Verletzliches Leben: Horizonte einer Theologie der Seelsorge [1 ed.] 9783666624407, 9783525624401


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Verletzliches Leben: Horizonte einer Theologie der Seelsorge [1 ed.]
 9783666624407, 9783525624401

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Andrea Bieler

Verletzliches Leben Horizonte einer Theologie der Seelsorge

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 90

Andrea Bieler

Verletzliches Leben Horizonte einer Theologie der Seelsorge

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-666-62440-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Für Hans-Martin

Vorwort

Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, das Thema der Verletzlichkeit als grundlegende Perspektive einer Theologie der Seelsorge zu entfalten. Es greift den interdisziplinären Vulnerabilitätsdiskurs auf und versucht, ihn pastoraltheologisch fruchtbar zu machen. Dabei wird insbesondere die Leibphänomenologie, aber auch kritische Theoriebildung zum Thema herangezogen und in den praktisch theologischen Gesprächszusammenhang eingespeist. Die Vulnerabilitätsthematik wird dabei als ein Horizont vorgestellt, vor dem grundlegende biblisch und systematisch theologische Themen im praktisch theologischen Interesse neu durchbuchstabiert werden können. Auf diese Weise wird die Rede vom verletzlichen Leben theologisch qualifiziert und in ihrer Praxisrelevanz konturiert. Das Buch richtet sich an Lesende, die dieses zentrale Thema der Seelsorge theologisch weiter vertiefen wollen. Aufgrund des gewählten Zugriffs stellt es weder ein praktisches Seelsorge-Manual dar noch will es ein Handbuch sein, das überblicksartig in die Seelsorgelehre einführt. Die ersten Skizzen zu diesem Buch sind noch während meiner Tätigkeit an der Pacific School of Religion in Berkeley (Kalifornien) entstanden. Diese Verortung ist in einigen Beispielen reflektiert, die dem US-amerikanischen Kontext entstammen. Die Beispiele wurden allerdings so ausgewählt, dass sie auch für den deutschen Kontext von Interesse sind. Die Skizzen wurden an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal/Bethel weiter vertieft. An beiden Orten habe ich eine Reihe von Lehrveranstaltungen abhalten können, in denen ich mit Studierenden grundlegende Thesen, die dieser Studie zugrunde liegen, diskutieren konnte. Ich danke den Studierenden, die sich auf offene Diskussionsprozesse eingelassen haben und mich herausgefordert haben, meine im Fluss befindlichen Gedanken klarer zu formulieren. In den Wuppertaler Gesprächszusammenhängen war es insbesondere mein Kollege Joachim von Soosten, mit dem ich Überlegungen, die diesem Buch zugrunde liegen, hin und herwenden konnte; ich bin froh, einen so kreativen und gelehrten Theologen getroffen zu haben, der in unvergleichlicher Weise Lust am gemeinsamen theo-

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Vorwort

logischen Denken hat. Darüber hinaus haben mich die Gespräche mit meiner Kollegin Michaela Geiger immer wieder herausgefordert und inspiriert, meine biblisch-theologischen Überlegungen zu überdenken und neu zu formulieren. Ich danke ihr für das genaue Lesen und für ihr konstruktives Feedback. In meinen Wuppertaler Jahren haben sich weitere kollegiale Beziehungen entwickelt, die ich als bereichernd erlebt habe. Ich danke besonders Heike Walz, Ángel Méndez Montoya, Angelika Veddeler, Bertold Klappert, Holger Pyka, Johannes von Lüpke, Matthias Stracke und Norma Lennartz. Ich danke der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel für die Gewährung eines Forschungssemesters sowie der Pacific School of Religion, die mir eine wunderbare „Writing Retreat“ während meiner Zeit als Gastprofessorin in Berkeley im Sommersemester 2015 ermöglicht hat; hier richtet sich mein Dank insbesondere an Bernie Schlager, David Vásquez-Levy, Odette Lockwood-Stewart, Inese Radzins und Julia Prinz. Die Endphase dieses Projektes wurde dankenswerterweise durch ein Forschungsstipendium der John Templeton Foundation unterstützt. Dieses Stipendium ermöglicht mir, an dem internationalen und interdisziplinären Forschungszusammenhang The Enhancing Life Project unter der Leitung von William Schweiker (University of Chicago) und Günter Thomas (Universität Bochum) teilzunehmen. Die Gruppe von Forschenden, die sich hier versammelt, ist in besonderer Weise der Vulnerabilitätsforschung verpflichtet, die die Resilienz, Kreativität und Innovationskraft von Individuen und sozialen Systemen sowie die Rolle von Religion in diesem Zusammenhang erforscht. Ich bin insbesondere Pamela Sue Anderson (Oxford) für viele intensive Gespräche dankbar. Birte Bernhardt, Lisa Ketges und Johanna Güntter haben mich im Rahmen ihrer Tätigkeit am Lehrstuhl für Praktische Theologie in kompetenter, zuverlässiger und herzlicher Weise bei den Korrektur- und Recherchearbeiten unterstützt. Für die unverzichtbare Hilfe beim Erstellen der Druckvorlage und des Registers danke ich Anke Leopold. Die Universität Basel hat die Veröffentlichung dieses Bandes dankenswerterweise durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt. Darüber hinaus danke ich Christoph Spill und Moritz Reissing vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die konstruktive Zusammenarbeit sowie den Herausgebenden der Reihe Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie für die Aufnahme des Bandes. Ich widme dieses Buch meinem Kollegen Hans-Martin Gutmann, mit dem ich eine lange gemeinsame Wegstrecke über alle Distanzen hinweg gegangen bin.

Vorwort

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Unseren Austausch und unsere Freundschaft habe ich immer als ein großes Geschenk erlebt. Andrea Bieler

Basel, im Februar 2017

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körper-Haben und Leib-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . Affizierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Potenzialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Materialisierungen situativer Vulnerabilität . . . . . . . . . . . . . . . Die Grammatik politischer Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Herausforderungen: Autonomie jenseits der Verletzlichkeit? . Kulturelle Repräsentationen: (Un)verwundbare Helden . . . . . . . .

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3. Schatten der Verletzlichkeit: Gottesbilder und -vorstellungen in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaginationsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der affizierbare Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufwallende Mitgefühle im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . Die Apatheia Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vulnerabler Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzliche Geistkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologische Deutungen leiblicher Verletzlichkeit . . . . . . . . . .

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4. Oszillierende Verletzlichkeit: Der Raum des Pathischen in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seelsorge zwischen Logos und Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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5. Responsivität im Horizont der Verletzlichkeit: Der Fluss des Erzählens in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erzählte Welt des Krankseins . . . . . . . . . . . . . . . . Unterbrechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphorisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählgattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturbildende Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologische und poimenische Resonanzen . . . . . . . . . Das Zerbrechen der Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . Trauma und moralische Verletzung . . . . . . . . . . . . . . Die Wunde umkreisen: Klagepsalmen in der Seelsorge . . . Hoffnungsvolle Imaginationen im Raum des Pathischen . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Logifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seelsorgliches Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Zwischenraum: Das Pathische . . . . . . . . . . . Fragilität und Zerstörung des Pathischen . . . . . . . Leibliche Affizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdheit und Intimität . . . . . . . . . . . . . . . . Engung und Weitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affekte im Raum des Pathischen . . . . . . . . . . . . Der Schmerz: Fremdsein und Vitalität . . . . . . . . Poimenische und theologische Resonanzen . . . . Scham- und Schuldgefühle: Entblößung und Schutz Poimenische und theologische Resonanzen . . . . Mitgefühle: Empathie und Differenzsensibilität . . . Zwischen Pathos, Ethos und Logos . . . . . . . . . Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Verletzlich zu sein, in jedem Augenblick unseres Lebens, ist ein Grundzug menschlicher Lebenserfahrung. Verletzlichkeit wahrzunehmen, sie zu deuten und mit ihr umzugehen ist eine zentrale Aufgabe christlicher Lebenskunst und Theologie. Vulnerabilitätsphänomene sind komplex: sie sind multidimensional, ambivalent und fluide. Sie sind leiblich und strukturell verankert. Vulnerabilitätsphänomene oszillieren in der Lebenswelt, indem verschiedene Aspekte des Leib-Seins-Zur-Welt aus der Potenzialität in die Aktualisierung drängen, aus dem ruhenden Hintergrund in den Vordergrund, aus der Latenz in die Präsenz und vice versa. Dabei entstehen in dynamischer Weise immer wieder neue Konstellationen, in denen die Verletzlichkeit des Lebens eine Gestalt findet. Seit Jahrhunderten befeuern und stören Vulnerabilitätsphänomene die Welt kultureller und religiöser Imagination und symbolischer Repräsentation. Die Erkundung all dieser Dimensionen ist für die Ausarbeitung einer seelsorglichen Theologie bereichernd, in der die Reflexion von Vulnerabilität zum Ausgangspunkt gewählt wird. In der Seelsorgepraxis geht es darum, Menschen inmitten von Vulnerabilitätserfahrungen anzusehen, sie zu trösten und zu bestärken. Dabei werden Aspekte einer Lebenskunst bestärkt oder eingeübt, die darauf zielen, in Freiheit zu leben, z. B.: „das Sondieren von Wünschen, das Wahrnehmen von Spielräumen und ihren Grenzen, das Bilden von Entscheidungen, die Parteinahme für einen Wunsch, der auf diese Weise die Qualität eines Willens erhält, das Abwägen von Möglichkeiten, einem Willen Gestalt zu geben, das Ergreifen der Initiative, das Heraustreten aus dem Prozess des Überlegens in den des Handelns u. a.m.“1 All

1 Wilfried Engemann, Die praktisch-philosophische Dimension der Seelsorge, in: ders. (Hg.), Handbuch der Seelsorge, Grundlagen und Profile, Leipzig 22009, 308–322, 311. Engemann entwickelt seine Vorstellung von der Aneignung eines Willens als Dimension der Seelsorge im Gespräch mit dem praktisch-philosophischen Entwurf, den Peter Bieri vorgelegt hat. Vgl. ders., Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001.

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Einleitung

diese Aspekte gehören nach Wilfried Engemann zur Stärkung einer Lebenskunst, „unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen.“2 Die seelsorgliche Ermutigung, ein Leben aus Leidenschaft zu führen, wird sich in sensibler und kritischer Weise erfahrener Verletzlichkeit zuwenden und danach streben, den Möglichkeitssinn, der einer Situation inhärent ist, aufzuspüren und so die Immanenz der Realitätstüchtigkeit im Hinblick auf transzendierende Perspektiven zu eröffnen. Die Entdeckung des Möglichkeitssinnes, und nicht einfach die Affirmation des Bestehenden, wird so zum Movens seelsorglichen Handelns.3 Vulnerabilitätsphänomene sind ebenfalls in einen Möglichkeitssinn eingebettet, der sowohl somatische und psychische Verletzung beinhalten kann, als auch die Möglichkeit, andere Menschen auf eine Art und Weise zu lieben, in der Hingabe und Freiheit sich einander nicht ausschließen. In diesem Sinne leidenschaftlich zu leben ist immer auch ein risikoreiches Unterfangen. Im Begehren, das sich in den vielgestaltigen Begegnungen mit anderen Menschen entfaltet, in der Enttäuschung über einen Misserfolg, in der Melancholie, in der sich ein unwiederbringlicher Verlust spiegelt ─ der Liebe, der Heimat, einer Vision von Gerechtigkeit oder des guten Lebens ─ in all diesen Lebenserfahrungen zerbröckelt die Illusion des robusten, unaffizierbaren Subjektes. In diesen Labilisierungserfahrungen zeigt sich via negativa vielmehr erst die relationale Konstitution des leiblich situierten Selbst. Oftmals ist es Teil der Verlusterfahrungen, die in der Seelsorge zur Sprache kommen, dass Menschen ihrer selbst gewahr werden und zugleich das Gefühl aufsteigt, sich selbst abhanden gekommen zu sein. In solch ambivalenten Erfahrungen vibriert die Verletzlichkeit des Lebens. Judith Butler beschreibt dies in emphatischer Weise: „Es ist nicht so, als ob hier auf dieser Seite ein ‚Ich‘ unabhängig existiert und dann schlicht ein ‚Du‘ als Gegenüber verliert, besonders dann nicht, wenn die Zuneigung zu dem ‚Du‘ ein Teil von dem ausmacht, wer ‚ich‘ bin. Wenn ich dich unter diesen Umständen verliere, betrauere ich nicht bloß den Verlust, sondern werde mir selbst unergründlich. Wer ‚bin‘ ich ohne dich? Wenn wir einige dieser Bindungen verlieren, durch die wir konstituiert sind, wissen wir nicht, wer wir sind, oder was wir tun sollen.“4 Die Freilegungsbemühungen eines Möglichkeitssinns gehen von einem Verständnis von Vulnerabilität aus, das in der Oszillation der Phänomene einen 2 Engemann, Die praktisch-philosophische Dimension, 311. 3 Diese Perspektive hat in der Seelsorgetheorie insbesondere Henning Luther entwickelt. Vgl. ders., Alltagssorge und Seelsorge. Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens, in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 224–238, 228. 4 Judith Butler, Gewalt, Trauer, Politik, in: dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M. 42012, 36–68, 39.

Einleitung

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Überschuss, eine Unruhe oder ein Transformationspotenzial vermutet, das auf die Lebendigkeit des Lebens selbst verweist. Eine Lebendigkeit, die sich in Krisen zeigt und erlebte Unbeweglichkeit und Erstarrung zu verflüssigen vermag. Dieser Überschuss ist in christlicher Deutungsperspektive zuallererst auf die Lebendigkeit Gottes als bewegten Beweger, als Licht in der Finsternis, bezogen. Diese metaphorischen Ausdrucksbemühungen verweisen auf die Hoffnung auf eine wirksame göttliche Präsenz im Leben verletzlicher Menschen: eine Präsenz, die nicht statisch und abgeschlossen, sondern affizierbar und selbst im Werden begriffen ist; eine Präsenz, die wirksam ist, weil sie auf heilsame Beziehung und somit relational ausgerichtet ist. Eine Seelsorge, die den Möglichkeitssinn des Lebens freizulegen sucht, versteht Gott als die Wirklichkeit des Möglichen, die „im Eröffnen kreativer Lebensmöglichkeiten gegenwärtig ist und so zum verantwortlichen Gebrauch von Freiheit provoziert.“5 Als Geschöpf wird der Mensch zum Ort der Gegenwart Gottes. Er ist von Gott mit einer kreativen Passivität begabt, die auf den Exzess göttlicher Liebe und auf das Überfließen der Gnade bezogen ist.6 Kinder, Frauen und Männer werden zu Geschöpfen, in denen sich Gott als Gott im Zuspiel von Möglichkeiten vergegenwärtigt.7 Der Begriff der kreativen Passivität zeichnet eine prozessuale Qualität in die Vorstellung von Geschöpflichkeit ein: „Dass man Geschöpf wird, geht so jedem Verhalten der Geschöpfe zu ihrem Geschöpfsein voraus. Geschöpf zu werden aber heißt, von Gott begabt und beschenkt zu werden, indem einem Lebensmöglichkeiten zugespielt werden, über die man niemals verfügt, sondern die einem erlauben und ermöglichen, Mensch zu werden und als Mensch mit offener Zukunft zu leben, ohne dass aus der eigenen Herkunft extrapoliert werden könnte, wozu man dabei wird. Wer wir sind, entscheidet sich nicht bei uns, sondern an dem, was wir für andere werden – für andere Menschen, für andere Geschöpfe, und für Gott.“8 In dieser Bezogenheit auf andere Geschöpf zu werden, verweist auf den Möglichkeitsraum, der sich inmitten der Vulnerabilitätsphänomene entfaltet. Nach evangelischem Verständnis können sich alle Christinnen und Christen in diesem Raum göttlicher Präsenz finden lassen und sich dort gegenseitig beiste5 Ingolf U. Dalferth, Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011, 231. 6 Vgl. zur Bedeutung des metaphorischen Feldes „Fluss, Fließen und Überfluss“ für die Ausarbeitung eines Verständnisses von Gnade und Rechtfertigung jenseits der Verengung auf das forensische Paradigma Andrea Bieler/Hans-Martin Gutmann, Die Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008, 68–73. 7 Vgl. Dalferth, Umsonst, 233. 8 Ebd. Der Begriff der kreativen Passivität, der ursprünglich auf Eberhard Jüngel zurückgeht, wird in der gegenwärtigen Diskussion insbesondere von Philipp Stoellger und Ingolf U. Dalferth weiterentwickelt. Er ist für die Entwicklung einer seelsorglichen Theologie im Raum des Pathischen relevant. Vgl. hierzu weiter Kap.4.

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Einleitung

hen, in Gemeinschaft beieinander bleiben und ermutigen.9 Diese Gemeinschaft der Sorgenden ist in besonderer Weise herausgefordert, Vulnerabilitätsphänomene tiefgreifender zu verstehen und zu deuten. Dies hat mit den Phänomenen selbst zu tun. Es geht darum, sie in ihrer Oszillation insbesondere im Hinblick auf die Materialisierung in politischen und ethischen Diskursen in ihrer Relevanz für die Seelsorgepraxis zu verstehen. In dem hier vorgelegten Versuch wird dies in phänomenologischer und theologischer Hinsicht geschehen. Vulnerabilitätsphänomene bewegen sich im Horizont der kreativen Passivität; manchmal liegt der ihnen inhärente Möglichkeitssinn in der Erfahrung der Fragmentierung des Lebens verborgen, manchmal wird das Vergessen, das sich im Trauma ereignet, zum Ort einer kreativen Öffnung. Anne M. Steinmeier spricht von der „Labilisierung für das Unverfügbare des eigenen Lebens das vielfach erst in der Wahrnehmung eigener Verantwortlichkeit, in der Findung eines handlungswirksamen Willens bewusst wird. Manchmal sind weichenstellende Entscheidungen möglich, manchmal bleibt die Einsicht in das Fragmentarische und Unvollendete des Lebens, das so war und ist und vielleicht nicht mehr anders wird.“10 Theologinnen und Theologen sind herausgefordert, das in der Seelsorge Wahrgenommene in einen Coram-Deo-Horizont einzuzeichnen, und so die christliche Tradition alltagstheologisch fruchtbar werden zu lassen. Dies dient zuallererst den eigenen theologischen Klärungsbemühungen, die dann in der Seelsorge ihre Spuren hinterlassen werden. Die Auseinandersetzung mit der Vulnerabilitätsthematik ist dabei auch für die Arbeit an einer christlichen Anthropologie von Bedeutung, die sich für die theologische Grundierung seelsorglicher Praxis interessiert. Theologische Anthropologie befasst sich traditio9 Der Aspekt der gegenseitigen gemeinschaftlichen Ermutigung und Tröstung wird bereits bei Martin Luther stark gemacht. In den Schmalkaldischen Artikeln spricht er von der kirchlichen Aufgabe „per mutuum […] colloquium et consolationem fratrum“, also vom Trost, der im wechselseitigen Gespräch unter Brüdern [sic!] vermittelt wird. Hier wird Seelsorge als Kompetenz und Aufgabe aller Christenmenschen begriffen. (In Absatz III.4 der Schmalkaldischen Artikel: De evangelio, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien. Bd.1: Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers, hg. von Irene Dingel, Göttingen 2014, 864.) (Das zeigt sich auch im heutigen Kirchengesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses der EKD, §2 Abs. 3: „Unbeschadet des Auftrags aller Getauften, Seelsorge zu üben, betraut die Kirche einzelne Personen mit einem besonderen Auftrag zur Seelsorge.“ In dieser Formulierung kommt das Zusammenspiel aller Gemeindeglieder in der Seelsorge gut zum Ausdruck. Es gibt einen allgemeinen Auftrag an alle, einzelne werden zusätzlich besonders beauftragt.) Im Horizont der reformatorischen Rede vom „Priestertum aller Glaubenden bzw. Getauften“ und dem auch für die heutige Zeit im Kirchengesetz formulierten Anspruch, ist es sinnvoll, die evangelische Kirche insgesamt als „Seelsorgebewegung“ zu verstehen. 10 Anne M. Steinmeier, Verwundbare Freiheit – Seelsorge im Spannungsfeld von Lebenskunst und Kontingenz, in: Ruth Conrad/Roland Kipke (Hg.), Selbstformung. Beiträge zur Aufklärung einer menschlichen Praxis, Münster 2015, 143–157, 154.

Einleitung

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nell mit der Deutung der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit sowie der Gott-Mensch-Beziehung im Hinblick auf die Verstricktheit in die Sünde. Im christologischen Horizont wird der Blick auf den befreiten, mit Gott versöhnten, bzw. auf Erlösung harrenden Menschen gerichtet. In der Mehrzahl der theologischen Anthropologien der letzten Jahrzehnte wurde die Vulnerabilitätsthematik auf die Frage der Endlichkeit und damit auf die Deutung der Wirklichkeit des Todes zugespitzt. Seit einiger Zeit lässt sich jedoch auch ein verstärktes Interesse von systematisch theologischer Seite an weiteren materialen Themen entdecken, die mit der Vulnerabilitätsthematik verbunden sind, wie z. B. Kindsein und Altern, der Umgang mit chronischem Kranksein oder Erfahrungen von Traumatisierung und Gewalt. Hinzu tritt eine Auseinandersetzung mit der Welt der Affekte, wie z. B. Scham- und Schuldgefühlen.11 Diese Entwicklungen laden m. E. dazu ein, das lang vernachlässigte Gespräch zwischen Poimenik und systematischer Theologie wieder zu beleben und hoffentlich für beide Seiten fruchtbar zu machen. Diesem Anliegen sind die folgenden Überlegungen verpflichtet. Vulnerabilitätsphänomene werden im Hinblick auf ihre soziale Gestalt derzeit in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert, z. B. in der Sozialpsychologie, der Rechtsphilosophie, der politischen Ethik oder der systemischen Ökologieforschung. In der Naturrisikoforschung werden Vulnerabilitätsphänomene mit Blick auf die Exposition, die Anfälligkeit und die Bewältigungskapazitäten, die sozialen bzw. ökologischen Systemen innewohnen, erforscht.12 Im 11 Hier seien beispielhaft folgende Arbeiten erwähnt: Michael Roth/Jochen Schmidt (Hg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Theologie – Kultur – Hermeneutik Bd.10, Leipzig 2008; Isolde Karle/Günter Thomas (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009; Lena-Katharina Roy, Demenz in Theologie und Seelsorge, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Bd.13, Berlin/Boston 2013; Gunda Schneider-Flume, Alter – Schicksal oder Gnade? Theologische Überlegungen zum demographischen Wandel, Göttingen 2010; Frank Surall, Ethik des Kindes. Kinderrechte und ihre theologisch-ethische Rezeption, Stuttgart 2009. Zu den Affekten vgl. weiter Kap.4. 12 So gibt beispielsweise das Netzwerk Vulnerabilität, das sich mit Fragen des Klimawandels beschäftigt, folgende Definition: „Vulnerabilität ist das Ausmaß, zu welchem ein System oder ein Akteur anfällig ist gegenüber nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels, einschließlich der Klimavariabilität und der Extrema, oder unfähig ist, diese zu bewältigen. Die Vulnerabilität ist abhängig von der Art, dem Ausmaß, der Geschwindigkeit und der Schwankungsbreite der Klimaänderung, welcher das System ausgesetzt ist, sowie der Empfindlichkeit und der Anpassungskapazität des Systems oder des Akteurs.“ www.netzwerk-vulnerabilitaet.de/tiki-index.php?page=Vulnerabilit%C3%A4t+%28Verwundbarkeit% 29 (Stand: 20. 08. 2015). Dieser Definition liegt das Wahrnehmungsraster des Intergovernmental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen zugrunde, das sich auf die folgenden Aspekte konzentriert: Die Exposition (exposure) bezieht sich auf verschiedene Aspekte des Klimawandels, wie z. B. auf Veränderungen der Temperatur, des Niederschlags, von Wetterextremen; die Sensitivität beschreibt die Qualität der Reaktion, die innerhalb eines

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Einleitung

rechtsphilosophischen Diskurs werden die Themen von Autonomie und Gleichheit neu im Lichte der Frage nach dem vulnerablen Subjekt diskutiert.13 Diese Diskurse zu berücksichtigen und in seelsorgetheoretische Überlegungen einfließen zu lassen, ist bedeutsam für die Bearbeitung der ethischen Herausforderungen, von denen auch die Seelsorgepraxis betroffen ist. Dabei geht es um die Wahrnehmung der sozialen Lebenswelten sowie des ökologischen Horizontes, der auf Menschen einwirkt. Der Aufbau des Buches sieht wie folgt aus: Im ersten Kapitel werden phänomenologische Erkundungen vorgestellt, in denen Facetten fundamentaler Vulnerabilität entfaltet werden. Ausgangspunkt sind dichte Beschreibungen der Philosophin S. Kay Toombs, die mit Multipler Sklerose lebt und im Alltag auf einen Rollstuhl angewiesen ist. In ihrer leibphänomenologisch angelegten Selbstreflexion können bereits unterschiedliche Aspekte eines dynamischen Vulnerabilitätskonzeptes ausgemacht werden. Vor dem Hintergrund ihrer Beschreibungen wird ein Verständnis von fundamentaler Vulnerabilität vorgeschlagen, das seinen Ausgangspunkt in der Oszillation von Leib-Sein und Körper-Haben hat und durch Affizierbarkeit, Ambiguität und Potenzialität weiter charakterisiert werden kann. Fundamentale Vulnerabilität verweist auf eine Offenheit hin zur Welt, die das Potenzial der Affizierung in sich trägt. Zur Struktur von Vulnerabilitätserfahrungen gehören Konstellationen, die durch Ambiguität und bestimmte Formen der Potenzialität gekennzeichnet sind, die auch die Dimensionen des Fragmentarischen und der Grenzerfahrung durchdringen. Die Reflexion fundamentaler Vulnerabilität ist darüber hinaus an der Qualität des Pathischen interessiert, die alle Phänomene durchdringt. In der pathischen Dimension der Welterfahrung geht es um die gegenseitige Durchdringung der passivischen und zugleich kreatorisch-dynamischen Grundstruktur des Lebens, in der Vulnerabilitätsphänomene als Handlungs-WiderfahrnisGemisch Gestalt gewinnen. Im zweiten Kapitel werden verschiedene Formen der Materialisierung situativer Vulnerabilität reflektiert. Die Erkundung situativer Vulnerabilität konzentriert sich auf die Grammatik politischer Diskurse, in denen soziale, oftmals binär angeordnete Konstruktionen sprachlich-performativ hergestellt und sukSystems auf bestimmte Veränderungsreize entsteht. Die potenziellen Auswirkungen (potential effects) prognostizieren Veränderungen unter Berücksichtigung der Faktoren Exposition und Sensitivität. Die Anpassungsfähigkeit (adaptive capacity) beschreibt die Fähigkeit, potenziellen Schaden abzuwehren bzw. sich auf die erlebten Effekte des Klimawandels einzustellen. Vgl. weiter Hans-Günter Bohle, Vulnerability and Criticality. Perspectives from Social Geography, in: IHDP Update, Newsletter of the International Human Dimension Programme on Global Environmental Change (IHDP) 2001, 1–4, ipcc-wg2.gov/njlite_download.php?id=6390 (Stand: 16. 09. 2015). 13 Vgl. Martha A. Fineman/Anna Grear (Hg.), Vulnerability. Reflections on a New Ethical Foundation for Law and Politics, Surrey 2013.

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zessive materialisiert werden. Vulnerabilitätsdiskurse sind oftmals in ästhetische und soziale Normalisierungsprozesse eingebettet, die stetig interaktiv und zirkulär reproduziert werden. Die Aufgabe der Seelsorge besteht darin, die beschädigenden Effekte dieser Prozesse zu benennen und entsprechend die Unterbrechung binärer Logiken zu bestärken, um den Möglichkeitssinn in der Wahrnehmung des eigenen Lebens zu erweitern. Situative Vulnerabilität wird diskursiv hergestellt, sie ist nicht einfach ein isolierbares Charakteristikum einer Person oder einer Gruppe. Machtvolle Faktoren innerhalb dieses Diskurses sind z. B. der Zugang zu ökonomischen Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen, in manchen Situationen tritt der Gender-Aspekt in den Vordergrund, in anderen Kontexten die ethnische Zuordnung. Das vielerorts eingeforderte intersektionale Denken ist dabei auch für die Vulnerabilitätsdiskussion zentral.14 Für die Wahrnehmung situativer Vulnerabilität im Horizont einer Theologie der Seelsorge sind auch die philosophisch-ethischen Diskurse von Belang, in denen grundlegende Verhältnisbestimmungen von Autonomie und Dependenz diskutiert werden, die dann in Konzepte von Sorge für sich selbst und andere überführt werden. Darüber hinaus ist eine Analyse kultureller Phänomene von Bedeutung, in denen Mythen der (Un)verwundbarkeit immer wieder hergestellt und modifiziert werden. Materialisierungen situativer Vulnerabilität, so lautet der Vorschlag, sollten für eine Schule der Wahrnehmungsfähigkeit im Hinblick auf die Seelsorgepraxis auf drei Ebenen diskutiert werden: der Ebene der Grammatik politischer Diskurse, im Hinblick auf die grundlegenden ethischen Herausforderungen sowie im Bereich der kulturellen Repräsentation und religiösen Symbolisierungen. Der zuletzt genannte Aspekt wird im dritten Kapitel weiter entfaltet. Hier geht es um die Bedeutung von Gottesvorstellungen und -bildern, die in der Seelsorge oftmals in höchst ambivalenter Weise wirksam sind. Diese Wirksamkeit im Hinblick auf den Umgang mit Vulnerabilitätsphänomenen zu erkunden, ist ein zentrales Anliegen einer kritischen Seelsorgetheorie. Darüber hinaus wird in der hier zu entfaltenden Theologie der Seelsorge der Vorschlag gemacht, das Thema der Verletzlichkeit auch im Horizont einer trinitarischen Gottesrede zu verorten. Seelsorgerinnen und Seelsorger sind herausgefordert, Vulnerabilitätsphänomene nicht nur sensibel und kritisch wahrzunehmen, sondern diese auch in einen Coram-Deo-Horizont einzuzeichnen. Aus diesem Grunde werden Überlegungen zur Affizierbarkeit Gottes, zum vulnerablen Christus und zur verletzlichen Geistkraft vorgestellt. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, wie die Rede von Gott zur Verletzlichkeit des Lebens in Beziehung gesetzt werden kann, sondern 14 Vgl. Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hg.), Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010.

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auch darum, inwiefern es sinnvoll sein kann, von der Vulnerabilität Gottes und einer gegenseitigen Affizierbarkeit von Gott und Mensch zu sprechen. In diesem Zusammenhang wird eine seelsorgliche Gottesrede rekonstruiert, die der Vorstellung vom bewegten Beweger und seinen Leidenschaften bzw. von der Lebendigkeit Gottes, die stets im Werden begriffen ist, nachgegangen. Diese Rekonstruktion ist auf die Kritik der Apatheia-Tradition im Christentum bezogen, die von der Unbeweglichkeit und dem göttlichen Unberührtsein ausgeht. Dabei wird zugleich die Frage gestellt werden, wie die Differenz zwischen menschlicher und göttlicher Vulnerabilität zu beschreiben ist, so dass in heilsamer Weise in der Seelsorge von göttlicher Affizierbarkeit geredet werden kann. In einem zweiten Anlauf kommt dann noch einmal die Fragilität der Schöpfung, zu deren Signum der verletzliche Mensch gehört, in den Blick, um entsprechend die Aufmerksamkeit auf die Plausibilität theologischer Deutungen leiblicher Verletzlichkeit richten zu können. Für die Seelsorgepraxis ist es von besonderer Bedeutung, die theologischen Deutungsmuster, die sich an die Verletzlichkeitserfahrung des Krankseins anlagern, zu reflektieren. Diese sind oftmals in modifizierter bzw. impliziter Form in der Seelsorgepraxis wirksam, und zwar sowohl in problematischer als auch in heilsamer Weise. Aus diesem Grunde müssen insbesondere die Diskurse in der christlichen Tradition, die den Zusammenhang von Krankheit und Sünde reflektieren und die heute zumeist in modifizierter Form auftreten, noch einmal kritisch reflektiert werden. Im vierten Kapitel wird der Raum des Pathischen in der Seelsorge abgeschritten. Dabei werden Vulnerabilitätsphänomene in ihrer Oszillation zwischen Logifizierung, Pathos und Ethos beschrieben. Das Pathische wird dabei als Figur im Raum zwischen Aktivität und Passivität entfaltet, in dem die WiderfahrnisQualität von Verletzlichkeitserfahrungen am Beispiel von Krankheit in den Blick genommen wird. Während die Logifizierung auf die medizinische Rationalität und die Organisation des Krankenhauses bezogen ist, verweist der Bereich des Ethos auf moralische Normbildung, ethische Reflexion sowie auf die Entwicklung eines angemessenen seelsorglichen Habitus. Das Pathische strahlt dabei auf den Bereich der Logifizierung sowie des Ethos aus und wird als Oszillation zwischen diesen Bereichen vorgestellt. Es drückt sich in der Erfahrung des Krankseins in leiblichen Affizierungen aus, die in spannungsreichen Ausdrucksformen wie z. B. Fremdheit und Intimität sowie Engung und Weitung zu Tage treten. Die leiblichen Affizierungen sind eng mit bestimmten Affekten verbunden. Dem soll beispielhaft im Hinblick auf die Phänomenologie des Schmerzes, der Scham- und Schuldgefühle sowie der Mitgefühle nachgegangen werden. Die phänomenologische Skizze wird entsprechend durch theologische Resonanzen vertieft, die auf die jeweiligen Affekte bezogen werden. Das abschließende Kapitel widmet sich den Formen seelsorglicher Responsivität im Horizont der Verletzlichkeit. Dabei geht es um den Fluss des Erzählens,

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insbesondere im Hinblick auf die erzählte Welt des Krankseins und im Hinblick auf traumatische Erfahrungen. In theoretischer Hinsicht wird der Zusammenhang von Leiblichkeit und Narrativität beleuchtet sowie die strukturbildenden Topoi und die Erzählgenres in Krankheitsgeschichten herausgearbeitet.

1.

Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen

Erste Annäherungen Wir beginnen mit der Reflexion einer alltäglichen Szene, die die Philosophin S. Kay Toombs beschreibt. Bei Toombs wurde im Jahr 1973 im Alter von 29 Jahren Multiple Sklerose diagnostiziert, sie lebt seitdem mit dem Fortschreiten dieser chronischen Krankheit: „Solange wir gesund sind, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass unser Körper mühelos funktioniert, wenn wir unseren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Wenn ich beispielsweise am Frühstückstisch sitze und ein Glas Orangensaft trinken möchte, vertraue ich darauf, dass mein Arm sich auf das Glas zubewegen wird, und dass meine Hand und meine Finger all die Bewegungen ausführen werden, die nötig sind, um das Glas an meine Lippen zu führen, so dass ich trinken kann. Vermutlich ist mir diese Bewegung so selbstverständlich vertraut, dass ich mir ihrer kaum noch bewusst bin. Wenn ich nach dem Glas greife, bin ich wahrscheinlich gerade in ein Gespräch mit meinem Mann verwickelt. In diesem Moment bin ich mir nur vage der Positionierung meines Armes bewusst. Ich nehme es auch als selbstverständlich hin, dass ich die Dinge, die sich auf dem Frühstückstisch befinden, sehen kann, dass ich den Orangensaft schmecken kann, dass ich in der Lage bin, den Geruch von frisch gebrühtem Kaffee wahrzunehmen, und dass ich die Stimme meines Mannes hören kann. Im Hinblick auf meine mentalen Fähigkeiten, finde ich es überhaupt nicht bemerkenswert, dass ich mühelos in der Lage bin, den Unterschied zwischen Kaffee und Orangensaft zu erkennen, dass ich mich daran erinnere, wo das Frühstücksgeschirr im Küchenschrank zu finden ist, oder dass ich eine intensive Konversation mit meinem Mann führen kann, während ich komplexe Bewegungen ausführe, die die Koordination von Intention, Bewegung und Wahrnehmung erfordern. Unter normalen Umständen ignoriere ich ebenso basale körperliche Prozesse wie Atmen, Verdauen und das Schlagen meines Herzen.“1 1 S. Kay Toombs, Vulnerability and the Meaning of Illness. Reflections on Lived Experience, in:

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Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen

Toombs beschreibt hier minutiös, welche physischen und mentalen Fähigkeiten bei einer alltäglichen Situation am Frühstückstisch ins Spiel kommen: da ist zunächst das Zusammenspiel der Sinne: greifen, sehen, schmecken, riechen und hören; hinzu tritt die Fähigkeit, verbal auf eine Art und Weise kommunizieren zu können, die für das angesprochene Gegenüber verständlich ist. Auf der kognitiv-mentalen Ebene beschreibt sie das Erinnerungsvermögen und die Gabe, Sachverhalte voneinander unterscheiden zu können. Hinzu kommen die körperlichen Prozesse, die ‚wie von selbst‘ geschehen, wie Atmen, Verdauen und der Herzschlag. All dies geschieht gleichzeitig, mühelos und unbewusst, ein eindrückliches Zusammenspiel sensueller, somatischer und kognitiver Prozesse, die das Leib-Sein-Zur-Welt bestimmen.2 Erst wenn dieses Zusammenspiel gestört wird, tritt das, was vormals als stumme Selbstverständlichkeit vorhanden war, in den Raum bewusster Wahrnehmung und Reflexion. Ein Aspekt der Vulnerabilität, der hier beschrieben wird, verweist auf die Fragilität dieses Zusammenspiels und die darin implizierten Möglichkeiten, mit der Welt in Beziehung zu treten. Bei einer Krankheit wie Multipler Sklerose schiebt sich die Fragilität in den Vordergrund und mit ihr die an den Leib gebundene Erfahrung des unfreien Willens: „Ich kann meine Projekte nur mit einem gewissen Grad an physischer Koordinationsfähigkeit realisieren. Wenn ich beispielsweise die Treppenstufen zu meinem Schlafzimmer hinaufgehen möchte, müssen meine Beine in einer bestimmten Weise funktionieren; wenn ich mein Kind umarmen möchte, muss ich in der Lage sein, bestimmte Bewegungen mit meinen Armen auszuführen. Wenn ich an einem beruflichen Projekt arbeite, muss ich imstande sein, mich zu konzentrieren (frei von Schmerz, exzessiver Müdigkeit oder Begrenzung meiner mentalen Fähigkeiten). Ich bin nicht frei zu handeln, wie ich möchte. Ich bin nur frei, das zu tun, was mein Körper mir erlaubt. Kranksein kann eine umfassende Bedrohung der Integrität des eigenen Selbst bedeuten.“3

Carol R. Taylor/Roberto Dell’Oro (Hg.), Health and Human Flourishing: Religion, Medicine, and Moral Anthropology, Washington 2006, 119–137: 121. (Übersetzung dieses und der folgenden Zitate von Toombs durch A.B.). 2 Der Begriff des „Leib-Seins-Zur-Welt“ entstammt Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie. Mit diesem Begriff beschreibt er die reziproke Verwiesenheit des Leibes auf die Welt und der Welt auf den Leib. Die Welt ist das, was leiblich wahrgenommen werden kann. Menschen finden sich in der Welt als leiblich Handelnde vor und gehen mit ihr zunächst vorreflexiv und unbewusst um. In der Weltverwobenheit geschieht eine Wahrnehmung der Welt, in der das leibliche Sein einen dynamischen, richtungsgenerierenden Sinn hat; es existiert im Fluss oder in der Bewegung sich ständig verändernder Situationen. Dies ist mit dem Ausdruck des ZurWelt-Seins ausgedrückt. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 126ff. 3 Toombs, Vulnerability, 123.

Erste Annäherungen

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Das Fortschreiten einer Krankheit wie der Multiplen Sklerose bringt all die beschriebenen Selbstverständlichkeiten ins Wanken. Die entstehende Irritation ist nach Toombs immer auch eine Entfremdung vom leibgebundenen Selbst. Der Autonomie-Mythos wird infrage gestellt und mit ihm die Willensfreiheit, sowie die Grenzen der Handlungsfähigkeit: „Ich bin nicht frei zu handeln, wie ich möchte. Ich habe nur die Freiheit, das zu tun, was mein Körper mir erlaubt.“ Es gibt für sie keine Freiheit, keinen freien Willen, der jenseits der Leiblichkeit gedacht werden kann. Toombs singuläres, unverwechselbares Leib-Sein in der Welt ist auch von der Erfahrung leiblicher Heteronomie geprägt, die immer wieder auch sozial vermittelt ist. Toombs schreibt weiter: „Für eine Person mit MS verspricht die Hitze des Sommers nicht mehr die Einladung zu einem Tag mit viel Spaß, sondern die besorgniserregende Wahrscheinlichkeit des Ansteigens der Schwere der Symptome; für eine Person, die auf Krücken läuft, birgt der erste Schneefall oder ein erfrischender Sommerregen die Gefahr rutschiger Gehsteige. Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung mag die verwandelte Bedeutung der räumlichen Umgebung illustrieren. Eines Tages überquerte ich den Platz vor der Universitätsbibliothek, als mein motorisierter Rollstuhl ins Stocken geriet und nicht weiter fuhr. Auf einmal fand ich mich in einem Meer aus Beton, in dem dekorative Steine verstreut drapiert waren, in einem gänzlich offenen Raum ohne Bäume, Lampenpfosten und ohne Sitzbänke in Reichweite. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Das nächstgelegene Objekt war das Bibliotheksgebäude. Es war jedoch unmöglich für mich, dieses Gebäude zu erreichen, da ich weder gehen noch kriechen kann. Der Raum der Plaza, der mir noch eine Minute zuvor als hell, sonnig und einladend entgegengekommen war, erschien mir nun als verlassen und unheimlich. Auf einmal realisierte ich das Ausmaß meiner Begrenzung und meine radikale Abhängigkeit von Technologie.“4

Toombs vertieft hier die Beschreibung der relationalen Dimension des LeibSeins-Zur-Welt im Hinblick auf sogenannte natürliche Umstände wie klimatische Veränderungen. Hitze oder Schnee wirken auf Körper ein; sie haben besondere Auswirkungen auf Menschen mit Multipler Sklerose. Für diese Einwirkungen benutzt sie inmitten all der aktiven Verben eine passivische Formulierung: „auf einmal fand ich mich in einem Meer aus Beton.“ Darin drückt sich ein Verlorenheitsgefühl aus. Toombs Beschreibung der Szene vor der Bibliothek verdeutlicht ihre Abhängigkeit vom Rollstuhl als einer Technologie, die ihr Mobilität verleiht. Das Versagen der technischen Möglichkeit bringt entsprechend ihre Angewiesenheit und die damit einhergehenden Einschränkungen zum Ausdruck, die auch der Anordnung der Dinge im Raum ein anderes Gesicht verleiht. Die Szene illustriert die relationale Qualität von Vulnerabilität: in diesem Fall geht es um das Behindert4 AaO., 125f.

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Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen

Gemacht-Werden durch das Versagen von Technologie. Toombs leibliches SeinZur-Welt ist durch ihren Rollstuhl vermittelt, der ihr in vielen Fällen zu einem ausreichenden Maß an Mobilität verhilft, allerdings nicht im beschriebenen Fall. Die leibliche Raumwahrnehmung wandelt sich: Was als hoch oder niedrig, fern oder nah erfahren wird, verändert sich entsprechend der Anordnung der Dinge im Raum. Die physische Umwelt hält für sie auf einmal Barrieren bereit, die vorher nicht wahrgenommen wurden. Die Raumerfahrung verdichtet sich in der Mobilitätserfahrung. Toombs identifiziert hier ein weiteres wichtiges Charakteristikum. Vulnerabilitätserfahrungen sind auf räumliche Konstellationen bezogen, die sich in temporärer Perspektive verändern können. Diese Erfahrung könnte sich auch auf die architektonische Ausgestaltung von Orten und Sozialräumen beziehen, die nicht mit Blick auf die Bedürfnisse einer Rollstuhlfahrerin konzipiert wurden, dies wird jedoch nicht explizit ausgeführt. Toombs beschreibt die Verletzlichkeitserfahrung, die sich in ihrem Leben mit MS im Hinblick auf ihren Körper, die Abhängigkeit von unterstützender Technologie, den sie umgebenden Raum sowie im Hinblick auf die Integrität ihres Personseins eingestellt hat. Letztere ist besonders herausgefordert, wenn sie sich mit gesellschaftlichen Werten konfrontiert sieht, in denen bestimmte Fähigkeiten mit dem Wert einer Person konnotiert werden, wie z. B. Unabhängigkeit, Flexibilität, die auf Mobilität basiert, sowie bestimmte Ideale von Schönheit und Gesundsein. Diese Werte verstärken die Angst, eine Last für andere zu werden. Die von Toombs vorgelegte leibphänomenologisch ausgerichtete Lesweise der eigenen Erfahrungswelt bietet Vignetten dichter Beschreibungen, die das LeibSein-Zur-Welt in der Perspektive der Verletzlichkeit zu ertasten suchen. Sie beschreibt leibliche Zustände und Prozesse in ihrer Vielschichtigkeit: die unsichtbaren, weil mühelos funktionierenden Vorgänge, die kognitiv-emotionalen Fähigkeiten, die im Umgang mit sich selbst und anderen zum Tragen kommen, den als unfrei erlebten, leiblich situierten Willen sowie die Ausgesetztheit der eigenen Person. Darüber hinaus reflektiert Toombs auch die sozialen Konsequenzen, die in Phänomenen wie Marginalisierung und Isolation, Überidentifizierung mit und Entfremdung vom Körper und der Infragestellung der Rationalität der Verletzten ausgedrückt werden können. Ihr Ansatz ist äußerst hilfreich für die Wahrnehmung der Vielschichtigkeit von Vulnerabilitätsphänomenen als Ausgangspunkt einer seelsorglichen Theologie.5 Im Anschluss an diese Beschreibungen lassen sich Vulnerabilitätsphänomene im heuristisch-analytischen Interesse auf drei Ebenen wahrnehmen, die im Er5 Wird ein einseitig negatives Verständnis von Vulnerabilität als Interpretationsraster für das vorgestellte Beispiel angelegt, könnte dies dazu verleiten, nur die problematischen Erfahrungen des Autonomieverlusts, der leiblichen Fragilität und erfahrener Machtlosigkeit in den Blick zu nehmen. Eine derartige einseitige Zuspitzung wird jedoch den vielschichtigen Beschreibungen, die Toombs vorlegt, nicht gerecht.

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lebnisvollzug oftmals ineinander verwoben sind und aufeinander einwirken. Diese drei Ebenen beschreiben a) das spannungsvolle Leib-Sein-Zur-Welt, b) die Materialisierungen der Verletzlichkeit im öffentlichen Raum und in der Grammatik politischer und ethischer Diskurse, c) und daran anschließend die Dimension kultureller und religiöser Symbolisierungsprozesse. Vulnerabilität als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer seelsorglichen Theologie zu wählen, bedarf einer weitergehenden phänomenologischen Besinnung, in der das Ineinandergreifen dieser drei Ebenen in den Blick genommen wird. Die grundlegenden phänomenologischen Beschreibungen der Verletzlichkeit, die in der Perspektive des Leib-Seins-Zur-Welt entfaltet werden, beschreiben dabei fundamentale Aspekte der conditio humana, die von allen Menschen geteilt werden. Unter dem Topos der Materialisierungen werden dann situative Ausdrucksformen von Vulnerabilität diskutiert und kontextspezifische Phänomene eingeholt, die sich auf Sozialbeziehungen, auf ökonomische und ökologische Faktoren sowie auf politische Gegebenheiten und Diskurse beziehen. Situationsbezogene Vulnerabilitätsphänomene haben auch eine zeitliche Ausdehnung; sie können kurz-, mittelfristig oder dauerhaft wirksam sein. Sie können latent bzw. dispositionell vorhanden sein oder sich akut zeigen und aus der Latenz im Zustand der Aktualisierung Gestalt gewinnen. Es ist hilfreich, die Dimensionen der phänomenalen Grundbestimmungen und der situativen Materialisierungen zu unterscheiden, sie kategorial zu trennen ist wenig sinnvoll, da sie sich in der gelebten Erfahrung gegenseitig durchdringen.

Körper-Haben und Leib-Sein Das leibliche Sein-Zur-Welt findet eine Gestalt im oszillierenden Ineinander von Körper-Haben und Leib-Sein. An den Bruchlinien dieser Bewegung entfalten sich die Vulnerabilitätsphänomene, die sich in der leiblichen Affizierbarkeit aktualisieren und von Ambiguitätserfahrungen durchdrungen sind, die die Begegnung mit dem Fremden in mir selbst und im anderen in sich birgt. Eine weitere phänomenologische Grundbestimmung ist die unerschöpfliche Potenzialität, die als Wirklichkeit des Virtuellen inmitten des verletzlichen Lebens aufscheint. Beginnen wir mit der Herkunft der Begriffe. Das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache verweist darauf, dass der Begriff des Leibes („lip“) ursprünglich im Mittelhochdeutschen auch als Synonym für Leben gebraucht wurde. Leib und Leben bzw. Lebendigsein wurden austauschbar gebraucht. Körper hingegen stammt vom lateinischen „corpus“ ab und beschreibt den Körper als Leichnam, als sezierbaren Gegenstand, als greifbares Objekt oder

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Instrumentarium, mit dem Menschen medizinisch, pflegerisch aber auch kulturell zum Zwecke der Verschönerung umgehen.6 Der Begriff des Leibes ist aus der Alltagssprache in den Raum der Religion (Leib Christi), der Esoterik (Astralleib) oder der Philosophie (Leib-Seele-Problem) ausgewandert. Die Rede vom Körper scheint demgegenüber zu dominieren. Das Hilfsverb „Haben“, das dem Körper zugeordnet wird, öffnet das Konnotationsfeld „besitzen, verdinglichen, objektivieren“, während Leib-Sein auf den leiblichen Lebensvollzug verweist, der sich quasi unbewusst und wie von selbst entfaltet. „Dass wir immerhin noch vom Unterleib, aber vom Oberkörper sprechen, ist ein interessanter Hinweis darauf, dass der Leib eher einer tieferen, vor- oder unbewussten Sphäre des Lebens zugehört, während der Körper dem bewussten Ich näher liegt – es ist eben mein Leib, der ich selbstverständlich bin, aber es ist mein Körper, den ich als Instrument habe und gezielt nutze.“7 Der Zusammenhang von Körper-Haben und Leib-Sein wird intensiv in der Leibphänomenologie bzw. in der Philosophischen Anthropologie diskutiert.8 Im Folgenden schließe ich mich den Überlegungen Robert Gugutzers an, der von der „Zweiheit des Körpers als Einheit von spürbarem Leibsein und gegenständlichem Körperhaben“ spricht.9 Das Körper-Haben changiert zwischen einem aktiven und einem passiven Pol. Auf der aktiven Seite geht es um die Fähigkeit in reflexiver Körperzuwendung eine Instrumentalität und Expressivität zu modulieren, durch die der Eintritt, das Verbleiben oder der Austritt aus der Sphäre der Sozialwelt vermittelt wird. Sich als Geschäftsmann, als Punk oder als Rollstuhlfahrerin mittels der Modulierung des eigenen Körpers in gesellschaftlichen Diskursen einzubringen und zu zeigen, ist Teil des gesellschaftlichen Kampfes um Anerkennung. Körper-Haben als Projekt der reflexiven Selbstzuwendung zum Zwecke der sozialen Gestaltgebung der eigenen Persönlichkeit ist dabei immer eingebunden in gesellschaftliche Sinnzusammenhänge.10 Diese werden allerdings nicht einfach in passiv-ha-

6 Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Göttingen 24 2002, 530.566. 7 Thomas Fuchs, Körper haben oder Leib sein, Scheidewege – Jahresschrift für skeptisches Denken 41 (2011/2012), 122–137: 122f. 8 In dieser Debatte wird immer wieder auf Helmuth Plessner und Maurice Merleau-Ponty Bezug genommen. 9 Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, Bielefeld 32010, 152. Vgl. mit etwas anderer Akzentsetzung auch Isolde Karle, Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, Gütersloh 2014, 32–38. 10 Mit dem eher aktiven Pol des Körper-Habens befassen sich die Beiträge in Michael R. Müller et al. (Hg.), Körper-Haben. Die symbolische Formung der Person, Weilerswist 2011. In diesem Band werden der Körper als Werk, der Körper im Kontext medialer Reflexionen sowie die Grenzen der Sozialwelt reflektiert.

Körper-Haben und Leib-Sein

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bitueller Weise empfangen und repräsentiert, sondern im Ringen um den je individuellen Ausdruck aktiv geformt. Die eher passivische Dimension des Körper-Habens spiegelt sich im Erleben der Vulnerabilität. Auch dann haftet dem Körper eine gegenständliche bzw. objekthafte Qualität an, die sich sowohl im Selbstverhältnis als auch in der zwischenleiblichen Kommunikation zeigt. Wenn S. Kay Toombs sich selbst beobachtet, um die motorischen und kinästhetischen Prozesse zu beschreiben, die in das Anheben einer Kaffeetasse einfließen, entwickelt sie eine beobachtende Beziehung zu ihrem Körper, indem dieser als erforschbares Objekt erscheint. Wenn eine Patientin der Aufforderung ihrer Gynäkologin folgt, regelmäßig die Brüste abzutasten, um etwaige Knoten frühzeitig aufzuspüren, tritt auch sie selbst in ein diagnostisches Verhältnis zu ihrem Körper ein. Das Körper-Haben wird zugleich durch den Blick anderer auf den eigenen Körper intensiviert: durch den diagnostischen Blick, den Blick, der die Formen des Körpers taxiert, den Blick, der Hautfarben, ethnische Identitäten und Geschlechter kategorisiert. Hinzu kommen die Technologien, die das Körperinnere durchleuchten und z. B. den Tumor in der Brust lokalisieren. In den beschriebenen Blicken auf den Körper wird dieser zum Objekt; es entsteht eine Triangulation, die sich als fragile Blickachse entpuppt und sich als irritiertes Ausgesetztsein zeigt: Eine Frau beobachtet, wie sich die Blicke auf ihren Körper richten und dieser unter den Augen der anderen zum Objekt wird. Diese Formen der Materialisierung des KörperHabens können lebensrettend oder aber auch vernichtend sein. In diesen ambivalenten Oszillationen des Körper-Habens, die sich reflexiv auf das gespürte Leib-Sein auswirken, sind m. E. Vulnerabilitätsphänomene in ihrer Ambivalenz zu verorten. Die Verobjektivierung des Körpers kann einen gewaltförmigen Ausdruck annehmen, wenn so etwas wie ein Herausfallen aus der Lebenswelt erlebt wird, und der eigene Leib-Körper zum Fall wird. Das Körper-Haben wird dann als Entfremdung erfahren, es wird zum Ort physischen und psychischen Schmerzes bis hin zum Selbsthass. Am Beispiel von S. Kay Toombs lässt sich gut nachvollziehen, dass in der Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit das Erleben des Körper-Habens insbesondere durch medizinische Diagnosen und die damit verbundenen Konnotationen intensiviert wird. Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems, bei der u. a. eine herdförmige Entmarkung (d. h. eine Zerstörung der „Isolierschicht“ der Zellen) an einzelnen Stellen des Nervensystems auftritt, zudem werden teilweise die Nervenzellenfortsätze geschädigt. Dies führt beispielsweise zu Lähmungen, Sensibilitätsstörungen, Sehstörungen und in späteren Stadien teilweise auch zu psychischen Symptomen. Die Ursache ist nicht sicher geklärt, wahrscheinlich handelt sich um eine Autoimmunkrankheit. Diese verläuft in Schüben und ist nach dem gegenwärtigen me-

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dizinischen Stand nicht heilbar. Frauen sind gehäuft betroffen, der erste Schub tritt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf.11 Die Diagnose, die von Fachleuten gestellt wird, wird oftmals von vielfältigen Befürchtungen begleitet, wie z. B. das Warten auf die Demobilisierung, die Angst vor dem Kontrollverlust und vor physischer Entstellung, vor Behinderung und unerträglichen Schmerzen. Hinzu kommt häufig die Sorge, eine Last für andere zu werden. Im Augenblick einer Diagnose, in der sich die betroffene Person noch persönlich vergleichsweise gut fühlen mag, treten diese Themen oftmals in aller Wucht zum Vorschein und prägen sowohl die Gegenwart als auch die Antizipation einer bedrohlichen Zukunft.12 Die professionellen diagnostischen Blicke auf den Körper werden dabei allgemeinhin als objektive, medizinische Fakten jenseits von Interpretation verstanden,13 sie wirken zurück auf das leibeigene Spüren und setzen einen Prozess der Reversibilität in Gang. Aber auch die Anschauungen der weiteren sozialen Umwelt prägen sich in das Verständnis des KörperHabens ein. Bei der Rede vom Leib-Sein geht es nie abstrakt um den Leib, sondern immer um meinen Leib, um mein leibliches Empfinden, das ich nur von innen heraus wahrnehmen kann, um mein leibeigenes Spüren, das höchst individuell und intim ist und somit den subjektiven Ausdruck darstellt. Das leibeigene Spüren ist affektiv verankert. Leiblichkeit und Affektivität sind aufeinander bezogen. Im leibeigenen Spüren von Verletzlichkeit findet sich der Leib im Raum des Pathischen wieder.14 Hier geht es zunächst um die Ebene der Vorsprachlichkeit, wie es sich anfühlt, „sich in einem Meer aus Beton wiederzufinden.“15 Die Thematisierung dieser spezifischen Weise des Zur-Welt-Seins des Leibes zielt auf verschiedene Formen der Affizierung, die im Raum des Pathischen eine Response evozieren.16 Hier spielt das leibeigene Spüren eine zentrale Rolle; der gespürte Leib ist das Medium, das die Welt erschließt. Das Ineinander von Körper-Haben und Leib-Sein spielt auch in der Seelsorgepraxis eine große Rolle. 11 Vgl. Art. Multiple Sklerose, in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin/New York 261 2007, 1252f. Marco Mumenthaler/Heinrich Mattle, Neurologie, Stuttgart/New York 12 2008, 401–423: 401. Dieses Neurologie-Lehrbuch erläutert anschaulich u. a. den Verlauf der Erkrankung, einzelne Symptome und Therapiemöglichkeiten. 12 Vgl. zu den Bildern und Motiven, die mit der Krankheit assoziiert werden und was dies für Menschen bedeutet, die mit MS leben müssen, den Film des Wuppertaler Medienprojektes: Mein Körper, der Feind? Ein Leben mit Multiple Sklerose [sic!], Wuppertal 2010. 13 Diagnosen werden in Deutschland mithilfe eines von der Weltgesundheitsorganisation erstellten Klassifikationsinstruments erstellt, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD–10 von 2013, vgl. www.dimdi. de/static/de/klassi/icd-10-who/kodesuche/ onlinefassungen/htmlamtl2013/ (Stand: 30. 09. 2014). 14 Zum Raum des Pathischen vgl. Kap.4. 15 So lautet die eingangs von S. Kay Toombs vorgestellte Beschreibung. 16 Das Thema der Responsivität im Raum des Pathischen wird in Kap.4 und 5 weiter vertieft.

Körper-Haben und Leib-Sein

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An den Bruchstellen dieser Zweiheit leiblichen Lebens entstehen Vulnerabilitätserfahrungen, die manchmal nur schwer zu benennen sind. Diesen in der seelsorgerlichen Begegnung verbal und nonverbal einen Raum zu geben, ist von zentraler Bedeutung. Die Oszillation von Leib-Sein und Köper-Haben verdichtet sich in besonderer Weise am Ort der Haut. Die Dimension des Körper-Habens, das in leibeigenes Spüren umschlägt, sowie die Themen der Affizierbarkeit und der Ambiguität werden hier in intensivierter Weise sichtbar. Die Haut ist ein eindrucksvoller, aber keinesfalls ein absolut schützender Schild; sie kann uns nicht vollständig vor Umwelteinflüssen abschirmen.17 Die äußerste Oberfläche der Epidermis, das stratum corneum, besteht aus einer dünnen Lage toter Zellen; Korneozyten und Fetteinlagerungen bilden gemeinsam eine wasserdichte Barriere.18 Sie allein ist bereits ein sehr effizienter Schild gegen alle Umwelteinflüsse, die drohen, die Oberfläche des Körpers zu verschmutzen, zu verbrennen oder zu vergiften. Die Haut ist also zum einen ein Hüllorgan, das eine schützende Grenze vor bedrohlichen Umwelteinflüssen darstellt; sie schützt den Organismus bis zu einem gewissen Grad vor dem Eindringen von Krankheitserregern; die Hornschicht der Haut schützt auch vor von außen zugefügten Verletzungen, vor Austrocknung und UV-Strahlung. Zugleich ist die Haut ein wichtiges Sinnesorgan, das uns hilft, die Welt zu spüren; in diesem Sinn kann es als Medium verstanden werden, das die Offenheit zur Welt hin durch das Spüren ermöglicht. Die Haut ist ein Kontakt- und Sinnesorgan, das Rezeptorzellen enthält, spezielle Schmerzsensoren, die potenziell gefährliche physische Stimuli oder die Anwesenheit von Verletzung oder Verbrennung erfassen. So erkennen Wärme- bzw. Kälterezeptoren Wärme- und Kaltreize, die aus der Umwelt auf den Körper einströmen. Die freien Nervenenden und die Tastkörperchen ermöglichen das Spüren von Berührung und von Schmerz; die in der subcutis, der Unterhaut, befindlichen Lamellenkörperchen verhelfen zur Aufnahme von Druckreizen. Diese somatische Dimension des Affiziertwerdens durch die Haut kann sich auch in Emotionen zeigen, die mit einer Reaktion der Haut verbunden sind. Die sogenannte psychogalvanische Hautreaktion gibt Hinweise auf das Entstehen bestimmter intensiver Gefühle; ein Beispiel hierfür ist z. B. das Erröten, das bei Schamgefühlen auftritt. Geschieht eine (lokal eingrenzbare) Verletzung der Haut, entwickelt der Körper sogenanntes Fibrin, das wie eine Art Klebstoff wirkt und hilft, die Öffnung der Haut zu verschließen. So entstehen schützende Verkrustungen, die helfen, die Wundränder zusammenzuziehen und so die Wunde zu schließen. 17 Vgl. zur Bedeutung der Haut in interdisziplinärer Perspektive Nina G. Jablonski, Skin: A Natural History, Berkeley/Los Angeles 2006. 18 Vgl. zu diesen und den folgenden Informationen Jablonski, Skin, 9–20.

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Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen

Wenn die Blutgefäße in der Haut aufgrund einer Verletzung beschädigt werden, bewirkt der Kontakt zwischen den Blutplättchen im Blut und Kollagen, dass Gerinnungsfaktoren freigesetzt werden, die helfen, die Blutung zu stoppen. Menschliche Haut kann Narben hervorbringen, die Zeugnisse von vergangenen Verletzungen sind; sie sind fühlbare und sichtbare Markierungen leiblicher Erinnerung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Wunden, Narben und Blut zu machtvollen Symbolen wurden, die religiöse und kulturelle Imaginationen vielerorts stimuliert haben.19 Das leibeigene Spüren, das mit der Hautoberfläche verbunden ist, offenbart die Ambivalenz der Verletzlichkeit: Ohne das Organ der Haut könnten wir die Welt nicht spüren, entsprechend keinen physischen Kontakt zu anderen aufnehmen, Lust und Trost durch Berührung empfinden, der wärmenden Kraft der Sonne gewahr werden. Zugleich vermittelt das Organ der Haut aber auch das Schmerzempfinden und es ist selbst der Gefahr ausgesetzt, verletzt zu werden. Schutz und Ausgesetztsein, Taktilität und Affektivität, Narben, die sowohl auf die Spur der Gewalt, aber auch auf die Spur des Überlebens und gar der Neuschöpfung verweisen, werden zum fruchtbaren Boden, von dem die vom KörperHaben – hier am Beispiel der Haut – aufsteigende affektive Dimension religiöser Passionen in ihren symbolischen Ausdrucksformen eine Gestalt gewinnt.20 Der blutende Körper, die vernarbte Haut, das Zeigen einer Wunde, ein transfigurierter Körper, der die Male der Folter noch zeigt, wurden auch in verschiedenen Epochen der Geschichte des Christentums zu einem Thema, das die religiöse Imagination befeuerte und insbesondere die Beziehung der Glaubenden zu Christus prägte. Die Wunde kann auf physische Gewalt oder auf Schmerz verweisen und zugleich zum Symbol für neues Leben werden. Die mittelalterlichen Darstellungen der Wunden Christi als Quelle des Heils sind hierfür ein prominentes Beispiel.21 Aber auch in der Gegenwartsliteratur ist die Auseinandersetzung mit Wunden und Narben von besonderer Bedeutung. Beispielsweise in Toni Morrisons Roman „Menschenkind“ ist mit der Beschreibung der Narben auf der Haut die Welt der unheimlichen Erinnerungen verknüpft, die die ehemals versklavten Protagonistinnen heimsucht und nicht loslässt. Die vernarbte Haut

19 Vgl. hierzu Dennis Patrick Slattery, The Wounded Body: Remembering the Markings of Flesh, Albany 2000. 20 Über den Zusammenhang des Leib-Seins-Zur-Welt und der Sprache, die aus dieser Einbettung hervorbricht und auf sie zurückverweist, reflektiert in eindrücklicher Weise die Philosophin Karmen MacKendrick, Word Made Skin. Figuring Language at the Surface of Flesh, New York 2004. 21 Vgl. die instruktiven Essays zum Thema in: Reinhard Hoeps/Richard Hoppe-Sailer (Hg.) Deine Wunden. Passionsimaginationen in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne, Bielefeld/Berlin 2014. Vgl. hierzu Slattery, The Wounded Body, 207–236.

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verweist auf die Spur der totalen Objektivierung, die dem System der Sklaverei inhärent war und im leibeigenen Spüren der Welt lebendig bleibt.

Affizierbarkeit Die leibliche Affizierbarkeit gehört zu den phänomenologischen Grundbestimmungen der Vulnerabilität. Sie beschreibt eine Dimension der conditio humana, der eine Unmittelbarkeit jenseits von Intentionalität und Kontrolle anhaftet und die gerade deshalb einer aufmerksamen sozialen Gestaltung bedarf. Hunger und Durst, Regeneration durch Schlaf und Degeneration durch Schlaflosigkeit, die Reaktion des menschlichen Körpers auf Kälte-, Wärme-, und Lichteinfluss verweisen auf die Empfindlichkeit des Leibes in der Welt. Die bedrohliche Seite der Verletzlichkeit verdichtet sich, wenn die mit der leiblichen Affizierbarkeit verbundenen Bedürfnisse nicht angemessen befriedigt werden können. Dies ist ein Thema, das zentral in der seelsorglichen Begleitung alternder Menschen ist, wenn beispielsweise die Flüssigkeitszufuhr nicht ausreichend ist, was eine Reihe von Folgeerscheinungen bis hin zu Zuständen von Verwirrtheit, Koma und Tod nach sich ziehen kann. Die leibliche Affizierbarkeit hat jedoch keinesfalls nur eine bedrohliche Seite, sie ist auch die Quelle für das lebendige, regenerierende Spüren der Welt, dies gilt z. B. für die Wahrnehmung der natürlichen Ressourcen wie Licht und Wärme. Bevor wir Hunger verspüren, steigt der Appetit in uns auf, das Begehren und die Lust am Essen und Trinken, die für den Genuss unabdingbar sind. Die Affizierbarkeit des Leibes ist darüber hinaus den Einflüssen von Zeit und Raum unterworfen. Die Phänomene der Verletzlichkeit sind in der Kindheit unausweichlich und verdichten sich potenziell im Prozess des Alterns. Die Geburtlichkeit und die Sterblichkeit des Menschen bilden Passagen und Kristallisationsmomente, in denen Empfindlichkeit, Fragilität und Bedürftigkeit zum Ausdruck kommen. Mit der Zeitlichkeitsdimension ist in besonderer Weise die soziale Dimension von Vulnerabilitätsphänomenen verbunden, die darin besteht, dass wir immer und unter allen Umständen interdependente Wesen sind. Diese Interdependenz drückt sich unausweichlich in bestimmten Phasen des Lebens auch in Abhängigkeitsbeziehungen aus. Entsprechend ist in der Diskussion um eine Care-Ethik22 auch das Thema asymmetrischer Fürsorgebezie-

22 Aktuelle Ansätze sind beispielsweise: Christine Globig, Realitäten der Abhängigkeit. Fürsorge als ethisches Paradigma, Habilitationsschrift an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel 2014; Eine ansprechende Literaturübersicht zu Care-Ethik bieten Helen Kohlen/Christel Kumbruck, Care-(Ethik) und das Ethos fürsorglicher Praxis (Literaturstudie), artec-paper 151 (2008), www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/ document/

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hungen virulent, die unausweichlich sind, wenn wir an die Entwicklung von Kindern denken; dies gilt nicht immer, aber in erhöhtem Maße auch für das hohe Alter. Die gerontologische Forschung geht dabei hinsichtlich der Erforschung von Vulnerabilitätsphänomenen in Alterungsprozessen nicht mehr von einem Defizitmodell aus, nach dem Altern als stetiger Verlust von Möglichkeiten zu beschreiben wäre. Es wird vielmehr in allen biographischen Phasen nach Gewinn und Verlust, nach den Entwicklungspotenzialen, der Ausbildung von Resilienz sowie den sich verändernden Erfahrungen von Fragilität gefragt. Mit der leiblichen Affizierbarkeit geht eine fundamentale Offenheit hin zur Welt einher, die das Potenzial der Verletzlichkeit in sich trägt: Anna Grear beschreibt diese Offenheit wie folgt: „Our very corporeality means that we are porous – interrelationally, and radically open to the world. Our bodies, which, as Merleau-Ponty has insisted, are a living, sensory circuit with the world […] form the dynamic, living bond through which we co-relate with and in the world, not as isolated Cartesian cogitos, but inter-corporeally. The subject/object split, so foundational to the Cartesian/Kantian foundations of the liberal autonomous subject, and so fundamental to its production of alienation, is challenged by a radical intimacy of affect and effect – by a dynamic, open intercoupling in which vulnerability (as a key incident of embodiment) forms a core element of our inter-permeation with each other and the world.”23 Die cartesianische Unterscheidung zwischen der res cogitans als Geist bzw. Bewusstsein, die entleiblicht jenseits von Materialität und umgebender Lebenswelt gedacht wird, und der res extensa als die materiellen Dinge, die eine räumliche Ausdehnung besitzen, wird in der Leibphänomenologie kritisiert.24 Merleau-Ponty entwickelt als Alternative eine Wahrnehmungstheorie, die die Dualismen von Geist und Leib, von innen und außen sowie von Subjekt und Objekt zu überwinden versucht. Er spricht von dem leiblichen Zur-Welt-Sein, in dem das Bewusstsein nicht ohne den Leib gedacht werden kann.

21959/ssoar-2008-kohlen_et_al-care-ethik_und_das_ethos_fursorglicher.pdf ?sequence=1 (Stand: 01. 09. 2015). 23 Anna Grear, Vulnerability. Advanced Global Capitalism and Co-symptomatic Injustice: Locating the Vulnerable Subject, in: Martha A. Fineman/Anna Grear (Hg.), Vulnerability, 41–60. 24 Dies gilt sowohl für den Klassiker Maurice Merleau-Ponty als auch für die neuere Phänomenologie, die beispielsweise durch Bernhard Waldenfels vertreten wird. Merleau-Ponty formuliert das Problem der dualistischen Konstruktion wie folgt: „Jede Wahrnehmungstheorie versucht sich an der Überwindung des wohl bekannten Widerspruchs: Einerseits ist das Bewußtsein Funktion des Leibes, es ist also ‚inneres‘ Ereignis, das von bestimmten äußeren Ereignissen abhängt; andererseits werden diese äußeren Ereignisse selbst erst durch das Bewußtsein erkannt. Anders ausgedrückt, das Bewußtsein erscheint auf der einen Seite als Teil der Welt und auf der anderen Seite als koextensiv mit der Welt.“ Maurice MerleauPonty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin/New York 1976, 250.

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Dabei wird der affizierbare Leib zum Medium der Erschließung und Wahrnehmung der Welt. Er ist als integrierendes Medium nicht die Summe von Natur und Geist, sondern partizipiert an beidem. Die beständige Präsenz des Leibes unterscheidet ihn von anderen Gegenständen, die in der Welt wahrgenommen werden können. Mein Leib ist ständig bei mir und ist mir zugleich in der Wahrnehmung entzogen, da ich ihn doch immer nur aus einem Blickwinkel und niemals multiperspektivisch wahrnehmen kann. Entsprechend ist der Leib „nicht Limes einer offen endlosen Erkundung, er entzieht sich vielmehr jeder Durchforschung und stellt sich mir stets unter demselben ‚Blickwinkel‘ dar. Seine Ständigkeit ist keine solche der Welt, sondern Ständigkeit ‚meinerseits‘. Daß er stets bei mir und ständig für mich da ist, besagt in eins, daß ich niemals ihn eigentlich vor mir habe, daß er sich nicht vor meinem Blick entfalten kann, vielmehr immer am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist.“25 Diese Spannung von Ständigkeit und eingeschränkter Perspektivität verdeutlicht, dass mit dem Zur-Welt-Sein des Leibes immer ein gewisser Kontrollverlust in der Wahrnehmungsfähigkeit einhergeht. Die Leibwahrnehmung ist beweglich, partiell und niemals statisch und ist als solche eine „differenzierte Einheit aus aktivem Ich und passivem Mir, als Handelnder und Widerfahrener zugleich.“26 Hier deutet sich schon die pathische Erlebnisform an, die für eine phänomenologisch orientierte Seelsorgetheorie und -theologie grundlegend ist.27 Darüber hinaus beschreibt Merleau-Ponty den Leib als einen empfindlichen Gegenstand, der nicht einfach Reize aus der Umwelt aufnimmt, sondern selbst gestaltgebend für tonale, visuelle oder farbliche Aspekte der Wahrnehmung ist: „Der Leib ist medialer Übergang, der keine äußeren Reize nach innen transportiert, sondern der wahrnehmend den Dingen eine Gestalt gibt, die die Trennung von außen und innen immer schon überwunden hat. Der Leib bringt die Dinge für uns zur Gestalt, indem er sich ihnen wahrnehmend hingibt; er bringt sie in kopräsente Resonanz.“28 Diese Gestaltgebung geschieht im Kontext einer Weltverwobenheit, in der Menschen sich als leiblich Handelnde vorfinden, die mit den Dingen, die sie umgeben, vor jeder bewusster Reflexion bereits umgehen. Immer wieder beschreibt Merleau-Ponty ein Verstricktsein in die Welt, das die Basis aller Wahrnehmung bildet und von einer Reziprozität bestimmt ist, in der die gegenseitige Verwiesenheit des Leibes auf die Welt und der Welt auf den Leib beschrieben wird.29 Diese ist Grundlage einer Responsivität, mit der Menschen auf die Phänomene der Lebenswelt zugehen. Die Responsivität konstituiert 25 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 115. 26 Tobias Kaspari, Das Eigene und das Fremde. Phänomenologische Grundlegung evangelischer Religionsdidaktik, APrTh Bd.44, Leipzig 2010, 130. 27 Dieser Aspekt wird weiter in Kap.4 entfaltet. 28 Kaspari, Das Eigene, 127. 29 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 115ff.

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das leibliche Sein-Zur-Welt, das durch eine Durchlässigkeit charakterisiert ist, in der sich die Sinneseindrücke, die empfangen werden, einprägen. Diese Durchlässigkeit hat eine somatische, eine sinnliche und eine soziale Dimension. Sie ist gegründet in einer sensuellen Rezeptivität, in der die elementare Offenheit hin zur Welt Gestalt gewinnt. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Welt zu uns vor- bzw. in uns eindringt. Er spricht von einer Ontologie des Fleisches (frz. la chair), die eine eher gedämpfte Beziehung zur Welt beschreibt und eine andere Qualität besitzt als unsere bewussten, intentionalen Haltungen und Handlungen.30 Unter Fleisch versteht Merleau-Ponty den Zwischenraum, der durch die zwischenleibliche Wahrnehmung konstituiert wird. Diese fundamentale Offenheit ist durch Kontinuität charakterisiert: das Fleisch meines Körpers steht im Zusammenhang mit dem Fleisch des Anderen und mit der materiellen Welt, in der ich mich vorfinde. Die Kontinuität des Fleisches, von der Merleau-Ponty spricht, begründet in fundamentaler Weise die notwendige Voraussetzung der Wahrnehmung. Sie evoziert eine Reversibilität, durch die sich die Einzelne als sehend und als angesehen, als wahrnehmend und als wahrgenommen erfährt. Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Vulnerabilitätserfahrungen in der Seelsorge bedeutet dies, dass es gilt Abstand zu nehmen von Vorstellungen robuster Subjektivität, in der Menschen als autonome Sinnbildungsagenten begriffen werden, deren Leib-Sein-Zur-Welt keine Rolle spielt. Seelsorge, die eine Sensibilität für das Leib-Sein-Zur-Welt entwickelt, das von Offenheit, Perspektivität, Durchlässigkeit und Reversibilität im Hinblick auf die umgebende Umwelt gekennzeichnet ist, wird auf neue Weise über Sinnfindung und Deutung nachdenken.31 Im Hinblick auf die Facetten der Responsivität muss auch der Zusammenhang von Leiblichkeit und Sprache in Sinnfindungsprozessen, in denen die affektivleibhaftige und die symbolische-sinnhafte Ebene aufeinander bezogen werden, bedacht werden.32 In phänomenologischer Perspektive gibt es nicht einfach „den Sinn der Verletzlichkeit“, sondern Sinn bildet sich im Zusammenspiel dreier Dimensionen heraus: den subjektiven Sinngebungen, den anonymen Sinnbildungen und den intersubjektiven Sinnstiftungen.33 Die subjektiven Sinngebun30 Vgl. hierzu auch Erinn Gilson, The Ethics of Vulnerability: A Feminist Analysis of Social Life and Practice, Routledge Studies in Ethics and Moral Theory Bd. 26, New York 2014, 131f. 31 Im deutschsprachigen Raum hat Elisabeth Naurath mit ihrer Dissertation die Diskussion um die Leiblichkeit in der Seelsorge begonnen. Vgl. dies., Seelsorge als Leibsorge. Perspektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge, Stuttgart 2000. 32 Vgl. zum Zusammenhang von Leiblichkeit und Sprache in phänomenologischer Perspektive: Emmanuel Alloa/Miriam Fischer (Hg.), Leib und Sprache. Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen, Weilerswist 2013. Vgl. darüber hinaus MacKendrick, Word, 25–48. 33 Vgl. Michael Staudigl, Entwurf einer Phänomenologie der Gewalt, in: Jochen Dreher (Hg.),

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gen entstehen im leibhaften Umgang mit den Dingen im Bannkreis des Erfahrungslebens, in dem wir uns täglich bewegen, denken und handeln. Vor diesem Horizont wird Sinn abgetrotzt – dies kann auch in bewusster Negation geschehen. In phänomenologischer Perspektive treten neben die Akte aktiver, subjektiver Sinngebungen Prozesse passiver Sinnbildung. Diese umfasst die leiblichaffizierbare Dimension, an die sich im Nachhall die Bildung von Sinn anschließt und die so die Spur des Pathischen in sich trägt. Dieser Spur der Sinnbildung im Horizont leiblicher Affizierbarkeit zu folgen, scheint mir die Herausforderung einer phänomenologisch orientierten Seelsorge zu sein.34 Die Prozesse intersubjektiver Sinnstiftungen beziehen sich auf die sozialen Konstruktionen von Verletzlichkeit und wie diese rückwirkend auf das gespürte Leib-Sein-Zur-Welt sowie auf die Beziehung zwischen Menschen Einfluss nehmen. Die deutschsprachige Seelsorgetheorie hat über viele Jahre hinweg den Schwerpunkt auf die Wahrnehmung und Deutung der Akte aktiver Sinnbildung gelegt, indem Seelsorge als Rekonstruktion bzw. als Konstruktion von Lebensgeschichte verstanden wurde.35 In den vergangenen Jahren ist darüber hinaus insbesondere durch gender-theoretische und interkulturelle Perspektiven das Interesse an der sozialen Konstruktion von Sinnfindung und Identitätsbildungsprozessen gewachsen.36 Wie die pathische Dimension in den Blick genommen werden kann, wird in der Poimenik allerdings bisher nur am Rande diskutiert.37 Affizierbarkeit im Horizont der Vulnerabilität wahrzunehmen würde für die Seelsorgetheorie und -praxis bedeuten, für die Durchlässigkeit dieser drei Dimensionen aufmerksam zu werden. Das würde z. B. bedeuten, danach zu fragen, wie der Strom des Pathischen rückwirkt auf die aktiven Sinngebungstätigkeiten und auch in den interaktiven Sinnstiftungen wirksam ist.

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Angewandte Phänomenologie. Zum Spannungsverhältnis von Konstruktion und Konstitution, Wiesbaden 2012, 173–194: 176. In Kap.4 werde ich mich eingehend mit den Konturen einer Seelsorgetheorie und -praxis beschäftigen, die sich im Raum des Pathischen entfaltet. Vgl. hierzu die Klassiker im deutschsprachigen Raum, z. B. Albrecht Grözinger, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, WzM 38 (1986), 178–188; Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 22000. Vgl. z. B. Christoph F.W. Schneider-Harpprecht, Interkulturelle Seelsorge, APTh Bd.40, Göttingen; Karl Federschmidt/Eberhard Hauschildt/Christoph F.W. SchneiderHarpprecht (Hg.), Handbuch Interkulturelle Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2002; Helmut Weiss/Karl Federschmidt/Klaus Temme (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2010; Ursula Riedel-Pfäfflin/Julia Strecker, Flügel trotz allem: Feministische Seelsorge und Beratung. Konzeption – Methoden – Biographien, Münster 2011; Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge: Impulse der Familien- und Systemtherapie fu¨ r die kirchliche Praxis, Stuttgart 52014. Vgl. Anne M. Steinmeier, Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs, Göttingen 2011, 87–91. Im Bereich der Religionspädagogik vgl. Kaspari, Das Eigene.

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Ambiguität Ein leibphänomenologischer Zugang unterstreicht darüber hinaus die Ambiguität, die Vulnerabilitätserfahrungen zu eigen ist. Diese Uneindeutigkeit ist fundamental in der Spannung zwischen Ständigkeit des Leibes und der eingeschränkten Perspektivität begründet, in der das Sein-Zur-Welt gründet; die leibliche Wahrnehmung ist so immer auch in eine gewisse Dunkelheit und Unschärfe eingehüllt. Nach Merleau-Ponty breitet sich eine Dunkelheit über die ganze Wahrnehmungswelt aus.38 Wahrnehmung ist als Übergangsgeschehen immer unabgeschlossen und mehrdeutig. „Dieser Übergang wird als Zeitlichkeit der Subjektivität erfahren im Horizont von Vergangenheit und Zukunft. Das Wahrgenommene verbleibt im Dunkeln, weil es zeitlich und perspektivisch uneinholbar ist. […] Eine wahre Wahrnehmung ist keine Feststellung einer dritten Person sondern eine echte, leiblich-evidente Wahrnehmung in der Erfahrung erster Person. Das Dunkel der Wahrnehmung ist deshalb keine defizitäre Realisierung, sondern das Gewahrwerden einer uneinholbaren Fremdheit des Wahrgenommenen, die an die gemeinsame Präsenz von wahrnehmendem LeibBewusstsein und Wahrgenommenem gekoppelt ist.“39 Der sich in der Welt bewegende Leib erfährt in diesem Zwielicht immer auch einen gewissen Kontrollverlust. Diese Spannung ist zugleich konstitutiv für die Ausbildung von Vertrauen und Liebesfähigkeit. Auch für die Begegnung mit dem anderen taucht aufgrund der eingeschränkten Perspektivität meiner Wahrnehmung immer wieder die Erfahrung des Fremden und Unergründlichen auf. Der andere, der mir in seiner je eigenen Leiblichkeit entgegenkommt, die mir letztlich unerschlossen bleibt, lässt sich nicht in einen vom Gegenüber kontrollierbaren Horizont einordnen. Ich kann ihn nicht ganz und gar durchschauen, verstehen oder gar durchleuchten. „Die Kopräsenz sich gegenseitig wahrnehmender Leiber führt trotz ihrer Reversibilität im Fleisch nicht zu einer Identität, weil ein leibliches Selbst, wie es sich zu sich selbst verhält, ehe es sich in bestimmten Akten entäußert, einem anderen Selbst nicht zugänglich ist.“40 Der Wahrnehmung des Gemeinsamen haftet entsprechend immer auch der Geschmack der Fremdheit an. Diese Erfahrung von Fremdheit kann sich aber auch auf das leibeigene Spüren ausdehnen, im Leib-Sein-Zur-Welt zieht sich auch immer die Erfahrung des sich Selbst-Fremd-Seins hindurch. Die Offenheit und Affizierbarkeit, die das leibliche Sein-Zur-Welt ausmachen, basieren auf dem vitalen und fluiden Zusammenhang bzw. der Interdependenz von fundamentaler und situativer Vulnerabilität. Letztere konstituiert sich im 38 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 232. 39 Kaspari, Das Eigene, 180. 40 AaO., 171.

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reziproken leiblichen Austausch mit der sozialen Umwelt. Diese gegenseitige Durchdringung haben Merleau-Ponty und andere als Zwischenleiblichkeit bezeichnet. Im Geflecht sozialer Beziehungen schwingt das Sich-Selbst-Fremdsein immer mit, die Verschränkung von Eigenem und Fremden verdoppelt sich im Geflecht sozialer Beziehungen. „Nehmen wir das Fremde […] als etwas, das nicht dingfest zu machen ist, nehmen wir es als etwas, das uns heimsucht, indem es uns beunruhigt, verlockt, erschreckt, indem es unsere Erwartungen übersteigt und sich unserem Zugriff entzieht, so bedeutet dies, daß die Erfahrung des Fremden immer wieder auf unsere eigene Erfahrung zurückschlägt und in ein Fremdwerden der Erfahrung übergeht. Fremdheit ist selbstbezüglich, und sie ist ansteckend.“41 Nicht nur die Erfahrung der Zwischenleiblichkeit, sondern auch die religiöse Erfahrung hat mit einem Fremdwerden der zuvor gekannten Erfahrungswelt zu tun. Die sich hier zeigende Fragilität kann als Vulnerabilitätsdisposition beschrieben werden, die im zwischenmenschlichen Bereich gerade erst dazu verhilft, die Spannung von Intimität und Fremdheit aufrechtzuerhalten. Im Hinblick auf religiöse Erfahrungen geht es um Gotteserfahrungen, in denen ein Mensch sich vor jeder eigenständigen religiösen Sinndeutungsbemühung als Getroffener erfährt. In diesem Getroffenwerden wird er sich selbst ein Fremder. Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32) ist eine Beispielgeschichte hierfür. Jakob ringt ungeplant und unerkannt mit Gott und will ihm den Segen abtrotzen. Aus dieser nächtlichen Begegnung mit dem Fremden tritt er als Verletzter und dennoch Gesegneter hervor. Die Ambiguitätserfahrungen, die mit der Durchlässigkeit des Leibes hin zur Welt einhergehen, schließen darüber hinaus in grundlegender Weise die Fähigkeit zu berühren und das Spüren von Berührung, Schmerz zu erleben und Schmerz zuzufügen, die empathische Hinwendung und das Erleben der Trennung vom anderen mit ein.42 Insbesondere der Zusammenhang von Taktilität und Leiblichkeit macht deutlich, dass menschliche Wesen potenziell verletzungsoffen und liebesfähig zugleich sind. In der Berührung des Anderen taucht eine Alteritätserfahrung auf, in der die Berührende beginnt, ihrer selbst gewahr zu werden. Eine Reversibilität entsteht, in der sich die Berührende in den Status der Berührten verwandelt; diese Reversibilität ist ein Aspekt dessen, was MerleauPonty als Fleisch bezeichnet, es beschreibt das konstitutive Paradox der Empfindungsfähigkeit und somit auch der Empfindlichkeit als eines dritten Ortes oder eines Zwischenraumes.43 Fleisch ist bei Merleau-Ponty also keine verding41 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 2006, 8. 42 Vgl. zur Thematik des Schmerzes Kap.4. 43 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, The Visible and the Invisible, Evanston 1968, 135.

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lichte Substanz, sondern verweist auf die reziproke Erschlossenheit der Dinge und der Welt für den Leib; es ist das Verbindende zwischen Leib und den umgebenden Dingen der Welt. Es ist […] „dieses Bündnis zwischen den Dingen und mir, das darin besteht, daß ich ihnen meinen Leib leihe, damit sie sich in ihn einschreiben und mir ihre Ähnlichkeit vermitteln, diese Falte, diese zentrale Höhlung des Sichtbaren, die mein Sehen ausmacht […]“44 Zur Reversibilität des Fleisches gehört aber auch, dass diese von Alterität durchdrungen ist. In der Leiblichkeit der Berührung kommt sowohl die Fremdheit als auch die Nähe im Hinblick auf die Welt und auf den Anderen zum Tragen.45 Zugleich geschieht in der Reversibilität der Berührung auch immer wieder eine Verschiebung oder ein Aufschub, der eine robuste Subjektbildung verhindert. Entsprechend kann eben nicht so einfach gesagt werden: durch die Berührung des Anderen habe ich mich gefunden. In der gewaltvollen Berührung des Anderen, die bis zur Nichtung reichen kann, tritt die menschliche Verletzungsoffenheit in besonderer Weise zu Tage. Das Erleiden und das Ausüben von Gewalt destabilisieren die oben beschriebenen Dimensionen der aktiven Sinngebung, der passiven Sinnbildungen und der interaktiven Sinnstiftungen. Im Horizont erlebter Gewalt werden Symbolbildungen, die sich in politischen Ausdrucksformen ebenso wie in religiösen Ritualen zeigen, erschüttert und irritiert und müssen eine erneuerte Gestalt finden. Vor jeder Symbolisierung im öffentlichen Raum ist das Leib-Sein-Zur-Welt be- und getroffen. Ein Wahrnehmungsfeld öffnet sich, in der erlittene Gewalt in ihrer leibhaftigen Verletzungsmacht im Prozess aufkeimender Sinngebungsversuche ausgehalten werden muss. Dies betrifft sowohl die ausgeübte Gewalt, die den Raum interaktiver Sinnstiftungsprozesse zerstört bzw. unterbricht, als auch die Perspektive der Zeuginnen und Zeugen, die die Verletzung anderer sehen, artikulieren oder darüber schweigen.46 Die verschiedenen Ausdrucksformen von Gewalt beeinträchtigen auf unterschiedliche Weise das Leib-Sein-Zur-Welt. „So affiziert bspw. körperliche Gewalt nicht nur den physischen Leib, sondern darüber hinaus auch die lebensweltlichen Idealisierungen unseres ‚Ich kann‘ und damit unsere kognitive Weltoffenheit; psychische Gewalt hat hingegen immer auch Folgen für die Weise, wie wir uns leibhaftig 44 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, Übergänge Bd.13, München 1986, 191. Vgl. weiter zur Vorstellung von la chair, Pamela Sue Anderson, The Lived Body, Gender and Confidence, in: dies. (Hg.), New Topics in Feminist Philosophy of Religion: Contestation and Transcendence Incarnate. Dordrecht/London 2010, 163–180. MerleauPonty bringt den Gedanken des Fleisches auch mit der christlichen Vorstellung von der Inkarnation ins Gespräch. Vgl. hierzu besonders Mayra Rivera, Poetics of the Flesh, Durham 2015. 45 Vgl. Ann V. Murphy, Violence and the Philosophical Imaginary, New York 2013, 78. 46 Vgl. Staudigl, Entwurf, 180.

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in der sozialen Welt bewegen und ‚verorten‘; strukturelle Gewalt wiederum greift in die Habitusgenese des Subjekts ein und schafft dadurch ‚gelehrige Körper‘ (Foucault, Bourdieu); kulturelle Gewalt schließlich greift jene ‚kollektive Leiblichkeit‘ (Husserl …) an, in der sich unser ‚Ich kann‘ generativ realisiert.“47 Die Ausübung und das Erleiden von Gewalt zeigen in besonders prekärer Weise die Reversibilität des Fleisches, d.h. die gegenseitige Durchdringung und zugleich das Fremdsein und die Ambiguität, die in dieser Vulnerabilitätserfahrung zum Ausdruck kommen. In der feministischen und gender-theoretischen Auseinandersetzung wird in diesem Zusammenhang immer wieder die zwiespältige Erfahrung des leiblichen Ausgesetztseins eindrücklich zur Sprache gebracht: „Der Körper impliziert Sterblichkeit, Verwundbarkeit, Handlungsfähigkeit: Die Haut und das Fleisch setzen uns dem Blick anderer aus und auch der Berührung der Gewalt. Der Körper kann sowohl Handlungsinstanz und Instrument all dessen sein als auch der Ort, wo ‚tun‘ und ‚angetan werden, unbestimmt werden.“48 Judith Butler drückt hier noch einmal die Ambiguitätserfahrung aus, die der Vulnerabilität in der Perspektive der Leiblichkeit anhaften, nämlich dem Blick, der Berührung und der Gewalt Anderer ausgesetzt zu sein und sich in der leiblichen Interaktion als Handelnde und die Handlung anderer „am eigenen Leibe“ zu erfahren. Selbst im Streit um die körperliche Selbstbestimmung schwingt immer ein Wissen um Enteignung und Ausgesetztsein mit, da der Leib-Körper zweifellos eine öffentliche Dimension besitzt. Der Satz „mein Körper gehört mir“ drückt entsprechend nur die halbe Wahrheit aus.49 Butlers Überlegungen zum Thema der sozialen Ausgesetztheit des Leib-Körpers und der daraus resultierenden Verletzlichkeit bilden einen Ansatzpunkt für ethische und politische Reflexionen, die jedoch weiterer Ausarbeitung bedürfen.50 Ambiguitäts- und Ambivalenzerfahrungen,51 die der Verletzlichkeit anhaften, zeigen sich darüber hinaus in der Welt der Gefühle, sowohl in den als 47 AaO., 181. 48 Judith Butler, Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a.M. 2009, 41. 49 Vgl. ebd. 50 Die Überlegungen hierzu werden von Ann V. Murphy in der Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoirs Überlegungen zur ethischen Relevanz von Ambiguität weiter entwickelt. Vgl. dies., Violence, 101–114. Murphy unterstreicht darüber hinaus die ethische Ambiguität von Vulnerabilitätsphänomenen; diese würden keineswegs automatisch eine größere Sensitivität gegenüber dem Leiden anderer hervorrufen bzw. zu mehr Toleranz oder Großzügigkeit führen. Vielmehr forciert erfahrene Verletzung oftmals das Verlangen nach Vergeltung. Vgl. aaO., 66. 51 Während der Begriff der Ambiguität auf die Uneindeutigkeit von Gefühlen verweist, geht es beim Begriff der Ambivalenz eher um das gleichzeitige Auftreten sich widersprechender Gefühle. Vgl. hierzu Pauline Boss, Verlust, Trauma und Resilienz. Die therapeutische Arbeit mit dem uneindeutigen Verlust, Stuttgart 2008.

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Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen

positiv erlebten Emotionen, wie den Liebesgefühlen oder der Freude, als auch in den als eher problematisch empfundenen Scham-, und Schuldgefühlen oder dem Schmerz.52 All diese Gefühle „überkommen“ Menschen, sie widerfahren Individuen jenseits bewusster Intention und Planung. Liebesgefühle, die Freude und das Glücksgefühl affizieren den Leib ebenso wie das Scham- und das Schuldgefühl. Dies ist sprachlich eingefangen in Sätzen wie „ich berste vor Freude“ oder „das Schamgefühl durchflutete sie und ließ sie erröten“. Die Freude wird in Begriffen, die die poröse Offenheit hin zur Welt beschreiben, versprachlicht: „ich bin ergriffen“. Im Ergriffenwerden, Bersten, Durchflutetwerden deutet sich schon die pathische Qualität der emotionalen Affizierung an, in der dem Einzelnen etwas geschieht, was sich erst im Nachgang logifizieren lässt. All diese Gefühle haben einen ambivalenten Charakter, sie sind bildlich gesprochen von einem Kälte- und einem Wärmepol bewegt, der sie zu gemischten Gefühlen macht. In den affektiven Spannungsverhältnissen zeigt sich immer auch eine potenzielle Vulnerabilität. Am Beispiel der Scham kann das verdeutlicht werden: Das Schamgefühl, das auf den Wärmepol ausgerichtet ist, kann Menschen, die sich in bestimmten Situationen ungeschützt und ausgeliefert fühlen, helfen, sich zu schützen und zu umhüllen. Am Kältepol gehen dem Schamgefühl Akte der Beschämung voraus, in denen eine Person bloßgestellt und lächerlich gemacht wird. Im Phänomenbereich der Glücksgefühle – also im Vergnügen, der Freude und im Glück – lagern sich die Lust und der Wunsch nach Geselligkeit an. Glücksgefühle können einen benennbaren Bezug haben und intentional ausgerichtet sein oder sich als Stimmung ausbreiten. Sie können unterschiedliche Intensität haben und sich in Momenten verdichten, abflauen oder als Stimmung im Hintergrund wirksam sein.53 So gibt es die Stimmung der stillen Freude, die die Weltwahrnehmung grundiert und ihr eine besondere Färbung verleiht. Ekstatische Glücksmomente hingegen reißen einen aus der Stetigkeit der Alltagsgefühle heraus. Als Stimmung haben Glücksgefühle ephemeren Charakter, sie kommen und gehen, sie lassen sich nicht kontrollieren oder konservieren. Dies zeichnet die Fragilität der Stimmungen aus, die dem Phänomenbereich der Glücksgefühle zugeordnet werden können. Mit den Liebesgefühlen und der Freude ist eine intensivierte Weltwahrnehmung verbunden, die ein Glücksversprechen in sich trägt; zugleich mag aber auch die Sorge 52 Vgl. zu den Scham- und Schuldgefühlen Kap.4. Die Überlegungen zu den gemischten Gefühlen wurden in einer Dialog-Vorlesung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel im Wintersemester 2014/15 zum selben Thema gemeinsam mit Joachim von Soosten entwickelt, dem ich in Dankbarkeit für die gemeinsame Arbeit verbunden bin. 53 Vgl. zum Phänomenbereich der Glücksgefühle Christoph Demmerling/Hilge Landwehr, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, 111–126 und über die Liebe, insbesondere inwiefern diese als ein Gefühl bestimmt werden kann, 127–166.

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mitschwingen, dass das Liebesgefühl keine Antwort finden könnte oder ein potenzieller Verlust eintreten könnte, der schmerzhaft ist. Die Angst davor, abgewiesen zu werden oder dass die Emotionen „abebben“ könnten, also nur von begrenzter Dauer sein könnten, durchzieht die Gefühlswelt und gibt der Ambivalenz der Gefühle eine Gestalt.

Potenzialität Neben dem Oszillieren von Körper-Haben und Leib-Sein, den Dimensionen der Affizierbarkeit und der Ambiguität soll abschließend das Thema der Potenzialität im Hinblick auf die Beschreibung der Facetten fundamentaler Vulnerabilität in den Blick genommen werden. In unseren phänomenologischen Erkundungen fundamentaler Vulnerabilität sind bereits folgende Aspekte eingespielt worden: • die Arbeit an der Aufdeckung eines Möglichkeitssinnes in der Seelsorge, der über die Affirmation des vermeintlich Faktischen und der damit einhergehenden heteronomen Festlegung hinausgeht, • die theologische Rede von den unverfügbaren Lebensmöglichkeiten, die von Gott zugespielt werden und durch die Menschen im Raum kreativer Passivität in der Bezugnahme auf andere Geschöpf werden und so zu sich selbst kommen, • sowie die Unbestimmtheit, die mit Vulnerabilitätsphänomenen insbesondere im Hinblick auf die Zukunft einhergeht; diese können sowohl Transformationspotenziale für die Verbesserung des Lebens freisetzen als auch zur Schwächung oder Vernichtung von Leben führen. In systemischer Perspektive können Vulnerabilitätsphänomene in unterschiedlichen Lebensbereichen widersprüchliche Affekte hervorbringen. In allen drei Aspekten, die auf die Potenzialität von Vulnerabilitätsphänomenen verweisen, ist die pathische Dimension der Welt- und Gotteserfahrung zu finden, als die stets mitlaufende Spur einer elementaren Passivität oder besser einer kreativen Rezeptivität, die allen Versuchen, sich in der Lebenswelt zu orientieren, vorausgeht. Eine Seelsorge, die dem Möglichkeitssinn, der dem Leben inhärent ist, Raum gibt, wird einerseits Menschen ermutigen, sich nicht von den Beschädigungen, die mit physischen, psychischen und sozialen Verletzungen einhergehen, definieren und bestimmen zu lassen und so der Freiheit in der Lebensgestaltung mehr Raum geben. Andererseits geht es in der Seelsorge auch um die Wahrnehmung der pathischen Dimension des Lebens, die das Streben nach Freiheitsgewinn und vertiefter Liebesfähigkeit in der Gestaltung der Lebenswelt

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Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen

durchdringt.54 In dieser Dimension sind die Widerfahrnisse und die Affekte im Modus des „es geschieht mir“ verortet. Vulnerabilitätsphänomenen haftet darüber hinaus immer auch eine temporale Struktur an, die sich sowohl auf die Akkumulierung von vergangenen Erfahrungen bezieht als auch auf die Unbestimmtheit im Hinblick auf die Zukunft. In der Potenzialität, die insbesondere Krisensituationen inhärent ist, entstehen interaktive Sinnstiftungen, die keine geschlossenen Deutungssysteme, sondern dynamische Öffnungen produzieren. In diese Dynamik sind auch religiöse Deutungsversuche eingelassen. Der hier vorgeschlagene Begriff des Möglichkeitssinnes, der für eine Seelsorge im Horizont des verletzlichen Lebens zentral ist, soll im Folgenden im Gespräch mit Henning Luther und Gilles Deleuze weiter vertieft werden. Für den Praktischen Theologen Henning Luther ist die Rede vom Möglichkeitssinn eingebettet in seine Ausführungen vom fragmentarischen Leben. Seine Überlegungen sind in die Kritik entwicklungspsychologischer Identitätskonstrukte eingebettet, die in ihrer Rede von Ganzheit oder Entwicklungsreife eine Normativität setzen, die Luther für unrealistisch, naiv und theologisch inadäquat erachtet.55 Seine Rede vom Leben als Fragment entfaltet sich im Spannungsfeld von Schmerz und Sehnsucht. Der Schmerz bezieht sich auf diejenigen Aspekte der Verletzlichkeit, die sich im Verlust, in gewaltförmigen Erfahrungen der Beschädigung des Lebens bis hin zum Tod zeigen. Die Sehnsucht verweist auf die Potenzialität, die der Fragmentarität anhaftet. Hier zeigt sich das Unvollendete, Unabgegoltene, das, was noch nicht erinnert werden kann, das, was noch nicht ins Recht gesetzt wurde. Heil- und Ganzwerden kann sich dabei nur als Sehnsucht zeigen, dessen Realisierung aussteht, eine Sehnsucht, die sich jetzt im Vermissen und in einer – manchmal verzweifelten – Hoffnung zeigt: In der Verschwisterung von Schmerz und Sehnsucht, die sich inmitten der Vulnerabilitätsphänomene materialisiert, wird die Angewiesenheit auf Vollendung zum Ganzen, zu Gott, der Alles in Allem ist (1Kor 15,27), greifbar: „Das Wesen des Fragments wird nicht als endgültige Zerstörtheit oder Unfertigkeit verstanden, sondern als über sich hinausweisender Vorschein der Vollendung. In ihm verbindet sich der Schmerz immer zugleich mit der Sehnsucht. Im Fragment ist die 54 Der Begriff des Pathischen wird im Hinblick auf die Entfaltung einer Theologie der Seelsorge in Kap.4 entfaltet. 55 Vgl. Henning Luther, Identität als Fragment, Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–183 sowie Andrea Bieler, Leben als Fragment? Überlegungen zu einer ästhetischen Leitkategorie in der Praktischen Theologie Henning Luthers, in: Kristian Fechtner/Christian Mulia (Hg.), Henning Luther – Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne, Stuttgart 2013, 13–25.

Potenzialität

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Ganzheit gerade als abwesende auch anwesend. Darum ist es immer auch Verkörperung von Hoffnung.“56 In paradoxer Weise können wir im Anschluss an Henning Luther sagen, dass Menschen, die sich in diesen Hoffnungshorizont hineinstellen lassen, inmitten des verletzlichen Lebens zugleich schmerzempfindlicher und wacher werden. Hier ist die theologisch qualifizierte Rede von der Potenzialität, die Vulnerabilitätsphänomenen inhärent ist, zu verorten. Vulnerabilität ist mit einer Potenzialität verbunden, die im Anschluss an Gilles Deleuze auf die Wirklichkeit des Virtuellen verweist. Deleuze hält die Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit für wenig hilfreich. Er beschreibt vielmehr das Virtuelle als dasjenige, was noch keine Realisierung gefunden hat, als ein Potenzial, das nicht vorschnell in der Realisierung von Möglichkeiten aufgeht. Das Virtuelle ist aber nichtsdestotrotz in der Gegenwart wirksam, da es Imaginationen im Hier und Jetzt animiert. Er spricht vom Virtuellen als produktiver Domäne, die ihre eigenen Bewegungen und Ereignisse kennt und ihre Eigenständigkeit in Bezug auf das bewahrt, was aus ihr erwächst. Im Virtuellen ist Vergangenes weiterhin wirksam und zwar im Licht unerschöpflicher Möglichkeiten, die mit dem Vorübergehen einer Gegenwart ausgeschlossen werden. Die Vergangenheit koexistiert auf diese Weise mit der Gegenwart, die sie gewesen ist.57 „Denn die Erinnerung ist, wie es bereits Bergson zeigte, kein aktuelles Bild, das sich nach dem Wahrnehmungsgegenstand bildete, sondern das virtuelle Bild, das mit der aktuellen Wahrnehmung des Gegenstandes einhergeht.“58

56 Luther, Identität, 175. 57 Vgl. hierzu Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997, 109. Vgl. darüber hinaus zum Verständnis der Virtualität bei Gilles Deleuze Michaela Ott, Virtualität in Philosophie und Filmtheorie von Gilles Deleuze, in: Peter Gente/Peter Weibel (Hg.), Deleuze und die Künste, Frankfurt a.M. 2007, 106–120. 58 Gilles Deleuze, Das Aktuelle und das Virtuelle, in: Gente/Weibel (Hg.), Deleuze und die Ku¨ nste, Frankfurt a.M. 2007, 249–253: 251.

2.

Materialisierungen situativer Vulnerabilität

Die bisher entwickelten grundlegenden phänomenologischen Beschreibungen sind immer auch verstrickt in eine situative Vulnerabilität, die durch die Grammatik politischer Diskurse sowie durch kulturelle Formen der Repräsentation der Verletzlichkeitsthematik ihre konkrete Ausdrucksform gewinnt. Eine Auseinandersetzung mit diesen Dimensionen ist für die Entwicklung eines Verständnisses von Vulnerabilität unverzichtbar, das den Horizont einer Theologie der Seelsorge abzubilden in der Lage ist.

Die Grammatik politischer Diskurse Die leibliche Verankerung von Vulnerabilitätsphänomenen ist immer auch eingebettet in spezifische politisch-kulturelle Diskurse. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die sozialen Konstruktionen zu analysieren, in denen Vorstellungen von Verletzlichkeit sprachlich-diskursiv und institutionell verfestigt und in Rückwendung auf das leibeigene Spüren sukzessive materialisiert werden. Vulnerabilitätsdiskurse sind dabei oftmals in ästhetische und soziale Normalisierungsprozesse eingebettet, die stetig interaktiv und zirkulär reproduziert werden. Diese Diskurse sind von binären Wahrnehmungsrastern bewegt, die beharrlich die Unterscheidungen zwischen „verwundbar – unverwundbar“, „krank – gesund“, „normal – abweichend“, „behindert – nicht-behindert“ hervorbringen. Diese auf die leibkörperliche Klassifizierung von Normalität und Abweichung bezogene Wahrnehmung ist mit weiteren binären Oppositionen verknüpft, die das Leibsein in der Welt räumlich verorten und die mit dem weitergreifenden Raster vom Eigenen und Fremden verbunden sind. Binäre Lesarten von „drinnen – draußen“, „hier – dort“, „diese – jene“, „damals – heute“, „Inland – Ausland“ gehören zu den Diskursen, die das vulnerable Subjekt konstituieren und als dazugehörig oder fremd verorten.1 Vulnerabilitätsdiskurse sind darüber hinaus 1 Vgl. zur Kritik binärer Konstruktionen in der postkolonialen Theoriebildung Stuart Hall,

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Materialisierungen situativer Vulnerabilität

auch geschlechtlich konnotiert, insofern in der geschlechtsstereotypen Zuordnung Schwäche mit Weiblichkeit verbunden wird und Stärke und Unverletzlichkeit dem männlichen Geschlechtscharakter zugeordnet wird. Binäre Diskurse bilden einen Sinn im Hinblick auf das leibliche Sein-Zur-Welt aus, der im Hinblick auf die eingangs beschriebenen fluiden, porösen und zwiespältigen Charakteristika, die mit Vulnerabilitätsphänomen verbunden sind, auf Vereindeutigung und Verdrängung von Ambiguität setzen und darin immer wieder auch Ausschlüsse produzieren. Binäre Diskurse materialisieren sich in politischen, kulturellen und religiösen Symbolisierungen, in alltäglichen Interaktionen und Ritualisierungen, die die Effekte von Natürlichkeit und Common Sense freisetzen. Die Verdichtung binärer Diskurse wird allerdings immer wieder insbesondere von denjenigen gestört und unterbrochen, die darin marginalisiert und unsichtbar gemacht werden.2 Vulnerabilität, so kann festgehalten werden, wird diskursiv im interaktiven Feld der Sinnstiftungen hergestellt, sie wird immer wieder mit bestimmten Gruppen verbunden, obwohl sie, wie herausgearbeitet wurde, nicht einfach ein isolierbares Charakteristikum einer Person oder einer Gruppe ist. Machtvolle Faktoren innerhalb dieses Diskurses sind z. B. der Zugang zu ökonomischen Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen, in manchen Situationen tritt der Gender-Aspekt in den Vordergrund, in anderen Kontexten die ethnische Zuordnung einer Person. Oftmals überkreuzen sich auch verschiedene soziale Markierungen in ihrer Wirksamkeit. In der intersektionalen Theoriebildung wird dabei immer wieder betont, dass die genannten sozialen Markierungen in ihrer Wirksamkeit nicht einfach additiv nebeneinander gestellt werden können, sondern die vielschichtigen Verflechtungen in ihrer Dynamik bedacht werden müssen. Dies ist insbesondere für das Verstehen sozialer Vulnerabilitätsphänomene von Bedeutung. In dem eingangs eingespielten Beispiel von S. Kay Toombs ist diese Dynamik der interaktiven Sinnstiftungsprozesse nachvollzogen worden. Die architektonische Gestaltung eines Platzes trägt zum Prozess des BehindertGemacht-Werdens bei. Toombs subjektive Sinnbildungen changieren zwischen der Beschreibung von Möglichkeiten und Begrenzungen ihres Leib-Seins-ZurWelt. Diese sind in ihren Reflexionen nie starr und fixiert, sondern im Hinblick Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze, in: Elisabeth Bronfen et al. (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, 219–246. 2 In der Queer Theory wird dabei auf das widersprüchliche Phänomen aufmerksam gemacht, dass Emanzipationsbewegungen, die sich für die Überwindung der Diskriminierung und Unsichtbarmachung bestimmter Gruppen einsetzen, binäre Strukturen wiederum reproduzieren. Dies gilt beispielsweise für das Coming Out schwuler Männer, die, indem sie ihre Sichtbarkeit und Stimme reklamieren, sich zugleich als homosexuelles Gegenüber zur heterosexuellen Dominanzkultur situieren und so ungewollt die heteronormative Matrix reproduzieren.

Die Grammatik politischer Diskurse

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auf den jeweiligen Kontext flexibel. In diesem Zusammenhang betont Jacky Leach Scully aus der Perspektive der Disability Studies, dass Dependenz ein ubiquitäres menschliches Phänomen ist, das nur im Hinblick auf den Intensitätsgrad differiert. Die mit Abhängigkeiten einhergehende Bedürftigkeit kann also keineswegs nur auf bestimmte Personengruppen projiziert werden, wie die Kranken, Alten und Jungen. Auch die Bedeutung von Vulnerabilitätsphänomenen und die sozialen Grenzziehungen im Hinblick auf Behinderung müssen in diesem Zusammenhang neu durchdacht werden.3 Im Netz der intersektionalen Zuordnungen materialisiert sich der sozial markierte Körper und damit auch die soziale Vulnerabilität. In der Interaktion „sehen“ wir uns in die Existenz; durch den normierenden Blick von außen werden wir als sexualisierte und „rassialisierte“, behinderte oder gesunde, alte oder junge Körper wahrgenommen. Der normierende und normalisierende Blick, der durch binäre Wahrnehmungsraster strukturiert ist, produziert die Wahrnehmung, einen bestimmten, beispielsweise einen weiblichen, Körper zu haben. Diese Wahrnehmung wird in ein Gespür gefühlter Leiblichkeit, eben weiblich zu sein, verwandelt. In gewaltförmigen Diskursen, die von sexistischen oder rassistischen Sinngebungen belebt sind, wirkt dieser Zirkulationsprozess auf das leibliche Spüren des eigenen Selbst und der Welt zurück und bringt schmerzliche Selbstbilder hervor. Dieser Prozess wird in eindrücklicher Weise in Frantz Fanons Beschreibungen sichtbar, in denen er expressiv entfaltet, was es für ihn bedeutet, aus der Welt des Daseins zu fallen und als Objekt konstituiert zu werden: „Was war es für mich anderes als eine Loslösung, ein Herausreißen, ein Blutsturz, der auf meinem ganzen Körper schwarzes Blut gerinnen ließ? Dabei wollte ich ganz einfach ein Mensch unter anderen Menschen sein.“4 Fanon beschreibt den Ekel, der in ihm aufsteigt als Response auf das, was aus der Lebenswelt auf ihn eindringt: „Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen Merkmale und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresserei, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe, und vor allem, ja vor allem: ‚Y a bon Banania‘.“5 Die Effekte im leibeigenen Spüren, die der Zirkulationsprozess rassistischer Sinngebungen hervorruft, sind hier in bedrängender Weise beschrieben. Die ästhetisch-politischen Stigmatisierungen, die aus der Lebenswelt in Fanons LeibSein-Zur-Welt eindringen, reduzieren ihn darauf, einen schwarzen Körper zu haben und sind entsprechend gewaltförmig angelegt. Diese Form gewaltvoller 3 Vgl. Jackie Leach Scully, Disability and Vulnerability: On Bodies, Dependence and Power, in: Catriona MacKenzie et al. (Hg.), Vulnerability: New Essays in Ethics and Feminist Philosophy, Oxford 2014, 204–221: 204. 4 Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken (1952), Wien 2013, 96. 5 Ebd.

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Materialisierungen situativer Vulnerabilität

Objektivierung findet einen intensiven Ausdruck im leibeigenen Spüren, das er im Bild des Herausreißens und des Blutsturzes einfängt. Der empfangene Blick, der ihn als schwarz und männlich konstituiert, bringt das Erleben von roher Entmenschlichung hervor. Diese Weise des Verletzlich-Gemacht-Werdens verweist auf eine rassistisch strukturierte Umwelt, in der Weißsein die unsichtbare Norm darstellt, die unentrinnbar auf die Lebenswelt einwirkt. Ähnliche Normalisierungsprozesse lassen sich auch in anderen Feldern zwischenleiblicher Interaktion finden. Sie sind beispielsweise auch in der Welt der Biomedizin beheimatet und prägen die Wahrnehmung bestimmter Krankheitsbilder.6 Dabei geht es um das Körper-Haben in der Konstruktion des weiblichen Geschlechtskörpers. In der Konstitution sogenannter Frauenkrankheiten wie z. B. dem Brust- oder dem Gebärmutterhalskrebs tauchen Bilder von Weiblichkeit und Sexualität auf, die auf das leibliche Spüren und das Leib-Sein-Zur-Welt einwirken. Von Interesse ist auch, wie sich die Genderperspektive auf Krankheiten auswirkt, von denen beide Geschlechter betroffen sind wie etwa Diabetes oder Herzinfarkt bzw. die Infektion mit dem HI-Virus. Ein weiteres Thema ist die Medikalisierung lebensgeschichtlicher Einschnitte wie etwa Schwangerschaft und Geburt, Pubertät und Menopause. Soziologische Forschungen sind darüber hinaus interessiert an der Frage, ob und wie sich das therapeutische Verhältnis verändert, je nachdem mit welchem Geschlecht der jeweilige Arzt oder die Ärztin identifiziert wird.7 Neben der Genderperspektive wirken sich Armutsverhältnisse, der Zugang zu Bildung und Arbeit sowie Migrationshintergründe und ethnische Zuordnungen auf die Gesundheit aus. So kann im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung 6 Vgl. Judith Lorber/Lisa Jean Moore, Gender and the Social Construction of Illness. Walnut Creek et al. 22002. In den siebziger Jahren wurde zunächst im angloamerikanischen Raum die Unterscheidung zwischen sex und gender eingeführt, um biologistisch-deterministische Argumentationen im Hinblick auf Frauen, ihre Körper und ihre Krankheiten zu kritisieren. Biologie sollte nicht mehr als unabänderliches, von der ‚Natur‘ vorbestimmtes Schicksal begriffen werden. Diese Unterscheidung wurde in der Folgezeit jedoch beispielsweise von Judith Butler kritisiert: „Wenn also ‚Geschlecht‘ (sex) selbst eine kulturell generierte GeschlechterKategorie (gendered category) ist, wäre es sinnlos, die Geschlechtsidentität (gender) als kulturelle Interpretation des Geschlechts zu bestimmen. Die Geschlechtsidentität darf nicht nur als kulturelle Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden […] Vielmehr muß dieser Begriff auch jenen Produktionsapparat bezeichnen, durch den die Geschlechter (sexes) selbst gestiftet werden […] Die Geschlechtsidentität umfaßt auch jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine ‚geschlechtliche Natur‘ oder ein ‚natürliches Geschlecht‘ als ‚vordiskursiv‘, d. h. als der Kultur vorgelagert […] vorgestellt und etabliert wird“, Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, 24. 7 So haben Patientinnen und Patienten mit einem Diabetes Typ II, die von Ärztinnen behandelt werden, durchschnittlich einen besseren HbA1c, niedrigere Blutfette und einen niedrigeren Blutdruck als Patientinnen und Patienten, die von Ärzten behandelt werden, vgl. Heiner Berthold et al., Physician gender is associated with the quality of type 2 diabetes care, in: Journal of Internal Medicine 264 (2008), 340–350.

Die Grammatik politischer Diskurse

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unter Migrantinnen und Migranten in Deutschland ein höheres Maß an Gesundheitseinschränkungen festgestellt werden. Dabei wird die situative Vulnerabilität durch unzureichende Wohnverhältnisse, belastendende Arbeitsplätze und die psychischen Beeinträchtigungen, die der latente Rassismus der Dominanzgesellschaft auslöst, intensiviert. Die spezifischen Probleme ähneln dabei in vielerlei Hinsicht „dem Belastungsprofil von gesundheitlichen Problemen von Angehörigen niedriger sozioökonomischer Schichten der einheimischen Bevölkerung.“8 Der National Healthcare Disparities Report von 2014 macht deutlich, dass trotz der Reformen im US-amerikanischen Gesundheitssystem der Zugang zur Gesundheitsversorgung immer noch in signifikanter Weise durch den sozioökonomischen Status und die ethnische Zuordnung bestimmt wird.9 In globaler Perspektive lassen sich in vielen Ländern ähnliche Zusammenhänge beobachten.10 Situative Vulnerabilität entfaltet sich in der intersektionalen Verknüpfung unterschiedlicher Faktoren, die in einem gegebenen sozialen Umfeld wirksam werden. Das soll die hier nur angedeutete Skizze am Beispiel Krankheit verdeutlichen. Wie die gesellschaftliche Praxis sowie die Vorstellungswelten in diesem Feld geordnet werden, hängt an der sozialen und kulturellen Vermittlung zumeist binärer Symbolsysteme, in denen kategorial unterschieden wird. Diese Unterscheidungspraxis wird auf der individuellen Ebene verstärkt, indem zwischen „eine Krankheit haben“ und „krank sein“ eine Trennlinie gezogen wird. Ein Krankheit-Haben wird dabei in die Welt der Biomedizin delegiert, die die 8 Klaus Hurrelmann/Matthias Richter, Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, Weinheim/Basel 82013, 49; vgl. auch Patrick Brzoska et al., Reviewing the Topic of Migration and Health as a New National Health Target for Germany, International Journal of Public Health 60 (2015), 13–20. 9 Vgl. www.ahrq.gov/research/findings/nhqrdr/nhqdr14/key1.html (Stand: 20. 08. 2015). 10 Der Zusammenhang von Rassismus und Zugang zu Gesundheitsversorgung wird in globaler Perspektive von der US-amerikanischen Krankenpflegerin und Juristin Vernellia R. Randall reflektiert: Afrikanisch-amerikanische Männer und Frauen litten häufiger unter Bluthochdruck als Weiße. In Brasilien sei die Kindersterblichkeit in einigen ethnischen Gruppen fast doppelt so hoch wie in anderen. Die Lebenserwartung in den USA übersteige die in Haiti um 26 Jahre. In Australien hätten Angehörige der Aborigines aktuell eine Lebenserwartung von 56,9 Jahren (Männer) bzw. 61,7 Jahren (Frauen), während die Lebenserwartung in der übrigen Bevölkerung bei 75,2 bzw. 81,1 Jahren liege. In der „weißen“ Bevölkerung der USA stürben 7,3 von 100.000 Personen an Diabetes, in der indigenen Bevölkerung aber 27,8, das bedeutet eine Steigerung um den Faktor 3,8. Während der Schwangerschaft sterben dreimal so viele afroamerikanische wie weiße Frauen. Während der Geburt haben hispanische Frauen ein um 23 % erhöhtes Risiko diese nicht zu überleben im Vergleich zu Frauen mit weißer Hautfarbe. Die gesundheitlichen Unterschiede seien mit Einkommensunterschieden zwischen den Gruppen nicht hinreichend zu erklären. Vgl. Vernellia R. Randall, Racism, Health and Sustainable Development, http://academic.udayton.edu/health/07humanrights (Stand: 20. 08. 2015).

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Welt des vermeintlich objektiven Wissens repräsentiert:11 Zahlen, Statistiken und Diagnosen von Spezialistinnen; wohingegen „Kranksein“ für den subjektiven Bereich steht: Geschichten der Menschen, Stimmen der Patienten, ihre Gefühle und unwissenschaftliche Perspektiven. In dieser Unterscheidung konkretisiert sich die Oszillation von Körper-Haben und Leib-Sein in Form einer Spaltung. Binäre Diskurse beschädigen Menschen, sie produzieren Ausschlüsse, die bis zur Vernichtung der Existenz von Individuen und Gruppen reichen können. In der binären Grammatik politischer Diskurse wird die Singularität der Person ausgelöscht. Sie betäubt die Aufmerksamkeit für die Komplexität, Fluidität und das Oszillieren von Vulnerabilitätsphänomenen. Ein Verständnis von Vulnerabilität, das die Ambiguität der Phänomene ernst nimmt, wird immer wieder nach den Handlungsspielräumen fragen, die es Menschen ermöglicht, das gute Leben für sich und andere zu suchen, das den Möglichkeitssinn im Hinblick auf Freiheit, Lebendigkeit und Gerechtigkeit öffnet. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach der Entwicklung von Resilienz zu stellen. Dabei geht es um Haltungen, Symbolisierungen und Praktiken, die Einzelne und Gemeinschaften darin unterstützen, Widerstandskraft im Angesicht von akuten und strukturellen Krisensituationen, von Stress und Marginalisierungserfahrungen zu entwickeln. Die Quellen und Praktiken von Resilienz identifizieren und artikulieren zu können, ist eine zentrale Aufgabe einer ressourcenorientierten Seelsorge. Die Identifizierung personaler Ressourcen ist allerdings nur angemessen möglich, wenn ein systemischer Zugang gewählt wird, der auch die familiären und sozialen Netzwerke, die gesellschaftlichen Kontexte als Umweltbedingungen mit in den Blick nimmt und die transaktionalen Prozesse zwischen Person und Umwelt mit in Betracht zieht.12 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Das hier vorgestellte oszillierende und multidimensionale Verständnis von Vulnerabilität kann als Basis für die Ausarbeitung einer leibphänomenologisch orientierten Seelsorgetheorie 11 Darauf, dass auch das Feld der Biomedizin mit Interpretationsfragen beschäftigt ist, macht David B. Morris aufmerksam. Er nennt Beispiele, die zeigen, dass es schwierig ist, Krankheiten immer eindeutig zu definieren. „Beispielsweise sehen wir den Alkoholismus heute als Krankheit an, doch ist es nahezu unmöglich, bei schweren Trinkern eine objektiv verifizierbare Störung zu diagnostizieren. […] Ist Drogenmissbrauch eine Krankheit? Und wie steht es mit chronischen Schmerzen? In der einen Klinik diagnostiziert man einen anhaltenden brennenden posttraumatischen Schmerz in den Extremitäten ohne erkennbare Nervenschädigungen oder Läsionen als Morbus Sudeck, während die Ärzte einer anderen Klinik diese Diagnose für Unsinn halten. Die mehrdeutigen Symptome des GolfkriegsSymptoms (eine multisymptomatische Störung, die bei Soldaten nach ihrem Einsatz 1991 im Irak auftrat, Anm. A.B.) beschäftigten die institutionelle Politik ebenso wie die Wissenschaft.“ David B. Morris, Krankheit und Kultur. Plädoyer für ein neues Körperverständnis, München 2000, 41. 12 Vgl. hierzu Corinna Wustmann, Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, Weinheim/Basel 2004, 65.

Ethische Herausforderungen: Autonomie jenseits der Verletzlichkeit?

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dienen, die das Leib-Sein-Zur-Welt zum Ausgangspunkt nimmt. Es kann zu einer differenzierten Wahrnehmung verhelfen, die einerseits zu vermeiden hilft, in paternalisierender Weise bestimmte Gruppen als vulnerabel im Gegenüber zu einer als unverletzlich imaginierten Umwelt zu porträtieren und dabei auf ein ausschließlich negatives und statisches Verständnis von Schwäche und Anfälligkeit zu rekurrieren. Andererseits ermöglicht der hier vorgestellte Zusammenhang von situativer und fundamentaler Vulnerabilität, der Trivialisierung von Machtverhältnissen und Marginalisierungserfahrungen zu wehren, die durch den Rekurs auf ein abstrahierendes und bagatellisierendes Verständnis von Verletzlichkeit zustande kommen könnte.

Ethische Herausforderungen: Autonomie jenseits der Verletzlichkeit? Eine Theologie der Seelsorge, die sich sowohl mit den phänomenologischen Grundbestimmungen als auch mit den situativen Formen von Vulnerabilität auseinandersetzt und dabei bemüht ist, die Grammatik politischer Diskurse zu entziffern, wird sich auch den ethischen Herausforderungen stellen, die in diesem Zusammenhang entstehen. Ein bedrängendes Thema ist dabei die Verhältnisbestimmung von Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Autonomie, die insbesondere im Kontext familiärer und professioneller Fürsorge-Beziehungen virulent ist.13 Während Vulnerabilität und Bedürftigkeit aufgrund der leiblichen Affizierbarkeit stets präsent sind, entsteht Abhängigkeit von anderen Menschen in spezifischen Situationen.14 In der Seelsorgepraxis taucht die Thematik insbesondere in der Pflege hilfsbedürftiger Menschen, in der Begleitung Sterbender und in familiären Konfliktkonstellationen auf. In Care-Situationen schwingt die Frage nach der Menschenwürde im Kontext von Dependenzerfahrungen stetig mit. Die Wahrnehmung der hier auftauchenden Vulnerabilitätsphänomene birgt ethische Herausforderungen, mit der sich auch Seelsorgerinnen und Seelsorger auseinandersetzen müssen. Die Asymmetrie, die Abhängigkeitsbeziehungen inhärent ist, 13 In diese Beschreibungen sind sowohl Institutionen wie Alten- und Pflegeheime, Rehabilitationszentren und Krankenhäuser eingeschlossen als auch ambulante Pflegedienste, die professionelle Hilfeleitungen im häuslichen Umfeld anbieten. 14 In ähnlicher Weise definiert Susan Dodds Abhängigkeit: „To be dependent is to be in circumstances in which one must rely on the care of other individuals to access, provide or secure (one or more of) one’s needs, and promote and support the development of one’s autonomy or agency. Thus, while we are vulnerable to some degree, we are not always dependent.” Dies., Dependence, Care, and Vulnerability, in: Catriona MacKenzie et al. (Hg.), Vulnerability, 181–203: 183.

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birgt die Gefahr verschiedener Formen von Gewaltausübung in sich.15 Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, die Debatte um Care-Konzepte und Abhängigkeitsbeziehungen auf ein Konzept von Vulnerabilität zu beziehen, das diese nicht als ein Charakteristikum oder Persönlichkeitsmerkmal versteht, das einzelnen Menschen zu eigen ist, während andere davon frei sind. Die hier wirksame Unterscheidung nährt die Illusion der Unverwundbarkeit und impliziert die mögliche Projektion von Vorstellungen von Schwachheit und Inferiorität auf diejenigen, die als vulnerabel klassifiziert werden. Diese Klassifizierungsvorgänge gehen oftmals mit dem Gestus der Distanzierung einher: „wir“ sind nicht wie „sie“. Menschliche Bedürftigkeit im Kontext des Leib-Seins-Zur-Welt per se negativ zu begreifen, ist problematisch. Sie ist vielmehr eine anthropologische Grunddimension, in der sich Geschöpflichkeit als risikoreich, liebesfähig, pulsierend und auch ausbeutungsanfällig zeigt. Ein rein negativ-reduktives Verständnis impliziert die Gefahr des Paternalismus, indem sich die vermeintlich Unverletzlichen zu den Schwachen hinunterbeugen, sowie die Gefahr der Stigmatisierung und Sozialkontrolle, durch die bestimmte Gruppen in besonderer Weise marginalisiert werden.16 Die eher negativ konnotierte Vorstellungswelt hat auch einen problematischen Einfluss auf das Verständnis von Bedürftigkeit und Abhängigkeit. Vulnerabilität, die sich in Bedürftigkeit und Abhängigkeit zeigt, ist insbesondere mit den Rändern des Lebens, mit dem Geborenwerden, den ersten Lebensjahren und der Sterblichkeit verbunden. Insbesondere mit der Phase des Kindseins sind grundlegende Dimensionen der Bedürftigkeit angesprochen, die nicht ignoriert werden können. Mit der Geburt werden Säuglinge nackt in eine Welt hineingeworfen, in der sie in radikaler Weise darauf angewiesen sind, dass ihnen die umgebende Umwelt hilft, die grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen.17 Susan Dodds identifiziert fünf Bereiche, in denen sich die Abhängigkeit von Säuglingen und Kleinkindern manifestiert und die Angewiesenheit auf die Unterstützung 15 In der angloamerikanischen Diskussion wird in diesem Zusammenhang von pathogenen Ausdrucksformen der Vulnerabilität gesprochen: „These may be generated by a variety of sources, including morally dysfunctional or abusive interpersonal and social relationship and sociopolitical oppression or injustice. Pathogenic responses may also arise when a response intended to ameliorate vulnerability has the paradoxical effect of exacerbating exiting vulnerabilities or generating new ones. For example, people with cognitive disabilities, who are occurently vulnerable due to their care needs, are thereby susceptible to pathogenic forms of vulnerability, such as to sexual abuse by their carers.” Catriona MacKenzie et al., Introduction: What is Vulnerability, and Why does It Matter for Moral Theory? in: Catriona MacKenzie et al., Vulnerability, 1–29: 9. 16 Vgl. weiter zu den Implikationen eines rein negativen Verständnisses von Vulnerabilität die Arbeit von Gilson, The Ethics of Vulnerability, 31–39. 17 Mit den Leiblichkeitserfahrungen im Prozess des Alterns befasst sich beispielsweise Ulrich H. J. Körtner, Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen, Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Bd.61, Göttingen 2010, 158–182.

Ethische Herausforderungen: Autonomie jenseits der Verletzlichkeit?

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und Förderung Erwachsener offensichtlich ist. Diese beziehen sich auf die physischen Aspekte (Nahrung, Körper, Schutz), auf die kognitive Unterstützung im Hinblick auf die Orientierung in der Welt, auf besondere emotionale Bedürftigkeit im Hinblick auf verlässliche, liebevolle Begleitung, auf soziale Abhängigkeiten sowie den rechtlichen Status der Unmündigkeit.18 Im Hinblick auf Alterungsprozesse und Bedürftigkeit gilt es, besonders sorgsam zwischen den verschiedenen Phasen des Alterns und den damit jeweils verbundenen Herausforderungen und Chancen zu differenzieren. Der in vielen gerontologischen Theorien favorisierte „life span approach“ betrachtet alle Phasen des Lebens als komplexe Prozesse, die von Gewinnen und Verlusten bzw. Kompetenzerweiterung und Beschränkung von Handlungsfähigkeit geprägt sind. Dies trifft entsprechend auch für die Veränderungsprozesse im Alter zu; diese werden entsprechend in ihrer Multikausalität, Multidimensionalität und Multidirektionalität analysiert.19 Am Ende des Lebens, im Prozess des Sterbens wird die menschliche Fragilität oftmals am greifbarsten. In den Einschränkungen vitaler Körperfunktionen wird die grundlegende Affizierbarkeit des Leibes auf besondere Weise sichtbar. Die aufscheinende Bedürftigkeit am Ende des Lebens muss dabei keineswegs nur als Schwäche verstanden werden. Richard M. Zaner spricht von einer strahlenden Fragilität, die selbst im Sterbeprozess aufscheinen kann und in der Menschen sich noch einmal in der eigenen Lebendigkeit erfahren.20 Wenn in der geistlichen Begleitung von Sterbenden in der Hospizarbeit vom „Geheimnis des Übergangs“21 gesprochen wird, dann ist damit auch gemeint, dass sich im Raum der Zwischenleiblichkeit, der in der Begleitung entsteht, ein Verständnis von der zerbrechlichen Schönheit des Lebens entfalten kann, die sonst im Alltag nicht zugänglich ist oder verdeckt bleibt. Diese mögliche Erfahrung der Schönheit strahlender Fragilität bedarf jedoch eines relationalen Verständnisses von Verletzlichkeit, in der sich Offenheit, Affizierbarkeit und Empathiefähigkeit entfalten kann. Diejenigen, die sich der Begleitung von hilfebedürftigen Menschen verpflichtet wissen, sind in besonderer Weise herausgefordert, die Komplexität

18 Vgl. Dodds, Dependence, 284f. 19 Vgl. hierzu Lars Charbonnier, Religion als Ressource im Alter, in: Martina Kumlehn/ Thomas Klie (Hg.), Aging, Anti-Aging, Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung, Stuttgart 2009. 20 Vgl. Richard M. Zaner, A Meditation on Vulnerability and Power, in: Carol R. Taylor/ Roberto Dell’Oro (Hg.), Health and Human Flourishing. Religion, Medicine, and Moral Anthropology, Washington 2006, 141–158: 145f. 21 So lautet auch eines der Themen einer Langzeitfortbildung „Psychologie der Sterbebegleitung und Trauerarbeit“, organisiert vom LEB Bildungszentrum Hannover, Hannover 2015, http://biz-hannover.leb.de/attachments/article/64/LEB_Brosch%C3%BCre_Sterbebe gleitung_2015.pdf, 11 (Stand: 26. 08. 2015).

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von Bedürftigkeit, Lebendigkeit, strahlender Fragilität und Ausbeutungsanfälligkeit zu reflektieren, die derlei Beziehungen inhärent sind. Wie Bedürftigkeit und Autonomie in ethischer Hinsicht aufeinander bezogen sind, wird in der philosophisch-ethischen Debatte kontrovers diskutiert. Grundzüge dieser Diskussion zur Kenntnis zu nehmen ist für eine Theologie der Seelsorge relevant, die die praktischen Fragen in alltäglichen Fürsorge-Situationen grundsätzlich durchdenken will. In philosophischen und ethischen Reflexionen lassen sich immer dann Spuren eines unangemessenen Unverwundbarkeitsmythos ausmachen, wenn die Vulnerabilitätsthematik marginalisiert wird. Dies geschieht, wenn Themen wie Autonomie, Willensfreiheit, Gestaltungskapazität und Kontrolle der sozialen Umwelt einseitig in den Vordergrund gerückt und nicht auf Themen der Interdependenz und der Verletzlichkeit bezogen werden.22 Entsprechend wird auf das autonome, sich selbst genügende Subjekt fokussiert, das die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zu effektiver Selbstbestimmung und -kontrolle von Handlungsmotivationen und Affekten besitzt.23 In diesem Modell ist die Postulierung des freien Willens grundlegend, indem davon ausgegangen wird, dass es möglich ist, Entscheidungen allein auf der Basis rationaler Abwägungen zu fällen und diese nicht von externen Faktoren bestimmen zu lassen. Der philosophische Autonomiebegriff wurde während und seit der Aufklärung maßgeblich von Immanuel Kants Moralphilosophie geprägt.24 Autonomie definiert er als die Möglichkeit und Aufgabe des Menschen, sich selbst als freiheits- und vernunftfähiges Wesen zu bestimmen und entsprechend aus Freiheit, dem kategorischen Imperativ folgend, moralisch zu handeln. Kant verstand Autonomie im Sinne des griechischen Begriffes als Selbstgesetzgebung (autos=selbst, nomos=Gesetz). Autonomie als die Bestimmung des sittlichen Willens allein durch die Vernunft wurde für ihn zu einem zentralen Konzept der Ethik. Als eine Eigenschaft des Willens impliziert die Autonomie „[das] Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt.“25 Er bezog die Autonomie der Vernunft auf „die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz 22 Vgl. hierzu insbesondere Gilson, The Ethics of Vulnerability, 73–97. 23 Vgl. Alisa L. Carse, Vulnerability, Agency, and Human Flourishing, in: Taylor/ Dell’Oro (Hg.), Health and Human Flourishing, 35–38 sowie Alasdair MacIntyre, Die Anerkennung von Abhängigkeit, Hamburg 2001. 24 Vgl. zum Folgenden auch Thomas Zoglauer, Freiheit zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, in: Elisabeth List/Harald Stelzer (Hg.), Grenzen der Autonomie, Weilerswist 2010, 11–32. 25 Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werke in sechs Bänden, Bd.4, Darmstadt 1956, 11–102, 41.

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ist.“26 Der Begriff der Autonomie gehört dabei der Verstandes- und nicht der Sinneswelt an. Nach Kant gilt, dass die Heteronomie der Autonomie diametral entgegengestellt ist. Unter Heteronomie versteht er eine Fremdbestimmung des Willens etwa durch die Forderungen der Religion, die der Vernunft widersprechen, durch das unhinterfragte, autoritär strukturierte Befolgen von Regeln oder die Beeinflussung des Handelns durch Affekte, die zu einem fremdgesteuerten Antrieb werden. Mit der Betonung der Autonomie ging es Kant um die Befreiung von jedweder Heteronomie, die die Selbstgesetzgebung des Menschen verhindert. Philosophen, die Kant folgen, fordern entsprechend eine Meta-Autonomie, die in der Selbstreflexion der eigenen Neigungen, Schwächen, unbewussten Impulse und Leidenschaften besteht.27 Die Vulnerabilitätsthematik wird implizit in ethischer Hinsicht zur Sprache gebracht, indem Kant darauf insistiert, dass Autonomie nicht einfach freie, ungeregelte Selbstdurchsetzung meint, sondern sich stets an der Umsetzung des kategorischen Imperativs orientiert. Für die Seelsorgepraxis bedeutet dies, dass die etwaige Schutzbedürftigkeit, die mit Vulnerabilitätserfahrungen einhergehen kann, nicht missachtet werden darf. Das moralische und leib-sensitive Erwachen, das mit der Erkenntnis fundamentaler Vulnerabilität einhergeht, hat Konsequenzen für die sensible Wahrnehmung zwischenmenschlicher Interaktionen; dies gilt in ganz besonderer Weise für therapeutische und pflegerische Kontexte. Dabei geht es nach Richard M. Zaner zunächst schlichtweg um die Verantwortung, niemals Kranke oder Entkräftete zu missbrauchen und positiv gesagt, im Falle des Hippokratischen Eides, immer im Interesse des Individuums zu handeln.28 Dieses moralische Erwachen steht jedoch immer in der Gefahr, manipuliert zu werden. Die strukturelle Asymmetrie der Beziehungen zwischen der Person, die in ihrer Vulnerabilität ungeschützt ist, und der fürsorgenden Person bringt die verführerische Möglichkeit des Machtmissbrauches mit sich: „Die Wahrnehmung dessen kann schwierig, wenn nicht sogar peinlich, sein zuzugeben, dass es eine ernsthafte Versuchung innerhalb jeder Beziehung mit einem Patienten gibt, im Innersten ein Gefühl von tatsächlicher Macht über den existentiell verletzlichen Patienten, der offen und ungeschützt ausgesetzt ist – Blicken, Berührungen, Stimmen, nicht zu sprechen von den aufdringlichen ‚Eingriffen‘, wie in vielen medizinischen Begegnungen üblich.“29 Bei der Wahrnehmung der interaktiven Dimensionen in der Vulnerabilitätsproblematik geht es um das Ausbilden klarer Normen und Grenzziehungen, die helfen, ein Care26 27 28 29

AaO., 87. Vgl. Zoglauer, Freiheit, 30. Vgl. Zaner, A Meditation, 149. Vgl. aaO., 153.

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Ethos zu konturieren. Es geht zugleich aber auch um eine feinsinnigere Wahrnehmung der eigenen Handlungsimpulse im leiblichen Austausch, auch um ein Spüren, das nicht einfach in der abstrakten, auf Verallgemeinerung beruhenden Herleitung aufgeht. Im gegenwärtigen moralphilosophischen Diskurs schließen die Vertreterinnen und Vertreter des sogenannten Libertarismus an Kant an und verstärken den Akzent der Wahlfreiheit im Zusammenhang mit der Debatte um die Bestimmung der Autonomie und des freien Willens. Robert Kane nennt „drei Merkmale autonomer Handlungen […] • Urheberschaft (ultimate responsibility): Wir selbst sind Verursacher der Handlung und somit auch für sie verantwortlich. • Steuerungs- und Kontrollfähigkeit (ultimate control): Wir können unsere Handlungen steuern und werden nicht von anderen Mächten beeinflusst oder kontrolliert. • alternative Handlungsmöglichkeit (could have done otherwise): Wir hätten auch anders handeln können, d. h. selbst wenn alle Rahmenbedingungen bis zum Moment der Entscheidung dieselben gewesen wären, hätten wir uns dennoch anders entscheiden können.“30 Es stellt sich die Frage, ob diese Charakteristika freier Selbstbestimmung und autonomer Handlungsfähigkeit nicht auch die philosophische Variante des Unverwundbarkeitsmythos widerspiegeln. Ist es wirklich so, dass Menschen grundsätzlich in der Lage sind, ultimative Verantwortlichkeit und Kontrollfähigkeit auszuüben, oder stellt dies eher eine Wunschvorstellung dar? Kants Konzept der intelligiblen Freiheit, mit dem er die Vorstellung eines freien Willens begründet, wird insbesondere in den Debatten um den sogenannten Neurodeterminismus in Frage gestellt. Die Prägung unserer Handlungen durch genetisches Erbmaterial, durch die Neuronenaktivität, sowie durch den Hormonhaushalt werden als maßgebliche Faktoren dargestellt, die unser Verhalten beeinflussen. Darüber hinaus werden Umwelteinflüsse benannt, die beispielsweise auf das Konsumverhalten einwirken und die Einzelnen einer permanenten tiefen Hirnstimulation aussetzen. Die Stimulationen, die wir als Sinneseindrücke und Umweltreize aufnehmen, werden in neuronale Signale umgewandelt; diese bestimmen dann maßgeblich die Entscheidungen, die wir treffen. Es sind aber nicht nur neuropsychologische Argumente, die das genannte Ideal autonomer Handlungsfähigkeit infrage stellen. So unterstreicht die Phi30 Zoglauer, Freiheit, 15, verweist auf Kanes Merkmale autonomer Handlungen. Vgl. auch Robert Kane, Agency, Responsibility, and Indeterminism: Reflections on Libertarian Theories of Free Will, in: K. Campbell et al. (Hg.), Freedom and Determinism, Cambridge (Mass)/London 2004, 70–88.

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losophin Theda Rehbock, dass wesentliche Aspekte der menschlichen Grundsituation sowie der praktischen Urteilskraft bei der metaphysisch transzendenten Grundlegung des Autonomiebegriffes aus dem Blick geraten. Sie schreibt: „Die philosophische Aufgabe einer ethisch-anthropologischen Reflexion der Moral im Gesamtkontext der menschlichen Grundsituation […] besteht insbesondere darin, die Autonomie nicht isoliert zu betrachten, sondern sie gemeinsam mit Gesichtspunkten der sinnlich-leiblichen und interpersonalen bzw. sozialen Natur des Menschen als einen Grundzug der menschlichen Existenzformen und so auch jeder individuellen Situation im ganzen zu begreifen.“31 Nur auf diese Weise lassen sich die Forderungen nach Autonomie und Menschenwürde des Individuums in konkreten Kontexten verankern, ohne dass sie zu inhaltsleeren, abstrakten Idealen reduziert werden. Dabei geht es Rehbock darum, weder die zugrunde gelegten Moralbegriffe noch die anthropologischen Dimensionen der Leiblichkeit und der Interpersonalität einfach naturalistisch zu verstehen. Die Aussage Kants, dass Menschen Bürger zweier Welten seien, also der Welt der Vernunft und der Welt der Sinnlichkeit angehören, will sie nicht ontologisch-dualistisch interpretiert wissen. Vielmehr geht es ihr darum, herauszuarbeiten, „dass die Sinnlichkeit – für die Moral wie für die Erkenntnis, also für die menschliche Grundsituation im ganzen – zumindest ebenso grundlegend konstitutiv ist wie Vernunft und Autonomie. Aufgrund seiner sinnlich-leiblichen Verfassung als ein ‚bedürftiges Wesen‘ ist für die menschliche Vernunft das Streben nach Glückseligkeit ein ‚durch seine endliche Natur aufgedrungenes Problem‘ […] dass er nicht für sich alleine, sondern nur in Gemeinschaft, in Kooperation und Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu lösen vermag. Jeder Mensch muss zwar sein eigenes Leben selbst führen, er kann es aber nicht alleine, sondern ist dafür aufgrund seiner Bedürftigkeit unaufhebbar auf die Anerkennung, Unterstützung und unter Umständen weitergehende Hilfe anderer Menschen angewiesen.“32 Rehbock schlägt eine leibphänomenologische Perspektive als Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes vor. Soll der personale Sinnhorizont menschlicher Praxis und Urteilsfähigkeit eingeholt werden, so ist es notwendig, die sinnlichen Strukturen der Leiblichkeit als Orientierungsrahmen für menschliches Empfinden, Wahrnehmen und Handeln mit einzubeziehen: „Dazu gehören beispielsweise die phänomenologischen Strukturen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit, welche die Orientierung in Raum und Zeit ermöglichen, wie sie von Augustinus, auch von Kant (vgl. z. B. Was heißt: sich im Denken orientieren?) 31 Theda Rehbock, Grenzen der Autonomie, die Natur und die Würde des Menschen. Zur Bedeutung und Problematik des Naturbegriffs in der gegenwärtigen Ethik, in: List/Stelzer (Hg.), Grenzen, 139–164: 142f. 32 Rehbock, Grenzen, 150f.

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und der Phänomenologie Husserls oder von Heidegger analysiert werden, oder die Strukturen des Ausdrucksverhaltens, welche die Praxis zwischenmenschlichen Umgangs ermöglichen, wie sie von Helmut Plessner zum Beispiel in ‚Lachen und Weinen‘ beschrieben werden. Auch die Strukturen der Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit, welche den Orientierungsrahmen für das moralische Urteil und die ethische Reflexion bilden, gehören zur Natur als Sinnhorizont.“33 Die zu Beginn vorgestellten Skizzen von S. Kay Toombs, in denen sie ihr LeibSein-Zur-Welt beschreibt, erfahren in der skizzierten Erweiterung des Horizontes eine besondere Bedeutung. Toombs verweist auf die situative Beschränkung ihres freien Willens durch die Begrenzung ihrer körperlichen Fähigkeiten. Die Wahrnehmung und Reflexion dieser Begrenzung, die situativ bedingte aber auch irreversible Momente impliziert, bedeutet jedoch nicht, dass sie das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben aus diesem Grunde nicht artikulieren bzw. aufgeben würde. In der Mehrzahl ethischer Debatten geht es entsprechend nicht einfach um eine grundlegende Problematisierung des Rechts auf Selbstbestimmung und Freiheit oder um die Einführung von neuen Formen des Paternalismus. Es geht vielmehr um die Analyse der Möglichkeitsbedingungen der größtmöglichen Realisierung von Autonomie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass menschliche Urteilsfindung und Handlungen sich in einem komplexen Gewebe unterschiedlicher Faktoren entwickeln, die sich nicht einfach auf die abstrakten Idealvorstellungen von Urheberschaft, Steuerungs- und Kontrollfähigkeit bzw. der Artikulation alternativer Handlungsmöglichkeiten zurückführen lassen. Die strikte Gegenüberstellung von Autonomie versus Heteronomie erscheint vor dem Hintergrund der ausgeführten Überlegungen als problematisch. Die Welt des reinen, freien Willens existiert nicht, weder in neurowissenschaftlicher oder leibphänomenologischer Hinsicht noch mit Blick auf das konkret gelebte Leben mit seinen sozialen und ökonomischen Machtstrukturen und Begrenzungen, die in diesen wirksam sind. Auch sind in der Medizinethik immer wieder Situationen bzw. Dilemmata zu reflektieren, in denen das Recht auf Selbstbestimmung und autonome Handlungsfähigkeit an ihre Grenze stoßen. Im Rahmen eines vertragstheoretischen Modells wird zumeist eine Symmetrie von Rechten und Pflichten postuliert. Der vulnerabilitätstheoretische Ansatz hingegen geht davon aus, dass hinsichtlich der situativ zu bestimmenden Verletzlichkeit einer Person oder einer Gruppe das Verhältnis von Rechten und Pflichten asymmetrisch sein kann: Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen können in vielerlei Hinsicht nicht in derselben Weise Pflichten auferlegt werden wie Personen, die bestimmte Einschränkungen nicht haben. Erstere bedürfen bei33 AaO., 152f.

Kulturelle Repräsentationen: (Un)verwundbare Helden

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spielsweise im Hinblick auf schulische Betreuung weiterreichender Ressourcen und Privilegien. Legt man einen formalen Verteilungsgerechtigkeitsmaßstab und ein abstraktes Gleichheitsprinzip an, so wird man diese Form der Ungleichbehandlung nur schwer begründen können. Wird aber von fundamentaler bzw. situativer Vulnerabilität ausgegangen, können Asymmetrien auf unterschiedliche Weise reflektiert und legitimiert werden. Die Wahrnehmung und Deutung asymmetrischer Konstellationen scheint insbesondere für die andauernde Inklusionsdebatte signifikant zu sein. Vulnerabilität wird – wie ausgeführt wurde – besonders am Lebensbeginn und am Ende des Lebens sichtbar; im Geburts- und im Sterbeprozess tritt eine unausweichliche Bedürftigkeit zutage. Aber auch der Alterungsprozess, ebenso wie unterschiedliche Erfahrungen mit Krankheiten, machen Dimensionen der Vulnerabilität, insbesondere im Hinblick auf die Abhängigkeit von der Unterstützung anderer, transparent. In all diesen Passagen können Seelsorgerinnen und Seelsorger für die Deutung des verletzlichen Lebens coram Deo eintreten. Die Dimension der Bedürftigkeit jenseits eines die Wahrnehmung dominierenden Defizitparadigmas zu denken, bleibt dabei eine Herausforderung. Eine Ästhetik der Fragilität im poimenischen Interesse zu entfalten, bleibt dabei eine offene Herausforderung, die zu folgenden Fragebewegungen anleiten könnte: Wie lernen wir die Schönheit der Fragilität wahrzunehmen? Wie drückt sich Liebe, Freude, Dankbarkeit, Überschwang, das Begehren nach Beziehungen in heilsamer Weise in vulnerablen Situationen aus? Was lehren uns Sterbende über das Leben? Oder S. Kay Toombs über die Phänomenologie der Leiblichkeit?

Kulturelle Repräsentationen: (Un)verwundbare Helden Auch kulturelle Repräsentationen von Verwundbarkeit und Unverwundbarkeit, die eine tiefe kulturgeschichtliche Verwurzelung haben und deren Grundmotive bis in die gegenwärtige Popkultur, beispielsweise im Film, hineinreichen, prägen das alltagstheologische Verständnis von Vulnerabilität. Dies geschieht zumeist in impliziter oder unbewusster Weise. Einigen Spuren soll im Folgenden nachgegangen werden. Die westliche Kulturgeschichte hat zahlreiche Mythologien hervorgebracht, die die Sehnsucht nach Unverwundbarkeit zum Ausdruck bringen. Diese Sehnsucht kann als Komplexitätsreduktion interpretiert werden, in der mit der Ambiguität von Vulnerabilitätsphänomenen umgegangen wird. In den griechischen und germanischen Heldenmythologien lassen sich zahlreiche Vorbilder hierfür finden.34 Ein prominentes Beispiel ist die Nibelungensage, in der der 34 Vgl. zum Folgenden auch Ernst Friedrich Otto Berthold, Die Unverwundbarkeit in

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Materialisierungen situativer Vulnerabilität

junge Siegfried während seiner Jugend viele gewagte Unternehmungen besteht. Er besiegt unter anderem einen Drachen, in dessen Blut er sich badet. Das Blut verleiht ihm eine Hornhaut, durch die er bis auf eine Stelle zwischen den Schulterblättern, auf die während des Bades ein Blatt fällt, unverwundbar ist. Als Siegfried nach einem Jagdmahl an einer Quelle trinken will und sein Schwert ablegt, wird er mit einem Speer von seinem Hauptfeind Hagen von Tronje an eben jener Stelle tödlich getroffen.35 Ein ähnliches Motiv wird in der altgriechischen Sage über den (fast) unverwundbaren Achilleus erzählerisch ausgestaltet. Achilleus wird zur zentralen Heldengestalt der Griechen vor Troja in der Ilias des Homer. Je nach literarischer Quelle werden verschiedene Varianten seines Schicksals erzählt. Eine davon beschreibt seine Mutter Thetis als eine machtbesessene Meerjungfrau, die ihren Sohn zum unverwundbaren Krieger machen will. Sie ist besessen von dem Wunsch, den Knaben von der väterlichen Sterblichkeit zu befreien und ihm Unverwundbarkeit, und somit Unsterblichkeit, zu verleihen.36 Dem Bericht des Statius zufolge begibt sich Thetis mit ihrem Sohn in die Unterwelt und taucht ihn dort in die Wasser des Flusses Styx, der ewiges Leben gibt. Dabei hält sie ihn an der Ferse fest, sodass diese Stelle nicht vom Wasser umspült wird. Auf diese Art wird seine Ferse zur einzigen verwundbaren Stelle im ansonsten stählernen Körper. In verschiedenen Varianten wird erwähnt, dass Achilleus zu Tode kommt, indem eben diese Stelle vom Pfeil des Paris durchbohrt wird, den der Gott Apoll dorthin gelenkt hatte. Der Prototyp des Helden, der die Sehnsucht nach der Unverwundbarkeit in Szene setzt, ist im 20. Jahrhundert die von Jerry Siegel und Joe Shuster bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erschaffene Comicfigur des Superman.37 „Seine frühen Geschichten zeigen ihn vor allem als Menschen mit außergewöhnlichen körperlichen Kräften (‚physical marvel‘, ‚strongest man on earth‘ etc.), der näher an der jugendlichen Fantasie von Omnipotenz und der Sehnsucht nach konturierter Männlichkeit angesiedelt ist, als an religiösen Wünschen und Bedürfnissen.“38 In der Superman-Verfilmung von Richard Donner aus dem Jahre 1978 wird die Heldenfigur dann mit implizit religiösen

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Sage und Aberglauben der Griechen mit einem Anhang über den Unverwundbarkeitsglauben bei anderen Völkern, besonders den Germanen, RGVV Bd.11.1, Berlin 1911. Vgl. Jürgen Lodemann, Siegfried und Krimhild. Die Nibelungenchronik, Stuttgart 2002. In einigen Quellen wird darüber hinaus berichtet, dass Thetis alle ihre Kinder in ein Gefäß mit sprudelnd heißem Wasser setzt, um sie unsterblich zu machen, in einer anderen Variante salbt sie ihre Sprösslinge bei Tage mit göttlichem Nektar und setzt sie nachts ins Feuer. Vgl. zum Folgenden Les Daniels, Superman: The Complete History, San Francisco 1999 und Thomas Hausmanninger, Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos, Frankfurt a.M. 1989. Thomas Hausmanninger, Mythen von Religion. Comicverfilmungen in den USA, in: Thomas Bohrmann et al. (Hg.), Handbuch Theologie und Populärer Film Bd.2, Paderborn et al. 2009, 31–51: 38.

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Zügen charakterisiert, sodass die ersten Taten Supermans eine Art neuer Heilszeit ankündigen.39 Superman ist ein Paragon, dem von Geburt an Unverwundbarkeit, übermenschliche Kraft und die Fähigkeit zu fliegen zu eigen ist. Er ist ein Alien; als letzter Überlebender des Planeten Krypton kann er sich mit großer Geschwindigkeit fortbewegen. Er besitzt eine teleskopisch und thermisch geleitete visuelle Wahrnehmungsfähigkeit, ein fotografisches Gedächtnis und ein absolutes Gehör. All diese Fähigkeiten verschaffen ihm eine übermenschliche Kraft im Kampf mit bösen und üblen Gestalten. In den Versionen des Superman, die seit den fünfziger Jahren auf den Markt kommen, wird dieser als moralisch integrer Held beschrieben, der sich gegen Ungerechtigkeiten erhebt und die Schwachen beschützt. Doch auch Superman hat seine Schwachstelle. Diese liegt in der Gefahr, die für ihn von dem Mineral Kryptonit ausgeht. Dieser zumeist grün schimmernde Kristall schwächt seine Kräfte immens. Ist er ihm zu lange ausgesetzt, kann er bis zur Todesgefahr entkräftet werden. In einer anderen Variante hat das schwarze Kryptonit die Kraft, die Persönlichkeit eines Menschen in eine gute und eine böse Seite zu spalten; die Berührung mit der roten Version des Steins verwandelt Superman sukzessive in eine böse Figur. Die Verwundbarkeitsthematik ist in den Superman-Comics und später den Kinofilmen entsprechend sowohl mit der Gefahr des Todes des Superhelden verbunden als auch mit der Affizierung mit bösen Mächten, die den Charakter und die Handlungen des Helden ins Böse verkehren. Unverwundbarkeitsphantasien sind aber auch mit mythologischen Figuren verbunden, denen das Abgründige und Unheimliche anhaftet. Insbesondere osteuropäische Vampirgeschichten üben dabei eine starke Anziehungskraft aus.40 Vampire sind in den meisten Traditionen wieder zum Leben erwachte menschliche Tote, die vorwiegend des Nachts mit verschiedenen übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet sind. Insbesondere als blutsaugende Nachtgestalten, die tagsüber in Grabstätten hausen und im Dunkeln Menschen, zumeist an der Halsschlagader, Bisswunden zufügen und so ihren Blutdurst stillen, verkörpern sie auf unheimliche Weise übermenschliche körperliche Kraft, Attraktivität und sexuelles Begehren. Vampiren wird in der Regel Unsterblichkeit zugeschrieben. Ihre besondere Kraft besteht darin, dass jeder getötete Mensch potenziell selbst zum Vampir werden kann. Sie zu töten, und so den Bann des Unheimlichen zu brechen, bedarf besonderer Anstrengungen. Um die Rückkehr 39 Vgl. aaO., 40. 40 Vgl. zum Genre der Vampirerzählungen mit einem Fokus auf die Unsterblichkeitsthematik Norbert Borrmann, Vampirismus. Der Biss zur Unsterblichkeit, München 2011; Rebecca Housel/J. Jeremy Wisnewski (Hg.), Twilight and Philosophy. Vampires, Vegetarians, and the Pursuit of Immortality, Hoboken 2009.

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der Vampire als Untote zu verhindern, wird Enthauptung vorgeschlagen bzw. das Schlagen eines Holzpflocks mitten durch das Herz (das sogenannte Pfählen). Es gibt aber auch Einschätzungen, dass das Pfählen lediglich eine Art Totenstarre herbeiführt, die sich auflöst, sobald der Herzpfahl aus dem Herzen herausgezogen wird. Die Verwundbarkeit der Vampire erscheint also als eine strittige Angelegenheit; auf alle Fälle ist ihre Schwachstelle das Tageslicht, das sie all ihrer übermenschlichen Fähigkeiten beraubt und dem sie entfliehen müssen. Die Unverwundbarkeitsmythologie spielt im Fall der Vampirgeschichten im Zwischenreich zwischen den Toten und den Lebenden. Ein durchgängiges Charakteristikum all dieser Erzählungen scheint zu sein, dass sie die Spannung zwischen Allmachtsphantasien (z. B. unbesiegbar oder unsterblich sein) und der Angst vor der Verletzung bzw. der Grenzüberschreitung inszenieren. Die Mythen der Unverwundbarkeit sind bewegt von dem obsessiven Umgang und dem Verhüllen des Soft Spot, der Wunde, der Öffnung, des Momentes der Schwäche oder der Angst vor der Sterblichkeit, die verletzlich macht. Mit der Unverwundbarkeitsthematik sind verschiedene Motive verbunden: die Obsession mit Machtgelüsten, Vorstellungen von Männlichkeit und kriegerischer Potenz des Helden. Im Fall von Superman wird die Unverwundbarkeit jedoch nicht mit Despotismus, sondern mit dem Kampf für das Gute, für die Armen und Schwachen verbunden. Im Falle der Vampirtraditionen geht es u. a. um die abgründigen Seiten sexuellen Begehrens, das im Kontext der Sterblichkeit und der verletzlichen, aber pulsierenden Leiblichkeit thematisiert wird. Die Mythologien der Unverwundbarkeit sind dabei zumeist in dualistische Strukturen eingelassen, die letztlich bestärkt werden: Leben und Tod, Tag und Nacht, Macht und Ohnmacht, rein und unrein. Die Lösungen, die in den Narrativen angeboten werden, zielen oftmals auf die Überwindung der beschriebenen Ambivalenz. Diese wird jedoch via negativa in der Angst vor der Verletzung immer wieder hervorgebracht und gewinnt auf diese Weise – durch den Abwehrmechanismus hindurch – eine besonders machtvolle Gestalt. Die eingespielten Beispiele wehren allesamt die Vorstellung von Vulnerabilität als eine das Leben fundamental durchziehende Dimension ab und beziehen sich stattdessen auf eine Vorstellung partieller Verwundbarkeit, die durch eingrenzbare Zeiten, Objekte und Körperstellen sichtbar wird. Die Bezwingung, das Verstecken und das Kontrollieren dieser Schwachstellen wird zur Lebensaufgabe, wird Teil eines Heilsplans oder ist Voraussetzung des militärischen Siegs. Stirbt der Held, haftet dem Tod immer etwas Tragisches an, schließlich hätte es auch anders kommen können. Bis in die Gegenwart hinein ist die Ambivalenz der Verletzlichkeit ein Thema, das einen breiten Raum in der Popkultur einnimmt. Es erscheint geradezu als ein dominanter Topos, der die Mythen der Rettung und der Erlösung durchzieht.

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Diese Mythologien der Unverwundbarkeit motivieren auch politische Metaphernbildung. So wollte der amerikanische Präsident Ronald Reagan im Rahmen seiner Militärpolitik das sogenannte Fenster der Unverwundbarkeit schließen.41 Damit griff er ein Bild auf, das das Pentagon im Jahre 1978 in den Aufrüstungsdiskurs einspeiste und das die Gefahr eines atomaren sowjetischen Erstschlages beschrieb. Dieses Bild legitimierte maßgeblich die atomare Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen, die in Europa stationiert werden sollten. Das Fenster der Verwundbarkeit schließen zu wollen, kann als ein moderner politischer Mythos der Unverwundbarkeit interpretiert werden. Auch die politisch-religiöse Rhetorik, die im Anschluss an den 11. September 2001 den sogenannten Krieg gegen den Terrorismus ebnete, war im Angesicht des verletzlichen Lebens von der Beschwörung absoluter Stärke geprägt.42 Die Theologin Dorothee Sölle bringt in einem ihrer Gedichte das Problem auf den Punkt: Das fenster der verwundbarkeit so sagen die militärs um die aufrüstung zu begründen muss geschlossen werden. Ein fenster der verwundbarkeit ist meine haut ohne feuchtigkeit und ohne berührung muss ich sterben. Das fenster der verwundbarkeit wird zugemauert mein land kann nicht leben. Wir brauchen licht um denken zu können wir brauchen luft um atmen zu können wir brauchen ein fenster zum himmel.43

41 Vgl. hierzu auch Dorothee Sölle, Das Fenster der Verwundbarkeit. Theologisch-politische Texte, Stuttgart 1988. 42 Vgl. hierzu Andrea Bieler, Die Rede von Gott im Krieg gegen den Terrorismus, in: Luise Schottroff et al. (Hg.), Das Imperium kehrt zurück. Das Imperium in der Bibel und als Herausforderung für die Ökumene heute, Wittingen 2006, 48–56. Vor dem beschriebenen Hintergrund greift die Philosophin Judith Butler die Frage nach der umfassenden Anerkennung menschlicher Verwundbarkeit als Basis für eine politische Ethik und Praxis wieder auf. Solch ein Anerkennungsprozess – oder dessen Verweigerung – sollte ihres Erachtens politischen Analysen bzw. ethischer Normenbildung zugrunde liegen. Vgl. dies., Gefährdetes Leben. 43 Dorothee Sölle, die religiöse dimension der sogenannten friedensbewegung, in: verrückt nach licht. Gedichte, Berlin 1984, 167.

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Materialisierungen situativer Vulnerabilität

Kulturelle und politische (Un)verwundbarkeitsdiskurse sind weiterhin wirksam im öffentlichen Leben. Sie werden aber immer wieder gestört und unterbrochen von den Stimmen, die die Fragilität des Lebens als Basis politischer, ökologischer und kultureller Aufbrüche und Initiative verstehen. In diesem Kontext ist auch die christliche Rede von Gott, die sich des verletzlichen Lebens in ihrem Facettenreichtum bewusst ist, zu verorten. Im folgenden Kapitel wird die Aufmerksamkeit auf die vielgestaltige christliche Gottesrede und die religiösen Symbolisierungsprozesse gelenkt, die an die Vulnerabilität angelagert sind. Ausgehend von der Frage nach der Bedeutung von Gottesbildern und -vorstellungen in der Seelsorge wird ein Perspektivwechsel vollzogen und danach gefragt, inwiefern es sinnvoll ist, in trinitarischer Hinsicht vom verletzlichen Gott zu sprechen. Diese Überlegungen werden von weiteren Fragen begleitet: Wie werden Vulnerabilitätsphänomene im Raum der jüdischchristlichen Tradition wahrgenommen und gedeutet? Welche Bedeutung hat das Thema der Verletzlichkeit für die Gottesbilder und die theologischen Reflexionen, die die Seelsorgepraxis begleiten? Wie werden die vielschichtigen Erfahrungen verletzlichen Lebens in die Deutung des Menschseins vor Gott eingetragen?

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Schatten der Verletzlichkeit: Gottesbilder und -vorstellungen in der Seelsorge

Imaginationsräume In den vorangegangenen Kapiteln wurden phänomenologische Erkundungen im Hinblick auf die fundamentalen Dimensionen von Vulnerabilität vorgestellt, die Menschsein bestimmen. In der oszillierenden Verschränkung von Leib-Sein und Körper-Haben verdichten sich die Affizierbarkeit, die Ambiguität und die Potenzialität, die das Leib-Sein-Zur-Welt ausmachen. In den Materialisierungen situativer Vulnerabilität zeigen sich die besonderen lebensweltlichen Umstände, die auf Menschen einwirken. Beide Dimensionen sind im gelebten Leben ineinander verwoben und bedürfen der Aufmerksamkeit. In beiden steckt ein Möglichkeitssinn, der in der Fragilität immer auch ein Transformationspotenzial vermutet. Seelsorgerinnen und Seelsorger, die die facettenreichen Phänomene der Verletzlichkeit sensibel und kritisch wahrnehmen, sind herausgefordert, die genuin theologische Dimension der Thematik im Hinblick auf die eigenen und die wahrgenommenen Gottesbilder und -vorstellungen zu durchdenken. Wenn wir von Gott als der Wirklichkeit des Möglichen ausgehen, dann können seelsorgliche Gespräche, in denen Menschen sich über ihre Verletzlichkeitserfahrungen austauschen, zu Orten der Gotteserfahrung werden, in denen sich die Blicke auf die Verletzlichkeit des Lebens in heilsamer Weise öffnen und verwandeln können. Begegnungen in der Seelsorge haben entsprechend einen offenen dynamischen Charakter, Öffnungen können entstehen, in denen die kreativen Lebensmöglichkeiten, die Gott Menschen zuspielt, Konturen gewinnen. Anne M. Steinmeier unterstreicht die kreatorisch-offene Gestalt des seelsorglichen Gesprächs im Anschluss an Joachim Scharfenberg: „Denn allein die Form des offenen Gesprächs ermöglicht das Sich-Einlassen auf die Wahrheit Gottes im Leben eines Menschen, die nicht als vorgegebene Botschaft für einen anderen zu wissen und bloß mitzuteilen

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Schatten der Verletzlichkeit: Gottesbilder und -vorstellungen in der Seelsorge

ist, die vielmehr nur mit einem Menschen in ihrer je eigenen Sprache gefunden werden kann.“1 Seelsorgliche Begegnungen sind davon geprägt, dass Gottesbilder und -vorstellungen mitschwingen, die lebensgeschichtlich verortet und oftmals in unbewusster Weise wirksam sind. Dies gilt auch für Menschen, die keine spezifisch kirchliche Sozialisation genossen haben. Wenn von Gottesbildern gesprochen wird, so ist damit Folgendes gemeint: Gottesbilder (im Plural) sind Gebilde der kreativen Imagination: Menschen machen sich Bilder von Gott. Oder religionspsychologisch gewendet: Bereits in der frühkindlichen Phase entwickeln sich Gottesbilder, die im Anschluss an die Objektbeziehungstheorie als Objektrepräsentanzen verstanden werden können; in diesen sind zumeist an die Eltern gekoppelte Beziehungserfahrungen abgespeichert und gespiegelt.2 Gottesbilder sind oftmals intensiv emotional besetzt. Sie entstehen im Raum der Imagination im Kleinkindalter, indem mit dem Wort Gott bereits in der präödipalen Phase prägende Erfahrungen und bestimmte Erlebnisse verknüpft werden.3 Das Konnotationsfeld, das mit dem Gottesbild verbunden ist, erhält entsprechend eine spezifische emotionale Färbung.4 Objektrepräsentanzen, d. h. auch Gottesbilder, sind grundsätzlich in den spannungsreichen Prozess von Selbstwerdung und psychischer Lebensbewältigung eingebettet. Gottesbilder, die religionspsychologisch als Objektrepräsentanzen gedeutet werden können, sind in den ersten Lebensjahren noch stark von den Charakterzügen der Eltern überzeichnet.5 Diese können sich aber im Laufe der Entwicklung verwandeln, indem neue Beziehungserfahrungen und vor allem Gottesvorstellungen hinzutreten und auf die bestehenden Bilder einwirken.6 1 Anne M. Steinmeier, Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs, Göttingen 2011, 21. 2 Zur Entwicklung emotional vitaler Gottesbilder vgl. den Klassiker von Ana-Maria Rizutto, The Birth of the Living God: A Psychoanalytic Study, Chicago 1979; insgesamt zur Bedeutung einer religionspsychologisch fundierten Auseinandersetzung mit Gottesbildern im Kontext der Praktischen Theologie: Hellmut Santer, Persönlichkeit und Gottesbild. Religionspsychologische Impulse für eine Praktische Theologie, APrTh Bd.42, 2003. 3 „As soon as their representational abilities (object constancy) permit, most children fantasize overtly about objects created in their minds. They populate their transitional space generously with fascinating creatures – God among others. The process encompasses the entire period that starts with object constancy and does not cease until adolescence, when new phenomena appear, integrating the old with the new.” Rizutto, The Birth, 190. 4 Der von Ana-Maria Rizutto vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Gottesbild (image of God), Gottesvorstellung (concept of God) und Gottesrepräsentanz (God representation) folge ich in diesem Zusammenhang nicht. Ich unterscheide stattdessen zwischen Gottesbildern, die auch Gottesrepräsentanzen inkludieren, und Gottesvorstellungen. 5 Vgl. aaO., 208f. 6 Rizutto unterstreicht die dynamische Qualität von Objektrepräsentanzen: „The capacity to grow, to create a world not reduced to the compulsion to repeat, and most specifically the ability to update the representation of changing parents and to know new objects in their own

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Demgegenüber werden im Folgenden unter Gottesvorstellungen von außen hinzukommende Metaphern bzw. eher abstrakte Konzepte verstanden, die zunächst einmal kein emotionales Gewicht haben; dies verändert sich erst, wenn sie mit den Gottesbildern in einen vitalen synergetischen Kontakt treten. Gottesvorstellungen werden durch das soziale Umfeld vermittelt; hierzu gehören auch die metaphorischen und konzeptionellen Traditionsbestände der jüdischchristlichen Tradition. Alles Reden von Gott ist den Bedingungen menschlicher Entwicklung, Kommunikation und Imagination unterworfen. Für die Theoriebildung ebenso wie für die Seelsorgepraxis ist es hilfreich, zwischen Gottesvorstellungen und -bildern zu unterscheiden und aufmerksam wahrzunehmen, wie beide Dimensionen sich gegenseitig beeinflussen, bereichern oder Spannungen erzeugen und so das Glaubensleben und die Lebensbewältigung prägen. Zugleich muss in theologischer Hinsicht betont werden: Gottes Sein und Wirken in der Welt ist nicht identisch mit den Bildern und Vorstellungen, die wir uns machen. Der bilderkritische Zug, der in der jüdisch-christlichen Tradition eine wichtige Rolle spielt, will gerade dies zum Ausdruck bringen. Diese Unterscheidung ist auch für die Seelsorge zentral und sollte immer wieder zur kritischen Reflexion der Bilderwelten anleiten, in denen Seelsorge-Suchende leben und verstrickt sind. Diese Praxis der kritischen Unterscheidung ist für Seelsorgerinnen und Seelsorger eine Ressource. Sie bildet die Basis für die Ausbildung von Freiheit und Vertrauen in der Seelsorgearbeit und kann entlastend und befreiend wirken. Gottes, durch den Heiligen Geist vermitteltes Wirken inmitten menschlicher Verletzlichkeit hängt letztlich nicht an den Plausibilisierungsbemühungen, mit denen Seelsorgerinnen und Seelsorger aufwarten. Gottes Geist ist wirksam auch durch den Widerstand hindurch, den unangemessene Gottesbilder und -vorstellungen produzieren mögen. In der Entfaltung einer Theologie der Seelsorge gilt es, die metaphorische Qualität der Gottesrede zu reflektieren: „Die Gott-Metaphern versinnlichen Gott, aber sie bilden ihn nicht ab; sie nennen ihn, aber sie legen ihn nicht begrifflich fest; sie sprechen sein Wesen und sein Wollen aus, aber sie leiten kein Glaubensgesetz daraus ab, sie bilden Gott der menschlichen Vorstellungskraft ein, ohne die Menschen auf ein Bild – auf ihre eigenen Projektionen – zu fixieren; sie provozieren die Vorstellungskraft, das ihr nachspürende Denken und Sprechen, sich vorzustellen und auszusprechen, wie Gott ist […].“7 In diesen Versinnright remains unexplained. The capacity […] cannot be explained if the theory of object representation continues to suggest that they are concrete, discrete, fixed entities in the mind at the service of repetition. A more comprehensive theory is needed to allow for a wider range of phenomena including multiple reelaborations and reshapings of connected objects andself-representations.” Rizutto, The Birth, 64. 7 Jürgen Werbick, Bilder sind Wege. Eine Gotteslehre, München 1992, 64.

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bildlichungsprozessen entfalten Metaphern einen uneigentlichen Sprachgebrauch, in dem die Wahrheit einer Sache oder einer Person sich zeigt, in dem eine sachliche Dissonanz erzeugt wird. Es ist der Sprachgebrauch, bei dem der Kontext zeigt, dass ein faktisch oder logisch falsches Wort im tieferen Sinne wahr ist. Das falsche Wort wird zum richtigen Wort; um über X zu reden, wird das Bild von Y gebraucht.8 Von Gott als Vater oder Mutter, als Licht oder Fels zu sprechen, bedeutet um die Sache, um die es geht – nämlich von Gott zu sprechen – auf eine Art und Weise „herumzureden“, dass sie wahrhaftig und glaubwürdig wird, obwohl sie faktisch unangemessen ist. Damit Metaphern ihre Wirkung entfalten können, muss allerdings ein materialer oder plausibler Haftpunkt gegeben sein, der eine Verbindung oder einen Kontakt zwischen Zeichen und Bezeichneten herstellt. Für den Kontext der Seelsorge ist wichtig festzuhalten, dass metaphorischer Rede immer etwas Provisorisches anhaftet, es ist ein Sprechen „auf Probe“, Metaphern können eine Fraglichkeit und eine „gutartige Unbestimmtheit“ inspirieren, die eine erwartungswidrige Horizontüberschreitung und imaginative Variation ermöglicht.9 Metaphorische Gottesrede beinhaltet immer einen Annäherungsversuch, der Frageräume weitet, sie will kein unmittelbares Abbild erzeugen, das Imaginationsräume verschließt, sondern will diese öffnen. Seelsorgliche Gespräche können in diesem Sinne auch das Begehen des metaphorischen Feldes ermöglichen, in dem Menschen probeweise ihre Gottesbilder und -vorstellungen und die damit verbundenen Hoffnungen und Ängste ausdrücken können, um sie dann zu bestärken oder zu verändern. In metaphorischer Gottesrede und den damit verbundenen Bildern spiegeln sich Transzendenz- und Gotteserfahrungen. Metaphorische Rede kann aber auch erstarren. Diese Bilder sind immer zugleich Ausdruck von Wünschen und Ängsten, die Menschen aufgrund ihrer Familiengeschichte, individueller Erfahrungen und gesellschaftlicher Umstände, auf die sie oftmals nur in eingeschränkter Weise Einfluss haben, entwickeln. Sie können als Projektionen wirksam sein, die bestimmte Funktionen in der jeweiligen Lebensgeschichte erfüllen. Die Verwendung von Gottesbildern impliziert oftmals eine Beziehungsdimension, in der sich biographische Erfahrungen widerspiegeln. Entsprechend hält Michael Klessmann fest: • „Wer Gott als Vater bezeichnet, sieht sich selbst als Kind – aber mit welchem Erfahrungshintergrund ist diese Bezeichnung emotional gefüllt? Es kann die 8 Vgl. z. B. Gail Ramshaw, Liturgical Language: Keeping it Metaphoric, Making it Inclusive, Collegeville 1996, 7. 9 Diese Kraft der Entselbstverständlichung, die dem Reden und Denken in Metaphern innewohnt, unterstreicht Phillip Stoellger, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, HUTh Bd.39, Tübingen 2000, 169.

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Erinnerung an einen lieben oder an einen strengen und strafenden Vater sein, die sich mit diesem Bild verbindet; es kann die Sehnsucht nach einem nie vorhandenen oder wenig präsenten Vater sein oder der Wunsch, ihn endlich loszuwerden. Wer Gott als Richter versteht, fürchtet sich vielleicht vor der Strafe; vielleicht sehnt er aber auch ausgleichende Gerechtigkeit herbei. Wer zum ‚lieben Gott‘ betet, versteht seine Glaubensbeziehung vielleicht als eine liebevolle und freundliche, möglicherweise aber auch etwas harmlose Beziehung: Wie sind Erfahrungen von Leid und Unrecht mit diesem ‚lieben‘ Gott zu vereinbaren?“10

Welche Bedeutung und Wirkung Gottesbilder im Leben von Menschen haben, lässt sich am besten verstehen, wenn die Lebenserfahrungen, die an diese Bilder anknüpfen, im Gespräch artikuliert werden können.11 Gottesbilder und -vorstellungen im Schatten der Verletzlichkeit zu bedenken, heißt danach zu fragen, wie Vulnerabilitätserfahrungen und Gottesbilder aufeinander bezogen sind. Michael Klessmann beschreibt verschiedene Möglichkeiten der Bezugnahme. So kann ein positiver Anknüpfungspunkt existieren, wenn der leibliche Vater als liebend, fürsorgend und gerecht erlebt wurde. Dann können diese Attribute auf die Vaterfigur innerhalb des Gottesbildes übertragen werden. Das Vatersymbol kann aber auch als Kontrastfigur fungieren, weil der eigene Vater als gewaltvoll und willkürlich handelnd erlebt wurde. Dann kann die Metapher des göttlichen Vaters als befreiend erlebt werden. Der so ganz andere Vater eröffnet dann vielleicht sogar die Möglichkeit der kritischen Distanzierung vom leiblichen 10 Michael Klessmann, Seelsorge: Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 32010, 215. 11 Insbesondere religionspsychologische Forschungen untersuchen die Wirkungen von Gottesbildern und -vorstellungen im Hinblick auf Herausforderungen in der Lebensbewältigung. Hier hat Kenneth Pargament das Stichwort „coping with religion“ eingeführt. Er unterscheidet drei Methoden des Coping: a) der verlagernde Stil delegiert die Lösung von Problemen an Gott (deferring style); b) im selbstbestimmten Modus benutzt die jeweilige Person die als geschenkt erlebte Kraft Gottes, um eigenständig Probleme zu lösen (self-directing style); c) der kollaborative Stil versteht Gott als eine Art Teamplayer in der Bearbeitung von Problemen (collaborative style). Pargament kommt im Anschluss an seine empirischen Untersuchungen zu dem Schluss, dass das letztgenannte Mittel im Hinblick auf die psychische Stabilität von Menschen als das wirkungsvollste zu beschreiben ist, da bei der Gruppe, die diese religiöse Coping-Strategie favorisiert, eine signifikant geringere Neigung zu Depressionen zu verzeichnen ist. Vgl. Kenneth I. Pargament, The Psychology of Religion and Coping: Theory, Research, Practice, New York 1997. Pargament arbeitet in vielen empirischen Untersuchungen den positiven Einfluss religiöser Vorstellung im Umgang mit stressvollen Situationen heraus. Er beschreibt aber auch die Konstellationen, die negative Auswirkungen haben. Einen guten Überblick über die gegenwärtige Forschungslandschaft zum Thema der Auswirkung von Religiosität im Alltag bietet Michael Utsch, Gottesbilder und religiöse Entwicklung, WzM 66 (2014), 579–589.

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Vater. Es ist darüber hinaus aber auch denkbar, dass die gewaltvolle Erfahrung eines willkürlichen strafenden Vaters im Gottesbild Eingang findet und somit die Lebenserfahrung differenzlos auf das Gottesbild übertragen wird. Die Praxis der kritischen Unterscheidung in der Seelsorge bedeutet in solch einem Fall, dass sich Seelsorgerinnen und Seelsorger selbst theologisch über das Thema des strafenden Gottes Rechenschaft ablegen müssen, um Menschen fundiert begleiten zu können. Darüber hinaus lässt sich oftmals eine Korrelation von Gottes- und Selbstbildern entdecken. Legt man Fritz Riemanns Persönlichkeitstheorie zugrunde, würde der sogenannte schizoide Persönlichkeitstypus, der sich am wohlsten in Distanzbeziehungen fühlt, auch im Gottesbild die Andersartigkeit Gottes, das hierarchische und distanzierte Gott-Mensch-Verhältnis betonen, während der Nähetypus eher zu intimen Gottesbildern bis hin zu Verschmelzungsphantasien im Hinblick auf die Gottesbeziehung neigt. „Für die Ordnung und Verlässlichkeit liebenden Menschen (Ordnungstypus) ist Gott häufig derjenige, der Ordnung und Verlässlichkeit garantiert, der Schöpfer, der Richter, der Allmächtige; während die, denen Wechsel und Veränderung angelegen ist (Veränderungstypus), Gott als den Ursprung des ständigen Wechsels verstehen, als Geist, der weht, wo er will, als Feuer, das wärmt, antreibt und verbrennt.“12 In der religionspsychologischen Forschung wird also immer wieder die ambivalente Wirkung von Gottesbildern betont wird, die Menschen sowohl trösten und befreien als auch ängstigen und niederdrücken können.13 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Es gibt keine religiöse Kommunikation, in der das pure An-Sich-Sein-Gottes isoliert und relationslos zur Sprache gebracht werden könnte, die nicht an menschliche Imaginationsprozesse zurückgebunden wäre. In diesem Sinne gibt es auch keine unmittelbar offenbarte Gottesrede, die kommunizierbar wäre. Im religiösen Kommunikationsprozess ist die Rede von Gott durch Symbole, Metaphern, Rituale und heilige Texte vermittelte Rede und so mittelbare Rede. In der Seelsorge geht es darum, 12 Klessmann, Seelsorge, 215. 13 Ein Klassiker aus den neunziger Jahren im Hinblick auf die Frage, wie sich „dämonische“ Gottesbilder entwickeln, ist die Studie des Psychotherapeuten und Priesters Karl Frielingsdorf, Dämonische Gottesbilder. Ihre Entstehung, Entlarvung und Überwindung, Mainz 31997. Im Anschluss an die Analyse von 500 Lebensbeschreibungen arbeitet Frielingsdorf eine Reihe von Gottesbildern heraus, die mit psychischen Schlüsselpositionen verknüpft sind, die in den ersten Lebensjahren entstehen. Er unterscheidet den strafenden Richtergott oder den Willkürgott, den dämonischen Todesgott, den Buchhalter- und Gesetzesgott und den Leistungsgott, der ständig Überforderungen produziert. Eine heilende Funktion schreibt Frielingsdorf der Rede vom barmherzigen, liebenden Gott, vom Gott des Lebens, dem guten Hirten etc. zu. Vgl. ders., Gottesbilder: Wie sie krank machen, wie sie heilen, Ignatianische Impulse Bd.7, Würzburg 22007. Vgl. auch Michael Utsch, Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen, in: ders. (Hg.), Pathologische Religiosität. Genese, Beispiele, Behandlungsansätze, Stuttgart 2012, 11–36.

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die Gottesbilder, die sich in der Entwicklungsgeschichte von Menschen ausgebildet haben, insbesondere in ihrem relationalen Erfahrungsgehalt ernst zu nehmen. Es geht darum, soweit es möglich ist, im gemeinsamen Gespräch zu bedenken, inwiefern darin auch prägende Beziehungs- und Lebenserfahrungen zum Ausdruck gebracht werden. Die Seelsorge kann auch der Ort sein, in der biblische Gottesvorstellungen und theologische Konzepte in elementarisierter Form ins Gespräch eingebracht werden, nicht um Menschen auf indoktrinierende Weise zu belehren, sondern um Deutungsräume zu erweitern, in denen das eigene Leben coram Deo verstanden und die befreiende Kraft des Evangeliums zum Ausdruck gebracht werden kann.14 Gottesvorstellungen beziehen sich entsprechend auch auf die Schrift und die Tradition als literarische Verdichtung, in denen sich fremder Glaube und irritierende Gotteserfahrungen in vielfältiger Weise widerspiegeln. Die hermeneutische und theologische Herausforderung besteht darin, die befreiende Kraft der Gottesbilder in die Seelsorge einzubringen. Dies bedeutet allerdings nicht der Ambiguität in den Gottesvorstellungen auszuweichen. Christoph Morgenthaler formuliert in diesem Zusammenhang in treffender Weise: „Wenn Gott als ‚complexio oppositorum‘– als Einheit von Gegensätzen – verstanden wird, kann Folgendes gesagt werden: Dämonische Gottesbilder treffen das Wesen Gottes und verfehlen es gleichzeitig, und konstruktive und entwicklungsproduktive Gottesbilder treffen das Wesen Gottes und verfehlen es. Im Leitsymbol des gekreuzigten und auferstandenen Christus der christlichen Tradition ist beides zusammengehalten und ins Licht der Hoffnung gestellt.“15 Aus diesem Grund ist es wichtig, in der Seelsorge auch den Ambivalenzen in den Gottesbildern und -vorstellungen Raum zu geben und nicht einseitig regressive Attributionen zu favorisieren. Von Gottesvorstellungen und -bildern im Plural zu reden, ist auch aufgrund der eingeschränkten Wahrnehmungsperspektive angebracht, mit der wir leben. So impliziert das Leib-Sein-Zur-Welt eine Situiertheit, die, wie zuvor beschrieben wurde, mit einer partikularen Perspektive auf die Welt einhergeht. Verschiebt sich der Ort, von dem aus das leibeigene Spüren der Welt sowie die damit verbundenen Sinnbildungen sich entfalten, werden auch die Bilder, die vom An14 Diesem Anliegen ist insbesondere die Arbeit von Peter Bukowski verpflichtet, vgl. ders., Die Bibel ins Gespräch bringen: Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, NeukirchenVluyn 92009. Seelsorge geschieht für Bukowski im Schutzbereich des Namens, „weil sie auf die zentrale biblische Geschichte anspielt, in der Gott sich als der Menschenfreundliche, als der Helfer und Seelsorger zu erkennen gibt: Nach seinem Namen gefragt, antwortet Gott Mose: ‚Ich bin der, der (für euch) da ist‘ (Ex 3,14).“ AaO., 17. Diese Verheißung bildet den Horizont und artikuliert die Verheißung von der evangelische Seelsorge lebt, sie bildet zugleich den Bezugsrahmen für seelsorgliches Handeln. 15 Christoph Morgenthaler, Seelsorge, Lehrbuch Praktische Theologie Bd.3, Gütersloh 2 2009, 214.

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deren in mir entstehen, sich wandeln. Entsprechend ist es es für eine phänomenologisch ausgerichtete Seelsorgelehre nicht sinnvoll, das Gegenüber von Subjekt und Alltag, Person und Situation bzw. von Text und Kontext als dualistische Konstruktion aufzubauen. Die Rede vom Leib-Sein-Zur-Welt versucht stattdessen, das Spüren und Erleben des leiblichen Selbst inmitten der Lebenswelt zu erfassen und diese Verwobenheit dynamisch zu interpretieren. Es geht dabei nicht um die Beschreibung der externen „Korrelation von Selbst und Situation, sondern um die interne Beziehung bzw. Unterscheidung von Selbst und erlebter bzw. in bestimmter Weise verstandener Situation.“16 Situationen werden im Hinblick auf den jeweils auftauchenden Möglichkeitshorizont perspektivisch wahrgenommen und interpretiert. „Das kann in verschiedenen Medien und auf verschiedene Weisen geschehen, die nicht in jeder Hinsicht deckungsgleich sein müssen (was man hört oder riecht, muss nicht mit dem übereinstimmen, was man sieht). Situationen lassen sich deshalb auch immer anders erleben, und sie werden von verschiedenen Selbsten auch verschieden erlebt.“17 Die sich wandelnde Situierung des Leib-Seins-Zur-Welt in Raum und Zeit sowie die unterschiedlichen Medien, die zur Sinnbildung des Erlebten beitragen, bewirken die sich stetig wandelnde Wahrnehmung anderer Menschen, der lebensweltlichen Beziehungen und Strukturen. Dieser Aspekt der Perspektivität bezieht sich auch auf die Entwicklung von Gottesvorstellungen. Die Förderung von Lebendigkeit in der Seelsorge bedeutet dann, dem Möglichkeitssinn Raum zu geben und die Beweglichkeit der Perspektiven wahrzunehmen und sie als ein grundlegendes Signum menschlicher Vulnerabilität nicht zu verdrängen, sondern wertzuschätzen. Diese Wertschätzung kann sich in der Seelsorge aber nur vollziehen, wenn die Vielfalt der Menschen- und Gottesbilder bzw. der möglichen Sinnbildungen durch ein Orientierungswissen stabilisiert wird, das eine gewisse Kohärenz und Stabilität verleiht, die es ermöglicht, inmitten der Vulnerabilitätsphänomene einen Horizont zu entdecken, der überlappende Verbindungen und Differenzen zwischen den Perspektiven ermöglicht. Die so entstehende Entdeckung von Gemeinsamkeiten ist fundamental für die Entwicklung von Sozialität, die von dem Bewusstsein getragen ist, inmitten der sich wandelnden Perspektiven Teil eines gemeinschaftlich Ganzen zu sein, das nicht abgeschlossen, sondern auf Zukunft hin offen ist. Das Abschreiten des auftauchenden dynamischen Möglichkeitshorizontes ist eine zentrale Aufgabe seelsorglichen Handelns. Neuanfänge und Aufbrüche, aber auch die Verschließungen und Verhärtungen, die vor diesem Horizont entstehen und eine Gestalt gewinnen, werden in der Seelsorge kritisch und em16 Ingolf U. Dalferth, Selbstlose Leidenschaften. Christlicher Glaube und menschliche Passionen, Tübingen 2013, 50f. 17 Ebd.

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pathisch begleitet. Diese Begleitung beschreibt eine der basalen Herausforderungen seelsorglicher Kommunikation. Ein ressourcenorientierter, systemischer Zugang wird sich bemühen, diesen Möglichkeitshorizont immer wieder zu öffnen und seelsorgliches Handeln dabei stets in der Dynamik von Verdichtung und Verflüssigung von Gottes- und Menschenbildern zu verstehen. Zum beschriebenen Möglichkeitshorizont gehört auch die Vielfalt der Gottesbilder der jüdisch-christlichen Tradition, auf die in religiöser Praxis Bezug genommen wird und die in modifizierter, säkularisierter und impliziter Form in Seelsorgesprächen eine Rolle spielen. Gottesbilder sind in ihrer relationalen Qualität zu verstehen. Schrift und Tradition sind ebenfalls vielstimmig; viele biblische Texte laden dazu ein, die Vulnerabilitätsthematik in der Perspektive der Multivokalität zu lesen. Vom gerechten und barmherzigen Gott wird dabei oftmals im Kontext von Ambivalenzkonflikten gesprochen. In der pastoralpsychologischen Interpretation biblischer Texte werden insbesondere die Grundambivalenzen des Lebens zur Sprache gebracht, die in vielen Geschichten präsent sind. Diese können als Grundambivalenzen zwischen Regression und Progression, zwischen Partizipation und Autonomiebestreben sowie zwischen Anpassung und Phantasie beschrieben werden.18 Wird beispielsweise in der Geschichte vom verlorenen Sohn in Lk 15 der Blick auf die beiden Söhne gerichtet, so kann der Grundkonflikt zwischen Autonomie und Partizipation bzw. zwischen Freiheitsstreben und Gehorsam oder Gemeinschaftssinn sowohl im Hinblick auf Eltern und Kinder als auch in Bezug auf die Gottesbeziehung erkannt werden. Die biblische Tradition ist vielstimmig. Die Erzählungen von Jesus Christus eröffnen vielfältige Interpretationsmöglichkeiten; es gibt nicht das eine Bild des Heilers oder des Exorzisten; Heilungsgeschichten sind oftmals Konfliktgeschichten; die Gleichnisverkündigung Jesu eröffnet Imaginationsräume, die sich nicht in eine einzige homogene Reich-Gottes-Doktrin einfangen lassen.19 In den 18 Klessmann führt hierzu aus: „Der erste Konflikt hat mit der Zeitlichkeit des Lebens zu tun. Wir sind immer hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, noch einmal zurückgehen zu wollen in Zeiten, die wir als angenehm und zufriedenstellend erinnern, und vorangehen zu wollen in erhoffte und vorgestellte neue Zeiträume und Befindlichkeiten: die Grundambivalenz von Regression und Progression. Die zweite Ambivalenz hat mit dem Raum zu tun: Die Einzelnen möchten Teil des Ganzen, der Erde, der Gesellschaft, der Familie sein – und sie möchten gleichzeitig einzigartig, unverwechselbare Individuen sein: die Grundambivalenz von Partizipation und Autonomie. Die dritte Ambivalenz hat mit dem Erleben oder der Konstruktion von Wirklichkeit zu tun: Menschen möchten sich den herrschenden Verhältnissen anpassen, sich führenden Meinungen anschließen, weil sie meinen, nur so Anerkennung und Zuneigung gewinnen zu können; gleichzeitig engen die Verhältnisse ein, man möchte ihnen entfliehen und in ein phantasiertes Reich der unbegrenzten Möglichkeiten auswandern: die Grundambivalenz von Anpassung und Phantasie.“ Klessmann, Seelsorge, 213 (Hervorhebungen im Original). 19 Vgl. zum gegenwärtigen Stand der Gleichnishermeneutik die umfassende Sammlung von Bernd Kollmann/Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wun-

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genannten Textgestalten werden Vulnerabilitätsphänomene beschrieben und in einen Coram-Deo-Horizont eingezeichnet. Die biblischen Texte können in der Seelsorge nicht normativ als nachzueifernde Beispielgeschichten verstanden werden, sondern sie werden als dritte Orte eingebracht, als Zwischenräume, die kreative Imaginationen ermöglichen, in denen Menschen die Verletzlichkeit des eigenen Lebens vor Gott bringen können.20 Die Aufgabe der Theologie ist es nun, inmitten der beschriebenen Multivokalität ein Orientierungswissen zu vermitteln, durch das Gottesvorstellungen und -bilder eingeordnet und in einen größeren Zusammenhang gestellt werden können. Hier ist die normative Aufgabe der Theologie zu verorten, in der bestimmte Gottesbilder auch kritisiert oder verworfen werden können. Hierzu müssen Kriterien für die Bildung von Unterscheidungen gefunden werden. Auch diese Versuche sind immer in ihrer Vorläufigkeit und Unvollständigkeit zu verstehen. Als solch ein Orientierungsversuch kann die trinitarische Gottesrede verstanden werden, in der über die Beziehung der göttlichen Personen zueinander und zur Welt nachgedacht wird. In ihrer dynamischen Gestalt wird sie als perichoresis beschrieben, als bewegliche Relationalität der göttlichen personae ─ nach innen und außen.21 Hier liegt ein hilfreicher Ansatzpunkt für den Umgang mit Gottesbildern in einer Theologie der Seelsorge. Solch eine Gottesrede ist in der Praxis von einer Unbedingtheit beseelt, die sich auf den dreieinigen Gott als ansprechbares Du ausrichtet. In der Spannung von dynamischer Relationalität und der unbedingten Ausrichtung auf ein göttliches Du ist die Lebendigkeit des christlichen Glaubens begründet. Von Gott in trinitarischer Weise zu reden, heißt immer wieder von den Geschichten zu erzählen, in die sich Gott in seiner Beziehung zu den Menschen verstricken lässt.22 In diesem Erzählen wird auf drei identitätsstiftende Erzählzusammenhänge Bezug genommen: – „die Geschichte vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott, der Israel aus dem Sklavenhause Ägyptens geführt hat;

dererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT Bd.339, Tübingen 2014. 20 Zum Konzept des dritten Ortes oder des Zwischenraumes vgl. Andrea Bieler, Gottesdienst interkulturell. Predigen und Gottesdienst feiern im Zwischenraum, Stuttgart 2008, 11ff. 21 Vgl. hierzu Catherine M. LaCugna, God for Us: The Trinity and the Christian Life, New York 1993. 22 So formuliert Albrecht Grözinger in Anlehnung an Wilhelm Schapp in: Erzählen und Handeln. Studien zu einer trinitarischen Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1989, 11.

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– die Geschichte von Jesus, seiner Botschaft vom Kommen der Herrschaft des Gottes, den er Vater nannte, seine Kreuzigung und seine Auferweckung durch das Handeln Gottes; – und die Geschichte der Gegenwart Gottes bei den Glaubenden in der Situation der Abwesenheit des irdischen Jesus auf dem Weg zur eschatologischen Vollendung.“23 In einer Theologie der Seelsorge geht es entsprechend um eine Horizontverschmelzung von trinitarischer Gottesgeschichte und individueller Lebensgeschichte.24 In diesem Horizont können Menschen der Fragilität des eigenen Lebens gewahr werden und dem dreieinigen Gott in verschiedener Weise begegnen.25 Mit dem Blick auf die Vulnerabilitätsthematik tritt dabei das Erzählen vom affizierbaren Gott, vom vulnerablen Christus und vom Geist als rûah/Lebens˙ atem und als Paraklet in den Vordergrund. Es soll expliziert werden, inwiefern diese Weise der Gottesrede für Seelsorgerinnen und Seelsorger fruchtbar sein kann, um Vulnerabilitätsphänomene im Coram-Deo-Horizont zu beschreiben. Welche biblischen Motive und Geschichten können für die theologische Meditation von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in der Gegenwart fruchtbar gemacht werden, um der Auseinandersetzung mit der Verletzlichkeit mehr Tiefenschärfe zu verleihen? Und welche theologischen Denkfiguren sind als wenig förderlich zu verabschieden? Um diese Fragen kreist die nun folgende Spurensuche nach Gottesvorstellungen im Schatten der Verletzlichkeit.

23 Christoph Schwöbel, Ökumenische Theologie im Horizont des trinitarischen Glaubens, ÖR 46 (1997), 326. 24 Albrecht Grözinger nimmt in seiner trinitarischen Grundlegung einer Praktischen Theologie den hilfreichen Begriff der Horizontverschmelzung von Gadamer auf. Vgl. Grözinger, Erzählen, 52. Vgl. weiter Michael Meyer-Blanck, Die Aktualität trinitarischer Rede für die Praktische Theologie, in: Rudolf Weth (Hg.), Der lebendige Gott. Auf den Spuren neueren trinitarischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 2005, 129–142. 25 Vgl. zur Bedeutung einer trinitarischen Grundlegung auch Holger Eschmann, Theologie der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2000. Eschmann beschreibt die zweifache Weise, in der die Geschichte des dreieinigen Gottes und die Lebensgeschichte der Menschen miteinander verbunden sind: „Zum einen wird Gott als der Schöpfer, Versöhner und Vollender und damit als der Autor der eigenen Lebensgeschichte erkannt. […] Zum anderen entdeckt sich der Mensch in seinem Handeln als Partner Gottes, und zwar sowohl im Raum der Kirche als auch darüber hinaus. Menschliche Praxis ist als erzählendes Handeln in die Geschichte Gottes mit den Menschen einbezogen. Gleichzeitig bleibt diese Praxis aber in ihrem ‚VerweisungsCharakter‘ vom göttlichen Handeln notwendigerweise unterschieden[…].“ AaO., 49.

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Der affizierbare Gott Die Frage nach Gottesvorstellungen für die Seelsorge lässt sich zuspitzen auf die Erkundung des jüdisch-christlichen Erzählzusammenhangs, in dem die vielgestaltigen göttlich-menschlichen Beziehungsverhältnisse zur Darstellung gebracht werden. Die Gottesbilder der Bibel haben oftmals anthropomorphe und anthropopathische Qualität. In der metaphorischen Rede von Gottes Körper und Gefühlen wird die Hinwendung Gottes zu den Menschen inmitten vielfältiger Vulnerabilitätserfahrungen zum Ausdruck gebracht. Die biblischen Narrative und Metaphern werden dabei im Raum religiöser Imagination verflüssigt und finden eine neue Gestalt. So verstanden geht es im Folgenden weniger darum, biblische Motive in ihrer historischen Genese zu rekonstruieren, sondern vielmehr um den Aufbau eines Imaginationsfeldes, in dem die Zuordnung und das Zusammenspiel der Motive im Hier und Jetzt einen neuen Sinn bilden, der in die Seelsorgepraxis einfließen kann. Entsprechend geht es nicht primär um die empirische Frage nach den Gottesbildern, die in der praktizierten Seelsorge zirkulieren, sondern um eine theologische Rekonstruktion von Bildern für die Seelsorge. Ich beginne mit der Frage nach der Affizierbarkeit Gottes. Inwiefern ist es theologisch sinnvoll, davon zu sprechen, dass Gott sich von menschlicher Verletzlichkeit berühren und bewegen lässt? Welche Vorstellungen, Narrative und Metaphern bringen die Zuwendung Gottes vor dem Hintergrund der vielgestaltigen Verletzungserfahrungen zum Ausdruck? Im Folgenden gehe ich davon aus, dass es für eine Theologie der Seelsorge von zentraler Bedeutung ist, Gott als beweglich, veränder- und berührbar zu verstehen und diese Bilder im theologischen Selbstverständnis der Seelsorgenden zum Klingen zu bringen. Die Beschreibung der Affizierbarkeit Gottes ist ein wichtiges Thema in den biblischen Zeugnissen, mit denen wir im Gottesdienst, Predigt und in der Seelsorge umgehen. Es findet in der Hebräischen Bibel auf vielfache Weise einen Ausdruck. Dort wird ganz menschlich über Gott gesprochen: Gott kündigt an zu weinen und hat ein klagendes Herz (Jes 16,9–11), Gott kann Reuegefühle zeigen (Jo 2,13) und immer wieder entflammt sein Zorn.26 26 Zum Emotionsspektrum zwischen Wut und Zorn vgl. Stefan Wälchli, Art. Zorn (AT), in: WiBiLex (www.wibilex.de), www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35502 (Artikel von 2014; Stand: 30. 08. 2015) „Das Alte Testament kennt verschiedene hebräische Begriffe, um die Emotionen von Wut, Zorn, Grimm oder Ärger auszudrücken. Vorab zu nennen ist das Substantiv ‫’ ַאף‬af ,Nase / Zorn‘ mit dem zugehörigen Verbum ‫’ אנף‬np ,zürnen‘, die zusammen die Mehrzahl (210-mal Nomen, 14-mal Verbum) der Belege stellen. Hinter der Doppelbedeutung ,Nase‘ und ,Zorn‘ steht wohl, dass das Zürnen bildhaft mit dem Schnauben des zornigen Menschen ausgedrückt wird […]. An zweiter Stelle zu nennen ist der Begriff ‫ ֵחָמה‬hema¯h ,Zornesglut‘ (118 Belege, nur Nomen), ˙

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Während die Beschreibung der Empfindungen, die unmittelbar mit dem Leib verbunden sind, wie z. B. Hunger, Sättigung, Müdigkeit und Schwäche kaum in Bezug auf JHWH vorkommen, gibt es doch ein relativ breites Spektrum an Gefühlen, die Gott und die Menschen in ähnlichem Ausmaß teilen.27 Hierzu gehören sowohl positiv als auch negativ konnotierte Gefühle wie das Interesse, der Widerwillen, die Verachtung, der Ekel, die Reue, die Liebe, die Eifersucht und das Wohlgefallen. Gefühle, die eher mit dem Menschen in Verbindung gebracht werden, sind die Freude, das Begehren, die Hoffnung und der Hass. Demgegenüber werden der Zorn und das Mitleid Gottes besonders häufig genannt. Am intensivsten wird von den Gefühlen Gottes in den Psalmen, bei Jesaja, Jeremia und im Deuteronomium gesprochen, wobei der Sprechakt der Rede und nicht die Narration die dominante Form ist, in der Gottes Gefühle zur Sprache gebracht werden. „Außerhalb der Psalmen, wo sich der Beter mit imaginierten Gefühlen Gottes auseinandersetzt, ist die prophetisch oder (im Pentateuch und den Geschichtsbüchern) quasi vermittelte Rede Gottes der Ort, dessen Gefühle zur Sprache zu bringen.“28 Die Rede von den Gefühlen Gottes vermittelt darin weniger die Schilderung einer in sich ruhenden göttlichen Eigenschaft, sondern sie beschreibt vielmehr ein dynamisches Beziehungsgeschehen, in dem Gott mit seinem Gegenüber – meistens Israel – ringt. Dieses Ringen wird introspektiv als Auseinandersetzung Gottes mit seinen eigenen Gefühlen in Hos 11,1–9 beschrieben. Diese Passage beschreibt eine Reflexion JHWHs über Israels Untreue und Verrat. Mit der expliziten Beschreibung der Liebesgefühle (durch das Verb ’hb und seine Derivate) korreliert die implizite Andeutung der Enttäuschung. Die enttäuschten Liebesgefühle werden aber nicht durch Rache und Vergeltung ausgelebt, sondern durch einen bewussten Verzicht auf das Ausleben des Zornes: „Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma, wie dich behandeln wie Zebojim? Mein Herz sträubt sich, all mein Mitleid ist erregt. Meinem glühenden Zorn an dritter Stelle ‫ חרה‬hrh ,heiß sein‘ (47-mal Nomen, 89-mal Verbum), sodann ‫ כעס‬k’s ,unmutig ˙ im Hif. ,zum Zorn reizen‘ (25-mal Nomen / 54-mal Verbum) und‫קצף‬ sein‘ beziehungsweise qsp ,zürnen‘ (27-mal als Nomen, 33-mal Verbum). Hinzu kommen die selteneren Begriffe ‫עבר‬ ˙ ,aufbrausen‘ (30-mal Nomen, 7-mal Verbum), ‫ זעם‬z’m ,verwünschen / beschelten‘ (22-mal ’br Nomen, 12-mal Verbum), ‫ זעף‬z’p ,toben / wüten‘ (9-mal Nomen, 3-mal Verbum) und schließlich ‫ רגז‬rgz ,erregen / toben‘ (7-mal Verbum).“ 27 Vgl. zum Folgenden Melanie Köhlmoos, „Denn ich, JHWH, bin ein eifersüchtiger Gott“. Gottes Gefühle im Alten Testament, in: Andreas Wagner (Hg.), Göttliche Körper – Göttliche Gefühle. Was leisten anthropomorphe und anthropopathische Götterkonzepte im Alten Orient und im Alten Testament?, OBO Bd.270, Göttingen/Fribourg 2014, 191–218: 193–195. Köhlmoos beschreibt die zurückhaltende Erwähnung körperlicher Empfindungen JHWHs: „Sämtliche Empfindungen JHWHs sind außerordentlich selten: Hunger (Ps 50,12) und Sättigung (Jes 1,11) je einmal, Müdigkeit insgesamt fünfmal (yaga‘: Jes 40, 28; 43,24; Mal 2, 17; la‘ah: Jes 1,14; 7,13). Am häufigsten erwähnt ist JHWHs Wohlbehagen (nihoah), das er durch den Opfergeruch empfindet bzw. empfinden soll […].“ AaO., 192. 28 AaO., 197.

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werde ich nicht freien Lauf lassen.“29 Das Mitleid JHWHs, das hier beschrieben wird, hofft auf Gegenseitigkeit und Antwort; die hier beschriebene Liebe realisiert sich im Verzicht auf gewaltvolle Machtausübung.30 Ein anderes Motiv, das die Affizierbarkeit Gottes verdeutlicht, ist das Motiv der Reue JHWHs. „Die Hebräische Bibel bezeugt mit Gottes Reue, besonders durch das häufig parallel gebrauchte Verb ‫ שׁוּב‬sˇûv ,umkehren‘, JHWHs tiefe Beweglichkeit und Bewegbarkeit in den Beziehungen zu Israel, der belebten Schöpfung, einzelnen Völkern und Menschen. In ihnen bewegt sich Gott meist auf menschliche Impulse hin und zeigt sich, selbst wo die Reueabsicht von ihm ausgeht, bis zur Bedürftigkeit empfänglich für die Aktivität des Gegenübers. Dort aber, wo sich in Gottes Reue die Bezogenheit auf diese Partner ohne ihr Zutun transformiert, sind diese in Gott präsent (Hos 11,8a). Die Texte schrecken weder davor zurück, Gott in der Reue echte Einsicht (Gen 6,5–8; Gen 8,20f; Ex 32,12–14) und Korrekturen vormaligen Tuns zu attestieren (Jer 42,10; Jo 2,17ff; Hos 11,9 ‫שׁוּב‬ sˇûv), noch davor, ihn bis in die eigenste Selbstbestimmung hinein von der Beziehung zu Israel und menschlichem Gebet betroffen und wandelbar zu zeigen (Ex 32,7–14).“31 Während in der deutschen Sprache der Begriff der Reue das Gefühl meint, das in der Rückschau auf begangene Schuld entsteht, kann der hebräische Sprachgebrauch sowohl retrospektiv als auch prospektiv qualifiziert sein. Das Verb nhm, häufig als Nominalform gebraucht, kann sich entsprechend sowohl auf ˙ vergangene Beschlüsse und Taten JHWHs beziehen als auch auf nicht ausgeführte Pläne und Intentionen. Oftmals ist auch das Geschick und Wohlergehen Dritter im Blick. Der so beschriebene bewegliche Gott ist den Menschen in der Spannung zwischen Freiheit und Verlässlichkeit zugewandt. Die Ambivalenzen der göttlichen Gefühlswelt, die in vielen biblischen Texten porträtiert werden, beschreiben keinen willkürlichen Gott, sondern einen, der mit sich selbst ringt – um der Beziehung zu den Menschen willen. So ist insbesondere das Gefühl der Reue Gottes in die Beschreibung der Reziprozität des Gott-Mensch-Verhältnisses eingebunden.32 Interessant ist auch wahrzunehmen, welche Gefühle in Hinblick auf JHWH keine Erwähnung finden und nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden. So sind beispielsweise Furcht, Schuld- und Schamgefühle weder implizit noch ex-

29 Vgl. Hos 11,8–9 (Übersetzung der Zürcher Bibel 2007). Vgl. hierzu weiter Köhlmoos, Gottes Gefühle, 206–209. 30 Der weitere häufig benutzte Begriff der Liebe Gottes ist der Terminus hæsæd, der eher die ˙ königliche Rolle JHWHs betont. 31 Jan-Dirk Döhling, Art. Reue Gottes (AT), in: WiBiLex (www.wibilex.de), www.bibel wissenschaft.de/ stichwort/33422 (Artikel von 2012, Stand: 01. 09. 2015). 32 Vgl. ebd.

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plizit von JHWH verbunden. Dagegen lässt sich Gott jedoch von Gefühlen des Mitleids, des Erbarmens, der Liebe, des Zorns und der Reue bewegen.33 Der jüdische Gelehrte Abraham Joshua Heschel beschreibt eindrücklich den affizierbaren Gott: „in einem empfindungsvollen Verhältnis zur Welt: daß Gott nicht bloß gebietet und Gehorsam fordert, sondern auch bewegt und betroffen wird; daß er die Welt erlebt und nicht eindruckslos regiert. Er nimmt alles, was in der Geschichte vorgeht, innerlich und empfindend auf. Die Geschehnisse und Handlungen erregen in ihm Freude oder Leid, Wohlgefallen oder Mißfallen.“34 Heschel beschreibt das Pathos Gottes als intentional und transitiv, als eine Verhältnisqualität, die nicht auf sich selbst, sondern auf den Menschen bezogen ist: „Es [das Pathos] drückt nicht einen absoluten Ichgehalt, sondern einen Beziehungsgehalt, eine Relationsgegebenheit, ein Verhalten zu den Menschen aus. Seine Struktur ist nicht ein Sichselbstfühlen, das nach der Ichsphäre tendiert; es richtet sich vielmehr auf ein Gegenständliches, auf ein Anderes.“35 Das Pathos Gottes, das sich auch im Zorn und in der Eifersucht ausdrücken kann, ist jedoch keineswegs in Willkür, sondern vielmehr in Liebe und Gerechtigkeit gegründet. Insbesondere die sittliche Gerechtigkeit versteht Heschel als „Grundzug des Gottescharakters“36. „Pathos und Ethos führen keine antinomische Koexistenz, sondern gehen ineinander über.“37 Folglich zeigt sich auch das göttliche Ethos durch intime und emotional-aktive Teilnahme. Insgesamt lässt sich sagen, dass die biblischen Texte in ihrer Beschreibung der nuancierten Gefühlswelt JHWHs evokativ wirken, sie wollen keine statischen, repräsentativen Aussagen über Gottes Wirkweise in der Welt machen, sondern situative Beziehungsqualitäten ausdrücken; es geht also nicht um eine abstrakte Eigenschaftenlehre. Die anthropomorphe und anthropopathische Gottesrede, die wir in der Hebräischen Bibel entdecken können, sollte nicht einfach historisierend (überholte Gottesbilder) oder psychologisierend („das sind alles nur Projektionen“) oder um eines vermeintlich rationalen Gottesbegriffes willen „wegerklärt“ werden. Vielmehr kann die Rede vom affizierbaren Gott als metaphorische Rede die wirksame, dynamische und auf Gerechtigkeit ausgerichtete Liebe Gottes auf eine Weise zum Ausdruck bringen, dass sie in den Leidenschaften und Verstrickungen menschlichen Lebens wirksam werden kann.

33 Vgl. insgesamt zur Rede von der Reue Gottes in der Hebräischen Bibel die umfassende Arbeit von Jan-Dirk Döhling, Der bewegliche Gott. Untersuchungen zur Reue Gottes in der Hebräischen Bibel, HBS Bd.61, 2009. 34 Abraham Heschel, Die Prophetie, Krakau 1936, 131. 35 AaO., 132f. 36 AaO., 135. 37 AaO., 135f.

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Für eine Theologie der Seelsorge ist die Auseinandersetzung mit der Rede von den Gefühlen Gottes qua Analogie – also in der Reflexion von Vergleichbarkeit und Differenz – von Interesse. Sie ermöglicht einen Zugang zur Deutung von Gottesbildern und -vorstellungen, den abstraktere dogmatische Konzepte nicht ermöglichen. Trauer, Zorn, Reue, Mitleid, Liebe und Freude sind Gefühle, die Menschen nicht fern sind. Diese im Gespräch oder auch in seelsorglich ausgerichteten Predigten in ihrer Komplexität auszuloten und dabei die Spannung zwischen Vergleichbarkeit und Differenz aufrechtzuhalten, kann eine Basis für eine theologisch qualifizierte Gefühlsarbeit sein. Diese Gefühlsarbeit im CoramDeo-Horizont zu betreiben, kann sich auf einen phänomenologischen Zugang gründen, der Gefühle, Affekte, Stimmungen und Atmosphären in ihrer unterschiedlichen Intensität, Intentionalität und Ambiguität erkundet und diese als Dimension des leiblich situierten Seins-Zur-Welt erkundet. Besonders eindrücklich ist die Beschreibung des Mitleids, das ganz und gar dem imaginierten Körper JHWHs anhaftet, und von dort in die Welt ausstrahlt und sogar in seinen Eingeweiden situiert werden kann. So wird beispielsweise in der Gottesrede in Jer 31,20 die Vorstellung des vom Mitleid ergriffenen Gottes im Bild von den rumorenden Eingeweiden evoziert, die Gottes Erbarmen stimulieren; in der Darstellung des affizierten Leibes werden die inneren Regungen JHWHs ausgemalt. Diese Form der leiblichen Affizierung spiegelt sich auch beim Propheten Jeremia, der die Trostbotschaft Gottes „am eigenen Leibe“ wahrnimmt und verkündet. Auch bei Jeremia wird das Innere nach außen gekehrt, er muss sich innerlich winden und spürt die Wände seines Herzens (Jer 4,19). Diese Gefühle, die an die Körperregungen der Magengegend gebunden sind überkommen ihn. Gottes Mitleid und seine Reue können als göttliche Affekte beschrieben werden, die die Beziehung Gottes zu den Menschen als eine dynamische Bewegung qualifiziert, die auf Potenzialität und Zukunft hin ausgerichtet ist. Dies wird z. B. deutlich in der Sintfluterzählung, dem Joelbuch oder beim Propheten Jeremia.

Aufwallende Mitgefühle im Neuen Testament Im Neuen Testament findet das leiblich situierte Mitleid seinen Ausdruck in den Geschichten, die davon berichten, dass es Jesus „jammerte“. Der griechische Terminus, der hier oftmals verwendet wird, ist splanchnizomai, das Verb ist abgeleitet vom Nomen to splanchnon bzw. seiner im Neuen Testament durchgehend verwendeten Pluralform ta splanchna, die auch die Eingeweide bezeichnet, in denen man den Sitz der Gefühle vermutet. Das Jammern als Aufwallen des Mitgefühls, umschrieben in der Vorstellung der rumorenden Einge-

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weide, lässt sich auch im Repertoire der Gefühle finden, die in den Evangelien Jesus zugeschrieben werden. Splanchnizomai beschreibt in vielen Fällen das aufsteigende Mitgefühl als Reaktion auf eine Notschilderung; dies ist oftmals im Kontext von Wundergeschichten zu finden, z. B. in der Geschichte von der Speisung der 5000 in Mk 6,34, oder in der Geschichte von der Blindenheilung in Mt 20,34 oder die Heilung eines Leprakranken in Mk 1,41. Diese Geschichten erzählen davon, wie das Mitgefühl Jesu für das Leiden eines anderen oder einer Gruppe der Beginn eines affizierenden Transformationsprozesses ist, der die leiblich-materiellen Gegebenheiten ins Schwingen bringt. Jesus wird berührt vom Hunger und der Krankheit derer, die ihm begegnen; diese Affizierung geschieht vor allem rationalen Abwägen und der Formulierung moralischer Verpflichtung. In den Texten erscheint sie als die unmittelbare Response auf den Anspruch eines anderen: die direkte Herausforderung und den Machtzuspruch durch den Leprakranken: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“ Dieser Anspruch trifft Jesus und löst das aufwallende Mitleid in ihm aus, das zur Berührung des Kranken führt. In der Erzählung von der Brotvermehrung ist es die Wahrnehmung der Verlorenheit und des Hungers der Menge, die Jesus sieht, die ihn jammern lässt. Dieses Sehen lässt sich als Wahrnehmen einer Atmosphäre interpretieren, in der sich eine kollektive Gefühlswelt verdichtet, die über die individuelle Empfindung hinausgeht. Wiederum wird zunächst das aufwallende Mitgefühl inmitten der Atmosphäre des Verlorenseins der Vielen beschrieben, die den Handlungsimpuls zu predigen und die Überlegungen im Hinblick auf die Sättigung des Hungers nach sich zieht. Die Responsivität, die sich in den vielfältigen sinnlichen Reaktionen Jesu – im Hören, Sehen, Berühren und Sprechen – zeigt, beschreibt das Mitleid zunächst als den pathischen Ausdruck einer Aufmerksamkeit, die sich affizieren lässt. Diese wird auch als Barmherzigkeit beschrieben, als Empfindsamkeit, die sich anstecken lässt und darin ihre Kreativität entfaltet. Dies geschieht, ohne dass einem paternalistischen Hilfehabitus Vorschub geleistet würde. In der passivischen Formulierung „es jammert ihn“ ist eindrücklich umschrieben, wie die Eindrücke, Geräusche, Atmosphären und Gefühle sich Jesus in der Begegnung mit den Facetten der Vulnerabilität aufdrängen und ihm quasi auf den Leib rücken. Dabei wird oft von einem vorausgehenden Sehen berichtet oder vom Hören der Klagerufe („Kyrios, erbarme dich“ – zeige dein Mitgefühl). Jesus lässt sich herausfordern, Mitleid zu zeigen, wieder haftet dem splanchnizomai eine gewisse Spontanität an, er wird vom Mitleid ergriffen und antwortet im Berühren der Augen mit einer taktilen Reaktion, die einen Moment lang eine Verbindung zwischen den Agierenden hervorbringt. Die aufmerksame Wahrnehmung des Anderen in seiner Bedürftigkeit, die dem „es jammerte ihn“ vorausgeht, wirkt als Katalysator, der das Aufwallen des Mitleids in Gang setzt.

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Splanchnizomai ist im Neuen Testament auch ein Begriff, der der Vatersymbolik eine besondere Färbung verleiht. Im sog. Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt sich die Vaterliebe in einer Offenheit, Großzügigkeit und im Überschwang der Festfreude (Lk 15,11ff). Hier löst das Rumoren der Eingeweide überschäumende Freude und Bewegung im Vater aus, der auf ihn zuläuft, ihn umarmt und küsst. Und wiederum fehlt der so konnotierten Barmherzigkeit der paternalistische Beigeschmack des Erbarmens als Gestus des sich Herabbeugens, das beschämend auf das Gegenüber wirken könnte. Der energetische Gefühlsausdruck des Vaters – er läuft seinem Sohn entgegen, umarmt und küsst ihn – ist initiiert durch das aufwallende Mitgefühl. Interessanterweise taucht dasselbe Mitleid auch in der Geschichte vom barmherzigen Samariter auf, den es jammert, als er den verwundeten Menschen sieht, der unter die Räuber gefallen ist. Wieder ist es der Affekt, der vor jeder Entscheidung oder rationalen Reflexion aufbricht und dann das doch sehr planvolle Hilfehandeln des Samariters in Gang setzt und prägt. Mit dieser Geschichte antwortet Jesus auf die Frage, wer denn der Nächste sei und gibt ein Beispiel dafür, wie Nächstenliebe aussehen kann.38 Die Faszination der Geschichte liegt m. E. gerade darin, dass sie nicht zu paternalistischem Hilfereaktionen und zu herablassendem Mitleid anleitet, sondern zu einem Ethos der Durchlässigkeit, die vom Widerfahrnis des Ergriffenseins durchdrungen ist und darin die Wahrnehmung und Zuwendung zum Anderen situiert. Die pathische Dimension durchdringt somit das Ethos des Helfens und auch die Welt des Logos, die sich hier im wohlüberlegten Hilfehandeln ausdrückt. Eine intertextuelle Lektüre menschlichen und göttlichen Mitleids lässt die Interpretation zu, dass es in der Geschichte vom barmherzigen Samariter um eine Form der Nachfolge Christi geht, die im Resonanzraum der Affizierbarkeit Gottes verortet ist. Sowohl die Texte in der Hebräischen Bibel als auch die Erzählungen, die vom Mitleid Jesu und des Vaters erzählen, beschreiben das Mitleid als einen Affekt, der eine Ausrichtung auf den Anderen auslöst: im Hunger, im Gefühl der Verlorenheit, in der Krankheit und im Schuldgefühl. Dieses Aus-Sich-Herausgehen Gottes des Vaters und Jesu Christi beschreibt die Beweglichkeit und Affizierbarkeit Gottes im Angesicht der Phänomene menschlicher Vulnerabilität auf eindringliche Weise. In den Metaphern und Narrativen wird von Gottes Liebe erzählt, die empathisch in die Porosität menschlicher Existenz eindringt und sich 38 Ruben Zimmermann verweist darauf, „dass im Zusammenhang des so verstandenen Mitleids die Frage nach dem Nächsten auf mich selbst zurückfällt: Die Kategorie des ‚Nächsten‘ erschließt sich nicht über eine Bestimmung des ‚Nächsten‘ als Adressat oder Objekt meiner Liebesbemühungen, sondern nur indem ich durch mein Mit–leiden selbst zum Nächsten werde.“ Ders. Die Etho-Poiethik des Samaritergleichnisses (Lk 10,25–37), in: WuD (2007), 51–69: 59.

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bis ins Innerste berühren lässt. Dieser Prozess der Affizierung löst in Gott eine Aufwallung aus, die im Motiv der Reue sogar als Selbstwiderspruch ausgedrückt wird. Zugleich setzt dieses Mitgefühl Impulse in Gottes Wirken frei, die auf die Verwandlung der Menschen und der Welt in Richtung Lebendigkeit, Lebenszugewinn und Heilung zielen. Eine sich in den anthropomorphen und anthropopathischen Gottesvorstellungen artikulierende Theologie bietet m. E. fruchtbare Ansätze für eine Theologie der Seelsorge. Sie lässt eine Beweglichkeit in den Gottesbildern zu, die jenseits der Alternative von dämonischen Gottesbildern und eindimensional positiven Entwicklungsbildern einen alternativen Weg einschlägt.

Die Apatheia Gottes Gegenüber dem bisher Ausgeführten muss allerdings festgehalten werden, dass in der christlichen Theologiegeschichte die Vorstellung von der Unveränderlichkeit und Unberührbarkeit Gottes einen zentralen Stellenwert hatte. Von göttlicher Vulnerabilität und Affizierbarkeit zu sprechen, wurde oftmals als Häresie gebrandmarkt. Das klassische theistische Gottesverständnis ist gekennzeichnet von Attributen, die um die Bewegungslosigkeit Gottes kreisen und der hellenistischen Philosophie entlehnt sind, um die Perfektion Gottes im Licht eines gekreuzigten Jesus zu verteidigen. Die biblischen Vorstellungen vom affizierbaren Gott war über Jahrhunderte in der Geschichte des Christentums ein Stein des Anstoßes. Vielmehr bezog man sich lieber rasch auf die philosophische Vorstellung der römischen und griechischen Antike von der Apatheia Gottes. Der Begriff der Apatheia ist vieldeutig: im physischen Sinne bedeutet er Unbeeinflussbarkeit, im psychischen Sinne Unempfindlichkeit und im ethischen Sinne Freiheit. Der Begriff der Unbeeinflussbarkeit existiert in einem weiteren Konnotationsfeld, in dem Vorstellungen von Unteilbarkeit, Unveränderlichkeit und Unwandelbarkeit sowie Körperlosigkeit und Unsichtbarkeit verortet sind.39 In der ersten Grundbedeutung von Apatheia geht es um die Eigenschaft der Unbeeinflussbarkeit eines Dinges oder einer Person durch äußere Entitäten, durch von außen herzutretende, meist als negativ interpretierte Einflüsse. Diese Vorstellung von Unbeeinflussbarkeit wurde überwiegend als eine andauernde Eigenschaft verstanden. Im psychischen Sinne geht es um die Unbeeinflussbarkeit durch seelische Empfindungen, die durch äußere Umstände angeregt werden. Diese Form des 39 Vgl. zum Apatheiabegriff grundsätzlich Herbert Fronhofen, APATHEIA TOU THEOU. Über die Affektlosigkeit Gottes in der griechischen Antike und bei den griechischen Kirchenvätern bis zu Gregorios Thaumaturgos, Frankfurt et al. 1987, 30ff.

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Affiziertwerdens bezeichnet Aristoteles als Bewegung der Seele, die von Lust oder Schwere begleitet ist und Gefühle wie die Sehnsucht, die Liebe aber auch die Vorsicht, den Neid, den Zorn und das Mitleid hervorbringen kann.40 Leidenslosigkeit wurde in diesem Sinne als Immunität gegenüber als negativ empfundenen Seelenerregungen gedeutet, während Leidenschaftslosigkeit insbesondere in der Stoa auf die Abwehr der als unvernünftig und damit widernatürlichen Regungen der Seele zielt. Das stoische Ideal des Freiseins von Leidenschaften entspringt der negativen Deutung der Pathe, die in vier Gruppen eingeteilt als Krankheiten der Seele bezeichnet wurden: die Pathe der Lust, des Schmerzes, der Furcht und der Begierde.41 Das ethische Ideal zielt bei vielen griechischen Philosophen auf Unerschrockenheit, Ausgeglichenheit und Angemessenheit in der Urteilsfindung. Hierfür bedarf es nach Philosophen wie Demokrit oder Aristoteles nicht einer radikalen Apatheia als Ausrottung jeglichen Gefühls, sondern eher einer Metriopatheia als eines Mittelzustandes, in dem die Balance zwischen zwei jeweils entgegengesetzten Pathe angestrebt wird. In der Stoa hingegen werden die Pathe als dem Logos gegenüber stehende, feindliche Kräfte verstanden, die zu Fehlurteilen der Vernunft führen.42 Diese Vorstellungen, die mit Apatheia verbunden sind, wurden in der griechischen Philosophie dann auch auf das höchste göttliche Prinzip bezogen. Insbesondere Plato und Aristoteles beschrieben die metaphysische und ethische Vollkommenheit Gottes mit dem Konzept der Apatheia. So beschreibt Aristoteles Gott als Geist, als unbewegten Beweger, als leidenschaftslos und unbeweglich. „Sowohl die in unmittelbarem Zusammenhang der Apatheia genannte Unwandelbarkeit […] des ersten unbewegt Bewegenden aber […] als auch die Isolierung desselben von Physikalischem, sinnlich Erfahrbarem und Bewegtem sowie schließlich seine Unteilbarkeit resp. Einfachheit weisen darauf hin, daß auch hier von einer Apatheia im Sinne der Unbeeinflussbarkeit schlechthin die Rede ist.“43 Plato hält in seiner Hierarchie göttlicher Entitäten fest, dass die oberste Gottheit, in der sich die Idee des Guten finden lässt, selbstverständlich körperlos, unveränderlich und unbeeinflussbar sei, und dass sich in diesen Attributen die Vollkommenheit ausdrücke. Mit dieser Vorstellung von der Apatheia Gottes grenzen sich die Philosophen von der stürmischen olympischen Götterwelt ab, in der die Leidenschaften der Götter die bewegende Kraft des Götterpantheons sind und so auch das Schicksal der Menschen beeinflussen und teilweise bedrohen. Griechische Mythologien, in 40 41 42 43

Vgl. aaO., 36. Vgl. aaO., 49. Vgl. aaO., 50. AaO., 79.

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denen die launische Willkür der Götter farbenreich und drastisch ausgemalt wird, gibt es dabei zuhauf.44 Griechische Philosophen heben dagegen in ihrer Kritik der Mythologien, die die Macht der Götter im Sinne von Tyrannei und Willkür darstellen, insbesondere die Attribute der Leidenschaftslosigkeit und der Unveränderlichkeit hervor. Auffassungen „beweglicher“ Götter gelten insbesondere für die Vorstellung von der höchsten Gottheit als inakzeptabel. Ein Gott, dessen Taten offensichtlich durch Wut und Willkür geleitet werden, gilt als unzumutbare Vorstellung, er muss demgegenüber Impassibilität (Leidenschaftslosigkeit) zeigen; er muss ohne jede Leidenschaft sein. Einem Gott, der für vertrauenswürdig und verlässlich gehalten werden soll, muss die Eigenschaft der Unveränderlichkeit zukommen. Vor dem Hintergrund der Vorstellungen göttlicher Willkür, erscheint der Gedanke göttlicher Leidenschaftslosigkeit als eine deutliche Alternative. Vor dem skizzierten Hintergrund entwickeln frühe christliche Schriftsteller ihre Polemik gegen die abstoßenden Leidenschaften der heidnischen Gottheiten, indem auch sie die Unveränderlichkeit des christlichen Gottes hervorheben, der sowohl unbeeinflusst von den beschriebenen bedrohlichen Gefühlslagen, als auch leidenschaftslos im Angesicht menschlichen Leidens beschrieben wird. Dies hat dann auch Auswirkungen auf die Christologie und die Interpretation des Leidens Christi: „Seit den frühen Theologen wie Ignatius von Antiochien und Melito von Sardes steht fest, daß Gott selber kein Leiden erträgt, aber daß Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist und sich durch Menschwerdung den Leiden assoziiert hat. […] Denn Menschsein bedeutet an sich, Leiden unterworfen zu sein. […] Die Menschwerdung und das, was sie veranlasst hat, ist von keinem altkirchlichen Theologen als Erleiden Gottes angenommen worden. Darüber konnte gesagt werden, daß Gottes Erbarmen mit der gefallenen Menschheit ein Ausfluß seines Gutseins ist: das ist Gottes Güte und nicht ein erlittener Affekt [πάθος].“45 Die Vorstellung von der regungslosen Güte Gottes wurde ein zentrales Motiv. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zur Lehre von den zwei Naturen Christi, nach der Christus nur nach seiner menschlichen Natur in der Lage ist zu leiden, seiner göttlichen Natur hingegen Immutabilität (Unveränderlichkeit/Unwandelbarkeit) zugeschrieben werden muss. Die Vorstellung 44 Beispielsweise wird in der Aischylos zugeschriebenen Tragödie „Der gefesselte Prometheus“ davon erzählt, wie Zeus Prometheus zu schrecklichen Qualen verurteilt, weil dieser Mitgefühl für die Menschheit zeigte und wie er Io bestrafte, um zu verbergen, dass er sie vergewaltigt hatte. Göttliche Macht wird in dieser und anderen Geschichten in Akten gewalttätiger Machtausübung ausgedrückt. Vgl. hierzu Willam C. Placher, Narratives of a Vulnerable God. Christ, Theology, and Scripture, Louisville 2000. 45 Ekkehard Mühlenberg, Der leidende Gott in der altkirchlichen Theologie, in: Peter Koslowski/Friedrich Hermanni (Hg.), Der leidende Gott. Eine philosophische und theologische Kritik, München 2001, 73–86: 81.

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von der Unbeweglichkeit Gottes wurde in der Scholastik, insbesondere bei Thomas von Aquin, weiter vertieft und in den Bekenntnissen der Reformation bekräftigt. Für Seelsorgerinnen und Seelsorger ist es von zentraler Bedeutung, die eigenen Gottesvorstellungen vor dem Hintergrund der Kontroverse um einen affizierbaren versus einen apathischen Gott zu überprüfen und danach zu fragen, wie die entsprechenden Vorstellungswelten die Interpretation menschlicher Verletzlichkeit beeinflussen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Wahrnehmung der Gottesbilder der Seelsorge Suchenden. Dabei ist es hilfreich, empirische Studien zur Kenntnis zu nehmen, die sich mit der Wirksamkeit bestimmter Gottesvorstellungen in Krisensituationen unter besonderer Berücksichtigung der Frage der Affizierbarkeit Gottes beschäftigen. So hat beispielsweise eine Untersuchung aus dem Jahr 2004 ergeben, dass die Deutungsmuster, die von Eltern, die ein Kind verloren hatten, präferiert wurden, keineswegs mehrheitlich von der Vorstellung der Affizierbarkeit Gottes ausgingen. Die Mehrzahl der Väter und Mütter präferierte die Vorstellung einer sogenannten Plan-Theodizee nach dem Motto: „Das Leiden ist Teil eines großen Plans, den ich nicht verstehen kann.“46 Die alternativen Antwortmöglichkeiten, die den Eltern in der Untersuchung angeboten wurden, waren die sogenannte Straf-Theodizee („Das Leiden ist Folge eines Fehlverhaltens, für das Gott straft“) und die Vorstellung von der Mitleidens-Theodizee („Es gibt keine Antwort. Gott ist mir im Leiden nahe.“) Auf diese Alternativen wurde allerdings weniger positiv eingegangen, und auch die Vorstellung vom mitleidenden Gott wurde – zumindest in dieser Untersuchung als – weniger hilfreich erfahren. Die hier nur in Umrissen skizzierte Auseinandersetzung um die Apatheia versus die Vulnerabilität Gottes lässt sich für eine Theologie der Seelsorge, die einen kritischen Umgang mit Gottesbildern zu kultivieren sucht, fruchtbar machen. Dabei geht es um eine kritische Analyse von Gottesbildern, die zwischen Starrheit und Verlässlichkeit, bzw. zwischen Beweglichkeit und Willkür chan46 Vgl. Hansjörg Znoj et al., Mehr als nur Bewältigen? Religiosität, Stressreaktionen und Coping bei elterlicher Depressivität nach dem Verlust eines Kindes, in: Christian Zwingmann/Helfried Moosbrugger (Hg.), Religiosität: Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung. Neue Beiträge zur Religionspsychologie, Münster 2004, 277–297. Als Begründung für die Präferenz einer Plan-Theodizee geben die Autoren den Effekt der Entlastung an: „Der Tod eines Kindes ist fast immer mit unerträglichen Schuldgefühlen gekoppelt. […] Wenn man in einer solchen Situation als gläubiger Mensch das Schicksal als unabänderlich auffassen und zudem die Verantwortung an ein gütiges und höheres Wesen delegieren kann, kann man sich gleichzeitig auch als weniger schuldig am Tod des Kindes sehen und ist deshalb emotional entlastet.“ AaO., 291. Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie ist allerdings, dass die wichtigsten Prädikatoren, die als depressionsmindernd beschrieben wurden, nicht im Bereich explizit religiöser Vorstellungen lagen, sondern eher im Bereich des konstruktiven Denkens und der Aktivierung persönlicher Wachstumserfahrungen. Vgl. aaO., 292.

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gieren können. Die zu Beginn dieses Kapitels eingeforderte Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Gottesbildern, die in den beschriebenen Möglichkeitshorizont eingelassen sind, hat ihre Grenze an der Darstellung der Willkür und Gewalttätigkeit Gottes. Diese Grenze ist insbesondere dann zu ziehen, wenn bei derartigen Vorstellungen eine unmittelbare Projektion und somit die emotionale Legitimierung zwischenmenschlicher Gewaltbeziehungen erfolgt. Für die Ausarbeitung einer Hermeneutik für die Seelsorge ist es wichtig zu fragen, wie die jeweiligen Gottesbilder im Lebenszusammenhang wirksam sind, ob sie starre bis hin zu fundamentalistischen Lebenseinstellungen fördern oder ein Vertrauen in die Verlässlichkeit Gottes inmitten von Unübersichtlichkeit und leidvollen Erfahrungen. Es bleibt zu erkunden, wie Menschen gegenwärtig ihre Hoffnung auf die Treue und die sich darin zeigende Gerechtigkeit Gottes, aber auch auf die Begegnung mit dem verborgenen Gott ausdrücken können. Ein weiterer Aspekt besteht m. E. darin, wahrzunehmen, inwiefern Gottesbilder die Ausbildung einer Ambiguitätstoleranz zulassen und Widersprüche in der Wahrnehmung des eigenen Lebens ermöglichen bzw. die Beweglichkeit in Gott selbst wahrzunehmen in der Lage sind.47 Diese Frage spitzt sich insbesondere in einer trinitarischen Theologie der Seelsorge zu, die neben der Rede vom affizierbaren Gott auch die Vulnerabilität Christi und des Geistes zur Sprache bringt.

Vulnerabler Christus Im 20. Jahrhundert tauchen die Vorstellungen von der Affizierbarkeit und der damit verbundenen Leidensfähigkeit Gottes im theologischen Gespräch wieder auf und werden für viele Menschen auch Teil eines „religiösen Lebensgefühls“. Die klassischen theistischen Auffassungen von Impassibilität und Immutabilität werden kritisch hinterfragt und verlieren ihre Glaubwürdigkeit, insofern diese Attribute eine distanzierte Haltung Gottes sowohl im Angesicht individuellen Leidens als auch im Angesicht kollektiver Gewalttaten voraussetzt. Dieser Umbruch ist auch für eine seelsorglich ausgerichtete Theologie von großer Bedeutung. Insbesondere in der Theologie Dietrich Bonhoeffers geschieht ein Perspektivwechsel hinsichtlich der Wahrnehmung sowohl menschlicher also auch göttlicher Verletzlichkeit. In „Widerstand und Ergebung“ schreibt Bonhoeffer über den Gott, der von menschlicher Verletzlichkeit affiziert ist: 47 Zur Ausbildung von Ambiguitätstoleranz als Thema religiöser Praxis vgl. Andrea Bieler, Ambiguitätstoleranz und empathische Imagination, in dies./Henning Wrogemann (Hg.), Was heißt hier Toleranz? Neukirchen-Vluyn 2014, 131–145.

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„Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in seinem Leiden. – Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib, die Seele mit seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.“48

Bonhoeffer zeichnet hier ein Gottesbild, nach dem Gott sowohl Ausdrucksformen der sozialen Vulnerabilität wie Obdachlosigkeit und Armut auf sich zieht als auch Anteil an der fundamentalen Verletzlichkeit hat, die sich im Tod und in der Sünde zeigt. Glauben bedeutet für Bonhoeffer auf diesen Gott zuzugehen und ihn mitten im verletzlichen Leben zu finden. Die hier gebrauchte Bewegungsmetapher besitzt eine reziproke Dynamik. Auch Gott bewegt sich auf die Menschen zu und sättigt sie in ihrem Leib-Sein-Zur-Welt, das auch die seelische Dimension umfasst und stirbt für alle am Kreuz. Der leidende, nackte Gott ist derjenige, der aus Gottverlassenheit rettet. Ähnliches ist auch von Christus zu sagen: „Soll Jesus Christus als Gott beschrieben werden, so darf nicht von diesem göttlichen Wesen, nicht von seiner Allmacht und von seine Allwissenheit geredet werden, sondern dann muß von diesem schwachen Menschen unter den Sündern, von seiner Krippe und seinem Kreuz gesprochen werden. Wenn wir von Jesu Gottheit handeln, müssen wir von seiner Schwachheit reden.“49 Statt den Begriff „Schwachheit“ zu verwenden, schlage ich vor, von Facetten der Vulnerabilität zu sprechen, die im dreieinigen Gott aufgehoben sind und im Christusereignis eine besondere Gestalt gewinnen. Der Theologe Jeff Pool unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen reflexiver und transitiver Vulnerabilität in der Gottesrede. Reflexive Vulnerabilität bezeichnet die Fähigkeit Gottes, Schmerz im Hinblick auf das göttliche Selbst als innertrinitarisches Ereignis zu erleben als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Transitive Vulnerabilität bezieht sich auf die Durchlässigkeit göttlicher Hingabe in einer Welt, die sowohl die Möglichkeit des Verletztwerdens durch andere als auch Mitgefühl und Solidarität im Leiden umfasst. Diese drei Facetten des Mit–Leidens, die sich in der Verletzlichkeit, dem pathischen Mitfühlen und der Kraft der Verwandlung ausdrücken, beschreiben entsprechend die Leidensfähigkeit Gottes. Pool hebt hervor, dass reflexive und transitive Vulnerabilität aufeinander bezogen sind: „Ohne die reflexive göttliche Vulnerabilität oder die Fähigkeit des göttlichen Selbst, Schmerz zu erleiden, würde Gott nicht über die Fähigkeit verfügen an der, für die und mit der kreatürlichen Andersheit zu leiden. Ohne die 48 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München/Hamburg 31966, 159f. 49 Dietrich Bonhoeffer, Christologie, München 1981, 81.

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transitive göttliche Vulnerabilität oder die Fähigkeit an der, für die und mit der kreatürlichen Andersheit zu leiden, würde Gott nicht über die Fähigkeit verfügen an dem, mit dem und für das göttliche Selbst in seinen Bedürfnissen zu leiden. Daher wird die göttliche Vulnerabilität, in all ihrer Rätselhaftigkeit und Komplexität, sichtbar im Kommen des Kosmos, den Gott im göttlichen Bild geschaffen hat.“50 Vulnerabilität ist hier nicht im Defizitmodell gedacht, sondern als ein kreatives Vermögen, in dem Inkarnation, Kreuz und liebende Hingabe aufeinander bezogen sind. Als Vermögen drückt sie die Möglichkeiten Gottes aus, dem eigenen Sein und der Beziehung zur Welt in aller Freiheit einen Ausdruck zu verleihen. Entsprechend wird von göttlicher Liebes- und Beziehungsfähigkeit gesprochen, die Affizierbarkeit und somit Beweglichkeit in Gott selbst voraussetzt. In diesem Zusammenhang kann Inkarnation als Menschwerdung im Schatten der Verletzlichkeit gedacht werden. Dies bedeutet, dass Gott sich diejenigen Dimensionen, die das leibliche Sein-Zur-Welt ausmachen, zu eigen macht und sich ganz und gar affizieren lässt von den Facetten der Vulnerabilität. Diese Dimensionen habe ich als Offenheit und Durchlässigkeit, als Fähigkeit zur Wahrnehmung von Ambiguität und einem sich selbst Fremdwerden sowie als unerschöpfliche Potenzialität beschrieben. Vulnerabilität als Vermögen, sich dem anderen ganz und gar in Liebe hinzugeben und darin das Risiko auf sich zu nehmen, empathisch mitzuleiden, geliebt und verletzt zu werden, zeichnet den leidenschaftlichen Gott aus; die Gefährdung, die damit verbunden ist, wird zum Signum der Inkarnation.51 Die Liebe Gottes, die sich hier ausdrückt, besteht nicht in statisch-distanziertem Wohlwollen, der Erfüllung einer Pflicht oder in der Umsetzung eines formalen Gerechtigkeitsprinzips, sondern sie ist rezeptiv und lässt sich vom Gegenüber bewegen. Ein Bild, das dies besonders eindrücklich darstellt, ist der Vater, der auf seinen aus der Ferne heimkommenden Sohn zuläuft und ihn leidenschaftlich vor jedem Abwägen in die Arme schließt und küsst (Lk 15,20). Diese Szene hat nichts mit der Vorstellung regungsloser Güte zu tun, die uns in der Verteidigung der Apatheia Gottes in den Disputen der frühen Kirche begegnet. Wohl kann beispielsweise mit dem Aspekt des Richters diese Form der apathischen Rechtsprechung verbunden werden, da es hier ja um eine sehr bestimmte und zeitlich eingeschränkte Funktion geht, die der Richter zu erfüllen hat. Die Aspekte göttlicher Kreativität und Liebe werden darin aber nicht ein-

50 Jeff B. Pool, God’s Wounds: Hermeneutic of the Christian Symbol of Divine Suffering, Bd.1: Divine Vulnerability and Creation, Eugene 2009, 171 (Übersetzung A.B.). 51 Vgl. zum Thema der risikoreichen Inkarnation Günter Thomas, Das Kreuz Christi als Risiko der Inkarnation, in: ders./Andreas Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus (FS M. Welker), Leipzig 2007, 151–179.

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gefangen.52 An dieser Stelle wird noch einmal die Einsicht Abraham Heschels bedeutsam, dass Liebe, Affizierbarkeit sowie Sinn für Gerechtigkeit in der Beziehung Gottes zu den Menschen immer wieder in einer Weise ausbalanciert werden, dass sowohl willkürliche Leidenschaft als auch regungslose Apatheia ausgeschlossen bleiben. Stattdessen wird die göttliche Treue zu den Verheißungen, zum Bund, zur Zukunft einzelner sowie der gesamten Menschheit zum Ausdruck gebracht; darin wird von den Leidenschaften Gottes erzählt. Catherine Keller unterstreicht darüber hinaus im Hinblick auf die göttliche Affizierung im Eintreten in die menschliche Erfahrungswelt, dass die göttliche compassio (Mitgefühl, Anteilnahme, Barmherzigkeit) nicht als ein vollständiges Absorbiertwerden vom Leiden des anderen verstanden werden darf.53 So nimmt Gott, der bewegte Beweger, am Kreuz die äußerste Gewalterfahrung in sich auf, die zum Tode Jesu führt; zugleich wird die Kreuzeserfahrung verwandelt: In den Auferstehungsgeschichten wird von einer Öffnung berichtet, in der Neuschöpfung und die Verwandlung der Gewalt geschieht! Nur in dieser trinitarisch gedachten Öffnung kann Affizierung bzw. Mitfühlen als eine das Leben ermöglichende Kraft verstanden werden. Die qualitative Differenz in der analogischen Rede von der Affizierbarkeit Gottes lässt sich entsprechend in dem Aspekt der Potenzialität verorten. Auferweckung von den Toten und Neuschöpfung beschreibt die Potenzialität Gottes, die den menschlichen Möglichkeitssinn übersteigt und auch die Affizierbarkeit entsprechend neu qualifiziert. Keller verweist darauf, dass auch im zwischenmenschlichen Bereich eine Empathie wenig hilfreich ist, die sich mit dem Gegenüber überidentifiziert („ich leide wie du“), oder in oberflächlicher Weise Verständnis suggeriert („genau das kenne ich auch“). Ebenso wenig ist eine Haltung am Kältepol der Empathie hilfreich, die in einer professionellen Helferattitude keine Verbindung zum Empfinden des anderen zulässt.54 Die beschriebene Durchlässigkeit beschreibt das Verhältnis Gottes als Offenheit hin zur Welt und ist in trinitarischer Perspektive in der Wirklichkeit Gottes aufgehoben. Inkarnation birgt in den Ambiguitäten der Vulnerabilität immer auch das Risiko der Verletzung und des Todes, aber auch die Möglichkeit zu lieben und zur Heilung des verletzten Lebens. In all diesem entfaltet sich eine „Präsenz, in der sich Gott so auf die Welt einlässt, dass er selbst verletzlich sein möchte. Das Eingehen in die naturalen, sozialen und kulturellen Bedingungen ist nicht nur eine Würdigung geschöpflichen Lebens, […] sondern impliziert als Eingehen in lnterdependenzgefüge eine Aufgabe reiner Selbstbestimmung. Ge52 Vgl. hierzu auch Neil Pembroke, A Pastoral Perspective on the Suffering of God, Colloquium 38 (2006), 27–40: 28. 53 Vgl. Catherine Keller, On the Mystery: Discerning Divinity in Process, Minneapolis 2008, 128f. 54 Vgl. aaO., 129.

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schöpfliches Leben ist ohne ein Affiziertwerden von anderem, ohne ein gewolltes und/ oder ungewolltes Erleiden nicht denkbar. Darum ist schon die Sendung des Gottessohnes ohne Schutz vor dem Tod. […] In der Inkarnation dokumentiert sich darum unüberbietbar Gottes Bereitschaft, sich durch das Leben der Menschen bewegen zu lassen (Joh. 11,35), d. h. die Schöpfung auf sich selbst wirken zu lassen.“55 Eine trinitarisch fundierte Theologie der Seelsorge wird entsprechend die Themen der Inkarnation und des Kreuzes im Kontext der Vulnerabilitätsthematik stark machen: der unendliche Gott tritt in die Endlichkeit und somit in die Sterblichkeit ein und intensiviert in der Person Jesu von Nazareth sein Vermögen, verletzlich zu sein. Dies geschieht, indem er Anteil an den naturalen, sozialen und politischen Zuständen und Prozessen hat, die die Ausgesetztheit, Anfälligkeit, aber auch das Potenzial zur Intensivierung eines Lebens in Fülle in sich bergen. Es geht entsprechend um eine Affizierung inmitten des verletzlichen Lebens, in der sich die Verankerung des inkarnatorischen Geschehens in Raum und Zeit ausdrückt. Insbesondere die Evangelien haben ein Interesse, auch die Dimensionen der situativen Vulnerabilität im Leben Jesu und in seinem Umfeld zu thematisieren. Die narrative Ausgestaltung der Inkarnationstheologie findet sich bei Lukas und Matthäus (Lk 2,1–21; Mt 1,18–2,23). Christus kommt zur Welt als schutzbedürftiger Säugling, geboren von einer Frau, die zunächst in ungeklärten Beziehungsverhältnissen lebt (Mt 18f); er wird hineingeboren in prekäre Lebensumstände. Bereits der Weg der Hochschwangeren und ihres Verlobten ist risikoreich (Lk 2,7); sie finden keinen angemessenen Ort für die Geburt und Maria ist gezwungen, in einem Stall zu gebären. Die Menschen in Bethlehem verweigern ihr weitergehenden Schutz. Jesus wird bald nach seiner Geburt ein Flüchtlingskind; im Matthäusevangelium wird berichtet, dass Maria und Josef sich schon binnen kurzem nach Ägypten aufmachen müssen, um dem von Herodes initiierten Kindermord zu entfliehen (vgl. Mt 2,13–15). Diese Geschichte der Flucht kann aber auch als ein Beispiel für die Aktivierung von Resilienz verstanden werden, die Eltern werden in die Lage versetzt, dem Kind, das in höchstem Maße abhängig und schutzbedürftig ist, das Überleben zu sichern und so das Leben des Kindes auf die Zukunft hin zu öffnen.56 Auch die Geschichten, die vom Wirken des erwachsenen Mannes berichten, thematisieren das Ineinander von fundamentaler und situativer Vulnerabilität, an den Rändern zwischen Leben und Tod, im Umgang mit Krankheit, in der 55 Thomas, Das Kreuz, 168. 56 Vgl. zur Deutung der Geburts- und Kindheitsgeschichte aus der Perspektive der Verletzlichkeitsthematik Hildegunde Keul, Inkarnation – Gottes Wagnis der Verwundbarkeit, ThQ 192 (2012), 216–232; dies., Weihnachten. Das Wagnis der Verwundbarkeit, Ostfildern 2013.

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Erfahrung von Hunger und Durst und in der Begegnung mit dem Fremden. In der Gnade im Überfluss, in der Festfreude, dem grenzüberschreitenden Essen und der sich hingebenden Liebe erscheint die Verletzlichkeit des Lebens. Insbesondere in den Heilungsgeschichten werden das Leib-Sein-Zur-Welt und die Frage nach der Zwischenleiblichkeit zur Sprache gebracht. Dabei beschreiben viele Heilungsgeschichten eine zwischenleibliche Reziprozität, in der sich sowohl die Porosität Jesu als auch die Bedürftigkeit der Hilfesuchenden zeigt und in der der Austausch göttlicher dynamis stattfindet.57 In dem in den Heilungsgeschichten entstehenden dritten Raum wird die Vulnerabilitätserfahrung intensiviert und dann in eine neue Qualität transformiert. All diese Erzählungen zeigen Jesus als exemplarischen Menschen, an dem sich die Ambiguität der Verletzlichkeit in besonderer Weise zeigt und verdichtet. Im Überschwang der Festfreude blitzt das Moment der Gefährdung auf, das gemeinschaftliche Essen mit den Outcasts irritiert soziale Maßstäbe und generiert Konflikte. In der Passions- und Leidensgeschichte verdichtet sich die Beschreibung der risikoreichen und das Leben gefährdenden Dimension der Vulnerabilität. Die Deutung des gefährdeten Lebens in Passion und Kreuz Jesu ist multiperspektivisch angelegt. Die Umschreibungen und Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament beinhalten eine Vielzahl von Perspektiven und Interpretationen, die sich teilweise ergänzen, aber auch kritisieren. Sowohl die narrativen, die metaphorischen als auch die konzeptionellen Deutungen bieten eine Vielzahl von Antwortversuchen.58 Dabei wird insbesondere auf der narrativen Ebene in un57 Als Beispiel hierfür sei die Geschichte von der Heilung der blutflüssigen Frau (Mk 5,25–34 parr.) angeführt, in der von Jesus gesagt wird, dass durch oder im Anschluss an die Berührung durch die Frau eine Kraft (dynamis) von ihm ausging. Das Heilungsgeschehen von dem berichtet wird, kann hier als Austausch von Dynamis/Kraft/Macht verstanden werden. 58 Vgl. Andrea Bieler, ICH HABE ANGST. Die Predigt vom Kreuz im narzißtischen Zeitalter, in: Claudia Janssen/Benita Joswig (Hg.), Erinnern und aufstehen – antworten auf Kreuzestheologien, Mainz 2000, 132–149: 140f: „Das Neue Testament selbst enthält zahlreiche Deutungsversuche, die um ein Verständnis des Jesus aus Nazaret, der als Messias geglaubt wird, ringen und die um die Anstößigkeit der Predigt vom Kreuz wissen. Die Aussage, daß Gott in Christus für uns war und ist, erfährt allerdings viele Ausdeutungen, die nur teilweise mit der Interpretation des Todes Jesu als Heilstod verbunden sind. Er wird als Retter im Endgericht vorgestellt (1 Thess 1,10), als leidender Gerechter (vgl. Ps 22), zu dem sich Gott durch die Auferweckung von den Toten bekennt; Christus wird als prototypische, eschatologische Heilsgestalt bekannt, die als Herr über Lebende und Tote das Heil für die adamitische Menschheit bringt (Röm 14,9; 1 Thess 4,14). Demnach ist Christus der Erstgeborene, nach dessen Bild die Christen und Christinnen geformt werden. Daneben gibt es Vorstellungen, insbesondere in der paulinischen Theologie, die den Fokus auf das Kreuz legen. Aber auch hier lassen sich verschiedene Konzepte entdecken, die an den Begriffen der personalen Stellvertretung, des Sühnopfers und der Versöhnung entfaltet werden. Das Bekenntnis, ‚Christus starb für unsere Sünden‘ (Röm 5,6.8) kann dabei als personaler Stellvertretungsgedanke formuliert werden, der keinerlei Sühnopfervorstellung impliziert. Die Aussagen in Röm 3,21ff dagegen sind auf dem Hintergrund kultischer Sühnopfervorstellungen formuliert

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terschiedlicher Weise die Verletzlichkeit Christi beschrieben und gedeutet. Das traumatische Zentrum des christlichen Glaubens, die Geschichten um Kreuz und Auferstehung gleichen Erinnerungssplittern, in denen das Herumwandern um eine Wunde, die letztlich unzugänglich bleibt, immer wieder von neuem als unabschließbarer Prozess eingeübt wird. Traumatische Ereignisse eröffnen keinen unmittelbaren Zugang, in dem die Ursprungsszene eindeutig erinnert und von ihr erzählt werden könnte. Traumatische Ereignisse drängen sich in die Gegenwart in Flashbacks, in gebrochenen Erzählungen. Sie bedrängen diejenigen, die von ihr verwundet sind. Die direkte Rückreise zur Wunde bleibt verschlossen. Stattdessen explodieren die Versuche, die Geschichte der Gewalt zu erzählen und ihr einen Sinn zu geben. Auch das Neue Testament bietet eine Vielfalt von Erzähl- und Deutungsversuchen, die um den Tod Jesu kreisen und das Geschehen auf der Schädelstätte aus verschiedenen Perspektiven interpretieren. Interessanterweise eröffnen die Evangelien, insbesondere das Matthäusevangelium, einen Zugang zur Phänomenologie der Gewalt, indem die Dreierszene von Opfer, Täter und Zuschauenden und das Feld von erlittener, ausgeübter und wahrgenommener Gewalt ausgebreitet und als relationale Konstellation beschrieben wird, in dem alle Beteiligten auf unterschiedliche Weise affiziert werden.59 Die Ausübung der Gewalt wird in ihrer physisch-symbolischen Qualität als Entblößung, Degradierung und schließlich als Vernichtung gezeigt. Die Zuschauenden blicken mit Hohn, Spott, Zynismus oder auch Angst auf das Kreuz.60 worden. Von Versöhnung als einem Austauschprozeß, in dem Christus für uns zur Sünde gemacht wurde, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt, wird in 2 Kor 5,21 gesprochen. Während Versöhnen (katalassein) die Wiederherstellung eines gestörten Verhältnisses durch persönliche Zuwendung beschreibt, zielt die Vorstellung von Sühne (hilasterion) auf die Abschaffung der Sündenfolgen durch ein Opfer. Trotz all dieser Vielfalt der Aussagen kann festgehalten werden: Nirgendwo im Neuen Testament wird von einem Gott gesprochen, der seinen Zorn im Kreuz Jesu austobt und sich so Genugtuung verschafft.“ Vgl. weiter die instruktive Zusammenstellung der neutestamentlichen Deutungsbemühungen, die sich in Motivik und Genres ausdifferenzieren lassen, in: Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziele kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2 2012, 259ff. 59 Vgl. zur Phänomenologie der Gewalt Kap.2. 60 Der Evangelist Matthäus erzählt davon, dass der Ort der Gewalt sich vor den Toren der Stadt befindet, abgetrennt von der Liturgie des Alltags und doch auf sie bezogen. Die Demütigung des Opfers beginnt mit dem Zwang, die eigene Kleidung abzulegen. Ein Soldatenmantel wird Jesus umgelegt, eine Krone aus Dornengestrüpp wird ihm aufgesetzt und ein Rohrstab in die Hand gegeben. So als König ausstaffiert, muss er den verbalen Spott der Soldaten des Statthalters ertragen: „Sei gegrüßt, König der Juden“. Neben die verachtenden Worte tritt die physische Gewalt; sie spucken ihn an, sie schlagen ihm auf den Kopf. Die Verobjektivierung zum Opfer der Gewalt nimmt ihren Lauf: die Soldaten verlosen seine Kleidung. Dann wird auf dem Querbalken der Hinrichtungsgrund kundgetan: „Dies ist Jesus,

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Der Gekreuzigte, das Opfer der Gewalt, verstummt und schweigt, der Sterbeprozess kulminiert in einem Schrei. Die Erde bebt. In der Multiperspektivität der Blicke und Stimmen taucht die sich auf unterschiedliche Weise vollziehende Entmenschlichung von Opfer, Tätern und Zuschauenden als verbindendes Element auf. In dieser Konstellation wird paradoxerweise – durch die Negativität von Spott und Hohn hindurch – die Wahrheit gesagt: „Sei gegrüßt, König der Juden“ und „dieser ist wahrlich Gottes Sohn gewesen“ (Mt 27,54). Diese komplexen Blickkonstellationen auf das Kreuz laden dazu ein zu erforschen, was sich im Leiden Gottes zeigt und was verhüllt bleibt, oder in den Worten Martin Luthers: den Widerspruch zwischen dem deus revelatus und dem deus absconditus zu bedenken. Diese Meditation eröffnet auch für eine Theologie der Seelsorge die Möglichkeit, die christliche Gottesvorstellung in ihrer Ambivalenz auszuloten und trinitarisch zu deuten: das Mitleiden des Vaters, die Gottverlassenheit des Sohnes und die Anwesenheit der Geistkraft im Zwischenraum zwischen Sterben, Tod und Auferstehung. M. E. sind Motive der Vulnerabilitätsthematik auch mit den Auferstehungsnarrativen verknüpft. So wird in den Evangelien darauf Wert gelegt, dass der Auferstandene die Stigmata der Kreuzigung am Leibe trägt (Joh 20,19ff). Der Leib des Auferstandenen wird zum Symbol der Überwindung des Todes und der Gewalt, ohne dass dabei die Spur der Verletzung, d. h. die Wunden, gänzlich verschwinden. Dieser Leib hat die Gravitätsgesetze hinter sich gelassen. Der Auferstandene kann durch Wände hindurchgehen, entschwindet immer wieder und fährt hinauf in den Himmel. Zugleich impliziert die Geschichte von der Überwindung des Todes, die Geschichte der Gewalt: Da ist eine Spur, die sich am Leib, auf der Hautoberfläche, zeigt und die nicht ausgelöscht ist! Auch die Begegnungen des Auferstandenen mit den Jüngerinnen und Jüngern können teilweise als Traumanarrative gelesen werden, in denen fragile Beziehungskonstellationen zum Vorschein kommen, die ihre Dynamik in der Spannung von Sehen und Nicht-Sehen, Begegnung und Entzug,61 Missverständnissen und Verstehen62 entfalten.63

König der Juden.“ Es folgen weitere Verspottungen durch die sog. „Räuber“, die mit ihm gekreuzigt werden. Vermutlich ist dies der Jargon der römischen Besatzungsmacht, die mit diesem Begriff die zelotischen Freiheitskämpfer verunglimpfte. In die Verschmähungen der Räuber stimmen auch die Vorübergehenden in zynischer Weise ein. In aller Nüchternheit hören wir von der Faszination des Grauens, von der perversen Lust am Quälen des Anderen. Diese Dinge werden berichtet, konstatiert. Dazu also sind ganz normale Menschen fähig – Alltagsmenschen, nicht Soziopathen. 61 In der Emmauserzählung (Lk 24,13–25 [kurz angedeutet auch in Mk 16,12–13]) erkennen die Jünger den Auferstandenen erst nach einer ganzen Weile im Brechen des Brotes. Im Augenblick der Erkenntnis entschwindet er. Erkenntnis als Sicherheit im Modus des Festhaltens scheint nicht möglich zu sein.

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Für eine Theologie der Seelsorge bieten insbesondere die narrativ ausgestalteten biblischen Traditionen einen Imaginationsraum, in der Spur einer theologia crucis die Affizierbarkeit und Leidensfähigkeit Gottes in ihrer paradoxen Kraft zu meditieren. In der vermeintlichen Schwachheit, oder besser, inmitten facettenreicher Vulnerabilität wird die Geschichte von der Verwandlung der Gewalt, von Hoffnung und neuem Leben erzählt. Die Inszenierung dieses Paradoxes im Gespräch, im Schweigen und im rituellen Handeln gehört zur Kunst seelsorglichen Handelns. Diese Kunst der Gestaltfindung wird auch einen Einfluss auf die Deutungsversuche von Vulnerabilitätsphänomenen haben, die in seelsorglichen Gesprächen artikuliert werden; dabei geht es im Hinblick auf die Seelsorgerinnen und Seelsorger weniger um die Vermittlung dogmatischer „Richtigkeiten“, als vielmehr um eine pathische Öffnung dem benannten Paradox gegenüber, die auf eine seelsorgliche Haltung ausstrahlt. Eine für die Theologie der Seelsorge wichtige Frage ist, inwiefern die in der Frömmigkeitsgeschichte des Christentums inspirierten Blicke auf das Kreuz Menschen getröstet und Resilienz, d. h. Widerstandskraft, gefördert haben und wie der Zusammenhang menschlicher und göttlicher Vulnerabilität mit dem Blick auf das Kreuz verstanden wurde.64 In diesem Zusammenhang sind insbesondere Studien, die die subjektive Dimension des Glaubens sowie die affektive Dimension der Frömmigkeit weiter untersuchen, auch für eine Theologie der Seelsorge von Bedeutung.65

62 Maria Magdalena begegnet dem Auferstandenen und hält ihn fälschlicherweise für den Gärtner; auch hier begegnet das Motiv der Einsicht im Zusammenhang des Loslassens. 63 Vgl. zur Deutung von Auferstehungsgeschichten im Kontext von Trauma Shelly Rambo, Spirit and Trauma: A Theology of Remaining, Louisville 2010, 83–91 und Ursula Gast et al., Trauma und Trauer. Impulse aus christlicher Spiritualität und Neurobiologie, Leben Lernen Bd.224, Stuttgart 2009. 64 In der kirchengeschichtlichen und kunsthistorischen Forschung, die sich dem Thema der Spiritualitäts- oder Frömmigkeitsgeschichte widmet, wird die Frage nach der Bedeutung der Visualisierung der Kreuzesdarstellung weiter entwickelt. Vgl. hierzu insbesondere die instruktiven Studien zur frühen Neuzeit: Anselm Steiger/Ulrich Heinen (Hg.), Golgatha in den Konfessionen und Medien der frühen Neuzeit, AKG Bd.113, Berlin/New York 2010. 65 Ein altkirchliches Beispiel, das die affektive Seite der Passionsfrömmigkeit reflektiert, sind die Aufzeichnungen der gallischen Nonne Egeria, die in ihrem Reisetagebuch aus dem 4. Jahrhundert die affektive Dimension einer Karfreitagsliturgie beschreibt, in der sich die Christinnen und Christen vor einer Kreuzesreliquie versammeln, um dann drei Stunden lang der Geschichte der Passion Jesu Christi, unterbrochen von Hymnen, zu lauschen. Sie schreibt: „Bei den einzelnen Lesungen und Gebeten aber kommt es zu einer so großen Rührung und zu solchen Klagelauten im ganzen Volk, daß es verwunderlich ist. Es gibt niemanden, weder alt noch jung, der nicht während dieser drei Stunden des Tages so sehr weint, wie man es nicht für möglich halten möchte.“ Itin. Eger 37,7 (zitiert nach: Egeria: Itinerarium, Reisebericht. Mit Auszügen aus Petrus Diaconus, De locis sanctis. Die heiligen Stätten, übersetzt und eingeleitet von Georg Röwekamp unter Mitarbeit von Dietmar Thönnes, FChr Bd.20, 1995, 277).

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Hier können nur einige wenige Beispiele vorgestellt werden, die unterschiedliche Denk- und Gefühlsbewegungen des Glaubens beschreiben. Die erste Vorstellung ist die von der Compassion Christi: Christus leidet mit den Menschen, wie sie oder sogar mehr als sie, und ist so in einfühlender Anteilnahme und der daraus entstehenden Präsenz gegenwärtig. Die zweite Bewegung ist die der Imitation, der Nachahmung des Leidens durch die Glaubenden, der dritte Zugang lässt sich als Meditation des Geheimnisses der Erlösung bezeichnen, die sich bewusst von einer Versenkung in die Schmerzen des vulnerablen Christus abwendet und sich auf den Tod als Ort und Mittel der Sündenvergebung konzentriert. Die vierte Variante kann als via negativa beschrieben werden, die sich in einem ikonoklastischen Gestus der Darstellbarkeit des verletzlichen Christus als Sohn Gottes widersetzt. Die erste Bewegung kann wie folgt beschrieben werden: Menschen werden krank, erleben die Unkontrollierbarkeit des Lebens z. B. in Form von Epidemien und unkontrollierbarer Verletzlichkeit und Sterblichkeit. Sie erleben mit aller Wucht das Zerstörungspotenzial, das der Schöpfung innewohnt. Die Angst, die diese Prozesse hervorbringt, wird kulturell und religiös geformt und gedeutet.66 Eine Deutungsbewegung, die Menschen getröstet hat, ist in diesem Zusammenhang: Christus leidet wie wir und in der Ähnlichkeit wird Nähe, Intimität und Trost erlebt. Hier wird eine Affizierung gezeigt, die physische Qualität hat und den psychosomatischen Zusammenhang eines rohen Schmerzes zur Darstellung bringt. Dieses Trostbild kann seine Kraft aber nur entfalten, indem es auf das Bild des Auferstandenen bezogen bleibt. Ein klassisches Beispiel westlicher christlicher Kunstgeschichte, das eine seelsorgliche Wirkung mit dem Anblick des Gekreuzigten und Auferstandenen intendierte, ist der von Matthias Grünewald gestaltete Isenheimer Altar. Das Altarbild stand ursprünglich in einer Spitalskapelle des Hospitals des Antoniterordens und sollte die Kranken trösten, die dort wegen der lebensbedrohlichen Krankheit des Ergotismus67 behandelt wurden. Es fungierte als eine Art Meditationsbild, das als „quasi medicina“ verstanden wurde. Von der Betrachtung des Bildes erhoffte man sich Gesundung, Heilung und wenn nötig auch ein Wunder, auf alle Fälle aber sollte der Anblick des Gekreuzigten Trost spenden. Die durch das v. a. auf Roggen wachsende Mutterkorn (claviceps purpurea) verursachte Vergiftung produziert eine Zerstörung der Hautoberfläche, die offene Pusteln und Wunden hinterlässt. „Grünewald hat ein solches Opfer einer Mutterkorn-Vergiftung auf dem rechten Flügel der zweiten Öffnung (Versuchung des Antonius) mit Schwimmhäuten als 66 Vgl. zur Entwicklung religiöser Vorstellungen im Kontext epidemischer Erfahrungen: Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985 sowie Peter Lewis Allen, The Wages of Sin: Sex and Disease, Past and Present, Chicago/London 2000. 67 Auch u. a. Antoniusfeuer und „ignis sacer“ (Heiliges Feuer) genannt.

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Hinweis auf das Kältegefühl in den Gliedmaßen (links unten) abgebildet. Die Gestalt trägt die wesentlichen Merkmale eines Ergotismus gangraenosus an sich: Der Leib ist grün-blau-schwarz (livid) verfärbt mit einer dünnen durch Flüssigkeit stark hervorgewölbten und mit Blasen übersäten Bauchdecke […] die Arme und Hände sind wie mit einer pergamentartigen Haut überzogen.“68 Die verwundete Hautoberfläche, die Pusteln und offenen Stellen, die nicht nur beim gegenwärtigen Betrachter Ekel und Angst erzeugen, werden zum Symbol für den Zusammenhang von Kreuz, Verletzlichkeit und Inkarnation, dem InsFleisch-Kommen-Gottes. Die Darstellung der verletzten Hautoberfläche ebenso wie der vom Schmerz verzerrten Gesichtsmimik und der verrenkten Gelenke zeigt eine Verbindung zu den Körpern, die die Kreuzigungsszene bevölkern.

Abbildungen 1 und 2: Ausschnitte aus dem Isenheimer Altar, Matthias Grünewald, 1506– 1515 Links: Das Kreuzigungsbild, Rechts: Die Versuchungen des heiligen Antonius © bpk | RMN – Grand Palais

Der Körper des gekreuzigten Christus, der zu sehen ist, weist also ähnliche Merkmale auf, die ihn ganz in die Nähe der Kranken rücken; er leidet wie sie und ist so ganz identifiziert mit deren Leiden. Dieser mitleidende Christus, der ganz im Leiden der Kranken präsent ist, indem er es selbst in physischer Weise teilt, ist der tröstende Heiland, der den intimen Leidensraum mit den Erkrankten teilt. Diese Darstellung des Gekreuzigten spiegelt eine spätmittelalterliche Leidens68 Reiner Marquard, Matthias Grünewald und die Reformation, Berlin 2009, 107. Und weiter die instruktive Interpretation des Isenheimer Altars von Magdalene L. Frettlöh, Rechts und links vom Kreuz stehen. Die Kreuzestafel des Isenheimer Altars feministisch-theologisch wahrgenommen, in: Janssen/Joswig (Hg.), Erinnern, 107–127. Frettlöh verbindet die beiden Gruppen, die unter dem Kreuz stehen, durch eine Deutung der Christusfigur.

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mystik wider, die die verletzliche Leiblichkeit im christologischen Horizont zu verorten vermag. Zum tröstenden Heiland kann Christus allerdings nur durch den Bezug auf die Auferstehung werden. Wird das Altarbild zugeklappt, tritt der auferstandene Christus zutage, jetzt in einem Körper, der eine helle ebenmäßige Hautoberfläche zeigt. Die Spuren der Krankheit und die damit verbundenen Lebens-, Leidensund Sterbeerfahrungen sind in dieser visuellen Darstellung ausgelöscht. Die Vorstellung von erlöster Leiblichkeit wird im Kontrast zur Krankheitserfahrung dargestellt. Auferstehung wird hier ganz und gar mit der Überwindung der todbringenden Krankheit in Verbindung gebracht. Die Wundmale der Kreuzigung sind weiterhin sichtbar und werden zu Zeichen des Triumphes am Leib des Auferstandenen, der aus dem Grab emporfährt, ganz im Licht der Auferstehung eingehüllt. Es bleibt zu fragen, inwiefern diese Darstellung Teil eines eschatologischen Normalisierungsdiskurses ist, in dem eine bestimmte Vorstellung von Gesundheit die somatische Imagination der Auferstehung visuell besetzt. Es ist interessant zu sehen, wie die Vorstellung „Christus leidet wie wir“ in der Gegenwartskunst, insbesondere im Zusammenhang der AIDS-Krise, unter direktem Rückgriff auf Motive der Renaissance zum Ausdruck gebracht wurde.

Abbildung 3: „Man of Sorrows: Christ with AIDS“, W. Maxwell Lawton, 199369

So malt beispielsweise Maxwell Lawton mit Rückbezug auf die Vorlage von Lukas Cranach den Schmerzensmann „Christus mit AIDS“. Dort ist er in sitzender Pose gezeigt, den Kopf gestützt, die Hautoberfläche übersät von dunkelroten Flecken, 69 Abb. unter www.maxwelllawton.com/Flash/gallery.html (abgerufen am 07. 07. 2016).

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die an das Kaposi-Sarkom erinnern, jene Krebserkrankung, die insbesondere in den achtziger und neunziger Jahren mit dem HI-Virus assoziiert wurde.70 Die Darstellung dieser unmittelbaren Identifizierung ist nur eine Blickweise auf das Kreuz. Sie ist nicht für alle Menschen tröstlich. So hat beispielsweise Sharon Fennema in ihrer Studie zur Praxis der Theodizee mit Menschen, die die Hochphase der AIDS-Krise in San Francisco durchlebt haben, herausgefunden, dass für viele Menschen dieser unmittelbare Blick auf den Gekreuzigten in ihrer eigenen Frömmigkeit verstellt blieb. Tröstend waren vielmehr die sekundären Charaktere in der Kreuzesszene, die in ihrer Bezugnahme auf den leidenden Christus versuchten, das Leiden auszuhalten, ohne Antworten zu geben. Relationale Szenen fragiler Solidarität werden zum tröstenden Moment. Hier scheint der Fokus eher auf der gegenseitigen Unterstützung von Menschen zu liegen, die gemeinsam durch die Hölle gehen.71 Dass diese Form der Christusfrömmigkeit auch für viele Christinnen und Christen insbesondere im deutschsprachigen Raum nicht mehr einfach so zugänglich ist, ist anzunehmen.72 Eine zweite Bewegung der Bezugnahme, die in der Geschichte des Christentums eine wichtige Rolle spielte, und an manchen Orten auch immer noch spielt, ist die mimetisch-einfühlende Bezugnahme der Glaubenden auf den vulnerablen Christus, die sich insbesondere in der Figur des Schmerzensmannes seit dem Mittelalter immer stärker durchsetzt. So beschreibt Bernhard von Clairvaux, wie er die Heilsbedeutung des Lebens und Sterbens Christi für das eigene Leben 70 W. Maxwell Lawton schreibt über den Kontext der Entstehung des „Man of Sorrows: Christ with AIDS“: In the Advent season of 1993, I was alone in my apartment and was overcome with grief from the loss of almost all my friends, loved ones and mentors to AIDS. I felt like no one knew me anymore. A strange thing happened as I cried, I had a waking dream, like a vision. I saw myself sitting on a hospital examination table, naked, and hooked up to oxygen and IV drips. Suddenly, the image changed. It was no longer me sitting there, but Christ, covered in AIDS cancer lesions with his head bowed, nude, wearing only a crown of thorns. I knew I had to paint it. I quickly gathered my supplies and, in a transcendent experience, I made the first version of ‚Man of Sorrows: Christ with AIDS‘. I had questions that needed to be answered. As I painted Christ, I was reminded of the many versions of ‚Man of Sorrows‘ referred to Isaiah 53, 3–4, from the 16th century and of Grundewald’s Christ as a plague victim. This gave me the merit to continue. I also knew I had to answer the fundamentalists who were saying AIDS was God’s judgment on gay people and drug users. In the painting I also quoted Jesus’ words from Matthew 25 that when you offer care giving ‚to the least of these, my brethren, you are doing it unto me.‘ I intertwined the words with the image. Afterwards, I knew something inside me changed. I realized God knows my pain and shares my grief. I was healed of a lot of hurt. God still knew me.“, http://www.maxwelllawton.com/ abouttheartist.html (Stand: 03. 07. 2016). 71 Vgl. Sharon Fennema, “Falling all around me”: Worship Performing Theodicy in the Midst of San Francisco’s AIDS crisis, unveröffentlichte Dissertation, Graduate Theological Union, Berkeley 2011. 72 Diese Frage ist jedoch m.W. in poimenischer Hinsicht noch nicht empirisch erforscht.

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meditiert, indem er in seiner Schriftlektüre eine Art von Einfühlung in die Schmerzen und Freuden Christi einübt: „angefangen von den Nöten der Kinderjahre, dann den Mühen, die er beim Predigen ertrug, der Müdigkeit beim Wandern, den Nachtwachen beim Gebet, den Versuchungen beim Fasten, den Tränen des Mitleids, […] der Bespeiung, den Schlägen, […] den Vorwürfen, den Nägeln und ähnlichem.“73 Die Affekte des Herzens sollten durch sorgfältige Meditation der Schmerzen in der Passion Christi in den Glaubenden kultiviert werden.74 Diese Form der Einfühlung wurde als geistliche Übung in der Devotio moderna beispielsweise von Thomas von Kempen (1414 und 1425) in seiner vierbändigen Schrift „De Imitatione Christi“ eingefordert.75 Er beschreibt den Weg des „indefesse ruminare“, das unablässige Einfühlen in die inneren Schmerzen und Leiden Christi sowie die Versenkung in die einzelnen Stationen der Passion. Thomas von Kempen schreibt: „Selbst Jesus Christus, unser Herr, war in seinem Leben nicht eine Stunde ohne den Schmerz des Leidens, solange er lebte […] Wie kannst du einen anderen Weg suchen als den königlichen Weg, den Weg des Heiligen Kreuzes?“76 Immer wieder wurden die Glaubenden aufgerufen, sich das Bild des Gekreuzigten vorzustellen und sich in die Meditation der Schmerzen Christi zu versenken.77 Eine besondere Form der leiblich gebundenen Einfühlung und Identifikation mit den Leiden Christi fand ihren Höhepunkt in Geschichten über die Stigmatisation bei bestimmten Heiligen, wie z. B. Franz von Assisi, der in seinem Leben danach trachtete, in seinem Gottvertrauen und seinem Handeln Christus zu gleichen. Die Geschichten von seiner Stigmatisation, die nach seinem Tode unter seinen Anhängern über ihn kursierten, machten ihn zu einem „zweiten Christus“.78 Viele der Lieder, die im Evangelischen Gesangbuch für die Passionszeit vorgesehen sind, verbinden verschiedene Blickstrategien auf das Kreuz und wollen darin tröstend wirken. Paul Gerhardts Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“,

73 Bernhard von Clairvaux, Super Cant. 43,3 (zitiert nach: Gerhard B. Winkler (Hg.), Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch Bd.VI, Innsbruck 1995, 99). 74 Vgl. Christoph Markschies, Der Schmerz und das Christentum, in: Eugen Blume et al. (Hg.), schmerz. kunst + wissenschaft, Hamburg 2007, 153–159: 157. Die hier aufgeführten Beispiele beziehen sich auf diesen Aufsatz. 75 Vgl. Thomas von Kempen, De Imitatione Christi. Nachfolge Christi, Lateinisch und Deutsch, Zweites Buch, Kapitel 12 § 28–30, hg., eingel. und übers. von Friedrich Eichler, München 1966. 76 Ebd. 77 Vgl. Helga Lutz, „mystisch und grob irdisch“. Figuren des Schmerzes im Spätmittelalter, in: Eugen Blume et al. (Hg.), schmerz. kunst + wissenschaft, Hamburg 2007, 89–98: 90. 78 Vgl. hierzu Markschies, Der Schmerz, 157f.

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ist ein herausragendes Beispiel.79 Er wendet sich dem Antlitz Christi zu, indem er einerseits dessen Schönheit besingt: das schöngezierte Haupt, das edle Angesicht, die Farbe der Wangen, der roten Lippen Pracht. Dem werden kontrastierend die Leiden gegenüber gestellt. Er erfährt Schmerz, Hohn und Spott, körperliche und seelische Schmerzen, es wird das erbleichte Angesicht beschrieben, aus den Wangen und den Lippen ist die Farbe gewichen. Das Leiden Christi hat eine stellvertretende Qualität: Nun, was du, Herr, erduldet, Ist alles meine Last; Ich hab’ es selbst verschuldet, Was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad! (EG 85, Strophe 4)

Diese Art der Lastübernahme schenkt Trost und Zuversicht insbesondere im Tod. Sie drückt sich in der ultimativen Einverleibung des Bildes des Gekreuzigten aus: Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein! Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl. (Strophen 9 und 10)

Die Lyrik des Chorals lädt durch die Meditation des Gesichtes Jesu zur Versenkung in die Schmerzen Christi ein. Als Vorlage für den Choral diente das siebente Lied eines Passionszyklus, das Arnulf der Löwe (1200–1250) komponiert hatte. In 79 Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Landeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe […], Gütersloh et al. 1996, Nr 85; Zitierung des Liedtextes im Folgenden nach dieser Ausgabe.

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der Vorlage lassen sich die sogenannten Salve-Hymnen finden, die sich an die Füße, die Knie, die Hand, die Seite, die Brust, das Herz und das Angesicht Jesu richten und mittels naturalistischer Ausmalung und mystischer Versenkung zur Verehrung des leidenden Christus animieren wollen. In der Gerhardtschen Version kann neben der Versenkung in die Schmerzen Christi auch die innere Stimme des Glaubenden vernommen werden, der dieses Leiden und den Tod zu deuten sucht. Hier wird nicht die Interpretation des Predigers artikuliert, der in fester Gewissheit seine Kreuzestheologie von der Kanzel verkündet, sondern es wird die Stimme des Liebenden zu Gehör gebracht, der mit den Schmerzen des Geliebten mitleidet. Der Choral kreiert eine Art Trance, in der die Zeithorizonte verschmelzen und in der der Beter ganz und gar unter das Kreuz tritt. Erst in Strophe 8 kehrt das Ich wieder zurück und bedenkt das eigene Schicksal, insbesondere das eigene Sterben und hofft auf den Beistand Christi in der Stunde des eigenen Todes.80 Derlei Passionslieder, die die mittelalterliche bernhardinische Mystik reflektieren, fließen in die evangelische Frömmigkeitstradition als eine Ausdrucksform ein, in der die Bezugnahme auf den vulnerablen Christus in einfühlend-regressiver Weise eine Gestalt gewinnt. Dabei changiert die Meditation der Leiden Christi und das Bedenken der eigenen Verletzlichkeit im Raum eines verinnerlichten und intimen Glaubensausdrucks. Eine eher expressive Bezugnahme auf den vulnerablen Christus gibt es heutzutage in römisch-katholischen Karfreitagsprozessionen, in denen eine Form der performativen Nachahmung des Leidens Christi zur Darstellung gebracht wird und Menschen darin Trost und Halt finden. So beteiligen sich im nordrhein-westfälischen Wuppertal, im kalifornischen Oakland oder auf den Philippinen81 zahllose Menschen an der Begehung der Stationen des Kreuzes Christi und finden Trost in diesen rituellen Darstellungen. Für viele evangelische Christinnen und Christen ist diese Form des Frömmigkeitsausdrucks, die eine mimetisch-repetitive Qualität im Hinblick auf die Deutung des Todes Christi hat, allerdings problematisch, weil die Versöhnungsbotschaft, die das Ende aller Opfer und die Verwandlung der Gewalt als Hoffnung artikuliert, in derlei religiösen Ausdrucksformen nicht klar zum Ausdruck gebracht wird. Die dritte Variante, die hier skizziert werden soll, ist die Meditation der Passion Christi als Reflexion über die Bedeutung des Heilswerkes der Versöhnung. Diese Form der Meditation hat weder einen mimetischen, noch einen exzessiveinfühlenden Impetus; die Vorstellung, dass die Glaubenden die Gefühle und 80 Vgl. zum musikgeschichtlichen Hintergrund Elke Axmacher, O Haupt voll Blut und Wunden, in: Gerhard Hahn et al. (Hg.), Liederkunde zum evangelischen Gesangbuch, Heft 10, Göttingen 2004, 40–49. 81 Vgl. zur Thematik Peter J. Bräunlein, Passion/Pasyon. Rituale des Schmerzes im europäischen und philippinischen Christentum, München 2010.

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Schmerzen Christi „nachfühlen“ könnten, wird vielmehr zurückgewiesen. Ein Kritiker dieser Frömmigkeitshaltung war beispielsweise Martin Luther, der immer wieder die heilsame Wirkung des Lesens der biblischen Passionsberichte für den Glauben herausgestrichen hat, jedoch weder die exzessiv-einfühlende Meditation biblischer Texte noch eine leiblich-seelische Imitation der Leiden Christi für notwendig erachtete.82 Auch bedurfte es seines Erachtens keiner Spekulationen und geistlicher Übungen, die in besonderer Weise auf die Wunden Christi bezogen waren.83 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Luther die meditative Betrachtung des Gekreuzigten als gänzlich sinnlos erachtete. So konnte er beispielsweise einem Ratsuchenden die rechte Betrachtung des Gekreuzigten nach dem Empfang des Abendmahls anempfehlen: „Denn Christus ist nichts dann eitel Leben, seine Heiligen tiefer und fester du Dir dieses Bild einbildest und ansiehst, desto mehr fällt das Bild des Todes ab und verschwindet von selbst.“84 Hier geht es im Anschluss an den Mystiker Meister Eckart um eine Einverleibung des Gnadenbildes zum Heil als ein synergetischer Prozess, in dem grafische Bilder, mentale Bilder und Sprachbilder zur Kreuzigung miteinander verwoben wurden. „Seine seelsorgerlich-theologische Empfehlung lebte von der anthropologischen Voraussetzung, dass Menschen im Spätmittelalter generell in Bildern lebten, sodass äußere wie innere Bilder mächtigen Einfluss auf sie ausübten; zwischen magisch wirkendem Kultbild und erzählend didaktischem Historienbild.“85 Die grundsätzliche Verschiebung weg von der Meditation der Leiden Christi hin zur Fokussierung auf die heilswirkende Bedeutung des Todes Jesu, der Versöhnung zwischen Gott und Mensch hervorbringt, hatte für Luther eine explizit seelsorgliche Bedeutung, die die Menschen trösten und aufrichten sollte.86 Die letzte Bewegung, die hier kurz skizziert werden soll, besteht in der expliziten Ablehnung oder Verschiebung der Darstellung des vulnerablen Christus. Interessanterweise spielt in der Frömmigkeitsgeschichte des Christentums in den ersten Jahrhunderten das Zeigen und die Deutung der Verletzlichkeit Christi nur eine untergeordnete Rolle. In der frühen Kirche gibt es kaum Darstellungen des leidenden Christus am Kreuz. Ein zentrales Symbol war der Fisch, die frühen Darstellungen Jesu zeigen ihn als Schäfer oder in der Tradition des Asklepios-

82 Vgl. hierzu Martin Luther, Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, WA 2, 136–142. Siehe auch Markschies, Der Schmerz, 158. 83 Zur Bedeutung der Wunden Christi in der Frömmigkeits- und Kunstgeschichte vgl. insbesondere Reinhard Hoeps/Richard Hoppe Sailer (Hg.), Deine Wunden: Passionsimagination in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne, Bielefeld/ Berlin 2014. 84 Martin Luther, Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519), WA 2, 689. 85 Günter Heimbrock, Das Kreuz – Gestalt, Wirkung, Deutung, Göttingen 2013, 34. 86 Dieses seelsorgliche Anliegen fundierte seine Theologie und nicht so sehr theologische Spekulationen über innertrinitarische Beziehungsverhältnisse.

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kults als heilenden Arzt.87 Bis ins 12. Jahrhundert hinein werden am Kreuz zumeist der Auferstandene und der Segnende gezeigt – als König mit einer Herrscherkrone. Erst in der Gotik setzten sich langsam Darstellungen des leidenden Jesus durch. Die bildliche und textliche Abwesenheit des vulnerablen Christus spiegelt vermutlich die Diskussionen um die Apatheia Gottes und das damit verbundene religiöse Lebensgefühl.88 In den ikonoklastischen Strömungen der Reformation geraten auch die Bilder, die den verletzlichen Christus zeigen, in Verruf. Diese Linie einer Bilderkritik – und damit auch einer Kritik von Christusbildern – lässt sich beispielsweise in der Genfer Reformation finden, in der die Verbildlichung Christi als Idolatrie betrachtet wurde, die die Majestät Christi und das Geheimnis Gottes verletzten.89 Diese kursorische Rekapitulation der Bezugnahme von Christinnen und Christen auf den vulnerablen Christus kann im Rahmen einer Theologie der Seelsorge die Vielfalt der Frömmigkeitsformen verdeutlichen, in denen Menschen Trost gefunden haben, aufgerichtet wurden und Widerstandskraft entwickelt haben, um inmitten der Verletzlichkeit ihr Leben führen und gestalten zu können. Für Seelsorgerinnen und Seelsorger stellt sich die Frage, wie sie sich in den Strom der Tradition einfädeln wollen und können bzw. ob weitere Modifikationen und Alternativen zu suchen sind. Für Seelsorge Suchende stellt sich die Frage, welche Bedeutung der vulnerable Christus in ihrem Glauben hat und inwiefern dieser Glaube eine stärkende Kraft im Alltagsleben haben kann.

Verletzliche Geistkraft Über den Heiligen Geist bzw. die Heilige Geistkraft im Horizont der Verletzlichkeit nachzudenken, führt in verschiedene Richtungen.90 Sie kann als schöpferische Lebenskraft Gottes91 verstanden werden und je nach Kontext u. a. mit Hauch, Atem oder Wind übersetzt werden.92 Dieser schöpferischen Lebenskraft Gottes wohnt eine Dynamik inne, die sogar tote Gebeine wieder zum Leben

87 Zahlreiche Aufsätze zur Geschichte des Kreuzes in der Kunst sowie diverse Exponate zeigt: Sylvia Hahn (Hg.), Kreuz und Kruzifix. Zeichen und Bild, Katalog der gleichnamigen Ausstellung vom 20.02. – 03. 10. 2005 im Diözesanmuseum Freising, Freising/Lindenberg im Allgäu 22005. 88 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap.3. 89 Vgl. Heimbrock, Das Kreuz, 82. 90 Im Hebräischen wird von der rûah im Femininum, im Griechischen vom Pneuma im Neutrum gesprochen. Die Übersetzung˙Geistkraft ermöglicht, die Übertragung des Femininum in die deutsche Sprache und lässt den dynamisch-energetischen Aspekt anklingen. 91 Vgl. Ex 31,3; Dtn 34,9. 92 Vgl. Art. ‫רוַּח‬, in: HALAT Bd.II, Leiden/Boston 32004, 1117–1121.

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erweckt.93 Martin Buber und Franz Rosenzweig fangen diese dynamischen Qualitäten in ihrer Übersetzung mit „Geistbraus“ ein.94 Mit rûah ist aber auch der Lebensgeist (rûah hajim) gemeint, der dem Men˙ ˙ ˙ schen durch die Einhauchung Gottes innewohnt.95 Er bezeichnet eine nach innen und nach außen wirkende Vitalität, die sich als fundamentales Begehren zu leben, als Lebenstrieb ausdrückt. Dieses kann auf das Tun des Guten hin ausgerichtet werden. Entsprechend heißt es beispielsweise in Ps 51,12: „Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, gib mir eine neue und beständige rûah“. Hier wird eine ˙ innere, stetige Ausrichtung des Menschen hin auf Gott beschrieben, die mehr ist als einfache Vitalität. Der Terminus rûah wird auch gebraucht, um zu verdeutlichen, dass Gott in das ˙ Innere des Menschen hineinwirkt, um die „Lebensgeister“ zu wecken.96 Die rûah ˙ des Menschen kann aber auch negativen Einflüssen ausgesetzt sein, die den Menschen von Gott entfernen.97 Im Neuen Testament wird die Vorstellung weitergeführt, dass die rûah – jetzt im ˙ Griechischen das Pneuma – im menschlichen Leib wirksam ist und zugleich 98 unverfügbar bleibt. Die Geistkraft gießt Gott ins Herz des Menschen als das Zentrum seiner Person,99 sie verleiht vielerlei Fähigkeiten: prophetisch zu reden und darin die Wahrheit zu sagen, sie vermittelt Erkenntnis und hilft, Kranke zu heilen.100 Der Heilige Geist wird darüber hinaus bei Paulus als die gemeinschaftsgenerierende Kraft verstanden, die Menschen in einem dynamischen Organismus zusammenfügt, den Paulus als Leib Christi/so¯ma christou bezeichnet.101 Er spricht auch vom Glanz des Lebens, das von der Geistkraft Gottes durchdrungen ist.102

93 Vgl. Ez 37,9f. 94 Beispielsweise wird diese in Ez 37,1 verwendet: „Über mir war SEINE Hand, im Geistbraus entführte mich ER, ließ mich nieder inmitten der Ebne, die war voller Gebeine.“ Zudem gibt es auch die Übersetzungen „Geist“ (z. B. Ps 51,12) oder „Braus“ (z. B. Gen 1,2), Bibelausgabe: Die Schrift, aus dem Hebräischen verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, 4 Bände, Stuttgart 1992. 95 Vgl. Gen 6,17 und 7,15. 96 So erweckt JHWH beispielsweise die rûah Serubbabels, des Statthalters von Juda, und die rûah des Hohenpriesters Jeschua und die˙ rûah all derer, die vom Volk noch übrig waren, ˙ sie kamen und die Arbeit am Tempel ihres ˙ Gottes aufnahmen (Hag 1,14). sodass 97 Die rûah des Menschen kann allerdings auch negativ beeinflusst werden, z. B. in der rûah der ˙ hat Hurerei,˙ die von Menschen Besitz ergreift. So heißt es in Hos 4,12: „Die rûah der Hurerei ˙ mein Volk in die Irre geführt, und sie haben Hurerei getrieben, weg von ihrem Gott.” 98 Vgl. Röm 8,9.11; 1Kor 2,12f; 7,40. 99 Vgl. Röm 5,5; Gal 4,6. 100 Vgl. 1Kor 12,4–11; vgl. ferner auch Gal 3,5. 101 Vgl. 1Kor 12,13. 102 Vgl. 2Kor 3,4–4,6.

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Die Geistkraft, die leiblich situiert im Leben von Menschen wirksam ist, wirkt expansiv, vermehrend und verbindend. Sie ist dabei auch auf Lebenserfahrungen bezogen, in denen Erschrecken, Verletzlichkeit und Sprachlosigkeit – und darin Isolation – zum Vorschein treten. Dies ist insbesondere im Bild der stöhnenden, in Presswehen liegenden Schöpfung dargestellt, in der die Geistkraft den Sprachlosen, denen die Gebete abhanden gekommen sind, aufhilft und an ihrer statt betet.103 Die tröstende Wirksamkeit des Geistes lässt sich auch in der Figur des Parakleten im Johannesevangelium finden.104 Dort wird das Kommen des Geistes in Gestalt des Parakleten angekündigt, der die verlassene Gemeinde nach dem Weggang Jesu trösten wird. Er tröstet die trauernde Gemeinde, er legt Zeugnis von Christus ab und leitet die Gemeinde zum Zeugnis-Ablegen an; der Paraklet wird kommen, wenn Christus gehen muss, er wird die Gottferne der Welt, das Gericht und die Gerechtigkeit Gottes aufdecken. Er ist der Geist der Wahrheit, der vom Vater gesandt ist und der die Jüngerinnen und Jüngern selbst in Situationen der Gefahr zum Zeugnis ablegen anleiten wird. Er vermittelt die Hoffnung, dass Jesus mit denen bleiben wird, die als Überlebende zurückbleiben werden; er fordert die Jüngerinnen und Jünger auf, in Jesus zusammenzubleiben und im Nachhall der Gewalterfahrung Zeuginnen und Zeugen des gekreuzigten Auferstandenen zu sein.105 Nach Shelly Rambo kann die Figur des Parakleten als Ausdruck des Heiligen Geistes verstanden werden, der im Zwischenraum zwischen Tod und Leben Zeugnis ablegt von der Erfahrung der Gewalt, die bleibt. Im Raum zwischen Tod 103 Vgl. Röm 8,22. 104 Parakletos ist im Griechischen im säkularen Gebrauch bereits im 4. Jahrhundert vor Christus belegt und bezieht sich auf eine Person, die um Hilfe angerufen wird. Der Begriff taucht in rechtlichen Zusammenhängen auf, ist jedoch kein terminus technicus für ein juristisches Amt. Mit Ausnahme von Hi 16,2, wo die Freunde Hiobs als Tröster bezeichnet werden, taucht der Begriff in der Septuaginta nicht auf. Bei Philo sowie in der frühchristlichen Literatur jenseits des Neuen Testaments sowie in einigen rabbinischen Texten wird parakletos im Sinne von Advokat oder Beistand gebraucht. Dies trifft auch für 1Joh 2,1 zu: Hier wird Christus als Advokat vor Gott porträtiert, der für die sündigen Christen und Christinnen Fürsprache hält. Viele Übersetzungen von parakletos in den Abschiedsreden des Johannes nehmen das Verständnis von Beistand/Advokat nicht auf, zumal der fürsprechende Aspekt, wie er in 1Joh 2,1 auftaucht, hier fehlt. Vielmehr geht es um die direkte Beziehung des Parakleten zur Gemeinde, die sich einer feindlichen Umwelt ausgesetzt sieht. Zudem geht es um das Kommen des Parakleten nach Jesu Tod. Der Paraklet ist die Geistkraft Christi, die mit der Gemeinde ist. Aufgrund dieser Motive wird in der Mehrzahl der Übersetzungen Tröster gewählt. Vgl. hierzu Sharon H. Ringe, Companions in Hope: Spirit and Church in the Fourth Gospel, in: Margaret A. Farley/Serene Jones (Hg.), Liberating Eschatology (FS Letty M. Russell), Louisville 1999, 174–188: 176f. 105 Vgl. hierzu Tatsiong-Benny Liew, Living and Giving in the Shadow of Imperial Death, Journal of Race, Ethnicity and Religion 1 (2010), 1–58, www.raceandreligion.com/JRER/ Volume_1_(2010)_files/Peace% 20Liew.pdf (Stand: 30. 08. 2015).

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und Leben als Ort des Traumas zeigt sich der Geist als Kraft der Liebe, die der Berührung des Todes standhält und den Zurückgebliebenen ermöglicht, sich neu im Leben zu orientieren: Der Geist ermöglicht eine Verortung zwischen Tod und Leben, in der die zerbrochene Verbindung von Wort und Leib zwischen Tod und Leben bezeugt werden kann.106

Theologische Deutungen leiblicher Verletzlichkeit Eine Theologie der Seelsorge sollte, so lautet der Vorschlag, Überlegungen zur Vulnerabilitätsthematik im Horizont trinitarischer Theologie entfalten und auf diese Weise Narrative und Metaphern bereitstellen, die vom pathischen Gott erzählen. In den Erzählungen und Narrativen, die vom affizierbaren Gott, vom vulnerablen Christus und von der verletzlichen Geistkraft, die im Horizont einer biblischen Theologie als Lebensatem und Trösterin sprechen, wird eine Vorstellung des dreieinigen Gottes entfaltet, der inmitten der Facetten verletzlichen Lebens den Menschen nahe ist und sich als die Kraft der Tröstung, des Aushaltens, des Widerstandes und der Verwandlung zeigen kann. In diesen Facetten sind sowohl regressive als auch aktivierende Aspekte angesprochen, die einem Aktiv-Passiv-Dualismus widerstreben. Vielmehr implizieren die Tröstung, das Aushalten, der Widerstand und die Verwandlung pathische Qualitäten einer kreativen Passivität, in der sowohl das Gottes- als auch das Weltverhältnis eine Gestalt gewinnt. Die zu Beginn entfaltete These von der dynamischen Multivokalität von Gottesvorstellungen und -bildern in der Seelsorge kommt hier wiederum zum Tragen. Die Relevanz der christlichen Tradition für die Gegenwart besteht m. E. u. a. darin, dass die Artikulation des verletzlichen Lebens nicht jenseits der Gottesfrage gedacht und gefühlt wird, sondern in der Rede von Gott selbst aufgehoben ist. Die hier wirksamen Symbolisierungsformen strahlen auch auf die Gott-Mensch-Beziehung aus. Wie diese gedacht werden kann, ohne dass menschliches Leiden banalisiert, verherrlicht oder nur noch in Worthülsen präsentiert wird, ist die Herausforderung, der sich seelsorgliches Handeln stellen muss.107 In der religiösen Sprache des Christentums wurden bestimmte Behinderungen und Krankheiten zum Medium symbolischer Repräsentation; sie verweisen auf Sündhaftigkeit, menschliche Unzulänglichkeit, einen Mangel an Glauben 106 Vgl. Shelly Rambo, Spirit and Trauma, 79. 107 Mit diesen Gefahren setzt sich in eindrücklicher Weise Maike Schult im Hinblick auf die religiöse Deutung des Schmerzes in Literatur und Predigt auseinander, vgl. dies., Die Silbe Schmerz. Vom Schmerz sprechen in Literatur und Predigt, PrTh 49 (2014), 227–232.

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oder einen spirituell minderwertigen Status des Lebens. Im „Book of Common Worship“ der Presbyterian Church der USA kann man ein klassisches Beispiel finden: “Give me, O my Lord that purity of conscience which alone can receive your inspirations. My ears are dull, so that I cannot hear your voice. My eyes are dim, so that I cannot see the signs of your presence. You alone can quicken my hearing and purge my sight, and cleanse and renew my heart. Teach me to sit at your feet and to hear your word.”108

In diesem Beispiel wird die eingeschränkte Seh- und Hörfähigkeit zu einem negativen Symbol einer gestörten Gottesbeziehung und der Unfähigkeit die göttlichen Wege zu erkennen stilisiert. Im Hinblick auf das Bemühen, behinderte Menschen in Gottesdiensten zu integrieren, entsteht dann eine paradoxe Situation: „Das“, was „gesühnt“ werden muss, soll zur gleichen Zeit integriert werden. Diese Symbolisierungsversuche, die oftmals in binäre Schemata von Normalität und Abweichung eingeordnet sind, haben einen Einfluss auf die religiöse und seelsorgliche Praxis sowie die Interpretation von biblischen Geschichten. Sie prägen den Inklusionsdiskurs im Hinblick auf liturgische und religionspädagogische Praxis. Sie fließen in Gebete, Liedtexte und liturgische Stücke, wie beispielsweise das Sündenbekenntnis, ein. In vielen Gottesdiensten wird eine binäre Unterscheidungspraxis zum Zwecke der Inklusion praktiziert: Die Gesunden beziehen die Kranken mit ein und beten für die Bedürfnisse der Behinderten. Oftmals operiert hier ein Paternalismus, in dem ein Verständnis von Inklusion kultiviert wird, in dem andere, die nicht „wie wir“ sind, zum Objekt der eigenen Hilfe werden. Den hier nur angedeuteten Herausforderungen soll im Folgenden nachgegangen werden, indem theologische Deutungsmuster, die in der Geschichte des Christentums ausgebildet wurden und die auch für die seelsorgliche Praxis Relevanz hatten, skizziert werden. Dieser Versuch, Deutungsmuster zu identifizieren, korrespondiert mit der Annahme, dass derlei Muster in modifizierter Form im Leben religiöser Menschen bis heute eine Rolle spielen und dass sie in verwandelter, teilweise säkularisierter Form weiterhin wirksam sind. Für die 108 Book of Common Worship. Daily Prayer, hg. von der Presbyterian Church (U.S.A.)/ Cumberland Presbyterian Church, Louisville 1994, Nr. 21.

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Ausbildung einer theologischen Hermeneutik für die Seelsorge ist es bedeutsam, die theologischen Deutungsfiguren identifizieren zu können und in ihren Begründungszusammenhängen einordnen zu können.109 Diese Frageperspektive soll im Folgenden am Beispiel der Auseinandersetzung mit theologischen Deutungsmustern zum Thema Krankheit entfaltet werden. Dass die Erfahrung des Krankseins die theologische Deutekunst herausfordert, darauf hat bereits Martin Luther aufmerksam gemacht, wenn sich die Frage unweigerlich stellt: Was ist mit mir, der ich an Gott und an Jesus Christus glaube, wenn ich krank werde? 110 Wir beginnen mit dem Deutungszusammenhang von Krankheit und Sünde, weil hier der Coram-Deo-Horizont am Ort einer Störung aufgerissen wird. Ein Traditi109 Bei der Identifikation von Argumentationsmustern geht es nicht um eine detaillierte theologiegeschichtliche Rekonstruktion. In systematisch-theologischer, historischer und biblisch-theologischer Hinsicht sind im Hinblick auf die Deutung von Krankheit im Raum der Religion eine Vielzahl von Veröffentlichungen erschienen, auf die im Folgenden nur exemplarisch verwiesen werden kann. Vgl. z. B. Hector Avalos, Health care and the Rise of Christianity, Massachusetts 1999; Dominik Baltes, Heillos gesund? Gesundheit und Krankheit im Diskurs von Humanwissenschaften, Philosophie und Theologie, SthE Bd.137, Freiburg (CH) 2013; Linda L. Barnes/Susan S. Sered (Hg.), Religion and Healing in America, Oxford/New York 2005; Andrea Bieler, Verletzliche Körper. Theologische und systemische Überlegungen zum Kranksein, in: Ilse Falk et al. (Hg.), So ist mein Leib. Alter, Krankheit und Behinderung – feministische Anstöße, Gütersloh 2012, 45–76; Thomas J. Csordas, Body/Meaning/Healing (Contemporary Anthropology Religion), New York 2002; Gregor Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hg.), Religion und Krankheit, Darmstadt 2010; Isolde Karle/Günter Thomas (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009; John J. Pilch, Healing in the New Testament: Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, Minneapolis 2000; Michael Roth/ Jochen Schmidt (Hg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Theologie – Kultur – Hermeneutik Bd.10, Leipzig, 2008; Annette Weissenrieder, Images of Illness in the Gospel of Luke: Insights of Ancient Medical Texts, WUNT II Bd.164, Tübingen 2003. 110 Stephan Schaede fasst Luthers Anliegen so zusammen: „Aufregenderweise geht es Luther bei der Beantwortung sofort um eine Kunst. ‚Hie ist Kunst‘, sagt er. Und die Kunst ist keine andere als Deutungskunst von Lebensphänomenen. Wo soll sich diese Kunst Rat holen? Nicht beim Sinn und Verstand. Denn sie urteilen: Indem ich krank bin und es mir schlecht geht, ist Gott zornig auf mich. Dieses Urteil aber sei irreführend. Größte Vorsicht sei geboten. Man dürfe sich nicht auf das verlassen, wie ‚sich’s empfindet‘. Luther behauptet, dass Gott in diesen Fällen mit seinem Handeln ‚hinder der wandt‘ stehe ‚vn(d)… durch die fenster‘ sehe. In Krankheit und Leid, die prima vista von Gott zu trennen scheinen, sei Gott gegen den Augenschein zur Stelle. Luther behauptet nun, dass Christen durch das ‚fenster des tunckeln glaubens‘ Gott auch in ihrer Krankheit sehen. Menschen ohne Glauben würden hingegen ihre Krankheit als Gottverlassenheit und Kriegserklärung Gottes gegen sie deuten. Das führe zwangsläufig in die Revolte gegen die Krankheit. Wer glaube, integriere hingegen die Krankheit in sein Leben, und zwar derart positiv, behauptet Luther, dass er sage, sie seien ‚köstlich’, ja sie seien zu den ‚edlisten gutter‘ zu zählen, ‚die niemant schetzen mag‘.“ Stephan Schaede, Zur Relevanz alter und uralter Krankheitsdeutungen für die aktuelle Diskussion, in: Karle/Thomas (Hg.), Krankheitsdeutung 290–307: 303.

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onsstrang im Kosmos religiöser Bedeutungsgewinnung zeigt sich in dem Bemühen, die Ursache für Krankheiten zu benennen und so die Erfahrungen verletzlicher Leiblichkeit zu deuten.111 Dabei wird die Verhältnisbestimmung von Krankheit und Sünde zum zentralen Begründungszusammenhang. Der Neutestamentler Ruben Zimmermann bietet im Hinblick auf die Reflexion biblischer Texte verschiedene Deutungsmuster an, die m. E. auch in einem weiteren Deutungsraum der jüdischchristlichen Tradition eine Anwendung finden und auch im Raum der Seelsorge eine Rolle spielen.112 Diesen Vorschlag greife ich im Folgenden in modifizierter Form auf. a. Krankheit wird als Konsequenz eines Fehlverhaltens beschrieben und entsprechend als interne Sündenfolge verstanden; b. Krankheit wird als externe Sündenfolge, z. B. als Strafe Gottes beschrieben und in einen konditionalen Begründungszusammenhang eingeordnet. Wird das Gewicht auf den Straf-, Züchtigungs- oder Erziehungsaspekt gelegt und Gott als Akteur eingeführt, dann lässt sich Krankheit vor dem Horizont der Erbsündendogmas als Ausdruck des status corruptionis des Menschen in der Schöpfung nach dem Fall interpretieren. Krankheiten entstehen, weil Menschen sich vom Willen Gottes abwenden; sie werden als Folge des Sündenfalls und als Strafe Gottes interpretiert. Wenn Augustinus vom Christus Medicus spricht, der die Menschen heilt, so geht es ihm um eine Form geistlicher Heilung, nämlich um die Wiederherstellung des rechten Gottesverhältnisses durch die Vergebung der Sünden.113 c. Es wird in einfacher Identifikation davon gesprochen, dass Krankheit ein Ausdruck von Sünde sei. Entsprechend gehört beides zur conditio humana, dass der Mensch Sünder ist und Menschen von Krankheiten heimgesucht werden. Wenn Krankheit in einfacher Identifikation als Sünde verstanden wird, dann wird damit die Grundkonstitution menschlichen Lebens angesprochen. Sünde ist Ausdruck menschlicher Begrenzung, diese ist in die Fleischlichkeit eingeschrieben; Krankheit und Tod sind entsprechend Ausdruck dieser Begrenzung.

111 Vgl. zum Folgenden auch Andrea Bieler, Verletzliche Körper. 112 Vgl. hierzu Ruben Zimmermann, Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1–12, in: Thomas/Karle (Hg.), Krankheitsdeutung, 227–246: 229–232. 113 Vgl. Michael Klein, Krankheit und ihre Deutung in der Reformation, in: Karle/Thomas (Hg.), Krankheitsdeutung, 274–289: Augustinus’ Ausführungen prägten die mittelalterliche Theologie und zeigten ihre Wirkung bis hinein in die Zeit der Reformation. Von Martin Luther ist überliefert, dass er als Seelsorger einfühlsam auf kranke Menschen eingehen konnte, um sie zum Erdulden des Leidens zu ermuntern. Gott hätte die Krankheiten aus gnädigem väterlichen Willen geschickt; die erlebten Heimsuchungen seien aufgrund begangener Sünden verdient. Luther interpretiert Krankheiten zeitweise auch als direkten Angriff des Teufels, wobei er den Teufel als von Gott zugelassenes Instrumentum versteht, vgl. aaO., 276.

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d. In der räumlichen Konzeptualisierung wird Sünde als Machtraum beschrieben, in dem das Phänomen der Krankheit verortet ist. Entsprechend wird vom Machtbereich der Sünde gesprochen, der mit Gottesferne, Krankheit und Tod assoziiert wird. Entsprechend wird die Sphäre des Heils mit Gottesnähe und Heilung in Verbindung gebracht. Aus dieser Vorstellung folgt in vielen Fällen, dass die Kranken auch räumlich abgesondert werden. e. Wird Krankheit als soziale Sünde beschrieben, dann wird beispielsweise auf gesellschaftliche Verhältnisse verwiesen, die Menschen krank machen; derlei Zustände werden als Entfremdung von einem Leben beschrieben, das dem Willen oder den Geboten Gottes entspricht. Wird Krankheit als soziale Sünde begriffen, wird ein Blickrichtungswechsel vollzogen, indem das Verhalten des sozialen Umfeldes – insbesondere die etwaigen Ausgrenzungs- und Normalisierungsdiskurse – erforscht werden. Wird Krankheit als soziale Sünde verstanden, kommt das soziale Beziehungsnetzwerk in den Blick, insbesondere wie dieses durch die Krankheit Einzelner betroffen wird. f. In der metaphorischen Deutung von Sünde wird Krankheit zum bildspendenden Bereich für das Verständnis von Sünde. „So wie z. B. der Ungehorsam eines Kindes, die juridische Gesetzesübertretung oder der Ehebruch eines Mannes als bildspendender Bereich herangezogen wird, um damit die durch die Sünde gestörte Gottesbeziehung zu beschreiben, so kann auch die Krankheit zu einem weiteren Anschauungsfeld für sündhaftes Leben werden.”114 Zugleich kann umgekehrt die im religiösen Deutungszusammenhang identifizierte Krankheit als Sünde beschrieben werden. Ruben Zimmermann schlägt vor, von der „Krankheits-Sünden-Metapher“ zu sprechen und damit die semantische Wechselwirkung zweier normalerweise nicht zusammengehöriger Bereiche hervorzuheben, durch die die Metapher oder das Sprachbild entstehen.115 Sowohl im Neuen Testament als auch in der sich im Anschluss an die Reformation weiter entwickelnden Moderne gibt es die Tendenz, einen Zusammenhang von Krankheit und Sünde zu bestreiten oder zu dekonstruieren. So lässt sich die Negierung linearer Kausalitätsmuster in den meisten neutestamentlichen Heilungsgeschichten entdecken. Eine strikte Kopplung von Sünde und Krankheit sowie von Vergebung und Heilung wird vielfach kritisiert. So wird beispielsweise in der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen in Joh 9 der Diskurs über explizite Ursachenrelationen mit einer doppelten Pointe abgewehrt: „Während die Jünger eine Kausalrelation zwischen Blindheit und Sünde unterstellen, wird sie von Jesus zweifach zurückgewiesen. Weder in einer zeitli114 Zimmermann, Krankheit, 231. 115 Vgl. ebd.

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chen Erstreckung, d. h. die Eltern einschließend, noch direkt kann ein Tat-FolgeZusammenhang hergestellt werden: Menschen können blind sein, auch ohne Sünde.“116 Die Kritik eines kausalen Zusammenhangs von Krankheit und Sünde wird auch in den jüdisch-christlichen Klagetraditionen z. B. in den Psalmen und in der Krise des weisheitlichen Denkens, z. B. bei Hiob, stark gemacht. In der Klage und Anklage, die vor Gott gebracht wird, geschieht eine Destabilisierung althergebrachter Begründungsmuster. In der Geschichte des Christentums sind die verschiedenen Versuche, Krankheit und Sünde in Beziehung zu setzen, in unterschiedlichen Konstellationen kombiniert und modifiziert worden. Oftmals fließen die skizzierten Dimensionen ineinander und produzieren theologische Ungereimtheiten, in denen sich widersprechende Ausführungen einfach nebeneinander gestellt werden. Stephan Schaede führt dies an verschiedenen theologischen Denkbewegungen Augustins vor. So kann dieser einerseits darauf insistieren, dass die metaphorische Rede von der Krankheit der Sünde in keinerlei Zusammenhang mit der Erfahrung körperlicher Krankheit stehe; an anderer Stellen beschreibt Augustinus Krankheit als Ausdruck des status corruptionis, dann wiederum stellt er die These von einer bedingten Analogiefähigkeit auf.117 Ungeachtet der unterschiedlichen Zuordnungsbemühungen wurden Krankheiten in der Geschichte des Christentums zum Anlass diakonischen, heilenden oder medizinischen Handelns. Sie sollten bekämpft, eingedämmt und überwunden werden. Dieser helfende Impuls war in der Ausbreitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten ein zentrales Moment.118 In der Zeit der Reformation setzten sich Theologen wie Calvin für die Bekämpfung von Krankheiten ein. Calvin drückte immer wieder seine Hochachtung für die Kunst der Ärzte aus; er war daran interessiert, diakonische Einrichtungen zu stärken, die sich um die Pflege der Kranken sorgten. Gelebte Nächstenliebe zeigt sich entsprechend auch im Bau von Krankenhäusern durch christliche Gemeinschaften. Die beschriebenen Argumentationsfiguren können auch als Versuch betrachtet werden, sich der unheimlichen und abgründigen Seite der Vulnerabilitätsthematik zu bemächtigen und diese kontrollieren zu wollen. Erklärungen zu geben, Ursachen zu benennen, eindimensionale Kausalitäten zu artikulieren und Schuldige zu identifizieren, kann m. E. auch als Begehren verstanden werden, Kontrolle über die bedrohliche Seite der Verletzlichkeitserfahrung zu gewinnen.

116 Günter Thomas, Krankheit im Horizont der Lebendigkeit Gottes, in: ders./Karle (Hg.), Krankheitsdeutung, 516. 117 Vgl. hierzu Schaede, Zur Relevanz, 296. 118 Darauf wies bereits Adolf von Harnack hin in: Medicinisches aus der ältesten Kirchengeschichte, Leipzig 1892, 96.

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Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger berichten von unterschiedlichen Deutungsmustern, die auch in der Gegenwart in zum Teil säkularisierter Form Deutungsbemühungen des eigenen Krankheitserlebens artikulieren.119 Heutzutage hat vermutlich bei vielen Menschen eine Verschiebung stattgefunden, in der nicht mehr das Verhältnis von Krankheit und Sünde im Zentrum steht, sondern vielmehr die Frage nach der eigenen Schuld oder der Bedeutung des eigenen Fehlverhaltens. Erklärungsversuche können dabei in einen religiösen Horizont eingelassen sein; dies muss jedoch nicht zwangsläufig der Fall sein. Insbesondere der Erklärungsdruck und die darin impliziten Kausalitätsattributionen („ich bin krank, weil…“) quälen Menschen oftmals in vielfältiger Weise. Diesen Zuschreibungen im Seelsorgekontext in angemessener Weise zu begegnen, ist eine zentrale Herausforderung. Wolfgang Drechsel verweist auf die problematische populäre Rezeption der Vorstellung von der „Krebspersönlichkeit“, die er als Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem Bereich der Psychoonkologie im Horizont individueller Krankheitsdeutung versteht: „der Krebspatient wendet die Ergebnisse der Forschung auf sich selbst an. Und aus dieser Perspektive klingt beispielsweise die Feststellung aus dem Lehrbuch, ‚dass Krebs unter anderem die Folge eines psychosozialen Zustandes ist, der als chronisch blockierte Bedürfnisbefriedigung mit gleichzeitiger sozialer Überanpassung beschrieben werden kann‘, wiederum ganz anders […] ‚Jetzt habe ich den Krebs und bin auch noch schuld daran.‘ Der Kranke erlebt sich als dreifach gestraft. Er hat den Krebs, wird als psychisch gestört identifiziert und ist auch noch schuld an seiner Krankheit zum Tode. Und er findet auch immer wieder entsprechende ‚Helfer‘, die die Theorie im wohlwollenden Gewand hochaggressiv funktionalisieren und den Patienten darauf aufmerksam machen, dass er der Sündenbock ist.“120 In diesen Deutungen kann zunächst ein unheimliches Hoffnungspotenzial stecken. Versteht sich die erkrankte Person als Verursacherin, so wird die Last der Heilung – wenn auch oftmals in unrealistischer Weise – auf deren Schultern gelegt. Entsprechend werden in der überbordenden Ratgeberliteratur, in der vom erfolgreichen Kampf gegen den Krebs und von Heilung gesprochen wird, kranke Menschen herausgefordert, sich entsprechend zu engagieren.121 119 Vgl. zur Deutung von Krankheit in Erzählungen kranker Menschen Kap.5. Vgl. Morgenthaler zur Problematik der Kausalattribution in: ders., Seelsorge, 180–182. 120 Wolfgang Drechsel, Der bittere Geschmack des Unendlichen. Annäherung an eine Seelsorge im Bedeutungshorizont des Themas Krebs, WzM 57 (2005), 459–481. 121 Drechsel verweist in diesem Zusammenhang auf die Fülle von Titeln in der Ratgeberliteratur, z. B. „Den Krebs bewältigen, und einfach wieder leben“, „Krebs – Das Problem und die Lösung“, „Leben! Ich hatte Krebs und wurde gesund“, „Krebskrank – nein danke ohne mich. Ich konnte weiterleben und ließ die Krankheit hinter mir“. Diese Bücher setzen sich mit dem Leben nach einer Krebstherapie auseinander. „Wir sind stärker als der Krebs. 17 Frauen und ihr ungewöhnlicher Triumph über den Brustkrebs“. Manchmal wird Krebs als Chance in der

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Ein weiteres Deutungsschema der Gegenwart ist die quasireligiöse Überhöhung der Gesundheitsthematik. Einige der vorgeführten Verhältnisbestimmungen legen den Schluss nahe, Gesundheit sei mit göttlichem Segen zu identifizieren. Dämonisierung und Glorifizierung von Krankheitserfahrungen können entsprechend nah beieinanderliegen. Eine moderne Version der Glorifizierung von Gesundheit kann in der Propagierung eines Wellnesskultes entdeckt werden, der ein absolutes Ideal von Gesundheit impliziert. Hier wird Gesundsein als eine bestimmte Form von Fitness verstanden, die durch Sport, Bewegung, Diät, Yoga etc. „hergestellt“ werden kann. Fit sein als Lebensstil kann dabei so allumfassend den Alltag beanspruchen, dass das Gesundheitsthema implizit religiös besetzt wird und zum Lebenssinn schlechthin wird. Darüber hinaus werden insbesondere in den USA explizit religiöse Zusammenhänge zwischen Fitness, Gesundheit und dem christlichen Glauben artikuliert.122 Auch die Frage, inwiefern Religiosität gesundheitsförderlich ist, muss in diesen weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang eingeordnet werden. Insbesondere in den USA hat sich ein breit angelegtes empirisches Forschungsfeld entwickelt, in dem die These vertreten wird, dass Religionsausübung gut für die Gesundheit sei.123 Hierzu gehören die in den USA zum Mainstream zählenden Forschungsarbeiten, die einen kausalen Zusammenhang zwischen gelungener Gebetspraxis und physischer Gesundung aufzuzeigen versuchen. Während diese Form der funktionalen Fragerichtung in medizinischer und in religionspsychologischer Hinsicht eine gewisse Berechtigung hat, muss m. E. im Hinblick auf diese Forschungen die Frage gestellt werden, inwiefern die kausalen Zusammenhänge in der Korrelation von Gesundheit und Religiosität ermittelt werden können. Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Phänomene der Religiosität und der Gesundheit multidimensional und in ihrer Komplexität sehr schwer aufeinander zu beziehen sind.124 Auch wird in diesen ForschungsproLebensorientierung beschrieben: „Kerngesund nach Krebs“, „Krise und Krebs als Chance fürs Leben. So finde ich mein Juwel“, „Zukunft ohne Krebs“, „Krebs. Leukämie und andere scheinbar unheilbare Krankheiten mit natürlichen Mitteln heilbar – Ratschläge zur Vorbeugung und Behandlung“, „Den Tod überleben. Eine Ärztin besiegt ihren Lungenkrebs“ usw. Vgl. aaO. 122 Vgl. R. Marie Griffith, Born Again Bodies: Flesh and Spirit in American Christianity, Berkeley 2004. 123 Vgl. Harald G. Koenig, Is Religion Good for your Health? New York/London 1997; Herbert Benson, Heilung durch Glauben, München 1997; Harald G. Koenig et al. (Hg.), Handbook of Religion and Health: A Century of Research Reviewed, Oxford 2001; im Handbook of Religion and Health identifizieren die Herausgeber mehr als 1200 amerikanische Studien, die den positiven Zusammenhang zwischen körperlicher Gesundheit und Glaubenspraxis beschreiben. Viele dieser Studien kommen zu dem Ergebnis, dass gelebte Religiosität zu besseren Bewältigungsstrategien und sogar zu einer höheren Lebenserwartung verhilft. 124 Vgl. Michael Klessmann, Heilsamer Glaube?! Über den Zusammenhang von Religiosität,

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jekten zumeist nicht die Frage gestellt, inwiefern Religiosität auch ein stressinduzierender Negativfaktor im Umgang mit Krankheit sein kann. Wenn Gesundheit und Fitness grundsätzlich zu produzierbaren Gütern werden, kehrt die Schuldfrage im Gewand diverser Ganzheitsideologien zurück: Im Angesicht von Krankheit wird dann im Rahmen eines monokausalen UrsacheFolge-Denkens gefragt: Was habe ich getan oder unterlassen? Gunda SchneiderFlume resümiert in diesem Zusammenhang: „In dem Maße, in dem Gesundheit zur Bedingung gelingenden Lebens wird und in dem diese Bedingung sich mehr und mehr als erreichbares Ziel der Selbstverwirklichung darstellt, in dem Maße ist man erstens für seine Gesundheit selbst verantwortlich und trägt selbst die Schuld für seine Krankheit, und zweitens gewinnt die Angst um Gesundheit eine neue mitunter vernichtende Qualität. Weil Gesundheit den Vorrang vor dem Leben erlangt hat, ist in der Rede von Gesundheit die Angst um das gelingende Leben verborgen.”125

Wenn Gesundheit mit gelingendem Leben, Heil oder sogar Erlösung in Verbindung gebracht wird, kann die Kehrseite der Medaille darin bestehen, Menschen, die bestimmten Normen von Gesundheit nicht entsprechen, zu marginalisieren oder gar zu dämonisieren. Auch in der Geschichte des Christentums gibt es obsessive Darstellungen von deformierten Körpern, die in der Sphäre der Gottferne angesiedelt werden. Die Kulturwissenschaftler Mitchell und Snyder haben für die scheinbar nicht enden wollende Faszination, die mit behinderten Körpern einherzugehen scheint, den Begriff der narrativen Prothese (narrative prothesis) entwickelt.126 In den literarischen Darstellungsformen wird „Behinderung“ entsprechend zum Vehikel, um einen Zustand der Gottferne zu porträtieren oder einer im Innern verdeckten moralischen Schwäche einen äußerlichen Ausdruck zu verleihen. Insbesondere in den theologischen Disability Studies wird deshalb darauf verwiesen, dass Vorstellungen von Gesundheit oftmals mit einer utopischen Normalisierungsideologie verknüpft sind, die Phantasien von der Perfektion des menschlichen Körpers zum Gegenstand quasi eschatologischer Heilserwartungen machen.127 Seelsorge und Heilung, Beiheft zur Berliner Theologischen Zeitschrift 24 (2007), 130–148: 135. 125 Gunda Schneider-Flume, Perfektionierte Gesundheit als Heil? Theologische Überlegungen zu Ganzheit, Heil und Heilung, WzM 61 (2009), 137; Dies., Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 32008, 82–113. 126 David T. Mitchell/Sharon L. Snyder, Narrative Prothesis: Disability and the Dependencies of Discourse, Ann Arbor 2001, 58f. 127 Vgl. Sharon V. Betcher, Spirit and the Politics of Disablement, Minneapolis 2007; einen historischen Überblick bietet Henri-Jaques Stiker, A History of Disability, Ann Arbor 1999. So sind beispielsweise für Augustinus Blindheit, Taubheit sowie geistige Behinderung Ausdrucksformen der gefallenen Natur des Menschen, die durch die Erbsünde gekenn-

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Welchen Deutungsspuren können wir heute für eine Theologie der Seelsorge folgen, in der die Verletzlichkeit des Lebens vor Gott zur Sprache gebracht werden kann? Zum Abschluss dieser Überlegungen sollen noch einmal die folgenden Überlegungen zugespitzt formuliert werden: Im Zentrum christlicher Theologie steht der Gedanke von der Inkarnation, der Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus. Inkarnation im Horizont der Vulnerabilität zu deuten, fordert dazu heraus, die Themen der Affizierbarkeit, der Ambiguität und der Potenzialität auch als Themen der Gotteslehre und der Christologie zu verhandeln. Entsprechend lassen sich auch die Motive der göttlichen Affizierung und des Mitleids Jesu in diesem Horizont interpretieren. Die Heilungsgeschichten verhandeln meist gleichzeitig Ambiguität und Möglichkeitssinn bzw. Potenzialität. Die Deutung der Heilungen als Zeichenhandlungen, die auf die basileia Gottes verweisen, bleibt uneindeutig. Der Möglichkeitssinn, den diese Geschichten in sich tragen, bleibt unausgeschöpft und wird so zum Movens einer unruhigen Hoffnung. Ähnliches kann im Hinblick auf die Auferstehungserzählungen im Raum des Traumas der Gewalt gesagt werden. Die Spur der Gewalt bleibt, der Schrecken, die Furcht und das Zittern sind Teil der Geschichte, der Auferstandene trägt die Spuren der Verletzung am Leibe: Die große Geschichte von der Verwandlung der Gewalt kann nicht linear als Siegergeschichte erzählt werden, sondern ist immer wieder zurückgebunden an die Phänomene der Vulnerabilität. Inkarnation als Hineintauchen in das verletzliche Leben ist ein kreatorischer Prozess, der auf die Verwandlung von Gewalt und Entfremdung und letztlich auf Neuschöpfung zielt, ein Prozess, in dem göttliche Liebe als kreative Hingabe gestaltend wirksam wird. Dieser theologische Zugang verabschiedet die Vorstellung der Apatheia Gottes, die die Unveränderlichkeit und Leidensunfähigkeit betont. Viele Vulnerabilitätsphänomene wie z. B. Krankheiten, soweit sie nicht von Menschen verursacht sind, können als malum naturale verstanden werden, als natürliches Übel, das in die Endlichkeit und Fragilität der Schöpfung eingelassen ist. Hier zeigen sich unter Umständen schwer kontrollierbare und kaum verstehbare Aspekte der Tiefengrammatik der Schöpfung, die noch die Spur des „vorgeschöpflichen Chaos der Finsternis“128 in sich tragen. Krankheit als Übel zeichnet sei. Augustinus folgt Plinius’ Überlegungen zur Existenz einer monströsen Rasse, zu der er androgyne Wesen, Hermaphroditen sowie sogenannte hundgesichtige Gestalten zählte. Diese seien zwar Teil der Schöpfung, sie verwiesen aber als Negativbeispiele auf die wunderwirkende Kraft der Auferstehung, durch die diese Wesen aus ihrer Anomalie und Hässlichkeit befreit werden könnten. Vgl. Betcher, Spirit, 53f. 128 So formuliert Günter Thomas mit Bezug auf Karl Barth, in: Krankheit, 509. Vgl. weiter ders., Krankheit und menschliche Endlichkeit. Eine systematisch-theologische Skizze medizinischer Anthropologie, in: Etzelmüller/Weissenrieder (Hg.), Religion und Krankheit, 293–315.

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anzunehmen bedeutet einerseits die Begrenzung menschlichen Lebens zu akzeptieren, andererseits fordert das lebenzerstörende Potenzial schwerer Krankheit zum Widerstehen heraus, sei es im medizinischen Handeln, sei es in der Klage der Betenden. Zu manchen Zeiten kann es notwendig sein, die Logik kausaler Attributionen zu unterbrechen, wie am Beispiel des Zusammenhangs von Sünde und Krankheit verdeutlicht wurde. Vulnerabilitätsphänomen, die aufgrund gewaltförmiger binärer Diskurse intensiviert werden oder als Ursache verschiedene Formen sozialer Ungerechtigkeit haben, müssen in ihrer strukturellen Dimension und in den Effekten, die im Leben der Einzelnen entstehen, analysiert werden. Auch diese Aufgabe ist integraler Bestandteil einer auf Möglichkeitssinn ausgerichteten seelsorglichen Praxis. Evangelische Theologie wird entsprechend im Hinblick auf die Wahrnehmung von Vulnerabilitätsphänomenen das Spannungsfeld von Annahme und Widerspruch begehen. Der Apostel Paulus hat diese Spannung im Bild der stöhnenden Schöpfung eingefangen, die in Geburtswehen liegt und auf Erlösung hinstrebt (Röm 8,22). Im Bild der Geburtswehen kommt der Aspekt des Pathischen sowohl als gespanntes Warten, als auch im aktiven Pressen zum Ausdruck. Das Warten auf die nächste Wehe sowie das Mitgehen mit dem Schmerz im Atmen und Pressen ist im Bildbereich der Schöpfung, die in Geburtswehen liegt, eingefangen. Hier öffnet sich der Raum des Pathischen, der im Folgenden als Ort seelsorglichen Handelns erkundet werden soll.

4.

Oszillierende Verletzlichkeit: Der Raum des Pathischen in der Seelsorge

In den ersten beiden Kapiteln wurde das Thema der Vulnerabilität als Horizont einer seelsorglichen Theologie in seiner phänomenologischen Grundierung, der situativen Konkretisierung, den ethischen Herausforderungen sowie beispielhaft im Hinblick auf einige kulturelle Repräsentationsweisen eingeführt. Im dritten Kapitel wurden Überlegungen zur Bedeutung von Gottesbildern und -vorstellungen, die in der Seelsorge wirksam sind bzw. die für die theologische Reflexion von Seelsorgerinnen und Seelsorgern hilfreich sein können, angestellt. Zu diesem Zweck wurde das Thema der Vulnerabilität in den Horizont einer trinitarisch entfalteten Theologie der Seelsorge eingezeichnet und theologische Deutungsmuster am Beispiel der Krankheitsthematik diskutiert. Im Folgenden wird noch einmal an die zu Beginn entfalteten Überlegungen angeknüpft. In den phänomenologischen Erkundungen wurde das Leib-Sein-ZurWelt in der Verschränkung von Körper-Haben und Leib-Sein in den Aspekten der Affizierbarkeit, der Ambiguität sowie der Potenzialität entfaltet. All diese Facetten, in denen Vulnerabilitätsphänomene eine Gestalt gewinnen, sind durchdrungen von der Dimension des Pathischen. Das Pathische muss im Zusammenhang mit der Logos- sowie der Ethos-Dimension wahrgenommen werden. Sich für diese Dimension zu sensibilisieren, ist eine zentrale Aufgabe seelsorglichen Handelns. Die Erfahrung des Pathischen wird dabei zur Affizierbarkeit Gottes in Beziehung gesetzt. Dies soll in folgenden Schritten geschehen: zunächst wird über den Raum der Seelsorge zwischen Logos und Ethos nachgedacht und dabei Pathos als Zwischenfigur zwischen Ethos und Logos entfaltet.1 Am Beispiel der Institution des Krankenhauses wird über die Logifizierung des Pathischen im Hinblick auf die Erfahrung des Krankseins zu reden sein, die notwendig und unvermeidbar ist; am Kältepol der Logifizierung wird der Mensch allerdings zum Fall degradiert. Seel1 Hier ist auf die instruktive Arbeit von Philipp Stoellger zu verweisen, der Pathos als Figur des Dritten profiliert, die auf Logos und Ethos ausstrahlt und diese grundiert. Das besondere Verdienst dieser Arbeit besteht in der vielschichtigen Entfaltung des Begriffs der Passivität für die theologische Reflexion. Vgl. ders., Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer categoria non grata, HUTh Bd.56, Tübingen 2010.

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Oszillierende Verletzlichkeit: Der Raum des Pathischen in der Seelsorge

sorgerinnen sollten hingegen auch, ja vielleicht zuallererst, Anwältinnen der Erfahrung des Pathischen sein, die im institutionellen Kontext oftmals marginalisiert und unterdrückt wird. Hört die Dimension des Pathischen auf, auf Logos und Ethos in der medizinischen Versorgung einzuwirken, droht die Gefahr der Dehumanisierung des Betriebes. Im Anschluss an die Reflexion des institutionellen Kontextes wird der Blick auf die leiblichen Ausdrucksformen des Pathischen gelegt, die im Spannungsfeld von Fremdheit und Intimität sowie Weltverlust und Vitalität beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund werden einige Affekte im Raum des Pathischen in ihren poimenischen und theologischen Resonanzen diskutiert: der Schmerz, die Schamund Schuldgefühle sowie die Mitgefühle.

Seelsorge zwischen Logos und Ethos Logifizierungen Vulnerabilitätsphänomene oszillieren im Raum des Pathischen zwischen Logos und Ethos. In diesem Schwingungsraum eröffnet und gestaltet die Seelsorgerin Kommunikationsprozesse, die auf Reziprozität hin angelegt sind. Im heuristischen Interesse werden diese drei Qualitäten im Folgenden nacheinander beschrieben. In der Seelsorgepraxis sind sie in beweglicher Weise ineinander verwoben. In der Logos-Dimension geht es um die kritische Analyse der Produktion von Wissen im Hinblick auf situative Verletzlichkeit. Im Hinblick auf das bereits eingeführte Beispiel des Krankseins kann entsprechend gefragt werden: Was muss eine Seelsorgerin über bestimmte Krankheiten in biomedizinischer und kultureller Hinsicht wissen, um sachgemäß handeln zu können? Auch wenn es zum Signum funktional differenzierter Gesellschaften gehört, dass eine klare Trennung zwischen medizinischem und religiösem Wissen und dem damit zusammenhängenden Expertentum gezogen wird, sollten beispielsweise Seelsorgerinnen, die auf einer onkologischen Station in einem Krankenhaus tätig sind, Grundkenntnisse über Krankheitsverläufe und Charakteristika verschiedener Tumorerkrankungen besitzen.2 Die Logos-Dimension in der Seelsorge umfasst allerdings nicht nur die Anhäufung und Reproduktion von vermeintlich harten Fakten. Um die Wahrneh2 Vgl. zur Verhältnisbestimmung von Medizin und Religion in systemischer Perspektive im Anschluss an Niklas Luhmann: Heike Ernsting, Salbungsgottesdienste in der Volkskirche. Krankheit und Heilung als Thema der Liturgie, Leipzig 2012, 94–123 sowie Isolde Karle, Seelsorge in der modernen Gesellschaft. Spezifische Chancen. Ressourcen und Sinnformen der seelsorgerlichen Kommunikation, EvTh 59 (1999), 203–219.

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mung von Vulnerabilitätsphänomenen im Hinblick auf Krankheiten zu schärfen, sollte ein biokulturelles Verständnis entwickelt werden, das die Verwobenheit somatischer, psychischer, soziokultureller, ökonomischer und religiöser Dimensionen wahrzunehmen versucht.3 All diese Dimensionen berühren die situative Verankerung des Leib-Seins-Zur-Welt.4 Bei der analytischen Wahrnehmung der Verwobenheit dieser Ebenen sollte ein binäres Konstrukt von Krankheit, das fein säuberlich die Biomedizin als vermeintliches Reich der harten, objektiven Fakten von der subjektiven Deutung zu trennen versucht, kritisiert werden.5 Die biomedizinische Rationalität stellt vielmehr „immer auch ein Medium dar, um Krankheit in Kultur zu verwandeln, um die Zufälligkeiten und Kontingenzen eines beziehungslosen naturwissenschaftlichen Universums in ein menschliches Behandlungssystem einzubetten.“6 Empirische Forschungen in der Medizinanthropologie betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Narrativen in den Interaktionsprozessen in der biokulturellen Sphäre.7 Die Deutung von Krankheitsbildern geschieht in interaktiven Prozessen, in die Ärztinnen ebenso verwickelt sind wie Patientinnen.8

3 Vgl. zum Folgenden auch Andrea Bieler, Verletzliche Körper. Theologische und systemische Überlegungen zum Kranksein, in: So ist mein Leib. Alter, Krankheit und Behinderung – feministische Anstöße, Gütersloh 2012, 45–76. 4 Dies habe ich bereits in Kap.2 zum Thema der situativen Vulnerabilität entfaltet. 5 Vgl. Grundsätzliches zur Debatte in der Medizinanthropologie und -soziologie Deborah Lupton, Medicine as Culture: Illness, Disease and the Body in Western Societies, London/ Thousand Oaks/New Delhi 22003 sowie David B. Morris, Krankheit und Kultur. Plädoyer für ein neues Körperverständnis, München 2000. 6 Werner Vogd, Kontexturen der Heilung in einer polykontexturalen Gesellschaft. Empirische und gesellschaftstheoretische Untersuchungen zur Koexistenz scheinbar widersprüchlicher Semantiken, in: Isolde Karle/Günter Thomas (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 23–35: 27. Dass es in der Medizin über weite Strecken um interpretative Vorgänge geht, wird beispielsweise im Hinblick auf die visualisierenden Methoden in der Diagnostik deutlich: Bilder, die durch Kernspin, Mammographie oder Ultraschall hergestellt werden, bilden nicht einfach die „harten Fakten“ ab, sondern bedürfen der Interpretation und sind oft nicht eindeutig. Insofern können diese Formen der Diagnostik als ästhetische Prozesse verstanden werden, in der die subjektive Deutung der Bilder durch die Ärztinnen und Ärzte im Zentrum steht. Wurde bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges das Körperinnere nicht-invasiv ausschließlich durch Röntgenstrahlen sichtbar gemacht, haben die modernen computergestützten, kinematographischen Technologien die Möglichkeit eröffnet, bewegliche und dreidimensionale Bilder bereitzustellen. Dies hat die diagnostischen Möglichkeiten und damit auch die Interpretationsmöglichkeiten erweitert und zugleich zu einer weiteren Fragmentierung der Wahrnehmung des Körpers geführt. Vgl. hierzu Bettyann Kevles, The Transparent Body in Late 20th Century Culture, in: dies., Naked to the Bone: Medical Imaging in the 20th Century, New Brunswick 1997, 261–269. 7 Vgl. zur Bedeutung der erzählten Welt des Krankseins Kap.5. 8 Vgl. Cheryl Mattingly, Healing Dramas and Clinical Plots: The Narrative Structure of

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Um die Diskursgrammatik in diesem Feld zu entziffern, ist ein biokultureller Zugang hilfreich, der auf der Dekonstruktion der Binarität von Kranksein (subjektiv/kulturell) und Krankheit (objektiv/medizinisch/somatisch) basiert und die strikte Trennung der Bereiche von biologischem Wissen und kultureller Konstruktion infrage stellt.9 Die Dekonstruktion dieser Binarität ist für die Arbeit in der Krankenhausseelsorge zentral, da sie dazu führt, kranke Menschen nicht nur als Rezipienten von Diagnosen und Therapiemethoden wahrzunehmen und entsprechend Ärzte als Vertreter vermeintlich unantastbaren Wissens zu sehen. Vielmehr wird durch diesen Zugang die Interaktion zwischen beiden Gruppen in der Seelsorgepraxis thematisiert. In der Vertiefung der Logos-Dimension seelsorglichen Handeln wird eine systemische Wahrnehmungsperspektive der Krankheitsthematik gefördert. Diese versteht den einzelnen Menschen nicht als in sich geschlossene Monade, sondern als Wesen, das in ständigem Austausch mit seiner Umwelt lebt. Die Wahrnehmungsperspektive ist entsprechend nicht primär intrapersonal auf die frühkindliche Entwicklungsgeschichte ausgerichtet, sondern wird vielmehr interpersonal verstanden, z. B. im Hinblick auf Familiensysteme und größere sozialökologische Zusammenhänge. Kranksein kann im systemischen Paradigma nicht einfach nur als individuelles Problem aufgefasst werden. Vielmehr leben kranke Frauen, Kinder und Männer in einem Netzwerk von Beziehungen, Institutionen und Einflüssen, das in seiner Komplexität wahrgenommen werden muss. Entsprechend schwierig ist es, eine Definition von Krankheit zu artikulieren. Der Ethiker Ralf Stoecker schlägt vor dem Hintergrund der beschriebenen Komplexität vor, Krankheit als Cluster-Konzept zu verstehen, das sich auf vielfältige Anwendungsinstanzen beziehen kann, ohne dass ein gemeinsames Merkmal als verbindendes Element hervortritt. Das begriffliche Feld des Clusters wird vielmehr durch die Familienähnlichkeit bestimmter Kriterien verbunden, die sich auf wahrgenommene psychosomatische „Dysfunktionalität“, Normabweichung, subjektiv erfahrenes Leid sowie auf die normativen Konsequenzen beziehen können. Diese bilden „die verschiedenen Aspekte einer Familienähnlichkeit, die viele Krankheiten teilen, ohne dass aber alle sich in einer dieser Hinsichten gleichen müssen.“10 Keines dieser Kriterien kann exklusiv das „Wesen“ des Krankseins erschließen. Diese Einsicht ist auch für eine systemische Theorie von Bedeutung, der es um der theologischen Reflexion willen um die Wahrnehmung des weiteren Cluster-Feldes im Hinblick auf die KrankheitsphäExperience, Cambridge, MA 1998 und Rita Charon, Narrative Medicine: Honoring the Stories of Illness, Oxford 2006. 9 Vgl. zur Dekonstruktion binärer Diskurse im Hinblick auf situative Vulnerabilität Kap.2. 10 Ralf Stoecker, Krankheit – ein gebrechlicher Begriff, in: Karle/Thomas (Hg.), Krankheitsdeutung, 36–46: 39.

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nomene geht. Dabei sind insbesondere die religiöse Deutung von Normabweichung sowie die theologische Deutung des subjektiven Erlebens in Krankheitsnarrativen von Bedeutung. Die biomedizinische Deutung von Krankheit ist ein zentraler Bestandteil des Clusters und wird zunächst als Terrain von Spezialistinnen in Anspruch genommen, die Diagnose, Interventions- und Therapiemöglichkeiten bestimmen. Heutzutage möchten viele Patienten allerdings den Umgang mit der Biomedizin oder psychosomatischer Therapien nicht einfach nur den Ärztinnen überlassen, sondern sie suchen vielmehr den Austausch. Dieses Begehren spiegelt einen Paradigmenwechsel wider, der sich auf ein biokulturelles Modell von Krankheit und Heilpraxis zubewegt. Viele Menschen wehren sich entsprechend dagegen, als „Fall“ verobjektiviert zu werden.11 Darüber hinaus wenden sich Patientinnen oftmals Therapiemethoden zu, die von Fachleuten als inkompatibel bezeichnet werden. Methoden der Schulmedizin und der sogenannten Alternativmedizin, wie z. B. die Homöopathie, werden von den Kranken in den Kontext einer polykontexturalen Heilpraxis gestellt, die sich ganz unterschiedlicher Heilungsmethoden bedient und die Koexistenz verschiedener semantischer Systeme medizinischen und heilenden Handelns vermittelt.12 In den Zusammenhang einer polykontexturalen Heilpraxis gehören auch religiöse Vorstellungen und Praktiken. In den Krankheitserzählungen werden diese verschiedenen semantischen Systeme miteinander verknüpft: So kann eine Krebspatientin davon erzählen, wie sie die Chemotherapie erlebt, welche Erfahrungen sie mit bestimmten Imaginationsübungen im Rahmen ihrer Psychotherapie macht, wie ihr Homöopath sie beim Aufbau ihres Immunsystems unterstützt und was es für sie bedeutet, in ihrer Gemeinde unter Handauflegung Heilungsgebete zu empfangen. Die Praktiken und Überzeugungen, auf die sie Bezug nimmt, werden in der eigenen Symbolisierungspraxis und Handlungslo11 Diesen Widerstand beschreibt David B. Morris als ein Charakteristikum postmoderner Krankheitsvorstellungen. Vgl. ders., Krankheit und Kultur, 62–72. Hieraus sind erste Konsequenzen gezogen worden: Ärztinnen und Ärzte streben inzwischen weniger eine paternalistische Beziehung zu ihren Patientinnen und Patienten an, sondern eher eine partizipative (deliberativ/interpretativ), bei der Behandlerin und Behandelte gemeinsam überlegen, welche Therapiemöglichkeiten ausgehend vom Befund und den Wertvorstellungen sowie anderen persönlichen Faktoren der Patientin in Frage kämen. Im Gegensatz zu einem rein informatorischen Modell hat dies auch den Vorteil, nicht nur die Autonomie der Patientin nicht allzu sehr einzuschränken, sondern die betroffene Person – meist medizinische Laiin – mit der Entscheidung nicht alleine zu lassen. Auch rechtlich gesehen ist eine solche Beziehung geboten. Zu diesem Thema vgl. Andreas Loh et al., Patientenbeteiligung bei medizinischen Maßnahmen, Deutsches Ärzteblatt 104 (2007), 1483–1489, www.aerzteblatt.de/pdf/104/ 21/a1483.pdf (Stand: 07. 09. 2015). Wie sehr eine symmetrische Arzt-Patienten-Beziehung aber gerade im stationären Kontext eher Wunsch als Möglichkeit ist, können Klinikseelsorgerinnen beobachten. 12 Vgl. Vogd, Kontexturen, 24.

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gik in einen Zusammenhang gestellt. In der Reflexion der Logos-Dimension von seelsorglichen Gesprächen wird die Seelsorgerin zu verstehen suchen, wie die Verknüpfung dieser verschiedenen Heilungsbemühungen miteinander verknüpft werden. Dabei ist die implizite oder explizite Artikulation religiöser Vorstellungen von besonderem Interesse. Eine systemisch ausgerichtete Seelsorgepraxis wird auch für die ökonomischen Faktoren sensibel sein. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie die ökonomischen Probleme, die mit dem Krankwerden und dem chronischen Kranksein verbunden sein können, markieren eine Schnittstelle seelsorglichen und diakonischen Handelns. Eine intersektionale Perspektive ist hier vonnöten, die das Ineinander von ökonomischen Faktoren, Milieuzugehörigkeit, GenderPerspektiven13 sowie Ethnizität und Migrationshintergründen mit ihren damit eventuell verbundenen sozialen Faktoren mit einbezieht. Ein weiterer Aspekt der Logos-Dimension besteht in der Wahrnehmung kultureller Symbolisierungsprozesse, die bestimmten Krankheiten anhaften. Insbesondere aus medizinhistorischer Perspektive lässt sich verdeutlichen, wie problematisch die Vorstellung einer kulturfreien Biologie und Medizin ist. Krankheiten wie die Pest, Melancholie, Gicht, Syphilis, Tuberkulose, Krebs und AIDS konnten zu symbolisch aufgeladenen Metaphern avancieren, die jeweils zum Charakteristikum einer historischen Epoche wurden.14 Erzählungen vom Kranksein zeugen oft von einer Objektivierung des Körpers als Ort sozialer Auseinandersetzungen. Sie reflektieren, dass Körper kein neutrales Terrain sind. Konstruktionen von Geschlecht und ethnischer Herkunft fließen in die Deutung von Krankheiten ebenso ein wie Vorstellungen von psychischer Gesundheit und behinderten Körpern. Gerade bei ansteckenden Krankheiten lässt sich die Macht metaphorischer Projektionen studieren. Eine Krankheit repräsentiert dann auf einmal den Zustand der Geschäfte eines Landes, die Sündhaftigkeit der Menschheit oder wird zu einem Zeichen für die Endzeit. Metaphorische Projektionen können die Angst vor „dem“ Fremden, dem sexuellen Abweichler und der Wahnsinnigen schüren. Die so aufkeimenden diffusen Ängste vor dem Unheimlichen dienen der Stärkung einer Abwehr der im Fremden erkannten eigenen Impulse. Sander L. Gilman argumentiert in ähnlicher Weise: „Es ist die Angst vor dem Kollaps, das Gefühl der Auflösung [des Sicheren], die das westliche Bild von Krankheiten bestimmt, auch von solchen schwer fassbaren wie Schizophrenie. Aber die Angst vor dem persönlichen Kollaps ruht nicht einfach tief in unserem Innersten, sondern wir projizieren unsere Angst auf die Welt, in dem Versuch, sie zu externalisieren und so zu 13 Vgl. zur Gender-Perspektive z. B. Judith Lorber, Gender and the Social Construction of Illness, Walnut Creek 22002. 14 Vgl. Morris, Krankheit und Kultur, 56–61.

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zähmen. Denn sobald wir sie [die Angst] einmal platziert haben, verschwindet die Angst vor unserer eigenen Auflösung. Denn dann wandeln nicht wir [mehr] auf einem schmalen Grat, sondern der Andere. Und es ist der Andere, der seine Verletzlichkeit schon gezeigt hat, als er kollabiert ist.“15

Abbildung 4: „San Francico’s Three Graces“, George Frederick Keller, 188216

Das Bild „San Francico’s Three Graces” ist ein historisches Beispiel für die rassistischen Impulse, die mit der Angst vor Epidemien verbunden sein können. Es wurde in der Zeitschrift „The Wasp“ in der Ausgabe vom 26. Mai 1882 gedruckt. Es zeigt drei riesige gespenstähnliche Figuren mit schauerlichen Tierköpfen und menschlicher Kopfhaut. Das Gesicht wird von großen und tiefen Höhlen dominiert, wo eigentlich Augen wären. Die „Gespenster“ kommen aus China Town, dem Hafen und der Butcher City in San Francisco. Diese Orte verweisen auf die chinesischen Migrantinnen und Migranten, die am Hafen in San Francisco anlandeten und sich in speziellen Stadtteilen niederließen, wie zum Beispiel in China Town. Jedes der drei Gespenster hat einen Namen: Malaria, Pocken und Lepra. In dieser visuellen Darstellung werden Krankheiten zu schauerlichen Gespenstern, die eine ganze Stadt in Atem halten können. Zur gleichen Zeit werden sie in stereotypenbildender Weise mit einem bestimmten Ort identifi15 Sander L. Gilman, Disease and Representation: Images of Illness from Madness to AIDS, Ithaca/ London 1988, 1. (Übersetzung A.B.). 16 Abb. unter http://longstreet.typepad.com/thesciencebookstore/2012/01/history-of-linesbarbed-wire-borders-for -san-franciscos-chinese-scapegoats.html (abgerufen am 7. 7. 2016).

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ziert; auf diese Weise wurden Chinesinnen und Chinesen zu Unmenschen degradiert. Auch Susan Sontag hat sich intensiv mit den negativen Effekten einer Metaphorisierung von Krankheiten beschäftigt, die wie im Falle von Krebs und AIDS entstehen können.17 Sontag identifiziert drei Verweiszusammenhänge, die sie als problematisch empfindet: Strafe, ökonomische Katastrophe und Kriegsführung. Sie stellt die These auf, dass Vorstellungen von Strafe insbesondere Krebserkrankungen zugeordnet werden. Auch wird vom Kampf oder Kreuzzug gegen Krebs gesprochen, von Opfern, von einer KillerKrankheit.18 Zur gleichen Zeit würden Krebspatienten für ihre Krankheiten schuldig gesprochen werden. Sontag verweist darüber hinaus auf die Krebsmetaphern, die mit unkontrollierbarer ökonomischer Katastrophe oder abnormalem unpassendem Wachstum assoziiert werden. Der Tumor wird zum Subjekt: ihm wird Energie zugesprochen, nicht der Patientin, er ist nicht kontrollierbar und wächst in unnormaler Weise.19 Die mächtigste Metapher ist nach Sontag allerdings die Kriegsführung. Krebszellen bevölkern den Körper, sie nehmen ihn in Beschlag. Der Körper eines Patienten wird attackiert; die körpereigene Verteidigung wird auf den Prüfstand gestellt. Auch Therapieformen werden in militärischen Metaphern beschrieben, wenn Patienten bombardiert und Krebszellen attackiert und eliminiert werden.20 Metaphorische Rede von Kreuzzügen, Kriegsführung und Invasion bestimmen immer dann in besonders wirksamer Weise die Deutung des leibgebundenen Selbstbildes, wenn monokausale Erklärungen für Krankheiten gefunden werden, oder wenn das Verhalten von Patientinnen als Ursache einer Erkrankung identifiziert wird. Kausalitätskonstruktionen von Ärzten und anderen Menschen über die Beziehung zwischen persönlichen Routinen und Gewohnheiten und dem Auftreten von Krebs haben einen signifikanten Einfluss darauf, wie Fragen von Verantwortung, Schuld oder schuldhaften Verhalten zur Deutung von Krankheitserfahrungen beitragen.21 Obwohl der Gebrauch von Metaphern aus dem Bereich der Kriegsführung, der Kreuzzüge und Invasionen unter Umständen problematisch sein kann, kann der von Sontag vorgelegten grundlegenden Kritik von Metaphorisierungsprozessen nicht gefolgt werden. Vielmehr geht es insbesondere im Kontext seelsorglicher Gespräche darum zu erforschen, welche Effekte metaphorische Projektionen im Hinblick auf das Kranksein im Leben von 17 18 19 20 21

Vgl. Susan Sontag, AIDS and Its Metaphors, New York 1989. Vgl. aaO., 57. Vgl. aaO., 62ff. Vgl. aaO., 63. Vgl. Mary C. Rawlinson/Shannon Lundum (Hg.), The Voices of Breast Cancer in Medicine and Bioethics, Dordrecht 2006.

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kranken Menschen haben und was genau sich im Gebrauch von Metaphern zeigt und zum Ausdruck gebracht wird.22 Dies können sehr unterschiedliche Deutungen sein, da Metaphern sozial geformte Gebilde sind, die von Individuen gebraucht werden.

Seelsorgliches Ethos Die binäre Grammatik politischer Diskurse zu entziffern, polykontexturale Heilungspraktiken nachzuvollziehen und mit den kulturellen Repräsentationen und Metaphorisierungen vertraut zu sein und diese deuten zu können, all diese Aspekte gehören zur Logos-Dimension seelsorglichen Handelns. Diese ist dabei eng mit der Ethos-Sphäre verwoben, in der es um die Prägungen und Haltungen, die dem Wollen und Sollen vorausgehen und es maßgeblich mitbestimmen. Beim Ethos geht es um die Gesinnung und den damit verbundenen Habitus des Seelsorgers, beide entstehen auf vielfältige Weise – z. B. in der Durcharbeitung moralischer Dilemmata und dem damit verbundenen Abwägen ethischer Prinzipien, also durch situativ gebundene Normenbildung. Diese Reflexionen sind eingebettet in eine sittliche Gesamthaltung, eine Art grundsätzliches Wissen darüber, was gut und richtig ist, das in der Begegnung mit Geboten und Verboten im menschlichen Entwicklungsprozess entsteht. Diese Prozesse haben sowohl eine individuelle Dimension in der Charakterbildung als auch eine kollektive Dimension, da Werte und Normen ja auch Ausdruck gesellschaftlicher Aushandlungen sind, die sich in „Sitte und Anstand“ materialisieren. Auf diese Weise baut sich ein moralisches Bewusstsein, ein Pflichtbewusstsein und ein Sinn für Verantwortung auf. An den Rändern des Ethos entsteht in der Grauzone zwischen Ethos und Logos der Raum des Pathischen. Dort zeigt sich das Verantwortungs- und Pflichtgefühl, das moralische Bewusstsein taucht als Affekt auf, z. B. als Schuld- oder Schamgefühl. Die Ethos-Sphäre kann so vom Pathischen durchdrungen werden und ist entsprechend affizierbar. In professioneller Hinsicht sind Seelsorgerinnen und Seelsorger herausgefordert, das eigene Ethos immer wieder selbstkritisch zu überprüfen. Hierfür sind kollegiale Beratung und Supervision sowie interdisziplinärer Austausch wichtige Hilfsmittel.23 Im Hinblick auf den Umgang mit ethischen Dilemmata sind auch Seelsorgerinnen und Seelsorger gefragt. Es ist aus diesem Grunde sehr zu be22 Vgl. hierzu weiter Kap.5. 23 Zur Bedeutung von Supervision Michael Klessmann/Kerstin Lammer (Hg.), Das Kreuz mit dem Beruf. Supervision in Kirche und Diakonie, Neukirchen-Vluyn 2007.

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grüßen, dass ethische Fragen im Kontext seelsorglicher Handlungsfelder wieder stärkere Beachtung finden.24 Logos und Ethos sind wichtige Dimensionen. In der Seelsorge müssen sie m. E. bewusst im Raum des Pathischen verankert sein. Ohne die Wahrnehmung des Pathischen kann sich, so hier die These, lebensförderliche, Möglichkeitsräume eröffnende Seelsorge nicht entfalten. Dem soll nun weiter nachgegangen werden, indem zunächst das Pathische genauer in den Blick genommen wird.

Im Zwischenraum: Das Pathische Der griechische Begriff pathos, der mit Widerfahrnis übersetzt werden kann, stammt von dem Verb paschein ab, das sowohl leiden als auch erleiden bedeuten kann. Der Begriff hat drei verschiedene Facetten; er beschreibt eine basale Empfänglichkeit, das Widrige sowie die Leidenschaft bzw. die Affekte. Paschein als Erleiden kann zunächst neutral als eine grundsätzliche Empfänglichkeit verstanden werden; die sowohl Unlust als auch Lust hervorbringen kann.25 Darüber hinaus verweist das Pathische auf Widriges, auf das, was gegen unseren Willen und zumeist ohne unser Zutun geschieht, auf die passivische Erfahrungsform des Erleidens, Getroffenseins und Überwältigtwerdens. Dieses Getroffensein ist nach Waldenfels als Vorgängigkeit einer Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht, zu denken. Das Pathische entzieht sich der Beschreibung von Kausalität und Intention. Erst im Nachhinein bildet jenes Getroffensein ein narratives Potenzial aus; etwas wird in Worte gefasst, das auf die Vergangenheit zurückstrahlt und wird erst auf diese Weise „materialisiert“, es wird zu ‚etwas‘. „Das Etwas gehört bereits zur deutenden Antwort auf das Geschehen. Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage. […] Dieses Antworten ist also ganz und gar vom Getroffensein her zu denken, in der Nachträglichkeit eines Tuns, das nicht bei sich selbst, sondern beim anderen beginnt, als eine Wirkung, die ihre Ursache übernimmt.“26 Alles Antworten auf Widerfahrnisse folgt dem Modus eines apriorischen Perfekt und 24 Vgl. grundsätzlich zur Praktischen Theologie: Thomas Schlag/Thomas Klie/Ralph Kunz (Hg.), Ästhetik und Ethik. Die öffentliche Bedeutung der Praktischen Theologie, Zürich 2009. Im Hinblick auf die Seelsorge mit kranken Menschen bzw. mit institutionellem Blick auf das Krankenhaus: Johannes Fischer, Ethische Dimensionen der Spitalseelsorge, WzM (2006), 207–224. 25 Vgl. zum Begriffsfeld des Pathischen Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a.M. 2002, 15–16. Ausdrücklich sei betont, dass Pathos mit einem mehrdeutigen Seelenzustand verbunden ist, der nicht nur leidvolle Aspekte impliziert, sondern auch Lust, Liebe oder Mitleid umfassen kann. Darauf macht immer wieder Philipp Stoellger aufmerksam in: ders., Passivität, 29. 26 Waldenfels, Bruchlinien, 58f.

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trägt ein Moment zeitlicher Vorgängigkeit in sich. „Widerfahrnisse gleichen einer Wunde, die wir schon empfangen haben, wenn wir sie vorweisen.“27 Bernhard Waldenfels spricht von einer zeitlichen Diastase bzw. einer Verschiebung, die die Vorgängigkeit des Pathos und diese Verzögerung bzw. Nachträglichkeit der Response erzeugt. Diese Diastase erzeugt einen fragmentierten Zusammenhang: „Vorgängiges Pathos und nachträgliche Response sind zusammenzudenken, aber über einen Spalt hinweg, der sich nicht schließt und der eben deshalb nach erfinderischen Antworten verlangt.“28 In der Seelsorge, insbesondere an den Rändern des Lebens, geht es in herausragender Weise immer wieder um die pathische Dimension. Menschen werden getroffen von Glücksmomenten und von Hiobsbotschaften: Die Geburt eines Kindes, das Ja-Sagen zum Lebenspartner, die fragile Entwicklung pubertierender Kinder, die Krebsdiagnose und das Sterben geliebter Menschen – an diesen wenigen Beispielen kann die Dimension des Pathischen nachvollzogen werden. Diese kann nicht einfach nur auf den Leidensaspekt reduziert werden; es geht auch um die „schönen“ Gefühle. Aber auch Leid und Glück können nicht immer einfach fein säuberlich unterschieden werden. Pathisches Erleben und die Responsivität, die es auslöst, ist in Ambivalenzen verstrickt. Der Artikulation von Ambivalenzen Raum zu geben, ist beispielsweise in der kirchlichen Kasualpraxis ein wichtiges Thema. Dies lässt sich am Thema der Taufe von Kleinkindern exemplarisch skizzieren. Der Moment der Geburt löst in vielen Paaren ein Glücksgefühl aus, das vom Staunen über das Geschenk des neuen Lebens getragen ist. Ein Geschenk, das eine durch und durch pathische Aura hat – durch alle Presswehen und durch den Geburtsschmerz hindurch. Das Wunder der Geburt zu bedenken, bedeutet mit der Überraschung, dem Zauber, dem Geschenk des Lebens sowie der Einzigartigkeit jedes Menschenkindes zu beginnen. Zugleich ist das Gebären für viele Frauen eine höchst bedrohliche Erfahrung, die die Grenze zwischen Tod und Leben sowie die leibliche Verletzlichkeit radikal aufscheinen lässt.29 Für viele Frauen tauchen in der Schwangerschaft, aber besonders während des Geburtsvorganges leidvolle Erfahrungen aus der eigenen Kindheit, aus dem Leibgedächtnis wieder auf. Die Grenzerfahrung der Geburt zwischen Todesangst und dem ekstatischen Empfang neuen Lebens zeigt in besonderer Weise die pathische und die ambivalente Qualität dieser besonderen Vulnerabilitätserfahrung, die seelsorglich und theologisch bedeutsam ist.30 Der Nachhall dieser zutiefst leiblichen Erfah27 AaO., 56. 28 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 2006, 49. 29 Auch sollte hier bedacht werden, dass ca. 20 % aller Kinder in Deutschland durch Kaiserschnitt zur Welt kommen. 30 Regina Sommers empirische Studie zum Taufverständnis der Eltern macht auf eindrückliche

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rung, die zwischen dem Zuwachs von Macht und Kontrollverlust changiert, eröffnet den Raum für vielfältige Responsen. Auch die Antworten auf das Widerfahrnis des Krankseins, die hier zur Sprache gebracht werden sollen, beziehen sich auf ein vorgängiges Getroffensein, das im Nachgang, in der Response eine Gestalt gewinnt. Auf die erste unmittelbare Response folgen weitere Resonanzen im Raum kultureller und religiöser Ordnungen, die sich auf die Dimension des Pathischen beziehen. Es bleibt zu fragen, inwiefern im seelsorglichen Handeln dieser nicht zu schließende Spalt in den verschiedenen erzählerischen und ritualisierten Ausdrucksformen offen gehalten wird. Theologisch gesprochen verlangt der Raum des Pathischen ästhetische Ausdrucksformen, die sich der letzten Vermittlung verweigern, die die Kontingenzproblematik nicht auflösen und die sich der konkludierenden Schließung von Erfahrungen entziehen. Im Prozess des Antwortens bleibt also ein Überschuss des Pathischen, der sich nicht in den Deutungsbemühungen, die im Nachgang zum Widerfahrnis einsetzen, erschöpft. Das Pathische stört immer wieder die Ordnungsgefüge, die uns zur Verfügung stehen, es steht außerhalb der symbolischen Ordnung, unkontrollierbar, unintegrierbar. Es zerreißt die Sinnesnetze und stört die Regelwerke und dekontextualisiert auf diese Weise das Ereignis, auf das es Bezug nimmt: „Das Verschwinden des Sagens und der Sinn- und Regelhaftigkeit des Gesagten und Getanen lässt sich nur aufhalten durch ein immer wieder neu einsetzendes Wiedersagen (redire) und Ent- oder Widersagen (dédire) […].“31 Die weitere Qualität, die neben den Modi des Empfangens, des Erleidens sowie des Widerfahrnisses mit dem Pathischen verbunden ist, ist die Leidenschaft, „die dann eintritt, wenn jemand mit Leib und Seele außer sich gerät […].“32 Dies kann zum Beispiel der Zorn sein oder die Lust erotischer Ekstase. Diese findet ihren Ausdruck auch in den Leidenschaften, den pathe, in denen sich die Polyvalenz des Pathischen ausdrückt. Widerfahrnisse stimulieren Reaktionen, die uns in eine Sphäre jenseits der Selbstkontrolle führen können. Im Zorn, in der Lust, oder in den basal leiblichen Affekten des Weinens, des Lachens oder des Schmerzempfindens taucht das Pathische am Leibe jenseits von Intentionalität, Zielgerichtetheit und Planbarkeit auf. Es bricht über uns herein, ein Schmerz Weise deutlich, wie sehr Eltern sowie Patinnen und Paten bereit sind, diese Tod-LebenAmbivalenzen zur Sprache zu bringen. Vgl. Regina Sommer, Kindertaufe – Elternverständnis und theologische Deutung, PTHe Bd.102, Stuttgart 2009: 314ff. Im Taufgespräch, das der Taufe vorausgeht, sollte deshalb Raum für die Artikulation von Ambivalenzkonflikten gegeben werden. Diese können sich u. a. auf die Aggressionen gegen die eigenen Kinder beziehen, die aus einem Überforderungsgefühl entstehen. Dieser Topos bleibt auch bei Taufen im späteren Kindesalter – wie sie immer häufiger vorkommen – relevant. 31 Waldenfels, Grundmotive, 51. 32 Waldenfels, Bruchlinien, 16.

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sticht und pocht; wir platzen vor Lachen, die erotische Lust durchflutet den Körper; wir brechen in Tränen aus. „Lachen und Weinen dokumentieren dergestalt, daß unser Leib nicht bloßes Instrument der Vernunft ist, sondern unsere spezifische menschliche Weise in der Welt zu leben.“33 Der affektive Gegenpol hierzu ist die Apathie, das schleichende Aufsteigen von Indifferenz und Gleichgültigkeit. Apathie drückt sich in leiblichen Regungen aus, die sich taub und stumpf anfühlen und eine Monotonie produzieren, die die gespürte Vitalität, die der Nährboden von Hoffnung und Lebenswillen ist, hinunterdrückt. In der Seelsorge begegnet beides: die herausplatzenden Affekte, die dem LeibSein in der Welt eine bestimmte Färbung geben; am anderen Ende des Gefühlsausdrucks liegt das Apathische, die dumpfe Wahrnehmung der Welt, das Gefühl, wie tot zu sein, abgeschnitten von der eigenen Vitalität. Das Pathische ist grundsätzlich nicht als Gegensatz zu Logos (Wissen) oder zu Ethos (Wollen) zu verstehen, sondern es handelt sich um eine Figur dazwischen, die auf das Wissen und Wollen ausstrahlt und Spuren hinterlässt. Entsprechend geht es nicht um eine dualistische aktiv-/passiv-Konstruktion. Bei Friedrich Nietzsche findet sich ein Verständnis von Pathos, das Passivität, Empfänglichkeit und in seiner eigenen Wortschöpfung ‚Erfindsamkeit‘ umschließt. Erfindsamkeit deutet auf das Ineinander von Leiden (paschein) und Handeln (poiein), von actio und passio, von Bewegen (kinein) und Bewegtwerden (kineisthai) hin.34 Pathos markiert also einen Zwischenraum, der auch auf Logos und Ethos einwirkt. Die Empfänglichkeit, das Getroffensein sowie die Leidenschaften als Dimensionen des Pathos destabilisieren eine Sicht auf den Menschen als autonomes Subjekt, das sich allein auf Selbstsetzung und Kontrolle der eigenen Lebensvollzüge gründet. Die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit, die Gegenläufigkeit in den Effekten von Handeln und Wollen, die Kontingenzen und Überraschungen, die Fremdheitserfahrung, die der eigenen Subjektivität entspringt, all diese Erfahrungen berühren ein pathisches Verständnis des Personseins. „In Entsprechung zur Unterscheidung von Fühlen, Wissen und Tun ist das Pathos die stets vorgängige Dimension der Widerfahrung, die noch nicht ‚als Erfahrung begriffen‘ ist, sondern erst in Antwort darauf näher bestimmt wird. Pathos kann als Figur des Dritten zwischen Ethos und Logos begriffen werden: Ethos wie Logos geht ein Pathos voraus, von dem sie evoziert werden, und es bleibt zwischen ihnen präsent als Medium, so wie die Pathe Ethos und Logos prägen. Das Bedeuten und Begehren als die Vollzüge von Logos und Ethos sind so 33 Käte Meyer-Drawe, Der lachende und der weinende Leib. Verständigung diesseits der Vernunft. 14 Thesen, Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 3 (1999), 32–36. 34 Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, siebentes Hauptstück: unsere Tugenden, KSA 5, München et al. 1980, 161 und weiter Kathrin Busch/Iris Därmann, Einleitung, in: „pathos“, Konturen eines kulturwissenschaftlichen Begriffs, Bielefeld 2007, 11.

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gesehen affektiv getönte Resonanz auf das sie evozierende Geschehen (sei es Ereignis, Wirkung oder Handeln).“35 Handeln und Widerfahrnis können nicht dualistisch unterschieden werden. Pures Handeln gibt es nicht. Wenn wir handeln, widerfährt uns etwas; Überraschendes und Ungeplantes geschieht, Störungen treten auf; wir sind Einflüssen ausgesetzt, die sich jenseits unserer Macht ausbreiten. Sprachlich wird die Rede vom Widerfahrnis weder vom Gebrauch der ersten Person, die den Ort eines subjektiv Handelnden markiert, noch durch die Einführung der dritten Person als objektiv beschreibbare Geschehnisse eingefangen. Die Rede vom Widerfahrnis bedarf vielmehr einer Rede im Es, das vom Mir bzw. Mich durchdrungen ist. Nur so ist Subjektivität in der Sphäre des Pathischen darstellbar, es werden nicht Agierende sondern viel eher Getroffene vorgestellt, die respondieren. Es handelt sich also weniger um Agenten, sondern eher um Patienten.36 Widerfahrnisse sind bezogen auf die Bedürftigkeit des Menschen und die damit einhergehende affektive Grundierung von Ereignissen und Zuständen. Krankheiten, die plötzlich und überraschend auftreten, wie z. B. ein Herzinfarkt, können als Widerfahrnisse erscheinen. Dies kann allerdings auch für länger anhaltende Zustände gelten. So gehen Alterungsprozesse oftmals mit pathischen Phänomenen einher, die als Entzug von Lebensmöglichkeiten jenseits des eigenen Wollens erlebt werden. Sowohl punktuell einbrechende Ereignisse als auch zeitlich gedehnte Zustände können also Widerfahrnischarakter haben.37

Fragilität und Zerstörung des Pathischen Diese Dimension der Widerfahrungen einzubeziehen, ist von grundlegender Bedeutung für die Weiterentwicklung einer Theologie der Seelsorge, die sich dem Phänomen der Vulnerabilität zu stellen versucht.38 Pathos als einen Zwischenraum einzuführen, der auf das Terrain des Wissens und des Wollens bzw. Tuns ausstrahlt, wird – wie bereits ausgeführt wurde – zur Kritik eines biomedizinischen Verständnisses führen, das Logos und Ethos der medizinischen Sphäre von Diagnostik und Therapie zuordnet und das Pathische dem subjektiven Emp35 Stoellger, Passivität, 19. 36 Diese Unterscheidung schlägt Waldenfels vor in: Grundmotive, 73. 37 Vgl. hierzu Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie, Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim 1972, 34–40. 38 Die Dimension des Pathischen bleibt in den klassischen Handlungstheorien, die sich z. B. auf Max Weber oder Jürgen Habermas berufen, notorisch unterbestimmt. Vgl. hierzu Charlotte Uzarewicz/Michael Uzarewicz, Das Weite suchen. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie für Pflege, Dimensionen sozialer Arbeit und der Pflege Bd.7, Stuttgart 2005, 57–61.

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finden der Patienten. Der medizinische Logos basiert im biomedizinischen Modell auf der Ausgrenzung des Pathischen. Obwohl Kranksein als „HandlungsWiderfahrnis-Gemisch“ beschrieben werden kann, wird der Widerfahrnisaspekt im medizinischen Handeln zumeist ignoriert.39 Wenn dies geschieht, erleben Patienten oftmals, dass sie zu Objekten oder Fällen degradiert werden und eine tiefgreifende Entfremdungserfahrung einsetzt. Es entsteht die Angst vor dem Verlust des Selbst innerhalb eines durch und durch logifizierten Heilungsapparates. Dies ist eindrücklich in folgender Erzählung ausgedrückt: „Nach dem Ultraschall sagte ein Arzt: ,Das muss näher untersucht werden.‘ Als ich das hörte war ich erleichtert und verärgert zugleich. Erleichtert, weil ich glaubte, dass sich jemand meiner Sorgen darum, was da eigentlich mit mir passierte, annahm. Aber ich war zugleich wegen seiner Wortwahl verärgert, die meinen Körper zum medizinischen Forschungsfeld erklärte. ,Ich‘ war zu einem ,Es‘ der Medizin geworden […] Ich, mein Körper, wurde passives Objekt dieser Notwendigkeit der Untersuchung. In diesem Moment meinte ich nachvollziehen zu können, wie sich die ersten Einwohner Nordamerikas gefühlt haben müssen, als die anlandenden europäischen Entdecker ihre Flagge hissten und das Land im Namen eines fremden Herrschers, der den Wilden Zivilisation bringen würde, für sich beanspruchten. Um die Hilfe der Medizin in Anspruch nehmen zu können, musste ich das Territorium meines Körpers Ärzten überlassen, die mir bis dahin noch gar nicht bekannt waren. Ich musste kolonisiert werden. Für die Untersuchung musste ich ins Krankenhaus. Körperflüssigkeiten wurden entnommen, die Meinungen verschiedener Fachärzte gesammelt, das Innere meines Körpers durchleuchtet – dennoch gab es vorerst keine sichere Diagnose. Eines Tages jedoch, als ich in mein Krankenzimmer zurückkehrte, stand neben meinem Namen etwas Neues auf dem Türschild: ,Lymphom‘, eine Krebsart, die ich zu haben schien. ,Lymphom‘ war eine medizinische Flagge, um den Anspruch auf das Territorium meines Körpers geltend zu machen.“40 Hier wird eine Objektivierung beschrieben, die als „schlechtes Passivmachen“ charakterisiert werden kann. Diese Form gewaltförmiger Kommunikation taucht m. E. gerade deshalb auf, weil dem Pathischen kein Raum gegeben wird. Stattdessen verliert der Kranke, „an dem gehandelt wird“, seine Stimme und die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. Arthur Frank wird mit seiner Krankheit identifiziert, das was sein Personsein ausmacht, schrumpft zusammen: aus ihm wird „das Lymphom“. Sein gespürtes Leib-Sein-Zur-Welt ist eingefangen in Bildern der Medikalisierung und der Kolonialisierung des Körpers; er verliert 39 Vgl. zum Begriff Rainer Fischer, Gesundheit zwischen Größenwahn der Ganzheitlichkeit und Glorifizierung der Gebrochenheit, in: Michael Roth/Jochen Schmidt, Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Leipzig 2008, 179–180. 40 Arthur W. Frank, The Wounded Story Teller: Body, Illness, and Ethics, Chicago 1995, 20 (Übersetzung A.B.).

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seine Stimme im Prozess der leiblichen Verdinglichung. Sein Körper wird zum Territorium, das die Spuren einer Invasion in sich trägt. Die Verdrängung der Dimension des Pathischen kann nun nicht einfach mit der Unfähigkeit von Ärztinnen und Ärzten erklärt werden. Vielmehr geht es insbesondere in der Krankenhausseelsorge darum, auch die institutionellen Rahmenbedingungen ärztlichen Handelns zu verstehen. Hier steht m. E. der Imperativ zu handeln im Zentrum. Der Imperativ zu handeln und Krankheiten einzudämmen oder zu besiegen wird im Bereich der Biomedizin, aber auch in psychosomatischen Therapien auf verschiedene Weise artikuliert. Das Register der Aktivitäten, das in den Modi des Kampfes, der Bewältigung, der Linderung, der Integration und der PatientenCompliance aufgerufen wird, ist komplex. Es umfasst die vielgestaltigen Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in den Handlungsfeldern der Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge von Krankheiten. Diese Arbeitsbereiche sind hoch spezialisiert; so sind beispielsweise die Bereiche der Chirurgie, der Innerenoder der Allgemeinmedizin in zahlreiche Subdisziplinen ausdifferenziert.41 Die Ausdifferenzierung der ärztlichen Profession hat die Therapiemöglichkeiten maßgeblich erweitert und damit einhergehend auch den Erwartungsdruck im Hinblick auf etwaige Heilungschancen erhöht. Darüber hinaus muss für die Charakterisierung des Handlungsimperativs auch die ökonomiezentrierte Umstrukturierung des Gesundheitswesens in Deutschland in den Blick kommen, die im vergangenen Jahrzehnt zu tiefgreifenden Veränderungen in der Patientenversorgung geführt hat. Insbesondere die Ökonomisierung der stationären Versorgung in Krankenhäusern hat zu einer erhöhten Arbeitsbelastung für das Pflegepersonal und die Ärzte geführt. Die Verdichtung von Arbeitsprozessen in Krankenhäusern, aber auch in der ambulanten Pflege, verstärkt den Aktivitätsmodus, der der Behandlung von Krankheiten anhaftet. Überforderung und Hektik gehören zu den gängigen Erfahrungen im Arbeitsalltag. Die Krankenhausseelsorgerin Ulrike Johanns artikuliert den Handlungsdruck auf besonders drängende Weise in ihrer Beschreibung einer Intensivstation für Herzinfarktpatientinnen. Dort versteht sich das Personal als „schnelle Eingreiftruppe“, die ständig in Alarmbereitschaft agieren muss; Reanimationen gehören zur Alltagsroutine.42 Eine vom Kölner Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft im Jahre 2008 durchgeführte Befragung von Leitungspersonal in Krankenhäusern ergab hinsichtlich der Wahrnehmung der ärztlichen Arbeitssituation, dass diese 41 Siehe die Liste humanmedizinischer Fachgebiete in der (Muster-) Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer von 2003, www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/ downloads/20130628-MWBO_V6.pdf (Stand: 07.09. 2015). 42 Ulrike Johanns, Seelsorge mit Herzinfarkt-PatientInnen, in: Michael Klessmann (Hg.), Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen 1996, 65.

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unter sehr hohem Arbeitstempo und Zeitdruck arbeiten müssten. Diese Einschätzung deckt sich mit der Selbstwahrnehmung des Personals in Krankenhäusern.43 Das Register der Handlungen, das den Modus aktiver Selbstverantwortung generiert, wirkt sich auch auf die Patientinnen aus. Die Patienten-Compliance, also das konsequente Befolgen ärztlicher Ratschläge, wird durch die Aufforderung zur selbstverantwortlichen Teilnahme an Präventivmaßnahmen erweitert, die die Entstehung bestimmter Krankheitsbilder verhindern soll. Entsprechend wird die Verantwortung der Patienten für das eigene Wohlergehen hervorgehoben; Eigenverantwortlichkeit u. a. in Form gewissenhafter Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen, der Teilnahme an Sportangeboten und durch NichtRauchen wird finanziell von den Krankenkassen belohnt. Was kann ich durch meine Ernährung und meinen Lebensstil tun, um gesund zu bleiben? – Diese Frage tritt in den Vordergrund. Die Compliance und die Prävention werden durch eine grundlegende Verschiebung in der Krankenrolle flankiert. Ein wichtiger Aspekt des postmodernen Krankheitsverständnisses ist die Erzählbarkeit. Ein Ausdruck hierfür ist die Flut von autobiographischen Publikationen, in denen Menschen ihre Geschichte mit einer Krebserkrankung reflektieren. Hatte Talcott Parsons die Patientenrolle in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch mit passiv-hinnehmendem Schweigen verknüpft, so wird in den letzten Jahrzehnten die Ich-Stimme in der Entfaltung der erzählten Welt des Krank-seins immer wichtiger und die Bedeutung der Narrativität entsprechend unterstrichen.44 Krankheiten stimulieren die Register des Aktivseins. Zugleich führen sie in die Sphäre des Pathischen. Das Pathische verweist auf Ereignisse und Zustände, die uns zufallen, überkommen, überwältigen, überraschend in unser Leben einbrechen; sie können sich als eine unterschwellige Irritation zeigen oder als schockierende Unterbrechung im Fluss der alltäglichen Ereignisse über uns zusammenstürzen; das Pathische entzieht sich gängigen Registern des Handelns, die zweck- oder wertrational begründet sind bzw. sich auf Tradition und Ge-

43 In dieser Studie wurden 1224 Personen in Leitungsfunktionen angeschrieben, der Rücklauf belief sich auf 551 Antworten, also 45 Prozent: „Knapp 95 Prozent der befragten ärztlichen Direktoren stimmen der Aussage zu, dass das von den Ärzten verlangte Arbeitstempo sehr hoch sei. Etwa 90 Prozente der ärztlichen Direktoren geben zudem an, dass die Ärzte sehr oft unter Zeitdruck stünden. […] Bei der Organisationssituation ergibt sich ein etwas anderes Bild: So stimmen 50 Prozent der ärztlichen Direktoren der Aussage zu, dass es im Krankenhaus häufig zu Wartezeiten kommen. Darüber hinaus geben mehr als 35 Prozent der ärztlichen Direktoren an, dass es bei Patientenaufnahmen zu organisatorischen Problemen komme.“ Holger Pfaff et al., Arbeitsbelastung in Krankenhäusern. Die Sicht ärztlicher Direktoren, in: Deutsches Ärzteblatt, (2010) 752–753. 44 Vgl. zur Bedeutung der Narrativität Morris, Krankheit und Kultur, 44–52.

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wohnheit berufen oder auf Affektion ausgerichtet sind und von Stimmungen, Gefühlen und Emotionen bewegt sind.45 Das hier verfolgte Interesse, dem Pathischen im Hinblick auf das Kranksein einen Raum zu geben, geschieht nicht im Interesse, vormoderne Erklärungsmodelle im Hinblick auf das Kranksein in nostalgischer Weise zu reinstallieren. Es kann auch nicht darum gehen, die Erfolge medizinischer Forschung und Praxis in Bausch und Bogen zu kritisieren. Es geht mir vielmehr darum, den Ausschließungen und Verkürzungen in den biomedizinischen und auch den psychosomatischen Redeweisen auf die Spur zu kommen und sie zu kritisieren. Diese Kritik bietet, so ist die Hoffnung, dann auch fruchtbare Impulse für den praktisch theologischen Diskurs.

Leibliche Affizierungen Fremdheit und Intimität Die Erfahrung des Krankseins kann ohne das Pathische nicht gedacht werden.46 Sie führt in eine intensivierte Wahrnehmung der ansonsten unthematisierten doppelten Dimension leiblicher Existenz, die darin besteht, dass wir ein Leib sind und einen Körper haben.47 Es ist leicht einsehbar, dass die Wahrnehmung leiblicher Verletzlichkeit in der Spannung von Körper-Haben und Leib-Sein unterschiedliche Qualitäten hat. Die Wahrnehmung äußerlicher Körperteile, die sichtbar sind, wie z. B. Hand oder Bein, ist zu unterscheiden z. B. von der Wahrnehmung des Kopfes, der ja erst einmal nicht sichtbar ist. Die Differenz von sichtbar/unsichtbar spielt auch im Spüren der inneren Organe, die für das menschliche Auge unsichtbar sind, eine wichtige Rolle. Dabei haben wir die unterschiedlichen Organe bzw. Körperteile nicht so, wie wir einen Gegenstand besitzen. Wir erleben ein Körperteil nicht losgelöst von uns, sondern als etwas, das wir auch sind, „d. h. das Erleben des Habens ist untrennbar verbunden mit dem Erlebnis, daß das Gehabte etwas ist, das wir selbst auch sind. Ich erlebe meine Hand immer und unreduzierbar als meine eigene. Ich erlebe meine Hand sowohl als Teil meiner situativen Körperlichkeit, aber im gleichen Vorgang auch als Teil meiner Existenz.“48 Beide Aspekte sind so ineinander verwoben, dass man sagen könnte, dass in den diversen 45 Vgl. klassisch formuliert bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, 12. 46 Vgl. Waldenfels, Bruchlinien 15–16. 47 Die Verschränkung von Leib-Sein und Körper-Haben als grundlegende Bestimmung der Vulnerabilität wurde bereits in Kap.1 entfaltet. 48 Hermann Plügge, Über Herzschmerzen, in: ders., Wohlbefinden und Missbefinden. Beiträge zu einer medizinischen Anthropologie, Tübingen 1962, 51–61: 56.

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Ausdrucksformen des Körper-Habens das Leib-Sein eine Gestalt findet. Das Erleben des Armes und der Hand speist sich aus der taktilen Dimension. Im Betasten, Ergreifen, Zupacken, Streicheln und Schlagen etc. erspüre ich die Welt, die sich vor meinen Augen auftut. Das Haben meiner Beine ist vermittelt durch die Art und Weise, wie ich gehe, diese bestimmt maßgeblich die Wahrnehmung von Beweglichkeit und Mobilität im Durchschreiten des Raumes. Das Haben der Hand, der Beine, des Rückens oder des Kopfes vermittelt in unterschiedlicher Weise das Leib-Sein in und zur Welt. Unterschieden davon ist das Verhältnis zu den inneren Organen, die dem visuellen Sinneseindruck entzogen sind. Dem Auge sind die inneren Organe nicht sichtbar; dies führt zu einer gewissen Unbestimmtheit in der Wahrnehmung. Dass ich ein Herz, eine Niere oder eine Leber habe, tritt im leibeigenen Spüren über weite Strecken in den Hintergrund. Die gespürte Gewissheit, ein Herz zu besitzen, entsteht erst durch die Beanspruchung oder im Schmerz, wenn es rast, sticht oder pocht. Diese Art des Herz-Erlebens verstärkt das Bewusstsein vom eigenen Herzen, das mein Leib-Sein maßgeblich ausmacht, „gleichzeitig aber verstärkt sich aber auch das Erlebnis des Autonomen und damit der Unübersichtlichkeit des Geschehens, die Möglichkeit einer Überraschung durch das eigenwillige Herz, und damit der Möglichkeit der Gefahr. Nun wartet der Herzkranke darauf, daß ‚etwas passiert‘, daß ‚das‘ Herz ihm einen Streich spielt […]. Es herrscht eine clair-obscure Stimmung, in der das Entfremdetsein unauslösbar in das des Eigen-Seins verstrickt ist. Das führt zu einer immer tieferen Intimität des Verhältnisses, der die wachsende Angst, eine sekundäre Angst, entspricht. Das, was angstvoll erwartet wird, ist zugleich etwas, das als Autonomes mich unversehens überfallen kann, ist aber doch auch wieder nichts ganz Fremdes, sondern irgendwie etwas mir Zugehöriges, etwas von meiner Substanz.“49 Zugleich kann der Mensch in einem gewissen Umfang über seinen Körper verfügen, er kann sich aufgrund seiner Fähigkeit zur exzentrischen Positionalität50 ins Verhältnis zu seinem Körper setzen, ihn beobachten und in gewisser 49 AaO., 59. 50 Exzentrische Positionalität ist ein von Helmuth Plessner eingeführtes Konzept, das grundlegend für seine Philosophische Anthropologie ist. Es bezeichnet die Situiertheit des LeibSeins-Zur-Welt als reziproke Beziehung zur Umwelt, die den Menschen umgibt. Alle organischen Lebewesen, Menschen und Tiere, sind durch eine Grenze zu ihrer Umwelt definiert; sie sind nach Plessner „grenzrealisierende Wesen“. Menschsein bedeutet darüber hinaus, mit der Fähigkeit zur exzentrischen Positionalität ausgestattet zu sein. Menschen haben die Fähigkeit, zum eigenen Erleben in Beziehung zu treten und so ein Selbstverhältnis aufzubauen. Dies ist möglich, da sie nicht nur ein Leib sind, sondern auch einen Körper haben. Diese Körperhabe ermöglicht, dass der Mensch sich selbst betrachten kann, indem er in Distanz zu seinem erlebenden Zentrum tritt. Vgl. hierzu weiter Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/

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Weise als Objekt imaginieren. Dies schließt die Möglichkeit zur Körpermanipulation mit ein, die sich in verschiedenen Körpertechnologien ausdrückt, wie z. B. in der Verschönerung, der Pflege und in sportlichen Aktivitäten, aber auch in autoaggressiven Akten, wie z. B. verstümmeln und ritzen. Die Fähigkeit zur exzentrischen Positionalität wird allerdings sofort begrenzt durch die „Tyrannei des Gehabten“. Im Kranksein erleben wir, wie wir als Körper Habende auch Sklavinnen des Leiberlebens sind; im Schmerz wird uns die Unentrinnbarkeit dieses Zusammenhangs bewusst. Im Kranksein tritt unsere spannungsreiche Existenz von Körper-Haben und Leib-Sein, von biologischem Körper und lebendig gespürten Leib in den Vordergrund. Dieses Gewahrwerden kann eine vertiefte introspektive Leibwahrnehmung hervorrufen, z. B. spürt ein Herzpatient auf einmal, dass sein Herz ein verletzbarer Muskel ist, der ständig pulsiert. Die Wahrnehmung dieser doppelten Dimension leiblicher Existenz kann zugleich eine Leibwahrnehmung intensivieren, die sich in empathischen Akten nach außen ausrichtet: Wer einmal einen Herzinfarkt erlitten hat, wird sich in die Welt anderer Herzinfarktpatienten auf besondere Weise einfühlen können. Das Gewahrwerden der spannungsreichen Existenz von Körper-Haben und Leib-Sein kann aber zugleich dazu führen, dass der eigene Leib als fremdes, unbekanntes und bedrohliches Terrain erlebt wird. Dies ist z. B. der Fall, wenn Menschen mit einer Krebsdiagnose konfrontiert werden, obwohl sie sich subjektiv als gesund erleben, oder wenn eine bestimmte Krankheit mit somatischem Kontrollverlust einhergeht, wie z. B. Kurzatmigkeit, Herzrasen oder Inkontinenz. In diesem Prozess wird paradoxerweise das, was als fremd erfahren wird, zugleich in intensiver Weise als leibeigenes, als dazugehörig wahrgenommen. Der Psychiater und Leibphänomenologe Herbert Plügge merkt in diesem Zusammenhang an: „Was sich in uns zu entfremden droht, vermittelt uns vermehrt, ja unter Umständen überhaupt erst die Erfahrung, es sei ja unser Eigenes. Es gehört zum widersprüchlichen Charakter unserer Leiblichkeit, daß ein Sich-bemerkbarmachen, ein Sich-entfremden und eine gleichzeitig erfahrene Zugehörigkeit dieser sich entfremdenden Partie zu unserer Leiblichkeit sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig geradezu fordern.“51 Die beschriebene pathische Dimension im Krankheitserleben kann den Schatten eines sich selbst Fremdwerdens im Leibkörper produzieren, der die Getroffene heimsucht. Dieser Schatten oszilliert zwischen Entfremdungserfahrung und Intimität. Leibsein und sich selbst fremd sein werden so im Krankheitserleben auf intime Weise miteinander verflochten.

New York 1975 sowie Joachim Fischer, Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthropologie in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), 265–288. 51 Hermann Plügge, Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967, 63.

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Die Erfahrung der leibeigenen Fremdheit und des damit einhergehenden Kontrollverlustes sind Themen, die für viele kranke Menschen auf der Tagesordnung stehen; dies trifft sowohl für Menschen mit Krebserkrankungen oder chronischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose zu als auch auf Erfahrungen mit Alzheimer und Altersdemenz.

Engung und Weitung Hermann Schmitz hat ein philosophisches Kategoriensystem der Leiblichkeit ausgearbeitet, das die Dimension des Pathischen im Hinblick auf die grundlegenden leiblichen Regungen systematisch ausarbeitet. In seinem Alphabet der Leiblichkeit entwickelt er anhand verschiedener Kategorien durch die Ermittlung von Polaritäten ein Bezugssystem, das die pathische Struktur der Leiblichkeit erhellt. Dabei ordnet er Enge, Weite und Richtung, Spannung und Schwellung, Intensität und Rhythmus sowie epikritische und protopathische Tendenzen einander zu. Enge und Weite, bzw. Engung und Weitung beschreibt Schmitz als das grundierende Fundament aller leiblichen Regungen. Das Gefühl der Enge z. B. im Brustkorb oder in der Magengegend ist Menschen unmittelbar vertraut als Ausdruck von Schrecken, Angst, angespannter Aufmerksamkeit, Hunger oder Beklemmung. Das Gefühl von Weite oder Weitung stellt sich in euphorischen Momenten, wenn es uns „weit ums Herz“ wird oder unser Herz vor Freude hüpft, in der Tiefenentspannung, diesem Zustand des schwerelosen Schwebens, der kurz vor dem Einschlafen einsetzt, oder im sexuellen Lusterleben. Das leibeigene Spüren findet immer in wechselnden Mischungsverhältnissen statt, Menschen pendeln zwischen Weitung und Enge hin und her. Geraten wir aus der Balance, wenn z. B. das Gefühl der Enge überwiegt, geschieht ein leibliches Ausrichten hin auf die Weitung. Bei Schmerz und Schreck ist die Richtung: „Weg“ ins Weite.52 Engung und Weitung agieren in antagonistischer Kooperation; sie existieren in einem dynamischen Konkurrenzverhältnis, indem sie jeweils die Dominanz anstreben. In dieser Interaktion brauchen und fördern sie einander und bilden den vitalen Antrieb. Ein Übergewicht an Engung bezeichnet Schmitz als Spannung; wird die Weitung zur dominanten Erfahrung, spricht er von Schwellung. Schwellung entsteht im Antagonismus Weitung versus Engung bei den leiblichen Regungen des Dehnens und Reckens; beim befreienden Durchatmen in einem 52 Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Leiblichkeit, in: Hilarion Petzold (Hg.), Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn 1985, 71–106: 82. Siehe zur praktisch theologischen Rezeption des leiblichen Alphabets auch die Arbeit von Julia Koll, Körper beten. Religiöse Praxis und Körpererleben, Stuttgart 2007, 50–60.

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Hochwald oder dem ehrfurchtsvollen Einatmen beim Betreten einer Kathedrale. Dehnen, Recken und tiefes Einatmen vermitteln als vitaler leiblicher Antrieb das Erlebnis der machtvollen Ausdehnung oder der Raumeroberung.53 Der Antagonismus von Spannung und Schwellung verdichtet sich für kranke Menschen im pathischen Leiberleben. Die Kontrolle von Schmerzen kann innerhalb dieser Dynamik auf zweifache Weise geschehen: „indem man den expansiven Drang, die gegen Spannung anschwellende Weitung, abschaltet; oder indem man ihm ein Übergewicht verleiht, das die Engung unscheinbar macht.“54 Im ersten Fall steht die Erfahrung im Raum, dass sich bei Bewegung und intensivem Schmerzausdruck beispielsweise durch Schreien, die Schmerzen verstärken. Sowohl autosuggestive Übungen, die die Aufmerksamkeit im leiblichen Spüren auf angenehme Dinge lenken als auch das Schaffen eines unterstützenden sozialen Umfeldes und einer beruhigenden Raumatmosphäre fördert die Reduzierung des Schmerzempfindens. In anderen Fällen kann die Schmerzerfahrung gelindert werden, wenn z. B. muskuläre Kraftanstrengung im Geburtsvorgang eingesetzt wird, oder im Falle der Kausalgie (starke Schmerzen nach Nervenverletzung) kann der brennende Schmerz durch bestimmte sportliche Übungen überspielt werden. Kraftanstrengung ist eine leibliche Regung, in der sich Engung und Weitung ziemlich das Gleichgewicht halten; ihr Konflikt im Schmerz, wenn übermächtige Engung einen expansiven Impuls hemmt, wird dadurch ausgeglichen. Schmitz’ Alphabet der Leiblichkeit kann als ein Versuch interpretiert werden, die leibliche Responsivität im Raum des Pathischen weitergehend zu qualifizieren. Eine leiborientierte Seelsorge wird auf die Wahrnehmung dieser nonverbalen Ausdrucksformen in der Begegnung besonders achtgeben und sich nicht nur der Ebene der sprachlichen Kommunikation widmen. Die beschriebenen Affizierungen im Raum des Pathischen können das leibliche Spüren auf besondere Weise prägen. Schmitz’ Alphabet der Leiblichkeit kann durch weitere sichtbare bzw. unsichtbare Modalitäten ergänzt werden, die die zwischenleibliche Kommunikation prägen. „Zu den sichtbaren zählen Mimik (Gesichtsausdruck und Blickverhalten), Gestik (Körperausdruck und Gebärden), Kinesik (Körperbewegungen) und Proxemik (räumliche Aspekte des Körperkontaktes wie Nähe-Distanz-Verhalten, Sitzordnung etc.), aber auch äußerliche Aspekte wie Körperbau, Körperpflege, Kleidung, Schmuck etc. Die unsichtbare Modalitäten der Körpersprache beziehen sich auf die vokale Dimension der Kommunikation […]: Hier sind die sprachlichen Merkmale (Sprechpausen, Sprachrhythmik, Dialekt u. a.) sowie die paralinguistischen Merkmale (Lachen, Weinen, 53 Vgl. Hermann Schmitz, Die Dynamik des Leibes, in: ders., Der Leib, Berlin/Boston 2011, 15–27: 15f. 54 AaO., 16.

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Husten etc.) gemeint. Neben den visuellen und auditiven Sinneseindrücken sind auch haptisch-taktile (Berührung), olfaktorische (Geruch), gustatorische (Geschmack) und thermische (das Wärmeempfinden betreffende) Modalitäten für die nonverbale Kommunikation evident.“55 In diesen verschiedenen Aspekten der sinnlichen Wahrnehmung und des leiblichen Ausdrucks nistet sich das Pathische ein und gibt dem Widerfahrenen einen Ausdruck. Im Folgenden soll der Affizierung des Leibes im Schmerz nachgegangen werden; dieser Fokus ist für eine leibphänomenologische Beschreibung der Vulnerabilitätserfahrung zentral. Daran schließen sich kursorisch Überlegungen zu Scham- und Schuldgefühlen an, die als Affekte eng an die leiblich-pathische Erlebnisform des Krankseins angeschmiegt sein können. Abschließend kommen die Empathie und die Differenzsensibilität als diejenigen Mitgefühle in den Blick, die für Seelsorgerinnen und Seelsorger eine besondere Rolle spielen.

Affekte im Raum des Pathischen Der Schmerz: Fremdsein und Vitalität Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) gibt folgende Definition: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“56 In der Logos-Perspektive, d. h. in medizinischer Hinsicht können wir sagen, dass der Schmerz eine komplexe Sinnesempfindung ist, die nicht auf ein simples Reiz-Reaktions-Schema reduziert werden kann. Es können drei Schmerzarten unterschieden werden: der Nozizeptorenschmerz, Schmerzen infolge funktioneller bzw. psychosomatischer Störungen und der neuropathische Schmerz. Der Nozizeptorenschmerz entsteht durch die Erregung der Schmerzrezeptoren aufgrund einer drohenden oder eingetretenen Verletzung des Körpergewebes. Diese Verletzung kann tumorbedingt, entzündlich oder traumatisch sein. Das Zentralnervensystem sendet Impulse, durch die Schmerzwahrnehmung ins Bewusstsein tritt. Schmerzen, die aufgrund funktioneller Störungen auftreten, sind nicht verletzungsbedingt, sondern entwickeln sich aufgrund fehlerhaften Funktionierens körperlicher Teilsysteme. Ein Beispiel für diese Schmerzart sind Rückenschmerzen oder Migräne. Neuropathische 55 Elisabeth Naurath, Seelsorge als Leibsorge. Perspektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge, PTHe Bd.47, Stuttgart 2000, 173. 56 Zitiert in: Reinhard Thoma/Christine Schiessl, Schmerz und seine Behandlung aus medizinischer Sicht, in: PrTh 49 (2014), 201–207: 201.

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Schmerzen sind bedingt durch die Schädigung des zentralen bzw. des peripheren Nervensystems, das im Rückenmark und im Gehirn lokalisiert ist. Sie treten entweder neuralgiform, d. h. in überraschenden Anfällen, bzw. kausalgiform, in dumpf-brennender Weise, auf. Schmerzen, die in Folge einer Querschnittlähmung oder einer Amputation (Phantomschmerzen) auftreten, sowie die Symptome viraler Infektionskrankheiten gehören in die Gruppe der neuropathischen Schmerzen. Eine zentrale Unterscheidung ist darüber hinaus die Unterscheidung zwischen akutem und chronischem Schmerz. „Akuter Schmerz ist zeitlich begrenzt, tritt meist lokal auf und zeigt im Verlauf eine Besserung. Sein Wesen ist die Warnfunktion vor weiterem Schaden; er ist also ein sinnvoller Schutz für den Körper. Die Akzeptanz dieses Schmerzes beim betroffenen Menschen ist relativ groß, weiß er doch, dass die Behandlung der Ursache, zum Beispiel ein Beinbruch, medizinisch behandelt werden kann, und der Schmerz mit komplikationsfreier Heilung der Verletzung abklingt.“57 Chronische Schmerzen werden heutzutage als eigenständiges Krankheitsbild gewertet. Ein Ende ist in zeitlicher Hinsicht oftmals nicht absehbar, der chronifizierte Schmerz breitet sich im Körper aus. Diese räumlich-zeitliche Entgrenzungserfahrung geht einher mit der Tatsache, dass die Ursache oftmals nicht benannt werden kann. Der chronische Schmerz hat keine Warnfunktion mehr und ist entsprechend sinnlos. Hier zeigen sich die Facetten der Negativität, die mit Vulnerabilitätsphänomen verbunden sein können, in nuce. Insbesondere die Behandlung von chronischen Schmerzen bedarf eines multimodalen Therapieansatzes, in dem Spezialistinnen und Spezialisten aus den Bereichen der Medizin, Psychologie und Bewegungstherapie zusammenarbeiten.58 Auch die spirituelle oder religiöse Dimension ist im Umgang mit chronischen Schmerzen von Belang. Gian Domenico Borasio geht im Kontext der palliativen Betreuung davon aus, dass die medikamentöse Schmerztherapie lediglich ein Sechstel der gesamten Bemühungen ausmache; etwa 50 % der gesamten Begleitung ist sozialen und spirituellen Themen gewidmet.59 Die verschiedenen Arten und Ausdrucksformen des Schmerzes können, wie oben skizziert, beschrieben werden. „Reizung der Schmerzrezeptoren, die Ionenverschiebungen und elektrischen Potenziale in den Nervenbahnen, die Aktivitätsveränderungen im Gehirn, all diese Dinge können objektiv mit Instrumenten erfasst werden […]“.60 Der Schmerz hat in diesem Sinne eine messbare Seite. Dennoch hat jeder Schmerz auch eine subjektive, radikal individuelle Er57 58 59 60

Thoma und Schiessl, Schmerz, 201. Vgl. aaO., 205. Vgl. Gian Domenico Borasio, Über das Sterben, München 2011. Georg Schönbächler, Vorwort, in: ders. (Hg.), Schmerz. Perspektiven auf eine menschliche Grunderfahrung, Edition Collegium Helveticum 4, Zürich 2007, 9.

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lebnisperspektive, die unaustauschbar ist und die das Besondere der Schmerzerfahrung ausmacht: Es fühlt sich auf eine gewisse Weise an, Schmerzen zu haben. Hier taucht die Bedeutung des Schmerzgefühls auf. Obwohl also die Schmerzempfindung immer individuell ist, wird das Schmerzerleben und unser Denken und Sprechen über den Schmerz sehr stark von kulturellen und sozialen Vorstellungen überlagert. An den Denkversuchen über den Schmerz haben sich auch immer wieder Philosophen beteiligt. Schmitz beschreibt den Schmerz als einen dynamischen Konflikt im spürbaren leiblichen Befinden. Im Leiblich-Sein zwischen Enge und Weite kann der Schmerz als expansiver Drang beschrieben werden, der gehindert oder aufgehalten wird.61 Dieser Drang schwillt gegen einen Widerstand an, der ihn hemmend zurückdrängt. Nach Schmitz wird so eine motorische Unruhe befördert, die dem Schmerz eigen ist. Sie drückt sich physisch im Extremfall im Aufbäumen der Glieder aus; die Phrase „die Wände hochgehen“ ist das sprachliche Äquivalent. Bereits vor Schmitz hatte der Arzt, Psychologe und Philosoph F.J.J. Buytendijk den dynamischen Charakter des Schmerzes zu beschreiben versucht.62 Nach Buytendijk kann die Dynamik weder in klassischen Bewegungsmodellen von Empfindung, Reaktion und Gefühl noch durch die Unterscheidung von Hyle, Noesis und Noema adäquat dargestellt werden. Zwar schreibt er dem Schmerz einen Anteil an der Empfindung als körperlich beschreibbarer Erfahrung zu; diese Dimension ist jedoch nicht das Zentrum des Schmerzes. Dieses kann eher als ein Getroffensein beschrieben werden, auf das eine ohnmächtige Rückzugsbewegung folgt, die auf den gesamten psychophysischen Organismus ausstrahlt und ein Gefühl unwiderruflichen Ausgeliefertseins evoziert. Diese Dynamik findet ihre Gestalt in einer nicht antizipierbaren leiblichen Affektion, auf die sich der Einzelne nicht vorbereiten kann. Dieses Affiziertwerden geschieht am Körper; es betrifft aber in Folge alle Facetten des Subjektseins. Die Differenzierung zwischen einer körperlichen Veränderung, einem emotionalen Betroffensein und der darauf folgenden möglichen räumlichen Eingrenzung des Schmerzes findet erst auf der Ebene der Wahrnehmung statt. In der Wahrnehmung geschieht ein distanzierender und objektivierender Bezug auf den Schmerz, der die Rede vom „Schmerzen Haben“ ermöglicht. Dennoch ist es gerade der Schmerz, der eine vollständige Integration in das pragmatisch orientierte Wahrnehmungsfeld immer wieder unterläuft und den Betroffenen auf das im Alltagsbewusstsein immer schon überschrittene Empfinden zurückwirft. 61 Vgl. Hermann Schmitz, Der Zwang zur Grausamkeit. Der Schmerz als Konflikt und seine philosophische Bedeutung, in: ders., Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Bielefeld u. a. 32008, 163–175: 163. 62 Vgl. F.J.J. Buytendijk, Über den Schmerz, Bern 1943.

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Auch der Philosoph Christian Grüny geht davon aus, dass dem Schmerz eine sich der Wahrnehmung und der sich anschließenden Interpretation entziehende Dimension inhärent ist. Grüny greift dabei die von Waldenfels vorgeschlagene Denkfigur der Diastase auf, die sich im Feld zwischen Pathos und Response bildet und die unverrechenbare Bruchlinie in der Erfahrung mit dem Schmerz ausmacht.63 Dieses pathische Verständnis des Schmerzes kann weder in der Kategorie der Handlung noch der Intentionalität gedacht werden, trotzdem impliziert es eine Beziehung hin zur Welt. Bereits Buytendijk spricht in diesem Zusammenhang vom „unvorbereiteten Bruch zwischen Organismus und Milieu.“64 Christian Grüny versucht in seiner Phänomenologie des Schmerzes zu erkunden, was im körperlichen Schmerz erfahren wird und inwiefern dem Schmerz welterschließende Kraft zukommt. Unter Berücksichtigung der Spezifizität unterschiedlicher Schmerzerfahrungen fragt er darüber hinaus, wie es ist, Schmerz zu haben.65 Es geht ihm um die Rekonstruktion der fundierenden Grundzüge der Schmerzerfahrung, „diesseits der Kategorisierung von Schmerzen nach Ursachen, Gründen und Kontexten.“66 Diese Frageperspektive verweigert sich metaphysischen Sinnspekulationen, die einen abschließenden, hermetischen Charakter haben und sich so der störrischen Fremdheit der Schmerzerfahrung entziehen: „Wenn es so etwas wie einen Sinn der Erfahrung des Schmerzes gibt, dann liegt er primär in der Erkenntnis, daß nicht alles an der Erfahrung Sinn ist. Der Schmerz ist nicht sinnlos, wie eine Lautfolge, die keiner Sprache angehört, oder wie eine Handlung, die kein Ziel verfolgt, nicht einmal die Ziellosigkeit des Flanierens; er ist ein Ereignis, das zur Sinnsuche anstößt und auf der vorbewussten Ebene bereits als zu Fliehendes auftritt, das eine materialisierende und damit erschließende oder negativ produktive Kraft hat, das aber dennoch als zerstörerisches Moment in jedem Sinngefüge erhalten bleibt. Der Schmerz und die Körperlichkeit, die er erschließt oder hervorbringt, bleiben fremd und können nicht restlos angeeignet werden, und diese Fremdheit kann den fatalen eigenen Anteil verdecken, der in sie gemischt ist.“67 Als fundamentale Charakteristika der Schmerzerfahrung identifiziert Grüny die in dem Zitat anklingenden Aspekte der Flucht, der Zerstörung und der Materialisierung. Unter dem Stichpunkt der Flucht wird das Charakteristikum 63 Vgl. hierzu die in diesem Kapitel bereits ausgeführten Überlegungen zu Waldenfels’ Verständnis des Pathischen. 64 Buytendijk, Über den Schmerz, 129. 65 Vgl. Christian Grüny, Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes, Wittener Kulturwissenschaftliche Studien Bd.4, Würzburg 2004, 18f. 66 AaO., 20. 67 AaO., 259.

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der Negativität behandelt; es geht um eine „Erfahrung, die von sich aus besagt, daß sie nicht sein soll […]“68. Oder in einer Formulierung von Elaine Scarry: „Schmerz ist die reine physische Erfahrung der Negation, eine Sinneswahrnehmung des ‚gegen‘ die Wahrnehmung von etwas, das gegen uns ist, und von etwas, gegen das man sein muß. Obwohl der Schmerz in einem selbst ist, wird er sogleich als ‚nicht man selbst‘, als ‚nicht ich‘, als etwas Fremdes eingestuft, daß man unverzüglich abstreifen will.“69 Negativität als Dimension des Schmerzes verdichtet sich in der Verbindung von unvorbereitetem Bruch und vergeblicher Rückzugsbewegung. Sie wirkt in der Erfahrung einer Unterbrechung bzw. eines Bruches im Fluss alltäglicher Weltbezogenheit sowie im Erleben einer Störung des körperlichen Zustandes.70 Die pathische Qualität des Schmerzes umfasst sowohl ein Erleiden als auch ein aufgezwungenes Tun, das an die vergebliche Rückzugsbewegung gebunden ist. Dieses Tun bleibt jedoch einem Moment des Entzugs verhaftet, das letztendliche Normalisierung und Integration des Schmerzes dauerhaft widersteht. Mit dem Begriff der Zerstörung nimmt Grüny die Einwirkung auf den Gesamtzusammenhang der Erfahrung in den Blick. Hier geht es um die totalisierenden Tendenzen, die sich im Schmerzerleben vollziehen können, wenn der Schmerz nicht mehr als abgrenzbarer Fremdkörper erscheint, sondern „als handelnde Instanz, die sich des Körpers und des Bewusstseins bemächtigt.“71 Auch Elaine Scarry greift die totalisierende Dynamik des Schmerzes auf: „Am Anfang ist er lediglich ein erschreckendes, wiewohl begrenztes inneres Faktum, am Ende hat er den ganzen Körper mit Beschlag belegt und greift sogar noch darüber hinaus, zieht alles, innen und außen, in seinen Bann, macht beides auf obszöne Weise ununterscheidbar und zerstört, was ihm fremd ist und seine Ansprüche bedrohen könnte, die Sprache ebenso wie alles andere, das es uns ermöglicht, uns in der Welt auszudehnen.“72 Die Zerstörung der menschlichen Fähigkeit, sich in der Welt auszudehnen, zeigt sich in der Einschränkung der Handlungsspielräume und der Bewegungsfreiheit, die Schmerzen hervorrufen können; dies kann bis zu einem Verlust des Weltvertrauens in den sozialen sowie den natürlichen Lebensraum führen. Die Zerstörung des Weltbezugs zeigt sich in besonders eindringlicher Weise im Verlust der Sprache: Der Verletzte kann sich im Moment akuten Schmerzerlebens vielleicht nur im Schrei oder im Stöhnen ausdrücken. Der Verlust der Artikulationsfähigkeit bezieht sich auch auf den Versuch, das Erlebte sprachlich 68 AaO., 29. 69 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M. 1982, 79. 70 Grüny, Zerstörte Erfahrung, 28–30. 71 AaO., 35. 72 Scarry, Der Körper, 83.

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auszudrücken und den erlebten Schmerz in Sprache zu fassen. Dabei kann der Schmerzensschrei als Ausdrucksakt an der Grenze des Sprachlichen durchaus im kommunikativen Sinn als Appell gehört werden zu handeln. Im Diagnosegespräch zwischen Ärztin und Patient wird zwischen affektiven und sensorischen Schmerzbeschreibungen unterschieden. Affektive Beschreibungen sind bemüht, ein Gefühl zu beschreiben; wie z. B. paralysierend, schrecklich, quälend. Sensorische Charakteristika beziehen sich auf die sinnliche Qualität, z. B. stechend juckend, brennend. Patientinnen haben oftmals Mühe, das eigene Schmerzempfinden in Worte zu fassen. Wird ein Schmerz als pochend oder stechend beschrieben, ist damit noch nicht viel gesagt. Die von Schmitz benannte Dimension der Schwellung und des Widerstands, sowie die zeitliche Ausdehnung und die Intensität (Wärmedimension) sind für Betroffene nur schwer in Worte zu fassen. Darüber hinaus ist die Qualität der Schmerzempfindung durch die Art des Schmerzes bestimmt. Die (Zer)Störung des Weltbezuges im Verlust der Sprache und der Kommunikationsfähigkeit drückt sich in radikalisierter Form aus, wenn der akute Schmerz chronisch wird und ein absehbares Ende nicht in Sicht ist. Akuter Schmerz ist ein zeitlich begrenzter Schmerz, der als Warn- und Leitsignal fungiert, in bestimmten Fällen hilft er, die Diagnose zu bestimmen. Chronische Schmerzen erstrecken sich über einen längeren Zeitraum, der normalerweise zwischen drei bis zwölf Monate andauert. Schmerzen, die sich über diesen Zeitraum hinaus bemerkbar machen, können sich in eine Krankheit verwandeln, die einen eigenen Krankheitswert besitzt. Chronische Schmerzen haben keine Leit- und Warnfunktion mehr. Werden Schmerzen chronisch, verwandelt sich der Charakter der Schmerzerfahrung grundlegend; dann wird aus der Störung, Zerstörung und aus der Unterbrechung ein Bruch im Bezug zur Welt. Sowohl das Zeit- und Raumerleben verändert sich in signifikanter Weise als auch die sozialen Beziehungen, je nachdem, wie sich die Schmerzerfahrung zeigt. Menschen, die mit chronischen Schmerzen leben müssen, haben oftmals Schwierigkeiten zu vermitteln, was es bedeutet, permanent und auf unbestimmte Zeit in einem Körper im Schmerz leben zu müssen und die veränderte Selbst- und Fremdwahrnehmung auszudrücken. Dieses sich ausbreitende Schweigen kann bis zum Verlust sozialer Netzwerke und einer damit einhergehenden Einsamkeit reichen, die in der Tat die Form eines Bruches und nicht nur einer Störung im Bezug zur Welt annimmt. Eine weitere Ausdrucksform der Schmerzerfahrung ist der zugefügte Schmerz, der sich im Extremfall in der Folter zeigt sowie in verschiedenen Formen der Gewaltausübung bis hin zu Verletzungen, die in Kriegshandlungen zugezogen werden. Die traumatisierende Dimension der Verletzung

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verweist auf besondere Formen der Zerstörung, die wir in unseren Ausführungen zur Phänomenologie der Gewalt bereits ausgeführt haben.73 Die skizzierten Facetten der Störung bzw. Zerstörung von Weltbezügen und Sinnzusammenhängen stoßen eine Sinnsuche an, die im Hinblick auf die leiblich-pathische Erlebnisform des Schmerzes die Frage anstößt: Was geschieht mir? Warum geschieht es mir? Diese noch nah am leiblichen Erleben gestellten Fragen sind auf ein basales Verstehen ausgerichtet, dem sich das unmittelbare Schmerzerleben entzieht. Überraschendes, akutes Schmerzerleben stellt eine Verstörung und Desorientierung dar, der versucht wird zu begegnen, indem die Frage nach der organischen Ursache gestellt wird. Diese Ebene der basalen Ursachenerforschung ist zu unterscheiden von den verallgemeinernden Sinnzuschreibungen, die abgelöst sind vom leiblichpathischen Erleben. Grüny zählt eine Reihe von Deutungsversuchen auf: Immanuel Kants Verständnis des Schmerzes als Movens des Handelns und der Kreativität, der Schmerz ist entsprechend für ihn der Stachel der Tätigkeit, durch die wir erst die eigene Lebendigkeit spüren. Für Nietzsche ist der Schmerz der Garant von Tiefe und Echtheit: „Erst der große Schmerz, jener lange, langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, indem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsere letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Guthmütige, Verschleiernde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Mitmenschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun.“74 Für Elisabet List kann der Schmerz als Quelle der Weisheit fungieren, wenn er für eine Ethik des Selbst fruchtbar gemacht werden kann. Einige Philosophen sehen im Schmerz eine zivilisatorische Kraft, die der Ausbildung von Individualität dient. Sinndeutungen reichen bis zur Glorifizierung von Schmerz und Gewalt.75 Grüny bezweifelt nun, dass diese pauschalen Sinnzuschreibungen hilfreich sind, da sie nicht ermöglichen, die Dimensionen der Negativität und Zerstörung, die mit der Thematik verbunden sind, zu thematisieren. Die dritte Dimension der Schmerzerfahrung beschreibt Grüny als Materialisierung. Er unterscheidet drei Weisen des Erscheinens von Materialität: „Man kann erfahren, daß man ein materielles Wesen ist, man kann sich als materielles Wesen deuten und man kann materialisiert werden.“76 Die erste Weise der Materialisierung ist gut in den Beschreibungen Plügges zum Herzschmerz reflektiert.77 Erst, wenn das Herz schmerzt, tritt die Existenz dieses Organs als HerzHaben ins Bewusstsein. Gleichzeitig entsteht in dieser intensivierten, lokali73 74 75 76 77

Vgl. Kap. 1 Friedrich Nietzsche, KSA Bd.3, München et al. 1980, 350. Vgl. Grüny, Zerstörte Erfahrung, 42. AaO., 213. Vgl. hierzu dieses Kap.

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sierbaren Wahrnehmung eine Entfremdungserfahrung; der Schmerz kann bedrohlich wirken und die Erfahrung des Leib-Seins-Zur-Welt fragmentieren. Diese Erfahrung kann z. B. im Sinne eines Integrationsbemühens als Transformation der eigenen Leiblichkeit gedeutet werden oder, wie bereits angedeutet, in Form einer Abspaltung als ein sich selbst Fremdwerden erfahren werden. In den vorgestellten Beispielen ist es insbesondere die Verobjektivierung, wie sie Arthur Frank beschreibt, in der sich die Erfahrung, materialisiert zu werden, zeigt.78 Es geht um die Wahrnehmung, die Blicke, die Handlungen anderer Menschen, die eine gewaltförmige Qualität besitzen, in denen die Verobjektivierung des Körpers geschieht. Der verletzbare bzw. der verletzte Körper, der materialisiert wird, steht in einem Spannungsverhältnis zur Einheit des Leibes, die von Merleau-Ponty beschrieben wird. Poimenische und theologische Resonanzen Auch im Hinblick auf die Seelsorgepraxis kann die Einsicht Grünys aufgegriffen werden, dass pauschale Sinnzuschreibungen, die Schmerzerfahrung banalisieren, glorifizieren oder dämonisieren, wenig hilfreich sind. Die vorsichtige, am Leiberleben orientierte Frage scheint der angemessenere Fragegestus zu sein: Was geschieht mit mir? Diese kann auf verschiedene Weise aufgenommen werden: a) in der mitfühlenden Präsenz, b) im Raum geben für die Ambivalenz, die mit der beschriebenen Dimensionen der Schmerzerfahrung verbunden sind, c) im Einspielen der fremden Stimmen aus dem Resonanzraum der jüdischchristlichen Tradition, um dem eine Sprache zu leihen, was in die Sprachlosigkeit gefallen ist d) und schließlich in der Auseinandersetzung mit den ethischen Herausforderungen, die mit der Schmerzthematik verbunden sind. a) Der Seelsorger Steve Nolan hat im Hinblick auf die Seelsorge in der Palliativmedizin den Begriff der „hopeful presence“ gewählt.79 Ähnlich wie Grüny verwehrt er sich gegen eine abstrakte Deutung, die der Schmerzerfahrung übergestülpt wird. Vielmehr gehe es von Seiten der Seelsorgerin um die Entfaltung einer leiblichen Präsenz (being there), die einhergeht mit der Wahrnehmung der eigenen Affizierbarkeit als einem emotionalen Mitfühlen (being with). Beides, Präsenz und Affizierbarkeit der Seelsorgerin, eröffnen für den kranken oder sterbenden Menschen die Möglichkeit, Vertrauen zu entwickeln und sich in der je eigenen individuellen Weise im Schmerz zu artikulieren. Dies bedeutet für die 78 Vgl. Franks Beschreibung in diesem Kap. 79 Vgl. Steve Nolan, Spiritual Care at the End of Life. The Chaplain as a “Hopeful Presence”, London 2011. Auf Nolans Überlegungen verweist auch Traugott Roser in seinem instruktiven Beitrag: Schmerz ausdrücken und behandeln in Ritualen, in: PrTh 49 (2014), 221– 226: 222.

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Seelsorgerin nicht nur im Sinne der Logos-Dimension die Überwindung, Linderung oder Betäubung des Schmerzes zu unterstützen. Der Raum des Pathischen, in den sich die Seelsorgerin hinein begibt, besteht im Da-Sein und in einer bestimmten Weise der Verbindlichkeit, im Sich-Verfügbar-machen, so dass für Menschen im Schmerz das Erleben des Gehaltenseins unterstützt und immer wieder aktualisierbar bleibt. Dies geschieht nonverbal und verbal, im Atmen, in der Berührung und im Respekt vor der Aura des Kranken. Diese Formen der Präsenz stellen bereits eine Antwort auf die Erfahrung von Isolation, Verlust der Stimme und dem Zerbrechen von Sinngefügen dar. Paradoxerweise entfaltet sich die hoffnungsvolle Präsenz in der Spiritual Care im Verzicht auf proaktive Sinndeutungsangebote auf Seiten der Seelsorgerin. Hierzu gehört nach Nolan auch die Bereitschaft eine „evokative“ Präsenz zu entwickeln, d. h. auch negative Projektionen zuzulassen, z. B. Frustration, Aggression und Anklagen. Auch Signale von Seiten der Seelsorgerin zu senden, dass die unmittelbare leibliche Affizierung im Schreien, Weinen, aber auch Lachen opportune Ausdrucksformen sein können, gehört in diesen Zusammenhang. b) Der zweite Aspekt des Raum-Gebens besteht in der Kultivierung einer Responsivität, in der sich das Verhältnis von Sprache und Schmerz als Missverhältnis zeigen kann. Dieses „verweist nicht auf einen Zusammenhang, geschweige denn auf ein Zusammenspiel, sondern ist Ausdruck einer Unterbrechung und Aufspaltung, in der sich Sprache und Schmerz geradezu antagonistisch gegenüberstehen.“80 Wird Seelsorge nur als Sinndeutungsaufgabe begriffen, die auf Schließung von Interpretation ausgerichtet ist, wird den Unterbrechungen und Aufspaltungen, in denen rohe, fragmentarische, unabgeschlossene und widersprüchliche Ausdrucksweisen zu Gehör gebracht werden können, nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Eindrücklich beschreibt Konrad Klek das Sterben eines befreundeten Kirchenmusikers: „Am Sterbetag erwachte er morgens mit extrem starken Schmerzen. Ein neuer Tumor hatte dafür gesorgt, dass Blut und Wasser in der Lunge waren. Der Tenorsänger hielt in seinen Schmerzensschreien sein mächtiges Stimmorgan nicht zurück. So setzte er die Ärzte unter Druck, alle Waffen gegen den Schmerz zu mobilisieren. Es blieb kein anderer Weg als die Narkose. Unter ihr trat der Tod ein.“81 c) Manchmal kann es hilfreich sein in unterschiedlichen rituellen Kontexten, Fragmente der jüdisch-christlichen Tradition als fremde Stimmen im Raum der 80 Maike Schult, Die Silbe Schmerz. Vom Schmerz sprechen in Literatur und Predigt, PrTh 49 (2014), 227–232: 227. 81 Konrad Klek, Schmerz in Theologie und Frömmigkeitsgeschichte. Im Fokus von Kirchenlied und Kirchenmusik, PrTh 49 (2014), 213–220: 214.

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Sprachzerstörung einzuspielen. Insbesondere die Sprachbilder der Klagepsalmen artikulieren den rohen Schmerz, der gar nicht wohl temperiert daher kommt. Klagepsalmen in Seelsorgesituationen zu Gehör zu bringen und zwar nicht nur im Zweiergespräch, sondern auch in öffentlichen Gottesdiensten, bietet eine Möglichkeit, dem rohen Schmerz Ausdruck zu verleihen. Die sogenannten Klagepsalmen des Einzelnen bringen die drastische Schmerzerfahrung kranker Menschen zum Ausdruck, so heißt es beispielsweise in Ps 38,6–11.18: „Meine Wunden stinken und eitern wegen meiner Torheit. Ich bin verstört, tief gebeugt, in Trauer verbringe ich den ganzen Tag. Denn meine Lenden sind voller Brand, und nichts Heiles ist an meinem Fleisch. Kraftlos bin ich und zerschlagen, in der Qual meines Herzens schreie ich auf. Herr, vor dir liegt all mein Sehnen, und mein Seufzen ist dir nicht verborgen. Heftig pocht mein Herz, meine Kraft hat mich verlassen, und das Licht meiner Augen ist mir erloschen. […] Dem Sturz bin ich nahe, und stets gegenwärtig ist mir mein Schmerz.“

Hier taucht die Phänomenologie des Schmerzes wieder auf, wie wir sie bisher skizziert haben: stinkende und eiternde Wunden verweisen auf das leiblich gebundene Sich-Selbst-Fremd-Werden. Dem Fallen nahe sein, den Schmerz immer vor sich haben, die Mattigkeit, sich zerschlagen zu fühlen – all diese Beschreibungen verweisen nicht auf das robuste, autonome Selbst, dass sich uns gegenüber zur Welt und zu Gott imaginieren kann, sondern auf das poröse, verletzliche Selbst, das von der Unruhe des Herzens getrieben ist und sich wiederum im Schrei kenntlich macht. Und selbst der homo incurvatus, der in Schmerz und Traurigkeit versinkt, kommt uns hier entgegen: „Ich gehe krumm und sehr gebückt“. Diese umfassende Schmerzerfahrung führt zum Verlust der Beziehungen, die Freunde scheuen sich vor der Plage, die Nächsten halten sich ferne. In diesem Psalm heißt es auch: „Es ist nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. Denn meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden.“ (V. 4f). Eine gängige Interpretation ist bestimmt durch die Folie des so genannten Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Sünde und Schmerz-Erfahrung zusammen zu bringen ist ein heikles Thema.82 In dem hier angebotenen Bild wird allerdings kein kleinteiliger Kausalzusammenhang vorgestellt, sondern die Wirklichkeit des Lebens in schwerer Krankheit, die auch von der Erfahrung der Selbstverkrümmung und dem damit zusammenhängenden Fall ins Nichts beschrieben wird. In den Klagepsalmen des Einzelnen, die den Körper im Schmerz zur Sprache bringen, kann die Rede von der Sünde als Erfahrung des Selbstverlustes im Horizont des Pathischen gedeutet werden. Dem Sündenbegriff haftet hier nichts Moralisches an, es geht um keine vorausgegangenen Gebotsverletzungen oder Grenzüberschreitungen, vielmehr

82 Vgl. auch die Diskussion zum Zusammenhang von Krankheit und Sünde in Kap.3.

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um eine Beschreibung der Wirkung der Verkrümmung im Welt- und Gottesverlust. Diese wirkt zurück auf das Leiberleben: nichts Heiles ist mehr an den Gebeinen; und: die Sünde hat Gewicht, sie beschwert das Haupt des Glaubenden. Dass Musik eine seelsorgliche Wirkung haben kann, weil sie in unmittelbarer Weise auf die Gefühlswelt einwirken kann, ist bekannt.83 Dass der Schrei als vorsprachliche Artikulation in der Religion seinen Ort in der Musik findet, ist nachvollziehbar. So können bestimmte musikalische Ausdrucksformen auch zu den fremden Stimmen gezählt werden, die dem Schmerz einen Ausdruck verleihen können. So haben es Komponisten durch die Jahrhunderte verstanden, die eigene leibliche Schmerzerfahrung in ihre Stücke hinein zu senken. Ich denke hier beispielsweise an die Imitation des Tinnitus durch Smetana. Der böhmische Komponist Bedrich Smetana litt, wie viele andere Komponisten auch, im letzten Jahrzehnt seines Lebens an einem Gehörleiden und Taubheit, wurde aber auch gehörlos weiter von starken Tinnitus geplagt. „Er wollte trotzdem weiter komponieren und hat dies bis zur Einlieferung in die Psychiatrie kurz vor seinem Tod auch getan – trotz großer Anstrengung, da die Ohrgeräusche das Komponieren behinderten. In seinem ersten Streichquartett, das er 1876, acht Jahre vor seinem Tod verfasste, macht er seine Situation deutlich und seinen Tinnitus hörbar. ,Aus meinem Leben‘ betitelt er das Quartett inoffiziell. In den letzten drei Minuten des knapp dreißigminütigen Werkes wird das jubilierende Vivace des vierten Satzes plötzlich unterbrochen; in sehr hoher Lage erklingt ein schrilles E in der ersten Violine. Danach kommt das Quartett zu einem raschen, traurigen Ende; das Eingangsmotiv des ersten Satzes wird kurz aufgegriffen und das Thema des vierten Satzes ins Tragische gewendet.“84 Smetana bringt das leibeigene Erleben, den schrillen Ton in seinem Kopf, der ihn um den Verstand zu bringen droht, in dieser Musik zum Ausdruck. So bringt er zu Gehör, was für die ihn umgebende Welt unhörbar bleibt. Harald Schroeter-Wittke schreibt über die Resonanzen, die die Vulnerabilitätserfahrungen im Werk des Pianisten Michel Petrucciani entfalten: „ein Mann, der […] nicht auf sich selbst gestellt existieren kann, […], spielt in seinem Jazz die Differenzerfahrung seines Ichs als Schmerz und Sehnsucht so, dass sowohl sein Nicht-Einverstanden-Sein mit dem, was real und geworden ist, als auch die 83 Vgl. zur Bedeutung der Musik für die Seelsorge Harald Schroeter-Wittke, „Zur Recreation des Gemüths“. Musik als Seelsorge, in: Desmond Bell/Gotthard Fermor (Hg.), Seelsorge heute. Aktuelle Perspektiven aus Theorie und Praxis, Neukirchen-Vluyn 2009, 149– 175 und Anne M. Steinmeier, Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs, Göttingen 2011, 265–282. 84 Andrea Bieler/Matthias Stracke, Leben als Fragment? Eine Leitkategorie für die Praktische Theologie im 21. Jahrhundert?, Antrittsvorlesung in Wuppertal am 1. Februar 2013 (in dieser Form unveröffentlicht). Ich bin Matthias Stracke dankbar für das Einspielen der Beispiele aus der Musik, insbesondere für die Überlegungen zu Smetanas Tinnitus.

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Befreiung von Festlegungen erklingen, ohne dass dabei seine Krankheit von der Bildfläche verschwinden würde.“85 Petrucciani, der durch die Glasknochenkrankheit in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt ist, kreiert rhythmisch vitale Musik, die eine Bewegung zulässt, die sich auf Schmerz und auf Sehnsucht hin öffnet. An diesen beiden Beispielen lässt sich nachvollziehen, dass in der Schmerzerfahrung – jenseits aller Glorifizierung – auch ein kreatives Potenzial stecken und in den Künsten ausgedrückt werden kann.86 Der Schmerzensschrei jenseits der Sprache hat auch in der jüdisch-christlichen Tradition seinen Platz, insbesondere in der Musik. In der jüdischen Tradition wird er beispielsweise im Klang des Schofar laut und zwar im dritten Grundton, der sogenannten Teruah. Die Teruah ist eine Stakkato-Note, die sich aus einer Reihe von neun kurzen Klängen zusammensetzt, die wie schluchzendes Weinen klingen und den unartikulierten nach luftschnappenden Schmerzensschrei zum Ausdruck bringen können. Efraim Yehoud Desel schreibt über das Tönen der Schofar und über den Schrei als höchste Gebetsform: „Dieser Schrei hat verschiedene Arten. Ein beherrschter und unterdrückter Schrei, ein stiller Schrei und ein lauter und jammernder Schrei. Diese verschiedenen Laute findet man in den drei Arten des Schofar-Blasens, Töne, die beim jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana und beim Versöhnungsfest, Yom Kippur zu hören sind. Die Klänge des Schofar sollen die Türe des Himmels öffnen.“87 Nach Desel werden hier verschiedene Qualitäten des Schreiens zum Ausdruck gebracht und in einem Transzendenzhorizont verortet. Sie werden an den hohen jüdischen Feiertagen laut, in denen die Erneuerung des Verhältnisses von Gott und Mensch gefeiert wird; das Tönen der Schofar, durch die Artikulation des Schmerzes hindurch, öffnet die Tore zum Himmel. In der christlichen Tradition werden beispielsweise in der Vertonung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach die Schmerzensschreie Jesu am Kreuz zu Gehör gebracht. Erschütterung und Verzweiflung ob der erfahrenen 85 Vgl. Harald Schroeter-Wittke, Näher betrachtet: Michel plays Petrucciani, in: Musik als Theologie. Studien zur musikalischen Laientheologie in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 2010, 11–17. 86 Am Zeigen des rohen Schmerzes sind im 20. Jahrhundert auch Performance-Künstlerinnen und -künstler wie Marina Abramowic und Günter Brus interessiert. In Aktionen künstlerischer Selbstverletzung geschieht eine Auseinandersetzung mit der religiösen Opferthematik, mit dem menschlichen Aggressionspotenzial sowie mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Domestizierung von Körpern. Darüber hinaus geht es in der ästhetischen Debatte um die Selbstverletzung als Prozess theatraler Karthasis. Vgl. Rosemarie Brucher, Durch seine Wunden sind wir geheilt. Selbstverletzung als stellvertretende Handlung in der Aktionskunst von Günter Brus, Wien 2008. 87 Efrain Yehoud Desel, Marc Chagalls Kunst aus rabbinischer Sicht: Zwei Bildbetrachtungen, Norderstedt 2012, 51.

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Gottesferne werden musikalisch in markanten Spitzentönen ausgedrückt, die sich auf den Klimax zuschreitend intensivieren: „Aber Jesu schrie abermals laut – und verschied.“ Bach konnte hier auf die literarische Inszenierung des Schmerzensschreies in der Passionserzählung nach Matthäus zugreifen, die das Schweigen Jesu beredt in Szene setzt, um am Ende das Zerbrechen der Sprache im Schrei Christi am Kreuz zum Ausdruck zu bringen.88 Im Matthäusevangelium schweigt Jesus über lange Strecken, während ihm der Prozess gemacht wird und er ans Kreuz genagelt wird. Nur noch ein einziges Mal spricht er, bevor er stirbt. Er borgt die Worte der Tradition: Eli, Eli, lama sabachtani? Es ist der Gebetsruf aus Psalm 22, in dem sich die zutiefst abgründige Erfahrung von Verlassenheit auftut: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diese Klage, die sich an den als abwesend erfahrenen Gott wendet und doch nicht von ihm lässt, ist zutiefst Ausdruck jüdischer Frömmigkeit, die sich aus den Klagepsalmen speist. Matthäus zeichnet Jesus als den leidenden Gerechten; eine auflösende Erklärung für den Sinn der Qual wird aus dem Mund Jesu nicht gegeben. Vielmehr endet der Sterbeprozess mit einem lauten Schrei: die Sprache zersplittert. Der tiefste Abgrund der Inkarnation, des göttlichen InsFleisch-Kommen, ist erreicht. Er ist erreicht im Schmerzensschrei Jesu jenseits der Worte, denn die erfahrene Gewalt der Folter und der damit verbundene Schrei zerstört den Weltbezug und führt in die totale Verlassenheitserfahrung: in die Erfahrung des abwesenden Gottes. Im Schreien bäumt sich der Körper noch einmal auf; dann stirbt Jesus. Stanley P. Saunders schlägt vor, den hier verwandten Ausdruck in doppelter Hinsicht zu verstehen. Mit dem Sterben als Aufgeben des Geistes ist sowohl der letzte Atemzug gemeint als auch das Herausatmen des Geistes in die Welt.89 Eine andere Form des Schmerzensschreis, vielleicht eher ein lautes Seufzen, findet sich in der Hebräischen Bibel in dem Aufschrei ECHA, der viele Klagen anstimmt. In den Klageliedern Jeremias beispielsweise beginnt die Klage über die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und über die geschehenen Gräuel mit einem Schmerzensschrei, einem dissonanten Aufschrei: „Ach [ECHA], wie liegt sie einsam da, (Alef) die Stadt, einst reich an Volk, nun einer Witwe gleich! Eine Große unter den Nationen, eine Fürstin unter den Provinzen, nun in Fronarbeit! Bitter weint sie in der Nacht, (Bet) und ihre Tränen sind auf ihren Wangen, keinen hat sie, der tröstet, unter all denen, die sie geliebt haben; all ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind nun ihre Feinde.“ (Klgl 1,1f) 88 Vgl. zur Thematik des Schweigens Jürgen Ebach, Beredtes Schweigen: Exegetisch-literarische Beobachtungen zu einer Kommunikationsform in biblischen Texten, Gütersloh 2014. 89 Vgl. Stanley P. Saunders, Preaching the Gospel of Matthew. Proclaiming God’s Presence, Louisville 2010, 289. In der frühen Kirche wird der Schrei Jesu dann schnell als österlicher Triumphschrei gedeutet. Dies muss vermutlich im Zusammenhang der christlichen Adaption der Apatheia-Tradition verstanden werden. Vgl. hierzu meine Überlegungen in Kap.3.

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ECHA ist der Schrei, der sich jenseits des geformten Wortes entfaltet. Er entsteht in Situationen des Erschreckens. Er steigt aus der Kehle auf. ECHA ist die Klage jenseits des Wortes. In den Klageliedern folgt auf ECHA erst mal nichts mehr. So ist das im masoretischen Text angezeigt, der Rest der Zeile bleibt leer. Nur eine Leere, die zum Resonanzraum für den Schrei wird, der abgründige Verzweiflung widerspiegelt. Eine Leere, die ausgedrückt werden muss, um dem Schmerz über die verwüstete Stadt Raum geben zu können.90 Der Schrei ermöglicht, den Fluss der Bilder, die von der zerstörten Stadt erzählen, zuzulassen. Sie ist wie eine Witwe geworden, die niemand trösten kann. Niemand kann sie trösten, es gibt keine Mauern, die sie schützen könnten, keine Freunde, keine Liebhaber, die die Straßen der Stadt beleben. Und Gott? Sie können Gott nicht finden in der Stadt. Die Stadt ist verlassen. Es ist, als ob sie gar nicht mehr existiert. Sie ist zum Ort totaler Negativität geworden, zum Un-Ort. Niemand ist da, der sie trösten kann; dieser Satz wird immer wieder betont. Er drückt die Erfahrung der Abwesenheit aus: Es gibt keine Freunde und keine lieb gewonnenen Erzählungen mehr. Es gibt keinen vertrauten Gott mehr und auch keinen Tempel! ECHA ist der Schrei der totalen Beziehungslosigkeit, der vor dem Fall ins Nichts ausgestoßen wird. Die Erfahrung von Beziehungslosigkeit, die wir dem Schmerz zugeordnet haben, findet hier einen Ausdruck. Die jüdisch-christliche Tradition bietet eine Vielzahl ästhetischer Gestaltungen des Schmerzensschreis, sei es literarisch oder in der Musik, die es ermöglichen, dem höchst individuellen Schmerz eine fremde Stimme zu geben und ihn so im gemeinsamen Hören zu teilen und vor Gott zu bringen. Der Musik und den Texten haftet oftmals etwas Rohes an, der physische und der seelische Schmerz strahlt hindurch und wird aus der Beziehungslosigkeit herausgehoben und in Gemeinschaft hineingestellt ist, ohne dass überbordende Interpretationen gegeben werden müssten. Es ist immer noch ein Lernfeld für das seelsorgliche Handeln, dem Schmerz im Raum des Pathischen eine Gestalt und einen Ort zu geben. Der unaussprechliche Schmerz kann nicht nur im Schrei, sondern manchmal auch im Schweigen zum Ausdruck kommen. Auch die Gestaltung des Schweigens in der Seelsorge ist eine Kunst, die eingeübt werden muss.91

90 Vgl. zur Deutung des Schmerzensschreis in den Klageliedern Ulrike Bail, „Die verzogene Sehnsucht hinkt an ihrem Ort“: Literarische Überlebensstrategien nach der Zerstörung Jerusalems im Alten Testament, Gütersloh 2004. 91 Vgl. zur Entwicklung von Bausteinen für eine Hermeneutik des Schweigens im poimenischen Interesse Ellen Stubbe, Jenseits der Worte: Gebet, Schweigen und Besuch in der Seelsorge, Zürich 2001, 36–65 sowie aus religionsphilosophischer Perspektive Karmen MacKendrick, Immemorial Silence, New York 2001.

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Scham- und Schuldgefühle: Entblößung und Schutz Das Pathische drückt sich in verschiedenen Formen der Affizierung des Leibes aus, der Schmerz ist hier nur eine Ausdrucksform. Weitere Gefühle, die diese Qualität haben und die in Seelsorgesituationen eine zentrale Rolle spielen, sind z. B. Scham- und Schuldgefühle.92 Aber auch Gefühle wie Freude und Dankbarkeit als positive Ausdrucksformen von Durchlässigkeit und Berührbarkeit gehören zum affektiven Phänomenbereich der Vulnerabilität. Es soll im Folgenden keine umfassende praktisch-theologische Affektenlehre vorgelegt werden, sondern die pathische Dimension der Affekte im poimenischen und theologischen Interesse skizziert werden.93 Dabei wird insbesondere auf die leibphänomenologische Interpretation rekurriert und besondere Aufmerksamkeit den Scham- und Schuldgefühlen gewidmet.94 Das Schamgefühl ist ein Affekt, der sich unmittelbar leiblich ausdrückt, z. B. im Herzklopfen oder klassisch im Erröten des Gesichtes; im Bedürfnis das Gesicht zu verhüllen oder den Blick zu senken. Das Ausmaß von Schamgefühlen kann von flüchtiger Anwandlung bis zu tiefster Beklommenheit reichen. Letztere bezeichnet Thomas Fuchs als „brennende Scham“; diese tritt auf, wenn sich der Beschämte gänzlich den Blicken der Anderen ausgeliefert fühlt. Die brennende Scham produziert das Leibgefühl zu schrumpfen, man möchte in den Boden versinken, ist erstarrt und wie gelähmt.95 Schamgefühle können entstehen, wenn jemand das Gefühl hat, sich lächerlich gemacht zu haben. Das Gefühl der Lächerlichkeit ist oftmals an die Leiblichkeit gebunden und damit an Verhalten, das als ungeschickt, übertrieben, unangemessen oder künstlich wahrgenommen wird. Es kann aber auch an die binären 92 Ein weiterer Affekt, der beispielsweise in den leibphänomenologisch ausgerichteten Pflegewissenschaften diskutiert wird, ist der Ekel. Vgl. Uzarewicz/Uzarewicz, Das Weite suchen, 121–126. 93 In jüngster Zeit zeigt sich ein verstärktes Interesse an den Emotionen in der Praktischen Theologie. Hier sei beispielhaft erwähnt Lars Charbonnier et al. (Hg.), Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen, APTh Bd.75, Göttingen 2013. 94 In der theologischen Diskussion gibt es eine relativ breite Debatte zum Thema Schamgefühl, vgl. z. B. Christina-Maria Bammel, Aufgetane Augen – Aufgedecktes Angesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch, Öffentliche Theologie Bd.19, Gütersloh 2005; Kristian Fechtner, Diskretes Christentum. Religion und Scham, Gütersloh 2015; Stephen Pattison, Shame. Theory, Therapy, Theology, Cambridge (UK) 2000; Daniela Haas, Das Phänomen Scham. Impulse für einen lebensförderlichen Umgang mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht, Religionspädagogik innovativ Bd.4, Stuttgart 2013. 95 Vgl. Thomas Fuchs, Scham, Schuld und Leiblichkeit. Zur Phänomenologie und Psychopathologie reflexiver Affekte, in: Dirk Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hg.), Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg/München 2007, 243–270.

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Konstruktionen von Körperlichkeit gebunden sein, mit denen Menschen zu Behinderten und Kranken gemacht werden. Im Blickspektakel der Schamgefühle, das Peinlichkeit und Lächerlichkeit auslöst, geschieht die „Korporifizierung“ als Verobjektivierung der lebendigen präreflexiven Leiblichkeit, in der ein Mensch sich selbst als Beschämter erkennt und die Perspektive der Anderen auf den eigenen Leib das eigene Selbstbewusstsein konstituiert.96 Die „Rötung und Wärme des Gesichts, also die ‚brennende Scham‘ korrespondiert dem peinlichen Erblicktwerden: der Blick des Anderen wirkt in der Scham förmlich wie ein heißer Strahl; der Sich-Schämende steht im Sinne des Wortes im ‚Brennpunkt‘ der Aufmerksamkeit. Dies bedeutet, daß der Leib das Gesehenwerden in sich aufgenommen hat, daß sein Entblößtsein als Körper vor dem Blick des Anderen Teil seines Spürens geworden ist. Die Scham ist der inkorporierte Blick des Anderen.“97 Im Beschämtwerden wird das unmittelbare, unbefangene Leib-Sein-Zur-Welt zerstört. Die präreflexive, nicht bewusst wahrgenommene Leiblichkeit verschwindet aufgrund einer sich vollziehenden Dissoziation, in der Erleben und Wahrnehmen voneinander getrennt werden: „der Sich-Schämende verdoppelt sich, indem er sich ‚von außen‘ als Beschämter wahrnimmt, also gleichzeitig der Gesehene und der Sehende ist. Das Subjekt sieht gleichsam aus den Augen der Anderen seinem lächerlich gewordenen beschämten leiblichen Selbst zu.“98 Das Schamgefühl kann entsprechend als Basis aller reflexiven Gefühle verstanden werden, die die Unterscheidung von Leib-Sein und Körper-Haben in Gang setzt. In der Aufspaltung oder Korporifizierung geschieht die elementare Form der Selbstentwertung. Sich aus den Augen der Anderen in der beschriebenen Weise wahrzunehmen, kann im schlimmsten Falle einer Nichtungs-Erfahrung gleichkommen. Diese korrespondiert mit dem leibeigenen Spüren der Schrumpfung, das aufgrund der erlebten Entblößung entstehen kann. Dieses Erleben ist ausgedrückt in Sätzen wie „Ich möchte im Erdboden versinken.“ Angesichts der beschriebenen Entblößungserfahrung erscheinen die spontanen Impulse, sich verstecken, verschwinden oder sich verhüllen zu wollen, als durchaus angemessen. Eine grundlegende Dimension von Vulnerabilität ist hier angesprochen: auf die Erfahrung des Ausgesetztseins (exposure) 99 folgt das Verlangen nach Schutz in Form von Distanzwahrung, Verhüllung oder Verlassen des Ortes der Entblößung. Die Scham kann also in konstruktiver Weise als

96 97 98 99

Vgl. aaO., 246. AaO., 248. AaO., 250. Vgl. hierzu Kap.1.

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Wächterin über unser intimes Selbst fungieren, die die Vulnerabilität mit einem Schutzmantel umgibt.100 Es gibt aber auch die negativ empfundene Seite der Scham, die als Beschämung beschrieben werden kann. Sich die Ambivalenzdynamiken im Hinblick auf die Scham zu vergegenwärtigen, ist meines Erachtens besonders wichtig für die Seelsorge. Grundsätzlich gilt: Schmerzliche Erfahrungen wie gedemütigt, bloßgestellt, erniedrigt, aber auch übersehen und verlassen zu werden, macht fast jeder einmal in seinem Leben. In der Regel entwickeln Menschen Mechanismen, die helfen, mit diesen Erlebnissen konstruktiv umzugehen. Allerdings kann die wiederholte, massive Abwertung der eigenen Person nachhaltig wirken, sie beschädigt das Selbstwertgefühl. Mit der Zeit bildet sich eine Schamidentität heraus, in der sich die zunächst situativ gebundenen leiblichen Regungen in der Gefühlswelt verstetigen und so identitätsbildend wirksam werden. Dies führt zu einem Lebensgefühl, das in unterschiedlichen Schamreaktionen zum Ausdruck kommen kann. Einige typische Beispiele hierfür sind:101 Die Anpassungs- oder Konformitätsscham, die entsteht, wenn Menschen das Gefühl haben, bestimmten Normen und Erwartungen ihres sozialen Umfeldes nicht entsprechen zu können. Dieses Gefühl tritt oftmals bei Menschen auf, die im Laufe ihrer Berufsbiographie Zugänge zu anderen Milieus erlangen, die ihnen durch ihre familiäre Herkunft zunächst verschlossen waren. Erwartete Verhaltensregeln nicht zu beherrschen (Tischsitten, Höflichkeits- und weitere Kommunikationsformen etc.), klassische Musik nicht zu kennen, als Person mit schlechtem Geschmack wahrgenommen zu werden, all dies kann eine Konformitätsscham auslösen.102 Diese Form des Schamgefühls taucht selbst dann auf, wenn dasjenige, was die Schamreaktion auslöst, von anderen unbemerkt bleibt oder als problemlos erscheint. Die Anpassungsscham kann auch auftreten, wenn Kinder ständig damit beschäftigt sind, die Liebe und das Wohlwollen der Eltern erlangen zu wollen, und dieses Verlangen nie befriedigt wird. Die in diesem Ringen entstehenden verinnerlichten Idealbilder verweisen auf die internalisierten Blicke, die das eigene Selbstbild maßgeblich prägen, wobei die Spur des fremden Blicks, die sich in unserem Innenleben festgesetzt hat, oftmals gar nicht 100 M.E. ist es kein Zufall, dass die Darstellung Marias als „Schutzmantelmaria“ für viele Christinnen und Christen bis heute eine Faszination hat. Maria, die Mutter des Gottessohnes, öffnet ihren blauen Mantel und hinein schlüpfen die Menschen, die Armen und Beschämten, die Schutz bei ihr suchen. Die Funktion der Scham als Wächterin über das intime Selbst unterstreicht insbesondere der Psychoanalytiker Leon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin 1990, 150.122. 101 Vgl. zur folgenden Differenzierung von Qualitäten der Scham Dagmar Zobel, Scham in der Seelsorge, WzM 65 (2013), 3–18. 102 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982.

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mehr ursächlich identifizierbar ist. Die Blickachsen, in denen sich die Schamgefühle entfalten, haben auch viel mit Innenbildern zu tun. In diesem Zusammenhang merkt Joachim von Soosten an: „Wir wissen, dass wir den Blicken anderer ausgesetzt sind. Zugleich wissen wir aber nicht, welche Blicke es sind, die uns da treffen. Diese Situation sorgt dafür, dass wir uns keine Blöße geben wollen. Scham und das Gefühl der Scham zeigen an, wie prekär dieses Verfahren aus Selbstbehauptung und Schutz (‚sich schützen‘ durch Selbstverbergung) sein kann. Äußeren Blicken – heute heißen sie die so genannten ‚Follower‘, um die wir werben – können wir entkommen. Aber im Theater der Selbstwahrnehmung oder des Selbstgefühls kann sich die exponierte Lage von innen her aufspielen. Hier kommen die Innenbilder ins Spiel, imaginativ und real zugleich: Das Selbstbild, wie es aus der Identifikation mit anderen, geliebten und gefürchteten Personen herrührt, das Idealbild, wie ich es als Bild meiner selbst vor mir her trage, das Fremdbild als das Auge der Erwartungen an mich, die ich gar nicht selbst erblicken noch ermessen kann. […] Was bedeutet diese exponierte Lage nun für das plötzliche Auftreten der Scham? Scham zeigt eine Störung und eine Konfliktgeschichte an. In der Scham melden sich idealisierte und überbewertete, geschaute und erfühlte Bilder an, an denen man sich nicht mehr messen kann. Am liebsten würde man sich vor diesen Bildern verstecken, verbergen, in den Boden versinken. Das Spiel gespielter Selbstbehauptung und Authentizität misslingt. Schwächen und Makel kommen ins Spiel.“103 Eine zweite Variante ist die Schamangst oder die antizipierte Scham. Sie beschreibt die Angst davor, in bestimmten Stresssituationen oder exponierten Momenten, in denen Menschen mit einer Gruppe von Zuschauenden konfrontiert sind, bloßgestellt werden zu können und sich lächerlich zu machen. Die in diesem Zusammenhang auftretende Schamreaktion drückt sich beispielsweise im Lampenfieber, der Prüfungsangst und in weiter reichenden Versagensängsten aus. Die Schriftstellerin Nora Lachmann gibt ein klassisches Beispiel für eine Ursprungsszene, aus der heraus Schamangst erwachsen kann. Die Szene, auf die sie sich bezieht, beschreibt die Bloßstellung durch ihren Musiklehrer Herrn Förster, der sie vor ihrer Klasse lächerlich macht, indem er sie aus der Gruppe herausruft und als „Falschsängerin“ enttarnt: „Da ist ein falscher Ton! Der Gesang erstarb, wir warteten. Ich trocknete meine schweißigen Hände am Saum des Faltenrocks. […] Herr Förster kam näher […] Sing mal alleine! Die Stimmgabel ertönte, ich setzte ein, verstolperte mich mit der Stimme, brach ab. Meine Gesichtshaut war seltsam taub, weggetaucht hörte ich verschwommen einen Ton. […] Ein enttäuschter Seufzer von Herrn Förster. Erkältet, was? Geh auf deinen Platz! Sing 103 Joachim von Soosten, Schämen. Vortrag an der Universität Münster 20. 11. 2014, unveröffentlichtes Manuskript, 3.

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lieber nicht mehr mit! Der Weg zurück war lang. Hinter mir kicherte es. […] Mein Körper stand in Flammen.“104 Eine weitere Ausdrucksform ist die Gewissensscham; hier ist die Nähe zum Schuldgefühl evident. Die Gewissenscham taucht auf, wenn Menschen das Gefühl haben, einem anderen etwas schuldig geblieben zu sein oder selbst schuldig geworden zu sein. Insbesondere in intimen Beziehungen zwischen Partnerinnen oder zwischen Eltern und Kindern taucht oftmals das Gefühl auf, dem Anderen etwas schuldig geblieben zu sein, z. B. Aufmerksamkeit, Zuwendung, Unterstützung oder Liebe. Das Gefühl der Schuld bezieht sich dagegen auf begangenes Unrecht, eine Grenzüberschreitung, die eine Person selbst begangen oder beobachtet hat. Liegt die Erfahrung der Erstarrung oder der peinlichen Entblößung durch den Blick des Anderen dem Schamgefühl zugrunde, ist es die Erfahrung der Trennung und des Ausgestoßenseins aus der Gemeinschaft aufgrund begangener Schuld, die das Schuldgefühl grundiert. Auch beim Schuldgefühl existiert die Diastase von Leib und Körper. In der Korporifizierung entsteht das Gefühl, eine schwere Last tragen zu müssen. Ein Beklemmungsgefühl in der Gegend des Brustkorbs oder eine Zentnerlast belasten die Seele. Beschwerung, Hemmung und Verlangsamung sind Wörter, die das Leib-Sein-Zur-Welt beschreiben: „diese Hemmung und Schwere entspricht dem Haften der Schuld an der Vergangenheit. Der Schuldige grübelt über seine Motive und wiederholt seine Tat in der Erinnerung. Er bleibt von der lebendigen, unbefangenen Gegenwart ausgeschlossen. Die Schuld lässt nicht nach wie die Scham außerhalb der beschämenden Situation; sie begleitet den Schuldigen, entbindet ihn auch über die Ferne hinweg an seine Schuldner oder sein Opfer.“105 Dieses elementare leibgebundene Schulderleben kann als Vorform eines verinnerlichten Schuldgefühls verstanden werden, in dem sich die Stimme der Eltern zu Gehör bringt und darin Missbilligung und Verurteilung im Hinblick auf begangene Normüberschreitung zum Ausdruck gebracht wird.106 Während das 104 Nora Lachmann, Böse Menschen haben keine Lieder, in: Sigrun Casper/Klaus Brendl (Hg.), Konkursbuch 43. Zeitschrift für Vernunftkritik: Scham, Tübingen 2005, 137ff. Zit. nach Haas, Das Phänomen Scham, 15. 105 Fuchs, Scham, 253. 106 In der klassischen psychoanalytischen Deutung nach Freud löst die Übertretung einer durch die Vater-Figur vermittelten Norm das Schuldgefühl aus, wobei die Entstehung von Schuldgefühlen die klare Unterscheidung von gut und böse, richtig und falsch voraussetzt. Ob eine Norm wie „Du sollst nicht stehlen“ tatsächlich ein Schuldgefühl bei Übertretung freisetzt, hängt von der Besetzung der Gewissensstruktur ab. Freud entwickelte hierfür das Konzept des Über-Ich, in dem verinnerlichte Wertmaßstäbe, die Angst vor Strafe bzw. der Wunsch das Wohlwollen der Eltern zu erreichen, angesiedelt sind. Das autoritär strukturierte Über-Ich kann dabei von der Angst vor dem strafenden Vater okkupiert sein, diese Angst kann auch religiös grundiert sein. Phantasie und Realität können gleich stark besetzt

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Schamgefühl mit Blicken und Gesehenwerden in Verbindung gebracht werden kann, ist das Schuldgefühl auf die innere Stimme bezogen. Der inkorporierte Blick der anderen, der sich im Schamgefühl ausdrückt, ebenso wie die innere Stimme, die sich im Schuldgefühl meldet, bilden die Grundlage für die Ausbildung eines reflexiven Selbstbewusstseins, in der das Subjekt sich auf sich selbst bezieht. Diese Form der Korporifizierung, in der vorausgegangene Beziehungserfahrungen internalisiert sind, findet in der Ausbildung des Gewissens eine starke introspektive Ausrichtung: „Das Gewissen ‚bezeugt‘ die Schuld; vor seinem ‚Ruf‘, seiner ‚Stimme‘ hat man sich selbst zu ‚verantworten‘ wie vor einem Gerichtshof. Damit stehen sich eine Rechenschaft fordernde und eine Rechenschaft ablegende Instanz im eigenen Innern gegenüber.“107 Scham und Schuld werden in der Gewissensbildung zu Regulationsinstanzen in interpersonalen Beziehungen. Die Scham schützt vor Entblößung und Ausgesetztsein, das im Gewissen operierende Schuldgefühl kann eine Schutzfunktion gegenüber der Verletzung der Anderen ausüben. Als affektiver Ausdruck menschlicher Vulnerabilität sind Scham- und Schuldgefühle oszillierende Phänomene, die lebensförderlich sein können, aber unter Umständen auch pathologische Züge annehmen können. Pathologische Schamgefühle können sich beispielsweise als Dysmorphophobie (Körperschemastörung), als sensitiver Beziehungswahn oder als Paranoia zeigen.108 Scham- und Schuldgefühle sind leib-körperlich situiert und in kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten verortet. Seelsorgerinnen und Seelsorger sollten sich damit auseinandersetzen, in welchem lebensweltlichen Zusammenhang Scham- und Schuldthematiken besonders intensiv strukturell verankert sind und zugleich oftmals als eigenes Verschulden empfunden werden. So bergen beispielsweise länger anhaltende Erwerbslosigkeit sowie der Umgang mit Armutsphänomenen ein enormes Beschämungspotenzial; strukturelle ökonomische Krisen werden oftmals als individuelles Versagen erlebt. Schamgefühle können dabei schon in frühester Kindheit entstehen.109 Ein weiteres kulturell situiertes Phänomen ist die medial vermittelte unverblümte Erniedrigung als Entertainment, z.B. in der Fernsehunterhaltung in Casting- und sein. Die Phantasie, den eigenen Ehemann zu betrügen, kann mit denselben intensiven Schuldgefühlen besetzt sein wie das tatsächliche „Fremdgehen“. 107 Fuchs, Scham, 254f. 108 Zur Beschreibung dieser Krankheitsbilder siehe aaO., 257f. 109 Vgl. hierzu Undine Zimmer, Meine Hartz-IV-Familie, ZEITmagazin Nr. 41/2011, www.zeit.de/ 2011/41/Hartz-IV-Familie, 3–4 (Stand: 14. 09. 2015); Erfahrungsbericht in: Fluter. Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, Die Scham der Armut. Arm aufzuwachsen bedeutet auch: sich zu schämen, www.fluter.de/de/117/erfahrungen/11171/ (Stand: 14. 09.2015). Sowohl soziologische Studien als auch Erfahrungsberichte beschreiben, dass Kinder im Kindergarten eher verbergen, dass sie Hunger haben als zuzugeben, dass die Eltern wieder kein Frühstücksbrot mitgegeben haben.

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Talk-Shows aber auch in Social Media bis hin zum sogenannten Cyber-Mobbing.110 Im Cyber-Mobbing ist aufgrund der möglichen Wahrung der Anonymität der Täter die Schwelle besonders gering, andere Menschen zu diffamieren, zu bedrohen oder lächerlich zu machen. Die Schamgefühle, die dabei bei den Opfern ausgelöst werden, können besonders destruktiv wirken, weil die virtuelle Welt des Netzes als grenzenlos erscheint. Beschämende Fotos können von einer Vielzahl von Menschen angeschaut werden und können den Ruf einer Person verletzen. Die Konfirmandenarbeit sowie die Schule sind Orte, in denen mit Jugendlichen über diese Themen gesprochen werden kann. In solchen Gesprächen muss es m. E. um die Kultivierung der schützenden Funktion der Scham gehen, die im Einhalten von Grenzen und im Respekt der Würde des Anderen besteht. Dabei gilt es, insbesondere das Beschämungspotenzial von Bildern im Netz zur Sprache zu bringen.111 Darüber hinaus gehörten öffentliche Beschämungsrituale über viele Jahrzehnte zu den zweifelhaften pädagogischen Praktiken im deutschen Schulwesen. Die öffentliche Bloßstellung von Schülerinnen und Schülern sollte zu mehr Disziplin und Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen anleiten. Ältere Menschen, die heute in Kirchengemeinden aktiv sind, haben das noch erlebt: Eselsbänke, Schandbilder, in der Ecke stehen, Fingernägel vorzeigen etc. Diese und andere „Besserungsmittel“ wurden in Schulen eingesetzt; ihre Opportunität und Effizienz wurde in der deutschsprachigen Pädagogik seit dem 19. Jahrhundert diskutiert.112 Die Diskussion, inwiefern in Maßen erlebte Schamgefühle in Lernprozessen einen Ansporn in der Leistungsstimulierung zu geben vermögen und entsprechend der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung dienlich sind, ist bis heute zu keinem Ende gekommen.113 Auch Angewiesenheit und Bedürftigkeit, die insbesondere in Pflege- und Krankheitssituationen zum Ausdruck kommen, sind schamanfällig, weil zum einen der Autonomieverlust schmerzlich realisiert wird, zum anderen weil diese besonders anfällig für Grenzüberschreitungen machen. Im Hinblick auf die Pflege alternder Menschen kann beobachtet werden, dass diese oftmals ein

110 Vgl. Ilona Nord, „Jetzt steht es im Netz!“ – Cybermobbing als Thema im RU. Über Lernprozesse, die die religiöse Dimension der Wirklichkeit erschließen, in: dies./Swantje Luthe (Hg.), Social Media, christliche Religiosität und Kirche. Studien zur Praktischen Theologie mit religionspädagogischem Schwerpunkt, Jena 2014, 227–238. 111 Vgl. zur Thematik grundsätzlich Haas, Das Phänomen Scham. 112 Vgl. zur Geschichte von Scham und Beschämung als Erziehungsmethode im deutschen Schulwesen Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Historische Geisteswissenschaften, Frankfurter Vorträge Bd.4, Göttingen 2013, 37f. 113 Vgl. hierzu besonders die Thesen von Micha Hilgers, Interview: „Scham ist durchaus positiv“, Psychologie heute 5 (2006), 54.

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Distanzbedürfnis haben, in dem sich eine Schamhaftigkeit ausdrückt, die als demütigend empfundene Hilfestellungen abwehren soll.114 Diese sporadische und unvollständige Aufzählung verdeutlicht, wie vielfältig die Schamthemen und -reaktionen sind, die potenziell in der Seelsorge im Raum stehen können. Deutlich ist auch geworden, dass Schamgefühle und Vulnerabilitätsphänomene eng aufeinander bezogen sind. Dabei greifen situative und fundamentale Verletzlichkeit wieder ineinander. In den Blickachsen, in denen das Leib-Sein-Zur-Welt eingespannt ist, entsteht immer wieder in unterschiedlicher Qualität das Erleben leiblicher Exponiertheit.

Poimenische und theologische Resonanzen In der Seelsorge müsste es folglich zunächst darum gehen, sich für den pathischen Charakter von Scham- und Schuldgefühlen zu sensibilisieren. Hier handelt es sich um Gefühlslagen, von denen Menschen heimgesucht, überschwemmt oder berührt werden. Sie können nicht einfach „weggeredet“ oder durch schnelle Ratschläge bereinigt werden. „In der Scham befinden wir uns in der Kernzone des Pathischen: sie unterhält in sich selbst einen intimen und diskreten Kontakt zur Logizität, sie hat eine eigene Vernunft in sich. Und ebenso auch intim ist ihr Kontakt zum Ethos, sie trägt etwas aus für die Orientierung unseres angefochtenen Gewissens über die Ordnung der Welt. […] Schamgefühl und das Gefühl für Unrecht (die Bande aus Scham und Rechtsgefühl) – das, an denen alle in gemischten Gefühlen teilhaben – hängen eng zusammen. Diese drei Kennzeichen – Exponiertheit, Fragilität und Widerrede – brauchen wiederum Schutz.“115 Das Pathische in den Scham- und Schuldgefühlen wirkt auf die Logos- und die Ethos-Dimension ein. Im Schamgefühl melden sich der Protest und der Widerspruch gegen die Verletzung der Intimsphäre, gegen Grenzüberschreitungen und Respektlosigkeit, die in Beschämungsritualen geschehen. Die Bearbeitung von Schamgefühlen, die beim Zusehen von Gewalt entstehen, kann dazu verhelfen, die Beschädigung des eigenen Wertesystems kritisch-konstruktiv zu reflektieren und die Mechanismen, die eine apathische Zuschauerhaltung befördern, zu verstehen und zu transformieren. Die Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen kann einen Beitrag zur Reflexion darüber leisten, inwiefern die Affekte auf die Umsetzung moralischer Normen Einfluss haben; sie kann Verhaltensänderungen einleiten und eine befreiende Wirkung haben. In der Seelsorgepraxis führt die Auseinandersetzung mit den Beschädigungen, die in Beschämungsszenarien entstehen, auch zu der Frage, welche le114 Vgl. hierzu Katharina Gröning, Entweihung und Scham. Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen, Frankfurt a.M. 1998, 100. 115 Von Soosten, Schämen, 10.

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bensförderlichen Ressourcen kultiviert werden können. Entsteht Scham als eine Reaktion auf die Missachtung der eigenen Person, so entsteht die Frage nach den Ausdrucksformen von Achtung und Anerkennung, die heilsam wirken können. Ist sie Ausdruck einer Grenzüberschreitung und Verletzung der Intimsphäre, so taucht das Thema der Wahrung von Distanz und Respekt als Schutzraum auf. Werden Menschen von Schamgefühlen gepeinigt, weil sie sich beispielsweise aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe in einer bestimmten Weise als korporifiziert in der Welt vorfinden, so besteht die Aufgabe darin, nach Formen zu suchen, die die Wunden sozialer Ausgrenzung mit der Zeit heilen lassen und zugleich das Umfeld herausfordern, sich mit den eigenen gewaltvollen Beschämungspraktiken auseinander zu setzen. Treten Scham- und Schuldgefühle aufgrund der Verletzung des eigenen Wertesystems auf, geht es um eine ehrliche und konstruktive Auseinandersetzung mit den eigenen Mechanismen, die eine apathische Zuschauerhaltung in Gewaltkontexten generieren. Scham- und Schuldgefühle in der beschriebenen Weise in einer Theologie der Seelsorge aufzugreifen, bedeutet danach zu fragen, welche Metaphern, Narrative sowie rituelle Praxen eingespielt werden können, in denen die Themen der Anerkennung, des Respektes, des Schutzraumes sowie der substanziellen Heilung sozialer Wunden eine Gestalt finden können. Diese Ressourcen können aber nur dann wirklich fruchtbar werden, wenn in ihnen der Spur des Pathischen, die in allem nachzuvollziehen ist, Raum gegeben wird. In der christlichen Seelsorgepraxis haben wir zwar Rituale zur Verfügung, z. B. in der Beichte, die sich explizit den Schuldgefühlen zuwenden.116 Ein explizites Entschämungsritual gibt es indes nicht. Kristian Fechtner weist vielmehr auf die Nuancen des Schamgefühls hin, die sich beispielsweise an die Teilnahme am Abendmahl anlagern können, wie Verlegenheit, Peinlichkeit oder Scheu: „Die Gottesdienste des volkskirchlichen Christentums sind alles andere als schamfreie Zonen.“117 Welche theologischen Überlegungen können nun die Seelsorgepraxis im Hinblick auf die Scham weiter grundieren? Es geht in grundlegender Weise darum, Gott im Bündnis zu denken. Dies kann in evangelischer Perspektive geschehen, indem das Theologumena von der Rechtfertigung sowohl als theologische Anerkennungsfigur als auch in ihrer pathischen Qualität in der Rede von der iustitia passiva oder besser receptiva entfaltet wird. 116 In der christlichen Tradition wurde das Beicht- und Vergebungssritual in der scholastischen Tradition als Reue des Herzens (contritio cordis) verstanden. Es bestand aus zwei Teilen: der confessio oris, dem mündlichen Bekenntnis der eigenen Schuld, dem der Kampf mit der Erinnerung vorausgeht, und der satisfactio operis, den Taten der Genugtuung oder der Wiedergutmachung. Vgl. zur Geschichte der Beichte Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen 2000, 53–56. 117 Fechtner, Diskretes Christentum, 126.

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Gott affektiv und politisch im Bündnis mit den Menschen zu denken, bedeutet, die Botschaft von der überströmenden, unverlierbaren Liebe Gottes und sein Bleiben im Bündnis mit den Menschen so auszurichten, dass sie der Schamangst diametral gegenüber steht, die sich vor der Bestrafung für vermeintlich ungehöriges Verhalten, Verwerfen und Verlassenwerden fürchtet. Dabei zeigt sich insbesondere in der Rede von Kreuz und Auferstehung Christi Gottes radikale Solidarität mit den Beschämten. Die narrative Kreuzestheologie der Evangelien kann als Inszenierung verdichteter Beschämungserfahrung gelesen werden, in der sich die Vulnerabilität Christi in besonderer Weise zeigt: im Verrat, der Verleumdung, Verspottung, Verhöhnung, im Verlassenwerden, im Zurschaustellen des nackten, verletzlichen Körpers. Die Beschreibung der Passion unter dem Stichwort der Scham macht die Blicke auf den Gekreuzigten im Resonanzraum der Entblößung sichtbar. Zugleich zeigt sich in Jesu Klage die Erfahrung, aus der Welt zu fallen, in der Realisierung absoluter Gottverlassenheit.118 In dieser Linie lässt sich die Geschichte von der Auferweckung Jesu Christi als Gottes unbedingte Solidarität mit den Beschämten verstehen. Der entblößte und zur Schau gestellte Leib ist nicht das letzte Bild, das die Evangelien zeigen. Der Leib des Auferstandenen hat eine grundlegende Verwandlung erfahren: ein neues Leben jenseits der Scham. Die Auferweckung Christi kann vor dem Horizont der Schamthematik auch als Aufrichten des Entblößten verstanden werden, der im Raum der Neuschöpfung von der doxa Gottes umhüllt, erscheint. Insbesondere in den eschatologischen Sequenzen der paulinischen Theologie wird immer wieder betont, dass auch wir auferstehen werden, so wie Christus auferstanden ist (1Kor 15,12–22). Im Kontext der Schamthematik kann die Botschaft von der Auferstehung Jesu entsprechend als Verheißung eines Lebens jenseits destruktiver Beschämung verstanden werden. Bruce Malina verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass in der griechisch-römischen Kultur des 1. Jahrhunderts n. Chr. das Thema Scham und Ehre einen zentralen Stellenwert innehatte. Das Streben nach Ehre als Ausdruck einer Reputation, die den sozialen Status innerhalb der sozialen Hierarchie im öffentlichen Raum reflektiert, war von großer Bedeutung. Demzufolge drückte sich im Schamgefühl die Sorge um die eigene Reputation aus; dabei ging es insbesondere um den Blick der Anderen auf das eigene Leben. Als schamlos galt, wer die gesetzten sozialen Grenzen innerhalb der Sklavenhal-

118 Vgl. hierzu auch Kap.4, den Abschnitt „Vulnerabler Christus“.

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tergesellschaft nicht akzeptierte.119 Auch Robert Jewett beschreibt die römische Kultur als geprägt vom Wettbewerb um Ehre und Ansehen. Die im Römerbrief entwickelte Vorstellung von Rechtfertigung kann seines Erachtens als Unterbrechung des gesellschaftlichen Strebens von Ehre und Ansehen verstanden werden: Alle Menschen gelten unabhängig ihrer Verortung in den sozialen Hierarchien in der Gesellschaft als Kinder Gottes und sind in derselben Weise von Gott im Leib Christi angesehen; im Leib Christi erhalten sie coram Deo einen neuen Status.120 In diesem Sinne ist das Evangelium nach gesellschaftlichen Maßstäben von Schamlosigkeit durchdrungen. Immer wieder betont Paulus, dass er sich dieses Evangeliums nicht schämt (Röm 1,16). Die paulinische Theologie von der Rechtfertigung allein aus Gnade hatte entsprechend vor dem beschriebenen Hintergrund der griechisch-römischen Gesellschaftsordnung, die auf einem System basierte, in dem der Wettbewerb um Ehre und Ansehen viele Beschämungsopfer produzierte, eine soziale Sprengkraft. Diese Sprengkraft im Horizont gegenwärtiger Gesellschaftsverhältnisse, die auf ihre eigene spezifische Art Beschämung strukturell produzieren, immer wieder neu zu rekonstruieren und lebensweltlich-affektiv zu plausibilisieren, erscheint gegenwärtig als eine der großen Herausforderungen seelsorglichen Handelns.121 Dabei geht es sowohl um den Aspekt der Anerkennung vor Gott als auch um die eher pathische Dimension des Angeschautwerdens, in der sich Subjektwerdung im Horizont der Responsivität zeigt. Menschliche Subjektwerdung realisiert sich im Erstrahlen des göttlichen Angesichts über der Person. So ist es beispielsweise im Aaronitischen Segen ausgedrückt, in dem sich die pathische Aura des göttlichen Blicks jenseits der Beschämung entfaltet.122 In diesem Sinne ist der Segen als das pathische Moment vor dem rituellen Ausgang im Gottesdienst „der Ort höchster Passivität. Es ist der tiefste Ort des Nicht-Ich und des Ich. Es ist der Ort an dem wir werden, weil wir angesehen werden; es leuchtet ein anderes Angesicht über uns als das eigene.“123 In diesem Angeschautwerden drückt sich göttliches Wohlwollen und liebevolle Zugewandtheit aus. Der im Segen artikulierte Zuspruch vermittelt die Gewährung von Lebenskraft, Glück,

119 Vgl. hierzu Bruce Malina, Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart 1993, 60. 120 Vgl. Robert Jewett, Romans: A Commentary, Minneapolis 2007, 551. 121 Vgl. zur Frage nach der Bedeutung der Rechtfertigungspredigt im Kontext gesellschaftlicher Entwertungserfahrungen auch Andrea Bieler/Hans-Martin Gutmann (Hg.), Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Zur Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008. 122 Num 6, 24–26: Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der HERR erhebe sein Angesicht zu dir und gebe dir Frieden. 123 Fulbert Steffensky, Die Grundgeste des Glaubens – Der Segen, in: ders., Das Haus, das die Träume verwaltet, Würzburg 31999, 29.

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Gedeihen, Schutz und Bewahrung: JHWH lasse leuchten sein Angesicht auf dich (Num 6,25a).124 Im Raum des Pathischen wird der Segen zum umhüllenden göttlichen Angesehenwerden jenseits der Entblößung. Symbolisch rituell wird ein Schutzmantel um die Scham gelegt. Zugleich ist im göttlichen Angesehenwerden auch ein Freiheitsmoment enthalten. Rituell wird dies ausgedrückt, indem die Gesegnete nicht berührt wird und so ein „Mindestabstand“ eingehalten wird: „Zwischen Segensakt und Segensempfang spannt sich ein (Frei-)Raum aus. Zum anderen scheint das Angesicht Gottes, so die Segensworte im Glauben Widerhall finden, im Segen durch, ohne dass es als Bild oder Gestalt ‚visualisiert‘ wird. Der Segensakt selbst markiert eine Differenz zwischen rituellem Akt und dem Akteur des Segens. Insofern bleibt das Angesicht Gottes im Segen ‚verhüllt‘. Die Augen Gottes werden eben nicht unmittelbar im Blick der Liturgin auf die Gemeinde sichtbar und spürbar, sondern vermittelt in Wort und Geste.“125 Beschämte Menschen brauchen in der Seelsorge einen Raum der bedingungslosen Wertschätzung, in dem mit der Angst vor der Entblößung liebevollsolidarisch und nicht analytisch-abschätzend umgegangen wird. „Die Kirche ist als Seelsorgebewegung ein Raum der bedingungslosen Wertschätzung.“126 Zugleich geht es aber auch um die Mobilisierung von Ressourcen, die Menschen dazu verhelfen, sich gegen Beschämungspraktiken zur Wehr zu setzen und sich von internalisierten Entwertungsmechanismen, die mit Schamgefühlen einhergehen können, zu lösen. Im Umgang mit Schuldgefühlen in der Seelsorge besteht die Logos-Dimension in der kritischen Unterscheidung zwischen adäquaten und inadäquaten Schuldgefühlen. Das bedeutet, Seelsorgesuchende in der Beantwortung der Frage zu unterstützen, inwiefern Schuldgefühle in einer nachvollziehbaren Verbindung zu einem schuldhaften Geschehen stehen oder auch nicht, inwiefern Verantwortung benannt und übernommen werden kann und auf angemessene Weise reagiert werden kann, z. B. durch Trauer, Verantwortungsübernahme, Reue, sowie dem Abwägen und Unterscheiden der verschiedenen am Geschehen beteiligter Faktoren. Eine unangemessene Reaktion kann beispielsweise in der Banalisierung bestehen („na ja, da habe ich einfach Pech gehabt, daran kann man doch nichts ändern“), diese könnte auf eine unterentwickelte Über-Ich oder Gewissensstruktur hinweisen.127 Sie könnte auch in der Dramatisierung im Hy124 Vgl. zur Theologie des Segens die grundlegende Studie von Magdalene Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 52005. 125 Fechtner, Diskretes Christentum, 90f. 126 Hans-Martin Gutmann, Und erlöse uns von dem Bösen. Die Chance der Seelsorge in Zeiten der Krise, Gütersloh 2005, 38. 127 Bei Menschen, die eine dissoziale Über-Ich Struktur aufweisen, sind Normvorstellungen oftmals schwach ausgebildet und kaum wirksam. Das Ziel in der Seelsorge besteht dann

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steriemodus bestehen („Ich wollte ganz und gar für ihn da sein, bis zum Ende!“); hier kann sich unter Umständen auch abgewehrte Aggression zeigen. Stattdessen gilt es, die Schuldnarrative soweit wie möglich zu konkretisieren: Inwiefern bin ich schuldig geworden? Wofür bin ich verantwortlich? Und wofür nicht?

Mitgefühle: Empathie und Differenzsensibilität Die Überlegungen zur Bedeutung des Pathischen in der Seelsorge sollen abschließend vertieft werden, indem danach gefragt wird, welche Haltung und Praxis in der Begegnung mit dem Pathischen kultiviert werden sollte. Dies führt uns in den Fragekomplex nach der Bedeutung der Empathie oder des Mitgefühls im seelsorglichen Handeln. Das Thema der Empathie ist mit den Überlegungen von Carl Rogers zur personenzentrierten Gesprächspsychotherapie zu einem Klassiker in der Seelsorgelehre geworden. Rogers benennt vor dem Hintergrund seiner langjährigen therapeutischen Arbeit drei Verhaltensweisen oder Haltungen, die das Ethos eines hilfreichen Gesprächs ausmachen; er identifiziert diese als Echtheit, Wertschätzung und Empathie.128 Unter Echtheit oder Authentizität versteht er eine Art von Transparenz, in der die Therapeutin ihre Gefühle durchscheinen lässt. In der Wertschätzung oder Akzeptanz einer anderen Person wird deren Singularität zum Ausdruck gebracht, die auf die besonderen Eigenheiten, den Wert und die Unverwechselbarkeit verweist. Darüber hinaus ist nach Rogers eine hilfreiche psychotherapeutische Gesprächssituation in einer empathischen Haltung grundiert: „Sich in die Wahrnehmungswelt eines anderen hineinzufinden ist unmöglich, solange man den anderen und seine Welt nicht schätzt − solange man sich nicht in irgendeiner Weise für ihn interessiert.“129 Unter Empathie versteht Rogers die Fähigkeit, in einer fremden Wahrnehmungswelt heimisch zu werden und sich darin für Veränderungen lebendigen Gefühlsausdrucks zu öffnen. Rogers’ Überlegungen reichen bis zu der Vorstellung, es sei möglich, in die Haut des anderen zu schlüpfen und somit zum zweiten Ich des Gegenübers zu werden. In dieser Form einer empathisch gestützten Selbstbegegnung liegt nach Rogers die entsprechend darin, Menschen zu helfen, schuldfähig zu werden. Narzisstische Persönlichkeiten sind von der Frage bewegt „Wie kann ich möglichst intensiv leben?“ Selbstentfaltung und -verwirklichung werden zum zentralen Lebensthema. Entsprechend ist die Aufgabe der Seelsorge, den Stress und die innere Leere, die mit Selbstfindungsprojekten verbunden sein kann, anzusprechen. 128 Vgl. Carl R. Rogers, Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart 1973, 47f. 129 Carl R. Rogers, Empathie – eine unterschätzte Seinsweise, in: Carl R. Rogers/R.L. Rosenberg, Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, Stuttgart 1980, 75–93: 87.

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Möglichkeit, seelisch neu zur Welt zu kommen, in dem durch die einfühlende Verstärkung der Gefühls- und Erlebniswelt ein Raum für die Auseinandersetzung mit den bisher abgedunkelten Anteilen im Seelenleben geschaffen wird. Was aber genau ist unter dem Phänomen der Empathie bzw. unter Mitgefühlen im weiteren Sinne zu verstehen? Die Frage nach der Bedeutung und Wirksamkeit der Mitgefühle spielt derzeit in vielen wissenschaftlichen Disziplinen eine zentrale Rolle. Die Empathieforschung ist ein weites Feld und reicht von der Philosophie bis zu den Neurowissenschaften. Die Diskussionslagen und Kontroversen können hier in der Kürze der Zeit nicht entfaltet werden. Folgende Fragen, die m. E. auch für die Seelsorgethematik wichtig sind, werden kontrovers diskutiert: Welche Bedingungen müssen vorliegen, damit Mitgefühle entstehen können? Sind diese biologisch verankert oder sozial erlernbar? Inwiefern führen diese zu prosozialem Verhalten? Sind Mitgefühle überhaupt notwendig für das Sorgen für Andere? Inwiefern lassen sich Mitgefühle verstetigen oder als Disposition beschreiben, die über eine akute Affizierung hinausgeht? Im Folgenden werden einige phänomenologische und theologische Überlegungen angestellt, die für eine Theologie der Seelsorge weiterführend sind. Um das Phänomenfeld der Mitgefühle besser abschreiten zu können, ist es hilfreich, mit der begrifflichen Unterscheidung von Mitgefühl/Empathie, Sympathie, Antipathie und Mitleid zu beginnen. Antipathie und Sympathie können als unmittelbare Modi der Affizierung verstanden werden; als Reaktionen, die vorreflexiv sind. In der alltagsweisheitlichen Wahrnehmung sprechen wir davon, dass der erste Eindruck zählt. Dieser kann im Falle der Sympathie auf Attraktion beruhen: Die Person ist mir sympathisch, oder auf Repulsion: Die Person stößt mich ab oder eine bestimmte Handlung oder Angewohnheit löst Widerwillen in mir aus. Der Begriff der Sympathie verweist eher auf den emotionalen Einklang, den man mit einem anderen Menschen erlebt oder auf die Attraktion, die eine andere Person ausübt. Während der sympathische Affekt auf teilnehmende Bezugnahme und Zuwendung oder gar Zuneigung zielt, bewirkt die Antipathie das Gegenteil. Sympathie und Antipathie schwingen in allen menschlichen Interaktionen mit, entsprechend auch in professionellen und in privaten Sorgebeziehungen. Für Seelsorgerinnen und Seelsorger ist die kritische Reflexion dieser Impulse insbesondere im Kontext asymmetrischer Sorge-Beziehungen eine wichtige Aufgabe. Die Empathie nimmt dagegen eine Zwischenstellung ein, sie scheint nicht so unmittelbar reflexhaft zu sein, mehr dazwischen zu schweben und auf das Verstehen im Sinne eines Nach- und Mitempfindens ausgerichtet zu sein. Auf der phänomenalen Ebene werden dabei sowohl kognitive als auch emotionale Aspekte miteinander verwoben: Kognitive Empathie lässt uns erkennen, was ein anderer fühlt. Neben der Erkenntnis der Gefühle kann es hier auch um die

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Erkenntnis der Intentionen und Handlungsmotive eines anderen gehen. In der emotionalen Empathie geht es um ein Nachfühlen der Gefühle des anderen.130 „Aus einer gewissen Entfernung hält die Empathie einen Zwischenbereich zwischen Selbst und Anderem aus – ein Bereich, in dem sich die Betroffenheit, das Pathos, das in der Begegnung steckt, mit der interessierten Eigenaktivität des Verstehenwollens verbindet. Während Sympathie auf Identifikation beruht und positive bzw. prosoziale Empathiegefühle (z. B. Mitleid oder Hilfsbereitschaft) induziert, basiert Antipathie auf einer ‚Alterifikation‘, einer abgrenzenden Veranderung des Anderen, wodurch negative bzw. antisoziale Empathiegefühle (z. B. Misstrauen und Neid) begünstigt werden.“131 Mitgefühle sind keine selbstbezüglichen Gefühle, wie z. B. der Schmerz oder die Scham. Sie sind intentional nach außen gerichtet und entzünden sich an der Wahrnehmung des Leides oder der Freude eines anderen oder einer Gruppe.132 Empathie ist relational ausgerichtet und bedarf zumindest einer Zweierkonstellation. Dabei fühlt eine Person niemals die Gefühle des anderen, sondern reagiert mit ihren Gefühlen auf das, was sie wahrnimmt. Eine tiefgreifende Kontroverse besteht in der Frage, wie die Grenzen der Empathie zu bestimmen sind, inwiefern es ein unmittelbares Mitempfinden mit einer anderen Person überhaupt geben kann, in dem identische Gefühle zum Ausdruck gebracht werden.133

130 Vgl. Paul Ekman, Gefühle lesen, München 2007, 249. 131 Thiemo Breyer, Empathie und ihre Grenzen: Diskursive Vielfalt und phänomenale Einheit, in: ders., (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, Übergänge Bd.63, München 2013, 13–42: 13f. 132 Vgl. zum Folgenden auch Christoph Demmerling/Hilge Landwehr, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, 186–188. 133 In der Beschäftigung mit diesen Fragen werden verschiedene Ansätze aus dem Feld der Kognitions- und der Emotionswissenschaft ins Spiel gebracht. Nach der Simulationstheorie werden intersubjektive Verstehensprozesse durch gedankliche Übertragung von Erfahrungen mit Hilfe von Analogieschlüssen erklärt. In der Theorie des mind reading wird die Kompetenz, die Gefühle oder Gedanken einer anderen Person zuzuschreiben, theorieartig strukturiert, d. h. man geht von gesetzesartigen Verallgemeinerungen aus, die auf einen anderen projiziert werden, und so wird dann ein Gefühl beim Anderen wahrgenommen. Wieder andere sprechen von einem affektiv-atmosphärischen Mitschwingen, wobei es im eigenen Gefühlsleben zu Resonanzen mit den Gefühlen des Anderen kommt. Leid oder Freude klingen im Gefühlsleben des Anderen nach, ohne dass das eigene Erleben ganz von Freude oder Traurigkeit ausgefüllt sein müsste. Ganz andere Gefühle können beim Mitschwingen im eigenen Erleben im Vordergrund stehen. Hermann Schmitz spricht in diesem Zusammenhang vom Mitgefühl als Ausläufer der Wellen fremden Leids, er betont das leiblich-affektive Betroffensein vom fremden Gefühl. Vgl. zur Bedeutung der verschiedenen Ansätze Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, Übergänge Bd.63, München 2013. Wie auch immer die Fähigkeit zum emotionalen und kognitiven inneren Mitgehen erklärt wird, was für die seelsorgliche Praxis relevant bleibt, ist die Auseinandersetzung mit der

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Der Empathie scheint insgesamt, so die These von Thiemo Breyer, die Aufgabe der Vermittlung zwischen Eigen- und Fremdperspektive zuzukommen. Um das Phänomen der Empathie in seinen verschiedenen Facetten tiefgreifender wahrnehmen zu können, schlägt er in phänomenologischem Interesse ein prozessorientiertes Modell vor, das vier Etappen umfasst: „(1) Von einem Erleben der primären interaktiven Einheit von Selbst und Anderem hebt sich zunächst ein (2) egozentrisches Erleben der intersubjektiven, das unter dem Vorzeichen der Andersheit des Anderen dann zu einem (3) allozentrischen Erleben der intersubjektiven Differenz wird, von wo aus schließlich in einem reflexiven Erleben dieser Differenz eine sekundäre interpersonale Einheit durch die Anerkennung der moralischen Gleichheit von Selbst und Anderem wieder hergestellt wird.“134 Diese Anerkennung der moralischen Gleichheit von Selbst und Anderem kann Mitleid hervorbringen. Das Mitleid oder, im religiös gefärbten Sprachgebrauch, die Barmherzigkeit, zielt auf den tätigen Aspekt, der der empathischen Reaktion entspringt. Das Mitleid umschreibt die prosoziale Ausrichtung empathischer Impulse. In der handlungsorientierten Anteilnahme am Leiden eines Anderen, die auf die Verbesserung seiner oder ihrer Lebenssituation zielt, schließen sich verschiedene Formen des Mitleids an. Zum christlichen Verständnis der Barmherzigkeit gehört aber auch die Vorstellung vom Tun der Werke der Barmherzigkeit jenseits des empathischen Impulses. Ich kann mir z. B. vornehmen, jeden Monat eine gewisse Portion meines Gehaltes an Pro Asyl zu spenden. Im konkreten Akt des Geldüberweisens bin ich aber vielleicht innerlich mit etwas ganz anderem beschäftigt. Die Praxis der Barmherzigkeit hängt in ihrer Verstetigung also nicht unbedingt an der unmittelbaren Affizierung, sondern an der Kultivierung eines religiös oder auch areligiös humanistisch motivierten Habitus bzw. an einer vorausgegangenen moralisch-ethischen Urteilsbildung. Die hier vorgeschlagene begriffliche Differenzierung kann auch für eine nuancierte Wahrnehmung der Phänomene dienlich sein. Um diese weiter zu vertiefen, sind die Unterscheidungen, die der Philosoph Max Scheler in seinem Werk über Wesen und Formen der Sympathie vorgenommen hat, weiterführend.135 Scheler unterscheidet vier Varianten: das unmittelbare Mitfühlen, das intentional gerichtete Mitgefühl an etwas, die bloße Gefühlsansteckung und die echte Einsfühlung. a. Das unmittelbare Mitfühlen verdeutlicht Scheler am Beispiel des Elternpaares, das gemeinsam bei der Leiche des eigenen Kindes steht und „denselben“ Frage der Reichweite der Empathie, insbesondere mit dem Zuviel sowohl an Nähe als auch an Ferne im Hinblick auf das Leiden und die Freude anderer Menschen. 134 AaO., 32. 135 Vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 21923.

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Schmerz fühlt. Dieses Mit-Einander-Fühlen geschieht sozusagen gleichzeitig und nebeneinander. „Das Leid des B wird dem A hier in keiner Weise ‚gegenständlich‘.“136 Diese Vergegenständlichung des Leidens geschieht erst, wenn beispielsweise ein Freund hinzukommt, das Leiden der Eltern wahrnimmt und mit ihrem Schmerz mitfühlt. Fehlt diese Ausrichtung auf den Schmerz oder das Leiden des anderen, sollte nach Scheler nicht vom Mitgefühl gesprochen werden. In der Seelsorge kann dies in akuten Krisen eine realistische Situation sein. Wenn die Betroffenen ganz und gar in ihrer eigenen Gefühlswelt gefangen sind, wird die hinzukommende Seelsorgerin als dritte Instanz zur Anwältin des Mitgefühls. b. Das Mitgefühl an etwas stellt für Scheler das Mitgefühl im eigentlichen Sinne dar, hier ist der intentionale Gehalt, das Leid, die Freude, das Gefühl des Anderen im Vordergrund. Das Leid des anderen wird durch Versuche des Nachfühlens und des Verstehens gegenwärtig. Es ist in kognitiver und in emotionaler Hinsicht ganz und gar auf die Freude oder das Leid der anderen ausgerichtet. Das Mitgefühl enthält das Leid des anderen als etwas vom eigenen Gefühl Unterschiedenes: „mein Mitleid und sein Leid sind phänomenologisch zwei verschiedene Tatsachen und nicht eine Tatsache wie im ersten Falle.“137 Das Mitfühlen muss nach Scheler also als eine Antwort mit eigenen Gefühlen auf den im so genannten Nachfühlen gegebenen Tatbestand des fremden Gefühls angesehen werden.138 c. Die bloße Gefühlsansteckung hingegen kann nach Scheler nicht als Mitgefühl verstanden werden: Sich anstecken lassen von einer freudigen oder einer traurigen Stimmung, von der Atmosphäre in einer Kneipe, im Gottesdienst, im Fußballstadion hat seines Erachtens nichts mit Mitgefühl zu tun. „In der bloßen Ansteckung werden die Gefühle des oder der anderen nicht gegenständlich, was das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung vom Mitgefühl ist. Die Differenz von Ich und Du ist konstitutiv für das Mitgefühl, nicht aber die Gefühlsansteckung, in der dieser Unterschied unerheblich wird.“139 „Vielmehr ist es charakteristisch für die Ansteckung, daß sie lediglich zwischen Gefühlszuständen stattfindet; und daß sie ein Wissen und die fremde Freude [oder das fremde Leid] überhaupt nicht voraussetzt.“140 In der kirchlichen Praxis sind Trauungen und Trauerfeiern rituelle Orte, in denen das aufwallende Mitgefühl seinen Ort finden kann. In vielen christlichen Gemeinden, die ein hohes Maß an Affektkontrolle praktizieren, sind es die Kasualien, in denen der mimetischen Aufwallung ein legitimer Raum 136 137 138 139 140

AaO., 9f. AaO., 10. Vgl. hierzu auch Demmerling/Landwehr, Philosophie der Gefühle, 178. AaO., 179. Scheler, Wesen 12f.

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gegeben wird. Ein Angehöriger des Verstorbenen beginnt zu weinen, ein Prozess der Gefühlsansteckung beginnt, in dem die anderen Anwesenden auch involviert werden und auch zu weinen beginnen. Folgen wir der Unterscheidung Max Schelers, so kann das Moment der Ansteckung als Impuls für eine empathische Reaktion verstanden werden, die Tiefe des Mitgefühls ist damit noch nicht erreicht. d. In eine ähnliche Richtung verweist die so genannte echte „Einsfühlung“ als eine gesteigerte Form der Gefühlsansteckung: sich „eins fühlen“ mit der Masse im Fußballstadion, in der religiösen Ekstase, beim Singen, in der Liebe, beim Sex. Nach Scheler kann Einsfühlung in idiopathischer und in heteropathischer Weise zum Ausdruck gebracht werden. „D. h.: die Einsfühlung kann zustande kommen in der Richtung, daß das fremde Ich ganz durch das eigene aufgesogen wird – in es hereingenommen –, in seinem Sein und Sosein für das Bewußtsein sozusagen vollständig entsetzt und entrechtet wird; und sie kann zustande kommen, so daß ‚Ich‘ (im formalen Sinne) so von dem anderen Ich (im materiell individuellem Sinne) konsterniert und hypnotisch gefesselt und gefangen bin, daß an meine formale Ich-Stelle ganz das fremde individuelle Ich tritt mit allen ihm wesentlichen Grundhaltungen. Ich lebe dann nicht in ‚mir‘, sondern ganz in ‚ihm‘ (dem Andern, wie durch ihn hindurch).“141 Es ist kaum vorstellbar, dass die echte Einsfühlung in SorgeSituationen einen hilfreichen Ort haben kann, da die nötige Distanz und Differenzsensibilität für die Anliegen und die Gefühlslagen des Gegenübers keinen Raum bekommen oder, in den Worten Schelers, nicht vergegenständlicht werden können.

Zwischen Pathos, Ethos und Logos Das Mitgefühl oder die Empathie oszilliert im Raum des Pathischen und strahlt auf die Ethos- und die Logos-Dimensionen aus. Im Hinblick auf das Pathische gilt es zu fragen, was am Mitgefühl im Kontext der Seelsorge eine Widerfahrnisqualität hat. Es ist das Ergriffenwerden vom Leiden oder der Freude eines anderen als ein Gefühl, das eine Person überkommt, ohne dass sie es kontrollieren könnte. Dieses Ergriffenwerden kann mimetischen Charakter haben: Das Weinen eines Menschen lässt in einer anderen Person die Tränen aufsteigen.142 141 AaO., 17. 142 In der Diskussion um die Bedeutung der sogenannten Spiegelneuronen wird das Thema zur Sprache gebracht. Was genau Spiegelneuronen sind, geschweige denn welche Funktion ihnen zukommt, ist bisher nicht abschließend geklärt. „Die Zellen sind da, aber wozu sie gut sind und was sie machen, das wissen wir überhaupt nicht.“ David Poeppel, in: Werner Siefer: Die Zellen des Anstoßes, Seite 2/4: Zwischen Fantasie und experimentellen Beweisen

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Eine ähnliche Aufwallung kann auch stellvertretend geschehen: In der Mitarbeiterin des Diakonischen Werkes, die einen jungen Mann aus Syrien auf die Ausländerbehörde begleitet, steigt Wut auf, als sie die abschätzige Attitude der zuständigen Sachbearbeiterin wahrnimmt, die seinen „Fall bearbeitet.“ Sie fühlt Wut ob der von ihr wahrgenommenen Respektlosigkeit, der junge Mann hingegen bleibt in dieser Situation scheinbar ruhig und unbeteiligt. In ihrer Reaktion steckt eine Form des aufwallenden Mitgefühls, die stellvertretenden Charakter hat: sie fühlt etwas, was derjenige, der primär betroffen ist, nicht fühlt. Dieses Gefühl kann angestoßen werden, weil die Sozialarbeiterin Sympathie für den jungen Mann empfindet und weil in ihr eine komplexe Form der affektiven und prosozialen Perspektivübernahme stattfindet.143 Das Mitgefühl ist auch in der Sphäre des Ethos zu verorten. Im Raum der Religion geht es um die Ausbildung einer empathischen Haltung, um einen einfühlenden Habitus gegenüber denjenigen, die uns in ihrer Lebensfreude gegenübertreten und gegenüber denjenigen, die als hilfsbedürftig erscheinen. Die Empathiethematik bleibt dabei aber auf die größeren Themen der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe bezogen, die die Sphäre der situativ gebundenen, affektiven Regungen überschreitet. Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind nicht klafft ein gewaltiger Abgrund. In: Die Zeit, 17. Dezember 2010, www.zeit.de/2010/51/NSpiegelneuronen (Stand: 10. 09. 2015). Diese Einschätzung stößt etwa seit dem Jahr 2010 auf zunehmende Resonanz. 1992 hatte der italienische Neurologe Giacomo Rizzolati gemeinsam mit seinem Team bei Makakenaffen erstmals beobachtet, dass bei einem Affen, der einem anderen beim Ergreifen einer Rosine zusah, die gleichen Hirnregionen im Großhirn aktiviert wurden wie bei dem Affen, der beobachtet wurde und die Handlung tatsächlich ausführte. Die zunehmende Verbreitung von funktionalen MRT-Studien (fMRT ist ein MRT, das Bewegungen und/oder Veränderungen der Hirnaktivität darstellen kann) hat es ermöglicht, diese Beobachtung auch bei Menschen zu reproduzieren. Inzwischen ist bekannt, dass der Versuch auch bei ausschließlich auditiven Reizen möglich ist. Die „Entdeckung der Spiegelneuronen“ weckte in unterschiedlichen Fachbereichen große Hoffnungen, ungeachtet der Tatsache, dass in den Neurowissenschaften diesbezüglich Zurückhaltung herrscht. Da Fragen nach Empathie und Kommunikation eine Reihe von Fächern beschäftigen, gab es zunehmend Versuche, die Beziehung von Menschen untereinander v. a. in neurowissenschaftlicher Perspektive zu betrachten. Im theologischen Bereich entstand beispielsweise eine Arbeit, die die Frage nach dem Frieden in der Religionspädagogik neu anzugehen beabsichtigte. (Vgl. Anja Niermann, Gewaltfrei in die Zukunft – die friedenspädagogische Relevanz der Spiegelneuronen. Friedenswissenschaft – Friedensforschung – Friedenserziehung – Friedensarbeit Bd.5, Berlin et al. 2012). Aufmerksamkeit fanden die Spiegelneuronen auch im Bereich Marketing & Kommunikation (kann der Erfolg einer Werbekampagne anhand einer kleinen fMRT-Studie vorausgesagt werden? Wie können Spiegelneuronen gezielt zur Werbeansprache genutzt werden?); Entwicklungspsychologie (hängen Spiegelneuronen und Imitation zusammen und was bedeutet das für das Lernen?); Philosophie (was bedeuten Spiegelneuronen für die Frage nach der eigenen Identität und der anderer?) und anderen Bereichen. 143 Siehe zur Perspektivübernahme auch die in diesem Abschnitt folgenden Ausführungen.

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an die leibliche Kopräsenz eines Anderen gebunden, sondern es geht vielmehr auch darum, den fernen Fremden als Nächsten wahrzunehmen und ihm zu begegnen. Die Spur des Pathischen in der Zuwendung bleibt dabei jedoch immer präsent. In diesem Sinne ist die Empathiethematik zentral für den Umgang mit Vulnerabilitätsphänomenen. In der Reflexion eines seelsorglichen Ethos geht es um die Unterscheidung der Nuancen in den Mitgefühlen. Dies schließt auch die kritische Selbstreflexion der Affekte und Fantasien mit ein, die sich an die Empathie potenziell anlehnen können, hierzu gehören u. a. unrealistische Retterbilder, regressive Nähewünsche sowie Dominanzvorstellungen, die insbesondere in asymmetrischen Care-Konstellationen auftreten können. Der empathische Habitus bedarf der Selbstreflexion und wird durch weiterreichende religiös-kulturelle Imaginationen genährt, die sowohl kognitive als auch affektive Dimensionen haben.144 Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits die Geschichte vom barmherzigen Samariter eingespielt, die um die Frage kreist, wie es sich um die Sorge für diejenigen verhält, die „unter die Räuber gekommen sind“.145 Diese Geschichte kann vor dem Hintergrund eines prozessualen Empathieverständnisses interpretiert werden. Die spontane empathische Aufwallung, die am Anfang steht, kann dabei eine transgressive Kraft in Gang setzen, die religiöse und kulturelle Schranken – in diesem Fall zwischen Juden und Samaritanern – situativ verflüssigt, so dass es zu einer Logifizierung des Pathischen kommen kann. Dabei geht es um den Nachhall der spontanen Gefühlsregung (es jammerte ihn), die schlussendlich in eine kognitive Perspektivübernahme mündet, die auf die moralische Verpflichtung zur Hilfeleistung zielt. Ein Ort religiös motivierter Sorgepraxis lässt sich also an dieser Bruchstelle situieren, in der aufwallendes Mitgefühl in handfeste Taten der Barmherzigkeit übergeht, die mit einer mittelfristigen Nachhaltigkeit in der Überwindung von destruktiven Vulnerabilitätsphänomenen einhergehen. Das anfängliche aufwallende Mitgefühl bedarf also der Kultivierung, um in handelnde Nächstenliebe überführt zu werden. In der Reflexion dieses Umschlags drängt sich die dargestellte asymmetrische Konstellation auf: Da liegt einer zusammengeschlagen am Boden und eine anderer hilft ihm. In dieser asymmetrischen Care-Beziehung bricht die Ambiguität, die mit Vulnerabilitätsphänomenen verbunden sind, auf. Die Zirkulation von Macht, die hier geschieht, gilt es zu reflektieren. Die kognitive Dimension der Empathie verweist auf die Prozesse der Logifizierung, die eine vernunftgeleitete, 144 Vgl. zum Zusammenhang von Mitgefühl im Kontext religionspädagogischer Konzepte zum Thema Prävention und Überwindung von Gewalt Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, NeukirchenVluyn 32010. 145 Vgl. Kap.3

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verallgemeinernde Reflexion ermöglicht. In der Logosdimension wird das Mitgefühl zum Mitleid, die abstrahierende Reflexion verhilft dazu, die Qualität des Impulses zur Hilfehandlung zu benennen, Handlungsalternativen abzuwägen, die beste Option auszuwählen und eine Strategie für die Implementierung zu entwickeln, um diese dann in die Praxis umzusetzen.

Ambivalenzen In der Philosophiegeschichte hat sich an der Frage, inwiefern Mitleid als Basis für moralisches Abwägen und Entscheiden dienen kann, immer wieder Streit entfacht. Einer der klassischen Befürworter dieser These ist der Philosoph Arthur Schopenhauer, der Mitleid im Sinne von Mitgefühl definiert und als Basis und Triebfeder moralischen Handelns begreift. Sie sei die „wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Wert.“146 Schopenhauers These wurde mit Blick die ephemere, flüchtige Qualität des Mitgefühls, das kommt und geht, kritisiert; hinzugefügt wurde das Argument, dass Mitgefühle kulturell eingebunden und in diesem Sinne nicht universalisierbar seien. Die Alternative bestehe entsprechend in der Formulierung von verallgemeinerbaren Gesetzen, wie z. B. des Kategorischen Imperativs, die Handlungsorientierung ermöglichen und eine das Verhalten nachhaltig verstetigende Wirkung intendieren. Die Praxis der Barmherzigkeit oder der Nächstenliebe bedarf der Logifizierung, um die Ambivalenzen, die das Helfen-Wollen in sich trägt, reflektieren zu können. Zur facettenreichen Ambivalenz der Mitgefühle zählt weiterhin die Komodifikation und die Manipulation von Konsumbedürfnissen in der Werbung, die mittels bestimmter Einfühlungstechniken erhoben werden. Mitgefühle können darüber hinaus auch Verachtung produzieren: die Wahrnehmung der Verletzlichkeit eines anderen kann eine Abwehr produzieren, die sich in der Verachtung von Menschen ausdrückt, auf die bestimmte Vorstellungen von Schwäche projiziert werden („zu viele bettelnde Leute verschandeln das Straßenbild“). Diese Empfindungen treten auch in Kontexten seelsorglicher und diakonischer Arbeit auf. In diesen Zusammenhängen werden sie oftmals tabuisiert, weil sie dem angestrebten Ethos professionellen Handelns widersprechen. Diese ambivalenten Umschlagsphänomene (vom Mitgefühl in die Verachtung) bedürfen der vertieften Reflexion in supervisorischen Zusammenhängen und dürfen nicht einfach moralisch abqualifiziert werden. Viele Kritiker einer Philosophie des Mitgefühls nehmen diese Wahrnehmung als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen: Das Mitfühlen mit dem Leid anderer sei zu nichts 146 Landwehr/Demmerling, Philosophie der Gefühle, 175.

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nutze, es vermehre das Leiden. Sie fragen: Was nutzt es, dass ich die Schmerzen eines Anderen empfinde? Es ist in diesem Zusammenhang vermutlich kein Zufall, dass der Begriff des Mitleids im deutschen Sprachgebrauch aus der Mode gekommen ist, da diesem der Geschmack des Unmündigmachens, des Paternalismus, der Arroganz und sogar Verachtung („der mitleidige Blick“) anhaftet. Die Ambivalenzen, die am Mitgefühl haften, verweisen auf das breite Spektrum von Einstellungen und Handlungen, die aus empathischen Regungen hervorgehen können. Die Ränder des Mitgefühls changieren dabei zwischen Überidentifizierung und Antipathie. Mitgefühl ist kein Impuls, der automatisch beim Anblick der Leiden anderer Menschen entsteht. Aber auch wenn Mitgefühl aufwallt, erwächst daraus in vielen Fällen keinesfalls eine Intentionalität, die in prosozialem Handeln mündet. Die Fragen, die hier aufbrechen, sind auch für den Zusammenhang von Seelsorge, Diakonie und politischem Handeln von vitaler Bedeutung.147 Die Grenzen des Mitgefühls werden im Hinblick auf die Reichweite und die Andersheit von Menschen virulent. Sympathisierende Mitgefühle entzünden sich schneller an der Wahrnehmung des Leids oder der Freude von Menschen, die einem nahe stehen oder mit denen man sich eher identifizieren kann, weil eine gewisse Ähnlichkeit zur eigenen Lebenssituation besteht. Diese Nähen werden z. B. mit der biologischen Ursprungsfamilie in Verbindung gebracht oder mit der Konstruktionen von Zusammengehörigkeitsgefühlen im Hinblick auf ethnische oder nationale Identitäten. Der äußerste Kältepol der Antipathie zeigt sich in der Entmenschlichung bestimmter Gruppen; so wurden jüdische Menschen in der Propaganda des deutschen Faschismus mit Ungeziefer in Verbindung gebracht, in der Vorbereitung des Genozides wurden Tutsi als cockroaches, als Kakerlaken, beschimpft. Faschistische Regime zeichnen sich dadurch aus, dass solidarisches Mitfühlen gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen systematisch abtrainiert wird. Am anderen Ende des Spektrums der Mitgefühle findet sich die Überidentifikation mit den Leidenden, die sich z. B. in einem vagen Schuldgefühl zeigen kann, selbst gesund zu sein. Ein historisches Beispiel für die Überidentifizierung bis hin zur regressiven Selbstaufgabe, das den Sachverhalt gut illustriert, kann in der Praxis der Elisabeth von Thüringen entdeckt werden, von der überliefert ist, 147 Im Jahr 2015 verdichtete sich diese Problematik insbesondere im Hinblick auf die Flüchtlingsthematik. Wie sieht ein lebensförderliches Mitfühlen für Menschen aus, die als Flüchtlinge bis hin zur Lebensgefahr hochgradig verletzlich gemacht werden? Diakonische Einrichtungen und Kirchengemeinden – um nur zwei Akteurinnen der Zivilgesellschaft in Deutschland zu nennen – bemühen sich, Menschen, die als Flüchtlinge kommen aufzunehmen und sie bei der Integration zu unterstützen. Diese Arbeit bedarf der Verstetigung und Verwandlung der spontanen empathischen Impulse, um ein Engagement zu ermöglichen, das sozial, spirituell und seelsorglich hilfreich ist.

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dass sie sich zu den Pestkranken ins Bett legte. Das Absorbieren des Leides des Anderen als regressive Form der Empathie ist in der Seelsorge wenig hilfreich, es zerstört den Respekt vor dem Leiden des Anderen als fremdes Leiden. In solch einer Haltung gibt die Seelsorgerin die Möglichkeit preis, ein wirkliches Gegenüber zu sein. Damit Mitgefühle eine lebensförderliche Wirkung entfalten können, ist es vonnöten, der Differenzerfahrung und der Kategorie der Distanz genügend Raum zu geben. In diesem Zusammenhang ist die Arbeit von Käte Hamburger interessant.148 Sie spricht von der Distanzstruktur des Mitleids. Sie vertritt die These, dass in Beziehungen, die von einem großen Maß an Nähe gekennzeichnet sind, Mitleid keinen wirklichen Platz hat bzw. wenn es auftaucht, von dem, der es empfängt, als unangenehm empfunden wird. Hamburger setzt Mitleid und Liebe bzw. Freundschaft einander entgegen. Mitleid fasst sie als etwas Unpersönliches auf. Mit dem Begriff des Unpersönlichen beschreibt sie die Partialität des Mitleids, denn dort steht nicht die ganze Person im Zentrum der Wahrnehmung, sondern nur ihr Leid. Liebe und Freundschaft hingegen zielen auf Wahrnehmung der ganzen Person. Wenn jemand leidet, der einem sehr nahe steht, leidet man nicht unbedingt am Leid des anderen, sondern man leidet an Kummer und Sorge um den anderen. Das Unglück des anderen wird in unmittelbarer Weise direkt zu meinem Unglück. Dieses Phänomen zeigt sich beispielsweise in der Angst, die entstehen kann, wenn ein geliebter Mensch lebensgefährdend erkrankt. Die Arbeit an der Empathiefähigkeit im Kontext der Seelsorge besteht in der Vertiefung eines differenzierten gefühlten Erkennens; als eine ertastende Annäherung an das am Anderen wahrnehmbare Gefühl, das aber – und das weiß ich – dem Anderen gehört und nicht zu meiner originär-eigenen Empfindung wird. Dieses erfassende Fühlen ist somit immer mit einer Differenzerfahrung verbunden, die in besonderer Weise in der Aufmerksamkeit für das Fremde im Anderen einen Ausdruck findet. Dabei ist das Mitleid immer mit dem Respekt vor der Andersheit des Anderen verbunden: Sein Leid ist nicht mein Leid, ihr Gefühl ist nicht mein Gefühl. Die sich entfaltende Responsivität bezieht sich auf das, was ihm oder ihr widerfährt. Dies gilt selbst dann, wenn die Seelsorgerin eine intensive emotionale Resonanz bei sich selbst wahrnimmt. Diese Arbeit an der Differenzierungsfähigkeit ist zentral für eine Seelsorgepraxis, in der Menschen sich in ihrer Verletzlichkeit zeigen. Im Umgehen mit der Differenzerfahrung wird auch deutlich, inwiefern die Kluft des Nichtverstehens aufreißt. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, die aus dem Psychodrama stammende Praxis der Perspektivübernahme einzuüben. 148 Vgl. Käte Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985.

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Dabei geht es darum, Intentionen, Gefühle sowie die konfliktreichen Beziehungen so zu erkunden, dass die Beweggründe des oder der anderen eine deutlichere Gestalt gewinnen können und so besser nachvollziehbar werden. In diesem Zusammenhang geht es auch um das kognitiv-emotionale Erleben der Grenzen des Empathievermögens, die sich im Anschluss an die versuchte Annäherung einstellen kann. Perspektivübernahme kann in verschiedener Hinsicht geschehen, z. B. indem eine Situation so wahrgenommen wird, wie sie aus dem Blickwinkel eines Anderen erscheint, oder indem die Gedanken, Gefühle und Absichten anderer antizipiert und so nachvollzogen werden. In der affektiven Perspektivübernahme werden die Gefühle anderer erkannt und soweit wie möglich geteilt. In der moralischen Urteilsfindung schließlich werden verschiedene rational nachvollziehbare Optionen hinsichtlich der Lösung des bearbeiteten Konfliktes in einer Weise abgewogen, die die Perspektive des anderen mit einbezieht. Einen kognitiven Ansatz im Hinblick auf die Kultivierung der Einfühlung vertritt der Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt. Er geht davon aus, dass menschliche Empathiefähigkeit wesentlich durch narratives Denken geprägt ist. Nach Breithaupt wird sozial wirksame Empathie am besten durch die Parteinahme in Dreierszenen eingeübt. Dabei geht es um die Erweiterung der reinen Zweierszenen-Empathie (Mutter/Kind usw.) durch eine dritte Instanz. Die Konstruktion solch einer Dreierszene beschreibt er als narrative Empathie. Breithaupt versteht das Einüben dieser Dreierszenen-Empathie als zentral für die Stärkung sozialer Systeme. „Empathie, so die einfache These, kann entstehen, wenn ein Beobachter die nicht-harmonische Interaktion von mindestens zwei Individuen beobachtet und mental Partei für eine der beiden Seiten ergreift, ohne aber notwendigerweise in die Handlung einzugreifen.“149 Die Parteinahme entsteht, weil die dritte Person sich zuvor entschieden hat, aufgrund der vorauslaufenden Erfahrung Mitgefühl empfinden zu können. Für Breithaupt ist es vorrangig die fiktionale Literatur, die das Potenzial hat, narrative Empathie einzuüben. Insbesondere Literatur, die auf dualer Narration basiert, sieht er als wichtige Ressource für das Erlernen einer empathischen Haltung in sozial komplexeren Zusammenhängen.150 Bei Literatur, die in eindimensionaler Weise zu Introspektion animiere, z. B. bei lyrischen Texten, entstehe oft nur eine Zweierszenen-Empathie zwischen dem Leser und der Verfasserin. Empathie im Rahmen von derlei Perspektivwechselübungen zu vertiefen, wird den Horizont 149 Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, Frankfurt a.M. 2009, 152. 150 Unter dualer Narration wird in der Literaturwissenschaft eine Erzählweise verstanden, in der beispielsweise in einem Roman zwei konträre Erzählperspektiven entfaltet werden, z. B. die von Opfer und Täter. Ein weiteres Stilmittel können auch zwei Erzählstimmen sein, die zur selben Person gehören und in unterschiedliche Lebensabschnitte und historische Gegebenheiten eingebettet sind.

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für sich widerstreitende Perspektiven eröffnen. Diese eher kognitiv ausgerichteten narrativen Imaginationsübungen können ihren Platz sowohl in der Seelsorge als auch in seelsorglich ausgerichteten Predigten haben. Sie erweitern den Wahrnehmungshorizont und das Einfühlungsvermögen für Positionen, die als abständig, unverständlich oder gar abstoßend wahrgenommen werden. Diese Horizonterweiterung sollte ein zentrales Anliegen seelsorglicher Praxis sein, wobei einfühlendes Verstehen und Akzeptanz keineswegs gleichzusetzen sind. Neben diesen eher kognitiv ausgerichteten Bemühungen, Einfühlung in der Seelsorge zu kultivieren, wird der pathischen Dimension in Präsenzübungen Raum gegeben, die sich nicht sofort zielgerichtet verzwecken lassen. Im Schweigen, im Segnen sowie im Gebet kann der Nachhall des Pathischen im Mitgefühl einen Ausdruck finden.

5.

Responsivität im Horizont der Verletzlichkeit: Der Fluss des Erzählens in der Seelsorge

Im vorangegangenen Kapitel haben wir uns mit dem Raum des Pathischen in der Seelsorge auseinandergesetzt. Dabei ging es um die affektive Dimension seelsorglicher Praxis im Spannungsfeld von Pathos, Ethos und Logos. Phänomenen leiblicher Affizierung, die sich insbesondere in der pathischen Dimension des Schmerzes, der Scham- und Schuldgefühle zeigen, wurde dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Hinzu trat die Auseinandersetzung mit den Mitgefühlen in ihrer facettenreichen phänomenalen Gestalt. Die entfalteten Phänomenbeschreibungen wurden jeweils im Hinblick auf die Seelsorgepraxis und die theologische Reflexion vertieft. Der Leib und die Affekte wurden so im Raum des Pathischen situiert. Es folgen nun Reflexionen über das leiblich situierte Sprechen oder genauer das Erzählen in der Seelsorge, in denen Phänomene des verletzlichen Lebens zur Sprache gebracht werden. Der Zusammenhang von Leiblichkeit, Affektivität und Narration wird dabei als grundlegende Dimensionen einer phänomenologisch begründeten Seelsorgetheorie und -theologie herausgearbeitet. In seelsorglichen Gesprächen wird vom verletzlichen Leben erzählt. Widerfahrnisse, die sich jenseits der Sprache ereignen, materialisieren sich im Nachgang in Bildern und Metaphern, in Sinngebungssentenzen1 im Erzählen einer Geschichte. Erzählungen werden zum „sprachlichen Medium der Nachträglichkeit“.2 In diesen sprachlichen Materialisierungen spielen die Leiblichkeit und das Pathische weiterhin eine zentrale Rolle. Beides verschwindet nicht einfach in einer vermeintlichen Rationalität des Sprechens, sondern konstituiert den Ort, an dem sich Narrationen ausbilden. Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits beschrieben, wie leibliche Affizierungen, die zwischen Fremdheit und Intimität,

1 Vgl. hierzu Hans-Martin Gutmann, „Irgendwas ist immer“: Durchs Leben kommen. Sprüche und Kleinrituale – die Alltagsreligion der Leute, Berlin 2013. 2 Brigitte Boothe, Das Narrativ. Autobiographisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess, Stuttgart 2011, 1.

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Responsivität im Horizont der Verletzlichkeit: Der Fluss des Erzählens

Engung und Weitung, Weltverlust und Vitalität, Entblößung und Schutz oszillieren, Impulse für die Erzählungen vom verletzlichen Leben freisetzen. Anne Steinmeier situiert die leiblich-körperliche Disposition zu autobiographischer Narration in unserer Gehirnstruktur: „Der Beobachtung von Hirnverletzten verdankt sich die Entdeckung eines polyregionalen, in mehreren Zentren vernetzten Erzählsystems als Erzählmodul. Die Zentren dieses Erzählsystems sind dynamisch und werden durch individuelle Ereignisse sowie reale und fiktionale erzählerische Rahmen organisiert. Das bedeutet: die eigene Lebenserzählung bildet sich in einem Gewebe von real erlebten und funktionalen Welten und ist in dauernder Veränderung. Narration gehört zur sich ständig verändernden und neu orientierenden Identität des Selbst.“3 Erzählungen, die in der Psychotherapie oder in der Seelsorge zu Gehör gebracht werden, können als Alltagsfiktionen verstanden werden, in denen der Wunsch nach Anerkennung und Liebe, der Umgang mit Angst, Trauer oder Wut modelliert werden. „Erlebte Wirklichkeit gewinnt in ihrer narrativen Präsentation Prägnanz, Gesicht und Glanz, sie wird gleichsam auratisiert. […] Wunsch, Angst und Abwehr regieren die narrative Gestaltung. So kommt es zum Spiel des Vor-Augen-Führens und Vorenthaltens.“4 In Erzählungen werden Erinnerungen konstruiert, es wird etwas gezeigt oder ausgelassen, vergessen oder in besonderer Weise profiliert. Dies gilt insbesondere von Widerfahrnissen, denen die letztlich unkontrollierbare Aura des Pathischen anhaftet und deren Spur auch im Raum der Sprache nicht verloren geht.

Narrative Identität In Theorien zur narrativen Identitätskonstitution5 wird die These aufgestellt, dass das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte und darin die Erzählung vom Umgang mit spezifischen Vulnerabilitätsphänomenen ein zentrales Medium zur Konturierung von Identität ist. Narrative Identitätsbildung kann als ein Prozess verstanden werden, der ständig im Fluss und zugleich strukturbildend wirksam ist. Widerfahrnisse werden im autobiographischen Erzählen in eine ordnende Struktur ein3 Anne M. Steinmeier, Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs, Göttingen 2011, 15. 4 Boothe, Narrativ, 2. 5 Vgl. den Literaturüberblick zu unterschiedlichen Konzeptionalisierungen narrativer Identität im Kontext der Deutung von Krankheitserfahrungen in Christian Roesler, Individuelle Identitätskonstitution und kollektive Sinnstiftungsmuster. Narrative Identitätskonstruktionen in den Lebensgeschichten chronisch Kranker und Behinderter und die Bedeutung kultureller Sinngebungsangebote, unveröffentlichte Dissertation, Erlangen 2001, 5–15, www.freidok.uni-freiburg.de/ data/527 (Stand: 21. 10. 2015).

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gefügt, die durch Auswahl und Umformung eine Gestalt bekommen. Hierfür wird eine temporale Struktur eingeführt, in der Widerfahrnisse und Erlebnisse integriert werden, z. B. mittels der Beschreibung von Kontinuitäten oder in der Konstruktion von Unterbrechungen. Dabei geht es um die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Erlebnissen und Seinszuständen. Dieser Zusammenhang kann in Form von Kausalitäten hergestellt werden; eine Sache entwickelt sich aus einer anderen, eine Entwicklung erscheint als folgerichtig oder logisch. Am anderen Ende des Erzählspektrums befindet sich die Darstellung von Abbrüchen, von Konversionen, vom Einbruch des Außergewöhnlichen und Unerwarteten.6 Das Wissen um den Zusammenhang des eigenen Lebens wird strukturiert, indem Widerfahrnisse und Erlebnisse auch untereinander in Beziehung gesetzt werden und sich zu bestimmten Lebensthemen verdichten.7 Einige theoretische Zugänge zur Identitätsbildung setzen dabei eher auf ein harmonisches und widerspruchsfreies Verständnis von Kohärenz. In anderen Ansätzen wird hingegen auf den Umgang mit Fragmentierungserfahrungen fokussiert. Der Begriff der Kohärenz wird dann entweder kritisiert oder aber erweitert. Vorstellungen vom multiphrenischen Selbst und von fraktal oder polysemisch strukturierten Erzählungen, die nicht mehr auf einen klar identifizierbaren Plot hinauslaufen, bestimmen die Identitätsvorstellungen.8 Narrationen werden in diesen theoretischen Überlegungen aus unterschiedlichen Bausteinen zusammengesetzt, die sich aus teilweise disparaten Sinnstiftungsangeboten speisen. Heiner Keupp betont in diesem Zusammenhang zu Recht die Notwendigkeit des Kohärenzstrebens vor dem Hintergrund komplexer Erfahrungen von Fragmentierung. Dieses muss allerdings nicht gleichbedeutend mit der Konstruktion geschlossener narrativer Sinnsysteme sein. „Kohärenz kann für Subjekte auch eine offene Struktur haben, in der – zumindest in der Wahrnehmung anderer – Kontingenz, Diffusion im Sinne der Verweigerung von commitment, Offenhalten von Optionen, eine idiosynkratrische Anarchie und die Verknüpfung scheinbar widersprüchlicher Elemente sein dürfen.“9 6 Vgl. zur Bedeutung der temporalen Struktur in narrativer Identitätsbildung Anthony P. Kerby, Narrative and the Self, Bloomington 1991. Kerby argumentiert, dass die Entwicklung einer temporalen Struktur im Erzählen des eigenen Lebens zum Kern menschlicher Selbstdeutung gehört. In dieser Selbstdeutung ist der kumulative Prozess der Sedimentierung von Bedeutungen abgebildet, vor dessen Hintergrund gegenwärtige Handlungen interpretiert werden. 7 Vgl. hierzu Donald E. Polkinghorne, Narrative Knowing and the Human Sciences, Albany 1988. 8 Vgl. Jürgen Straub, Identitätstheorie im Übergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des Nicht-Identischen in subjekttheoretischen Diskursen, Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau, 14 (1991), 49–71; Kenneth J. Gergen, The Saturated Self, New York 1990. 9 Heiner Keupp, Fragmente oder Einheit? Wie heute Identität geschaffen wird, 2009, verfügbar unter: www.ipp-muenchen.de/texte/fragmente_oder_einheit.pdf. (Stand: 21.10. 2015). Vgl. hierzu auch Andrea Bieler, Leben als Fragment? Überlegungen zu einer ästhetischen Leitkategorie in der Praktischen Theologie Henning Luthers, in: Kristian Fechtner / Christian

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In solch einem Konzept von narrativer Identitätsbildung haben dann auch Begriffe wie Alterität, Multiplizität, Heterogenität oder Diskontinuität ihren Ort, um die Komplexität von Identitätsnarrationen auszuleuchten. Diese Begriffe haben auch eine Nähe zu den von mir entfalteten Bestimmungen fundamentaler und situativer Vulnerabilität. Die Aufmerksamkeit für das verletzliche Leben verlangt nach Erzählweisen, die der Erfahrung der Fragmentierung Raum geben. Der Zwang zum widerspruchsfreien und bruchlosen Erzählen wird entsprechend aufgegeben. Menschen, die in der Seelsorge ihr Leben in Geschichten erzählen, geben dem Leib-Sein-Zur-Welt eine sprachliche Form, in der die Singularität des leibsituierten Selbst in Unterscheidung von anderen Menschen, aber auch die Verwobenheit und Bezogenheit auf andere im lebensweltlichen Zusammenhang zum Ausdruck gebracht wird. Die im Erzählen impliziten Deutungsmuster haben oftmals eine normative Dimension, in der die Maßstäbe und Werte der Erzählerin, die sie für sich und andere formuliert, sichtbar werden. Da es im Erzählen von persönlich Erlebtem um ein sich im Gespräch entwickelndes Verstehen der eigenen Person geht, ist darüber hinaus wichtig, zu bedenken, wer die Adressatin der Geschichte ist. Geschichten, die das eigene Leben erzählen, variieren je nach Adressatenkreis. So kann beispielsweise die Bedeutung des Todes eines nahen Verwandten gegenüber der Seelsorgerin oder einem Familienangehörigen auf unterschiedliche Weise beschrieben werden. Die Singularität der eigenen Lebensgeschichte wird dabei mit vorgegebenen Erzählformen verbunden, die kulturell verankert und zugänglich sind. Sie bieten bestimmte Deutungsmuster für Widerfahrnisse an, die in modifizierter Weise rezipiert und in die individuelle Erzählung integriert werden. Die Beschäftigung mit Kohärenzstrategien, in die Menschen verwickelt sind, ist in diesem Zusammenhang ein relevantes Thema für die Seelsorgepraxis.10 Hier wird deutlich, wie Seelsorge Suchende mit Vulnerabilitätsphänomenen umgehen, wie diese beschrieben, gedeutet und im Hinblick auf Handlungsoptionen interpretiert werden. Christoph Morgenthaler verweist auf Methoden der narrativen Therapie, die Impulse für den Umgang mit lebensgeschichtlichen Erzählungen in der Seelsorge bieten.11 Dabei geht es um die Rekonstruktion und die Dekonstruktion der eigenen Geschichte sowie um die Re-Autorisierung und das Erproben einer neuen Geschichte. In der Rekonstruktionsphase wird in der Seelsorge die Möglichkeit eröffnet, Aspekte der eigenen Lebensgeschichte auszuMulia (Hg.), Henning Luther – Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne, Stuttgart 2013, 13–25. 10 Vgl. zum Zusammenhang von autobiographischem Erzählen und Seelsorge Wolfgang Drechsel, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten. Zugänge zur Seelsorge aus autobiographischer Perspektive, Gütersloh 2002. 11 Vgl. Christoph Morgenthaler, Seelsorge, Lehrbuch Praktische Theologie Bd.3, Gütersloh 2009, 171.

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breiten, zu vertiefen und den weiteren sozialen Kontext mit einzubeziehen. In der Dekonstruktion von Erzählungen geht es darum, gemeinsam herauszufinden, inwiefern die eigene Story einengend oder lähmend auf die Erzählung des eigenen Identitätsentwurfes wirkt. Eingefrorene Geschichten sollen in der Seelsorgesituation im ko-kreativen Beratungsprozess im sogenannten storying verflüssigt werden, indem Verhärtungen identifiziert und alternative Blickwinkel und Handlungsoptionen ins Spiel gebracht werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Brüche im Erzählfluss gelegt, die ein kreatives Potenzial in sich bergen können. Die Suche nach den Bruchstellen in einer verfestigten Erzählstruktur ermöglicht die Öffnung hin zu überraschenden Wendungen, die eine andere Sicht oder die Artikulation von Unerhörtem ermöglichen. Dies ist oftmals der Moment, in dem das Evangelium als Kraft der Unterbrechung wirksam werden kann, in dem Lebensgeschichte und Gottesgeschichte so aufeinander bezogen sein können, dass neue Zuversicht und Lebensmut als Themen des Glaubens und der Lebenskunst aufbrechen können.12 Die Dekonstruktionsprozesse im Erzählen werden gestützt durch Praktiken der Re-Autorisierung, indem autoaggressive und viktimisierende Erzählweisen verabschiedet und neue Geschichten in der Seelsorge probeweise erzählt und Umsetzungen überlegt werden. Über das Transformationspotenzial des Erzählens in der narrativen Therapie schreibt Konrad Peter Großmann: „Narrative Therapie verwirklicht sich im Versuch, den Driftungsprozess von Erzählungen erneut zu beleben. Sie bedient sich des Erzählens, um neues Erzählen zu erfinden – in der Hoffnung, dass sowohl die Sprache des Klienten als auch sein damit einhergehendes Handeln einem Unterschied des ‚do something different‘ […] folgen. Die Geschichte organisiert unser Handeln und Interagieren – sie bedingt eine spezifische Selektion unserer Optionen, uns in der Welt zu bewegen. Unser Handeln wiederum evoziert spezifische Erfahrungen von Wirklichkeit, die uns dazu anregen, unser Erzählen beizubehalten oder zu transformieren.“13 Die beschriebene Dynamik des Erzählens kann sicherlich auch in der Seelsorgepraxis vorgefunden werden. Im Folgenden wird das Thema vertieft, indem wir uns exemplarisch der erzählten Welt des Krankseins zuwenden, in der die Verletzlichkeit des Lebens in besonderer Weise zur Sprache gebracht wird. Der Begegnung mit der erzählten Welt des Krankseins kommt in der Seelsorgepraxis eine besondere Bedeutung zu.

12 Albrecht Grözinger nimmt die Rede vom Bruch in der Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte in der Seelsorge im Anschluss an Eduard Thurneysen wieder auf. Siehe ders., Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, WzM 38 (1986), 178–188: 185f. 13 Vgl. Konrad Peter Grossmann, Der Fluss des Erzählens. Narrative Formen der Therapie, Heidelberg 2000, 28f.

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Die erzählte Welt des Krankseins Unterbrechungen Krankheiten werden in Erzählungen oftmals als Unterbrechungen der alltäglichen Routine beschrieben. Wenn Menschen sich als gesund erleben, tritt die Wahrnehmung der Oszillation von Körper-Haben und Leib-Sein in den Hintergrund. Dass das Leib-Sein-Zur-Welt den unmittelbaren Kontakt zu dem herstellt, was uns unmittelbar umgibt, tritt dann kaum ins Bewusstsein.14 Gesundheit, so hat der Chirurg René Lériche einmal entsprechend formuliert, sei ein Leben unter dem Schweigen der Organe.15 Über dem Körper liegt dann eine Art Stille, denn dasjenige, was als ‚normal’ empfunden wird, bedarf keiner weiteren Artikulation. Entsprechend werden eher selten Geschichten erzählt, die von Gesundheit und Wohlbefinden berichten. Es ist vielmehr die erlebte Welt des Krankseins, die bei manchen Menschen erzählgenerierende Impulse freisetzt. Im Krankheitsfalle wird das Schweigen der Organe in lautstarken Lärm verwandelt, wenn sich der Leib-Körper im Schmerz oder in der Sorge um eine ungewisse Zukunft zu Wort meldet. Durch visuelle Körper-Scan-Methoden wird der Körper-Haben-Modus intensiviert, Menschen schauen auf einmal auf die Visualisierung des Tumors oder des entzündeten Gewebes, das zu ihnen gehört. „Wie ein Großteil der postmodernen Kunst konfrontiert uns auch die zeitgenössische Medizin mit fragmentarischen medizinischen Abbildungen – Röntgenaufnahmen, Computer- und Kernspintomografien – Abbildungen von Körperteilen, die in einem impliziten narrativen Kontext stehen.“16 Diese Bilder können lebensrettende Bedeutung im folgenden therapeutischen Prozess erhalten, sie können aber auch so etwas wie einen Abgrund im Körper-Selbst produzieren; viele kranke Menschen erzählen von dem mit der Diagnose verbundenen Schock, der sich ins Leibgedächtnis eingräbt und so reaktivierbar bleibt. Kranke nehmen aber auch oftmals Veränderungen in den sozialen Beziehungen wahr; sie werden zur Projektionsfläche der Ängste von anderen, unrealistischen guten Wünschen und zum Bezugspunkt von unerbetenen Sinndeutungsversuchen. Krankheitserzählungen geben einen Einblick, wie kranke Menschen mit den auf sie einströmenden Erfahrungen umgehen und wie sie selbst das Selbst- und Weltverhältnis neu ordnen und artikulieren.17 In Krank-

14 Vgl. hierzu auch Kap.1. 15 Vgl. David B. Morris, Krankheit und Kultur. Plädoyer für ein neues Körperverständnis, München 2000, 56. 16 AaO., 37. 17 Vgl. Cheryl Mattingly/Linda C. Garro, Narrative as Construct and Construction, in:

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heitserzählungen wird der Erfahrung verletzlicher Leiblichkeit oftmals auf sehr intime Art eine Stimme gegeben. Janet Peterman beschreibt ein ähnliches Empfinden, wenn sie sich ihr Leben nach der bevorstehenden Mastektomie versucht vorzustellen: „Sex zu haben, ein Baby zu nähren, ein Kind zu wiegen, eine Freundin zu umarmen. In einem Badeanzug im Schwimmbad zu stehen – es ist mein Leben mit anderen, dass ich mir nur mühevoll vorstellen kann, wenn ich ohne Brust sein werde.”18 In Krankheitserzählungen spiegelt sich die Oszillation von fundamentaler und situativer Vulnerabilität. Neben den Aspekten von Körper-Haben und Leib-Sein werden auch die Themen der Affizierbarkeit insbesondere im Hinblick auf den Schmerz zur Sprache gebracht. Dabei scheint es einfacher zu sein, über die Bedeutung von Schmerzen zu sprechen als über Scham und Schuldgefühle. Hier denke ich, können Seelsorgende eine besondere Aufgabe übernehmen, da sie weder mit dem Kältepol der Logifizierung, wie er teilweise in der biomedizinischen Praxis zu finden ist, in Verbindung gebracht werden noch mit der Hyperidentifikation von sich sorgenden Angehörigen sowie von Freundinnen und Freunden. Der Frage nach der Potenzialität oder dem Möglichkeitssinn, der in der erzählten Welt des Krankseins manchmal nur verschlüsselt zu finden ist, nachzugehen, ist von besonderer Bedeutung. Dieser Möglichkeitssinn taucht oftmals an den Bruchstellen der Erzählungen auf, wenn die Risse und Unterbrechungen zu Sprache gebracht werden, die mit der Erfahrung des Krankseins einhergehen.19 Die Thematisierung fundamentaler Vulnerabilität ist in Krankheitsnarrativen in der alltagsverständigen Auseinandersetzung mit Normalisierungsdiskursen reflektiert, die um den binären Krank-Gesund-Code kreisen. Hinzutreten die Auseinandersetzungen, die die Spannung von Autonomie und Abhängigkeit zur Sprache bringen sowie die kulturellen Normen und Vorstellungen, die im Alltag und in der Populärkultur zu finden sind. All diese Themen können auf die unterbrechende Kraft verweisen, die manchem Krankheitserleben anhaftet.

dies. (Hg.), Narrative and the Cultural Construction of Illness and Healing, Berkeley 2001, 1– 49: 28. 18 Janet S. Peterman, Losing a Body Part: Preparation for Surgery to Remove a Breast, in: dies., Speaking to Silence: New Rites for Christian Worship, Louisville 2007, 138–146: 142 (Übersetzung A.B.). 19 Vgl. zum Möglichkeitssinn in der Seelsorge auch Kap.1.

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Metaphorisierungen Arthur Frank betont, dass Krankheitserzählungen ihren Ausgangspunkt im Erleben verletzlicher Leiblichkeit haben. Unterbrechende und verstörende Erfahrungen, die mit dem Kranksein verbunden sein können, bieten den Impuls für das Erzählen neuer Geschichten.20 Diese Geschichten beziehen sich sowohl selbstreflexiv auf die intime, gespürte Leiblichkeit als auch auf die Sozialität dieser Erfahrung. Im Zurückbeugen auf das Körper-Haben sucht das leibeigene Spüren einen sprachlichen Ausdruck, der als pathische Form der Selbstreflexivität begriffen werden kann. Diese kann sich im rohen Schmerz fragmentarisch stammelnder Rede zeigen, in der es keine wohlgeformte Erzählung gibt.21 Zugleich tritt im Sprechen über das intime, fragile Leiberleben auch immer wieder der Körper als verobjektivierbares „Ding“, das betastet und durchleuchtet werden kann, in den Vordergrund. Dieses Sprechen ist von kulturellen Formen, Metaphern und Erzählgattungen durchdrungen. Leibliches Empfinden und lebensweltliches Gerichtetsein sind also der Ort, in dem Krankheitserzählungen situiert sind und am „Fleisch der Welt“ durch das Sprechen partizipieren. Die Leibbezogenheit der Sprache „schließt an die Bewegtheit des Lebendigen an, welches nicht in sich verbleibt, sondern in objektivierender Äußerungen selbst und anderen gegenwärtig wird.“22 Für eine leibphänomenologisch ausgerichtete Seelsorgelehre ist entsprechend die Frage von zentraler Bedeutung, wie das Verhältnis von Sprache bzw. Erzählen und Leiblichkeit bestimmt werden kann. Diesem Zusammenhang wollen wir uns im Folgenden zuwenden, indem wir Aspekte der Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson sowie Arthur Franks Überlegungen zur leiblichen Imagination in Krankheitserzählungen zu Rate ziehen. Johnson und Lakoff gehen davon aus, dass menschliches Ausdrucksvermögen und die darin verankerten Sinngebungsprozesse im Leibsein-ZurWelt verankert sind. Entsprechend gibt es keinen leiblosen Geist oder Verstand (disembodied mind). Diese Einsicht ist grundlegend, um die erzählte Welt des Krankseins im Hinblick auf den Zusammenhang von Leiblichkeit und Sprache zu verstehen. Die Wahrnehmung des eigenen leibsituierten und auf die Lebenswelt ausgerichteten Lebens von dem ausgehend Erfahrungen 20 Vgl. Arthur W. Frank, The Wounded Story Teller: Body, Illness, and Ethics, Chicago 1995, 2. 21 Vgl. hierzu Kap.5. 22 Emil Angehrn, Körper, Leib und Fleisch. Von den Inkarnationen der Sprache, in: Emmanuel Alloa/Miriam Fischer (Hg.), Leib und Sprache. Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen, Kulturen der Leiblichkeit Bd.1, Weilerswist 2013, 27–44: 30.

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gedeutet werden, hängen nach Lakoff und Johnson maßgeblich von drei Aspekten ab: den leiblich bestimmten Bewegungsmustern in der Welt, den Konturen zeitlicher und räumlicher Orientierung und den Formen der Interaktion, mit den in der Lebenswelt vorfindlichen Gegenständen.23 Die zeit-räumliche Orientierung des sich in der Welt bewegenden Leibes und seine Bezugnahme auf andere Menschen und Dinge gehören auch zu den anthropologischen Grundbestimmungen menschlicher Vulnerabilität.24 Leibliche Affizierungen, emotionale Zustände und kognitive Erklärungsmuster werden oftmals in metaphorischen Ausdrucksformen ausgedrückt, die eine räumliche oder zeitliche Orientierung implizieren: „Nachdem der Arzt mir die Diagnose mitgeteilt hatte, fühlte ich mich niedergeschlagen“ oder: „In dem Moment, in dem die Schmerzen verschwanden, fühlte ich meine Energie wachsen“. Ein Patient, dem gesagt wird, dass er jetzt wieder gesund sei, sagt: „Die Krankheit gehört jetzt der Vergangenheit an, ich will sie hinter mir lassen; ich schaue jetzt nach vorn in eine hoffnungsvolle Zukunft.“ Mark Johnson geht davon aus, dass in derlei metaphorischen Ausdrucksweisen so genannte Bild-Schemata präsent sind, die der leiblichen Wahrnehmung Struktur und Kohärenz verleihen. Ein Bild-Schema der räumlichen Orientierung ist beispielsweise das Vertikalitätsschema oben/unten, mit dem emotional oder kognitiv bestimmte Einsichten artikuliert werden.25 Neben den Metaphern aus dem Raum-Zeit-Bereich führen Lakoff und Johnson sogenannte ontologische Metaphern ein, die auch in der Deutung von Krankheitserfahrungen signifikant sind.26 „Mein Kopf ist aus Glas“ kann als eine ontologische Metapher verstanden werden, in der etwas „Unsichtbares“ (Migräne) in einem „sichtbaren“ Objekt (Kopf aus Glas) ausgedrückt wird. Das Verbindende, das die Metapher plausibilisiert, ist in den sinnlich 23 „The centrality of human embodiment directly influences what and how things can be meaningful for us, the way in which these meanings can be developed and articulated, the ways we are able to comprehend and reason about our experience, and the actions we take. Our reality is shaped by the patterns of our bodily movement, the contours of our spatial and temporal orientation, and the forms of our interaction with objects.” Mark Johnson, The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago 1987, XIX. 24 Dies habe ich bereits in Kap 1 herausgearbeitet. 25 “An image schema is a recurring, dynamic pattern of our perceptual interactions and motor programs that gives coherence and structure to our experience. The verticality schema, for instance, emerges from our tendency to employ an up-down orientation in picking out meaningful structures out of our experience. We grasp this structure of verticality repeatedly in thousands of perceptions and activities every day, such as perceiving the tree, our felt sense of standing upright, the activity of climbing stairs, forming a mental image of a flagpole […].” Johnson, The Body, XIV (Hervorhebungen im Original). 26 Vgl. George Lakoff /Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago 1980. Den Begriff ontologisch halte ich in diesem Zusammenhang für problematisch. Es geht um Metaphern, die sich auf sichtbare Dinge in der Welt beziehen.

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erfahrbaren Eigenschaften zu finden, die sowohl mit Glas als auch mit Migräne verbunden werden können. So kann Glas als schneidend-scharf, schwer und kalt empfunden werden; mit diesen Umschreibungen kann auch der Migräne-Schmerz charakterisiert werden. Im Anschluss an Lakoff und Johnson können wir also festhalten, dass die Erfahrung des Krankseins durch Metaphern ausgedrückt werden kann, die in imaginativen Strukturen leiblich verankert sind. Neben den beschriebenen Bildschemata sind es darüber hinaus insbesondere metaphorische Projektionen, in denen das leibgebundene Sprechen einen Ausdruck findet. Metaphorische Projektionen entstehen nach Lakoff und Johnson aus leiblich gebundenen Eindrücken, die die Basis für konzeptuelles und abstrahierendes Denken bilden. Metaphorische Projektionen im Bereich des Krankseins lassen sich beispielsweise im Sprechen über Krebserkrankungen finden, wenn die Rede davon ist, dass metastasierende Zellen bekämpft oder attackiert werden. Virusinfektionen werden mit Begriffen, die aus dem Wortfeld „ausbreiten, überfluten, überschwemmen“ oder „einnisten, beschmutzen“ stammen, umschrieben.27 In metaphorischen Projektionen kann sich so ein leibeigenes Spüren ausdrücken, das von kulturell verankerten Bildern und Werturteilen genährt wird. Ein Beispiel: Pastor A. begleitete Frau B. über zwei Jahre lang in regelmäßig stattfindenden seelsorglichen Gesprächen, die oft um die Frage kreisten, welche Begegnungen und Erfahrungen dazu führten, dass sie drogenabhängig wurde, der Beschaffungsprostitution nachgehen musste und sich schließlich durch einen Freier mit HIV infizierte. Oft sprachen sie über die Schuld der anderen, bis schließlich das Empfinden immer drängender wurde, dass Frau B. ihre gesamte Vergangenheit als beschmutzt empfand. Sie erzählte, dass sich ihr Leib manchmal wie ein Mülleimer anfühlte. Derlei metaphorische Projektionen, in denen sie das Empfinden ausdrückte, verunreinigt zu sein, bestimmten ihr Selbstbild und Lebensgefühl. Diese Bilder hatten einen starken Einfluss darauf, wie sie konkrete Widerfahrnisse, Entscheidungen und Handlungen in ihrem Leben beschrieb.28 Die beschriebenen Metaphorisierungen dienen oftmals zur Beschreibung dessen, was als fremd und unheimlich im gesellschaftlichen Diskurs zirkuliert und von betroffenen Menschen oftmals introjeziert und so zum hassenswerten Fremdling im leibeigenen Spüren wird.29 27 Vgl. zum Thema der Metaphorisierung von Krankheiten und Kap.2. 28 Vgl. zur weitergehenden Deutung dieses Beispiels Andrea Bieler, Word and Touch. Ritualizing Experiences of Illness in Christian Liturgy, in: Gregor Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hg.), Religion und Krankheit, Darmstadt 2009, 317–331: 330f. 29 Derlei Projektionen können auch jenseits von Krankheitsnarrativen wirksam sein. So ist beispielsweise die Logik des Epidemischen heutzutage auch in der Welt der Computer-

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Im Hinblick auf den Zusammenhang von Metaphern und Erzählung in der Deutung von Krankheitserfahrungen betont der Medizinanthropologe Laurence Kirmayer, dass der Gebrauch von Metaphern oftmals die erste Ausdrucksform ist; nicht immer werden Krankheitsgeschichten erzählt. Metaphern, die etwas über die Qualität einer Krankheit aussagen, können ebenso wirksam sein und das Lebensgefühl und die Sichtweise eines kranken Menschen prägen.30 Die an den Leib gebundenen Metaphorisierungsprozesse entfalten sich auch in der religiösen Deutung des Lebens. Dies soll im Folgenden an zwei ausgewählten Interviewbeispielen verdeutlicht werden, in denen Menschen, davon erzählen, welche Bedeutung Heilungsgottesdienste und Salbungsrituale in ihrem spirituellen Umgang mit Krankheit haben.31 Diese Beispiele werden auch eingeführt, weil sie sich auf eine weitere Form der Responsivität beziehen, nämlich auf den Bereich der Rituale, die auch für die Seelsorge wichtig sind. In den ausgewählten Gesprächsausschnitten werden Bilder und Metaphern, die mit dem Leiberleben verbunden sind, herausgearbeitet, um anschließend zu fragen, inwiefern diese Anstöße für Deutungen von Krankheit, Heilung und Heil geben. Der Deutungshorizont umfasst dabei das leibeigene Spüren, die sozialen Beziehungen und die Gottesbeziehung.32 Hardware und Software beheimatet. Vgl. zum Konzept der epidemischen Logik Linda Singer, Erotic Welfare. Sexual Theory and Politics in the Age of Epidemic, London/New York 1993. Metaphorische Konstrukte, die sich auf Viren beziehen, existieren in vielfältiger Weise: „– Viren nisten sich unbemerkt in den Wirtsorganismus ein; – Viren kodieren fremde Betriebssysteme zu eigenen Zwecken um und unterlaufen so asymmetrische Machtverhältnisse; – Viren mutieren und entziehen sich damit häufig erfolgreich gegen sie gerichteten Maßnahmen,; – Viren präsentieren sich mit der Minimalausstattung ‚reiner Informationspakete‘; Viren markieren ein Prinzip, eine Ordnung mit eigenen Regeln und eigener Logik; – Viren sind Wesen von unklarem Status, nicht lebendig und auch nicht tot.“ Ruth Mayer/Brigitte Weingart, Viren zirkulieren. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), VIRUS! Mutationen einer Metapher, Cultural Studies, Bd.5, Bielefeld 2004, 7–41: 9. 30 „Just as fragments of poetry can be written with no overarching narrative, or the briefest strand hinted at, so can we articulate our suffering without appeal to elaborate stories of origins, motives, obstacles and change. Instead, we may create metaphors that lack the larger temporal structure of narrative but are no less persistent and powerful. Such fragments of poetic thought may be the building blocks of narrative: moments of evocative and potential meaning that serve as turning points, narrative opportunities, irreducible feelings and intuitions that drive the story onward.“ Laurence J. Kirmayer, Broken Narratives: Clinical Encounters and the Poetics of Illness Experience, in: Cheryl Mattingly/Linda C. Garro, Narrative and the Cultural Construction of Illness and Healing, Berkeley 2000, 153–180: 153. 31 Die Interviews wurden in der Bay Area in Kalifornien in den Jahren 2009 und 2010 geführt. Eine empirische Untersuchung zu Salbungsgottesdiensten im deutschen Kontext hat Heike Ernsting vorgelegt, vgl. dies., Salbungsgottesdienste in der Volkskirche. Krankheit und Heilung als Thema der Liturgie, Leipzig 2012. Auch Isolde Karle reflektiert die Bedeutung von Leiblichkeit in Salbungsritualen, vgl. dies., Liebe in der Moderne: Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, Gütersloh 2014, 60–66. 32 Die Besprechung der folgenden Beispiele wurde bereits vorgestellt in: Andrea Bieler, „Und

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Wir beginnen mit Cynthia Myers, die sich im Anschluss an eine Mastektomie einer Chemotherapie inklusive Bestrahlung unterziehen musste. Sie hat die Behandlung gerade sechs Wochen hinter sich, als sie im Interview nach ihrem Gottesdiensterleben befragt wird. Sie sagt: „Besonders in diesen Gottesdiensten, irgendwie merk ich da erst richtig, wie belastet ich bin. Ich fühl’ richtig eine Schwere in mir. Etwas liegt schwer auf mir, als ob ich manchmal nicht mehr atmen kann. Da merk ich, dass die Angst vor dem Krebs in mir sitzt, sie sitzt tief, sie zieht mich runter. Ich fühle mich oft so schwer und zugleich zerstreut, flatterhaft, ich kann mich nicht konzentrieren, als ob die Behandlung das Innerste in mir auseinandergerissen hätte. Stellen Sie sich das bloß vor, da ist etwas in ihren Körper, das tötet sie! Der eigene Körper als Feind! Was für ein Chaos! Wenn die Pfarrerin meine Stirn bei der Salbung berührt, wenn sie also das Zeichen des Kreuzes malt, dann fühlt es sich so an, als ob jemand endlich aufmerksam ist und sieht, wie schlimm es ist, ohne etwas zu beschönigen. Ohne mir auf die Schultern zu klopfen und zu sagen: ‚… du schaffst das schon‘. Die Salbung ist dann manchmal wie eine Erleichterung, die etwas in mir in Fluss bringt, ich sitze danach oft in der Kirchbank und muss heulen. Ich fühle mich wie aufgelöst, ja, wirklich. […] Mein Mann und meine Familie wollen, dass ich jetzt nach vorne schaue, die Chemotherapie ist vorbei, und ich will das natürlich auch, aber irgendwie geht das auch nicht so einfach. […] Und wo ist Gott hier im Spiel? Ich hab keine Ahnung. (Pause). Eigentlich werde ich immer sauer, wenn die Leute mir einreden wollen, der Brustkrebs hätte auch so was Positives, würde mich näher zu Gott bringen, oder mich intensiver leben lassen. So ein Unsinn […] ich kann das so auch überhaupt nicht sehen. Ich hab all diese Lebensberatungsbücher während der Therapie in den Müll geschmissen. Sie haben mich auf eine merkwürdige Art und Weise belastet.“33 Frau Myers beschreibt das Leiberleben in Adjektiven, die eine räumliche Orientierung vermitteln: nach unten, runterziehend, tief. Zugleich beschreiben diese Adjektive eine Desorientierung im Leibinnenraum: sie fühlt sich im Inneren auseinandergerissen und flatterhaft. Die Krankheitsdeutung ist in den Bildern zusammengefasst: Etwas in dir tötet dich, der Körper als Feind, das Chaos. Hier finden wir den klassischen Topos des Sich-Selbst-Fremd-Werdens, der in leibphänomenologischen Deutungen von Krankheit eine wesentliche Rolle spielt. Die hier vorgestellte Ausdrucksform beschreibt dieses Leiberleben in ihrer Extremform. Die Begriffe „Feind“ und „töten“ drücken das Ringen mit einer Todesangst aus. Im Anschluss an Lakoff und Johnson können wir festhalten, dass hier das leibeigene Spüren in Metaphern ausgedrückt wird, die dem Vertikalidann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich“. Über die erzählte und die ritualisierte Leib-Gestalt von Krankheit, ZNT 27 (2011), 57–66. 33 Interview vom 14. Februar 2010. Der Name der Interviewpartnerin wurde geändert.

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tätsschema oben/unten (up/down) entlehnt sind. Eine weitere räumliche Orientierung wird in ihrer Erzählung sichtbar: vorne/hinten verweist auf den erwarteten Fortschritt in der „Bearbeitung“ der Krebsthematik. „Nach vorne“, diese Ausrichtung ist allerdings noch keine wirkliche Option. Es dominiert der Fokus auf die „nach unten“ Orientierung, die auch in Frau Myers Erzählung eher negativ konnotiert ist. Im Hinblick auf das Gottesdiensterleben beschreibt sie die Bezeichnung mit dem Kreuzzeichen während der Salbung als Kultivierung von Aufmerksamkeit: Die Pfarrerin vertritt mit diesem Ritus das Realitätsprinzip: sie sieht, wie schlimm es ist und beschönigt nichts. Die Salbung der Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes ist in diesem Gottesdienst in eine Segensform eingelassen. Die Pfarrerin sagt: „Nimm hin das Zeichen deines Erlösers, Jesus Christus. Du bist gesegnet von deinem Gott.“ Bringen wir diesen Sprechakt, die rituelle Handlung der Berührung und das Erleben derselben durch Frau Myers in einen Zusammenhang, so können wir sagen, dass für sie zu Christus, dem Erlöser zu gehören, die Möglichkeit eröffnet, Aufmerksamkeit für das Chaoserleben und für das, was in die Tiefe zieht, zu kultivieren. Der Segensraum, der hier eröffnet wird, ermöglicht die leibliche Artikulation eines wohlbekannten Paradoxes: Während sie mit dem Zeichen des Kreuzes gesegnet wird, wird die Auseinandersetzung mit der Verborgenheit Gottes in Szene gesetzt: „Ich hab keine Ahnung, wo Gott hier im Spiel ist“, sagt Frau Myers. Die Salbungshandlung materialisiert die Erfahrung der Verborgenheit Gottes, sie macht diese präsent und greifbar. In diesem Sinne funktioniert die hier beschriebene rituelle Handlung als eine verleiblichte Metapher. Die Verweigerung des ordnenden Deutungsrahmens ermöglicht den Widerspruch sowohl gegen all die sozialen Anrufungen, die vorschnelle Erklärungen für die Bedeutung des Brustkrebses bereitstellen. Dies gilt auch für die Normalisierungserwartungen, die sich im Wunsch der Familie ausdrücken, sie solle nach vorn schauen. Die Raumorientierung „nach vorn“ steht offensichtlich im Kontrast zu den räumlichen Orientierungen, die sich in ihrem leibhaften Krankheitserleben ausdrücken. Der Widerspruch, den sie formuliert, fokussiert auf die Verzweiflung, die der gegenwärtige Moment in sich birgt. Der Gottesdienst ist für sie ein Raum, in dem die Verweigerung positiver sinnstiftender Krankheitsdeutung in Szene gesetzt wird und stattdessen die Aufmerksamkeit für das Leiden kultiviert wird. In dieser rituellen Unterbrechung liegt für Frau Myers etwas Heilsames. Grundsätzlich können wir sagen, dass die Erfahrung der Verborgenheit Gottes in der Situation der Krankheit zum einen darin bestehen kann, dass ein gutes, heilvolles Handeln Gottes in der Krankheit kaum wahrzunehmen ist, sondern vielmehr verborgen ist. Zum anderen, und im schlimmsten Fall, fühlt sich der oder die Kranke ganz ohne die Nähe Gottes, so dass die Gegenwart Gottes ihm oder ihr verborgen ist. Insofern lassen sich die Verborgenheit des guten Handeln

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Gottes und die Verborgenheit der Gegenwart Gottes unterscheiden.34 Im Falle von Frau Myers Erzählung ist die Frage: „Wo ist Gott hier im Spiel?“ vermutlich eher als Frage nach dem guten Handeln Gottes zu beschreiben, mit der sie ringt. Die Aufgabe von Seelsorge und Liturgie besteht dann darin, in der Anrufung Gottes, in den Gebeten und in den Segenshandlungen, sich einer kausalen Begründung von Krankheit zu entziehen, so wie es Hiob getan hat, so wie es in den Klagepsalmen geschieht. In diesem Zusammenhang plädiert Isolde Karle dafür, Glauben weniger als Kraft zur Sinndeutung zu verstehen, sondern vielmehr als „die Kraft zum Verzicht auf Sinndeutung in religiöser Hinsicht. Viele Psalmen sprechen deshalb angesichts schwerer Krankheit eine Einladung zur Klage aus. Die Beter der Psalmen erklären die Krankheit nicht, sie klagen vielmehr über ihre schmerzvolle Lage, mit der sie sich nicht zu arrangieren gedenken.“35 Das zweite Beispiel stellt einen Ausschnitt aus einem Gespräch mit Bob Tucker dar, der seit Mitte der achtziger Jahre mit dem HI-Virus lebt und erfahren hat, wie aus einer Krankheit zum Tode, die beängstigende epidemische Formen annahm, eine chronische Krankheit wurde, die medikamentös relativ gut eingestellt werden kann.36 HIV/Aids ist eine Infektion, die von Beginn an im öffentlichen Raum und dann auch insbesondere im Raum der Kirchen eine Vielzahl an metaphorischen Projektionen auf sich gezogen hat. Aids avancierte in den achtziger Jahren zur Metapher für den Tod, der zur Unzeit kommt. Horrorszenarien der Medien, die das frühe, massenhafte Sterben und die zu erwartende Explosion der Zahl der Infizierten in den USA prognostizierten, elektrisierten die Stimmung in der Bevölkerung, die sich in ein liberales und ein strikt seuchenpolizeilich orientiertes Lager spaltete. Im Jahre 1988 stellte die Essayistin Susan Sontag entsprechend fest, dass Aids eine vormoderne Krankheitserfahrung zurückbringe.37

34 Vgl. Christiane Tietz, Krankheit und die Verborgenheit Gottes, in: Isolde Karle/Günter Thomas (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 355. 35 Isolde Karle, Sinnlosigkeit aushalten! Ein Plädoyer gegen die Spiritualisierung von Krankheit, WzM 61 (2009), 19–34: 32f. 36 Interview vom 17.1. 2009. Der Name des Interviewpartners wurde geändert. 37 Noch 1988 notierte Susan Sontag in diesem Zusammenhang einen Rückschritt in die Vergangenheit, „in die Zeit vor dem medizinischen Triumphalismus, als es zahlreiche geheimnisvolle Krankheiten gab und das progressive Fortschreiten von der schweren Krankheit zum Sterben etwas Normales war (nicht wie heute ein Fehler oder ein Versäumnis der Medizin, dazu bestimmt, behoben zu werden). Aids, diese Krankheit, bei der Menschen als krank begriffen werden, bevor sie es sind; die scheinbar unzählige Symptom-Krankheiten erzeugt, gegen welche es nur Palliativmittel gibt; und die vielen den sozialen Tod beschert, bevor sie noch physisch tot sind – Aids bringt uns so etwas wie [eine] vormoderne Krankheitserfahrung zurück […].” Susan Sontag, Aids und seine Metaphern (1988), München 1997, 37.

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„Ich bin seit 1985 HIV positiv, ja. Ich war damals 24 Jahre alt. Die Anfänge von AIDS hier in San Francisco […] die Hölle. Einfach schrecklich. Mein Freundeskreis von damals, fast alle tot. Jede Woche starb jemand. Ich wurde dann selbst sehr krank im Sommer 1987. Ich hatte so’ ne Angst. Auf der Intensivstation war die Hölle los. Über Wochen sah ich Menschen nur noch mit Mundschutz und Handschuhen. Ich begann mich selbst ekelig zu finden. Einmal pro Woche kam ein Priester. Ich bin ja protestantisch. Jedes Mal, wenn er das Krankenzimmer betrat, ja, ja dann nahm er den Mundschutz ab und die Handschuhe und begann mit mir zu reden. Ich erinnere mich noch genau, (Pause) wie ein kleines Kind war ich, fragte ihn: muss ich jetzt auch sterben, Vater? Und er sagte: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du ein Kind Gottes bist. Du bist nicht allein. Am Ende dann salbte er immer meine Stirn. […] Dieser Priester – o Mann – (er schluckt). Deshalb komm ich hier her.“ Interessant ist, dass Bob Tucker im Hinblick auf die Frage nach seiner Motivation, an Salbungs- bzw. Heilungsgottesdiensten teilzunehmen keine direkte Antwort gibt, sondern eine biographische Erinnerung mitteilt, die ihn zurückführt in eine als traumatisch erlebte Zeit, die er in der Metapher der Hölle einfängt. Er beschreibt damit die anfängliche Phase der Aids-Epidemie in San Francisco, bevor die ersten antiviralen Medikamente auf den Markt kamen. Die leibhaften Krankheitsbilder kreisen um die Hautoberfläche, um das Berührtwerden bzw. nicht Berührtwerden. Seine Erzählung ist von zwei Polen geprägt: einmal von der Kind/Vater/Priester Beziehung in der Situation der Todesangst, die der Priester interpretiert: du bist ein Kind Gottes. Daneben tritt die Beschreibung des Mundschutzes, der Handschuhe, die Erfahrung des nicht direkt Berührtwerdens, versus der Priester, der den Mundschutz und die Handschuhe abnimmt, um mit Bob zu reden und die Salbung der Stirn durchzuführen. Die taktile Dimension dieser Schlüsselszene ist kaum zu übersehen. Die leibhafte Krankheitserfahrung ist: ich gehöre/gehörte zu den Unberührbaren, zu den Todgeweihten, den total Isolierten. Die Krankheitserfahrung hat auch eine furchterregende soziale Dimension: und ich sah das massenhafte Sterben um mich herum. Sie hat auch Einfluss auf die eigene Leiberfahrung: Bob entwickelt in dieser Zeit einen Selbstekel. Die Teilnahme an Salbungsgottesdiensten gibt ihm zunächst einmal die Gelegenheit, mit dieser als zutiefst traumatisch erlebten Zeit in Kontakt zu treten, das heißt konkret mit der Erinnerung an seine verstorbenen Freunde, mit seiner eigenen Todesangst und dem Selbsthass. Dabei ist der Gottesdienst, in dem diese Zeit zumeist nicht explizit verbalisiert wird, ein Schutzraum. Das Leibgedächtnis wird im Akt der Salbung angeregt. Aus dem Todgeweihten ist ein chronisch Kranker geworden, der in diesen Liturgien immer wieder Zugang zu dieser ihn zutiefst erschütternden Zusage: „Du bist ein Kind Gottes, du bist nicht allein“

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sucht. In diesem Satz ist für ihn sein Verständnis von Heil/Heilung gefasst. Dieser Satz kann nach Lakoff und Johnson als eine ontologische Metapher interpretiert werden, in der seine Hoffnung inmitten des bedrohten Lebens seine Gottesbeziehung beschreibt. Später im Interview beschreibt Bob Tucker, wie ein Bekannter ihm in jenen Jahren eine Kopie von Matthias Grünewalds Darstellung des gekreuzigten Christus, die dem Isenheimer Altar zugeordnet werden kann, geschenkt hatte. Über Monate trug er diese zusammengefaltet in seiner Jackentasche mit sich herum. Es zeigt den gekreuzigten Christus, hässlich entstellt von den Spuren der Folter und des Ergotismus, einer Vergiftungskrankheit, die eine furchterregende Zerstörung der Hautoberfläche produziert. Dieses Bild spricht für Bob Tucker und viele andere mitten hinein in die Aids-Krise, in der so viele Menschen am Kaposi Sarcoma sterben, also dem Hautkrebs, der mit Aids einhergehen kann und die Menschen in ähnlicher Weise entstellt. Christus ist der Schmerzensmann, in dem Gott sich zeigt. Für ihn ist dies ein Trostbild, eine Visualisierung des Satzes „Du bist ein Kind Gottes, du bist nicht allein.“ „Die Hölle“, so sagt Bob, „das ist die Erfahrung der Totalisolierung. Und die kann nur von jemandem durchbrochen werden, der das alles kennt. Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich. Wenn Sie mich fragen, das ist eine Heilserfahrung.“ Die Aneinanderreihung der Aussagen verdeutlicht, dass die Christuspräsenz sich für ihn im Gespräch mit dem Priester und der Segenshandlung ereignet hat. Er erinnert sich auch noch an den Spott einiger seiner Freunde, die sagten: „Was soll das helfen, noch ein weiterer deiner Freunde, der Aids hat.“ Für Bob ist die Meditation der Leiden Christi zentral für seinen Glauben. „Nicht allein“, das ist für ihn zu einem Schlüsselbegriff geworden. Er stellt sich damit in die Tradition einer Christusmystik, die Heil im geteilten Schmerzensraum verortet: Jesus macht unsere Krankheit und unseren Schmerz zu seiner Krankheit und seinem Schmerz. Darin findet sich Heilung im Sinne der Realisierung einer intimen Beziehung zu Christus. Diese Tradition gründet sich auch auf die christologische Deutung der Gottesknechtslieder: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen […] auf dass wir Frieden hätten“ (Jes 53, 4a.5b). In unseren christologischen Reflexionen zum Thema Vulnerabilität haben wir die verschiedenen Bezugnahmen auf das Kreuz bereits beleuchtet.38 In eindrücklicher Weise taucht in den Beschreibungen Bob Tuckers die seit dem Mittelalter lebendige Tradition der Compassio Christi in modifizierter Form wieder auf. Und sogar ein kunsthistorischer Klassiker, die Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars, in der Matthias Grünewald in so eindrücklicher Weise die überwältigende Identifizierung Christi mit den Kranken beschreibt, zirkuliert als 38 Vgl. Kap.3.

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Taschenbild unter den HIV-infizierten Menschen, die in den ersten Jahren der Epidemie durch eine als katastrophisch erlebte Zeiten hindurchgehen müssen. Die beiden Beispiele verdeutlichen, wie in Krankheitserzählungen die Veränderungen in der Beziehung zum eigenen Leib-Sein-Zur Welt in Metaphern ausgedrückt werden, die sich sowohl auf das leibeigene Spüren als auch auf das sich wandelnde soziale Umfeld beziehen kann.

Erzählgattungen Neben der Metapherntheorie von Lakoff und Johnson sind es insbesondere die Überlegungen des Medizinsoziologen Arthur Frank, der die Versprachlichung der verschiedenen Oszillationen vom Leib-Sein-Zur-Welt in Krankheitserzählungen untersucht. Während Frank seine Ausführungen auf die Perspektive der Handlungsfähigkeit des Körpers in der Konfrontation mit Krankheit zuspitzt, werde ich im Folgenden im leibphänomenologischen Interesse seine Theorie erweitern und entsprechend modifizieren. Was nun folgt, sind Modi der Responsivität, die auch als Antworten auf den Widerfahrnischarakter in der Erfahrung der Verletzlichkeit zu verstehen sind. Diese gehen nicht in der Beschreibung von Handlungsanforderungen und Optionen auf. Kranksein kann hingegen vielmehr als Handlungs-Widerfahrnis-Gemisch beschrieben werden, indem die Logos- und die Ethosdimensionen des Themas auch vom Pathischen durchdrungen sind.39 Im Alltag erzählen Menschen Geschichten über die alltäglichen Herausforderungen, die mit dem Kranksein verbunden sein können, wie sie das Medizinsystem navigieren, welche Konsequenzen sie aus ihrem Kranksein ziehen, sie sprechen auch über diagnostische Methoden und medizinische Eingriffe. In ihren eigenen Erzählungen reflektieren sie die Antworten und Reaktionen, die sie aus dem näheren und ferneren Umfeld erhalten haben. Der Medizinanthropologe Arthur Frank hat in seinem Buch „The Wounded Story Teller“ verschiedene narrative Genres herausgearbeitet, in denen kranke Menschen ihre Geschichten erzählen. Diese Genres sind nicht als statische Modelle zu verstehen, sondern als Erzählformen, die sich im biographischen Verlauf einer Krankheit verändern bzw. innerhalb einer einzigen Erzählung miteinander verwoben sein können. Die Narrative sieht er an das leibhafte Krankheitserleben gebunden, sie sind nicht losgelöst zu verstehen. Arthur W. Frank geht von drei großen narrativen Genres aus, in denen vom Kranksein erzählt wird. In der erzählten Welt des Krankseins sind diese Genres oftmals im Verlauf einer Krankheitsgeschichte im Fluss; sie können sich in der Retrospektive verändern, 39 Diese These wurde bereits in Kap.3 ausgeführt.

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sie werden modifiziert, wenn eine Krankheit fortschreitet oder wenn Genesung einsetzt. Diese drei Genres sind: das Restitutionsnarrativ, das Chaosnarrativ und das Reisenarrativ. In all diesen Genres können bestimmte Plots und damit zusammenhängende narrative Strukturen entdeckt werden. Das Restitutionsnarrativ hat folgenden Erzählverlauf: „Gestern war ich gesund, heute bin ich krank und morgen werde ich wieder gesund sein.“ In dieser linearen Aufzählung wird die Gewissheit zum Ausdruck gebracht, dass die Krankheit nur ein kurzes Zwischenspiel sein wird. Die narrative Struktur folgt einer linearen Anordnung der Zeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als drei unterschiedliche Phasen, die aufeinander folgen. Die Gegenwart kann zwar von einer Krankheit unterbrochen sein, aber diese Unterbrechung ist endlich, die Krankheit ist begrenzt und heilbar. Das Ende der Erzählung besteht in der Wiederherstellung der Gesundheit; der gesunde Körper kehrt zurück und mit ihm die Gewissheit, dass das Leben gestaltbar, planbar und kontrollierbar ist. Das Ende der Krankheit bzw. die Rückkehr in die Welt der Gesunden wird oftmals als Fortschrittsnarrativ ausgestaltet. Die Zukunft ist der Ort, an dem das Leiden keine Rolle mehr spielt und der Kontrollverlust gebannt ist. Die IchStimme des Restitutionsnarrativs konzentriert sich auf den Modus des KörperHabens, Ärztinnen und Pfleger ebenso wie das unterstützende soziale Umfeld werden sind relevante Akteure, die den Erzählfluss der Erfolgsgeschichte vorantreiben. Heilung wird als Wiederherstellung des Zustands vor der Krankheit verstanden. Das Chaosnarrativ kann folgendermaßen zusammengefasst werden: „Mein Leben zerfällt in Bruchstücke, ich kann nur zuschauen.“ Das Chaosnarrativ lässt keine Sukzession von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erkennen, eine Ordnung, die sich in Kausalitätsmustern erschließen ließe, scheint unmöglich zu sein. Es wird vielmehr stammelnd erzählt: in Bruchstücken, die keinen wirklichen Anfang und kein Ende kennen, sondern sich im Moment des Augenblicks verzehren. Die narrative Struktur besteht aus einem Mosaik von Fragmenten, die wie Blitzlichter aneinandergereiht werden, ohne dass ein sinnvolles Ganzes auftaucht. Die Ich-Erzählerin kann sich kaum als aktiv Handelnde verstehen, sondern sie erlebt sich als Überwältigte. Die Erzählstruktur gleicht dann eher einem hämmernden Staccato von dann…, dann…, dann…, in dem die schmerzvollen Erlebnisse bruchstückhaft erzählt werden. Menschen, die traumatisiert sind, sind oftmals in dieser Erzählform gefangen. Sie sind nicht in der Lage, zum Ort der Verwundung erzählerisch zurückzukehren. Das Chaosnarrativ umkreist vielmehr die Wunde, nähert sich an, kommt aber nie zum Ziel. Diese Form des Erzählens lässt sich auch bei Menschen finden, die schlichtweg überfordert sind. Arthur Frank gibt hierfür das Beispiel einer Frau, die ihre an Alzheimer-Demenz erkrankte Mutter betreut, während sie selbst auch mit einer chronischen Erkrankung leben muss: „Und wenn ich versuche, das Abendessen

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vorzubereiten und ich mich selbst miserabel fühle, dann taucht sie auf einmal vor dem Kühlschrank auf und dann geht sie weiter zum Herd, die Platten habe ich gerade angestellt, sie sind heiß, und sie fasst die heiße Herdplatte an, dann huscht sie herüber, dort wo die Mikrowelle steht und dann reißt sie die Schublade auf, wo sich die Messer befinden, und dann schicke ich sie aus der Küche und dann wird sie so wütend auf mich und dann fühle ich mich richtig grässlich, ihr geht’s dann richtig schlecht…“40 In der Beschreibung dieser Szene beschreibt die Tochter, wie sie sich durch das Verhalten der Mutter terrorisiert fühlt, ihr wird quasi jeglicher Raum zu atmen genommen. Sie ist überfordert und zugleich voller Schuldgefühle. Das ganze Leben der Tochter wird durch diese Erkrankung beeinflusst. In der hier vorliegenden Erzählung des Chaosnarrativs gibt es keine kohärente Struktur, in der Ereignisse geordnet und mit Abstand gedeutet werden könnten. Die beschriebene Ereignisabfolge gleicht eher der überwältigenden Darstellung von Szenen, die wie schmerzende Splitter aneinandergereiht werden, keinen Sinn ergeben und zugleich schmerzvoll sind. Frank nennt diese Art des Erzählens ein Antinarrativ, das keinen Raum für Selbstreflexivität und für eine sich entwickelnde Sequenz gibt.41 Erzählungen, in denen das Chaos-Motiv prägend wirkt, findet man häufig in eher intimen Kontexten, in Gesprächen mit Freunden und Familie, mit dem Seelsorger oder der Therapeutin. Im Bereich der Öffentlichkeit erscheinen sie nur sehr selten. Menschen, die in Chaosnarrative verstrickt sind, sind oftmals zynisch gegenüber dem Fortschrittsoptimismus, der in den Restitutionserzählungen sichtbar wird. Die Idee, dass ein Problem gelöst oder Leiden beendet werden könnte, gehört nicht in das Konzept. Oft werden diese Erzählungen nicht gehört, weil das Zuhören als unerträglich oder bedrohlich erfahren wird. Im Zuhören Zeuge des unstrukturierten Chaos zu werden, das die Erzählerin tyrannisiert, ist eine große Herausforderung. Frank betont, dass Erzählungen im Chaosgenre oft bei Menschen zu finden sind, die massive Gewalterfahrung erlitten haben und die mit unwiederbringlichen Verlust konfrontiert sind. Im Verstummen legen sie oftmals Zeugnis ab von der Lücke, die nicht mehr geschlossen werden kann: „Words suggest its rawness, but that wound is so much of the body, its insults, agonies, and losses, that words necessary fail.“42 Das dritte Genre, das Frank identifiziert, kann als Sinnsuchenarrativ beschrieben werden. Der Leitsatz der Suche könnte lauten: „Ich akzeptiere diese Krankheit und werde etwas aus ihr lernen.“ Oder: „Durch diese Krankheit wurde ich eine ganz neue Person.“ Oder: „Die Krankheit hat mich dies oder jenes über 40 Frank, The Wounded Story Teller, 99 (Übersetzung A.B.). 41 Vgl. aaO., 105. 42 AaO., 98.

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das Leben und Gott gelehrt.“ Eine hier oft zu entdeckende Metapher ist die Krankheit als Reise. Sie wirkt strukturbildend für den Plot, in der sich die narrative Struktur entfalten kann. Die Krankheitserfahrung wird als Reise beschrieben, die eine Abfahrt, eine Initiation und schlussendlich die Rückkehr umfasst. Die Fahrt ins Reich der Krankheit beginnt mit Symptomen, die einen wachrütteln: ein geschwollener Lymphknoten, wiederkehrender Schwindel, ein nicht enden wollender Husten. Die Abfahrt markiert somit ein Ereignis, in dem eine Warnung enthalten ist, eine Verstörung, die den Fluss des Alltags unterbricht. Die folgende Wegstrecke wird oft mit Metaphern der Initiation beschrieben, in der der Krankheit ein Sinn abgerungen wird und eine Kohärenzsuche entsteht. Es ist der spannungsvolle Weg des Übergangs, auf dem Konversionen geschehen und existierende Sinngebungsmuster transformiert werden: „Wie ich durch die Krankheit verwandelt wurde“. Religiöse Menschen berichten vielleicht davon, wie Gott in dieser Zeit präsent war. Am Ende steht dann eine Einsicht, ein Erlebnis, eine Erkenntnis: „Ich habe dieses oder jenes auf meiner Reise hinein in die Welt der Krankheit gelernt.“ Der Kranke kehrt von seiner Reise zurück und landet im „Land der Gesunden“. Er ist gezeichnet von der Erfahrung und bereit, zum Deuter krankheitsbedingter Krisen zu werden. Als Überlebender wird er zum Zeugen, der auskunftsfähig im Hinblick auf die Frage geworden ist, was es bedeutet, mit einer schweren Krankheit zu kämpfen und weiterzuleben. Er wird zum Experten in Sachen Sinnfindung und Deutung von Krisen. Der Zurückgekehrte sucht vermutlich eine öffentliche Bühne. Frank unterstreicht, dass man gerade in veröffentlichten Erzählungen vom Kranksein das Ethos der Pädagogisierung von Krankheitserfahrungen finden kann; etwas ist auf der Reise gelernt worden. Die Rückkehr führt oft zum Schreiben von Memoiren, öffentlichen Manifesten oder dem Veröffentlichen von Tagebüchern. Hierin drückt sich der Wunsch aus, mit einer größeren Öffentlichkeit zu teilen, was man auf der Reise empfangen oder gelernt hat.43

Strukturbildende Themen Vor dem Hintergrund der skizzierten Erzählgattungen identifiziert Frank vier grundlegende Themenkomplexe, die im Kranksein verhandelt werden müssen und entsprechend auch in der erzählten Welt des Krankseins reflektiert sind: a) 43 Dieser Trend drückt sich in der Literaturflut aus, die in den vergangenen Jahrzehnten beispielsweise zum Thema Krebs veröffentlicht wurde, siehe hierzu Wolfgang Drechsels Überlegungen in Kap.4.

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das Thema der Kontrolle bzw. des Kontrollverlustes, b) die Rückbezüglichkeit auf die eigene Leiberfahrung, c) die empathische Bezogenheit auf andere Menschen, d) und ein auf Zukunft ausgerichtetes Begehren, das unerfüllbar bleibt und gerade darin auf die Bewegung der Lebendigkeit des Lebens verweist. Die einzelnen Aspekte bewegen sich in der Praxis jeweils in einem qualitativ bestimmten Kontinuum, sie sind also nicht als statische Größen zu verstehen. In der Konfrontation mit einschneidenden Krankheitserfahrungen tritt das Thema der Kontrolle oder des Kontrollverlustes auf den Plan. Es wird deutlich, dass mit bestimmten Erkrankungen eine Einschränkung der Verlässlichkeit von psychosomatischen Funktionen einhergeht, die sich beispielsweise in Inkontinenz, Kurzatmigkeit oder in epileptischen Anfällen ausdrücken kann. Menschen reagieren in vielfältigen Ausdrucksformen auf diese Erfahrungen des Kontrollverlustes und haben in unterschiedlicher Weise Schwierigkeiten, sich mit der neuen Situation zu arrangieren.44 Das Thema des Kontrollverlustes ist zwischen den Polen von Planbarkeit bzw. Vorhersehbarkeit einerseits und Unsicherheit bzw. Kontingenz andererseits situiert. Im Laufe der Krankheit kann sich der Körper in ein unbekanntes Terrain verwandeln, wenn die Kranke nicht in der Lage ist, ihren Körper auf eine Weise in Anspruch zu nehmen, die sie einst für selbstverständlich hielt. Oliver Sacks schildert diese Art des Kontrollverlustes in eindringlicher Weise in einer Szene, in der er den Versuch beschreibt, unter Anleitung seiner Physiotherapeutin sein beschädigtes Bein zu bewegen: „Ich spürte, dass meine Bemühungen diffus, nutzlos und unkonzentriert waren. Ich merkte, dass ich keinen wirklich angemessenen Referenzpunkt und keine Anwendungsmöglichkeit hatte. Ich spürte, dass ich es nicht wirklich versuchte, dass ich mich nicht richtig bemühte, denn alles Wollen ist ja immer auf ein ‚etwas‘ bezogen. Und genau dieses ‚etwas‘ fehlte. Am Beginn der Therapiesitzung hatte Frau Preston gesagt: ‚Strecken Sie den Quadrizeps, sie wissen ja, wie das geht.‘ Aber es war eben dieses ‚wie‘, die Idee, wie dies funktionieren sollte, die mir verloren gegangen war. Ich konnte nicht mehr ‚denken‘, wie ich den Quadrizeps zusammenziehen sollte. Ich konnte nicht mehr ‚denken‘, wie ich die Kniescheibe strecken oder wie ich die Hüfte bewegen sollte. Ich hatte das Empfinden, dass etwas mit meinem ‚Denken‘ geschehen war […].“45 Sacks beschreibt den Kontrollverlust als Versagen eines motorischen Wissens, das im Leibgedächtnis verankert ist. Damit geht die bedrohliche Erfahrung einher, die eigene Willensanstrengung nicht mehr steuern zu können. Das Auseinanderfallen von Intention, Willensartikulation und Handlungsfähigkeit lässt in Sachs ein Gefühl der Desorientierung aufkommen. Etwas Unheimliches 44 Frank, The Wounded Story Teller, 30. 45 Oliver Sacks, A Leg to Stand On, New York 1984, 64 (Übersetzung A.B.).

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geht in ihm vor, in der Anstrengung und Konzentration offenbart sich eine unheimliche Enteignung des eigenen Körpers. Die hier beispielhaft beschriebene Erfahrung des Kontrollverlustes geht in vielen Fällen mit Gefühlen von Peinlichkeit, Scham und der Angst vor Stigmatisierung einher. Auch die Befürchtung, von anderen abhängig und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, wird in Krankheitserzählungen, die um das Thema der Kontrolle kreisen, thematisiert. Der zweite Aspekt ist die leib-körperliche Rückbezüglichkeit (body relatedness), die sich in einer Intensivierung des Körper-Haben-Modus ausdrücken kann. Dies geschieht beispielsweise, wenn ein Patient eine beunruhigende Diagnose erhalten hat. In Zeiten, in denen sich Menschen gesund fühlen, tritt das Körper-Haben in den Hintergrund; dies ändert sich im Kranksein, eine gesteigerte Körperwahrnehmung tritt zum Vorschein, die durch die Beschäftigung mit Therapien und Medikation bedingt sein kann oder durch den Umgang mit Schmerzen. Aber auch jenseits akuter Krankheitserfahrungen praktizieren Menschen in unterschiedlichem Maße Körperbezogenheit, indem sie beispielsweise Sport treiben, Diäten einhalten, vegetarisch leben, den Körper der Sonne aussetzen oder entziehen. In gleicher Weise entwickeln Menschen Aversionen, gegen bestimmte Körper-Kulte, die als narzisstisch interpretiert werden oder einfach nur zu anstrengend sind. Durch das Kranksein müssen auch Menschen, die sich normalerweise nicht mit ihrem Körper beschäftigen wollen, mehr Achtsamkeit an den Tag legen. In dem Moment, in dem sich die menschliche Sterblichkeit in einer Krankheit zeigt, wird die Körperbezogenheit um einiges komplizierter.46 Die leibliche Bezogenheit bewegt sich auf der Skala von Dissoziation, die sich in der Ignoranz dem eigenen Körper gegenüber ausdrückt bis hin zur umfassenden Zuwendung, die sich sowohl in angemessener Sorge bis hin zu zwanghafter Beobachtung zeigen kann. Arthur Frank gibt das Beispiel seines Freundes, der eigentlich eher zu den Menschen gehört, denen jegliche Form der Körperbezogenheit lästig ist, als er mit einer Entzündung seiner Lymphknoten umgehen muss. Weil die Ärzte keine Krankheit feststellen konnten, die mit der Lymphknotenentzündung in Verbindung stand, sollte er genauestens beobachten, ob sich seine Symptome veränderten. Der Freund drückt sein Unbehagen gegenüber dieser Form der Körperbezogenheit aus, am liebsten hätte er die ganze Angelegenheit ignoriert.47 Der dritte Aspekt, in dem sich die Thematisierung des Körpers in Krankheitserzählungen finden lässt, ist die Bezogenheit auf andere. Sie entfaltet sich auf der Skala von monadisch bis dyadisch. Die schwindende Fähigkeit, sich auf 46 Vgl. Frank, The Wounded Story Teller, 33f. 47 Vgl. aaO., 33.

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andere beziehen zu können, bis hin zum gefühlten Zusammenbruch des Weltbezugs, kann bei starken akuten oder auch bei chronifizierten Schmerzen auftreten.48 Der monadische Körper tritt dann in den Vordergrund, der mit der Erfahrung von Isolation konfrontiert ist und in sich selbst verkrümmt lebt. Am anderen Ende des Spektrums erzählen Menschen von dem Gefühl, aufgrund des Erfahrungszuwachses, den das Durchleben einer Krankheit mit sich bringt, eine größere Empathie für Menschen zu erleben, die mit derselben Krankheit umgehen müssen. Dieses Gefühl kann eine pathische Seite haben: „ich kann mich einfühlen in das, was Du jetzt durchlebst, weil ich es selbst erlebt habe“. Es kann aber auch in Form einer moralischen Verpflichtung zum Ausdruck gebracht werden.49 Das Mitgefühl schlägt dann in tätiges Mitleid um, das sich in der diakonisch-seelsorglichen Praxis dem verletzlichen Leben gegenüber öffnet und ihm mit Wachsamkeit begegnet.50 Frank verweist als Beispiel für dyadische Bezogenheit auf den Anderen, die als moralische Verpflichtung zum Ausdruck kommt, auf Albert Schweitzer: „Whoever among us has learned through personal experience what pain and anxiety really are must help to ensure that those out there who are in physical need obtain the same help that once came to him. He no longer belongs to himself alone; he has become the brother of all who suffer. It is this ‘brotherhood of those who bear the marks of pain’ that demands humane medical services.”51 Als vierten Aspekt nennt Frank das Begehren, das in Geschichten vom Kranksein artikuliert wird.52 Im Anschluss an Jacques Lacan geht er davon aus, dass Menschen in allen Phasen ihres Lebens begehrende Wesen sind, in denen grundlegende Trennungs- und Entfremdungserfahrungen wirksam sind, die ein Gefühl unstillbaren Mangels hervorbringen.53 Die erste große Trennungserfahrung ist die Geburt, in der die Neugeborenen aus dem schützenden embryonalen Dasein in die Welt geworfen werden. Später folgt das Ende der symbiotischen Beziehung zur Mutter. Noch im Spiegelstadium des ersten Lebensjahres geschieht in der Unterscheidung von Spiegelbild und sozialem Ich eine Trennung und Entfremdungserfahrung. Nach Lacan erlebt sich das Subjekt von Beginn an als unvollständig; es richtet sein Begehren darauf, vollständig zu werden und den erlebten Mangel, durch gewählte Objekte aufzufüllen. Diese Objekte nennt er klein a; sie fungieren als äußerer Grund des Begehrens. Das Gefühl des Mangels kommt jedoch nie zur Ruhe, das Objekt bleibt immer schon ein verloren ge48 49 50 51 52 53

Vgl. hierzu Kap.3. Vgl. zur Differenzierung der Mitgefühle zwischen Pathos und Ethos Kap.4. Vgl. Frank, The Wounded Story Teller, 35. Albert Schweitzer, zitiert in Frank, The Wounded Story Teller, 35. Vgl. aaO., 37–41. Vgl. weiter zur Thematik des Begehrens bei Lacan, Christian Kupke (Hg.), Lacan – Trieb und Begehren, Berlin 2007.

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gangenes Objekt und letztlich unerreichbar. Das Begehren nach dem „Mehr“ im Leben ist ein treibender Impuls, es kann nie gestillt werden und entäußert sich auf die Zukunft hin. Gerade so kann es sich als eine Produktivkraft zeigen. Im Kranksein wird die Fragilität des Begehrens als Produktivkraft offenbar. Die mit dem Begehren verbundene Fähigkeit der Antizipation oder der Imagination einer Zukunft, die noch aussteht, gerät ins Wanken. Der Verlust des Begehrens kommt dem Erwarten des Todes gleich. Dieser Verlust kann in scheinbar banalen Fragen ausgedrückt werden, wie: Warum soll ich noch Schuhe kaufen? Warum noch zum Zahnarzt gehen? 54

Theologische und poimenische Resonanzen Diese vier Aspekte, die Arthur Frank als strukturbildende Topoi in der erzählten Welt des Krankseins herausarbeitet, bieten m. E. auch Anknüpfungspunkte für eine leibphänomenologisch ausgerichtete Theologie der Seelsorge. Was sich hier in den Phänomenen der Leiblichkeit zeigt, bietet Stoff für die theologische Reflexion. Die erzählte Welt des Krankseins reflektiert das verletzliche Leib-SeinZur-Welt. Die Aspekte des Kontrollverlustes, der leiblichen Rückbezüglichkeit, der Bezugnahme auf andere sowie die Entwicklung des Begehrens bergen Fragen und Konflikte, die auch für die religiöse Deutung des Lebens von Bedeutung sind. Dabei tut sich ein Resonanzraum auf, indem sich Aspekte leiblicher und religiöser Imagination sowie theologischer Reflexion gegenseitig befruchten und so vertiefen. Zugleich werden aber auch Differenzen sichtbar, die einen Überschuss oder eine divergierende Perspektive im Hinblick auf die theologische Deutung verletzlichen Lebens beschreiben. Diese Differenzfiguren verweisen auf das fremde Zeugnis des Evangeliums, das die leiblichen Imaginationen unterbricht und irritiert und so einen neuen Möglichkeitshorizont im Seelsorgegespräch eröffnet. Die Erfahrung des Kontrollverlustes und der „leiblichen Kontingenz“ korrespondieren mit der Frage nach der theologischen Deutung des Pathischen und der Unkontrollierbarkeit psychosomatischer Prozesse. Dabei kann festgestellt werden, dass sowohl das Krankheitserleben als auch die religiöse Erfahrung von der Dimension des Pathischen durchdrungen ist. Beide verweisen auf ein Verständnis von Subjektkonstitution in einem Zwischenraum von Passivität und Aktivität, in dem sich der Mensch als Getroffener vorfindet und sein Leib-SeinZur-Welt in Ereignissen und Affizierungen gegründet ist, die jeglichem Handeln und allem Weltbezug vorausgeht und es grundieren. Freilich ist der materiale Bezugspunkt zu unterscheiden. Einmal geht es um das Getroffen54 Frank, The Wounded Story Teller, 38.

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sein in der Gotteserfahrung bzw. um die Inanspruchnahme von der verwandelnden Kraft des Evangeliums, im anderen Falle geht es um das Widerfahrnis, das mit dem Krankheitserleben in Verbindung gebracht wird. Die Aufgabe von Seelsorgenden besteht nun darin, Anwältinnnen und Anwälte des Pathischen zu werden und den Widerfahrnisspuren in der eigenen Lebensgeschichte nachzugehen, ohne dass diese vorschnell mit monokausalen oder abstrahierenden Begründungsmuster zugeschüttet werden. Entsprechend kann es in der Seelsorge nicht vorschnell um Kontingenzbewältigung gehen, sondern um die Vertiefung der Kontingenzwahrnehmung. Die Reflexion von Daseinskontingenz geschieht in dem Bewusstsein, dass es Lebensthemen gibt, die nicht durch menschliche Handlungskompetenz bzw. durch Emanzipationsprogramme zu bewältigen sind. Vulnerabilitätserfahrungen in all ihren Facetten verweisen im religiösen Deutungshorizont auf die Erfahrung der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens und schlechthinniger Abhängigkeit von Gott. Insofern zielt Kontingenzvergegenwärtigung nicht auf Problemlösung, sondern auf Anerkennung der menschlichen Grundsituation. Kontingente Lebensbestände können folglich nicht in Handlungszwecke transformiert werden. „Kontingenzvergegenwärtigung hat nicht die Struktur der Vergegenwärtigung eines Problems, das nach Lösung durch Mobilisierung problemlösungskompetenter Handlungskräfte verlangte. […] Im Akt der Anerkennung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten ändern sich nicht diese, vielmehr ändern wir uns, nämlich in unserem Verhältnis zu diesen Abhängigkeiten.“55 Die Vergegenwärtigung von Daseinskontingenz als einer Dimension des Pathischen geschieht in der erzählten Welt des Krankseins auf facettenreiche Weise. Sie materialisiert sich im unmittelbaren leibkörperlichen Erleben eines Kontrollverlustes. In der weiteren Reflexion solchen Erlebens wird sichtbar, dass es im Leben Geschehnisse gibt, die weder medizinisch noch politisch einfach gelöst werden können. Das Ringen mit der Kontingenz kommt gerade in dem Horizont der Verletzlichkeit des Lebens zur Geltung. Es gipfelt in der Frage der Theodizee, wie wir uns göttliche Gerechtigkeit und Gnade trotz unschuldigen und sinnlosen Leidens vorstellen können. Auch wird hier deutlich, dass das Leben letztlich nicht kontrollierbar ist. Wir können die Zukunft nicht vollständig nach unseren Wünschen formen. Im Ringen mit dem im Kranksein erfahrenen Kontrollverlust verdichten sich die Themen des Pathischen und der Kontingenzvergegenwärtigung als fundamentale Ausdrucksformen des Leib-Seins-Zur-Welt und somit des menschlichen Lebens. Eine vertiefte Beschäftigung mit Krankheitsnarrativen kann dazu verhelfen, zu einer nuancierteren Darstellung der Kontingenzproble55 Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz et al. 1986, 167.

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matik zu gelangen und so einen Beitrag zu einer realistischen Anthropologie zu leisten.56 Das Thema der leiblichen Rückbezüglichkeit kann mit der theologischen Signifikanz der Selbstliebe ins Gespräch gebracht werden. Leibliche Rückbezüglichkeit, die sich in der Erfahrung des Krankseins intensiviert, ist ein schillerndes Phänomen. Die Reflexion der ambivalenten Facetten kann dazu beitragen, Selbstliebe in Bezug auf den kranken Körper nuancierter als Thema der evangelischen Theologie zu entfalten. Selbstliebe zeigt sich in Selbstannahme, Selbstachtung, Aufmerksamkeit und im Selbstvertrauen. All diese Dimensionen in der Seelsorge zu unterstützen, zielt auf die Stärkung von Selbstliebe. Die Veränderungen in der Selbstwahrnehmung im Hinblick auf den eigenen Leib-Körper sowie im Hinblick auf die Blicke der anderen, die sich auf jenen Körper richten, produzieren labile Blickkonstellationen, die verunsichernd und Krisen verstärkend wirken können. Selbstliebe in der Seelsorge zu fördern bedeutet in diesem Zusammenhang, die destruktiven Kräfte in den Wahrnehmungsprozessen zu entschärfen und stabilisierend zu wirken. Zugleich geht es in der religiösen Dimension der Begleitung darum, einen Wahrnehmungsraum dafür zu öffnen, dass wir als Menschen in unserer Fragilität von Gott liebend angeschaut werden und dass darin die Wertschätzung und Lebendigkeit des je eigenen verletzlichen Lebens begründet ist. Aufmerksamkeit im Hinblick auf das leibkörperliche Sein in der Welt zu unterstützen, kann ganz alltagspraktisch darin bestehen, Menschen zu ermutigen, bestimmte Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig durchführen zu lassen, oder einen achtsamen Umgang mit Medikation im Falle von chronischen Erkrankungen zu kultivieren. Leibliche Rückbezüglichkeit kann allerdings auch destruktiv wirken. Sie kann so obsessiv sein, dass sie die Sorge um den eigenen Leib-Körper dermaßen verabsolutiert, dass die umgebende Lebenswelt nur noch schemenhaft wahrgenommen wird. Der nicht gewählte Schmerz kann zum Einschrumpfen des Weltbezuges führen, bis der kranke Mensch nur noch sich selbst im Schmerz wahrnehmen kann. Obsessive leibliche Rückbezüglichkeit kann dann auf das umgebende soziale Umfeld egoistisch und tyrannisierend wirken. Die Verkehrung der Selbstliebe, die sich in dieser Form der obsessiven Selbstbezüglichkeit zeigt, kann auch eine narzisstische Dimension haben. In der Geschichte des Christentums ist die Selbstliebe aufgrund dieser Nähe zum Narzissmus über weite Strecken kritisch beäugt, marginalisiert oder als sündig verdammt worden. Es sind allerdings gerade moderne Narzissmustheorien, die 56 Diesem Anliegen ist in instruktiver Weise die Habilitationsschrift von Heike Springhart verpflichtet, vgl. dies., Der verwundbare Mensch. Sterben, Tod und Endlichkeit im Horizont theologischer Anthropologien, Dogmatik in der Moderne Bd.15, Tübingen 2016.

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helfen können, ein theologisches Verständnis von Selbstliebe zu kritisieren, das diese pauschal als Ausdruck menschlicher Sünde versteht und auf diese Weise den Gegensatz von Selbstliebe (amor sui) und Gottes Liebe (amor dei) konstruiert.57 Die Pointe des Narzissos-Mythos besteht ja gerade darin, dass Narzissos sich selbst nicht lieben kann: „Der Mythos bringt dies zum Ausdruck, indem er den Gegenstand der Bezüglichkeit des Narzissos als diesem entzogen auffasst. Der Gegenstand der Liebe des Narzissos ist sein Spiegelbild, nicht er selbst. Wesensmerkmal eines Spiegelbildes ist es gerade, dem Besitzer entzogen zu sein.“58 Die Auseinandersetzung mit Krankheitsnarrativen kann in diesem Zusammenhang auch einen Beitrag zur Interpretation von Narzissmustheorien leisten, indem die pathische Dimension von Krankheits- und Schmerzerfahrungen mit einbezogen werden, die narzisstische Effekte zeitigen. Sich leiblich im Schmerz zu fühlen, vertieft in der Oszillation von Körper-Haben und Leib-Sein den Zugang zu sich selbst und führt zugleich in die Erfahrung der Selbstentfremdung.59 Darüber hinaus kann auch das für die evangelische Anthropologie so bedeutsame Bild des in sich selbst verkrümmten Menschen (homo incurvatus in se ipsum) in einen erweiterten Kontext gestellt, in einem neuen Licht betrachtet werden. Der Mensch, der sich aufgrund einschneidender Schmerzerfahrungen in seiner Leibbezogenheit als so verkrümmt erlebt, dass er sich vom Nächsten und von Gott als abgetrennt erfährt, kann sich nicht selbst lieben. Vielleicht schwankt er in seinem Selbstbild zwischen Selbstverachtung (ich hasse meinen kranken Körper) und Grandiositätsphantasien (ich komm schon alleine klar) hin und her. In der christlichen Tradition existieren für dieses Changieren narzisstischer Regungen die Begriffe der hybris und der desperatio. Die Schmerzerfahrung und die Rede von der Sünde teilen hier einen eigentümlichen Resonanzraum in der Entfremdung, die sowohl die Feindschaft gegen den eigenen Leibkörper bezeichnen kann als auch die Erfahrung der totalen Isolation in der Zerstörung des Weltverhältnisses und der erlebten Gottesferne. Es 57 Michael Roth sieht dies in manchen Schriften Augustins zum Ausdruck gebracht. Zugleich kann er bei Augustin aber auch eine andere theologische Sicht ausmachen: „Augustin läßt jedoch der Selbstliebe auch ihr positives Recht; denn es sind – nach Augustin – vier Dinge, die der rechtbeschaffene Mensch lieben muß: Gott, sich selbst, seinen Nächsten und seinen Leib.“ Michael Roth, Homo incurvatus in se ipsum – Der sich selbst verachtende Mensch. Narzissmustheorie und theologische Harmartiologie, PrTh 33 (1998), 14–33: 15. 58 AaO., 18. Das Erleben der Gottesferne und des Zusammenbruchs der Gottesbeziehung kann theologisch entsprechend folgendermaßen interpretiert werden: „Die Zerstörung des Gottesverhältnisses besteht in der Zerstörung des Verhältnisses zwischen dem ursprünglich Liebenden und dem aufgrund des Geliebtseins Liebenden. Sie ist daher der Versuch des Menschen, sein ihn konstituierendes Liebesverhältnis zu negieren.“ AaO., 26. 59 Diesem Paradox bin ich in Kap.4 nachgegangen.

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ist allerdings nur sinnvoll, diese strukturellen Parallelen aufzuzeigen, wenn hier ein Sündenverständnis vorausgesetzt wird, das eine Fundamentalbeschreibung menschlichen Leib-Seins-Zur-Welt beschreibt und eben nicht versucht, monokausale Attributionen zu formulieren etwa im Sinne: „du bist krank geworden oder du hast Schmerzen, weil du gesündigt hast“.60 Selbstannahme, die in Selbstliebe verwurzelt ist, drückt sich in der Fähigkeit aus, in behutsamer Weise mit Vulnerabilitätsphänomenen umzugehen, die mit Krankheitsphänomenen einhergehen. Selbstannahme bedarf keiner Projektion eines Größenselbst mehr, das auf Unverletzlichkeitsphantasien und ein monolithisches Verständnis von Gesundheit setzt. Selbstliebe im Kranksein zu praktizieren bedeutet aber auch, einer Krankheit nicht die Definitionsmacht über die eigene Person zu überlassen, sondern eine kritische Unterscheidung einzuführen: Bob Tucker ist kein Aidskranker, er ist ein Patient mit einer HIVInfektion; Cynthia Myers lässt sich nicht einfach nur als Frau nach einer Mastektomie definieren, denn so viele andere Facetten ihres Lebens lassen sich nicht darunter subsumieren. Interessanterweise lassen sich in vielen Krankheitserzählungen beide Dimensionen entdecken: zum einen die Selbstliebe in den Dimensionen der Selbstachtung, der Selbstannahme, der Aufmerksamkeit und des Selbstvertrauens. Zum anderen wird in der erzählten Welt des Krankseins die destruktive Seite der leiblichen Selbstbezüglichkeit immer wieder thematisiert. Hier unterscheiden zu können, ist unabdingbar. Ausgehend von der Wahrnehmung pathischer Responsivität, die jede Form wirklicher Selbstliebe in der vorausgehenden Liebe Gottes gegründet weiß, kann eine neue Freiheit zu sich selbst, d. h. eine erneuertes Selbstverhältnis erwachsen, in dem Gottesund die Nächstenliebe situiert sind.61 Selbstliebe, die sich in Selbstannahme, Selbstachtung, Aufmerksamkeit und im Selbstvertrauen ausdrückt, ist immer auch auf Reziprozität aus und sucht dem Gegenüber auch all dies zukommen zu lassen: Annahme, Achtung, Aufmerksamkeit und Vertrauen. Diese Reziprozität ist in der goldenen Regel ausgedrückt, die die Selbst- und Nächstenliebe nicht gegeneinander ausspielt, sondern beide in Gott verortet. Der Andere wird zum Nächsten, also 60 Vgl. zur Problematik der Kausalattributionen im Hinblick auf die Themen Krankheit und Sünde oder Schuld Kap.3. 61 Thomas von Aquin gehört zu den Theologen, die die Selbstliebe nicht als Ausdruck von Sünde verstehen, sondern in der Liebe Gottes gegründet sehen. So stellt Thomas emphatisch fest, dass der Mensch dazu berufen sei, an der Liebe Gottes Anteil zu gewinnen und so zum Mitliebenden mit Gott zu werden. Gott aber liebt seine Geschöpfe, jeden einzelnen Menschen dies wird im Erlösungsgeschehen offenbar (1Joh 3,16; 4,9f.; 19). So gibt es eine legitime, ja sogar gebotene christliche Selbstliebe, die in der Liebe Gottes aufgehoben ist (Eph 5,29). Die in der Gottesliebe sich gründende Selbstliebe wird sich an der Liebe zum Nächsten nähren und ausrichten. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica 2,2 q.26 a.4; D 2351–74.

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zum Menschen, der in individueller und sozialer Hinsicht Anerkennung erfährt, weil er als derjenige gesehen wird, der bereits von Gott angesehen und geliebt ist. Also solcher wird er mir zum Nächsten. Die Selbstliebe als Selbstverhältnis und die Nächstenliebe als Fremdverhältnis wird in der jüdisch-christlichen Tradition durch eine dritte Instanz, nämlich durch die Liebe Gottes, qualifiziert. Arthur Frank betont, dass in vielen Krankheitserzählungen die empathische Bezogenheit auf Andere auf der Skala von monadisch bis dyadisch thematisiert wird. Diese funktioniert in der dyadischen Ausrichtung zumeist via identifizierende Perspektivübernahme: „weil ich diese oder jene Krankheit auch durchlitten habe, kann ich mich in Menschen einfühlen, die ähnliches ertragen haben.“ In der christlichen Tradition wird allerdings der Horizont erweitert. Nächstenliebe hängt gerade nicht von ko-leiblicher Präsenz ab oder von einer Erfahrung, die in ähnlicher Weise geteilt wurde.62 Im jüdisch-christlichen Verständnis von Nächstenliebe ist maßgeblich die Spur der Alterität eingezeichnet, die sich auf dasjenige, was mir im Anderen als Fremdes entgegenkommt, bezieht und entsprechend sogar Aversion und Abstoßung auslösen kann. Das in der Selbstliebe herausgearbeitete Paradox von Fremdsein und Intimität kann in der Nächstenliebe entsprechend als Hinwendung zum Fremden im Anderen verstanden werden. Dies kann sich auch auf den Nächsten beziehen, den ich gar nicht persönlich kenne oder der in räumlicher Distanz zu mir steht. Professionelle medizinische Pflegebeziehungen beispielsweise dürfen gerade nicht von der intimen Kenntnis einer anderen Person abhängen. Es geht vielmehr darum, Menschen im professionellen Handeln auch unter Bedingungen der Anonymität Annahme, Achtung und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Nur so ist es für alle Beteiligten möglich, vertrauensvolle Beziehungen auch unter den Bedingungen der Anonymität und des Fremdseins aufbauen zu können. Der vierte Themenkomplex, der in Krankheitserzählungen verhandelt wird, ist das auf Zukunft ausgerichtete Begehren, das niemals erfüllt und gerade deshalb zu einer kreativen Produktivkraft werden kann. Im Kranksein wird offenbar, wie fragil, verletzlich, aber auch kraftvoll diese Produktivkraft sein kann. Sie schwankt zwischen der Sehnsucht nach Expansion des noch nicht gelebten Lebens und der Intensivierung gelebter Gegenwartsmomente auf der einen und dem Einbruch totaler Hoffnungslosigkeit auf der anderen Seite. Das in Krankheitsnarrativen ausgedrückte Verlangen kann sich auf ganz unterschiedliche Dinge beziehen: auf den Wunsch nach umfassender Heilung oder nach der Linderung von Schmerzen, auf die Hoffnung, be-

62 Vgl. hierzu auch Kap.4.

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schädigte Beziehungen mit geliebten Menschen wiederherstellen zu können, oder die Hoffnung auf Frieden im Schutzraum des gnädigen Gottes. Das leiblich-körperliche Begehren, das sich auf vielfältige Weise in Erfahrungen des Krankseins zeigt, lässt sich in den Resonanzraum eschatologischer Theologie hineinstellen. Das nicht zu stillende Sehnen, das unerfüllt bleiben muss, findet seine religiöse Gestalt in der Deutung des Glaubens als Begehren, das sich in der Hoffnung auf verheißene Neuschöpfung ausdrückt. In der Hoffnung, dass Gott alle Tränen abwischen wird, und dass weder Leid noch Geschrei mehr sein wird, drückt sich der begehrende Glauben aus, der auf umfassende Erlösung ausgerichtet ist. Dies schließt die Überwindung der leidvollen Dimensionen der Vulnerabilität mit ein. Eine trostvolle Ausrichtung des Glaubens wird sich dabei mit einer „heiligen Unruhe“ verbinden können, die dem Streben nach Vollendung auch im Alltag einen Raum gibt. Solch eine Ausrichtung des Glaubens als Begehren wird in paradoxer Weise die Verschwisterung von Schmerz und Sehnsucht vertiefen. Diese Form eschatologischen Denkens lässt sich auf die phänomenologische Grundbestimmung der Vulnerabilität beziehen, die eingangs unter dem Aspekt der Potenzialität diskutiert wurde.63 Die Sehnsucht verweist auf die Potenzialität, die mit der Bruchstückhaftigkeit des Lebens einhergeht, auf die unrealisierten Möglichkeiten, die unvollendete Projekte und nicht gelebtes Leben in sich bergen. In der Sehnsucht ist das Wissen um unsere Angewiesenheit auf Vollendung zum Ganzen, die noch nicht geschehen ist, aufgehoben. Mary McClintock Fulkerson schreibt über den Versuch, theologisches Denken in Resonanzen zu entwickeln: „[It] originates at the scene of a wound. […] Like a wound, theological thinking is generated by a sometimes inchoate sense that something must be addressed.”64 Krankheitsnarrative können solch eine Dringlichkeit verstärken, die in dem Versuch besteht, theologische Themen im Angesicht der Ambivalenzen und der Potenzialität, die die Erzählungen vom verletzlichen Leben in sich bergen, noch einmal auszulegen. So entwickeln sich neue Perspektiven im Bereich der Gotteslehre, der theologischen Anthropologie und der Eschatologie. Krankheitsnarrative können zu einer theologischen Reflexion am Leitfaden leiblicher Verhandlungsprozesse anleiten. Abschließend soll im Folgenden noch einmal grundsätzlich der Fokus auf die theologische Ausrichtung einer Seelsorgepraxis im Angesicht der erzählten Welt des Krankseins gerichtet werden.

63 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap.1. 64 Mary McClintock Fulkerson, Places of Redemption. Theology for a Worldly Church, Oxford 2007, 13f.

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Seelsorgende sollten sowohl angesichts der Vielschichtigkeit von Krankheitsnarrativen als auch im Angesicht der Vielfalt theologischer Deutungsversuche aus Schrift und Tradition davon Abstand nehmen, einfache Standardantworten über den religiös bestimmten Sinn von Krankheit zu formulieren. Sie sollten sich vielmehr in ein dynamisches Spannungsfeld hineinbegeben, in dem sie für einen theologisch begründeten Realitätssinn einstehen. Zugleich sollten sie darauf zugehen, einen Möglichkeitssinn zu artikulieren, der auf ein prozessuales Verständnis von Geschöpflichkeit im Horizont der Lebendigkeit Gottes bezogen ist. Im Zwischenraum zwischen Realitäts- und Möglichkeitssinn können sie zu Anwältinnen des Pathischen werden. Der Realitätssinn umfasst verschiedene Aspekte, die im Lauf dieser Untersuchung bereits zur Sprache gebracht wurden. Es wurde vorgeschlagen, Krankheiten, deren Ursachen nicht klar benannt werden können, als malum naturale zu begreifen, als oftmals nur schwer zu ertragendes Übel, das in die Tiefengrammatik der Schöpfung eingezeichnet ist.65 Der Realitätssinn, der im Angesicht solcher Krankheiten angebracht ist, kann sich sowohl auf die Akzeptanz medizinischer Interventionen und ihrer Begrenzung beziehen als auch auf den Widerspruch gegen die Unerlöstheit der Schöpfung, die in manchem Krankheitsbild in brutaler Weise zu Tage tritt. Dieser kann sich in der Klage der Betenden ausdrücken, aber auch in dem Versuch, den zermürbenden Diagnosen nicht die letzte Macht über das eigene Leben zu überlassen. Zu Zeiten kann es notwendig sein, die Logik monokausaler Attributionen zu unterbrechen, die in Sinnfindungsnarrativen zu finden ist. Manchmal muss einem illusionären Zukunftsoptimismus widersprochen werden, von dem manche Restitutionsnarrative getragen sind. In anderen Situationen gilt es, Menschen in dem Bemühen zu unterstützen, selbstviktimisierende Mechanismen, die Chaosnarrativen inhärent sind, hinter sich zu lassen. Zum Realitätssinn in der Seelsorge gehört auch die Erkenntnis, dass manchmal Menschen durch eine Vielzahl von Faktoren krank gemacht werden, die aus ihrem sozialen Umfeld auf sie einströmen. Diese in der Seelsorgepraxis zu identifizieren und Möglichkeiten des Widerspruchs aufzubauen, gehört auch zu einem theologisch bestimmten Realitätssinn. Ein weiterer Aspekt hat mit den Überblendungen religiöser und kultureller Vorstellungen zu tun, die in Krankheitsnarrativen zu finden sind und in denen sich ein höchst problematisches Gesundheitsverständnis abbildet, in

65 Vgl. Kap.3.

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dem Gesundsein zum Lebenssinn schlechthin stilisiert wird und so eine religionsaffine Qualität erhält.66 In der Seelsorgepraxis kommt es neben der Artikulation eines Realitätssinns zugleich auf die Freilegung eines Möglichkeitssinns an. Dabei geht es im Hinblick auf die erzählte Welt des Krankseins um die Wahrnehmung eines Überschusses oder eines Transformationspotenzials, das in christlicher Deutungsperspektive auf die Lebendigkeit Gottes bezogen ist, die wir als pathisch und affizierbar vorgestellt haben.67 In diesem Horizont wird Gott nicht als statische Entität verstanden, sondern dynamisch als Wirklichkeit des Möglichen, die im Eröffnen kreativer Lebensmöglichkeiten gegenwärtig ist. Selbst in der Verstrickung in die erzählte Welt des Krankseins werden Menschen in der Seelsorge im Lichte des Evangeliums als Geschöpfe Gottes sichtbar, deren Leben sich selbst im Sterben prozesshaft entfaltet. Auf ihre, sich im Werden befindliche Geschöpflichkeit sollten Menschen angesprochen werden, wenn sie versuchen, ihre Krankheitserfahrungen zu deuten. Dies sollte nicht zu leistungsorientierten Überforderungen führen, sondern vielmehr einen Möglichkeitssinn evozieren, der den Fluss des Lebens und darin den Fluss des Erzählens im Horizont der Wirklichkeit des affizierbaren Gottes offen hält. Wenn in Gebeten und Ritualen in der Seelsorge von Gott als Licht in der Finsternis gesprochen wird, dann verweist die Metapher auf die Hoffnung auf eine wirksame dynamische göttliche Präsenz im Leben verletzlicher Menschen, die durch die Momente der Verzweiflung und der Hoffnung hindurch wirksam ist. Manchmal drückt sich das expansive Begehren, das wir Hoffnung nennen, ganz profan aus. Seelsorgende sprechen von dem Begehren Sterbender: Da ist einer, der lernt noch Italienisch, obwohl ihm vermutlich nur noch ein paar Monate bleiben. Eine andere beschließt, Tanzstunden zu nehmen. Ein dritter sitzt einfach da und bestaunt den Kirschbaum in seinem Garten. Im Spannungsfeld zwischen Realitäts- und Möglichkeitssinn werden Seelsorgende zu Anwältinnen des Pathischen; sie geben dem Widerfahrnis des Krankwerdens einen Raum des Nachhalls. Im Brief an die Gemeinde in Rom bietet Paulus in der stöhnenden Schöpfung, die in Geburtswehen liegt und auf Erlösung hinstrebt (Röm 8, 22), ein Bild an, das als Inspiration dienen kann. Im Bild der Geburtswehen kommt der Aspekt des Pathischen sowohl als gespanntes Warten als auch im aktiven Pressen zum Ausdruck. Das Warten auf die nächste Wehe sowie das Mitgehen mit dem Schmerz im Atmen und Pressen ist ein Bild, das die Arbeit von Seelsorgenden im Raum des Pathischen beflügeln kann. 66 Vgl. Sharon V. Betcher, Spirit and the Politics of Disablement, Minneapolis 2007; Gunda Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 32008, 82–113. 67 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap.3.

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Das Zerbrechen der Erzählungen Die Responsivität im Raum des Pathischen drückt sich in vielerlei Gestalt aus. Die erzählte Welt des Krankseins und die darin enthaltenen Themen, die auf die Erfahrung der Verletzlichkeit antworten, bilden den Horizont einer Theologie der Seelsorge. Seelsorgerinnen wurden in diesem Zusammenhang als Anwältinnen des Pathischen vorgestellt. Im Folgenden wird der Raum des Pathischen weiter abgeschritten, indem wir uns einem Beispiel zuwenden, in dem die Widerfahrnisqualität und der darin inhärente Kontrollverlust eine überwältigende Qualität annehmen. Das Beispiel führt uns in die USA und befasst sich mit der Arbeit von Seelsorgern, die in Kliniken arbeiten, in denen ehemalige Soldatinnen und Soldaten behandelt werden, die aufgrund ihres Einsatzes in verschiedenen Kriegsgebieten unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Mit diesem Beispiel tritt u. a. die politische Dimension der Seelsorgearbeit ins Zentrum des Interesses. In diesem Falle ist die Sorgepraxis verbunden mit den Konsequenzen, die der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus im Leben einzelner Menschen haben kann. Dabei wird ein Ausschnitt aus der Erfahrungswelt US-amerikanischer Soldatinnen und Soldaten gezeigt; die Perspektive der irakischen oder afghanischen Zivilbevölkerung kommt darin nicht vor. Diese Forschungslücke bedarf dringend der Aufarbeitung im Hinblick auf die Entwicklung einer Theologie der Seelsorge in interkultureller und globaler Perspektive. Das Beispiel wurde auch gewählt, weil hier in beispielhafter Weise sichtbar wird, wie sich im Zerbrechen des autobiographischen Erzählzusammenhangs die Kraft biblischer Texte entfalten kann. Es folgt zunächst eine kurze Einführung in die Phänomene der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und der moralischen Verletzung. Im zweiten Schritt wird die Arbeit mit Klagepsalmen vorgestellt, die im Raum der Traumatisierung die Möglichkeit für Kriegsveteranen eröffnet, sowohl den Narben des Krieges als auch der Hoffnung auf eine bessere Zukunft einen Ausdruck zu verleihen. Abschließend wird noch einmal grundsätzlich auf Imaginationsprozesse im Raum des Pathischen und ihre Bedeutung für die Seelsorgepraxis eingegangen.

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Trauma und moralische Verletzung68 Veteranen, die in den US-amerikanischen Streitkräften dienten, wurden darin geschult, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilpersonen zu töten. Viele von ihnen töteten Frauen und Kinder, die sie als Feinde wahrnahmen. Diese Soldaten lebten oftmals zugleich unter Dauerstress, weil auch ihr eigenes Leben bedroht war. Sie wurden Zeugen der Gewalt, die gegen sie und ihre Kameraden verübt wurde. Man schätzt zudem, dass rund 25 Prozent der Soldatinnen Opfer von sexuellen Übergriffen aus den eigenen Reihen wurden. Im Leben dieser Veteranen ist die Grenze zwischen Täter- und Opfersein in vielen Fällen verwischt. Diese höchst ambivalenten Erfahrungen zu verarbeiten, stellt sowohl für die ehemaligen Soldaten als auch für die Seelsorgenden eine Herausforderung dar. Viele, die aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan zurückgekehrt sind, leiden unter PTBS. Seit 1990 sind mehr als 1,6 Millionen von PTBS betroffene Frauen und Männer behandelt worden. Mitgezählt werden dabei Veteranen aus dem Vietnamkrieg, dem Golfkrieg und den militärischen Aktivitäten in Irak und in Afghanistan. Von PTBS betroffen sind Menschen, die lebensbedrohende Erfahrungen gemacht haben, in denen sie mit der Gefahr ernsthafter körperlicher Verletzung oder mit tödlicher Bedrohung für sich selbst oder das Leben anderer konfrontiert waren. Derlei Erfahrungen können Traumatisierungen zur Folge haben, die sich in einer Reihe von Symptomen zeigen können. Das Department of Veteran Affairs hat folgende Definition erarbeitet: „Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine klinisch signifikante Erkrankung mit Symptomen, die länger als einen Monat andauern, nachdem der/die Betroffene ein traumatisches Ereignis erlebt hat, das ein großes Leid ausgelöst oder zu einer bedeutenden Beeinträchtigung im sozialen oder beruflichen Umfeld, bzw. einem anderen wichtigen Funktionsbereich geführt hat. Patienten mit PTBS können das Trauma oder die traumatischen Ereignisse immer wieder neu erleben. Sie vermeiden systematisch Stimulationen, die mit dem Trauma assoziiert werden; ihre allgemeine Reaktionsfähigkeit ist abgestumpft (was vor dem Trauma nicht der Fall war), bzw. sie zeigen anhaltende Anzeichen erhöhter Erregung (was vor dem Trauma nicht der Fall war). Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) können auch mit Verzögerung eintreten, d. h. das klinisch signifikante Auftreten von Symptomen (die großes Leiden oder eine bedeutende Beeinträchtigung im

68 Der folgende Abschnitt stellt die überarbeitete Fassung meines Aufsatzes dar, vgl. Andrea Bieler, The Wounds of War: Engaging Psalms of Lament in Pastoral Care with Veterans on the Background of Martin Luther’s Hermeneutics, in: Kenneth Mtata/Karl-Wilhelm Niebuhr/Miriam Rose (Hg.), Singing the Songs of the Lord in Foreign Lands: Psalms in Contemporary Lutheran Interpretation, Leipzig 2014, 245–260.

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sozialen, beruflichen oder einem anderen wichtigen Funktionsbereich auslösen) erfolgt dann frühestens sechs Monate nach dem traumatischen Erlebnis.“69 PTBS zeigt sich in Symptomen wie erhöhter Erregung, körperlichen Reaktionen wie Schlaflosigkeit, unkontrollierten Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten oder Hypervigilanz. Weitere Ausdrucksformen sind Reizbarkeit und erhöhte Schreckhaftigkeit. Wenn solche Symptome länger als einen Monat anhalten und zu schweren Ängsten oder Beeinträchtigungen wesentlicher Lebensbereiche führen, wird eine akute Belastungsreaktion diagnostiziert. Eine im Februar 2013 veröffentlichte Studie des Department of Veteran Affairs zum Thema Selbsttötung zeigte beunruhigende Zahlen: Pro Tag begehen durchschnittlich 22 ehemalige Soldatinnen und Soldaten Suizid – das ist eine Person alle 65 Minuten. Die Veröffentlichung der Studie erfolgte nur wenige Tage nachdem die US-Armee bekannt gegeben hatte, die Suizidrate habe im Jahr 2012 eine Rekordhöhe erreicht und unter den Soldaten im aktiven Dienst die Zahl der im Kampf Umgekommenen mit 349 Suiziden – nahezu einem pro Tag – überholt.70 Die Behandlung von PTBS hat das Leiden zwar zweifellos verringert und vielen Zurückgekehrten den Übergang ins zivile Leben ermöglicht. Die Suizidrate bei den Veteranen unter 30 Jahren nimmt jedoch stetig zu.71 In der psychotherapeutischen Behandlung von PTBS werden unterschiedliche Methoden erprobt, deren Wirksamkeit bis heute wissenschaftlich noch nicht gründlich erforscht ist. Ein von vielen geteilter Ausgangspunkt besteht in der Annahme, dass es bei einer psychotherapeutischen Intervention wesentlich ist, die Voraussetzungen und die Gewährleistung von Sicherheit und Unterstützung zu fördern sowie eine gewisse Grundaufklärung über PTBS zu vermitteln. Am umstrittensten sind die so genannten Konfrontationstherapien, die eine erneute Exposition mit dem traumatischen Ereignis zu erreichen suchen. Andere therapeutische Zugänge wie die kognitive Verhaltenstherapie zielen darauf ab, die Gefühle und Handlungen eines traumatisierten Menschen zu verwandeln, indem die Denk- oder Verhaltensmuster (oder beide zusammen), die für negative Emotionen verantwortlich sind, verändert werden. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie lernt man, Gedanken zu erkennen, die einen ängstigen oder aufwühlen, um sie anschließend durch weniger erschütternde Gedanken zu ersetzen. Ziel dabei ist, die Angstsymptome – eine der Hauptursachen des Leidens – zu verringern. 69 Department of Veterans Affairs and Department of Defense: „Clinical Practice Guideline for Management of Post-Traumatic Stress Version 2.0“, 2010, auf: www.healthquality.va.gov/ guidelines/MH/ptsd/cpg PTSDFULL201011612c.pdf (Stand: 23. 10. 2015). 70 Vgl. Peter Cooney (Hg.), U.S. military veteran suicides rise, one dies every 65 minutes, Reuters, 01. 02. 2013, www.reuters.com/article/2013/02/02/us-usa-veterans-suicide-idUS BRE9101E320130202 (Stand: 23. 10. 2015). 71 Zu diesem Thema vgl. Penny Coleman, Flashback: Posttraumatic Stress Disorder, Suicide, and the Lessons of War, Boston 2006.

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Im Bewältigungsprozess scheint nicht nur die Psychotherapie, sondern auch ein soziales Unterstützungsnetzwerk für die Betroffenen wichtig zu sein. Hier liegt die Verantwortung von Familien und Freunden, aber auch von Kirchengemeinden. In den USA entwickeln Kirchengemeinden Unterstützungsprogramme, die umfassender auf die psychologische Schädigung, die wirtschaftliche Ausgrenzung und die gesellschaftliche Entfremdung, denen Kriegsveteranen ausgesetzt sind, eingehen. Zahlreiche Veteranen kämpfen mit Langzeitarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und der Schädigung ihrer familiären Beziehungen. PTBS geht mit vielen sozialen Beeinträchtigungen einher. Einige Veteranen erzählen, sie fühlten sich wie wandelnde Tote oder Gespenster in einer Gesellschaft, die sie nicht mehr unterstützt. Im Dezember 2009 beschrieben Psychotherapeuten des Department of Veteran Affairs erstmals ein Phänomen, das sie „moralische Verletzung“ (moral injury) nannten. Diese wird als äußerste Not definiert, die ausgelöst wurde durch „das Ausführen, Nichtverhindern oder Beobachten von Handlungen, die gegen eigene tief verwurzelte moralische Überzeugungen und Erwartungen verstoßen.“72 Es wird davon ausgegangen, dass moralische Verletzungen in signifikanter Weise zu klinischer Depression, Sucht, aggressivem Verhalten und Suizid beitragen und manchmal die Entstehung von PTBS auslösen oder intensivieren können. Moralische Verletzung ist aber nicht dasselbe wie PTBS. Sie verweist auf die moralische Dissonanz, die in der Intention Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen und der Erfahrung sinnlosen Tötens, besteht. Der Umgang mit moralischer Verletzung ist eine Herausforderung, der sich verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen stellen sollten und die nicht einfach nur an spezialisierte Therapeutinnen delegiert werden kann. Mit dem Konzept der moralischen Verletzung wird ein innerer Konflikt beschrieben, der auf der Selbsteinschätzung beruht, man habe anderen Menschen in unangemessener Weise Schaden zugefügt. Diese Einschätzungen gelten nicht nur für aktives Handeln wie Töten, sondern auch für passives Verhalten, wenn jemand zum Beispiel einen Schaden nicht verhindern konnte oder zusehen musste, wie ein enger Freund getötet wird. Moralische Verletzung kann auch beinhalten, dass man sich von Vorgesetzten verraten fühlt. Selbst wenn eine Handlung jemandes Leben rettete oder sich zum fraglichen Zeitpunkt richtig anfühlte, kann ein Veteran später Gewissensbisse oder Schuldgefühle verspüren, weil er/sie einen Schaden anrichten musste, der

72 Shira Maguen/Brett Litz, Moral Injury in Veterans of War, PTSD Research Quarterly, 23 (2012), 1–3: 1.

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gegen seine/ihre inneren Werte verstößt.73 Gefühle wie Scham, Kummer, Wertlosigkeit und Reue deuten auf Handlungen hin, die zentrale moralische Werte einer Person verletzt haben. Sie sind Symptome einer tiefgreifenden Krise, die durch eine moralische Verletzung ausgelöst werden kann. Wer an einem Trauma leidet, stellt die Welt auf eine fundamentale Weise in Frage, so dass oftmals ein Gefühl der kognitiven Dissonanz entsteht. Im Verlauf der Ursachensuche tauchen dabei oft Fragen auf wie: Warum ist dieses Ereignis geschehen? Wer ist schuld – ich? andere? Gott? Halfen meine Reaktionen anderen Menschen oder verletzten sie andere? Ist dieses Ereignis gerecht, richtig, fair? Der Versuch, einen Sinn zu erkennen, kann hingegen zu folgenden Fragen führen: Kann ich den Menschen vertrauen? Bin ich noch sicher? Was sagt dies über mich aus? Kann ich meine Zukunft kontrollieren? Was für Lehren habe ich gezogen? Was bedeutet dies für meine Zukunft? Kognitive Dissonanz hat mit der Frage zu tun, wie das Ereignis in meine frühere Weltsicht hineinpasst. Kann ich das Ereignis neben meine Grundannahmen stellen, ohne dass eine Spannung entsteht? Da ich das Trauma nicht ändern kann: Wie müssen sich meine Gedanken und Überzeugungen verändern? 74 In der Seelsorgepraxis geht es darum, diesen Fragen einen Raum zu geben, die sich im Nachhall eines als traumatisch erlebten Widerfahrnisses stellen.

Die Wunde umkreisen: Klagepsalmen in der Seelsorge Das Spiritual Care-Handbuch benennt verschiedene Ressourcen im Bereich der Seelsorge: z. B. das Gebet, Heilungsrituale, die für den religiösen Hintergrund der/des Betroffenen geeignet sind, die Beichte, die Beschäftigung mit Schuld und Vergebung, geistliche autobiographische Arbeit, das Lesen der Heiligen Schrift, die Auseinandersetzung mit bestehenden Gottesbildern und schließlich die Ermutigung, eine religiöse Gemeinschaft zu suchen.75 Die Arbeit muss dabei auf eine geistliche Präsenz der Seelsorgenden gegründet sein, die weder Angst auslöst noch verurteilt. 73 Herman Keizer Jr., I’ll be home for Christmas, 2011, http://worship.calvin.edu/resources/ resource-library/i-ll-be-home-for-christmas. 74 Siehe Kent Drescher, „Suggestions for Including Spirituality in Coping with Stress”, in: Andrea Bieler, The Wounds of War: Engaging Psalms of Lament in Pastoral Care with Veterans on the Background of Martin Luther’s Hermeneutics, in: Kenneth Mtata/KarlWilhelm Niebuhr/Miriam Rose (Hg.), Singing the Songs of the Lord in Foreign Lands: Psalms in Contemporary Lutheran Interpretation, Leipzig 2014, 251. 75 Brian Hughes, BCC, und George Handzo, BCC, Spiritual Care Handbook on PTSD/TBI: The Handbook on Best Practices for the Provision of Spiritual Care to Persons with Post Traumatic Stress Disorder and Traumatic Brain Injury, www.healthcarechaplaincy.org/userimages/ Spiritual%20Care%20PTSD%20 Handbook1.pdf (Stand: 23.10. 2015) (Übersetzung A.B.).

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Im Folgenden werden zwei Beispiele vorgestellt, in denen Klagepsalmen auf unterschiedliche Art und Weise in der Seelsorgepraxis eingespielt werden. Der Seelsorger Brian Kimball schlägt beispielsweise vor, Psalm 55 mit der Stimme eines Soldaten oder einer Soldatin zu lesen, die unter einer Vielzahl von Stresssymptomen leidet: „Vers 3: (körperlich) ruhelos Vers 4: (geistig) Bedrängnis Vers 5: (geistig) Furcht Vers 6: (geistig) Grauen Vers 14: (geistlich) Lügen Vers 16: (geistlich) Wut angesichts von Ungerechtigkeit

Stressreaktionen, die aus Kampferlebnissen erwachsen: Vers 3: (körperlich) ruhelos Vers 6: (körperlich) Zittern Vers 4: (geistig) abgelenkt Vers 5: (emotional) Furcht Vers 6: (emotional) überfallen Verse 7 bis 9: (emotional) Wunsch, zu fliehen.“76

Kimball fordert die Lesenden auf, in diesem Psalm einen Spiegel ihrer eigenen Verwundung zu sehen. Er lädt dazu ein, den eigenen bedrängenden Erfahrungen in den Bildern dieses Psalms einen Ort und eine Sprache zu verleihen. Gleichzeitig kann die gemeinschaftliche Deutung des Psalms das Bewusstsein stärken, nicht allein zu sein. Durch die beschriebene Arbeit mit den Klagepsalmen werden Veteraninnen und Veteranen ermutigt, ihre eigene Stimme zu finden und dem Ringen mit Gott einen Raum zu geben. Klagepsalmen des Einzelnen sind Ausdrucksformen, in denen Widerfahrnisse auf eine Weise in Sprache gefasst werden, die einen Raum auch für das Unaussprechliche zu eröffnen. Sie fassen die Erfahrung des Überschwemmtwerdens, des Vertrauensverlustes in den umgebenden Sozialraum ebenso in Worte wie die menschliche Fähigkeit inmitten des Horrors eine imaginative Gegenwelt aufzubauen und wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Das zweite Beispiel beschreibt die Arbeit einer Seelsorgerin in einem Krankenhaus im mittleren Westen der USA. Die Seelsorgerin nutzt Klagetraditionen, um Menschen mit PTBS zu helfen, die spirituelle Dimension des eigenen Lebens bzw. die Beziehung zu Gott vor dem Horizont der Traumatisierungserfahrung zum Ausdruck zu bringen.77 Sie stützt sich dabei nicht auf die konkreten Bilder von Klage und Hoffnung, die die Psalmen enthalten. 76 AaO., 75 (Übersetzung A.B.). 77 Ich danke Wade Meyers, der mir diesen Text zur Verfügung gestellt hat.

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Vielmehr wird die Struktur der Klagepsalmen gewählt, um einen Imaginationsraum zu schaffen, der einen kreativen Schreibprozess fördern soll. Folgende Fragen und Aufgaben werden dabei gestellt: Wie können Sie Gottes Aufmerksamkeit auf sich lenken? Was sind Ihre Klagen? Bringen Sie Vertrauen zum Ausdruck. Was wollen Sie erreichen? Drücken Sie die Gewissheit aus, dass Sie angehört worden sind. Drücken Sie Dankbarkeit aus. Ein Teilnehmer verfasst folgenden Text:

„Lieber Gott, große Gaia, König der Könige, himmlischer Vater, Erlöser, hey, du da oben, Herr unser Vater, Jesus Christus Jehovah, JHWH, du hörst nicht zu!!! Warum ist das passiert? […] MIR passiert? Warum bin ich hier? Wo bist du? Wo warst du? Was habe ich falsch gemacht? Hörst du mir überhaupt zu? Kümmert es dich überhaupt? Warum habe ich solange gebraucht, um herauszufinden, was mein Problem ist? Bist du überhaupt da? Warum lässt du mich leiden? Hey, warum nimmst du mich nicht einfach zu dir? Warum gibt es Krieg? Wann hört der Schmerz endlich auf ? … Wird er je aufhören? Bedeutet gar nichts. Ich habe mir selbst in die Brust geschossen und bin verdammt nochmal immer noch da. Ich will dir nicht vertrauen, aber die Tatsache, dass ich hier bin, sagt etwas aus. Ich habe so vieles angestellt, das mich hätte umbringen sollen … Wir haben dem Suizid ins Auge geschaut, viele von uns haben versucht, sich umzubringen, dennoch sind wir hier […] Ich will Antworten… geistige Gesundheit… Frieden… Gelassenheit. Ich will geliebt werden. Ich will schlafen – die ganze Nacht durch, ohne Albträume, ohne Schweißausbrüche, ohne aus dem Schlaf aufzuschrecken und nicht zu wissen, wo ich bin. Ich will lieben können… vertrauen können… in mir selbst Vergebung finden, zunächst für mich und dann für die anderen. Ich will ‚normal‘ sein. Ich will mich hinsetzen können, ohne dass mir jemand den Rücken decken muss. Ich will mich in einer Menschenmenge entspannen und Spaß haben können. Ich will mich selbst verstehen und bei anderen Verständnis für mich finden. Ich will voranschreiten, im Leben weiterkommen… meine Probleme bewältigen. Wenn ich auf meine Gebete Antwort erhalte, weiß ich, dass ich erhört worden bin. Dass diese Gruppe existiert… zeigt mir, dass wir dir wichtig sind. Ich höre immer wieder von den anderen Vorschläge, ‚wie ich beten soll‘. Ich will darauf vertrauen, dass du meine Gebete hörst… egal, wie sie zu dir gelangen… Ich will zu dir beten… jederzeit… überall.

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Ich danke dir jeden Morgen dafür, dass du da bist… Ich danke dir für einen weiteren Tag… Amen.78 Diese Praxis des Klagens folgt der Form der Klagepsalmen, wie sie von Alttestamentlern wie Claus Westermann bestimmt wurden. Westermann nennt folgende Merkmale: Ein Klagepsalm beginnt gewöhnlich mit einer Anrufung, einem dringenden Flehen um Gottes Aufmerksamkeit. Die Klage selbst ist oft dreiteilig: Die Klage gegen die Feinde bringt die erlebten Bedrohungen zum Ausdruck. Die Klage in der Ich-Form beschreibt das Leiden des Betenden, die Anklage Gottes, bringt Sorge über die göttliche Beteiligung am Leiden zum Ausdruck, oft in Form einer Beschwerde. Diesen Klagen stehen Sätze des Vertrauens gegenüber, der Erinnerung an Erfahrungen von Sicherheit und Unterstützung. All dies fließt am Ende in einem dringenden Flehen um Rettung zusammen.79 Die Seelsorgerin nimmt eine bedeutende Änderung vor, sie passt die oben beschriebene Sequenz an. Ihre Aufgabenstellung enthält keine ausdrückliche Aufforderung, von der ursprünglichen Erfahrung zu erzählen, die zu den Klagen über den Feind gehören könnte. Der Rahmen der Klage bietet eine Struktur, die Stabilität schafft. Sie beginnt mit einer Anrede Gottes und baut so eine Beziehung auf. Hier geht es nicht um einen freien Fall zurück in die Schreckenssituation, sondern darum, der eigenen Perspektive einen Ausdruck zu verleihen, die auf Hoffnung ausgerichtet ist. Das Verfassen solcher Klagepsalmen ist eine Übung in antizipatorischer Imagination. Sie ist vermutlich nicht völlig im Einklang mit dem gegenwärtigen emotionalen Zustand der Betroffenen, vertraut jedoch darauf, dass die Struktur der Klagepsalmen eine Chance bietet, sich selbst in eine Wirklichkeit hineinzusprechen, die noch nicht realisiert ist. Das aufgeführte Beispiel enthält in den Anrufungen eine breite Palette von Namen für die Wirklichkeit Gottes. Die meisten davon gehören zu einer metaphorischen Welt, die einen Gott skizziert, der allmächtig ist (König der Könige, himmlischer Vater). Dazwischen finden sich Namen, die in neopaganen Kreisen in den USA verwendet werden, wie Großer Geist und Gaia. Die erste Klage führt sofort hinein in die spannungsvolle Frage nach der Präsenz Gottes im Angesicht des Leidens. Als unmittelbare Anrede fordert sie Gottes Mitgefühl heraus. Die gestellten Fragen ringen mit der Erfahrung göttlicher Abwesenheit: „Du hörst nicht zu? Wo bist du?“ Gleichzeitig deuten die Fragen auf einen Gott, der solches Leiden verursacht. Das Paradoxon zwischen einerseits der Behauptung, Gott handle im Leiden, und andererseits der göttlichen Abwesenheit wird durch die Litanei von Fragen vertieft. 78 Wade Meyers, unveröffentlichter Text. 79 Siehe Claus Westermann, Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 61983.

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Im nächsten Abschnitt findet ein gescheiterter Suizidversuch Erwähnung. Die Person, die die Klage verfasst, macht eine Anspielung auf die Situation, die viele Veteranen mit PTBS durchleben. Er/sie schafft sofort einen Kontrapunkt, der fast stur klingt, „Ich bin verdammt nochmal immer noch da“, und später: „und doch sind wir hier…“ Der Ausdruck des Vertrauens, nach der diese Formulierung verlangt, findet sich nur zögerlich: „die Tatsache, dass ich hier bin, sagt etwas aus“. Durch die Beantwortung der Frage „Was willst du?“ entsteht ein Hoffnungsmoment. Zunächst werden Aspekte umfassenden Wohlergehens erwähnt: geistige Gesundheit, Gelassenheit, Frieden und Liebe, die Fähigkeit zu lieben und von anderen geliebt zu werden, der Wunsch nach Vergebung und die Fähigkeit, anderen zu vergeben. Der Wunsch, zu leben, der dahinter steht, birgt intime, gesellschaftliche, religiöse, psychologische, aber auch physische Dimensionen. Er zeigt sich in der Sehnsucht, von den PTBS-Symptomen, wie Albträumen, Schweißausbrüchen und Schlaflosigkeit befreit zu werden. Phasen der Übererregung und der Gefühllosigkeit in Beziehungen werden ausgesprochen. All diese Dinge müssen beim Namen genannt werden, in einem Ringen, das durch die Übung des Klagens Gestalt gewinnt. Die Gewissheit, dass der/die Betende erhört worden ist, wird erneut zögerlich, in Form eines Wunsches ausgedrückt: „Ich will auf dich vertrauen, ich will zu dir beten.“ Eine Aussage, die etwas wie unerschütterliches Vertrauen ausdrückt, bezieht sich auf die Selbsthilfegruppe: „Dass diese Gruppe existiert… zeigt mir, dass wir dir wichtig sind.“ Der abschließende Dank bezieht sich auf die Erfahrung der göttlichen Präsenz im Hier und Jetzt: „Ich danke dir jeden Morgen dafür, dass du da bist.“ Die Aufforderung, eine Klage zu formulieren, schafft eine Öffnung, um sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es geht dabei nicht darum, zu versuchen, zu den ursprünglichen Wunden zurückzukehren, oder sich intensiv im Geiste den Flashbacks und den furchterregenden Scherben der Erinnerung zuzuwenden. Die Aufgabenstellung lädt dazu ein, sich aufmerksam dem Schreibprozess zu widmen, der auf die Zukunft ausgerichtet ist. Die gegenwärtigen Symptome werden dabei ernst genommen, ohne dass sie jedoch das letzte Wort haben müssen. In dieser Form des kreativen Schreibens wird darauf vertraut, dass in der geteilten Imagination eine heilende Kraft liegen kann. Die Arbeit mit Klagepsalmen, wie sie oben beschrieben wurde, kann ein sinnvoller Aspekt der Seelsorge sein. Sie erschließt die Dimension der eigenen Verletzungen, kann aber natürlich die moralischen Grenzüberschreitungen, die viele Veteranen quälen, nicht bearbeiten. Eine geistliche Begleitung, die sich zwiespältigen Erfahrungen in ihrer ganzen Tiefe zuwendet, muss auch die komplexen Dimensionen der Schuld behandeln. Begangene Grenzver-

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letzungen oder Verstrickungen in unmoralisches und gewaltsames Verhalten im Kampf, die man nachträglich nicht rechtfertigen kann, zur Sprache zu bringen, sind Herausforderungen in der seelsorglichen Begleitung. Karl Marlantes beschreibt das Ringen mit der Erfahrung, einen anderen Menschen getötet zu haben.80 Er erklärt, die Marine hätte ihn geschult, die Hemmung zu überwinden, einen anderen Menschen zu töten, doch niemand hätte ihn darauf vorbereitet, was danach geschähe – geistlich, moralisch und emotional – wenn das Gewissen sich zu Wort meldet. Der Vietnam-Veteran und Philosoph Camillo Bica fängt das Problem in einem Gedicht mit dem Titel The Warrior’s Dance (Tai Chi Chuan, dt.: Der Tanz des Kriegers) ein, das er während seines Einsatzes in Vietnam verfasste: Ich fürchte, ich bin diesem Schrecken nicht mehr fremd. Ich bin, ich bin, ich bin der Schrecken. Ich habe meine Menschlichkeit verloren. Und den Irrsinn des Krieges übernommen. Das Monster und ich, wir sind eins… Das Blut von Unschuldigen befleckt für immer meine Seele. Die Verwandlung ist vollständig, Und ich kann nie mehr zurück. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.81

Diese Dimension der Reue kann durch die Arbeit mit Klagepsalmen nicht angesprochen werden. Um den in der Reue auftauchenden Schuld- und Schamgefühlen begegnen zu können, sind andere Interventionen gefragt. Hier zu unterscheiden, kann dazu beitragen, die verschiedenen Dimensionen im Seelsorgeprozess zu konturieren.

Hoffnungsvolle Imaginationen im Raum des Pathischen Erstaunlicherweise stimmt die Grundstruktur der Klagepsalmen mit Einsichten aus kognitiven Therapien überein, die in der Absicht entstanden sind, ein Gleichgewicht zwischen dem Ausdruck schrecklicher Erfahrungen und dem Angebot hilfreicher Ressourcen zu schaffen, die den Elan zum Leben hin unterstützen. Ausschlaggebend ist dabei, dass die Person nicht von negativen Bildern und Gefühlen überschwemmt wird. Vielmehr soll die Fähigkeit gefördert werden, Kreativität und Resilienz zu entwickeln, damit trotz der Gräuel, die die

80 Siehe: Karl Marlantes, Was es heißt, in den Krieg zu ziehen, Zürich 2013. 81 Camillo Bica in: Rita Nakashima Brock/Gabriella Lettini, Soul Repair: Recovering from Moral Injury after War, Boston 2012, 29–30.

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Betroffenen erlebt haben, hoffnungsvolle Bilder und ein Gefühl für die Möglichkeiten, die die Zukunft bieten könnte, entstehen können. Für die Traumatherapeutin Luise Reddemann ist ein ressourcenorientierter Zugang, der die Resilienz von traumatisierten Menschen fördert, für die Schaffung eines Gleichgewichts unabdingbar, die der Negativität in den Erfahrungen etwas entgegenzusetzen vermag. In ihrem traumatherapeutischen Ansatz schlägt sie eine Interventionssequenz vor, die ein Spüren innerer Stabilität fördert, ein Gefühl, im eigenen Körper zu Hause zu sein, damit man dem Schrecken ins Auge sehen und am Ende die eigene persönliche Geschichte annehmen und integrieren kann.82 In allen Phasen dieser Sequenz spielt die Vorstellungskraft eine Schlüsselrolle. Laut Reddemann ist es wesentlich, den Therapieprozess einzuleiten, indem man sich auf die bereits im Patienten existierenden Heilungsressourcen konzentriert. Dazu wird zunächst eine Liste scheinbar gewöhnlicher Fähigkeiten erstellt, die helfen, alltägliche Probleme zu lösen. Eine weitere Übung besteht darin, einen „Ressourcenkoffer“ zu packen – sich eine Kiste oder einen Koffer vorzustellen, gefüllt mit allem, was sich in anderen schwierigen Situationen als hilfreich erwiesen hat: Erinnerungen und Fotos von Freunden, Musik, körperliche Tätigkeiten. Die Stärkung der ressourcenreichen Imagination ist für den Therapieprozess entscheidend. Ich denke, dass Bilder aus den Psalmen, die Schönheit, Ehrfurcht, Sicherheit und Selbstliebe evozieren, ebenfalls ihren Platz in einem solchen imaginären Ressourcenkoffer finden könnten. Die Psalmen erzählen reichlich von der Schönheit der Schöpfung und davon, wie wunderbar der Mensch geschaffen wurde. Zusätzlich zur Ressourcenkoffer-Übung schlägt Reddemann vor, mit der Vorstellung des inneren sicheren Ortes zu arbeiten. Hier handelt es sich um eine Übung der räumlichen Vorstellungskraft, in der der Patient aufgefordert wird, sich einen Ort des Wohlbefindens und der Sicherheit vorzustellen. Der Patient entscheidet selbst, wer in diesem inneren sicheren Ort wohnen soll und wie der Ort aussehen soll.83 Solche mentalen Bilder werden entwickelt, um ein Gegengewicht zu schaffen zu schreckenerregenden, invasiven und mit Traumaorten verbundenen Erinnerungen. Es geht darum, die Macht dieser erinnerten Orte zu 82 Vgl. Luise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, Stuttgart, 2001. Eine Besprechung der Arbeit von Reddemann findet sich auch bei Kristina Augst: Auf dem Weg zu einer traumagerechten Theologie. Religiöse Aspekte in der Traumatherapie – Elemente heilsamer religiöser Praxis, Stuttgart 2012, S. 89–118. Eine Integration der Arbeit von Reddemann im Kontext der Seelsorge bietet Hans-Martin Gutmann an. Vgl. ders., After Violence: Narratives of Grace in the Midst of Trauma, in: Andrea Bieler/Christian Bingel/Hans-Martin Gutmann (Hg.), After Violence: Religion, Trauma, and Reconciliation, Leipzig 2011, 138–148. 83 Vgl. Reddemann, Imagination, 42–46.

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begrenzen. Interessant ist, dass zahlreiche Psalmen ebenfalls die räumliche Imagination inspirieren. Viele Psalmen malen einen imaginären Raum der Rettung und der Zuflucht inmitten gewaltiger Bedrohungen aus. Der bereits erwähnte Psalm 55 formuliert die Stimme eines traumatisierten Ichs, das eine Möglichkeit findet, dem drohenden Tod in der Stadt, die nicht mehr sicher ist, zu entkommen, indem es das Bild der Taube entstehen lässt, die in die Wüste fliegt, als Ort der Rettung und der Ruhe, weg vom Sturmwind.84 Die Wüste, die in der Hebräischen Bibel ein äußerst zwiespältiger Ort ist, weil sie auf Gefahren und Erfahrungen des Kontrollverlusts verweist, wird hier als rettender Ort beschrieben. Sie ist ein alternativer Raum zur gewaltgeprägten Stadt, die keinen Schutz bietet (siehe Verse 11ff.). Ein weiteres Beispiel ist Psalm 23, gelesen mit der Stimme eines Menschen, der Zuflucht und Schutz sucht. Der imaginative Raum, den Psalm 23 entfaltet, ist das finstere Tal (Vers 4), und daneben die die Seele erquickenden grünen Auen und das frische Wasser, als dem Ort, den Gott bereitstellt. In Psalm 27,4–5 wiederum werden der Tempel und das Zelt Adonais als Orte göttlicher Errettung geschildert. Viele Psalmen beschreiben einen Zufluchtsort, einen sicheren Ort inmitten der Feinde. Reddemann beschreibt außerdem, wie man im therapeutischen Kontext den „inneren Beobachter“ kennenlernt.85 Oft erleben Menschen einen heilsamen Durchbruch, wenn sie erkennen, dass sie nicht untrennbar mit ihren Gefühlen und Reaktionen verbunden sind, sondern über die Möglichkeit verfügen, sich zeitweilig von den Auswirkungen des Traumas zu lösen, indem sie sich selbst beobachten und mit den sie verfolgenden Bildern in einen inneren Dialog treten. Diese Art des inneren Dialogs konfrontiert das Gefühl der Absorbierung – Ich bin der Schrecken – das Camillo Bica in seinem Gedicht beschreibt. Den inneren Beobachter sprechen zu lassen bedeutet, die Albträume immer wieder zu fragen: Was wollt ihr mich lehren? Den inneren Beobachter zu aktivieren, kann Widerstandskräfte gegen die Erfahrung überwältigender Hilflosigkeit aktivieren, die einen überwältigen, wenn man unter PTBS leidet. In den Psalmen findet sich häufig die klagende Stimme des inneren Ichs. Sie beschreibt die Gewalt, die die Person äußerlich umgibt und beschreibt achtsam die inneren Zustände, die schrecklichen Gefühle des Horrors und die Angst, überwältigt zu werden. Lesen wir dazu erneut Psalm 55,3ff.: […] Ich irre umher in meiner Klage. Ich bin verstört vom Lärmen des Feindes, vom Geschrei des Frevlers. Denn Unheil wälzen sie auf mich, und sie befehden 84 Für eine detaillierte Exegese vgl. Ulrike Bail, Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagepsalmen Ps 6 und Ps 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars, Gütersloh 1998, 160–213. 85 Vgl. Reddemann, Imagination, 115–127.

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mich voller Grimm. Mein Herz bebt in meiner Brust, und Todesschrecken haben mich befallen. Furcht und Zittern kommt über mich, und Grauen bedeckt mich. Auf den ersten Blick mag der Eindruck entstehen, dieses Gebet zeige jemanden, der sich selbst verliert. Ruhelosigkeit, Verzweiflung, Verwirrung werden angesprochen. Die Person nimmt eine räumliche Perspektive von oben nach unten ein, und zwar durch die wiederholte Erwähnung der Worte „über mich“. In Anlehnung an die Auslegung von Ulrike Bail können die Formulierungen in der Ich-Form als ein erster Schritt hin zur Handlungsfähigkeit interpretiert werden. Diese Art des Klagens kann als ein Anerkennen der Gewalt und ihrer Auswirkungen verstanden werden, während gleichzeitig ihre Macht eingeschränkt wird. Ähnlich mag die Ich-Form auch als innerer Beobachter verstanden werden, als eine Stimme, die mit den greifbaren Erlebnissen in einen Dialog treten kann, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Wer die Psalmen auf diese Art und Weise liest, unterstützt möglicherweise Prozesse ressourcenreicher Imagination, die alternative Bilder eines stärkeren inneren Selbst nähren – des sicheren Orts, aber auch des inneren Beobachters. Diese Vorstellungen drücken den Glauben an einen Gott aus, der nicht losgelöst vom menschlichen Leiden existiert, sondern der inmitten der Verletzlichkeit des Lebens Zuflucht bietet. Klagepsalmen können in diesem Unterfangen eine wirkungsvolle Ressource sein. Sie eröffnen Räume, in denen das eigene innere Chaos zum Ausdruck gebracht werden kann und gleichzeitig eine Sprache der Hoffnung entwickelt wird, die auf Gottvertrauen und seelische Heilung ausgerichtet ist.

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Register

Achtung 42, 165, 171, 210 f. Affekte 17, 20, 43 f., 57, 82, 102, 122, 130, 133, 143, 157, 164, 176, 183 Affektivität 30, 32, 183 Affizierbarkeit 18, 27, 31, 33 f., 37 f., 43, 53, 55, 67, 85, 89, 91 f., 97, 118, 121, 150, 189 Affizierbarkeit Gottes 19, 78, 80, 84, 88, 92, 121 Affizierung 18, 30, 42, 63, 82 f., 85, 92 f., 98, 118, 143, 151, 157, 170, 172, 183 Allmachtsphantasien 64 Alphabet der Leiblichkeit 141 f. Alterität 40, 186, 211 Altern 17, 34 Ambiguität 18, 31, 38, 41, 43, 48, 52, 61, 67, 73, 82, 91, 94, 118, 121, 176 Ambiguitätserfahrung 27, 39, 41 Ambivalenz 29, 32, 41, 43, 64, 75, 96, 150, 177 Ambivalenzkonflikt 75, 132 Anerkennung 28, 56, 59, 65, 75, 165, 167, 172, 184, 207, 211 Anpassungsscham 159 Anthropomorphe Gottesrede 81 Antipathie 170 f., 178 antizipierte Scham 160 Apatheia 20, 85 f., 88, 155 Apatheia Gottes 85 f., 91, 106, 118 Apathie 133 Asymmetrie 53, 57 Auferstehungsgeschichten 92, 97 Aufmerksamkeit 20, 52, 66 f., 83, 141 f., 151, 157 f., 161, 175, 179, 183, 186, 195, 208, 210 f., 221 f.

Aufwallung 85, 173, 175 f. Ausdrucksverhalten 60 Ausgesetztsein 29, 32, 41, 158, 162 Autonomie 18 f., 25, 53, 56–60, 75, 125, 189 Autonomieverlust 163 Barmherzigkeit 83 f., 92, 172, 175–177 basileia 118 Bedürftigkeit 33, 49, 53–56, 59–61, 80, 83, 94, 134, 163 Begehren 14, 33, 61, 63, 79, 107, 114, 125, 133, 203, 205 f., 211 f., 214 Berührung 57 Beschämungsritual 163 beweglicher Gott 80 f. binärer Diskurs 48, 119, 124 Care-Ethik 33 Care-Ethos 58 Care-Konzept 54 Care-Situation 53 Chaosnarrativ 200 Christus 32, 73, 75, 87, 89–91, 93 f., 98–102, 104–106, 108, 111 f., 118, 166, 195, 198, 221 Christusmystik 198 Chronische Schmerzen 144, 148 compassio 92 Coram-Deo-Horizont 16, 19, 76 f., 82, 111 Cyber Mobbing 163 Dankbarkeit 42, 61, 157, 221 Defizitparadigma 61 Dekonstruktion 124, 186

246 Dependenz 19, 49 Differenzsensibilität 143, 169, 174 Disability Studies 49, 117 Distanzbedürfnis 164 dynamis 94 Ekstase 132, 174 Emanzipationsprogramm 207 Empathie 92, 143, 169–172, 174–176, 179 f., 205 Empathiefähigkeit 55, 179 f. Engung 20, 141 f., 184 Entblößung 95, 157 f., 161 f., 166, 168, 184 Entfremdetsein 139 Entmenschlichung 50, 96, 178 Erniedrigung 162 Erzählen 76 f., 183–187, 190 Ethos 20, 33, 62, 81, 84, 121 f., 129 f., 133 f., 164, 169, 174–177, 183, 202, 205 Ethos-Sphäre 129 evokative Präsenz 151 Exzentrische Positionalität 139 Festfreude 84, 94 Figur des Dritten 121, 133 Flashback 95, 223 Fleisch 36, 40 f. Fragilität 20, 24, 26, 33, 39, 42, 55, 61, 66 f., 77, 118, 134, 164, 206, 208 Fragment 200 Freier Wille 56, 58, 60 Fremdbild 160 Fremdheit 20, 38–40, 122, 138, 141, 146, 183 Fremdsein 39, 41, 143, 211 Freude 42, 61, 79, 81 f., 84, 141, 157, 171– 174, 178 Frieden 167, 175, 198, 212, 221, 223 fundamentale Vulnerabilität 18, 23, 43, 53, 57, 189 Gebet 97, 196, 214 Geburtlichkeit 33 Gender 19, 40, 48, 50, 126 Geschöpflichkeit 15, 17, 54, 213 f.

Register

Gesprächspsychotherapie 169 Gesundheit 17, 50, 88, 100, 111, 116 f., 135, 188, 200, 210, 221, 223 Getroffensein 130, 132 f., 145, 207 Gewalt 14, 17, 32, 36, 40 f., 92, 95–97, 104, 108, 118, 149, 155, 164, 176, 216, 226 f. Gewalterfahrung 92, 108, 201 Glauben als Begehren 212 Glücksgefühl 42, 131 Gottes Erbarmen 82, 87 Gottes Gefühle 79 f. Gottesbild 66–76, 78, 81, 88 f. Gotteserfahrung 39, 70, 73 Gottesvorstellung 19, 68 f., 73 f., 76–78, 85, 88, 109 göttliche Kreativität 91 Grenzüberschreitung 64, 161, 165 Größenselbst 210 Handlungs-Widerfahrnis-Gemisch 135 Handlungsfähigkeit 25, 41, 55, 58, 60, 133, 199, 203, 227 Handlungsimperativ 136 Handlungskompetenz 207 Handlungsmöglichkeit 58 Haut 31 f., 41, 49, 99, 169 Heilige Geistkraft 106 Heiliger Geist 69, 106 Heilungsgeschichte 75, 94, 113, 118 Hemmung 161, 224 Herz 64, 78 f., 103 f., 107, 139–141, 149, 152, 227 Heteronomie 25, 57, 60 Hilfehandlung 177 Hingabe 14, 90 f., 118 hoffnungsvolle Präsenz 151 homo incurvatus in se ipsum 209 Imaginationen 32, 45, 76, 176, 206, 224 Immunität 86 Immutabilität 87, 89 Impassibilität 87, 89 Inkarnation 40, 91–93, 99, 118, 155 Inkarnationstheologie 93 Interpersonalität 59

247

Register

Intimität 211

20, 39, 98, 122, 138–140, 183,

Kasualpraxis 131 Klage 114, 119, 155 f., 166, 196, 213, 220, 222 f., 226 kognitive Dissonanz 219 Kohärenzstrategie 186 Konfliktgeschichten 75 Kontingenzbewältigung 207 Kontingenzwahrnehmung 207 Körper 23–28, 30 f., 41, 49 f., 55, 62, 78 f., 82, 99 f., 111 f., 123, 128, 133, 135 f., 138 f., 141, 144 f., 147 f., 150, 152, 155, 158, 161, 190, 194, 200, 203–205, 208 f., 225 Körper-Haben 18, 27–32, 43, 50, 52, 67, 121, 138–140, 158, 188–190, 204, 209 Körper haben 28, 139 Körper-Scan-Methode 188 Körperlichkeit 28, 138, 146, 158, 193 Korporifizierung 158, 161 f. Krank-Gesund-Code 189 Krankheit 20, 23–25, 29 f., 51 f., 83 f., 93, 98, 100, 111–115, 117 f., 122–126, 128, 135, 137, 140, 148, 152, 154, 188, 191–196, 198–205, 210 f., 213 Krankheitserzählung 125, 188–190, 199, 204, 210 f. Krankheitsnarrative 125, 189, 192, 207, 209, 211, 213 Kranksein 17, 24, 52, 111, 123 f., 126, 128, 135, 138, 140, 190, 199, 202, 204–207, 210 f. kreative Passivität 15 f., 109 Krebs 115, 126, 128, 194, 202 Krebsdiagnose 131, 140 Kreuz 90–97, 99, 101 f., 104–106, 129, 154 f., 166, 198 Lachen 132 Leib 24, 27 f., 30, 32, 34–36, 38, 40, 42, 54, 79, 83, 90, 96, 99 f., 107, 109, 111, 123, 133, 138–140, 142, 145, 158, 161, 166 f., 183, 190, 192–194, 209

Leib-Sein 18, 24–31, 36–38, 40, 43, 49 f., 52 f., 60, 67, 121, 133, 138–140, 158, 161, 164, 186, 188 f., 199, 209 Leib-Sein-Zur-Welt 13, 24 f., 27, 32, 36, 48, 54, 67, 73, 74, 90, 94, 121, 123, 135, 150, 188, 199, 206, 207, 210 leibeigenes Spüren 30, 33, 49, 139, 158, 192 Leibliche Rückbezüglichkeit 208 Leiblichkeit 21, 25, 30, 36, 38–41, 49, 54, 59, 61, 64, 100, 112, 140 f., 150, 157 f., 183, 189 f., 193, 206 leibphänomenologische Perspektive 59 Leidenschaft 14, 87, 92, 130, 132 Leidenschaft Gottes 92 Leidenschaftslosigkeit 86 f. Leidensfähigkeit Gottes 89 f., 97 Liebe 14 f., 28, 42, 61, 79–82, 84, 86, 91, 94, 109, 118, 130, 159, 161, 166, 174, 179, 184, 193, 209–211, 223 Liebesgefühle 42, 79 Logifizierung 20, 176 f., 189 Logifizierung des Pathischen 121 Logos 84, 86, 121 f., 124, 126, 129 f., 133 f., 143, 151, 164, 168, 174, 183, 199 Logosdimension 177 Lust 7, 32 f., 42, 86, 96, 130, 132 Materialisierung 19, 27, 47, 67, 183 Medikalisierung 50, 135 Metaphern 69 f., 72, 78, 84, 109, 126, 128, 165, 183, 190–194, 196, 199, 202 Metaphorisierungen 129, 190, 192 Mitgefühl 83–85, 87, 90, 92, 170–178, 180 f., 205, 222 Mitleid 79, 82–84, 86, 130, 170–173, 177, 179, 205 Mitleid JHWHs 80 Möglichkeitssinn 14–16, 19, 43 f., 52, 67, 74, 92, 118 f., 189, 213 f. moralische Verletzung 216, 218 f. motorisches Wissen 203 multiphrenisches Selbst 185 Multiple Sklerose 23, 29 f., 141 Multiplizität 186 Multivokalität 75 f., 109

248 Nachfolge Christi 84, 102 Narration 79, 180, 183 f. Narrative 78, 109, 117, 123, 165, 184 f., 187 f., 193, 199 Narrative Identitätsbildung 184 Narrativität 21 Narzissmus 208 Nichtung 40 Normalisierungsprozesse 19, 47, 50 Nozizeptorenschmerz 143 Objektrepräsentanz 68 Offenheit 18, 31, 34, 36, 38, 42, 55, 84, 91 f. Oszillation 14, 16, 18, 20, 31, 52, 188 f., 209 Paraklet 77, 108 Passions- und Leidensgeschichte 94 Pathische 20, 121, 130, 132–134, 137 f., 143, 157, 164, 174, 183 pathische Dimension 15, 18, 20, 30, 37, 43 f., 84, 119, 121 f., 129–132, 134–138, 140–143, 146, 152, 156 f., 164 f., 167–169, 174, 176, 181, 183 f., 199, 206 f., 209, 213–215, 224 Pathos 20, 81, 121, 130 f., 133 f., 146, 171, 174, 183, 205 Patienten-Compliance 136 f. perichoresis 76 Perspektivität 35 f., 38, 74 Perspektivwechselübung 180 Phänomenologie der Gewalt 95 Phänomenologie des Schmerzes 146 phänomenologische Struktur 59 Plan-Theodizee 88 polykontexturale Heilpraxis 125 polykontexturalen Heilpraxis 125 Polyvalenz 132 Porosität Jesu 94 Positionalität 139 f. Posttraumatische Belastungsstörung 216 Potenzialität 13, 18, 27, 43–45, 67, 82, 91 f., 118, 121, 189, 212 präreflexive Leiblichkeit 158 Praxis der kritischen Unterscheidung 69, 72

Register

Psalmen 79, 114, 196, 220, 222, 225–227 PTBS 215–218, 220, 223, 226 Raum des Pathischen 30, 119, 122, 132, 142, 151, 183, 214 f. Räumlichkeit 59 regungslose Güte 87 Reisenarrativ 200 Relationalität 76 religiöse Kommunikation 72 Resilienz 8, 34, 41, 52, 93, 97, 224 f. Response 30, 49, 83, 131 f., 146 Responsivität 20, 30, 35 f., 83, 131, 142, 151, 167, 179, 183, 193, 199, 210, 215 Restitutionsnarrativ 200 Reue 79–82, 85, 165, 168, 219, 224 Reue JHWHs 80 Reversibilität 30, 36, 38–41 Reziprozität 35, 80, 94, 122, 210 Risiko 51, 91 f. Ritual 40, 150, 214 Scham- und Schuldgefühl 20, 122, 157, 162, 165, 183 Schamangst 160, 166 Schmerz 20, 24, 29, 31 f., 39, 42, 44, 52, 86, 90, 98 f., 102–105, 109, 119, 122, 132, 139–154, 156 f., 171, 173, 183, 188–190, 192, 198, 208 f., 212, 214, 221 Schönheit 26, 55, 61, 103, 225 Schrei 96, 147, 152–156 Schuldgefühl 42, 84, 161 f., 178 Schutz 16, 32, 55, 93, 144, 157–160, 164, 168, 184, 226 Schweigen 97, 137, 148, 155 f., 181, 188, 226 Schwere 25, 86, 161, 194 Seelsorge 7, 13–17, 19 f., 36 f., 43 f., 47, 52 f., 56, 66–78, 82, 85, 88 f., 93, 96 f., 106, 109, 111 f., 115, 117 f., 121 f., 130 f., 133 f., 136, 142 f., 150 f., 153, 156, 159, 164 f., 168–170, 173 f., 178 f., 181, 183 f., 186 f., 189, 193, 196, 206–208, 213–215, 219, 223, 225 Selbstachtung 208, 210

249

Register

Selbstannahme 208, 210 Selbstbild 159 f., 192, 209 Selbstgefühl 160 Selbstliebe 208–211, 225 Selbstvertrauen 208, 210 Selbstwahrnehmung 137, 160, 208 sexuelles Begehren 64 sich selbst Fremdwerden 91 situative Vulnerabilität 18 f., 38, 47, 61, 67, 93, 186, 189 Ständigkeit 35, 38 Sterblichkeit 33, 41, 54, 60, 62, 64, 93, 98, 204 Steuerungs- und Kontrollfähigkeit 58, 60 Stigmatisierung 49 Straf-Theodizee 88 Subjektbildung 40 Sünde 17, 20, 90, 95, 111–115, 119, 152, 209 f. Sündenbekenntnis 110 Superman 62–64 Sympathie 170–172, 175 Taktilität 32, 39 Theodizee 101, 207 theologia crucis 97 transitive göttliche Vulnerabilität 91 Trauma 16, 41, 97, 109, 118, 216, 219, 225 Traumanarrativ 96 Überschwang 61, 84, 94 Umschlagsphänomene 177 Unbeeinflussbarkeit 85 f. Unempfindlichkeit 85 Unsterblichkeit 62 f. Unterbrechung 19, 137, 147 f., 151, 167, 187, 195, 200 Unveränderlichkeit 85, 87, 118 Unverwundbarkeit 54, 61–65

Unverwundbarkeitsmythos Unwandelbarkeit 85–87 Urheberschaft 58, 60

56, 58

Vampirtraditionen 64 Verborgenheit Gottes 195 f. verletzliche Geistkraft 19, 109 Verletzlichkeit 7, 13 f., 19 f., 26 f., 30, 32– 34, 36 f., 41, 44, 47, 53, 55 f., 60, 64, 66 f., 69, 71, 76–78, 88–91, 94 f., 98 f., 104–106, 108 f., 118, 121 f., 127, 131, 138, 147, 164, 177, 179, 183, 187, 199, 207, 215, 227 Verletzungsmacht 40 Vernunft 56 f., 59, 86, 133, 164 Verobjektivierung 29, 95, 150, 158 Verwundbarkeit 41, 61, 64 f., 93 Vitalität 107, 122, 133, 143, 184 Vulnerabilitätsdiskurs 19, 47 Vulnerabilitätsphänomen 13–20, 26 f., 29, 43 f., 48, 53, 66, 74, 76 f., 118, 121 f., 164 vulnerabler Christus 19, 77, 101, 104–106, 109 Weinen 132 Weitung 20, 141 f., 184 Widerfahrnis 18, 20, 84, 130, 132, 134, 199, 207, 214 Widerfahrnisqualität 174, 215 Widerfahrung 133 Wirklichkeit des Virtuellen 27, 45 Wunde 31 f., 64, 95 f., 98, 102, 104 f., 131, 152, 154, 165, 200, 219, 223 Zeitlichkeit 59 Zeuge 40, 108, 202, 216 Zwischenleiblichkeit 39, 55, 94 Zwischenraum 36, 76, 96, 108, 130, 133 f., 206, 213