehmer, wer eine Vertebroplastie erhalten hatte, sodass ein starker Placeboeff ffekt für die Schmerzerleichterung wahrscheinlich ist.

Literatur ’1 ’2

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5.

Alternative Medizin

5.1 Warum ist die alternative Medizin populär? Die Popularität der alternativen Medizin hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. In einer repräsentativen demoskopischen Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts „Emnid“ gaben 80 % der Interviewten an, bei Erkältungskrankheiten, Schlafstörungen, Migräne etc. Mittel der Naturheilkunde / Homöopathie zu bevorzugen ’ 1, 2. Bereits in den neunziger Jahren boomte die alternative Medizin weltweit, von der es ca. 160 verschiedene Methoden gibt ’ 3. In Deutschland sind Homöopathie, Pfl flanzenmedizin, Anthroposophie, Chiropraxis und Akupunktur weit verbreitet. Andere Formen heißen Sauerstoff ff-Ozon-Kur, Kälberblutextrakt-Kur, Wiedemann-Serum-Behandlung und Chelattherapie ’ 4 : Auch Bachblüten-, Kristall-, Magnet-, Neuraltherapie und die sogenannte orthomolekulare Medizin haben ihre Anhänger. Die alternative Medizin wird ebenfalls als komplementäre und alternative Medizin (KAM) bezeichnet. Oft wird KAM in Europa von jungen bis mittelalten Frauen mit guter Ausbildung bei chronischen Rückenschmerzen, Allergien, Arthrose, Menopausensymptomen sowie psychischen Problemen wie Angst und Depression verwendet. Viele Patienten nehmen KAM zusätzlich zur konventionellen Medizin bei organischen Krankheiten, z. B. einem Karzinom ’ 5. Ärzte sollten stets unvoreingenommen fragen, ob Mittel der alternativen Medizin genommen werden, denn es gibt, wie wir sehen werden, Nebenwirkungen und Interaktionen mit rezeptpfl flichtigen konventionellen Medikamenten. Wenn allerdings KAM-Patienten mit schweren und lebensbedrohenden Krankheiten von wirksamen Mitteln der Evidenz-basierten Schulmedizin abgehalten wer-

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Warum ist die alternative Medizin populär?

5. 1

den, wird alternative Medizin mehr als problematisch. Sie ist nicht mehr zu verantworten. Neun Milliarden Euro werden in Deutschland pro Jahr für KAM ausgegeben. Fünf Milliarden zahlen die Patienten aus eigener Tasche, vier Milliarden erstatten die Krankenkassen ’ 6. Dabei zählen hierzulande Anthroposophie, Homöopathie und Pfl flanzentherapie zu den besonderen Therapieeinrichtungen, Th die sich nicht den Kriterien der Evidenzbasierten Medizin unterwerfen müssen. Nicht nur Heilpraktiker, auch Ärzte wenden zunehmend KAM an. In Deutschland wird die Akupunktur schätzungsweise von 40 000 Ärzten ausgeübt. Von 1993 bis 2002 hat sich die Zahl der Ärzte, die Mitglieder des Zentralvereins der Homöopathie sind, auf 4000 verdoppelt ’ 7. Ein Arzt beschrieb, was er als Patient bei einem alternativen Kollegen empfand ’ 8. Dieser alternative Arzt habe genau auf die Beschwerden des Kranken gehört und viel Zeit für ihn gehabt. Der Patient spürte Interesse und Off ffenheit, die es ihm erlaubten, frei zu sprechen. Er habe sich schon besser gefühlt, bevor er untersucht wurde. Nun sind die Ursachen für die große Popularität gewiss vielschichtig. Im Folgenden sollen vier von ihnen diskutiert werden: ò Die naturwissenschaftlich-technische Medizin richtet ihr Hauptinteresse auf Krankheiten und ihre biologischen Mechanismen. Sie will mit Recht wissen, welche Krankheit ein Patient hat. Oft ist es aber ebenso wichtig zu erfahren, welcher Patient diese Krankheit erleidet und wie er mit ihr umgeht. Viele Patienten vermissen die „Ganzheitlichkeit“ der konventionellen Medizin. Sie wünschen, dass der ganze Mensch mit seinen Vorstellungen und Sorgen berücksichtigt wird. Wahre Betreuung heißt, dass sich der Arzt um körperliche, seelische und soziale Aspekte kümmert. Die Sprechstundenzeiten alternativer Therapeuten sind meistens länger, detaillierter und persönlicher ’ 9 als im Rahmen der Schulmedizin. Praktiker der Alternativmedizin, z. B. Homöopathen, anthroposophische und Akupunkturärzte, haben längst begriffen, ff dass die Qualität der Arzt-Patient Beziehung und die Kommunikation, also positive Kontextfaktoren, aber auch psychosomatische Zusammenhänge wichtig sind. Was Kranke interessiert, sind die Ergebnisse der Behandlung. Sie beurteilen, wie alternative Medizin ihr Befi finden und ihren Gesundheitszustand verändert. Der Besuch beim Hausarzt, moniert eine viel gelesene Zeitung ’ 10, dauere im Durchschnitt keine acht Minuten; die Zeit sei heute in der

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5.

Alternative Medizin

Schulmedizin zu einem unbezahlbaren Faktor geworden. Kein Wunder, dass viele Patienten ausführlichere Konsultationen bei alternativen Praktikern vorziehen. Alternative Medizin ist eine „verdeckte“, aber effektive psychosomatische Behandlung. ò Zweitens spielt die Furcht vor Nebenwirkungen der Schulmedizin eine Rolle. Sie behandelt mit „Chemie“ oder mit technischen Interventionen und Prozeduren, während KAM „natürlicher“ erscheint. Man scheut eine „kalte Apparatemedizin“ und bevorzugt mehr menschlichen Kontakt. Pfl flanzliche Heilmittel wie Gingko oder Johanniskraut sind beliebt. Sie entsprechen dem modernen Trend „Zurück zur Natur“. Im Abschnitt 5.4 werden wir uns mit diesem Aspekt näher beschäftigen. ò Drittens wollen Ärzte bei zunehmender Konkurrenz ihr Angebot verbreitern. Auf vielen Praxisschildern fi findet sich ein Hinweis auf Naturheilkunde, Chiropraxis, Homöopathie oder Akupunktur. Anderen KAM anbietenden Ärzten ist das Konzept der naturwissenschaftlich und kausalanalytisch arbeitenden Schulmedizin zu eng. ò Ein vierter Grund für die Popularität von KAM sind die vielen Patienten mit funktionellen Störungen, d. h. mit Beschwerden, für die trotz des Einsatzes von Laborbatterien und bildgebenden Verfahren kein organisches Substrat gefunden wird. Solche funktionellen Syndrome reichen vom Reizdarm über die Muskelschmerzen der Fibromyalgie bis zu Spannungskopfschmerzen. Oft hören diese Kranken von einem Schulmediziner, sie hätten nichts, sie seien „Somatisierer“ oder alles sei nur psychisch. Diese Auskünfte befriedigen nicht. Eine adäquate Th Therapie wird nicht angeboten. Es erstaunt daher nicht, dass viele Menschen mit funktionellen Beschwerden Hilfe bei der alternativen Medizin suchen.

5.2 Homöopathie Je nach Umfrage stehen 50 bis 80 % der Deutschen der Homöopathie aufgeschlossen gegenüber ’ 2. Sie wird als eine sanfte Heilmethode angesehen. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, wurde 1755 in Meißen als Sohn eines Porzellanmalers geboren; er starb nach einem erfolgreichen Arztleben 1843 in Paris. Seine Lehre besteht darin, bei Kranken Mittel in sehr kleinen Dosen anzuwenden, die bei Gesunden in normal großer Dosis die Symptome der Krankheit hervorrufen. Weil Hahnemann an sich beobachtete, dass Chinarinde in normaler Dosis zu

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Homöopathie

5. 2

Fieber führte, setzte er das Mittel homöopathisch verdünnt zur Fiebersenkung ein. Gleiches soll mit Gleichem kuriert werden. Hahnemanns Ähnlichkeitsprinzip lautet daher bis heute: „Similia similibus curantur“ (Ähnliches wird mit Ähnlichem geheilt). Das zweite Prinzip der Homöopathie ist das der Verdünnung. Diese Verdünnung, begleitet von kräftigem Schütteln, erfolgt nach der Dezimalskala, z. B. 1:10 (D1), 1 : 100 (D2) oder nach der Centesimalskala, d. h. im Verhältnis 1:100 (C1), 1 : 10 000 (C2) usw. Je verdünnter die Substanz ist, umso wirksamer sei sie. Die Homöopathen bezeichnen diese Theorie als „Potenzierung“. Verdünnungen über D12, d. h. über einem Verdünnungsverhältnis von 1 zu 1000 Milliarden werden „hohe Potenzen“ genannt. Das Symptom Durchfall wäre mit einem verdünnten Arzneimittel zu behandeln, das bei normaler Dosierung Durchfall bewirken würde. Und: Je weniger Moleküle in diesem Arzneistoff ff enthalten sind, umso kräftiger und „dynamischer“ wirke es. Um das richtige Mittel zu finden, beschäftigen sich Homöopathen sehr genau mit jedem Symptom des Patienten. Die Anamnese ist gründlich, das Gespräch zwischen dem Patienten und dem Therapeuten lang und ausführlich. Der Kranke hat das Gefühl, dass der Homöopath, sei er Arzt oder Heilpraktiker, sich Zeit und die Beschwerden ernst nimmt. Im Gegensatz zu Hektik, Geschäftigkeit und Zeitnot in vielen Kliniken und Praxen kann der Kranke bei einem Homöopathen erleben, dass auf seine Probleme detailliert eingegangen wird. Die sogenannten Kontextfaktoren, die wichtig für die Besserung des Befindens fi sind, können demnach als positiv bezeichnet werden. Ein homöopathisch tätiger Arzt ’ 11 nennt als Beispiel für den Erfolg seiner Behandlung eine 64-jährige Frau mit Herzschmerzen, bei der bereits fünfzehn Minuten nach Gabe von fünf Tropfen Asconitum D30 im Abstand von fünf Minuten der Anfall verschwand. Nun enthalten fünf Tropfen der Verdünnung D30 nur noch zufällig ein Molekül Asconitum. Der Erfolg zeigt jedoch die therapeutische Kraft positiver Kontextfaktoren, wozu in erster Linie eine gute Patient-Arzt-Interaktion gehört. Da ein Homöopath seine Mittel nach den Symptomen aussucht, geht er während der Anamnese minutiös jedem physischen und psychischen Symptom nach. Eine solche Anamnese kann länger als eine Stunde dauern. Diese Gründlichkeit beeindruckt Kranke und bestärkt ihre Hoff ffnung auf Heilung, vor allem wenn sie erlebt haben, dass einem Schulmediziner Labortests und bildgebende Verfahren weit wichtiger als die Anamnese waren.

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5.

Alternative Medizin

Das Ähnlichkeitsprinzip und das Prinzip der Verdünnung als Potenzierung werden von der Schulmedizin nicht anerkannt. Im Gegensatz zur Homöopathie sucht sie ihre Medikamente nicht nach Symptomen, sondern nach veränderten Körperprozessen aus. Ihr Ziel ist eine kausale Therapie, die zu Hahnemanns Zeit noch weitgehend unbekannt war ’ 12. Die konventionelle Medizin nimmt an, dass die nicht zu leugnenden Erfolge der Homöopathie durch machtvolle Placebo- bzw. Kontexfaktoren zustande kommen. Placeboeff ffekte sind keineswegs nur psychisch. Sie umfassen messbare Gehirnveränderungen. Die Funktionen von Gehirn und peripheren Organen sind dabei eng verflochten. fl Homöopathen lehnen eine solche Schlussfolgerung ab und behaupten, ihre Medikamente würden über einen Placeboeff ffekt hinausgehen und spezifi fisch, d. h. in eindeutig bestimmter Weise aufgrund der beiden homöopathischen Prinzipien in das Krankheitsgeschehen eingreifen. Um einen solchen Streit zwischen Schul- und alternativer Medizin zu beenden, können die bereits erwähnten Randomisierten kontrollierten Untersuchungen (RCTs) dienen, die doppelblind ein Homöopathikum mit Placebo vergleichen. Sogenannte Meta-Analysen fassen mehrere RCTs zusammen. 1997 erregte eine solche Meta-Analyse von 89 placebokontrollierten Studien über Homöopathie Aufsehen ’ 13. Sie folgerte vorschnell, die Effekte ff homöopathischer Mittel seien stärker als die von Placebos, ohne zu bedenken, dass den beiden Prinzipien der Homöopathie eine rationale Grundlage fehlt. Unendliche Verdünnungen können biochemisch nicht eingreifen. RCTs, die Placebos mit solchen Mitteln vergleichen, mögen zu Ergebnissen kommen, die vom Zufall bestimmt werden ’ 14. Eine andere in den Medien viel diskutierte Analyse erschien 2005 ’ 15: Die Autoren untersuchten 110 homöopathische und 110 konventionelle bzw. allopathische Therapiestudien. In beiden Gruppen zeigten Untersuchungen mit geringer Teilnehmerzahl und mit niedriger methodischer Qualität einen größeren Nutzen als Studien mit größerer Teilnehmerzahl und höherer methodischer Qualität. Unter Berücksichtigung dieser methodischen Fehler waren die klinischen Eff ffekte der Homöopathie als Placebowirkungen zu interpretieren. Obwohl diese Schlussfolgerung der Logik entspricht, werden überzeugte Homöopathen zusammen mit ihren Patienten weiter daran glauben, dass ihre Arzneistoff ffe in eindeutig bestimmter Weise agieren. Das Ende der Homöopathie wurde durch diese

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Anthroposophie

5. 3

viel zitierte Arbeit, wie der Lancet ’ 16 frohlockte, keineswegs eingeläutet. Homöopathie wird von ihren Anhängern weiter als „ganzheitliche“ Alternative zur Technik-bestimmten konventionellen Medizin angesehen.

5.3 Anthroposophie Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden von der TheosoTh phie und Anthroposophie über die Zeugen Jehovas bis zu Carl Gustav Jung neue religiöse Systeme ’ 17. Die Anthroposophie ist untrennbar verbunden mit ihrem Begründer Rudolf Steiner (1861 – 1925), der den Materialismus bekämpfte und ein „ganzheitliches Weltbild“ vertrat. 1890 bis 1897 lebte er in Weimar als Mitarbeiter der „Weimarer Goethe-Ausgabe“. Hier entwickelte er seine „Weltanschauung der Intuition“ ’ 18, 19. Steiner wurde durch die spirituellen Lehren der Theosophie angeregt und gehörte vorübergehend dieser Bewegung an. Bis heute ist sein Name mit der Anthroposophischen Gesellschaft, den Waldorfschulen und der anthroposophischen Medizin verbunden. Anthroposophen glauben an einen „Ätherleib“, der dem sichtbaren Körper als ein feinerer Leib zugrunde liegt; sie glauben an einen „Astralleib“, den der Okkultismus eine „zarte Umhüllung der Seele“ nennt. Die Anthroposophie lehrt auch die Wirkung des Karma und die Wiedergeburt. In den indischen Religionen, z. B. im Brahmanismus, spielt das Karma eine wichtige Rolle. Es besagt, dass das Schicksal des Menschen nach dem Tod von seinem früheren Dasein abhängt. Die Taten des Menschen bestimmen den Weg der Seelenwanderung. Bei den anderen alternativen Heilmethoden handelt es sich um nichtreligiöse Systeme. Die Anthroposophie nimmt insofern eine Ausnahmestellung ein, da sie eine Mixtur von Religion, Esoterik und Metaphysik darstellt. Rudolf Steiner wollte „höhere Welten“ erkennen. Beweisen lassen sich die religiösen Spekulationen über die übersinnliche Welt nicht. Die anthroposophische Medizin arbeitet nicht nur mit Arzneimitteln aus pfl flanzlichen, mineralischen und tierischen Stoff ffen, sondern auch mit Eurhythmie, Massage und Kunsttherapie. Steiner wollte durch seine Anthroposophie die konventionelle Medizin bereichern. Die Arzneimittel werden von der Firma Weleda hergestellt. Die Misteltherapie, in Europa von vielen Karzinompatienten benutzt und geschätzt, gehört gleichfalls zur Anthroposophie. Diese Behandlung wird meist als Zusatz zur konventionellen Therapie angeboten. Rudolf Steiners Intuition war,

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5.

Alternative Medizin

die Mistel könne bei Krebs helfen, weil die Mistel auch ein Parasit ist, der seinen Wirt töten kann. Er wurde dabei von Hahnemanns „Similia similibus curantur“ inspiriert. Anthroposophen sagen, dass Injektionen von Mistelpräparaten das Tumorwachstum verlangsamen und die Lebensqualität bessern. Es existieren dazu viele Studien. Je weniger gut die Methodik ist, umso positiver fallen die Resultate aus ’ 20. Die Misteltherapie ist nicht nebenwirkungsfrei ’ 21. In der „Roten Liste“ 2009 stehen 34 Mistelpräparate. Als Indikation wird angegeben: „Gemäß der anthroposophischen Therapierichtung: Anregung von Form- und Integrationskräften zur Aufl flösung und Wiedereingliederung verselbstständigter Wachstumsprozesse, z. B. bösartige und gutartige Geschwulsterkrankungen; bösartige Erkrankungen und begleitende Störungen der blutbildenden Organe, Anregung der Knochenmarkstätigkeit; Vorbeugung gegen Geschwulstrezidive“. Die Evidenz-basierte Medizin bezweifelt eine Wirkung, die über machtvolle psychophysische Placeboeff ffekte hinausgeht. Eine moderne Monografi fie über alternative Medizin ’ 22 zieht zur anthroposophischen Medizin folgendes Fazit: „Die anthroposophische Medizin ist biologisch nicht plausibel, ihr Nutzen ist nicht erwiesen, und es ist unwahrscheinlich, dass sie wirksam ist. Auch kann sie mit beträchtlichen Risiken verbunden sein.“ Das Hauptrisiko besteht darin, dass Patienten mit einer bösartigen Krankheit eine schulmedizinische Therapie ausschlagen, obwohl die Chance einer Heilung besteht, und ausschließlich eine anthroposophische Behandlung wie die Injektionen von Mistel (Viscum album) wählen. So fragwürdig die wissenschaftliche Evidenz der anthroposophischen Medizin ist, so muss gesagt werden, dass anthroposophische Ärzte oft ein persönliches Verhältnis zu ihren Patienten haben. Sie kümmern sich um ihre Probleme und sind off ffen für psychosomatische Beziehungen. Wenn ein Arzt zuhört, und er neben biologischen Bedingungen auch geistige und soziale Kräfte berücksichtigt, werden hervorragende Kontextfaktoren geschaffen, ff die zu einem Therapieerfolg beitragen. Dieser Aspekt zieht sich als roter Faden durch viele Gebiete der alternativen Medizin. Es ist zu bedauern, dass die Schulmedizin so wenig Gebrauch von diesen Einsichten macht. Die anthroposophische Abteilung eines Asklepios-Klinikums riecht nach Melisse, Kümmelöl und Sauerklee. Die Patienten werden zwei- bis dreimal damit eingerieben. Sie empfi finden diese Berührung als ange-

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Pfl flanzenmedizin oder zurück zur Natur

5. 4

nehm ’ 10. Besonders ältere Menschen sind oft sozial isoliert und werden selten und nicht gern berührt. Patienten haben es aber nötig, berührt zu werden, sei es, dass die Berührung ein Teil der körperlichen Untersuchung ist, sei es, dass sie durch Massagen oder Einreibungen vermittelt wird. Trotz aller modernen Technologie ist mitfühlende Berührung das älteste und wohltuendste Werkzeug der Medizin ’ 23 Wie bei anderen Richtungen der KAM ist auch bei der anthroposophischen Medizin ein eigenartiges Phänomen zu beobachten: Mangelhafte wissenschaftliche Beweise können gleichzeitig mit einem überzeugenden ärztlichen Verhalten, mit Einfühlungskraft und Optimismus verbunden sein. Sie geben dem Patienten das Gefühl, gut aufgehoben zu sein, und tragen zu seiner Zufriedenheit bei. Die Schulmedizin sollte an diesem Phänomen nicht länger achtlos vorübergehen.

5.4 Pflanzenmedizin fl oder zurück zur Natur Natur steht zu Recht in einem hohen Ansehen. Sie muss vor bedenklichen Eingriff ffen des Menschen geschützt werden. Viele Menschen bevorzugen das „Natürliche“ im Gegensatz zu Kunstprodukten und zur Chemie. Oft sieht man in der Natur, wie Karl Jaspers ’ 24 sagt, „die vollendete Ordnung und Schönheit“. Man fühlt Verwandtschaft mit der Natur, vertraut ihr und fühlt sich von ihr umgeben und geschützt. Bereits Jean Jacques Rousseau (1712 – 1778) rief dazu auf, zur Natur zurückzukehren. Es gibt aber auch eine andere Seite der Natur: Ein Wanderer in den Alpen, der gestürzt ist, sich ein Bein gebrochen hat, einsam und ohne Handy liegen bleibt, erlebt die Natur als etwas Bedrohliches. In der Natur gibt es nicht nur Heilpflanzen, fl sondern auch tödliche Gifte. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Bakterien und Viren, die Menschen bedrohen, gehören ebenfalls zur Natur. Trotzdem erfreuen sich Naturheilkunde und Pflanzenmedizin fl bei der Bevölkerung hoher Beliebtheit. Eine „sanfte Medizin“ ohne Nebenwirkungen wird gewünscht. Natur und Heil sind in der Natur-Heil-Kunde eine Ehe eingegangen. Pflanzenmedizin fl ist in Europa, besonders in Deutschland und Frankreich, ein blühendes Geschäft ’ 25. Da Pfl flanzenmedizin (Phytotherapie) wie Anthroposophie und Homöopathie zu den „besonderen Therapierichtungen“ hierzulande zählt, sind besondere Beweise für die Wirksamkeit nicht erforderlich. Zu Ginkgo bei Demenz, Sägepalmfrüchten bei der gutartigen Vorsteher-

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Alternative Medizin

drüsenvergrößerung, Johanniskraut bei Depression, gibt es gemischte Resultate ’ 26. In einem kritischen Werk über Alternativmedizin ’ 22 wird die Wirkung von einigen pfl flanzlichen Mitteln als gut bezeichnet, darunter Ginkgo biloba bei Demenz und Beindurchblutungsstörungen sowie Johanniskraut bei leichter bis mittelschwerer Depression. Als Nebenwirkungen von Johanniskraut sind u. a. Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel und Müdigkeit möglich. Ginkgo kann zu Blutungen führen oder die Wirkung blutverdünnender Mittel verstärken. Pfl flanzliche Mittel sind also nicht nebenwirkungsfrei. Von 23 Studien über Phytotherapeutika kamen elf zu einem positiven Schluss, neun fl überzeugten nicht und drei fielen negativ aus ’ 27. Studien über Pflanzenmedizin, die vom Hersteller dieser Mittel bezahlt werden, sind genauso wie entsprechende Forschungen der Schulmedizin kritisch zu betrachten. Nicht alle Prüfungen von Ginkgo fallen positiv aus. In einem bekannten Lehrbuch der Arzneimittellehre ’ 12 wird bezweifelt, dass Ginkgo Hirnleistungsstörungen bessert. Ginkgo biloba wird oft eingenommen, um die kognitiven Funktionen im Alter zu erhalten. Eine Studie ’ 28 untersuchte, ob das sinnvoll ist. Sie verglich Ginkgo biloba doppelblind mit Placebo und kam zu dem Ergebnis, dass zweimal täglich 120 mg des Pfl flanzenextraktes Placebo nicht überlegen war. Die zeitliche Abnahme der kognitiven Funktionen war unter Placebo und Ginkgo gleich. Johanniskraut wird häufi fig bei leichten bis mittelschweren Depressionen genommen. Eine Untersuchung in 21 deutschen psychiatrischen Praxen ergab ein positives Ergebnis ’ 29. Allerdings wurden Patienten mit einer sogenannten bipolaren Störung, die sowohl depressive als auch manische Episoden umfasst, ausgeschlossen. „Bioprodukte“ sind Verkaufsrenner, in der „Roten Liste 2009“ werden ca. 40 Präparate aus Johanniskraut (Hypericum perforatum) angeboten. Johanniskraut kann in Zusammenhang mit anderen Medikamenten gefährliche Interaktionen verursachen. Beispielsweise kann die Blutkonzentration von Cyclosporin sinken, sodass Nieren- oder andere Transplantate abgestoßen werden ’ 12. Ärzte sollten deshalb im Rahmen der Medikamenten-Anamnese immer fragen, ob auch freiverkäufl fliche Phytotherapeutika eingenommen werden. Patienten mit Beschwerden durch einen Reizdarm (Irritables Darmsyndrom) suchen gerne alternative Th Therapeuten auf. Pfeff fferminzöl, teilweise in Kombination mit Kümmel, scheint einige Symptome zu bessern ’ 30.

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Phytotherapeutika aus Sägepalmfrüchten und Brenneseln werden von vielen Firmen bei der gutartigen Vorsteherdrüsenvergrößerung angeboten. Ein wissenschaftlich fundierter Wirksamkeitsnachweis fi findet sich nicht ’ 12. Eine methodisch gute Studie über Sägepalmfrüchte ’ 31 fand keine Überlegenheit über Placebo. Diese Untersuchung wurde von nationalen Instituten der USA und nicht vom Hersteller finanziert, was die Objektivität der Ergebnisse erhöht. Pfl flanzliche Präparate werden oft gegen Mittel der Schulmedizin ausgespielt, da Phytotherapeutika natürlich und ungiftig seien. Das ist falsch. Als Mittel gegen Angst wurde die Kava-Kava Wurzel aus Polynesien empfohlen. Die Extrakte sind jedoch lebertoxisch und wurden vom Markt genommen ’ 12. Die Natur sollte nicht ideologisiert werden. Sie hat zwei Seiten: eine beglückende und kraftspendende, aber auch eine den Menschen bedrohende Seite. Da die technischen Eingriffe ff der Menschen in die Natur immer größer werden, gilt es, die Natur zu schützen und mit ihr schonend umzugehen. Ein Beispiel für die bedrohte Natur ist die verheerende Ölpest im Golf von Mexiko, verursacht durch die Tiefenbohrungen der British Petrol. Sie verursachte den Tod von unzähligen Fischen und Seevögeln. Auch der Mensch gehört zur Natur; die Eingriffe ff in menschliche Natur – sei es durch diagnostische oder therapeutische Interventionen – nehmen zu. Bei jeder Therapie sollte darauf geachtet werden, dass der Nutzen größer ist als der Schaden durch Nebenwirkungen. Diese Überlegungen schließen die Pflanzenmedizin fl ein.

5.5 Chinesische Akupunktur Bei der Akupunktur werden Metallnadeln in die Haut an spezifischen fi Orten eingeführt. Die traditionelle chinesische Medizin ’ 32 sieht Gesundheit als Harmonie zwischen Körper und Natur. Sie glaubt, dass eine innere Disharmonie eine Blockade der vitalen Energie Qui (sprich Tschi) verursache. Diese fließe in zwölf primären und acht sekundären Meridianen. Der Akupunkteur nimmt an, dass sich eine Blockade von Qui als Empfi findlichkeit bei der tastenden Untersuchung (Palpation) manifestiert. Durch Einführung der Nadeln an spezifi fischen Punkten entlang der Meridiane soll der Fluss von Qui wiederhergestellt werden. Die zwölf

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5.

Alternative Medizin

Hauptmeridiane sollen mit zwölf Hauptfunktionen und Organen korrespondieren, wobei die speziellen Akupunkturpunkte auf den Meridianen liegen ’ 33. Die Akupunktur entwickelte sich vor 2000 Jahren in China und steht mit einer Naturphilosophie in engem Zusammenhang. Dabei spielt die Balance der Polaritäten Yin (z. B. Nacht, Statik) und Yang (z. B. Tag, Dynamik) eine Rolle. Das Ziel der Behandlung ist eine neue Harmonie von Yin, Yang und der verbindenden Lebensenergie Qui ’ 7. Nach der klassischen Theorie soll es etwa 365 genau defi finierte Akupunkturstellen geben. Durch die Prozedur werden im Zentralnervensystem körpereigene schmerzlindernde Opioide freigesetzt ’ 32. Diese Therapie, nicht nur silberne oder goldene Nadeln, beeindruckt stark. Schon bei der Diagnostik kommt es zu einer intensiven Interaktion zwischen dem Patienten und seinem Therapeuten, die es dem Patienten ermöglicht, seine Symptome im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin und Naturphilosophie neu zu deuten. Wie Homöopathie und Anthroposophie umfasst die Akupunktur eine zeitintensive Patient-Arzt-Begegnung. Viele Akupunkteure arbeiten nicht nur mit Nadeln, sondern beziehen die Person, ihre Verhaltensweisen, Träume, familiären und sozialen Beziehungen in die Behandlung ein ’ 34. Nebenwirkungen der Methode sind selten: Es kann zu Schwindel, Blutungen, Luftansammlung in der Brustfellhöhle (Pneumothorax) und zu Übertragung von Infektionen bei nicht sterilen Nadeln kommen. Da sich objektiv weder Meridiane noch die in ihnen kreisende Lebensenergie Qui nachweisen lassen, die Ausdruck naturphilosophischer Spekulationen sind, muss gefragt werden, ob die zweifellos vorhandenen Erfolge der Akupunktur nicht durch die positiven Kontexteffekte ff zu erklären sind. Wir müssen uns deshalb Studien zuwenden, die traditionelle chinesische Akupunktur (TCA) mit Scheinakupunktur vergleichen. Die Scheinakupunktur nadelt nur oberfl flächlich und an Nicht-Akupunkturpunkten. Für eine solche Scheinakupunktur, die sich nicht an die Lehren der TCA hält, ist eine lange Spezialausbildung nicht nötig. 2006 erschien eine Arbeit ’ 35 , die TCA mit Scheinakupunktur bei Patienten mit chronischen Schmerzen durch eine Kniearthrose verglich. Es gab keinen Unterschied zwischen TCA und Scheinakupunktur. Beide waren aber erfolgreicher als eine konservative Therapie, die aus physikalischen Maßnahmen und Schmerzmedikamenten bestand. Auch bei

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Chinesische Akupunktur

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Patienten mit Spannungskopfschmerzen ’ 36 und Migräne ’ 37 bestand keine Differenz ff zwischen TCA und Scheinakupunktur. Die Patienten beider Gruppen fühlten sich aber deutlich besser als solche, die auf der Warteliste für Akupunktur standen. Zu gleichen Ergebnissen kam man bei Kranken mit Fibromyalgie, einem chronischen Schmerzsyndrom der Muskulatur ’ 38. Allerdings gibt es widersprüchliche Befunde. Bei Patienten mit KnieArthrose fanden amerikanische Autoren ’ 39 nach acht Wochen durch TCA eine größere Funktionsverbesserung im Vergleich zur Scheinakupunktur. Nach 26 Wochen erfuhr die Gruppe mit TCA Vorteile bezüglich Funktion und Schmerz gegenüber der Gruppe mit Scheinakupunktur. Auch deutsche Untersucher ’ 40 berichteten nach acht Wochen über eine Besserung von Schmerzen und Funktion bei Patienten mit Kniearthrose durch „wahre“ Akupunktur im Vergleich zu einer Scheinprozedur. Nach 26 und 52 Wochen war die Diff fferenz zwischen TCA und Scheinakupunktur statistisch nicht mehr signifi fikant. Während eine Meta-Analyse ’ 41 , die 33 RCTs über TCA und Scheinakupunktur zusammenfasste, zu dem Schluss kam, dass für die Kurzzeiterleichterung von chronischen Schmerzen der Lendenwirbelsäule die TCA der Scheinakupunktur überlegen ist, urteilt eine Übersicht aus dem Jahr 2010 ’ 32 , die reale Akupunktur sei bei chronischen Kreuzschmerzen nicht wirksamer als die Scheinakupunktur. Beide sind indessen einer konventionellen TheTh rapie mit physikalischen Maßnahmen und Medikamenten überlegen. 638 Nordamerikaner mit chronischen Schmerzen der Lendenwirbelsäule wurden mit realer oder Scheinakupunktur behandelt ’ 42. Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht, waren aber besser als die bei Kranken mit einer gewöhnlichen Betreuung. Die Autoren schlossen daraus, dass Nadelungsort und Hautpenetration nach der Theorie Th der TCA off ffenbar für einen Erfolg unwichtig sind. Ob TCA wirklich einer Scheinakupunktur überlegen ist, muss bezweifelt werden. Manche Studien meinen zwar, eine Überlegenheit der realen Akupunktur zu zeigen. Dem ist entgegen zu halten, dass Patienten teilweise erraten, was „echte“ Akupunktur ist, denn die Akupunkteure können ja bei solchen vergleichenden Untersuchungen nicht „verblindet“ werden. Diese Tatsache könnte erklären, warum manchmal TCA wirksamer als Scheinakupunktur ist. Beide Prozeduren sind mit starken Placeboeff ffekten verbunden. Die traditionellen Einstichpunkte, die man

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Alternative Medizin

in Kursen mühsam erlernen muss, sind off ffenbar nicht wichtig. Es ist ’ 43 gleichgültig, wohin gestochen wird . Trotzdem wage ich die Prognose: Ein Akupunkteur, der an die Naturphilosophie der TCA und ihre angeblich spezifi fischen Nadelungspunkte glaubt, wird bessere Erfolge erzielen als ein Scheinakupunkteur. Dieser nadelt mit einem gewissen Zweifel, er glaubt nicht an Yin, Yang, Qui und Meridiane. Jener aber baut fest darauf, dass die neue Harmonie von Yin und Yang nur dadurch zu erreichen ist, dass die Nadeln an genau vorgeschriebenen Punkten einzustechen sind. Der gemeinsame Glaube des Akupunkteurs und seines Patienten wirkt als Superplacebo ’ 44. Das gilt nicht nur für die TCA. Die Annahme, in der modernen Heilkunde spiele nur Wissen, nicht jedoch der Glaube eine Rolle, ist korrekturbedürftig. Zum Schluss dieses Abschnitts soll nicht verschwiegen werden, dass 2010 der Leiter des „Deutschen Instituts für Traditionelle Chinesische Medizin“ in Berlin schwere Vorwürfe gegen den Begründer der Akupunktur in Europa, den Franzosen George Soulié de Morant (1878 – 1955), erhoben hat ’ 45, 46. Er sei ein Scharlatan gewesen und habe bis heute gültige Lerninhalte der Akupunkturkurse frei erfunden. Ob diese Anklagen richtig sind, müssen die Meister der großen Akupunkturgesellschaften unter sich ausmachen. Falls man zur „Urlehre“ der Chinesen zurückkehren will, ist allerdings zu fragen, ob sie ein Erkenntnisgewinn wäre. Das jahrtausendalte Akupunktursystem hing von Anfang an mit naturphilosophischen Spekulationen zusammen, die mit überprüfbarem Wissen nichts zu tun haben.

5.6 Können Schul- und Alternativmedizin voneinander lernen? Die Schulmedizin sollte genau beobachten, was Kranke bei der alternativen Medizin suchen: Patienten mit funktionellen Störungen und psychosomatischen Problemen, die sich weder im Labor noch durch bildgebende Verfahren objektivieren lassen, werden von vorwiegend technisch denkenden Ärzten enttäuscht. Die Schulmedizin ist mit Recht stolz auf die Fortschritte ihrer naturwissenschaftlichen Forschungen, aber wenn der Patient selbst nicht mehr in ihrem Fokus ist, hat sie sich ihrer eigentlichen Aufgabe entfremdet. Die Popularität und die Erfolge der KAM geben den besten Anschauungsunterricht, dass Psyche und Soma in enger Verbindung stehen. KAM

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Können Schul- und Alternativmedizin voneinander lernen?

5. 6

liefert ein Beispiel für angewandte, wenn auch nicht direkte Psychosomatik. Die Schulmedizin ist in Gefahr zu vergessen, dass eine gute PatientArzt-Interaktion eine äußerst wirksame therapeutische Intervention ist. Weiter könnte sie lernen: Praxis- und Krankenhausräume freundlicher gestalten, Kontextfaktoren stärker als bisher berücksichtigen, mit dem Kranken ehrlich, off ffen und ohne Arroganz kommunizieren. Nicht die Methoden der KAM soll die Schulmedizin übernehmen, nicht Homöopathie, Anthroposophie, Akupunktur oder Bachblüten-, Kristall-, Magnet- und Neuraltherapie. Aber sie könnte lernen, dass nicht nur Instrumente und Pillen, sondern auch positive Kontextfaktoren heilen, während negative destruieren. Ein Wort der Vorsicht ist allerdings geboten: Vertrauen, Glaube, Hoffff nung können zwar das Gehirn stimulieren und günstige psychologische Effekte ff auslösen, aber organische Prozesse werden durch positive Gefühle nicht beseitigt. Was mag die alternative Medizin von der Schulmedizin lernen? Das deutsche Gesetz regelt, dass die „Besonderen Therapierichtungen“, zu denen Homöopathie, Phytotherapie und Anthroposophie zählen, die Wirksamkeit ihrer Mittel nicht nach den anerkannten Maßstäben der Evidenz-basierten Medizin belegen müssen ’ 47. Gehen die Erfolge der KAM über mächtige Placeboeff ffekte hinaus? Um diese Frage zu entscheiden, muss die alternative Medizin bereit sein, sich RCTs zu unterziehen, die in Doppelblindstudien z. B. homöopathische Mittel mit Placebos vergleichen. Die große Mehrzahl dieser RCTs zeigt, dass alternative Methoden nicht über machtvolle Placebowirkungen hinausgehen. KAM war vielfach für diese RCTs bereit. Wird sie sich ebenfalls ihre Erkenntnisse zu eigen machen? Wird die alternative Medizin dadurch nicht überfordert? Man darf nicht vergessen, dass es sich bei der KAM um ein sehr komplexes nichtreligiöses Glaubenssystem handelt, dass in unserem säkularisierten Zeitalter eine Riesenrolle spielt. Ihre Vertreter werden trotz aller Evidenz-basierten Medizin und trotz aller RCTs weiter fest davon überzeugt sein, dass ihre Methoden weit über die Wirkung von Placebos hinausgehen, um in einmaliger und spezififi scher Weise zu agieren. Diesen unerschütterlichen Glauben teilen die Therapeuten mit ihren Patienten. Wahrscheinlich ist er sogar erforderlich, damit ihre Behandlung die Eigenschaft des erwähnten „Superplacebos“ ’ 44 erhält.

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5.

Alternative Medizin

5.7 Ganzheitlichkeit: Ideologie oder Aufgabe? Alternative Medizin beansprucht für sich, ganzheitlich zu sein. Es soll deshalb untersucht werden, ob dieser Anspruch gerechtfertigt ist. Sind die beiden Prinzipien der Homöopathie, die Ähnlichkeitsregel und die fortlaufende Stoff ffverdünnung, ganzheitlich? Oder der Glaube, dass Naturprodukte stets heilsam sind und keine Nebenwirkungen haben? Oder die Postulierung der traditionellen chinesischen Akupunktur, dass Yin, Yang, Qui und Meridiane existieren? Tourismus-Marketing behauptet, „Wellness“ bedeute ganzheitliches Denken. Ganzheitlichkeit wird hier als Werbemittel benutzt, das wirtschaftliche Interessen fördert. Das Wort Ganzheitlichkeit wird so oft in den Mund genommen, dass es abgegriffen und verbraucht wirkt. Es ist vielfach zum Schlagwort geworden. Trotzdem muss gefragt werden, steckt nicht doch etwas Wahres hinter dem missbrauchten Begriff? ff Wenn nicht die Pillen der Homöopathie oder Anthroposophie, nicht die Nadeln der Akupunkteure, nicht die Wirkung der Pfl flanzenextrakte als solche ganzheitlich sind, was könnte dann mit diesem Namen gemeint sein? Möglicherweise die Tatsache, dass viele Patienten bei alternativen Praktikern, bei Ärzten und Nichtärzten, eine vertrauensvolle Beziehung zum Therapeuten, eine befriedigende Krankheitserklärung und eine entspannte Sprechstundenatmosphäre schätzen, die nicht von Hetze und Hightech dominiert wird ’ 48. Wenn der Therapeut seinen Kranken umfassend betreut und ein Mittel als Zeichen dieser Betreuung verordnet, fühlt sich der Kranke oft besser. Natürlich kann ein Schulmediziner genauso handeln. Jedoch wird an den Universitäten und später in den Krankenhäusern nicht gelehrt, dass Patient-zentrierte Medizin so wichtig wie die naturwissenschaftlich-technische ist. Ganzheitlichkeit würde demnach bedeuten, dass es nicht auf die Werkzeuge des Therapeuten, Th nicht auf alternative Pillen oder Säfte, ankommt, sondern auf die Einbeziehung des Patienten als Person. Aber ist für dieses Vorgehen Ganzheitlichkeit nicht ein zu großes Wort? Kann ein noch so guter Arzt den Menschen als „Ganzes“ erfassen? Sehen wir nicht immer nur gewisse Aspekte? Der Arzt und Philosoph Karl Jaspers ’ 49 meint, der Begriff ff dieses Ganzen sei „nur ein Zeiger, der verwehrt, irgendein Objekt selber schon für ein Ganzes zu halten, d. h. zu verabsolutieren. So kann kein Mensch als Ganzes objektiviert und damit durchschaut werden. Ihn als Ganzes zu objektivieren, lässt ihn gerade verfehlen.“

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Literatur

5. 7

Jeder Mensch ist so komplex, dass er nicht als Ganzes erfasst werden kann. Ganzheitlichkeit „haben“ wir nicht. Einem bescheidenen Arzt wird bewusst sein, dass Ganzheitlichkeit kein Besitzanspruch sein darf. Sie ist eine täglich neu gestellte Aufgabe, an der er scheitern kann. Möglicherweise eine Sisyphusaufgabe. Worin besteht sie? Den „Machtgraben“ zwischen dem Arzt und seinem Patienten zu überbrücken; sich verständlich, off ffen und ermutigend auszudrücken; psychische und soziale Aspekte des Patienten einzubeziehen. Unter welchem Stress steht er? Wie geht er mit seiner chronischen Krankheit um? Welche Präferenzen hat er? Was ist ihm wichtig? Auf diese Weise kann sich der Arzt der Idee der Ganzheitlichkeit annähern. Auch wenn er scheitert, weiß er, dass die Aufgabe neu gestellt wird. Es ist eine Tragik der erfolgreichen Schulmedizin, nicht zu erkennen, dass vielen Patienten die Fokussierung auf Naturwissenschaft und Technik nicht genügt. Besonders chronisch Kranke suchen einen empathischen Arzt. Deshalb haben sie häufi fig eine ambivalente Haltung zur Schulmedizin und fühlen sich von der alternativen Medizin angezogen. Ihre Popularität würde rasch nachlassen, wenn sich die Schulmedizin darauf besänne, was die Aufgabe eines Arztes ausmacht: Das Machbare mit dem Menschlichen, die kognitive mit emotionaler Intelligenz, die Analyse der Krankheit mit dem Verständnis des Kranken zu verbinden.

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6.

Einheit von Leib und Seele

6.1 Vom Körper zur Seele und zurück: Moderne Psychosomatik Ein Arzt um die fünfzig bemerkt eine Gleichgewichtsstörung. Er sorgt sich und befürchtet einen Kleinhirnbrückenwinkel-Tumor, weshalb er einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt aufsucht. Ein Tumor wird ausgeschlossen. Der Arzt als Patient ist erleichtert, der Schwindel lässt nach. Körperliche Beschwerden führen zu seelischen Reaktionen. Diese bleiben nicht ohne körperliche Folgen und schließlich: Die Art der Diagnosen und wie sie vermittelt werden beeinflussen fl Zustand und Befi finden. Der Internist Richard Siebeck (1883 – 1965) war einer der Begründer der modernen Psychosomatik in Deutschland. Sein Opus magnum, die „Medizin in Bewegung“ ’ 1 , mahnte, dass Ärzte die Einheit von Leib und Seele berücksichtigen. Sie sollten nicht nur Krankheiten diagnostizieren, sondern sich auch dem Kranken persönlich zuwenden. In seiner Heidelberger Abschiedsvorlesung ’ 2 sagte er: „Wir müssen den Kranken in seiner Geschichte und in seiner Situation und wir müssen die verschiedenen Symptome je in ihrer Bedeutung und ihrem Zusammenhang verstehen.“ Die körperliche Krankheit verändert das Befinfi den, führt z. B. zu Schmerzen, Atemnot oder Mattigkeit. Gleichzeitig wird dieses Befi finden von meiner Lebenssituation und meinem Denken mitbestimmt. Zu dieser Lebenssituation gehören oft Angst und Depression. Bereits Siebecks klinischer Lehrer, Ludolf von Krehl (1861 – 1937), hatte erkannt: „Die pathologischen Symptome äußern sich am kranken Menschen als Individuum und durch die Art seiner Persönlichkeit außerordentlich verschieden ’ 3 “.

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Vom Körper zur Seele und zurück: Moderne Psychosomatik

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Die moderne Psychosomatik beschreibt zwei Wege, einen vom Körper zur Seele, den somatopsychischen und einen von der Seele zum Körper, den psychosomatischen. Kranke mit einer Schilddrüsenüberfunktion können erregt, nervös und hektisch werden. Die Alzheimerkrankheit wird durch Gehirnveränderungen charakterisiert, die zur Störung der Orientierung, der Identität, des Gedächtnisses und der Erinnerung führen. Bei Jean Paul heißt es zwar, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Leider trifft ff dieser Trost auf viele Alzheimer-Patienten nicht zu. Ein weiteres Beispiel für den somatopsychischen Weg: In einer Studie ’ 4 entwickelten 20,6 % der Patienten nach einem Schlaganfall eine Depression, die den funktionellen Zustand verschlechterte. Auch nach Herzinfarkten kommt es häufi fig zu ernsten Depressionen. Wie sieht der Weg von der Seele zum Körper, der psychosomatische, aus? Psychischer Stress ’ 5 , z. B. ein Todesfall in der Familie, kann zu Depression und körperlichen Beschwerden führen. Die individuelle Fähigkeit, solche Belastungen auszuhalten, variiert stark. Am Tag des Erdbebens in Los Angelos 1994 ’ 6 verfünff ffachten sich plötzliche Herztodesfälle. Das Erleben eines Erdbebens ist verbunden mit Todesangst und Panik, die von einer Steigerung der Herzfrequenz begleitet werden. Es ist daher plausibel, dass besonders ältere Menschen mit einer vorbestehenden Herzkrankheit von einem plötzlichen Herztod bedroht sind. Nun ist kritisch zu sagen, dass wir uns bei den Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele auf den dualistischen Weg des René Descartes (1596 – 1650) begeben haben. Descartes nahm eine denkende (Res cogitans) und eine ausgedehnte Substanz (Res extensa), Geist und Materie an ’ 7. Merkwürdigerweise verband Descartes Körper und Seele über die Zirbeldrüse ’ 8. Dieser dualistische Weg hat eine gewisse Künstlichkeit, wenn z. B. die Herztodesfälle am Tag des Erdbebens als körperliche Folgen von psychischem Stress, von Angst und Panik beschrieben werden. In Wirklichkeit sind ja bereits Angst und Panik untrennbar mit unserer Gehirnfunktion vereint. Seelisches und Körperliches sind schon zu Beginn zusammen. Auch in der täglichen Praxis herrscht der Dualismus vor. Das hängt mit der zunehmenden Spezialisierung zusammen. Auf der einen Seite haben wir somatische Spezialisten, die wichtige Techniken beherrschen müssen und viele Patientensorgen nicht kennen. Auf der anderen Seite gibt es zunehmend Psychoexperten, die weniger von körperlichen

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Einheit von Leib und Seele

Zusammenhängen verstehen. Diese Entwicklung scheint unaufhaltbar zu sein. Umso wichtiger wird, dass der Arzt für Allgemeinmedizin, der Hausarzt, sowohl somatische als auch psychosoziale Aspekte und ihre gegenseitige Verfl flechtung genügend berücksichtigt.

6.2 Du sollst nicht spekulieren! Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert, Ist wie ein Tier auf dürrer Heide Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, Und rings umher liegt schöne grüne Weide. J. W. v. Goethe

Eine kritische Psychosomatik ist für eine menschlich verstehende Medizin wichtig, denn der Arzt sollte sich sehr gründlich um die Organkrankheit (im Angloamerikanischen „Disease“) kümmern. Gleichzeitig aber auch um das Missbefi finden und Leiden („Illness“) des Kranken. Illness wird auch durch Sorgen, Gedanken und die persönliche Situation mitbestimmt. Viktor von Weizsäcker (1886 – 1957) ist ein anderer Begründer der psychosomatischen Medizin in Deutschland. Er war Internist, Neurologe, Philosoph und Menschenkenner. Wenn wir den Patienten in seiner Krankheit verstehen wollen, brauchen Ärzte mehr als Naturwissenschaft. Viktor von Weizsäcker wollte eine Körper und Seele umgreifende Medizin, die sich nicht auf Apparate und Technik beschränkt. Wichtig waren ihm die Anamnese, die ärztliche Begegnung mit dem Kranken und seiner persönlichen Geschichte, die sozialen Konsequenzen der Krankheit und der Umgang des Patienten mit seiner Krankheit. Worte des Arztes können heilsam, aber auch schädlich wirken. Das Achten auf die eigenen Worte gehört deshalb zu einer klugen Psychosomatik. Viktor von Weizsäcker wollte die Innere Medizin „mit dem Anblick des Menschen von innen her“ verbinden. Beide Fragen sind zu stellen: Was hat diese Person für eine Krankheit? Aber auch: Welche Person hat diese Krankheit? Krankheiten werden von verschiedenen Personen ganz verschieden erlebt und verarbeitet. So weit so gut. Die Psychosomatik V. v. Weizsäckers zeigt gleichzeitig die Gefahr der Spekulation. Sie wird in einer kürzlich erschienenen Anthologie ’ 9 von Weizsäcker-Texten deutlich. Da wird behauptet,

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Du sollst nicht spekulieren!

6. 2

eine Lungentuberkulose sei bei einem Patienten „die Folge einer missglückten Verlobung“. Der Heidelberger Meister und seine internistischen Schüler glaubten, dass der Mensch seine „Krankheit sowohl bekomme wie mache“. Zu der Bürde der Krankheit kommt nun ein Schuldgefühl. Eine Herzkrankheit sei nur „eine Übersetzung und materielle Darstellung eines Versagens in der Liebe, einer Angst durch Schuld …“ Solche spekulativen Verknüpfungen stießen sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten auf Widerspruch. „Wenn ich“, sagte von Weizsäcker, „einem bestimmten Menschen vorschlage, seine Angina oder sein Magengeschwür mit einem höchst eigenen Versagen oder einem Konfl flikt in Zusammenhang zu bringen, dann widerspricht er energisch.“ Weizsäcker nahm an, dass „die Organkrankheit ein Stellvertreter eines ungelösten Konfl fliktes“ sei. In seiner „Pathosophie“ behauptet er, dass „jede Krankheit unbewusste Schuld“ enthalte und „dass jemand, statt glücklich ein Kind zu bekommen, eine Lungentuberkulose oder einen Krebs bekommt“ ’ 10. Derartige unbeweisbare Vermutungen lehnte Karl Jaspers ab, der solche fantastischen Deutungen der Krankheiten für riskant hielt. Mit der Annahme, viele schwere körperliche Krankheiten seien von Patienten seelisch selbst gemacht, beginne „ein Feld der Deutung, das zu beschreiten für unser Erkennen gefährlich ist“ ’ 11. Auch Susan Sontag, die selbst an Brustkrebs erkrankt war, lehnte psychosomatische Spekulationen ab ’ 12. „Solche albernen und gefährlichen Ansichten bringen es zuwege, dass die Last der Krankheit dem Patienten aufgebürdet wird, und sind nicht nur der Fähigkeit des Patienten abträglich, die Wichtigkeit einer plausiblen medizinischen Behandlung einzusehen, sondern lenken den Patienten implizit von einer solchen Behandlung weg.“ Die Schuldzuweisungen spekulativer Psychosomatik erinnern an ähnliche Ansichten der romantischen Medizin des 19. Jahrhunderts und an früher verbreitete religiöse Meinungen, Krankheit sei Folge der Sünde. Dagegen wehrte sich bereits der viel geprüfte Hiob. Der war, wie es im Buch Hiob des Alten Testamentes heißt, „fromm und rechtschaff ffen, gottesfürchtig und mied das Böse“. Dann wurde er schwer krank, mit „bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel“ geschlagen. Drei Freunde wollen ihm einreden, sein Unglück könne nur durch Sünde und Verfehlungen verursacht sein. Aber Hiob protestiert. „Ich bin unschuldig“, erwidert er und: „Ihr seid Lügentüncher und seid alle unnütze Ärzte. Wollte Gott, dass ihr geschwiegen hättet, so wäret ihr weise geblieben.“

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Einheit von Leib und Seele

In Amerika lehrte der Psychoanalytiker Franz Alexander (1891 – 1964) sieben „psychosomatische Krankheiten“. Jede von ihnen habe unterschiedliche und spezifische fi neurotische Ursachen. Zu ihnen zählte er Hochdruck, Asthma bronchiale, Magen- bzw. Zwölffi ffingerdarmgeschwüre, Colitis ulcerosa, die Crohn-Krankheit, Schilddrüsenüberfunktion und rheumatoide Arthritis. Seine Thesen wurden von Thure von Uexküll ’ 13 und Alexander Mitscherlich ’ 14 begeistert aufgenommen und popularisiert. Die chronische Gelenkentzündung, die rheumatoide Arthritis, wurde so zu einem „Körpersymbol“, das einen Konfl flikt zwischen Aggression und Hemmung ausdrückte, wobei der Schmerz als Bestrafung erlebt wurde ’ 15. Ein noch in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Studenten viel gelesenes psychosomatisches Lehrbuch ’ 16 behauptet, Mütter von Asthmakranken seien „besitzergreifend, ja verführerisch und ablehnend“. Patienten mit Geschwürkrankheiten des Magens, bzw. Zwölffi ffingerdarms hätten als Ursache den infantilen Wunsch, gefüttert zu werden. Heute ist erwiesen, dass Geschwüre zwei Ursachen haben: Die Einnahme von Antirheumatika und (oder) eine Infektion mit dem Bakterium Helicobacter Pylori. Die Deutungen der sogenannten „sieben psychosomatischen Krankheiten“ sind falsch. Richtig ist jedoch, dass der Geschwürsschmerz durch Stress verschlimmert werden kann. Die eben geschilderten Deutungen sind heute zu einem großen Teil ad Acta gelegt. Aber eben nur zum Teil. In dem jüngsten Buch der Schweizer Psychoanalytikerin und Bestsellerautorin Alice Miller ’ 17 spielen Spekulationen eine Hauptrolle. Krankheiten, so ihre These, seien die Folge von Misshandlungen der Kinder durch ihre Eltern. So sei Dostojewskis Epilepsie durch seinen brutalen Vater verursacht worden. Der frühe Tod Anton Tschechows und Franz Kafkas durch Tuberkulose wird in Beziehung zu ihren strengen Vätern gesetzt. Friedrich Nietzsche sei geisteskrank geworden, weil er verdrängte, dass er als Kind ausgebeutet worden sei. Das Asthma Marcel Prousts sei deshalb entstanden, weil er früh an der Mutterliebe erstickt sei. Die Autorin vermutet in jeder Krankheit eine frühe Misshandlung in der Kindheit. Selbst Krebs, zum Beispiel ein Bauchspeicheldrüsenkarzinom, sei eine solche Körpermanifestation. Nun muss gesagt werden, dass es in der Kindheit sexuellen, tätlichen oder verbalen Abusus gibt. Es kommt aber darauf an, mit diesem Th Thema verantwortlich umzugehen. Sigmund Freud erkannte, dass es zwar

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Stress und soziale Ungleichheiten

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realen Missbrauch in der Kindheit gibt, der jedoch oft schwer von den Fantasien der Patienten zu trennen ist. Spekulative Psychosomatik vertritt Deutungen, die einem Glauben, nicht der Wissenschaft zu verdanken sind. Sie lassen sich ethisch nicht rechtfertigen, denn Ethik tritt für Wahrhaftigkeit ein und wendet sich gegen fantastische, unbeweisbare Krankheitsinterpretationen.

6.3 Stress und soziale Ungleichheiten Stress geschieht, wenn eine Person wahrnimmt, dass Umweltanforderungen die eigene Anpassungskraft überschreiten ’ 18. Emotionaler Stress wird nicht nur gefühlt. Gleichzeitig treten nervliche und hormonelle Veränderungen auf (Abb. 1). Nichts Psychisches geschieht ohne Körperliches. Die Abbildung zeigt, mit welchen körperlichen Veränderungen Stress verbunden ist ’ 19. Psychophysischer Stress Gleichzeitige Aktivierung der Gehirnrinde weitere Aktivierung von:

Hypothalamus des Gehirns CRH

Hirnanhangsdrüse

Sympathikusnerv

ACTH

Nebennierenrinde

Nebennierenmark

Cortisol

Adrenalin

z. B. Depression Osteoporose Blutzuckererhöhung

Beschleunigung der Herzfrequenz, Arrhythmie, Blutdrucksteigerung, Blutzuckererhöhung

Abb. 1 ’ 19 Besonders chronischer Stress wird von Gehirnfunktionsveränderungen begleitet. Sie führen zu Störungen peripherer Organsysteme. Die Hormone Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH), Adrenocorticotropes Hormon (ACTH), Cortisol und Adrenalin sind Signalsysteme, die den Weg vom Gehirn in die Peripherie steuern.

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Einheit von Leib und Seele

Manchmal wird ein unschädlicher und anregender Stress (Eustress) von einem schädlichen Stress (Distress) unterschieden. Für den Eustress mag die kurzzeitige Erhöhung von Cortisol und Adrenalin die Leistungsfähigkeit erhöhen, das gilt aber nicht für den mit Leidensdruck verbundenen chronischen Distress. Gleiche Umweltbelastungen werden von Personen verschieden empfunden. Möglicherweise hängt die unterschiedliche Empfänglichkeit für Stress (Distress) auch von Kindheitserfahrungen ab ’ 20. Kinder, die im achten Lebensmonat warmherzig von ihrer Mutter umsorgt wurden, profitierten fi noch dreißig Jahre später davon. Besonders ausgeprägt ist die Verletzlichkeit vernachlässigter Kinder wie bei jenen aus den rumänischen Waisenhäusern des Ceausescu-Regimes. Auch nachdem sie ein Jahrzehnt von harmonischen Familien in den USA adoptiert worden waren, blieben sie für Ängste und überschießende Stressreaktionen mit Panikattacken anfällig. Erhöht Stress durch chronische Berufsanspannung das Risiko von Herzkranken? Um diese Frage zu beantworten, wurden 972 Frauen und Männer im Alter von 35 bis 59 Jahren, die einen Herzinfarkt überstanden hatten von 1996 bis 2005 beobachtet ’ 21. Als Stress und Anspannung (Job-Strain) wurde die Kombination von hoher Anforderung und geringer Entscheidungsbreite definiert. fi Job-Strain erhöhte die Wiederkehr von Herzattacken. Soziale Ungleichheiten bedeuten für Benachteiligte oft Stress. Die britische Whitehall-Studie zeigt: Je niedriger Individuen in der sozialen Rangstufe stehen, umso wahrscheinlicher wird es, dass ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung nicht befriedigt wird ’ 22. Mangelhafte Integration kann nicht nur zu Stress, sondern auch zu Störungen des Stoffwechff sels, hormonellen Gleichgewichts und zu erhöhter Sterblichkeit führen. Arme Schwarze haben in den USA eine mittlere Lebenserwartung von 57 Jahren, begüterte Weiße von 76,7 Jahren. Ein prekärer Sozial- und ein niedriger Bildungsstatus sind mit gesundheitlichen Ungleichheiten verbunden. Sozial Benachteiligte werden von den Bemühungen zur Gesundheitsbildung schlecht erreicht. Es wird daher empfohlen ’ 23 , das Schulfach „Gesundheitskunde“ einzuführen. Bereits in der Schule sollte die Urteilskraft für Körper, Gesundheitsverhalten und die spätere Mitentscheidung bei Diagnostik und Th Therapie geschärft werden.

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Ein „Kreuz“ der Medizin: Beschwerden ohne Befunde

6. 4

Soziale Ungleichheiten nehmen zu. Ungesundes Verhalten, Rauchen, falsche Ernährung, Alkoholexzess, mag ein „Coping-Mechanismus“ sein, mit dem Stress der empfundenen sozialen Ungerechtigkeit umzugehen ’ 24. Leider ist dieser Versuch des Zurechtkommens ein falscher Weg. Arbeitsplatzverlust kann Depression, Angst, Drogenabusus, körperliche Krankheiten und Suizid bewirken ’ 25. Menschen, die ihren Beruf unverschuldet verloren haben, zweifeln an Gerechtigkeit und sind frustriert. Einige greifen zu Alkohol, andere werden aggressiv. Sie hadern mit der Welt. Diese Zusammenhänge bereiten bei der hohen Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union Sorgen. Wenn sich die soziale Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öff ffnet, wenn sich der Arme verloren und verlassen fühlt und seinen Lebenskampf für aussichtslos hält, dann fällt es ihm schwer, die Freiheit der Demokratie richtig einzuschätzen.

6.4 Ein „Kreuz“ der Medizin: Beschwerden ohne Befunde Es gibt in der Medizin eine „Krankheitsskala“. An einem Ende dieser Skala stehen Personen mit Befunden ohne Beschwerden, am anderen Ende Patienten mit Beschwerden ohne Befunde. Wie kommt es, dass viele sich gesund fühlende Personen plötzlich zu Patienten mit Befunden werden? Das ist zum Teil dadurch zu erklären, dass die Medizin frühere Normgrenzen, z. B. für Blutzucker, Cholesterin und Blutdruck, herabgesetzt hat. Dadurch erhält ein Individuum mit einem Blutdruck von 140 / 90 mm Hg und mehr die Diagnose Bluthochdruck und wird behandlungsbedürftig. Das Ziel der Behandlung ist es, Komplikationen der Hypertonie zu vermeiden und das Leben zu verlängern. Ein anderer Grund für die zunehmende Zahl von Personen mit Befunden ohne Beschwerden ist die hohe Frequenz bildgebender Verfahren. Kritisch eingesetzte bildgebende Verfahren sind sinnvoll und können etwa Karzinome entdecken, unkritisch angewendete bildgebende Methoden führen oft zu Pseudobefunden, die weitere Kontrollen und Interventionen benötigen. Durch Vorsorge- und Screeninguntersuchungen wollen wir Krankheiten ausschließen und das Leben verlängern. Wir vertrauen der Medizin und begeben uns mehr als noch vor fünfzig Jah-

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Einheit von Leib und Seele

ren in ihre Hände. Man nennt diesen Vorgang Medikalisierung. Diese Medikalisierung darf nicht einseitig gesehen werden. Sie kann das Leben verlängern und macht uns gleichzeitig abhängig von der Medizin. Manchmal wird die Macht der Medizin überschätzt, wenn sich gesunde Personen, einer optimistischen Werbung von privaten radiologischen Instituten folgend, einer Ganzkörper-Computertomographie unterziehen, um ein Karzinom auszuschließen. Neben einigen bösartigen Tumoren werden dabei Pseudobefunde entdeckt, die invasive Eingriffe ff nach sich ziehen. Außerdem ist die hohe Strahlenbelastung einer GanzkörperComputertomographie, die selbst zu einem Karzinom beitragen kann, zu bedenken. Unser Thema sind indessen die Patienten am anderen Ende der erwähnten Skala, die Patienten mit Beschwerden ohne Befunde oder mit funktionellen Störungen. Sie können sich in jedem Organsystem ereignen. Die Kranken klagen über Schmerzen im Rücken, Bauch, in der Brust oder in anderen Regionen. Andere haben einen unregelmäßigen Herzschlag, Schwindel oder die Symptome eines Reizdarmes mit Schmerzen, Verstopfung und / oder Durchfall und dem Gefühl eines Aufgeblähtseins. Ferner gibt es einen atypischen Gesichtsschmerz (temperomandibuläre Gelenkstörung), ein chronisches Erschöpfungssyndrom, Spannungskopfschmerzen und viele andere Beschwerden ’ 26. Funktionelle Störungen werden von manchen Psychosomatikern als „somatoforme“ Störungen bezeichnet. Damit unterstellen sie, dass sie Ausdruck psychischer Probleme seien. Das ist jedoch eine einseitige Sicht und beleidigt viele Patienten, die sich nicht als „Neurotiker“ stigmatisieren lassen wollen. Genauso war früher die Bezeichnung „psychogen“ diskriminierend. Funktionelle Störungen haben biologische und psychosoziale Ursachen. Auch Ärzte können dazu beitragen, wenn harmlose Befunde aufgebauscht werden, wenn sie nicht erklären, entängstigen und gut behandeln. Die Th Therapie umfasst körperliche und kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden. Letztere tragen dazu bei, dass der Kranke seine Symptome besser versteht und in die Lage versetzt wird, sie zu kontrollieren. Funktionelle Störungen sind sehr häufi fig. Es wird angenommen, dass 20 bis 30 % der hausärztlichen Patienten an funktionellen Störungen leiden ’ 27. Trotzdem wird ihre Diagnostik und Th Therapie an den Universitäten, z. B. in der Inneren Medizin, ungenügend trainiert, weil die ver-

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Umgang mit chronischer Krankheit

6. 5

schiedenen Experten ihr Augenmerk in erster Linie auf Organe und ihre Struktur konzentrieren. Was sind die Ursachen der funktionellen Störungen? Unsere genetischen Faktoren bestimmen mit, ob wir Beschwerden ohne organische Befunde bekommen. Belastende Ereignisse, Todesfälle von Verwandten und Freunden, können zum ersten Auftreten der Symptome führen ’ 28. Ein harmloses Herzstolpern wird zum Anlass für Selbstbeobachtung und Sorge. Auch biologische Ursachen sind nicht zu vernachlässigen: Überstandene bakterielle Darminfektionen können zu dem bereits genannten Reizdarm (Irritables Darm-Syndrom) beitragen. Wer trotz Ausschluss einer organischen Krankheit weiter unter seinen Beschwerden leidet, weil ihm nicht geholfen wird, wird oft depressiv. Depression und Angst verstärken die Beschwerden. Bei jedem Patienten mit einer funktionellen Störung sollte eine organische Ursache sorgfältig ausgeschlossen werden. Nach Ausschluss einer organischen Krankheit braucht der Arzt Zeit, dem Patienten die Zusammenhänge zu erklären. Er benötigt Information und Versicherung ’ 29. Bereits solche Zuwendung bringt körperliche und psychische Erleichterung. Was ist noch erforderlich? Beratung über den Lebensstil, Wissen über die Wirkungsweise sinnvoller Medikamente und über die enge Verflechtung gestörter körperlicher Funktionen mit Depression und Angst. Ärztliches Eingehen auf Bedenken des Kranken kostet Zeit, die heute in Klinik und Praxis selten gewährleistet ist.

6.5 Umgang mit chronischer Krankheit Das Hauptthema der modernen Medizin sind chronische Krankheiten wie chronische Herz-, Lungen-, Nierenkrankheiten, Karzinome, Diabetes mellitus und Gelenkkrankheiten. Patienten mit chronischen Krankheiten benötigen Ärzte, um ein Gefühl besserer Kontrolle zu bekommen. Sie wollen nicht abhängig sein, sie wollen sich selbst helfen. Chronisch Kranke sind mit ihren Symptomen, z. B. mit Schmerzen, Erschöpfung oder Atemnot, konfrontiert. Gleichzeitig wissen sie um ihre Krankheit. Symptome und Wissen zwingen zu einem Umgang, der ihren Zustand positiv oder negativ beeinflussen fl kann. Der Heidelberger Internist Herbert Plügge (1906 – 1972) hat herausgearbeitet, wie chronische Krankheiten durch ihre körperlichen Sympto-

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Einheit von Leib und Seele

me unser Leben verändern ’ 30, 31. Symptome, Schwäche, Schwindel, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Atemnot und Herzschmerzen belasten. Nichts ist mehr wie früher. Herzkranke verlieren oft ihre Unbefangenheit, weil sie von Rhythmusstörungen oder Schmerzen überfallen werden. Atemnot und Schmerz verwandeln die Alltagswelt zu einem unbesteigbaren Berg. Ein anderes Beispiel: Die Lähmung eines Beines macht es zum passiven Objekt, das sich der Kontrolle entzieht. Nun ist ergänzend zu sagen, dass verschiedene Individuen die gleiche Krankheit ganz verschieden verarbeiten. Sie reagieren mit Depression, Angst und Mutlosigkeit oder mit Optimismus und Widerstandskraft. Es kommt hinzu, dass die moderne Therapie wie die Chemotherapie bei Karzinomen verkraftet werden muss. Beim Umgang mit Krankheit und Therapie braucht der Patient einen verständnisvollen Arzt. Kranke haben nicht nur Symptome, sie wissen gleichzeitig um ihre Krankheit. Noch vor fünfzig Jahren wurde die Wahrheit oft verschwiegen, um den Patienten nicht zu belasten. Der Ernst der Krankheit wurde bagatellisiert. Heute ist das anders. Die meisten Karzinompatienten bevorzugen Wahrheit und Aufklärung. Das tägliche Wissen um die Krankheit und die Erfahrung der Symptome zwingen zu einem Umgang mit ihr. Der Umgang mit Krankheit wird angloamerikanisch als Coping bezeichnet. Cope wird mit zurechtkommen übersetzt. Coping bestimmt neben der Schwere der Grundkrankheit, wie sich der Patient fühlt. Durch die Hilfe der Familie und seines Hausarztes wird er gestärkt. Er fühlt bessere Kontrolle, er bekommt Zuversicht, Mut, gibt sich nicht auf und hält sich an die Therapie. Herzkranke sind dann mehr an Eigeninitiative interessiert, an Diät, körperlicher Bewegung und Aufgeben des Rauchens. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr – vor allem wenn Zuspruch, Beratung und Hilfe fehlen –, dass der Kranke seine Krankheit verleugnet, sich Illusionen macht oder in Zorn und Hass gerät. Warum gerade ich? Die Unterstützung durch die Familie und ärztliche Einfühlung helfen dem Patienten sehr, mit dem Einbruch schwerer und chronischer Krankheit umzugehen. Zur ärztlichen Hilfe gehört, dass der Arzt gut zuhört, dass er nicht autoritär ist und die Perspektive des Patienten versteht. Religiöser Glaube kann Coping unterstützen. Für den christlichen Glauben war und ist die irdische Existenz ein Durchgangsstadium, das

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Die Angst vor dem Psychiater

6. 6

eigentliche Leben besteht in der zukünftigen postmortalen Existenz. So tröstete Paulus die Philipper: „Unser Bürgerrecht ist im Himmel.“ Er hoff ffte auf die baldige Wiederkunft Christi, „der unseren nichtigen Leib verwandeln wird“ (Philipper 3, 20 – 21). Auch heute mag der Glaube an ein besseres Jenseits, der ebenfalls im Islam eine große Rolle spielt, die Kraft geben, schwere Krankheiten besser zu ertragen. Allerdings ist dieser Glaube in unserem säkularisierten und pluralistischen Zeitalter seltener geworden. Warum das so ist, versucht der Arzt und Theologe Albert Schweitzer ’ 32 zu erklären: Die Kirchen fügten Jesus „einem Gebäude von Dogmen“ ein. Damit machten sie „seine einfache, lebendige Menschlichkeit“ denen unzugänglich, die „nicht in diesem Bau drinstanden“. Trotzdem sind religiöse Vorstellungen heute nicht verbraucht. Dazu kann gehören, dass ein Kranker Widerstand leistet und gleichzeitig Gottes Willen respektiert. Dazu gehören Dankbarkeit für alles Gute, das man empfangen durfte, und der Wille, davon an andere etwas zurückzugeben.

6.6 Die Angst vor dem Psychiater In den vergangenen Jahrhunderten hatten Geisteskranke durch schlechte Behandlung viel zu leiden. Man glaubte, Geisteskranke seien von Dämonen besessen. Sie wurden oft wie Verbrecher behandelt. Philipp Pinel, ein französischer Psychiater (1745 – 1826), setzte sich als einer der ersten dafür ein, Geisteskranke von Ketten zu befreien. Trotz der Reform der Psychiatrie löst der Gedanke, ein psychiatrischer Patient zu werden, noch heute häufi fig Angst aus, Angst vor einer geschlossenen Abteilung und einer gesellschaftlichen Stigmatisierung. Das Gehirn ist unser wertvollstes Organ: Die psychiatrische Diagnose einer „Persönlichkeitsstörung“, einer Psychopathie und Unzurechnungsfähigkeit kränkt mehr als die Diagnose einer chronischen Bronchitis. „Die psychiatrische Betrachtung von Menschen“, meint Elias Canetti ’ 33 , „hat etwas Verletzendes …“. Psychiater bedeutet wörtlich übersetzt Seelenarzt. Da sich Psyche und Soma nicht trennen lassen, gehören trotz aller Ängste Psychiatrie und Körpermedizin zusammen, um einen unglücklichen Dualismus zu vermeiden. Patienten mit Herzinfarkt und depressiven Symptomen haben ein erhöhtes Risiko, dass der Infarkt wiederkehrt ’ 34. Wenn sowohl

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6.

Einheit von Leib und Seele

Herzkrankheit als auch Depression behandelt werden, profitieren fi Patienten davon. Das Wort Psychiatrie stammt übrigens aus Halle ’ 35. 1808 schrieb der Hallenser Arzt Johann Christian Reil (1759 – 1813) einen Artikel mit dem Titel: „Über den Begriff ff der Medizin und ihre Verzweigungen besonders in Beziehung auf die Berücksichtigung der Topik der Psychiaterie.“ Hier taucht zuerst das Wort Psychiaterie auf, das später zur Psychiatrie wurde. Wie Pinel in Frankreich trat Reil in Deutschland für eine humane Behandlung der Geisteskranken ein. Wilhelm Griesinger (1817 – 1886) vertrat die These, Geisteskrankheiten seien nicht Ausdruck von dämonischen Kräften, Sünde oder schuldhaftem Versagen, sondern von Gehirnkrankheiten. Wie kann die Psychiatrie heute dem Nichtpsychiater helfen? Viele behandlungsbedürftige Depressive kommen wegen körperlicher Symptome – Appetitlosigkeit, Schlafstörung, Müdigkeit, Schmerzen – zu ihrem Hausarzt. Psychiatrische Kenntnisse tragen dazu bei, dass er auch an eine Depression denkt und nach Niedergeschlagenheit und Verlust von Interesse und Freude fragt. Herzinfarkt, Schlaganfall und andere chronische körperliche Krankheiten lösen oft behandlungsbedürftige Depressionen aus. Patienten mit einer Depression leiden unter verstärkten Herzschmerzen, nehmen ihre Medikamente nicht regelmäßig ein, rauchen weiter und haben eine längere Arbeitsunfähigkeit. Umgekehrt ist die Depression neben Cholesterinerhöhung, Bluthochdruck, Diabetes und Rauchen ein weiterer Risikofaktor für einen Herzinfarkt. Wegen Atemnot, Schwindel, Herzbeschwerden und anderen somatischen Symptomen kommen Patienten zu Kardiologen und anderen Spezialisten. Nach Ausschluss einer organischen Krankheit vergehen bis zur richtigen Diagnose „Panische Attacke“ im Schnitt acht bis 13 Jahre ’ 36. Eine 48-jährige Frau mit chronischer Bronchitis und einem überstandenen Herzinfarkt kam wegen Panikattacken, die nicht erkannt wurden, wiederholt als Notfall in die Klinik. Dort wurden die Symptome als Folge der Herz- und Lungenkrankheit fehlinterpretiert. Eine Herz- und Lungentransplantation waren vorgesehen. Nach Information über die panischen Attacken und Diskussion mit der Patientin über die Ursachen ihrer quälenden, jedoch behandelbaren Anfälle distanzierte sie sich von der Transplantation.

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Literatur

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Psychiatrisches Wissen lässt erkennen, ob ein Patient entscheidungsfähig ist. Oft wird vom Internisten und Chirurgen eine Entscheidungsunfähigkeit übersehen, aber 40 % der Kranken, die akut in eine internistische Abteilung aufgenommen wurden, waren durch ihre Krankheit entscheidungsunfähig ’ 37. Psychiatrisches Wissen verhindert, dass Ärzte Interventionen vornehmen, die der Kranke vielleicht gar nicht gewünscht hätte. Hier ist es notwendig, dass Angehörige die Werte und Ansichten des Kranken vertreten. Entscheidungsunfähigkeit hat häufi fig zwei Ursachen: die Alzheimer-Krankheit und Delire (Verwirrungen). Delire entstehen u. a. durch hohes Fieber, Austrocknung, medikamentöse Nebenwirkungen und Entzug von Substanzen oder Alkohol. Viele Delire lassen sich, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, gut behandeln. Dadurch lässt sich die Sterblichkeit senken. Fassen wir kurz zusammen: Somatische Krankheiten führen zu psychischen Leiden. Umgekehrt: Depression, Angst oder Panik verkomplizieren den Verlauf körperlicher Krankheit. Ein psychophysischer Dualismus ist unangebracht und schadet dem Patienten. Deshalb ist es für eine rationale Psychosomatik wichtig, dass Körpermedizin und Psychiatrie Hand in Hand gehen. Literatur ’1 ’2 ’3

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Siebeck R. Medizin in Bewegung. Thieme, Stuttgart 1949 Siebeck R. Basedowsche Krankheit. Dtsch Med Wochenschr 1953; 78: 508 – 510 Bauer AW. Rückkehr der Seele in die naturwissenschaftliche Medizin? Erste Schritte der Psychosomatik am Beginn des 20. Jahrhunderts. Dtsch Med Wochenschr 2000; 125: 236 – 237 Andersen G, Vestergaard K, Lauritzen L. Effective treatment of poststroke depression with the selective serotonin reuptake inhibitor citalopram. Stroke 1994; 25: 1099 – 1104 Wilkinson G. Stress: another chimera. BMJ 1991; 302: 191 – 192 Leor J, Poole WK, Kloner RA. Sudden cardiac death triggered by an earth quake. N Engl J Med 1996; 334: 413 – 419 Der Große Brockhaus in 20 Bänden. Artikel: Descartes. Brockhaus, Leipzig 1928 Jaspers K. Descartes und die Philosophie. De Gruyter, Berlin 1948: 50 – 90 Weizsäcker V. v. Warum wird man krank? Hrsg. von W. Rimpau. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008 Weizsäcker V. v. Pathosophie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1956: 231

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Einheit von Leib und Seele ’ 11 ’ 12 ’ 13 ’ 14 ’ 15 ’ 16 ’ 17 ’ 18 ’ 19 ’ 20 ’ 21 ’ 22 ’ 23

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Für und wider die Medikalisierung

7.1 Das Problem 1975 hatte Ivan Illich das Buch „Limits to medicine. Medical Nemesis: the expropriation of health“ veröffentlicht. ff Seine These, es gäbe zu viel Medizin, die die Menschen abhängig mache, wurde viel diskutiert. Auch würde die Gesundheit durch medizinische Nebenwirkungen bedroht ’ 1. Die Industrie habe ein Interesse daran, soziale Scheu zu einer psychiatrischen Krankheit zu erklären, um Phobien medikamentös zu behandeln. Auch für den gewöhnlichen Haarausfall wurde ein entsprechendes Pharmakon entwickelt ’ 2. 2002 widmete das British Medical Journal dem Thema „Medikalisierung“ ein ganzes Heft ’ 3. Nicht nur Krankheiten, auch Schwangerschaft mit vorgeburtlichen Tests, Sexualität und Vorsorge sind Themen Th der Medizin. Viele Menschen wünschen diese Ausweitung medizinischer Grenzen. Ivan Illich bedachte nicht, dass wir der Medizin viel zu verdanken haben. So hilft es Menschen, wenn klinische Depressionen, Übergewicht, Drogen- und Alkoholabhängigkeit nicht mehr als moralische Schwäche, sondern als Krankheiten mit biologischer Basis und psychosozialen Faktoren betrachtet werden. Es gibt eine vernünftige Vorsorge, die gesunde Ernährung, körperliche Bewegung und Nichtrauchen einschließt. Medikalisierung hilft, aber eine kritische Sicht mit Abwägung von Vor- und Nachteilen ist notwendig. In einem Bestseller ’ 4 wird die Medizintechnik als „Standort- und Exportfaktor“ betont. Der Autor, Arzt und Unternehmer, fordert mehr Marketing und bessere Werbekampagnen für die „Gesundheitswirtschaft“. Sie sei ein „Wachstumsfaktor Nr. 1“ und deshalb wird auf „Medizintechnik-Entwicklungen, Export, Fitness,

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Routine Check-up?

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Wellness, Gesundheitstourismus“ gesetzt. Die Gesundheitswirtschaft sei eine Boombranche. Hightech mit Computer- (CT) und Magnetischer Resonanztomografi fie soll mit Akupunktur, Anthroposophie, Homöopathie, Ayurveda und anderen alternativen Verfahren harmonisch verbunden werden. Risiken und Nebenwirkungen von Hightech wie die Strahlenbelastung durch ein CT sucht der Leser in diesem Buch vergeblich. Immer stärkere Medikalisierung bedeutet für den Autor eine neue, heile Welt. Eine Balancierung von Nutzen und Risiken der Medikalisierung fehlt. Vielleicht ist das völlig unkritische Buch gerade deshalb zu einem Bestseller geworden, denn viele Leser wünschen eine eindeutige und positive Botschaft und wollen nicht durch Skepsis verunsichert werden. Um gerecht zu sein: Es gibt neben der Medikalisierung auch eine Ent-Medikalisierung. So machte die Medikalisierung der Homosexualität Menschen mit dieser sexuellen Orientierung zu Kranken, die sich jahrelang ohne Erfolg einer Psychoanalyse oder einer anderen Form der Psychotherapie unterzogen. Heute gilt Homosexualität als eine normale Variante geschlechtlichen Verhaltens. Solche Ent-Medikalisierung wirkt befreiend.

7.2 Routine Check-up? Im Kapitel 3 dieses Buches wurden Erfolge und Fortschritte der modernen Diagnostik gewürdigt. Diagnostik, bildgebende Verfahren und Labortests, geschieht zunehmend an Gesunden, um beispielsweise Karzinome, Blutfetterhöhung (Hypercholesterinämie) oder arteriellen Hochdruck frühzeitig zu entdecken. Mit solchen Check-ups können manifeste Krankheiten und Todesfälle verringert werden. Mit der Medikalisierung Gesunder sind zur gleichen Zeit Nachteile verbunden, die mit den Vorteilen zu bilanzieren sind. Die Vorsorge-Untersuchung auf Brustkrebs, das regelmäßige „Screening“ durch Mammografie, fi wird kontrovers beurteilt. Der Nutzen: Durch das Screening wird ein Leben pro 2000 Frauen in zehn Untersuchungsjahren gerettet. Der größte Nutzen besteht wohl bei Frauen zwischen fünfzig und siebzig Jahren. Dem steht gegenüber, dass bei einem zehnjährigen Screening 200 von 2000 Frauen einen falsch-positiven Befund erhalten. Sie werden verängstigt und benötigen weitere Abklärung ’ 5, 6, 7. Es wird vermutet, dass bei zehn von 2000 Frauen nichtinvasive Tumoren

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Für und wider die Medikalisierung

diagnostiziert werden, die ohne Mammografi fie-Screening niemals auff ffällig geworden wären. Überdiagnostik und Übertherapie sind ein Problem der Vorsorgeuntersuchungen. Merkblätter erwähnen nur die positive Seite des Screenings. Wichtig wäre, mit Frauen über Vor- und Nachteile des Mammografi fie-Screenings zu sprechen, damit sich die Frauen frei entscheiden können. Eine mündliche individuelle Beratung findet fi heute selten statt. Ganzkörper-Computertomogramme (CTs) von Gesunden sind in der Lage, frühzeitig Karzinome zu entdecken. Es gibt allerdings falsch-normale und falsch-krankhafte Befunde. Letztere führen zu Nachfolgeprozeduren, die mit Komplikationen verbunden sein können. Einige Ärzte als Unternehmer denken, durch solche Hightech-Vorsorgeuntersuchungen werde ein neuer Markt geschaff ffen, der nicht nur gut für die Kunden, sondern ebenso für die Anbieter, für Ärzte, Kliniken und Wirtschaft, ist ’ 8. Das Gesundheitssystem ist nach ihrer Sicht Teil eines Marktes, sodass Verbraucher wählen dürfen, was sie wünschen. Sollten Ärzte sich nicht verpflichtet fl fühlen, die Licht- und Schattenseiten solcher Checkups offen ff zu legen? Es erscheint logisch, dass die Frühdiagnostik eines Lungenkarzinoms durch das Screening Gesunder günstig ist. Möglichen Gewinnen stehen Risiken gegenüber: Zwischen 13 und 50 % der Teilnehmer an LungenCT-Screeningprogrammen hatten krankhafte Resultate, von denen 88 bis 97 % falsch-positiv waren. Die Konsequenz falsch-krankhafter CT-Resultate sind weitere Prozeduren, z. B. Punktionen mit möglichen Komplikationen ’ 9. Der Routine Check-up des USA-Präsidenten Obama schloss ein Elektronenstrahl-CT ein, um Kalzium-Ablagerungen in den Herzkranzgefäßen zu entdecken ’ 10. Diese Vorsorgeuntersuchung setzte Herrn Obama unnötig einer starken Strahlendosis aus. Ein einziges ElektronenstrahlCT verursacht bei Männern ein lebenszeitliches Karzinomrisiko von 9 zusätzlichen Karzinomen pro 100 000 Personen. Es ist nicht so, dass die Medizin umso besser ist, je häufi figer teure Untersuchungen erfolgen. Der vernünftige Weg der Vorsorge, das Herzinfarktrisiko zu senken, wäre vielmehr, mit dem Rauchen aufzuhören. Diabetes, Bluthochdruck und Hypercholesterinämie sind Risikofaktoren für einen Herzinfarkt. Es ist daher rational, diese Risikofaktoren zu bekämpfen. In den letzten Jahren sind deshalb die oberen Normgren-

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Arzneimittel nach Maß

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zen dieser Werte ständig erniedrigt worden. Blutdruck- und Cholesterinsenkende Medikamente sind wirkungsvoll bei der Behandlung von Kranken mit Hochdruck und Hypercholesterinämie. Heute werden sie auch bei Gesunden mit Erhöhung dieser Werte eingesetzt. Die Normgrenzen sind 2003 für den Blutdruck auf 140 / 90 mm Hg und für Cholesterin auf 200 mg /dl erniedrigt worden. Falls in Norwegen diese Normgrenzen angewendet würden, wären 90 % der Bevölkerung, einer der gesündesten Bevölkerung Europas, im Alter von 49 Jahren sogenannte Risikoträger und behandlungsbedürftig ’ 11. Vorteil der Behandlung ist eine Senkung der Risikofaktoren, Nachteil sind mögliche Nebenwirkungen der Arzneimittel. Immer mehr gesunde Personen müssen zur Kontrolle die ärztliche Praxis aufsuchen, sodass Allgemeinärzte weniger Zeit haben, sich Kranken intensiv zuzuwenden.

7.3 Arzneimittel nach Maß Arzneimittel spielen heute für alle Fächer der Medizin eine große Rolle. Es besteht kein Zweifel, dass wir den Fortschritten der Pharmakologie viel zu verdanken haben. Diese Ausweitung der Behandlungsmöglichkeiten ist eine Form der Medikalisierung, die zu begrüßen ist. Allerdings können die Erfolge der modernen Pharmakotherapie zu einem Fortschrittsglauben führen, der Arzneimittelnebenwirkungen bagatellisiert und eine grenzenlose Machbarkeit intendiert. In den USA ist die direkte Firmenreklame (direct-to-consumer-advertisement) von rezeptpflichtigen Medikamenten im Fernsehen und in anderen Medien weit verbreitet ’ 12. Diese unmittelbar an den Kunden gerichtete Werbung der Pharmaindustrie könnte auch in Deutschland eingeführt werden. Viele Personen gehen aufgrund der Reklame zu Ärzten und wünschen diese angegebenen Mittel, z. B. Antihypertensiva oder Antidepressiva, deren mögliche Nebenwirkungen jedoch nicht immer objektiv dargestellt werden. Wenigstens 40 % der Sprechstundenbesuche führen dazu, dass gewünschte Medikamente, für die in den Medien geworben wurde, rezeptiert werden. Oft fühlen sich Ärzte durch Forderungen unter Druck gesetzt oder wollen ihre Patienten nicht enttäuschen. Besser als einem Druck nachzugeben, wäre ein Gespräch darüber, ob das neue angepriesene Arzneimittel Vorteile gegenüber einem schon bewährten hat. Ist es überhaupt angezeigt und sind die Nebenwirkungen bedacht?

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Für und wider die Medikalisierung

Eine andere Form der Medikalisierung sind die von vielen Kliniken, insbesondere Kliniken privater Träger, angebotenen „Gesundheitsgespräche“, die in Vorträgen Schilddrüsen-, Gelenk-, Herzkrankheiten und andere medizinische Themen darstellen. Die Unternehmer begründen diese Vorträge mit einer von den Zuhörern gewünschten Information, verschweigen indessen, dass diese Fortbildungen auch finanzielle fi Motive haben. Viele unsicher gewordene oder verängstigte Zuhörer werden jetzt die Ambulanzen des entsprechenden privaten Klinikums aufsuchen. Sildenafil (Viagra) und Nachfolgepräparate helfen Männern, die durch Herzkrankheiten, Hochdruck oder Diabetes mellitus unter einer erektilen Dysfunktion, früher Impotenz genannt, leiden. Vor wenigen Jahren prozessierte die amerikanische „AIDS Health Care Foundation“, eine Non-Profi fit-Organisation, gegen die Firma Pfi fizer, weil sie Sildenafi fil vermarktet, um die sexuelle Leistung gesunder junger Männer zu erhöhen ’ 13. Amerikanische Fernsehwerbungen unterlassen es, Risiken dieser Mittel zu nennen. Die Nachfrage von Gesunden und der Firmengewinn steigen. Eine Untersuchung ’ 14 zeigte, dass Benutzer von Sildenafil fi und Nachfolgemitteln, die bei mittelalten und alten Männern sehr populär sind, eine höhere Rate sexuell übertragener Krankheiten, z. B. HIV-Infektionen, als Nichtbenutzer hatten. Dieses Exzessrisiko bestand sowohl vor als auch nach Anwendung dieser Pharmaka. Wenn sie von Ärzten verordnet werden, wären mehr Beratungen über sichere Sexualpraktiken, Gegenanzeigen und mögliche Nebenwirkungen, z. B. Herzarrhythmien, nötig ’ 15. Neuerdings wurde eine „hypoaktive Sexualwunsch-Störung“ bei Frauen als Diagnose aufgestellt ’ 16. Es handelt sich um Frauen mit reduziertem oder fehlendem Interesse an sexueller Aktivität. Verminderte Libido ist nach der Menopause häufi fig. Postmenopausale Frauen mit niedriger Libido erhielten deshalb Testosteron-Pflaster. Die sexuelle Aktivität nahm zu, parallel traten Nebenwirkungen auf, vor allem unerwünschter Haarwuchs. Es muss auch mit dem Auftreten von Mammakarzinomen gerechnet werden. Seit 1990 wird menschliches Wachstumshormon als „Anti-Aging“ Therapie propagiert. Der Nutzen ist gering: Die Fettmasse nimmt ab, das Cholesterin wird wenig und statistisch nicht signifikant fi reduziert. An Nebenwirkungen muss mit Ödemen, Gelenkschmerzen, Brustvergrößerung (Gynäkomastie) und Diabetes mellitus gerechnet werden ’ 17.

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Das Jahrhundert des Gehirns?

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Um die Risikofaktoren für die koronare Herzkrankheit zu verringern, wird eine tägliche „Polypille“ ab dem 55. Lebensjahr vorgeschlagen ’ 18. Die Autoren wollen mit dieser Strategie mehr als 80 % kardiovaskulärer Krankheiten beseitigen. Die Polypille enthält einen Cholesterinsenker (Statin), ein Diuretikum, einen Betarezeptorenblocker und Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmer zur Blutdrucksenkung, ferner Acetylsalicylsäure (Aspirin®) und Folsäure. Diese Kombination von sechs Medikamenten kann kardiovaskuläre Ereignisse vermindern, sie hat gleichzeitig Nebenwirkungen und schafft ff ein Heer von Pillenschluckern, die regelmäßig wegen eventuell auftretender unerwünschter Arzneimittelwirkungen die ärztliche Sprechstunde aufsuchen müssen.

7.4 Das Jahrhundert des Gehirns? Es könnte sein, dass in der Medizin das 21. Jahrhundert das „Jahrhundert des Gehirns“ wird. Neurowissenschaftler zeigen die Bedeutung des Gehirns für Bewusstsein, Denken und Fühlen. Bereits im vergangenen Jahrhundert wurde der Tod durch den Tod des Gehirns defi finiert, das als körperliches Fundament von Persönlichkeit und Individualität angesehen wird. Depression und Schizophrenie haben eine biologische Grundlage und sind nicht mehr psychogene Störungen, die durch eigenes Versagen oder Schuld von Familienangehörigen verursacht werden. Bildgebende Verfahren zeigen bei schizophrenen Patienten eine Verringerung des Gehirnvolumens und der grauen Substanz, Störungen der zerebralen Durchblutung und der neuralen Aktivität ’ 19. Die Schrecken einer Psychose, insbesondere einer Schizophrenie, wurden durch das 1952 eingeführte Mittel Chlorpromazin verringert, Aggressivität und Wahn besserten sich ’ 20. Die Schizophrenie wurde als Krankheit des Gehirns mit einem Überschuss der Neuroüberträger-Substanz Dopamin erkannt. Früher wurden Dämonen für diese Geisteskrankheit verantwortlich gemacht. Noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts suchten Psychoanalytiker nach psychogenen Ursachen. Die „schizophrenogene Mutter“ wurde beschuldigt, aber langsam begann sich die Th These Wilhelm Griesingers (1817 – 1886) durchzusetzen: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten. Durch diese Medikalisierung wurde eine Entwicklung eingeleitet, die Geisteskranke nicht mehr stigmatisiert und an den Rand der Gesellschaft drängt. Doch bleibt hier noch viel zu tun.

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Auch andere Leiden wie Drogen- und Alkoholabhängigkeit gelten nicht mehr als Willensschwäche, sondern als Krankheiten. Die Menschen werden im 21. Jahrhundert älter, dadurch nimmt die Zahl der Kranken mit Demenz zu, für die es bisher keine Heilung gibt. Eine Aufgabe der Medizin wird es sein, verschiedene Formen der Demenz genauer als bisher zu differenzieren ff und neue Medikamente zu entwickeln, die wirksam in den kranken Gehirnstoff ffwechsel eingreifen. Neben diesen positiven Seiten der Medikalisierung gibt es auch Probleme. Während 1917 die Liste der „American Psychiatric Association“ 59 psychiatrische Krankheiten enthielt, erhöhte sich die Zahl im Jahr 2008 auf 347 ’ 21. Es gibt schwere Phobien und Panikattacken, die einer psychiatrischen Behandlung bedürfen. Heute sind jedoch auch Scheu und Lampenfi fieber zu einer psychiatrischen Störung geworden, die oft medikamentös behandelt wird. Diese Medikalisierung wird von der pharmazeutischen Industrie und den Psychiatern gefördert, die beide ihre Grenzen ausweiten. Der Betroff ffene muss selbst entscheiden, ob er seine Scheu als normale Charaktervariante oder als Behinderung seines Lebens betrachtet, sodass er psychiatrische Hilfe benötigt. Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen umfasst Impulsivität, Überaktivität und die verringerte Fähigkeit, aufmerksam zu sein ’ 22. Diese Verhaltensauff ffälligkeit existiert schon lang, wie der „Zappelphilipp“ im „Struwwelpeter“ des Psychiaters Heinrich Hoff ffmann (1809 – 1894) zeigt. Auff ffällig ist, dass in den letzten Jahren die Diagnose ADHS und die Rezepte für Psychostimulantien wie Methylphenidat enorm steigen. Es ist anzunehmen, dass nicht nur die „Kernstörung“ ADHS, sondern auch weniger auff ffällige Kinder mit Psychostimulantien behandelt werden. ADHS sollte zunächst mit Verhaltenstherapie behandelt werden. Nur wenn Kinder auf diese bewährte Methode nicht ansprechen, sind Stimulantien wie Methylphenidat angezeigt ’ 22. 2002 erhielten in den USA 2,5 Millionen Kinder Antipsychotika, 2,2 Millionen Psychostimulantien (z. B. Methylphenidat) und 1,4 Millionen Antidepressiva ’ 23. Antipsychotika wurden wegen der Diagnose „bipolare Störung“ mit einem Wechsel zwischen Depression und Manie verordnet. Die Diagnose erhöhte sich zwischen 1995 und 2003 um den Faktor 40. Viele Kinder erhielten Antipsychotika, weil sie explosiv, zornig und irritabel waren. Heute sprechen Kinderpsychiater anstatt von

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Warum wir mehr ärztliche Beratung brauchen

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einer „bipolaren“ von einer Stimmungsstörung (Temper dysregulation disorder with dysphonia). Ob diese Diagnosen immer richtig sind, bleibt fraglich ’ 24. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist an die Nebenwirkungen von Antipsychotika, Stimulantien und Antidepressiva zu denken. So können z. B. Antidepressiva in dieser Altersgruppe das Risiko eines Suizids erhöhen. Modafi finil ist zwar für Patienten mit Narkolepsie, das sind zwanghafte Schlafanfälle am Tag, nützlich, aber es wird auch von Gesunden genommen, um als „Neuroenhancer“ die geistige Leistung zu steigern ’ 25. Geschwindigkeit des Denkens, Gedächtnis und Konzentration sollen gefördert werden. Bei einer Befragung von 1500 Personen hatte eine von fünf einen „Neuroenhancer“ genommen ’ 26. Die am häufi figsten verwendeten Medikamente waren Methylphenidat und Modafinil. fi Beide sind über das Internet zu beziehen. Der Gebrauch dieser Mittel ist mit dem Doping verwandt. Nebenwirkungen werden nicht ausbleiben, wenn Modafinil fi Gesunden erlaubt, bis zu 36 Stunden wach zu bleiben. Heute gibt es neben Medikamenten zur Steigerung sportlicher Leistungen (Doping) und Operationen für körperliche Attraktivität (Schönheitschirurgie) das Versprechen, durch Psychostimulantien Stimmung, Verhalten und kognitive Leistungen zu bessern. Kann etwas dagegen sprechen, so argumentieren die Befürworter dieser Medikalisierung, dass eine autonome Person ihre Fähigkeiten optimiert? Dem könnten Nebenwirkungen entgegen gehalten werden. So ist es möglich, dass ein Gesunder sich durch die Einnahme von Psychopharmaka selbst fremd wird. Außerdem will er sich durch das kognitive Enhancement Vorteile gegenüber anderen verschaffen ff ’ 27.

7.5 Warum wir mehr ärztliche Beratung brauchen Im Zeitalter von Hightech und Medikalisierung gibt es viele verlockende Angebote, die nicht alle halten, was sie versprechen. Deshalb brauchen wir eine kluge und kritische ärztliche Beratung darüber, was nützlich, fragwürdig und schädlich ist. Für diese Beratung benötigt der Arzt Zeit, die heute zunehmend eine Mangelware wird ’ 28. In Deutschland dauert die Sprechstundenzeit knapp acht Minuten – halb so lang wie in Belgien und der Schweiz. Ein Hausarzt verbringt häufi fig mehr Zeit mit Abrech-

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nungen, juristischen Auseinandersetzungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung und mit anderen bürokratischen Tätigkeiten als mit dem Patienten. Wenn der Arzt seinen Patienten in ein sogenanntes „Disease Management Programm“, z. B. für Diabetiker, steckt, muss er, anstatt mit ihm zu sprechen, 46 Fragerubriken ausfüllen und die Laborwerte dokumentieren. Dafür bekommt er einen Euro ’ 29. Der Hausarzt verdient 38 Euro pro Quartal und Patient, egal wie krank und alt der Patient ist, egal wie oft ein Patient die Sprechstunde aufsucht. Es ist für ihn ökonomischer, viele gesunde Personen, die zu einer Vorsorgeuntersuchung kommen, zu haben als alte und schwerkranke Patienten. Patientzentrierte Medizin wird finanziell „bestraft“. Gerade ein guter Hausarzt wäre als Generalist für Beratungen, was sinnvoll und was entbehrlich ist, prädestiniert, aber Beratungen werden im Gegensatz zu den technischen Prozeduren der Spezialisten nicht honoriert. Viele Hausärzte glauben, mit einer reinen Kassenarztpraxis nicht überlebensfähig zu sein. Um zu überleben, werden häufi fig drei Strategien angewendet: ò Angebot individueller Gesundheitsleistungen (IGeL), die der Kranke selbst bezahlen muss. Die Krankenkassen übernehmen nicht die Kosten, denn viele dieser IGeL sind unnötig und wissenschaftlich nicht gesichert. Damit wird der Arzt zum Anbieter und der Patient zum Kunden. ò Der Hausarzt wendet sich alternativen Methoden von der Homöopathie über Akupunktur bis Ayurveda zu. Sie sind ein indirekter Weg, sich mehr mit dem Kranken zu beschäftigen, und setzen bei dem Patienten und seinem Arzt einen gemeinsamen Glauben an die Wirksamkeit der Therapie voraus. ò Er behandelt nur noch Privatpatienten. Alle drei Strategien tragen nicht dazu bei, dass jeder Patient die Chance erhält, umfassend aufgeklärt und beraten zu werden. Da gute Hausärzte keine überfl flüssigen Untersuchungen, keine nicht indizierten Computertomogramme und keine unnötigen Herzkatheter wünschen, bestünde die richtige Gesundheitspolitik darin, die Position des Allgemeinarztes aufzuwerten, damit er mehr Zeit für das Gespräch mit den Patienten gewinnt. Vernünftige Vorsorge, Diagnostik und Th Therapie setzen den Dialog zwischen dem Patienten und seinem Arzt voraus. Fehlt ihm die Zeit, wird es schwer, Nutzen und Nachteile der Medikalisierung gegeneinander abzuwägen.

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Literatur

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Literatur ’1 ’2 ’3 ’4 ’5 ’6 ’7 ’8 ’9 ’ 10 ’ 11 ’ 12 ’ 13 ’ 14 ’ 15 ’ 16 ’ 17 ’ 18 ’ 19 ’ 20 ’ 21 ’ 22 ’ 23 ’ 24

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Alter und Altern: Optimismus und Resignation

8.1 Vier Lebensalter Vor hundert Jahren war eine von zwanzig Personen älter als fünfundsechzig Jahre. Heute ist es eine Person von sechs und für 2051 wird vorausgesagt, dass es eine von vier sein wird ’ 1. Das Altern der Bevölkerung ist ein Kennzeichen des 21. Jahrhunderts. Da fortschreitendes Alter oft mit Krankheiten einher geht, ist die Altersmedizin, die Geriatrie, stärker zu berücksichtigen. Geriater, Hausärzte, Allgemeininternisten, die körperliche, seelische und soziale Probleme berücksichtigen, sind nötig. Der hundertste Geburtstag ist keine Seltenheit mehr. In Deutschland erleben ihn jedes Jahr mehr als zehntausend Frauen und Männer ’ 2. Wir unterscheiden vier Lebensstufen. Die erste umfasst Kindheit, Jugend und Vorbereitung auf den Beruf. In der Jugend bilden sich oft Ideale aus, werden Ziele entwickelt. Wohl dem Menschen, der Achtung vor diesen Idealen behält und sie nicht in Zynismus erstickt. Die zweite Stufe ist die Zeit des Berufes. Eine Familie wird gegründet. Heute ersetzt man oft das Wort Beruf durch Job. Tätigkeit gibt dem Leben Sinn, schaff fft Anerkennung, führt durch Konkurrenz zu Stress. Das Berufsbild ändert sich im Verlauf der Geschichte ’ 3. Im Mittelalter sah man im Beruf ein von Gott übertragenes Amt. Durch die Entwicklung des Kapitalismus wurde der Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Seite des Berufes gelegt, der oft mit Geld und Macht verbunden ist. Die dritte Stufe bringt uns ins Rentenalter. Wer das 65. Lebensjahr überschritten hat, wird als alter Mensch bezeichnet. Wir haben durch

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Alter und Altern: Optimismus und Resignation

das Ausscheiden aus dem Beruf weniger Kontakt, verlieren an Ansehen und Einfl fluss. Es wird notwendig, dass wir uns neue Lebensinhalte erschließen. Je älter wir werden, umso häufi figer entstehen Krankheiten und Funktionseinbußen. Das Märchen von den „Bremer Stadtmusikanten“ gibt Beispiele für altersbedingte Schwächen: Der Esel des Müllers kann nicht mehr schwere Säcke schleppen, der Hund wird als Hüter des Hauses untüchtig, die Katze fängt keine Mäuse mehr, der Hahn ist impotent geworden. Sie werden nicht mehr gebraucht, aber sie geben nicht auf, verbünden sich und fassen ein Ziel ins Auge: Bremen, um dort zu musizieren. Musik wird ihnen und anderen Freude bereiten. Bevor sie aber in Bremen ankommen, vertreiben sie eine Räuberbande und damit gleichzeitig Langeweile und Sinnlosigkeit. Die vierte Stufe wird oft gefürchtet, weil schwere Krankheiten, Abhängigkeit und Pfl flegeheim drohen. Im letzten Lebensjahr hatten nur 17 % der untersuchten alten Menschen keine gesundheitlichen Einschränkungen ’ 4. Die Mehrzahl litt unter Behinderungen. Todesursachen waren oft Organversagen, zunehmende Gebrechlichkeit, Karzinome oder fortgeschrittene Demenz. Der von vielen gewünschte plötzliche Herztod trat nur bei 2,6 Prozent der Alten ein. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die vierte Stufe mit Schwierigkeiten verbunden ist.

8.2 Verluste und Gewinne Die Berentung bedeutet den Verlust des strukturierten Tages. Ein Rentner hat weniger Kontakt zu Kollegen und ein geringeres Einkommen. Langeweile droht ’ 5. Krankheiten stellen sich häufi figer als früher ein. Meistens handelt es sich um chronische Krankheiten. Im Alter können sich bereits früher vorhandene Charaktereigenschaften verstärken: Misstrauen, Launenhaftigkeit, Geiz. Man ist in Gefahr, dieselben Geschichten denselben Leuten wiederholt zu erzählen. Gesundheit heißt Schweigen der Organe. Unser Leib macht sich nicht störend bemerkbar, sondern vermittelt ohne Schwierigkeiten unsere Beziehung zur Welt. Wir leisten die Aktivitäten des täglichen Lebens, Aufstehen morgens, Anziehen, Toilette aufsuchen, Duschen, Essen, Einkaufen, mühelos und selbständig. Sie werden uns kaum bewusst. Im Alter kann sich das ändern. Plötzlich verhindern Schlaganfall oder Oberschenkelhalsbruch die körperliche Unversehrtheit. Schleichend werden

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Verluste und Gewinne

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die Aktivitäten von einer Herzschwäche mit zunehmender Atemnot behindert. Mit einem Mal wird der Körper gebrechlich. Zähne fallen aus. Wenn sich eine Demenz einstellt, verlieren wir Gedächtnis und Erinnerung. Ein 88-Jähriger berichtet, wie ihm das Alter zusetzt ’ 6. Er kann nicht mehr Fahrradfahren, andere sportliche Aktivitäten musste er aufgeben. Am Morgen ist es so, „dass ich mich wie eine ausgepresste Apfelsine fühle“. Er meint, dass wir dem Alter wegen seiner Hässlichkeit und seines Todesgeruchs nicht ins Auge sehen. Bei der Zusammenkunft alter Menschen ist der „Organbericht“ üblich. Schön sind Jugendlichkeit, Erotik und Sexualität, aber mit zunehmendem Alter werden Impotenz und Inkontinenz häufi figer. Zwar hat die Medikalisierung unseres Lebens den Vorteil, dass Medikamente wie Sildenafi fil (Viagra®) die Potenz weiter erhalten können, aber es gibt auch Risiken der Therapie, Th die außerdem voraussetzt, dass Frauen mit der fortgesetzten Sexualität einverstanden sind. Eine Idealisierung des Alters soll hier nicht stattfi finden. Aber gibt es überhaupt keine Gewinne? Der Philosoph Gadamer ’ 7 , der selbst über hundert wurde, sah im Alter einen Vorteil, weil wir mehr Muße haben. Das ruhigere Tempo mag ermöglichen, dass wir ein Bild anders oder auch intensiver betrachten, ein Gedicht lesen, aufmerksam Musik hören. Rückschauend sieht ein alter Mensch sein Leben als Geschichte, er erkennt, was er anderen Menschen zu verdanken hat. Dankbarkeit ist ein Gewinn. Sie bringt uns dazu, von dem Guten, das wir empfangen haben, etwas zurückgeben zu wollen. Die Schriftstellerin Silvia Bovenschen ’ 8 wägt Vorteile und Nachteile des Alters sorgfältig ab. Für sie hat das Alter mit sechzig begonnen. Sie ist an Multipler Sklerose erkrankt. Erst nach ihrem fünfzigsten Geburtstag erinnert sie sich bewusst, im Alter rückt das Vergangene näher. Das Alter bringt Verluste und Funktionseinbußen und doch freut man sich und ist dankbar, dass man älter geworden und noch nicht tot ist. Gewiss werden nicht alle Alten zu Weisen, aber sie haben Erfahrungen gesammelt und kennen mehr von der Welt als Junge. Einige von ihnen kommen jetzt mehr als früher zum Lesen, Schreiben und Musizieren. Aber überwiegen nicht Elend und Bürde der hereinbrechenden Krankheiten? Religiöse und philosophische Vorstellungen helfen manchmal mit der Last der Krankheiten besser umzugehen. Michel Montaigne

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8.

Alter und Altern: Optimismus und Resignation

(1533 – 1592), der selbst an einer chronischen und sehr schmerzhaften Nierensteinkrankheit litt, bietet folgenden Trost, der heute vielen fremd erscheinen mag ’ 9 : „Gott zeigt sich denen gnädig, denen er das Leben stückweise entzieht; das ist der einzige Segen des Alters. Der letzte Tod wird umso weniger schwer und peinvoll sein: Er wird nur noch einen halben oder Viertelmenschen töten.“ Der moderne Mensch denkt anders, er will im Alter Krankheiten vermeiden und wenn er schon sterben muss, so soll es möglichst schnell und schmerzlos geschehen. Montaigne wusste, dass Krankheiten zum Leben gehören, und versuchte, diese schmerzhafte Erfahrung durch den Gedanken zu kompensieren, dass Krankheiten den Abschied vom Leben leichter machen können. Zunehmende Behinderungen lassen den Tod als Erlösung erscheinen.

8.3 Zwischen Heilsversprechen und Nihilismus Ärzte spezialisieren sich heute darauf, Jugendlichkeit zu erhalten. Sie transplantieren Haare, modellieren Brüste und saugen Fett ab. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Menopause von Gynäkologen zur Krankheit erklärt und mit Hormonen behandelt, die, kurzfristig angewendet, Menopausensymptome wie heiße Wallungen und Schweißausbrüche bessern. Viele Jahre später wurden durch die „Women’s Health Initiative“ ’ 10 die Risiken einer Langzeittherapie mit Hormonersatz aufgedeckt, zu denen Brustkrebs, Thrombosen und Lungenembolien zählen. Die Pathologisierung des Naturvorgangs Menopause ist ein Beispiel für die Medikalisierung. Frauen hofften, ff Gesundheit und Jugendlichkeit zu erhalten, sie mussten allerdings regelmäßig zum Gynäkologen, die nicht über leere Wartezimmer zu klagen hatten. Im Internet und in den anderen Medien wird für das männliche Sexualhormon Testosteron geworben. Mehr und mehr mittelalte und ältere Männer nehmen Testosteron, um jünger und potenter zu bleiben ’ 11. Es ist jedoch nicht gesichert, ob Testosteron nützt, wenn der Blutspiegel dieses Hormons etwas unter der Normgrenze liegt und kein krankhafter Ausfall (Hypogonadismus) vorliegt. Testosteron kann die Prostatavergrößerung im Alter beschleunigen und fördert eventuell ein Prostatakarzinom. Regelmäßige urologische Kontrollen werden nötig. Natürlich

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Zwischen Heilsversprechen und Nihilismus

8. 3

hat die pharmazeutische Industrie Interesse an einem großen Absatz ihrer Produkte. Der Jungbrunnen, den Lucas Cranach d. Ä. 1546 malte, war bereits ein Traum im Mittelalter und Zeitalter von Reformation und Spätrenaissance. Der Glaube an diesen Jungbrunnen ist heute stärker geworden, aber die Nebenwirkungen medikamentöser Eingriffe ff dürfen nicht bagatellisiert werden, auch nicht die Tatsache, dass wir durch zunehmende Medikalisierung unseres Lebens von Medizin und Ärzten abhängiger werden. Ein britischer Altersforscher ’ 12 will das Alter abschaffen ff und den Traum ewiger Jugend erfüllen, indem er unerwünschte Zellen entfernt: „Die ersten Therapien werden sehr aufwendig und sehr kompliziert sein. Wahrscheinlich müssen die Menschen für längere Zeit ins Krankenhaus …“ und er fährt fort: „Die Aussicht, das Altern zu unterdrücken, ist nur noch 30 Jahre entfernt.“ Aber dabei gibt er zu, wird das Problem der Übervölkerung schwer zu lösen sein. Die Anti-Aging-Industrie nutzt die Angst vor dem Alter aus, um Geschäfte zu machen. Sie berät, wie man durch „Aufbaukuren“, Vitaminpillen und Hormone jung bleibt. Die Anti-Aging-Bewegung will Krankheit und Tod nicht länger Gott oder dem Schicksal überlassen, sondern sie will das Alter und die mit ihm verbundenen Probleme managen. Sie kämpft gegen das Alter und verkrampft sich dabei. Die Angebote für Gesundheitskuren wechseln. Wenn wir Kunden des Anti-AgingGeschäfts geworden sind, kreisen wir ständig um unsere Gesundheit. Vielleicht braucht man eines Tages nicht mehr zu sterben. Kaum eine Woche vergeht, ohne einen Zeitschriftenartikel, ohne eine Fernsehsendung oder Mitteilung im Internet über die plausible Hoff ffnung auf ewiges Leben. Dabei wird die dunkle Seite des Alterns ausgeblendet. Körperlicher Verfall, Demenz, Druckgeschwüre, Harn- und Stuhlinkontinenz rufen oft eine instinktive Abwehr hervor, der einen Abusus alter Menschen auslösen kann. Solche Abneigung verführt nicht selten dazu, hilflofl se Alte zu missbrauchen. Abusus äußert sich verbal, fi finanziell oder körperlich. Körperlicher Abusus bedeutet Gewalttätigkeit ’ 13. Ursachen des Abusus sind schlechte familiäre Beziehungen und Stress bei Pfl flegenden durch nächtliche Unruhe oder Aggressivität infolge einer Demenz. Nicht selten wurden die missbrauchenden Pfl flegepersonen in ihrer Kindheit selbst misshandelt ’ 14. Wir dürfen dieses Problem

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8.

Alter und Altern: Optimismus und Resignation

aber nicht nur auf einen kleinen Personenkreis abschieben, sondern müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir alle eine Neigung dazu haben, das Alter abzuwerten. Nietzsche ’ 15 hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass wir alle Alter und Niedergang nicht lieben: „ Jedes Anzeichen von Erschöpfung, von Schwere, von Alter, von Müdigkeit, jede Art von Unfreiheit, als Krampf, als Lähmung, vor allem der Geruch, die Farbe, die Form der Aufl flösung … – das alles ruft die gleiche Reaktion hervor, das Werturteil ›hässlich‹.“ Wir alle sind also in Gefahr, Alter und Altern mit Abneigung zu begegnen. Deshalb brauchen wir ein Gegenmittel. Es könnte in der Ethik Albert Schweitzers ’ 16 zu finden sein: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Die Ehrfurcht vor dem Leben besteht darin, dem Anderen, zu dem auch der Alte zählt, den gleichen Respekt entgegenzubringen wie mir selbst. Keiner geht gern ins Pfl flegeheim. Der Autor des Buches „Abgezockt und totgepfl flegt“ ’ 17 gab eine sichere Angestelltenexistenz auf, um als Pfl flegehelfer und „verdeckter Beobachter“ in Pfl flegeheimen zu arbeiten. In knapp anderthalb Jahren war er in fünf Heimen. Seine Erlebnisse sind, ein Berliner Pfl flegeheim ausgenommen, deprimierend. Er sieht Patienten mit Demenz, Schlaganfällen und off ffenen Druckgeschwüren. Die Heimbewohner fühlen sich oft abgeschoben und verlassen, sie beschweren sich über unzureichende Zuwendung und fehlende Zeit des Pfl flegepersonals. Der Mensch wird zu einem abhängigen Objekt, dem Gesellschaft, Anerkennung, Selbstständigkeit und Privatsphäre abhanden gekommen ist. Der Autor schlägt Betreuung zu Hause vor, die Heime überfl flüssig macht. Ist dieser Ausweg, wenn keine Angehörigen existieren, realistisch? Es sollten keine Vorurteile gegenüber Pfl flegeheimen bestehen. Sie sollten vielmehr objektiv geprüft werden. Solche Prüfungen gibt es. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die „Kulturen“ in Pfl flegeheimen unterschiedlich ausfallen. In manchen ist die „Kultur“ wirklich zu ändern. Aktivitäten und sinnvolle soziale Interaktionen sind zu fördern ’ 18. Der Umgang mit einem Tier, sei es ein Hund oder eine Katze, erfreut viele. Die Welt des Pfl flegeheims mehr an zu Hause als an ein Krankenhaus erinnern zu lassen, ist ein Mittel gegen den Nihilismus, der alle Hoff ffnung auf menschliche Behandlung aufgibt. Es ist erwiesen, dass eine künstliche Ernährung, z. B. durch eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG-Sonde), bei Patienten mit

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Körperliche und psychosoziale Probleme

8. 4

fortgeschrittener Demenz keinen Nutzen für den Patienten hat. Trotzdem werden die Angehörigen unter Druck gesetzt, indem der Arzt oder das Pfl flegepersonal fragt: „Wollen Sie ihre Mutter verhungern lassen?“ Der Vergleich zweier Pfl flegeheime ’ 19 ergab: In einem war die PEG-Sonde bei 41,8 % der Patienten mit fortgeschrittener Demenz angelegt worden, in dem anderen nur bei 10,7 %. Das Pfl flegeheim mit der geringen Benutzung der PEG-Sonde zeichnete sich durch eine häusliche Umgebung aus, den Kranken wurde beim Essen durch Pfl flegekräfte liebevoll geholfen. Im Gegensatz dazu hatte das andere Pfl flegeheim einen klinikähnlichen Charakter, und die Pfl flegekräfte halfen wenig beim Essen. Zu wenig ist bekannt, dass Ernährungssonden bei fortgeschrittener Demenz keinen Vorteil für den Kranken haben. Weder für ein verlängertes Leben noch für die Lebensqualität. Jeder Mensch will lang und gesund leben. Aber der Traum von ewiger Jugend ist unrealistisch. Gäbe es den Tod nicht, gäbe es keine Entwicklung. Die nach uns Kommenden fänden alle Plätze besetzt. Der Mythos erzählt, wie Tithonus, ein schöner Jüngling, von der Göttin Aurora entführt wurde. Sie erbat für ihren Geliebten vom Göttervater Zeus Unsterblichkeit, die gewährt wurde. Sie vergaß aber die Bitte um ewige Jugend. Als Tithonus im Alter körperlich und geistig verfiel, fi wurde er von der Göttin eingesperrt. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels heißt: „Was kann ich tun?“ Besser, einfacher und wirksamer als Vitamintabletten, Hormone und sogenannte Aufbaukuren sind körperliche, geistige und soziale Aktivität. Sie haben keine Nebenwirkungen, setzen allerdings ärztliche Beratung voraus und bringen der Industrie keinen Gewinn.

8.4 Körperliche und psychosoziale Probleme Vor einer Idealisierung des Alters bewahrt das Auftauchen von körperlichen und psychosozialen Problemen, die oft gemeinsam auftreten. Ein Beispiel gibt ein alter Mensch mit Herzschwäche und chronischer Bronchitis, dessen Lebensqualität durch eine Denkschwäche infolge einer Alzheimer Krankheit vermindert wird. Im Alter werden Gelenkverschleiß, Schlaganfall, Herzschwäche, Typ-2Diabetes, Arteriosklerose und Karzinome häufi figer. Dazu kommen Sehverluste durch grauen oder grünen Star, Schwerhörigkeit und viele an-

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8.

Alter und Altern: Optimismus und Resignation

dere chronische Leiden. Gewiss, wir können durch unseren Lebensstil die Krankheitshäufi figkeit vermindern – Nichtrauchen reduziert Lungenkrebs, Herzkrankheiten und chronische Bronchitis – aber wir dürfen die ererbten Gene nicht vergessen. Kranke sorgen sich, dass sie von anderen abhängig werden. Sie wollen selbständig bleiben. Deshalb ist es für eine 70-jährige Frau mit einer Halbseitenlähmung und einem durch den Schlaganfall verursachten Sprachverlust (Aphasie) wichtig, krankengymnastisch und logopädisch behandelt zu werden. Alte Menschen legen besonderen Wert darauf, dass ihre täglichen Lebensaktivitäten erhalten oder wiederhergestellt werden. Stürze sind möglichst durch Vorsorgemaßnahmen zu vermeiden, da sie bei gleichzeitiger Knochenbrüchigkeit zu Frakturen, z. B. Oberschenkelhalsbrüchen, führen. Alte Menschen neigen zu Stürzen wegen eingeschränkten Sehens und Störungen des Gleichgewichtsorgans. Häufi fig stolpern sie über Teppiche. Charakteristisch ist für das Alter, dass verschiedene Krankheiten bei einem Patienten gleichzeitig vorkommen. Diese Polymorbilität erfordert von jedem Arzt, der alte Menschen betreut, eine ganzheitliche Sicht. Körperliche, seelische und soziale Probleme beeinfl flussen sich gegenseitig. So kann eine Harninkontinenz sozialen Rückzug und Depression auslösen. Umgekehrt führen soziale Isolation und mangelnde Unterstützung zur Verstärkung von Schmerzen. Körperliche und psychische Leiden sind im Alter eng verfl flochten. Psychische Probleme, die gleichzeitig mit Gehirnveränderungen korrelieren, heißen heute Depression, Demenz – meistens durch die Alzheimer Krankheit verursacht – und Delirium. Die Kriterien für eine sogenannte Major-Depression sind im Kasten zusammengestellt. Eine solche Depression ist schwer zu ertragen und kann zur Selbsttötung führen. Sie muss rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Für die Diagnose einer Minor-Depression genügen 2 bis 4 der 9 Kriterien. Antidepressiva scheinen bei der Minor-Depression nicht wirksamer als Placebo zu sein ’ 21. Hilfreich sind unterstützendes Zuhören, Ermutigung zu befriedigenden Tätigkeiten und Problemlösungen. Demenz und Delirium wurden bereits im sechsten Kapitel besprochen. Viele ältere Menschen, über 60-jährige, entwickeln ein Delirium

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Der gute Hausarzt

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

8. 5

Niedergeschlagenheit Verlust von Interesse und Sich-freuen-können Gewichtsverlust oder Appetitminderung (bei atypischer Depression Appetitsteigerung) Schlafstörung (bei atypischer Depression erhöhtes Schlafbedürfnis) Agitation oder Verlangsamung Müdigkeit oder Verlust von Energie Gefühl der Wertlosigkeit oder unangemessenes Schuldgefühl Konzentrationsstörung Gedanken an den Tod. Suizidvorstellungen.

Kriterien für eine Majordepression: Wenigstens 5 der genannten Symptome, die 2 Wochen oder länger bestehen. Eins der Symptome muss Niedergeschlagenheit oder Verlust von Interesse, Sich-freuen-können sein ’ 20

mit Verwirrung, Halluzinationen, Unruhe oder Schläfrigkeit im Krankenhaus. Nicht immer ist eine Krankenhauseinweisung, z. B. bei einem Knochenbruch, zu umgehen. Doch sollte stets sorgfältig überlegt werden, ob eine Behandlung zu Hause möglich ist.

8.5 Der gute Hausarzt Besonders für ältere Patienten ist der Hausarzt der wichtigste Ansprechpartner in medizinischen Fragen. Der alte Patient hat in der Regel mehrere Krankheiten. Er benötigt einen Arzt, der diese Krankheiten im Blick hat und die nötigen Medikamente auswählt, ihre Nebenwirkungen und gegenseitige Beeinfl flussung berücksichtigt. Der gute Hausarzt kennt die Lebensumstände des alten Menschen, er weiß um seine Werte und Wünsche am Lebensende ’ 22. Studenten sollten bereits während des Studiums mit den Aufgaben eines guten Hausarztes vertraut gemacht werden, aber der medizinische Unterricht zielt auf Spezialisierung und nicht alle medizinischen Fakultäten haben Lehrstühle für Allgemeinmedizin. Der von den Patienten gewünschte Hausarzt besitzt ein breites Wissen von sehr verschiedenen Krankheiten und ihrer Therapie. Gleichzeitig ist er an der Situation des Kranken, der Familie und dem sozialen Um-

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8.

Alter und Altern: Optimismus und Resignation

feld interessiert. Er scheut sich nicht vor Hausbesuchen, um an Ort und Stelle zu helfen. Die Medizin kann heute wirksamer als früher behandeln, aber es gibt auch mehr medikamentöse Nebenwirkungen. Pfl flegeheimbewohner erhalten zu oft Antipsychotika, die zu Parkinsonsymptomen führen können. Werden die Parkinsonsymptome nicht als Nebenwirkung erkannt, wird das Antipsychotikum nicht abgesetzt, sondern es wird ein neues, ein Anti-Parkinsonmittel verordnet. Solche „Arzneimittelkaskaden“ schaden dem Patienten ’ 23. Der gute Hausarzt fragt sich vor jedem neuen Arzneimittel: Ist der Nutzen wirklich größer als der Nachteil? Wie viele Medikamente nimmt der Patient bereits? Ist eine nichtpharmakologische Behandlung, Diät, körperliche Aktivität, Gedächtnistraining, einem Medikament vorzuziehen? Gewiss, es gibt Unterbehandlung mit Medikamenten durch fehlendes Wissen. Viele Menschen in den USA haben aus fi finanziellen Gründen keinen Zugang zu einer nötigen medizinischen Behandlung. Sie erhalten nicht die für sie angemessenen Medikamente, weil sie nicht versichert sind. Sowohl Unterbehandlung als Überbehandlung sind zu vermeiden. Klinische Praxisrichtlinien ’ 24 können zwar die Therapie bessern, sie werden aber von Spezialisten aufgestellt, die nur ihr Fachgebiet sehen. Der gute Hausarzt muss aber viele Krankheiten berücksichtigen. Er betreut z. B. eine 79-jährige Frau mit einer chronischen Bronchitis, einem Typ-2Diabetes, einer Osteoporose, einem Hochdruck und Gelenkverschleiß (Arthrose). Würden die Praxisrichtlinien befolgt werden, müsste die Patientin zwölf Medikamente in insgesamt 19 Dosierungen pro Tag zu fünf verschiedenen Tageszeiten einnehmen. Ein solch schwieriges Regime kann zu Tablettenverwechslung, Nebenwirkungen und Interaktionen zwischen den Medikamenten führen. Der gute Hausarzt informiert seinen Patienten über die Therapie und entscheidet gemeinsam mit ihm, sodass eine untragbare Behandlungslast vermieden wird. Er betreut umfassend, indem er körperliche und psychische Probleme im Auge behält: Herzinfarkt und nachfolgende Depression; chronische Bronchitis, Atemnot und Angst; kognitive Schwäche durch eine Demenz und die Notwendigkeit, Medikamente durch eine verantwortliche Person verabreichen zu lassen. Im Abschnitt 7.3 wurde der Abusus älterer Menschen thematisiert. Der gute Hausarzt achtet auf Abusus und auf Zeichen, die daraufhin

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Was kann ich tun?

8. 6

hindeuten. Er legt schützend seinen Arm um die Patienten und beobachtet sorgfältig, wie mit ihnen im Pfl flegeheim ungegangen wird. Eine seiner Aufgaben besteht darin, dass sich die Kultur der Pfl flegeheime ändert.

8.6 Was kann ich tun? Soll dich das Alter nicht verneinen, So mußt du es gut mit andern meinen; Mußt viele fördern, manchen nützen, Das wird dich vor Vernichtung schützen. J. W. v. Goethe

Viele bewegt die Frage: Was kann ich tun, um ein möglichst hohes und dazu noch gesundes Alter zu erreichen? Dazu gehört der Lebensstil. Täglich mehr als dreißig Minuten zu gehen, vermindert die Häufi figkeit von Herzkrankheiten und Typ-2-Diabetes. Es stärkt Muskeln, bessert das Gleichgewicht und vermindert die Zahl der Stürze. Auch andere körperliche Aktivitäten wie Schwimmen, Bergwandern, Gärtnern, Radfahren sind nützlich. Alkoholexzesse sind eine Ursache für Leberzirrhose, Nervenschädigung und viele weitere Krankheiten. Auf der anderen Seite ist ein mäßiger Genuss von Alkohol, z. B. ein Glas Wein täglich, in der Lage, die Zahl der Herzkranzgefäßkrankheiten zu senken. Insbesondere Zigarettenrauchen ist ein Risikofaktor für chronische Bronchitis, Lungenkrebs, Herz- und Gefäßkrankheiten. Wer im Alter noch raucht, sollte spätestens jetzt aufhören. Eine Form gesunder Ernährung ist die Mittelmeerdiät ’ 25. Sie besteht aus Gemüsen, Früchten und Getreide. Fisch wird bevorzugt, nicht rotes Fleisch. Gesättigte Fette werden durch einfach ungesättigte Fette, also durch Olivenöl und Oliven, oder vielfach f ungesättigte Fette ersetzt. Der alte Mensch braucht indessen nicht bloß einen gesunden Lebensstil, sondern auch sinnvolle und befriedigende Aufgaben. Es gibt nicht einen Sinn, es gibt viele. Dazu gehört die Bindung an andere und eine kreative Tätigkeit. Hobbys reichen vom handwerklichen Tun über Gartenarbeit und Spiele, wie Bridge, Schach usw., bis zu Ehrenämtern. Kreativ sein heißt, etwas hervorzubringen. Künstler überwinden Lebenskri-

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8.

Alter und Altern: Optimismus und Resignation

sen oft durch die Gestaltung einer Krise. Schöpferisch tätig zu sein, ist nicht nur Künstlern vorbehalten. Einen schönen Garten anlegen, ein Töpferwerk, Chorsingen, Spielen eines Instruments sind kreativ. Dazu gehören Collagen, Malen, Zeichnungen, ein persönlicher Brief und ein Tagebuch, in das Gedanken und Ereignisse eingetragen werden. Im biologischen Sinn können wir nicht ewig jung bleiben, unsere Organe altern, aber in einem anderen Sinn können wir, falls es unser Gehirn erlaubt, versuchen, jung zu bleiben: Wenn wir aufgeschlossen, wissbegierig sind und die Träume und Ideale der Jugend nicht durch Zynismus ersticken. Im Alter rückt die Vergangenheit näher. Die eigene Entwicklung, Kindheit und Jugend haben jetzt ein größeres Gewicht als früher. Deshalb werden Autobiografien fi vor allem im Alter geschrieben. Der alte Mensch wird meistens weiß, aber ob er auch weise wird, ist kontrovers. Nachdenken über ein vernünftiges Leben ist klug. Dazu gehört, das eigene Verhältnis zu anderen zu überdenken. Das vorangestellte Motto rät, man solle es gut mit anderen meinen. Wer wohlwollend und freundlich ist, hilft auch sich selbst. Literatur ’1 ’2 ’3 ’4 ’5 ’6 ’7 ’8 ’9 ’ 10 ’ 11 ’ 12 ’ 13 ’ 14

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The Lancet. Who cares for the elderly? Lancet 2008; 311: 959 Groenewold U. Geriatrie ist eine Herkulesaufgabe für Mensch und Gesellschaft. SHÄ 2010; 63 (5): 10 – 13 Der Große Brockhaus in 20 Bd. Artikel: Beruf. Brockhaus, Leipzig 1928 Gill TM, Gahbauer EA, Han L et al. Trajectories of disability in the last year of life. N Engl J Med 2010; 362: 1173 – 1180 Pitt B. Coping with loss. Loss in late life. BMJ 1998; 316: 1452 – 1454 Mc Cormick J. Eine andere Musik. Sinn und Form 2008; 60: 66 – 75 Gadamer H-G. Zukunft ist Herkunft. FAZ (Magazin). 28. November 1997 Bovenschen S. Älter werden. Notizen. Fischer, Frankfurt a. M. 2006 Montaigne M. Von der Erfahrung. Essais. Manesse, Zürich 1953: 870 Kirschstein R. Menopausal hormone therapy: summary of a scientific workshop. Ann Intern Med 2005; 138: 361 – 364 Lawrence D. US panel urges caution on testosterone therapy. Lancet 2003; 362: 1725 Grey de A. Über das Altern. Gespräch mit A. Stirn. SZ 24./ 25. Juni 2006 Pitt B. Abusing old people. BMJ 1992; 305: 968 – 969 Bradley M. Elder abuse. BMJ 1996; 313: 548 – 550

Literatur ’ 15 ’ 16 ’ 17 ’ 18 ’ 19 ’ 20 ’ 21 ’ 22 ’ 23 ’ 24 ’ 25

8. 6

Nietzsche F. Götzen-Dämmerung. Werke in 3 Bänden, hrsg. Von K. Schlechta. 2. Band. Hanser, München 1973: 1002 Schweitzer A. Kultur und Ethik. Beck, München 1972: 330 Breitscheidel M. Abgezockt und totgeplagt. Alltag in deutschen Pflegeheimen. Econ, Berlin 2005 Johnson MA. Changing the culture of nursing homes. The physician’s role. Arch Intern Med 2010; 170: 407 – 409 Lopez RP, Amella EJ, Strumpf NE et al. The influence of nursing home culture on the use of feeding tubes. Arch Intern Med 2010; 170: 83 – 88 Judd LL, Britton RT, Braff DL. Psychiatric disorders. In: Harrison’s Principles of Internal Medicine. 13. Edition Mc Graw-Hill, New York 1994 Kroenke K. Minor depression: midway between major depression and euthymia. Ann Intern Med 2006; 144: 528 – 530 Bartens W. Hausarzt. SZ 17./ 18. Juli 2010 Rochon PA, Gurwitz JH. Optimising drug treatment for elderly people: the prescribing cascade. BMJ 1997; 315: 1096 – 1099 Boyd CM, Darev J, Boult C et al. Clinical practise guidelines and quality of care for older patients with multiple comorbid diseases. JAMA 2005; 294: 716 – 724 Trichopoulou A for members of the EPIC-Elderly Prospective Study Group. Modified Mediterranean diet and survival: EPIC-elderly prospective cohort study. BMJ 2005; 330: 991 – 995

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9.

Kann es ein gutes Sterben geben?

9.1 Die Furcht vor einem schlechten Sterben Während des letzten Jahrhunderts kam es zu einem Wandel der Todesursachen. Der akute Tod durch Infektionen ist seltener geworden. Chronische Krankheiten verursachen heute oft einen langen Sterbeprozess. Die Furcht vor einem schlechten Sterben ist verbreitet. Umso wichtiger ist die Frage, ob es ein gutes Sterben geben kann. Diese Frage haben sich die Menschen seit Jahrtausenden gestellt. Das alte griechische Wort Euthanasie heißt wörtlich übersetzt nichts anderes als guter Tod oder gutes Sterben. Schon immer haben sich die Menschen Gedanken gemacht, wie sie die Welt verlassen wollen. Heute ist allerdings das Wort Euthanasie mit vielfältigen und kontroversen Bedeutungen beladen. Wenn wir über unser Ende nachdenken, unterscheiden wir zwischen Sterben und Tod. Wie können wir den Gedanken der Endlichkeit und des Todes ertragen? Wie können wir friedlich sterben? Je jünger jemand ist, der stirbt, umso grausamer. Religionen und Philosophie sind nicht zuletzt deshalb entstanden, um mit der Endlichkeit besser umgehen zu können. Sie geben verschiedene Antworten auf das Rätsel des Todes. Oft wird der Tod als Übergang in einen anderen Seinsbereich angesehen. Der Glaube reicht von einem persönlichen Weiterleben der Seele und einer Auferweckung der „Entschlafenen“ am jüngsten Tag über Seelenwanderung und Nirwana bis zum Einswerden mit dem alles umgreifenden Sein der Philosophen, das die Religionen Gott nennen. Diese Glaubensvorstellungen sollen angesichts unseres begrenzten Lebens aufrichten, Angst nehmen und trösten. Zwischen dem Leben und dem Tod steht das Sterben. Die meisten wünschen sich ein schnelles Ster-

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Was wünschen wir?

9. 2

ben, am besten im Schlaf durch Herzkammerflimmern. fl Aber Sterben kann lange dauern, sich über Wochen hinziehen und viele Beschwerden bereiten: Schmerzen, Schwäche, Fieber und Schüttelfrost, Verwirrung, Angst, Depression und viele andere Symptome. Sie machen das Sterben schwer. Manchmal so schwer, dass der Tod als Erlösung erscheint. Wir möchten zu Hause und nicht in der uns fremden Klinikwelt sterben. Technische Interventionen auf der Intensivstation können heute die Vitalfunktionen von Lunge und Kreislauf wochenlang aufrechterhalten, obwohl in vielen Fällen eine Rückkehr zu einem wünschenswerten Leben nicht mehr möglich ist. Oft tun Ärzte aus Angst vor juristischen Prozessen durch Angehörige alles, was technisch möglich ist. Eine sinnlose künstliche Verlängerung des Sterbeprozesses könnte häufi fig vermieden werden, wenn Ärzte auf Intensivstationen besser mit Angehörigen kommunizierten. Wir fürchten ein einsames Sterben in Pfl flegeheimen, wo wir dement und mit Druckgeschwüren über eine PEG-Sonde ernährt werden. Wir wollen nicht zu abhängigen Objekten der Pflege fl werden. Sterbende wünschen kein Mitleid, wenn es nicht mit Respekt verbunden ist. Sie wollen nicht zu unmündigen Kindern degradiert werden. Demütigung und Beschämung werden durch Achtung der Betreuer vermieden. Eine wichtige Antwort auf die Furcht vor einem schlechten Sterben gibt die palliative und Hospizbetreuung am Ende des Lebens, die im vierten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben werden.

9.2 Was wünschen wir? Was wünschen wir am Lebensende? Die meisten wollen zu Hause sterben, aber den wenigsten ist es vergönnt. Wenn wir eine schwere Krankheit haben und unsere Lebenserwartung nur noch gering ist, dann wünschen wir in den letzten Wochen und Monaten eine Erleichterung des Lebens. Die palliative Medizin ’ 1 , der wir uns im Abschnitt 8.4 näher zuwenden, zielt auf die Verbesserung der Lebensqualität. Dazu gehören die kunstgerechte Behandlung von Schmerzen und anderen Symptomen, die Berücksichtigung von psychosozialen und spirituellen Themen Th sowie eine gute Kommunikation mit dem Patienten und seiner Familie. Eine Untersuchung ’ 2 ging auf die Perspektiven der Patienten ein, was sie am Ende wünschen. Dabei kristallisierten sich fünf Punkte heraus:

129

9.

Kann es ein gutes Sterben geben? ò Eine gute Schmerz- und Symptomkontrolle. Kranke wollen nicht unnötig

leiden und haben ein Recht auf eine wirksame Schmerzbekämpfung. ò Sie wollen keine unangemessene Verlängerung des Sterbens. ò Sie möchten ein Gefühl der Kontrolle behalten und nicht zu ohnmäch-

tigen Objekten werden. ò Sie wünschen eine Erleichterung der Last von betreuenden Angehöri-

gen und ò Verstärkung der Beziehung zu nahen Menschen.

Am Lebensende erwarten die meisten von den Ärzten Wahrheit in Bezug auf Diagnose und Therapie. Das gilt auch für die Diagnose Krebs, aber es gibt Ausnahmen, und es besteht ein Recht auf Nichtwissen. Deshalb sollte bei unheilbarem Krebs die Wahrheit nicht aufgedrängt werden, vielmehr sollte der Arzt fragen, wie viel der Patient wissen will. Folgende Situationen sind bei der Diagnose eines Karzinoms zu unterscheiden: ò Ein Karzinom, das durch Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie zu heilen ist. Die Radikalität der Eingriffe ff fordert Aufklärung ’ 3. ò Die Behandlung kann nicht heilen, aber möglicherweise ein Fortschreiten des Karzinoms verlangsamen. ò Im letzten Stadium steht eine palliative Behandlung im Vordergrund, die die Symptome mildert und für bessere Lebensqualität sorgt. Von Situation eins bis drei wird es zunehmend schwerer, die Wahrheit zu sagen, da Hoff ffnung nicht zerstört werden soll. Aber auch bei fortgeschrittenem Krebs sollte der Arzt fragen, ob der Patient die Wahrheit wissen will ’ 4.

9.3 Der Sinn der Patientenverfügung 1969 hatte zuerst Louis Kutner die Idee der Patientenverfügung ’ 5. Er reagierte damit auf die Furcht, dass unser Sterben durch Technologie künstlich verlängert und unnatürlich wird. Viele Hightech-Interventionen und Apparate sind imstande, auf Intensivstationen die Organfunktionen noch wochenlang aufrechtzuerhalten, ohne dass es gelingt, ein neues Leben zu schenken, an dem sich die Patienten freuen. Will ein Kranker mit einer fortgeschrittenen Demenz eine PEG-Sonde? Will ein anderer mit einem metastasierenden Karzinom eine Wiederbelebung,

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Der Sinn der Patientenverfügung

9. 3

wenn das Herz still steht? Bei einer Befragung ’ 6 äußerten sich ältere Menschen über mögliche Eingriff ffe, wenn sie an einer progredienten und bald zum Tod führenden Krankheit leiden: 93 % wünschten keine künstliche Ernährung, 92 % keine mechanische Beatmung und 90 % keine kardiopulmonale Wiederbelebung. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde die Selbstbestimmung (Autonomie) des Kranken wenig beachtet. Im Vordergrund stand die ärztliche Fürsorge, dem Kranken zu nützen und Schaden von ihm abzuwenden. Heute ist diese Autonomie ein wichtiges ethisches Gebot. Um ihm gerecht zu werden, sollte der Arzt die Perspektiven und Präferenzen des Patienten respektieren. Die Patientenverfügung ist ein gutes Beispiel für die Selbstbestimmung. Patientenverfügungen beschreiben die Wünsche von Menschen für den Fall, dass sie in Zukunft nicht über medizinische Interventionen mitentscheiden können, weil sie bewusstlos, dement oder delirant sind. Ein Kranker im Wachkoma (apallisches Syndrom) kann durch künstliche Ernährung Jahrzehnte am Leben erhalten werden, obwohl spätestens nach einem Jahr eine Wiederherstellung kaum möglich ist. Viele wollen nicht mithilfe einer PEG-Sonde Jahrzehnte vegetativ leben, ohne dass Lesen, Schreiben und eine Kommunikation mit der Familie möglich sind. Sie legen sich in ihrer Patientenverfügung fest. Andere sind überzeugt, dass im Konflikt fl zwischen Selbstbestimmung und Lebenserhaltung das zweite Prinzip Vorrang habe. Im März 2004 hatte der Vatikan erklärt, beim Wachkoma sei ein Abbruch der künstlichen Ernährung bei Patienten mit apallischem Syndrom auch dann unstatthaft, wenn sie ihn zuvor verfügt hatten ’ 7. In einer pluralistischen Gesellschaft gewinnen persönliche Werte und Selbstbestimmung zunehmend an Bedeutung. Im Juni 2010 stimmte der Bundesgerichtshof dem Abbruch der künstlichen Ernährung bei einer Frau im Wachkoma zu, weil diese gegen ihren früher geäußerten Willen verstieß. Von der katholischen Kirche getragene Pfl flegeheime können den Behandlungsabbruch entgegen der Patientenverfügung nicht mehr verweigern. Im Kapitel 2.2 habe ich erwähnt, dass Terri Schiavo ’ 8 seit 1990 in einem solchen Wachkoma bzw. persistierenden vegetativen Zustand lag. Weil keine Patientenverfügung vorlag, gab es einen erbitterten Familienstreit zwischen dem Ehemann der Patientin und ihren Eltern, ob die PEG-Sonde entfernt werden dürfe. Erst 2005 wurde die Sonde auf

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9.

Kann es ein gutes Sterben geben?

Beschluss eines amerikanischen Gerichts entfernt, sodass Terri Schiavo nicht weiter am natürlichen Sterben gehindert wurde. Nicht selten argumentieren ärztliche Fürsorge und religiöse Bedenken gegen die Selbstbestimmung. Jeder Bewusstseinsklare hat jedoch das Recht, medizinische Eingriffe ff abzulehnen, auch wenn diese Ablehnung sein Leben verkürzt. Fürsorge ist gut, sie muss aber auch die ärztliche Sorge umfassen, den Willen des Patienten zu achten. Die Tatsache, „dass das Sterben lange andauert und medizintechnisch überfremdet zu werden droht, führt bei vielen Menschen zu existenziellen Verunsicherungen. Angesichts drohender Übertherapie am Lebensende und künstlicher Lebensverlängerung stellen sie sich oftmals vorab die Frage, ob sich ihr eigenes künftiges Sterben überhaupt noch in Würde vollziehen wird.“ So Hartmut Kreß in seiner „Medizinischen Ethik“ ’ 9. Und er fährt fort: „In Anbetracht der Medikalisierung des Sterbens kann eine Patientenverfügung vorsorgen, dass das Sterben menschengemäß und menschenwürdig bleibt.“ Seit fünf Jahren liegt Ariel Scharon im Koma ’ 10. Der ehemalige israelische Ministerpräsident hatte am 4. Januar 2006 eine Gehirnblutung als Folge gerinnungshemmender Medikamente. Es folgten sieben Notoperationen. Er hat keine Chance, das Bewusstsein wiederzuerlangen, aber die PEG-Sonde lässt ein Sterben nicht zu. Das israelische Gesetz erlaubt den Ärzten, sinnlose aktive Maßnahmen zur Lebenserhaltung zu unterlassen, aber nicht, sie zu beenden. Er lebe wie im Grab, sagt ein früherer Vertrauter. Von einer Patientenverfügung Ariel Scharons ist nichts bekannt. Ärzte haben die wichtige Aufgabe, ihre Patienten bei der Abfassung der Patientenverfügung kompetent zu beraten. Während Patientenverfügungen einen technischen Imperativ eindämmen, betonen sie gleichzeitig die Bedeutung einer palliativen Betreuung.

9.4 Palliative und Hospizbetreuung Palliative Medizin bessert die Lebensqualität von Kranken mit fortgeschrittenen Prozessen und begrenzter Lebenserwartung. Das Wort palliativ leitet sich aus dem Lateinischen palliatus (Mantel) ab. Mit einem schützenden Mantel wird der Kranke umgeben, damit, wenn keine Heilung mehr möglich ist, wenigstens die letzten Monate und Wochen erträglich sind. Mehr als 90 % der Schmerzen können gemildert wer-

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den, wenn Ärzte sich an die Richtlinien der Schmerztherapie, z. B. an die „Schmerzleiter“ der WHO mit ihren drei Stufen für leichte, mittelschwere und schwere Schmerzen halten ’ 11. Auch andere Symptome, Appetitund Gewichtsverlust, Obstipation, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen, sind zu behandeln. Depression und Angst sind zu berücksichtigen. Im Unterschied zur normalen Trauer des Abschieds gibt es klinische Depressionen mit Freudlosigkeit und Hilfl flosigkeit, den Gefühlen von Wertlosigkeit und Schuld, häufi fig begleitet von suizidalen Gedanken ’ 12. Die Behandlung umfasst nicht nur Antidepressiva, sondern auch Schmerztherapie und emotionalen Beistand. Je stärker sich der Patient von Familie und Arzt unterstützt fühlt, umso mehr wird seine Angst gemildert. Je nach Untersuchung treten am Lebensende bei 28 % bis 83 % der Patienten akute Verwirrungen (Delire) auf ’ 13. Der Arzt muss sich um die Ursache dieser Delirien kümmern, um sie zu bessern. Damit mindert er die Angst bei dem Patienten und seiner Familie. Kranke erwarten in den letzten Monaten viel von der Medizin. Hoff ffnungen sollen nicht zerstört, Wunder aber nicht versprochen werden. Wenn mit dem Patienten nicht ehrlich gesprochen wird, folgen oft unnütze, aggressive und mit vielen Nebenwirkungen verbundene Therapien. Th Eng verwandt mit der palliativen Medizin ist die Hospizbewegung. Die Britin Cicely Saunders begann ihre Arbeit als Krankenschwester. 1951 bis 1957 studierte sie Medizin und gründete 1967 das St. Christopher’s Hospiz in London. Sie hatte Respekt vor dem terminal Kranken und stellte durch ihre Persönlichkeit ein Klima her, in dem Patienten und Familien Vertrauen gewannen ’ 14. Besonderen Wert legte sie auf wirksame Schmerztherapie und Verbesserung der Lebensqualität. Hospizprogramme bieten Betreuung während der letzten sechs Monate des Lebens. Nicht nur Kranken mit fortgeschrittenen Karzinomen, auch Kranken mit AIDS, Herz-, Ateminsuffi ffizienz wird geholfen ’ 15. Hospizinitiativen betreuen ambulant oder in Hospizen, während Palliativstationen an Krankenhäuser angeschlossen sind. Vielen Patienten fällt es schwer, Hospizversorgung anzunehmen, weil sie hoffen, ff dass noch lebensverlängernde Maßnahmen möglich sind. Deshalb sollte der Arzt ihnen sagen, dass durchaus eine Kombination von aktiver und unterstützender Behandlung sinnvoll sein kann. Palliative Betreuung sollte nicht zu spät beginnen. Bei Kranken mit metastasierenden, nichtkleinzelligen Lungenkarzinomen wurde untersucht,

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ob neben der onkologischen Chemotherapie eine frühzeitige palliative Behandlung besser ist als eine alleinige Chemotherapie ’ 16. Patienten mit früher gleichzeitiger palliativer Betreuung hatten bessere Lebensqualität, seltener Depressionen und ein längeres Überleben als die Vergleichsgruppe mit alleiniger Standard-Onkologie. Zu dem palliativen Team gehören Ärzte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter und Seelsorger. Auf Wunsch der Patienten kümmern sich Geistliche um sie. Gibt es eine Vollendung des Lebens? Vollendung ist nicht unbedingt mit einem religiös-konfessionellen Glauben identisch. Sie hat viel zu tun mit Lebensrückschau, Lösung von Konflikten fl und Zeit haben für andere Menschen. Eine 39-jährige Ärztin ’ 17 mit fortgeschrittenem Brustkrebs vermutet, dass sie nur noch wenige Monate leben wird. Sie ist ganz für Familie und Freunde da, schreibt Gedichte und Briefe. „Es ist jetzt klarer für mich als früher“, sagt sie, „was wichtig und was leerer Kram ist. Wie viel Zeit mir genau bleibt, weiß ich nicht, aber ich weiß, ich habe Zeit zu leben und zu lieben.“ Oft genügt eine minimale Sedierung mit Beruhigungsmitteln, sogenannten Benzodiazepinen, um Leiden zu erleichtern. Eine Steigerung der oralen Dosis kann notwendig werden ’ 18 , um Angst und Schlafl flosigkeit zu bessern. Gegen unerträgliches Leiden gibt es am Lebensende eine intravenöse Sedierung bis zur Bewusstlosigkeit ’ 19. Bei der palliativen Sedierung mit Bewusstlosigkeit wird im Gegensatz zur aktiven Euthanasie Linderung, nicht der Tod intendiert. Der Patient bleibt bis zum Tod bewusstlos, auf lebenserhaltende Begleitmaßnahmen wird verzichtet. Das Missbrauchspotenzial besteht darin, dass einer verdeckt praktizierten aktiven Euthanasie Vorschub geleistet wird. So scheint es in den Niederlanden zu sein, wo 2005 die Todesfälle durch aktive Euthanasie mit 1,7 % etwas niedriger als 2001 waren. Dafür war die Zahl der Todesfälle durch tiefe Sedierung bis zur Bewusstlosigkeit mit 7,1 % erschreckend hoch. Diese palliative Sedierung ließ sich nicht immer von der aktiven Euthanasie auf Wunsch der Patienten unterscheiden, da manche Ärzte damit einen schnellen Tod beabsichtigen. Wenn der Seelsorger erwähnt wird, dann deshalb, weil viele Menschen der Gedanke an Endlichkeit und Tod umtreibt. Ein älterer Patient schreibt für seine Angehörigen „Meine Gedanken über Sterben und Tod“ (Lothar Gruchmann, persönliche Mitteilung, August 2010): „Es ist ein Fehlschluss des materialistischen Denkens, dass das Bewusstsein ein

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Produkt des Gehirns und Nervensystems sei. Es ist eine eigenständige Qualität …“ Den Zeitpunkt des Todes, fährt Lothar Gruchmann fort, bestimme allein Gott. „Wenn er mein Bewusstsein an sich gezogen hat, wünsche ich nicht, dass meine Körperfunktionen durch medizinische Geräte künstlich verlängert werden … Was uns nach dem Tod im Jenseits erwartet, davon gibt es … kein ›Wissen‹.“ Dieses Nichtwissen verursache bei vielen Menschen Angst, aber: „Wo das Wissen versagt, hilft nur der Glaube …“ Der Autor vertraut auf eine Urkraft, „die das Universum und uns geschaffen ff hat und die ich als Christ Gott nenne. Da ich seine Führung in meinem Leben erfahren habe, kann ich mich in meiner Sterbestunde in seine Arme fallen lassen …“ Dieser Glaube verbindet Platons Idee von der Unsterblichkeit der Seele mit christlichen Vorstellungen. Paulus verkündet, dass ein „geistlicher Leib“ am jüngsten Tag auferweckt werde (1. Korinther 15, 44). Der Islam bezieht sich ebenfalls auf ein zukünftiges Leben nach dem Tod und auf die Vergeltung der guten und schlechten Taten in Paradies und Hölle. Das Christentum spricht heute weniger als im Mittelalter von der Hölle, als die Angst vor ewigen Feuerqualen groß war. Da es viele Islam-Gläubige gibt, ist ihr Glaube zu respektieren. Der Islam betont die Allmacht Gottes und die Ergebung des Menschen in Gottes Willen. Im Koran, Sure 4, Vers 87, heißt es: „Allah. Es gibt keinen Gott außer Ihm; wahrlich, Er wird euch versammeln zum Tag der Auferstehung; kein Zweifel ist daran; und wessen Wort ist zuverlässiger als Allahs?“ ’ 20. Sich als Seelsorger mit spirituellen Themen Th zu befassen, heißt nicht missionieren, sondern zuhören. Der Gedanke an Seelenwanderung gibt anderen Menschen Kraft, weil eine Reihe von Wiedergeburten angenommen wird ’ 21. Während die Seelenwanderung im Mittelpunkt der Indischen Religionen steht, war Buddhas Ziel das Nirwana als Befreiung von Pein, Banden und Schranken der Welt. Deshalb lehrt er: „Wer jenen Jammer wohl gemerkt, / Dass aus Bewusstsein Leid erfolgt: / Bewusstsein stillen mag der Mönch, / Erlöschen also, ausgeglüht“ ’ 22. Der wahre Seelsorger respektiert jeden menschenfreundlichen Glauben, der frei von Fanatismus ist. Er kann auch dem Glauben begegnen, dass der Tod das Einswerden mit dem alles umgreifenden Sein bedeutet. Ähnlich Marc Aurel, der Philosoph und römische Kaiser (121 – 180): „Mag die Welt aus Atomen bestehen oder von einer Natur durchwaltet werden, mein erster Grundsatz muss sein: Ich bin ein Teil des Ganzen …“ ’ 23.

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Die Vielfalt religiöser und philosophischer Vorstellungen ist groß, mit denen der Mensch seit Jahrtausenden dem grausamen Faktum des Todes begegnet. Nicht an jeder medizinischen Fakultät werden Studenten mit den Th Themen der palliativen und Hospizbetreuung vertraut gemacht. Das ist aber nötig, damit gute Hausärzte häufi figer als bisher Kranke zu Hause versorgen können. Obwohl 65 % der Patienten mit Karzinomen zu Hause sterben wollen, schaffen ff es nur 30 % ’ 24. Es ist zu wünschen, dass die Prinzipien der palliativen und Hospizbetreuung in die hausärztliche Versorgung übernommen werden. Hausärzte und Palliativmediziner haben gemeinsame Werte. Sie denken ganzheitlich und Patient-zentriert.

9.5 Was bedeutet Euthanasie? Das Wort Euthanasie hat verschiedene Bedeutungen. Da von aktiver, passiver und indirekter Euthanasie gesprochen wird, ist eine Begriffsff verwirrung häufi fig. Beginnen wir mit der aktiven Euthanasie auf Wunsch des Patienten, die in Deutschland nach § 216 des Strafgesetzbuches verboten ist, aber trotzdem viele Befürworter hat. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa ermittelte 2005, dass 74 % der deutschen Bundesbürger für eine Legalisierung der freiwilligen Euthanasie sind. Jedoch sprachen sich bei einer Meinungsumfrage durch Emnid nur 35 % der Befragten im Falle einer unheilbaren und quälenden Krankheit für die Tötung auf Verlangen aus. Emnid hatte erläutert, was die Linderung von Leiden und Sterbebegleitung durch palliative und Hospizbetreuung bedeutet ’ 25. Seit 2002 ist in den Niederlanden die aktive Euthanasie auf Wunsch eines Patienten und ärztliche Beihilfe zum Suizid legalisiert ’ 26. Die Tötung erfolgt durch Injektion von Barbituraten und anderen Mitteln. Voraussetzungen sind u. a.: Bitte des Patienten um aktive Euthanasie bei untragbarem Leiden ohne Hoff ffnung auf Besserung, wiederholte Äußerung des Wunsches, geistige Klarheit und Kompetenz des Schwerkranken. Ein häufi figes Motiv für die Bitte um aktive Euthanasie sind Abhängigkeit, Verlust der Kontrolle über Körperfunktionen und Leiden an unbehandelbaren Symptomen. Sind in den Niederlanden vorher wirklich alle Mittel der palliativen Medizin eingesetzt worden? Das Arztbild ist mit Recht für viele Men-

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schen mit Hilfe und Lebenserhaltung verbunden, sodass ein, wenn auch auf Wunsch des Patienten, tötender Arzt ein Widerspruch ist. Natürlich ist die unfreiwillige Euthanasie in der Diktatur des Nationalsozialismus nicht mit der freiwilligen Euthanasie in den liberalen Niederlanden gleichzusetzen. Trotzdem wirkt das schwere Erbe der unfreiwilligen Euthanasie im „Dritten Reich“ bis heute nach ’ 27. Sie ging auf eine Anweisung Hitlers Ende Oktober 1939 zurück, mit der er Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt beauftragte, unheilbaren Kranken den „Gnadentod“ zu gewähren. Die nationalsozialistische Ideologie unterschied rassistisch und biologistisch zwischen „lebenswertem und lebensunwertem Leben“. Der Tod von Geisteskranken und Körperbehinderten sollte die Gesellschaft von finanziellen, emotionalen und sogar ästhetischen Lasten befreien. Diese zwangsmäßige Euthanasie durch Gas, die T4-Aktion, tötete viele Tausende und wurde erst 1941 abgebrochen, nachdem der Bischof von Münster, Graf von Galen, protestiert hatte. Was bedeutet passive Euthanasie? Mit dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes zur passiven Euthanasie wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestärkt. Der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ist nicht strafbar, wenn er dem Willen des Kranken entspricht. Der 2. Strafsenat des Karlsruher Gerichts sprach am 25. Juni 2010 einen Münsteraner Rechtsanwalt vom Vorwurf des versuchten Totschlags frei, nachdem ihn das Landgericht Fulda zu einer Bewährungsstrafe verurteilt hatte, weil er seiner Mandantin geraten hatte, den Ernährungsschlauch ihrer Mutter durchzuschneiden, über den ihre seit Jahren im Wachkoma liegende Mutter versorgt wurde. Der Abbruch der Behandlung entsprach dem früher geäußerten Willen der Patientin. Die Ergebnisse einer Umfrage ’ 28 zeigen, dass sich nur 21,1 % der Ärzte zu einem Abbruch medizinisch nicht angezeigter Interventionen durchringen. 71,7 % würden auch gegen den Willen des Patienten lebensverlängernd eingreifen. Viele Ärzte befürworten am Lebensende ihrer Patienten Intensivmaßnahmen, weil sie Nichtgabe oder Entzug invasiver Prozeduren mit verbotener aktiver Euthanasie verwechseln. Sie befürchten juristische Prozesse. Lebenserhaltende Technologie, Dialyse, mechanische Ventilation oder PEG-Sonde sind oft nützlich, aber bei terminal Kranken können sie nicht selten nur die Organfunktionen stabilisieren, ohne dass die Chan-

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ce besteht, dass diese Patienten jemals wieder zu einem sie erfreuenden und bewussten Leben zurückkehren ’ 29. Deshalb wäre es sinnvoll, solche medizinisch vergeblichen Überbehandlungen nicht stets zu geben bzw. sie zu entziehen, wenn sie medizinisch sinnlos sind oder den Wertvorstellungen des Patienten widersprechen. Passive und aktive Euthanasie sind nicht eng verwandt, denn passive Euthanasie bedeutet einen freiwilligen Verzicht auf Macht, während aktive Euthanasie, und zwar auch die freiwillige, Machterweiterung, nämlich die Lizenz zum Töten, bedeutet. Der Wille zur Macht, wie ihn Nietzsche ’ 30 beschrieben hat, findet mit der Erlaubnis, ein Leben wunschgemäß durch eine Injektion zu beenden, einen neuen Höhepunkt. Außerdem besteht folgender Unterschied zwischen passiver und aktiver Euthanasie: Werden nutzlose technische Interventionen unterlassen, stirbt der Patient an seiner Krankheit. Dagegen würde die Dosis der bei der aktiven Euthanasie verwendeten Gifte auch einen Gesunden töten. Der Begriff ff passive Euthanasie ist unglücklich, weil er mit der aktiven Euthanasie verwechselt wird. Er sollte durch Nichtgeben oder Entzug lebenserhaltender, aber nutzloser Techniken ersetzt werden, die zudem dem in der Patientenverfügung geäußerten Willen des Patienten widersprechen. Solche Therapiebegrenzungen erlauben am Lebensende das natürliche Sterben und sind nicht nihilistisch, denn an die Stelle von Hightech treten nun palliative Maßnahmen mit Behandlung der Symptome, mit Zuwendung und Pfl flege. Abschließend zur indirekten Euthanasie ’ 31 : Sterbende werden z. B. durch Schmerzen gequält. Der Arzt sollte dann die besten Schmerzmittel geben. Morphin ist bei schweren Schmerzen eines der bewährtesten Analgetika. Wenn die Schmerzen trotzdem zunehmen, darf der Arzt nach den Regeln der Pharmakologie die Dosis steigern. Er intendiert damit nicht den Tod des Patienten, sondern Schmerzbefreiung. Sollte trotz kunstgerechter Dosissteigerung des Morphins der Tod ungewollt etwas früher eintreten, so wird dieser „Doppeleff ffekt“, der ethisch und juristisch legitim ist, als indirekte Euthanasie bezeichnet. Dieser Begriff ff ist ebenfalls unglücklich, weil eine wünschenswerte Schmerzkontrolle sprachlich mit aktiver Euthanasie in Beziehung gebracht wird. Morphin kann zwar bei unsachgemäßer Anwendung das Atemzentrum lähmen, aber bei pharmakologisch korrekter Medikation ist der Doppeleffekt ff sehr selten ’ 32.

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Ärztliche Beihilfe zum Suizid

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9.6 Ärztliche Beihilfe zum Suizid Bei der ärztlichen Beihilfe zum Suizid bzw. beim Arzt-assistierten Suizid (AAS) nimmt der Patient selbst die tödlichen Medikamente, die vom Arzt rezeptiert wurden. Seit 1998 ist der AAS im US-Bundesstaat Oregon erlaubt, wenn bestimmte Voraussetzungen wie schwere, tödliche Krankheit, Patientenwunsch, Entscheidungsfreiheit, Ausschluss einer Depression und selbstständige Einnahme des flüssigen Pento- oder Secobarbitals vorliegen ’ 33. Auch in den Niederlanden ist die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung legalisiert. 2010 wurden im Auftrag der Bundesärztekammer 527 Ärztinnen und Ärzte zum AAS befragt. 37 % der Befragten gaben an, dazu unter bestimmten Bedingungen bereit zu sein. Als Voraussetzungen nannten sie hohen Leidensdruck, hoff ffnungslose Krankheit und gute Kenntnis des Patienten, der die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung wünscht. Die Gegner einer Legalisierung des AAS sehen eine Gefahr: Die ethische und juristische Erlaubnis kann dazu führen, dass Schwerkranke um AAS bitten, weil sie sich als Last für Familie und Gesellschaft sehen ’ 34. Außerdem mag die Legalisierung zur Folge haben, dass die Möglichkeiten der palliativen Behandlung nicht ausgeschöpft werden. Die Bundesärztekammer lehnt den AAS ab. Ärzte, die einem Patienten bei der Selbsttötung helfen, droht der Entzug der Approbation ’ 35. Es fragt sich immer, ob beim Todeswunsch eine Depression vorliegt. Depressive haben keinen freien Willen mehr und verüben oft Suizid. Die juristische Stellungnahme zum AAS ist widersprüchlich. Die Beihilfe zum gewünschten Suizid ist zwar in Deutschland nicht strafbar, aber der Arzt muss lebensrettend eingreifen, wenn der Patient durch das eingenommene Mittel bewusstlos wird. Sonst droht ihm eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung ’ 35. Er befindet fi sich in einem Dilemma. Auf keinen Fall darf der AAS ein Ersatz für eine palliative Behandlung mit ärztlichen Hausbesuchen, Beistand, guter symptomatischer Behandlung und Unterstützung der Familie sein. Doch wird es trotz guter palliativer Betreuung immer noch einige Patienten geben, die keine andere Lösung als den Suizid sehen. Bei alten Patienten, so der Palliativmediziner Borasio ’ 35 , sei der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit eine häufi fige Suizidmethode, die einen friedlichen Sterbeverlauf innerhalb von zehn bis vierzehn Tagen ermögliche. Allerdings ist dieses Sterben für die Familie nicht immer leicht zu akzeptieren. Übrigens ist diese Form des Suizids

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die einzige, die Schopenhauer ’ 36 anerkannt hat: „Vom gewöhnlichen Selbstmorde gänzlich verschieden scheint eine besondere Art desselben zu seyn, welche jedoch vielleicht noch nicht genugsam konstatiert ist. Es ist der aus dem höchsten Grad der Askese gewählte Hungertod …“ Anders als Schopenhauer dachte, handelt es sich bei Menschen hierzulande, die diese Todesart wählen, nicht um resignierte Asketen oder religiöse Schwärmer, sondern um Schwerkranke mit unerträglichen Symptomen. Ein anderes Problem ist die Tätigkeit der Schweizer „Freitodhilfsorganisation“ „Exit“ und „Dignitas“ ’ 37. Sie helfen Patienten bei der Selbsttötung. „Exit“ begleitet im Gegensatz zu Dignitas“ keine Ausländer. Ein ehrenamtlicher Begleiter stellt Natrium-Pentobarbital bereit, das der Sterbewillige trinkt. Gewisse Voraussetzungen, Freiwilligkeit, geistige Kompetenz und ein ärztliches Gutachten, müssen erfüllt sein. Es gibt Pro und Kontra für die Freitodhilfe, die in der Schweiz, wie gesagt, nicht durch Ärzte, sondern ehrenamtliche Begleiter erfolgt. Dafür spricht Selbstbestimmung, dagegen Liebe zum Leben und Fürsorge. Die Bedingungen von „Exit“ und „Dignitas“ für die Freitodhilfe sind offenbar ff nicht sehr streng. Svenja Flaßpöhler ’ 37 zeigt, dass eine Frau mit einer Depression und hartnäckigen Kopfschmerzen durch Freitodhilfe stirbt, obwohl ihre Krankheiten therapierbar sind. Eine andere Frau mit einem fortgeschrittenen Mammakarzinom lehnte Chemotherapie ab. Es wurden keine quälenden körperlichen Symptome genannt. Trotzdem wird ihr Natrium-Pentobarbital verabreicht. Es geht also den Schweizer Organisationen nicht nur um todkranke Patienten mit therapierefraktären Beschwerden. Diese Praxis stimmt den Beobachter skeptisch und bestärkt die Auffassung, ff alles daran zu setzen, durch palliative Betreuung eine gewaltsame Beendigung des Lebens zu vermeiden.

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Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung

10.1 Ein titanisches Zeitalter wird besichtigt Zu den Titanen, einem zweiten Göttergeschlecht der griechischen Mythologie, zählt Prometheus. In einer Ratsversammlung der Götter versucht er Zeus, den Göttervater, zu übervorteilen. Deshalb entzieht Zeus den Menschen das Feuer. Prometheus entwendet Zeus das Feuer und bringt es wieder auf die Erde. Als Strafe sendet der Göttervater die Pandora, eine verführerische Frau mit einem alle Übel bergenden Tonkrug. Der Titan Prometheus gilt als klug und kenntnisreich. Er ist der Vorausdenkende, ein Wohltäter der Menschen und Kulturbringer ’ 1, 2. Zur Kultur gehört die Technik, ohne die wir uns unser Leben nicht mehr vorstellen können: Autos mit Armaturenleisten wie in Raumschiffen ff und Navigationssystemen, Fernseher mit vielfältigen Tastenkombinationen. Es gibt „sprechende Staubsauger, nachdenkliche Kühlschränke und ›Aquarianer Hightech‹, die den Stichlingen erlaubt, sich selbst zu füttern …“ ’ 3. Der über seinem Manuskript gebeugte und mit Hand schreibende Schriftsteller gehört der Vergangenheit an. Auch die Schreibmaschine ist passé. Es gab einmal eine Zeit, zu der es keine Handys gab. Nicht alle erinnern sich noch an Telefonzellen. Nun klingeln Mobiltelefone, Menschen sprechen in sie hinein oder schreiben eine SMS. Auf Bahnhöfen stehen Fahrkartenautomaten, deren Bedienung für ältere Menschen schwierig ist. Flugzeuge bringen uns in die weite Welt, wenn wir erst einmal dem Labyrinth des Flughafens entronnen sind. Die meisten Menschen sehen die Technik positiv. Allerdings werden manche Techniken kontrovers beurteilt. Atomkraftwerke z. B. haben Nutzen und bergen Gefahren.

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Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung

Oft heißt es, die Technik mache die Menschen zu Meistern der Natur. Der Fortschrittsglaube setzt sich allerdings über die Risiken und Nebenwirkungen technischer Eingriff ffe hinweg. Kaum waren vier Monate nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko vergangen – die Folgen der weltweit schwersten Ölpest waren und sind nicht beseitigt, – als man diese Katastrophe zu vergessen begann ’ 4. Wird die Technik eines Tages so mächtig werden, dass sie sich die Menschen untertan macht? Kann die Ethik nachteilige Folgen der Technik verhindern oder läuft sie der Technik hinterher, um sie zu rechtfertigen? Auch die Medizin wird zunehmend durch Naturwissenschaft und Technik bestimmt. Auf diesen gründen viele Erfolge. Der Siegeszug der naturwissenschaftlichen und experimentellen Medizin begann im 19. Jahrhundert. Naturphilosophische Spekulationen wurden durch überprüfbare Hypothesen ersetzt. Der französische Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798 – 1857) unterteilte die Geschichte in drei Stadien, ein theologisches, metaphysisches und zuletzt positives Stadium. Alle Metaphysik galt ihm als veraltet, nur das Gegebene sollte naturgesetzlich beschrieben werden. Er läutete den Positivismus ein: Die Wissenschaft hat die Aufgabe, Gesetze aufgrund beobachteter Tatsachen festzustellen ’ 5. 1882 entdeckte Robert Koch (1843 – 1910) den Tuberkuloseerreger, 23 Jahre später erhielt er dafür den Nobelpreis. Seine Entdeckung bildete die Grundlage für bessere Hygiene und spätere Chemotherapie. 1890 kündigte er an, ein Mittel gegen die Bazillen gefunden zu haben, das Tuberkulin. Er verhandelte mit der Industrie. Ein Jahreserlös von 4,5 Millionen Reichsmark sollte sechs Jahre an Koch gehen, danach an das Kaiserreich ’ 6. Rudolf Virchow (1821 – 1902) zeigte die Unwirksamkeit von Tuberkulin. Robert Koch hatte als Bakteriologe tatkräftig an dem neuen Paradigma mitgewirkt, dass Krankheiten durch materielle Ursachen entstehen. Die Tuberkulose war nicht mehr eine Folge psychischer Verfehlungen und Konflikte. fl Sie konnte im 20. Jahrhundert durch Tuberkulostatika eff ffektiv behandelt werden. Aber der Glaube, dass fast alles machbar sei, hat Grenzen, die bereits zu Kochs Zeiten sichtbar wurden: Sein Tuberkulin erwies sich als unwirksam, das gegen den von ihm entdeckten Erreger der Schlafkrankheit eingesetzte Atoxyl als hochtoxisch ’ 6. Seit 1900 hat die Lebenserwartung in den entwickelten Ländern um dreißig Jahre zugenommen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die

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Ein titanisches Zeitalter wird besichtigt

10.1

Qualität der Lebenserwartung vor allem durch Verbesserung der Ernährung, Hygiene und Wohnverhältnisse bestimmt. Danach verursachten neue Medikamente und andere Interventionen hauptsächlich die Lebensverlängerung ’ 7. Es gibt große Fortschritte auf den Gebieten der Inneren Medizin, Chirurgie, Neurologie und Psychiatrie. Allein die Spezialgebiete der Inneren Medizin bieten ein fast unübersehbares Arsenal an diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Die Kardiologie verfügt über Belastungs- und Langzeit-EKG, Echokardiografie fi und Herzkathetertechniken. Gastroenterologen tragen endoskopisch Polypen im Magen-Darm-Kanal ab und behandeln erfolgreich Magen- und Zwölffingerdarm-Geschwüre, indem das Bakterium Helicobacter Pylori ausfi gerottet wird. Allerdings entstehen viele Geschwüre dadurch, dass Antirheumatika bei Schmerzen oft unkritisch und zu häufi fig eingenommen werden, während Paracetamol vergessen wird. Onkologen verzeichnen Fortschritte bei Leukämien, Lymphdrüsentumoren, Plasmozytom und Karzinomen ’ 8. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts starben viele Menschen an Lungenentzündung und anderen Infektionen, weil es keine Antibiotika gab. Diese Mittel sind sehr wirksam, werden jedoch, z. B. bei einer Virusbronchitis, zu häufi fig angewendet. Dadurch entstehen multiresistente Keime. Zukünftige Entdeckungen und Interventionen werden eine weitere Spezialisierung notwendig machen. Ebenso notwendig wird es sein, die neuen diagnostischen und therapeutischen Mittel kritisch anzuwenden und die möglichen Nebenwirkungen sorgfältig zu beachten, damit die Risiken des Fortschritts nicht die Vorteile aufwiegen. Durch eine Analyse des Genoms werden Aussagen über künftige Krankheiten und das Ansprechen auf Medikamente erwartet. Manche Kranke reagieren auf Grund einer Genvariante nicht auf gewisse Medikamente, andere reagieren überschießend, so dass beispielsweise die Dosis blutgerinnungshemmender Stoff ffe erniedrigt werden muss. Man erhoff fft sich durch die Analyse des Genoms eine Individualisierung der Therapie, eine „personalisierte Medizin“ ’ 9. Nutzen und Nachteile der genomischen Medizin sind zu bedenken. Eine personalisierte Behandlung und Verhaltensmaßnahmen, so Nichtrauchen bei dem genetischen Risiko Lungenkarzinom, sind Vorteile. Viele Menschen jedoch werden jedoch nach der Analyse ihres Genoms durch das Wissen möglicher zukünftiger Krankheiten beunruhigt und

145

10.

Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung

geängstigt. Ein Mensch hat sein Genom entschlüsseln lassen ’ 10. Er erfährt, dass er 248 genetische Varianten in sich trägt, die sein Risiko erhöhen, an 77 verschiedenen Leiden zu erkranken. Er hat seine glückselige Unwissenheit verloren. Optimisten sehen in der Entschlüsselung ihres Genoms einen Schritt vom Fatalismus des Nichtwissens zum Risikomanagement. Wie werden Menschen, die ihr Genom kennen, mit diesem Wissen umgehen? Leben sie jetzt bewusster, essen gesünder, bewegen sich mehr? Oder werden sie zu Patienten im Wartestand?

10.2 Barrieren gegen medizinische Vernunft? Die Medizin ist im Allgemeinen eine rationale Wissenschaft. Kann es da Barrieren gegen medizinische Vernunft geben? Hier seien vier Gefährdungen genannt: unkritisches Denken in Diagnostik und Therapie, Th der medizinisch-industrielle Komplex, Medikalisierung sowie einseitige Fokussierung auf Spezialistentum. Irrationales Verhalten von Ärzten und Patienten, Fortschrittsglaube und zu hohe Erwartungen zeigen Grenzen der Medizin in der Hightech-Ära. Erstens fasse ich unkritisches Denken in Diagnostik und Therapie Th zusammen: Es gibt Unterdiagnostik durch mangelndes ärztliches Wissen. Unterdiagnostik geschieht beispielsweise, wenn bei Rückenschmerzen mit Warnzeichen, mit Zeichen der „Roten Flagge“, keine bildgebenden Verfahren eingesetzt werden. Sehr häufi fig ist Überdiagnostik, wenn bei unkomplizierten Schmerzen der Lendenwirbelsäule gleich Computertomogramm (CT) mit Strahlenbelastung oder magnetische Resonanztomografi fie (MRT) erfolgen. Sie können Befunde zeigen, die mit den aktuellen Beschwerden nicht kausal zusammenhängen und zu unnötigen Operationen führen ’ 11. Oft fordern Patienten unnötige Diagnostik, weil sie glauben, die Diagnostik sei umso besser, je mehr bildgebende Verfahren und andere Tests eingesetzt werden. Die zunehmenden Kapazitäten von Hightech-Geräten verursachen in der Kardiologie Herz-Katheterprozeduren bei Patienten mit stabiler Angina, die ausschließlich mit Medikamenten behandelt werden können. Patienten werden nicht ausführlich über verschiedene Optionen und mögliche Komplikationen informiert. Ungefähr 50 % der Medikamente für Patienten mit chronischen Krankheiten werden nicht richtig eingenommen ’ 12. Viele Kranke fühlen sich

146

Barrieren gegen medizinische Vernunft?

10.2

mangelhaft aufgeklärt und fürchten sich vor Nebenwirkungen. Der Patient will nicht mit der Gebrauchsinformation allein gelassen, sondern von der Notwendigkeit eines Medikaments überzeugt werden. Ärzte sollten sich bewusst sein, wie wichtig für den Erfolg einer Therapie Th „Klima und Atmosphäre“ sind. Vertrauen zum Arzt „potenziert“ auch jedes Medikament der Schulmedizin durch nützliche Placeboeffekte. ff Misstrauen und Unzufriedenheit bedingen oft den Abbruch der Th Therapie, weil sich schädliche Noceboeff ffekte wie Schwindel oder Kopfschmerzen eingestellt haben. Über diese Zusammenhänge sollten bereits Medizinstudenten mehr erfahren. Nur 57 % der nach einem Herzinfarkt aus der Klinik Entlassenen verstanden den Sinn ihrer Medikamente ’ 13. Ein Medikament wird besser akzeptiert, wenn es erklärt wird. Deshalb sollten Medizinstudenten und junge Ärzte in der Kunst belehrt werden, wie die Wissenschaftssprache Pharmakologie in verständliches Umgangsdeutsch zu übersetzen ist. Die zweite Barriere betriff fft den medizinisch-industriellen Komplex. Patienten wollen heute mehr als früher wissen, ob die ihnen rezeptierten Arzneistoff ffe vielleicht durch finanzielle Beziehungen zwischen Ärzten und pharmazeutischen Firmen mitbestimmt werden. Solche Beziehungen haben die Gestalt von Berater- und Fortbildungsredner-Bezahlung, von Mahlzeiten, Geschenken für Ärzte und von Reisen zu Kongressen. Sollen diese Beziehungen publik gemacht werden? Einige Ärzte sehen ein solches Off ffenlegen als Angriff ff, andere als notwendigen Schritt, die berufl fliche Identität wiederherzustellen. Firmen, deren primäres Interesse der Profi fit ist, mögen eine solche Off ffenlegung als Gefährdung des gegenwärtigen Modells betrachten, da sie Medikamente und Geräte vermarkten und Ärzte beschenken ’ 14. Medizinische Fortbildung der Ärzte darf nicht Rednern überlassen werden, die von der Pharmaindustrie bezahlt werden. Unabhängige und kritische Ärzte vermitteln eine rationale Therapie mit Nutzen und Risiken. Wer so beraten wird, verordnet nicht zu viele und geht nicht zu schnell auf neue Medikamente über, die der letzte Pharmareferent und die letzte Firmen-gesponserte Fortbildungsveranstaltung empfohlen haben. Eine dritte Barriere heißt Medikalisierung. Sie bedeutet, dass unser Leben immer mehr von der Medizin kontrolliert wird. Das kann Vorteile haben. So ist zu begrüßen, dass Kranke mit Depression, Übergewicht,

147

10.

Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung

Drogen-Abhängigkeit und Alkoholkrankheit nicht mehr als willensschwach stigmatisiert werden. Auch können sich viele Menschen das Leben ohne Geburtenkontrolle, pränatale Untersuchungen, Vorsorge und Nachsorge nicht vorstellen. Aber es gibt kontroverse Dinge: Gegenwärtige oder frühere Raucher können sich ohne Symptome jährlich oder alle zwei Jahre einer Lungen-Vorsorgeuntersuchung unterziehen. Ein CT soll frühzeitig Lungenkrebs erkennen ’ 15 , das bei 7 % der Teilnehmer ein falsch-positives Ergebnis liefert. Das CT signalisierte Krebs, der nicht bestand. Es resultierten Angst und invasive Prozeduren. Die Strahlenbelastung durch weitere Computertomogramme steigert das Karzinomrisiko. Es wird vorgeschlagen, dass alle Erwachsenen ab dem 20. Lebensjahr ihre Blutfettwerte testen lassen, um einer Arteriosklerose rechtzeitig vorzubeugen. Wenn das Gesamtcholesterin unter 200 mg / dl und das schädliche LDL-Cholesterin unter 130 mg / dl liegen, soll nur im fünfj fjährigen Abstand kontrolliert werden. Da selbst in der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen hierzulande die Gesamtcholesterinkonzentration bei 70 % der Männer und 62 % der Frauen mehr als 200 mg / dl beträgt, gibt es immer mehr Gesunde mit Befunden, die regelmäßig ärztlich überwacht werden müssen. Die Medikalisierung wird ausgeweitet ’ 16. Die Medikalisierung wird auch bei der Vorsorgeuntersuchung mit dem Prostata-spezifischen fi Antigen (PSA) deutlich. Gewiss erkennt die Vorsorgeuntersuchung frühzeitig Prostatakarzinome. Aber PSA kann falsch-krankhafte Befunde und bei älteren Männern Überdiagnosen ergeben, die oft mit und nicht an ihrem Prostatakarzinom sterben. Deshalb muss der Arzt off ffen über Pro und Contra des Testens mit PSA aufklären. Kurzfristige Östrogen Ersatztherapie gegen heftige Beschwerden der Menopause ist sinnvoll. Problematisch sind Langzeittherapie, Testosteron und Psychopharmaka als Anti-Aging, Appetitzügler bei Übergewicht und Tranquilizer bei jeder Form von Lebensangst. Es gibt Menschen, die für alle Übel Pillen erwarten, ohne zu bedenken, dass diese „Technophilie“ mit Nebenwirkungen verbunden ist ’ 17. Eine vierte Barriere wird durch einseitige Fokussierung auf Spezialistentum gebildet. Der Fortschritt führt zur Spezialisierung. Sie ist notwendig und hat Vorteile für den Patienten. Kardiologie, Gastroenterologie und Onkologie, um nur diese zu nennen, bedingen bessere Diagnostik und Therapie. Der Kranke benötigt Spezialisten und d Allgemeinärzte, die die Übersicht über verschiedene Krankheiten behalten.

148

Unbestellte Felder

10.3

Wenn heute medizinische Fakultäten vorwiegend auf Spezialisierung und nicht auf Generalisten fokussieren, drohen Gefahren, die schon frühzeitig erkannt wurden: „Jeder Fortschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist das ein Zuwachs an Macht, der in einem fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen … Der Mensch fühlt die Gefahr, wo er das Schicksal jener Riesentierrassen der Vorzeit wiederholen wird, die an ihrer Größe zugrunde gegangen sind“ ’ 18. Diese Sicht ist vielleicht zu pessimistisch, aber das Ziel „gute Hausärzte“ muss bereits von medizinischen Fakultäten früh gefördert werden. Sonst wird es möglicherweise keine Hausärzte mehr geben.. Zu Beginn des Medizinstudiums denken noch viele Studenten, der Hausarzt sei der eigentliche Arzt, aber vier Jahre später hat sich bei vielen die Sicht gewandelt ’ 19. Die große Einkommensdiskrepanz zwischen Primärärzten und Spezialisten ist eine Ursache dafür, dass immer mehr Studenten Spezialisten werden wollen und die ärztliche Versorgung der ländlichen Bevölkerung gefährdet wird. Es wäre eine Aufgabe medizinischer Fakultäten, Studenten für den Beruf des Allgemeinarztes, der Innere Medizin, Neurologie, Kinderheilkunde und Familienmedizin einschließt, zu begeistern.

10.3 Unbestellte Felder Die Medizin beackert unermüdlich vor allem ein Feld, das von Naturwissenschaft und Technologie. So erfolgreich diese Strategie ist, so ist zu fragen, ob es nicht andere Felder gibt, die für den Arzt und eine Patientzentrierte Medizin von Interesse wären. Ich nenne hier drei: Philosophie, Literatur und Religion. Philosophie befasst sich mit Grund-, Lebens- und Grenzfragen. Solche Fragen werden auch in der Medizin gestellt. Muss der Arzt alles tun, was technisch möglich ist? Es ist Aufgabe der Ethik, hierauf angemessen Antworten zu finden. Ganzheitliches Denken wurde bereits von Platon ’ 20 empfohlen: „So wie man nicht versuchen sollte, die Augen ohne den Kopf oder den Kopf ohne den ganzen Leib zu heilen, so auch nicht den Leib ohne die Seele. Das sei auch der Grund, weshalb bei den Griechen die Ärzte gegen die meisten Krankheiten machtlos seien, weil sie nämlich das Ganze nicht kennen …“

149

10.

Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung

Ärzte begleiten oft Sterbende. Die Vorstellung, bald nicht mehr zu sein, kann schrecken. Wie haben Philosophen, beispielsweise Epikur (341 – 271), darüber gedacht? Epikur schreibt in einem Brief an Menoikeus ’ 21 : „Das schmerzlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn so lange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten.“ Viele Menschen wird diese Philosophie nicht befriedigen, sie bevorzugen den religiösen Trost eines postmortalen persönlichen Weiterlebens. Nicht nur Philosophie, auch Literatur kann dem Arzt helfen. Naturwissenschaften erklären Krankheitsmechanismen, Literatur trägt dazu bei, Kranke zu verstehen. Schriftsteller, beispielsweise Anton Tschechow, der selbst Arzt war, schildern Geschichten wie der Patient während der Anamnese seine persönliche Geschichte erzählt. Es ist ein großer Unterschied zwischen dem „Mammakarzinom in Zimmer 24“ und dieser Kranken, die drei Kinder bei Angehörigen zurücklassen musste und deren Laden ein Freund während ihres Klinikaufenthalts weiterführt ’ 22. Literatur steht dem Arzt bei der Individualisierung seines Umgangs mit Kranken bei. Die Religion hat es mit Glauben, die Medizin mit Wissen und naturwissenschaftlichen Gesetzen, nicht mit Wundern zu tun. Und doch spielt der Glaube auch in der Medizin eine versteckte, gleichwohl aktive Rolle. Wäre es nicht so, könnten Heilerfolge der alternativen Medizin nicht erklärt werden. Der Schulmediziner könnte viel daraus lernen: Seine Interventionen sind wertvoll. Wenn der Patient darüber hinaus an ihre Wirkung glaubt, wird das Ergebnis besser sein. Es gehört zu den unbestellten Feldern der Medizin, Studenten die Macht der Placeboeffekte ff nicht zu vermitteln. In einer deutschen medizinischen Fakultät lehren ein katholischer und evangelischer Theologe. Sie unterstützen Ärzte der Palliativmedizin, fühlen sich jedoch nicht als „theologische U-Boote“ ’ 23. Sie wollen nicht Patienten am Lebensende missionieren, sie predigen keine bestimmte Konfession. Das Zwischenmenschliche ist den beiden Geistlichen wichtig. Viele Ärzte brauchen da Nachhilfe. Formeln und Sprüche wie „Denken Sie mal positiv!“ sind nicht nützlich. Fundamentalistische Religion ist indessen problematisch: Ärzte, die sich selbst als sehr religiös beschreiben, diskutieren viermal weniger als nichtreligiöse Ärzte über

150

Nur Gesundheitsreform oder auch Reform der Medizin?

10.4

die Beendigung von Techniken, die den Sterbeprozess verlängern. Aber Patienten sollten, solange sie dazu fähig sind, in Entscheidungen einbezogen werden. Damit sie im Interesse ihrer Patienten handeln, müssten sich Ärzte besser erkennen, um sich von Vorurteilen zu befreien. Bereits im Apollo-Tempel des alten Griechenland war auf einem Stein zu lesen: „Erkenne dich selbst!“ ’ 24. Manche Krebspatienten und andere Schwerkranke kämpfen in den letzten Lebensmonaten mit Fragen der Sterblichkeit und des Lebenssinns. Einige beziehen sich in dieser Situation auf die in einer Glaubensgemeinschaft organisierte Religion, andere fi finden Halt durch eine konfessionell ungebundene Spiritualität. Wenn der Kranke es wünscht, kann der Arzt einen Geistlichen bitten, Trost und Beistand zu leisten. In den Dokumenten der Religion begegnen wir Lebensweisheit, Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und Menschenfreundlichkeit. Ein Empfi finden der Allgegenwart Gottes mag die Angst vor dem Tod mildern. Es darf jedoch nicht verschwiegen werden: Religion wirkt sich nicht nur positiv aus. Frühere Höllenvorstellungen oder der Glaube, Gott strafe mit der Krankheit, verursachten Angst und Depression. Dagegen wehrte sich bereits Hiob. Als ihm seine drei theologisch gebildeten Freunde einreden wollen, seine schweren Leiden seien durch Schuld und Sünde entstanden, erwidert er: Ihr seid „alle unnütze Ärzte, wollte Gott, dass ihr geschwiegen hättet, so wäret ihr weise geblieben“ (Hiob 13, 4 – 5).

10.4 Nur Gesundheitsreform oder auch Reform der Medizin? Die Medizin ist teuer geworden, vielleicht wird sie eines Tages unbezahlbar. Zu den Kosten tragen neue Interventionen und Therapien Th sowie die Alterung der Gesellschaft bei. Nach monatelangem Ringen hat sich 2010 die Regierung aus CDU und FDP auf eine Gesundheitsreform geeinigt ’ 25. Das Notprogramm soll das 2011 drohende Finanzloch durch Zusatzbelastungen für Beitrags- und Steuerzahler stopfen. Die Krankenkassen werden 2011 ein Defizit fi von 11 Milliarden Euro einfahren, was dazu führt, dass einigen Kassen die Insolvenz droht. 2011 müssen Arbeitnehmer statt 7,9 % des Bruttolohns 8,2 % zahlen. Zwei Milliarden Euro schießt der Bund aus Steuergeldern zu. Nun gibt es unvermeidbare und vermeidbare Ursachen der Kostensteigerung im Gesundheitswesen. Die vermeidbaren Ursachen können nur von Ärzten abgestellt werden.

151

10.

Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung

Dazu wäre ein neues Denken, eine Reform der Medizin, nötig. Unvermeidbare und vermeidbare Ursachen der „Kostenexplosion“ sind in der Tabelle zusammengestellt. Ursachen der medizinischen Kostenexplosion Unvermeidbare Ursachen

Vermeidbare Ursachen:

Fortschritte der Medizin Alterung der Bevölkerung Zunehmende Spezialisierung

Unkritische Diagnostik Medizinisch-industrieller Komplex Fehlende Patient-zentrierte Medizin Medikalisierung ohne Maß

Tabelle: Unvermeidbare und vermeidbare Ursachen des Milliarden Defi fizits im Gesundheitswesen

Obwohl Anamnese und eine Untersuchung von Kopf bis Fuß wichtige diagnostische Erkenntnisse liefern und zugleich therapeutisch wirken, widmen die Ärzte ihren Patienten zunehmend weniger Zeit; während hingegen die Hightech-Medizin Raum gewinnt, verliert das Gespräch an Bedeutung. In Deutschland währt die Sprechstundenzeit in der Arztpraxis knapp acht Minuten, noch knapper sind die Kontakte im Krankenhaus bemessen. Stationsärzte halten sich durchschnittlich vier Minuten am Krankenbett auf und beschäftigen sich rund zwanzig Sekunden mit den Angehörigen ’ 26. Die flüchtigen Kontakte stehen in Kontrast zu einem langen Arbeitstag der Ärzte, der elf Stunden oder noch länger dauern kann. Lukrativer als Beratung und Patient-zentrierte Medizin sind technische Leistungen, wie Ultraschall, Herzkatheter, Endoskopien. Die heute sehr populäre alternative Medizin ist eine Reaktion auf die Hightech-Medizin. Heute besteht eine paradoxe Situation: Anamnese und Patient-Arzt Kommunikation treten in den Hintergrund, obwohl gerade in der Hightech-Medizin mehr Gespräche notwenig sind: Über Nutzen und Risiken diagnostischer und therapeutischer Interventionen, über Alternativen und Optionen. Spezialisten, beispielsweise Kardiologen, Gastroenterologen und Onkologen, werden durch diagnostische und therapeutische Techniken zunehmend zeitlich absorbiert, sodass Anamnese und unmit-

152

Nochmals Patient und Arzt: Ausblick mit Hoffnung

10.5

telbare Untersuchung ins Abseits gedrängt werden, obwohl gerade sie zu einer guten Diagnostik und ganzheitlichen Medizin beitragen. Ich habe in Abschnitt 2 dieses Kapitels einige Barrieren genannt; wenn eine Reform der Medizin gelingen soll, müssen sie abgebaut werden und zwar durch: ò Kritische Anwendung von Tests und bildgebenden Verfahren, die Unnötiges und Überfl flüssiges vermeidet, ò Ein ausgeglichenes Verhältnis von Spezialisten und Generalisten. Die Zahl älterer Patienten steigt. Sie haben meist mehrere komplexe Krankheiten, die alle zu berücksichtigen sind. ò Eine objektive Therapie, Th die sich vom medizinisch-industriellen Komplex unabhängig macht. Bis heute beziehen Ärzte ihr Wissen über Arzneimittel hauptsächlich über Firmenvertreter und Industrie-gesponserte Vorträge ’ 27. ò Patient-zentrierte Medizin, die Therapie erklärt und verständlich vermittelt. Dadurch wird das Vertrauen der Kranken gestärkt. Kräftige Placeboeff ffekte addieren sich auf diese Weise zu der biochemischen Aktion des verordneten Medikaments. ò Vorurteilslose Diskussion der modernen Medikalisierung, die Lichtund Schattenseiten hat. Nicht nur eine Medikalisierung, auch eine Entmedikalisierung kann nützlich sein. Eine solche Entmedikalisierung ist teilweise bereits geschehen: Die Menopause der Frau wird nicht mehr zur Krankheit erklärt. Homosexuelle gelten nicht mehr als Kranke, die psychotherapiert werden müssen.

10.5 Nochmals Patient und Arzt: Ausblick mit Hoffnung Im Jahre 2010 wurde gezeigt, dass nur 18 % der Klinikpatienten den Namen des Stationsarztes kannten ’ 28. 90 % dieser Patienten sagten, dass ihnen die Nebenwirkungen ihres in der Klinik neu verordneten Medikaments nicht erklärt wurden. Zwar steht Patient-zentrierte Medizin noch nicht auf der Agenda naturwissenschaftlich-technischer Medizin, aber es ist zu hoff ffen, dass sich langsam das Bewusstsein der Ärzte dafür schärft, welchen Einfl fluss die Arzt-Patient-Beziehung auf das Ergebnis einer Behandlung hat ’ 29. Wenn der Arzt positive Kontextfaktoren, Freundlichkeit, Zuhören, geduldige Beantwortung von Fragen, beachtet, laufen die Patienten nicht mehr zu einem alternativen Therapeuten.

153

10.

Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung

Ärztliche Arroganz hingegen schüchtert Kranke ein. Ärztliche Demut erscheint altmodisch, als Schwäche und Fehlen von Selbstvertrauen, aber das Gegenteil ist der Fall. Demut manifestiert sich als unerschrockene Selbsterkenntnis und Fähigkeit zur Selbstkritik, als empathische Offenff heit gegenüber Patienten und als Dankbarkeit, Arzt sein zu dürfen ’ 30. Zu hoff ffen lässt auch die wachsende Bedeutung medizinischer Ethik ’ 31. Zur medizinischen Ethik gehört die Patientenautonomie, d. h. seine Selbstbestimmung. In diesem Zusammenhang ging der Medizinethiker Hartmut Kreß erhellend auf geschichtliche Ursprünge Patient-zentrierter Medizin ein ’ 32 : Eine alte hippokratische Formel heißt: „Salus aegroti suprema Lex“ – das Wohl des Kranken soll für den Arzt das höchste Gesetz sein. Hartmut Kreß macht nun darauf aufmerksam, dass der Dermatologe Ernst Schweninger (1850 – 1924), der Leibarzt des Reichskanzlers Bismarck, den hippokratischen Aphorismus wie folgt übersetzte: „Die Ärzte sind der Kranken wegen da, nicht die Kranken um der Ärzte willen!“ Heute müsste es allerdings heißen: „Salus ex voluntate aegroti suprema Lex“ – das Wohl, so wie es der Wille des Patienten ist, soll für den Arzt das höchste Gesetz sein. „Hiermit wird die Patientenautonomie ins Spiel gebracht – d. h. das Recht jedes Patienten auf Selbstbestimmung, sein Persönlichkeitsrecht, seine Befugnis, über Fragen seiner Gesundheit, Krankheit und seines Sterbens aus eigener Einsicht und im Horizont des persönlichen Lebens- und Werteinstellung heraus zu entscheiden“ ’ 32. Selbstbestimmung ist heute unumgänglich geworden, doch konfrontieren Krankheit und Sterben den Patienten mit Fragen, die oft schwer zu beantworten sind. Es mag sich dabei um genetische und andere Vorsorgeuntersuchungen, um verschiedene TherapieoptiTh onen beim Prostatakarzinom oder um die Abfassung einer Patientenverfügung handeln. Dazu wird eine objektive und einfühlsame ärztliche Beratung benötigt. Wenn Ethik und Patient-zentrierte Medizin Hand in Hand gehen, ist auf eine Reform zu hoff ffen. Sie ist von Menschen zu erwarten, die an einer kritischen und zugleich menschlich-verstehenden Medizin interessiert sind. Dann wird klar werden: Diagnose und Th Therapie brauchen mehr Anamnese, Gespräch und Beratung, Hightech benötigt Augenmaß, naturwissenschaftlich-technische Medizin ist durch Patient-zentrierte Medizin zu ergänzen.

154

Literatur

10.5

Literatur ’1 ’2 ’3 ’4

’5 ’6

’7 ’8 ’9 ’ 10 ’ 11

’ 12 ’ 13

’ 14 ’ 15 ’ 16

’ 17 ’ 18 ’ 19 ’ 20

Der Große Brockhaus in 20 Bänden. Artikel: Prometheus, Titanen. Brockhaus, Leipzig 1928 Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. Artikel: Pandora, Prometheus. Bibliographisches Institut, Mannheim 1978 Käppner J. Im Reich der tausend Tasten. SZ 20./ 21. November 2010 Rubner J. War da was? Optimismus statt Verzweiflung: Der grenzenlose Glaube an Technik lässt Amerikaner Umweltkatastrophen einfach vergessen. SZ 6. August 2010 Der Große Brockhaus in 20 Bänden. Artikel: Comte, Positivismus. Brockhaus, Leipzig 1928 Blawat K. Jagd auf Mikroben. Vor 100 Jahren starb Robert Koch – die Wissenschaft verdankt ihm bahnbrechende Entdeckungen ebenso wie den ersten Pharmaskandal. SZ 27. Mai 2010 Fuchs VR. New priorities for future biomedical innovations. N Engl J Med 2010; 363: 704 – 706 Müller OA. Ein schier unübersehbares Arsenal. SZ 5. November 2010 Ashley EA, Butte AJ, Wheeler MT et al. Clinical assessment incorporating a personal genome. Lancet 2010; 375: 1525 – 1535 Schmidt C. Das Buch der Bücher. SZ 11. August 2010 Jensen MC, Brant-Zawadzki MN, Obuchowski N et al. Magnetic resonance imaging of the lumbar spine in people without back pain. N Eng J Med 1994; 331: 69 – 73 Marinker M, Shaw J. Not to be taken as directed. BMJ 2003; 326: 348 – 349 Calkins DR, Davis RB, Ruley P et al. Patient-physician communication at hospital discharge and patients understanding of the postdischarge treatment plan. Arch Intern Med 1997; 157: 1026 – 1030 Campbell EG. Public disclosure of conflicts of interest. Arch Intern Med 2010; 170: 667 Crosswell JM, Baker SG, Marcus PM et al. Cumulative incidence of false-positive test results in Lung cancer screening. Ann Intern Med 2010; 152: 508 – 512 Wieland E. Fettstoffwechselstörungen. Diagnostik – Intensivierung der Frühdiagnostik. – Prävalenz und Inzidenz. In: Schauder P. Berthold H, Eckel H, Ollenschläger G (Hrsg): Zukunft sichern: Senkung der Zahl chronisch Kranker. Dtsch Ärzteverlag, Köln 2006: 169, 175 Siegel-Watkins E. Technophilia and the pharmaceutical fix. Lancet 2010; 376: 1638 – 1639 Musil R. Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Reinbeck 1978: 154 Ganguli I. The case of primary care – A medical student’s perspective. New Engl J Med 2010; 363: 207 – 209 Platon. Frühdialoge. Charmides, eingeleitet von O. Gigon. Artemis, Zürich 1960: 46 f.

155

10.

Medizin ohne Grenzen? Rückschau und Zusammenfassung ’ 21 ’ 22 ’ 23 ’ 24 ’ 25 ’ 26 ’ 27 ’ 28 ’ 29 ’ 30 ’ 31 ’ 32

156

Epikur. Von der Überwindung der Furcht. Artemis, Zürich 1968: 102 f. Mac Gregor R. Striving for a more holistic view of our patients. Lancet 2001; 358: 250 – 251 Frank C. Die Seele im Blick. SZ 30. August 2010 The Lancet. Physician, know thyself. Lancet 2010; 376: 743 Bohsem G. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. SZ 7. Juli 2010 Lutterotti N. v. Sprechminute bei Dr. Schweiger. Natur und Wissenschaft. FAZ 22. 10. 2010 Spatz ES, Gross CP. Moving reform to the bedside. Involvement of individual physicians. JAMA 2010; 305: 1305 – 1306 Olson DP, Windisch DM. Communication discrepancies between physicians and hospital patients. Arch Intern Med 2010; 170: 1302 – 1307 Jütte R, Gerst T. Interview mit Robert Jütte. Die Arzt-Patient-Interaktion ist ganz zentral. Dtsch Ärztbl 2010A; 107: C1207 – 1208 Coulehan J. On humility. Ann Intern Med 2010; 153: 200 – 201 Kreß H. Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz – Selbstbestimmungsrechte – heutige Wertkonflikte. 2. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2009 Kreß H. Patientenautonomie und ärztliche Verantwortung im Licht dialogischer Ethik. Referat auf dem 11. Mannheimer Ethik-Symposium am 6. November 2010 in der Universität Mannheim

Personenregister

Ackerknecht EH. 20 Alexander F. 92

Hippokrates 20, 154 Hoff ffmann H. 110

Bernard C. 30 Borasio GD. 139 Bovenschen S. 117 Buddha 135 Burger R. 52

I llich I. 104

C anetti E. 99

K afka F. 57, 92

Charcot JM. 20 Comte A. 144 f. Cranach L. 119 Crick F. 11

Kant I. 22, 53 f. Koch R. 20, 144 Krehl L. von 88 Kreß H. 22, 38, 132, 154 Kuschinsky G. 50 Kutner L. 130

Descartes R. 12, 30, 89

Jackson JH. 35 Jaspers K. 77, 84, 91 Jean Paul 89

Epikur 61, 150

L eyden E. von 11, 30

F laßpöhler S. 140 Freud S. 92

Marc Aurel 135

Gadamer H-G. 117 Goethe JW. 75, 90 Griesinger W. 100, 109 Gruchmann L. 134

Marshall B. 51 Martini P. 32 Miller A. 92 Mitscherlich A. 92 Montaigne M. 117 f. Morant GS. de 82

N ietzsche F. 44, 92, Hahnemann S. 72 f., 76 Heidegger M. 44

Paulus 99, 135 Pinel P. 99 f. Platon 135, 149 Plügge H. 97 Popper KR. 31

120, 138

Pasteur L. 11, 20

Reil JC. 100 Reinwein H. 44 Rokitansky K. 51 Rousseau JJ. 77 Saunders C. 133 Scharon A. 132 Schopenhauer A. 140 Schweitzer A. 99 f., 120 Schweninger E. 154 Siebeck R. 88 Skoda J. 51 Sontag S. 91 Steiner R. 75 Tschechow A. 92, 150 Uexküll T. von 92 Virchow R. 144 Warren R. 51 Watson JD. 11 Weizsäcker V. von 90, 91

157

Sachregister

A kupunktur 70 ff ff., 79 ff., 105, 112 Allgemeinarzt, Hausarzt 12, 17, 77, 107, 112, 148 f. Alter und Altern 115 ff. ff Alternative Medizin 70 ff., 152 Anamnese 13 f., 16, 21, 34 ff., ff 73, 78, 90, 150 f. Angehörige 12, 43, 46 f., 101, 109, 120 f., 129 f., 150 f. Anthroposophie 70, 75 ff., 105 Anti-Aging 108, 119, 148 Apparatemedizin 13, 24, 38, 72 Arzneimittelmarkt 52 Arzneimittelnebenwirkungen 107 Arzneimitteltherapie 14, 53 f., 64 Arzt als Anbieter 25 Arzt und Patient 22, 57 Arzt: Arroganz oder Demut 154 Arztbeihilfe zum Suizid 139 f.

158

Aufgaben im Alter 125 Aufklärung 17, 22, 32, 57, 63, 98 Autonomie 131

Euthanasie 128, 134 f. Evidenz-basierte Medizin 31 f., 58, 62, 70, 76, 83

Beratung 23, 27, 33,

Falsififizierbarkeit 31

38, 41 f., 62, 66, 97 f., 106 f., 111 ff., 152 f. Berührung 43 f., 76 f. Beschwerden ohne Befunde 95 ff. ff Bildgebende Verfahren 13, 31 f., 55, 65, 73, 82, 95, 105, 109, 146 Burn-out 28

Fortschritte 38 ff., 52, 82, 105 ff., 152, 154 Freitodhilfsorganisationen 140 Funktionelle Störungen 66 f., 72 f., 82, 96 f. Fürsorge 22 f., 131 ff ff., 140

Ganzheitlichkeit 71 f., C hinesische Medizin 79 ff. ff Chronische Krankheiten 17, 97, 116, 128 Compliance 58

Doppelblindstudien 54 f., 83 DRG-System 15 ff., ff 45, 56

E ntscheidungsfifindung 22 Esoterik 75 Ethik 93,120, 132, 144 f.

84 f. Genetik 30, 38 f., 97, 154 f. Gespräch 22 f., 32, 36, 44 f., 53, 58 f., 66, 73, 107 f. Gesundheit 13, 25, 32, 60 f., 79, 104, 116 f. Gesundheitsparadox 13 Gesundheitsreform 8, 64, 151 Glaube 24, 43, 82 f., 93, 98 f., 112, 119, 128, 134 f., 144

Sachregister

Heilpflanzen fl 77 Heilsversprechen 118 Hightech 8, 13, 16, 21 ff., 44, 53 ff., 84, 105 f., 111, 130, 138, 143 ff., 152 f. Hoff ffnung 153 Höllenvorstellungen Sterbender 151 Homöopathie 70 ff., ff 80, 83 f., 105, 112 Homosexualität 105 Hormonersatztherapie 50, 65 Hospizbetreuung 129, 132 f.

L ebensstil 37, 39 f., 60 f., 97, 122, 125

Medikalisierung 14, 96, 104 ff., 132, 146 ff. Medizin, krankheitszentrierte 8, 17, 27 ff. Medizin, Patientzentrierte 8, 12, 17, 27 ff., 41, 59, 84, 112, 136, 149, 152 ff ff. Medizinische Ethik 132, 154 Medizinisch-industrieller Komplex 14, 61 ff., 152 f.

I ndividuelle Gesundheitsleistungen (IGel) 25, 60, 112 Interessenkonflikt fl 36, 45, 63

Kommunikation 15, 21, 26, 33, 46, 71, 129, 131, 152 Kontextfaktoren 20, 55 f., 71 f., 83, 153 Kosten der Medizin 13 ff., 37, 64 f., 151 Kostenexplosion 12, 14, 152 Krankenhaus 14 f., 24, 36, 44, 59, 119 f., 123 ff., 152 Künstliche Ernährung 120, 131

Natur 52 f., 72, 77 ff., 135, 144 Naturwissenschaft 11, 17, 30, 85, 90, 144, 149 f. Nebenwirkungen 8, 17, 21, 36 f., 46, 50 ff., 101 ff. Neuroenhancer 111 Nihilismus 51, 59, 118 ff ff. Nocebo 53 f., 147

Palliative Betreuung 46, 59, 129 ff. ff Paternalismus 22 Patienten-Autonomie 154 Patientenverfügung 23, 47, 130 ff. ff

Pfl flanzenmedizin 77 ff. Pfl flegeheim 46, 116, 120 ff ff. Pharmaindustrie 13 f., 63, 107, 147 Placeboeff ffekte 32, 54 ff., 62, 65 ff., 74 ff., 122, 147, 150 f. Polypille 109 Psychiatrie und Körpermedizin 99 f. Psychosomatik 20, 83, 88 ff. ff

R ationierung 60, 65 Reform der Medizin 8 f., 64, 151 Religion 30, 75, 128, 135, 149 ff ff. Rote Liste 52, 60, 76, 78 Routine Check-up 105 ff ff.

S chulmedizin 13, 24, 30 ff., 70 ff., 82 ff., 147, 150 Sedierung, palliative 134 f. Seelsorger 134 ff. ff Selbstbestimmung 22 ff., 50, 58, 94, 131 ff., 154 Sexualität 14, 50, 104, 117 Soziale Ungleichheiten 93 ff. ff Spezialisierung 11 f., 42, 89, 123, 154 f.

159

Sachregister Spiritualität 151 Sprechstunde 17, 24, 60, 109, 112 Sterben, gutes und schlechtes 128 ff ff. Stress 51, 84 ff., 115, 119 Superplacebo 82 f. Suizid 41, 95, 111, 123, 136, 139 ff. ff

160

Technologie 13, 37, 44, 77, 130, 137, 149 Therapie, personalisierte 41

Vorsorgeuntersuchung 13, 36, 106, 112, 148, 154

Wachkoma 23, 131, Umgang mit Krankheit 98 Unter- und Überdiagnostik und -therapie 8, 34, 106, 146

137 Wahrheit am Krankenbett 98, 130