Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich [1 ed.] 9783428526949, 9783428126941

Wird im modernen Verfassungsstaat der Vorrang des Gesetzes durch einen Vorrang des Verfassungsgesetzes ergänzt, so entsp

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Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich [1 ed.]
 9783428526949, 9783428126941

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Schriften zum Europäischen Recht Band 137

Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich Herausgegeben von Detlef Merten

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

DETLEF MERTEN (Hrsg.)

Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 137

Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich

Herausgegeben von Detlef Merten

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12694-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Prof. Dr. Dr. h. c. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts 1994–2002, und Prof. Dr. DDr. h. c. Ludwig Adamovich, Präsident des Verfassungsgerichtshofs 1984–2002

Vorwort Wird im modernen Verfassungsstaat der Vorrang des Gesetzes durch einen Vorrang des Verfassungsgesetzes ergänzt, so entspricht die Komplettierung der Gerichtsbarkeit durch eine Staats- oder Verfassungsgerichtsbarkeit verfassungsgeschichtlicher Logik. Zu Recht wird deren Existenz als Merkmal eines modernen Rechtsstaats angesehen. Da sich Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schnittstelle zwischen Recht und Politik befinden, sind Spannungen und selbst gelegentliche Eruptionen unvermeidlich. Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit waren Gegenstand eines Forschungskolloquiums unter dem Thema „Aktuelle Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich“, das im April 2002 am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer stattfand. Angesichts der langen historischen Tradition der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich bot sich ein Rechtsvergleich an, zumal viele aktuelle Fragen der verfassungsgerichtlichen Organisation und des verfassungsgerichtlichen Verfahrens in beiden Staaten vergleichbar sind. Da sowohl in Österreich als auch in Deutschland im Jahre 2002 die jeweilige Spitze des Verfassungsgerichts ausgeschieden ist, lag es in Würdigung beider Richterpersönlichkeiten nahe, die Veranstaltung zu Ehren der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., Frau Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jutta Limbach, und des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, Herrn Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ludwig Adamovich, durchzuführen. Im Übermaß zitiert und dennoch für das Schicksal dieses Tagungsbandes charakteristisch: „. . . habent sua fata libelli“. Unvorhersehbare Schwierigkeiten und technische Probleme haben das Erscheinen des Tagungsbandes verzögert. Wegen der bleibenden Bedeutung der erörterten Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit werden die Referate und die Zusammenfassungen der Diskussionsbeiträge in der Reihe „Schriften zum Europäischen Recht“ vorgelegt. Allen Beteiligten sowie der Fritz Thyssen Stiftung, die die Tagung unterstützt hat, sei vorzüglicher Dank gesagt. Detlef Merten

Inhaltsverzeichnis Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit – Einführung in das Tagungsthema Detlef Merten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit Hans-Jürgen Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Hans-Jürgen Papier Marion Weschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht? Wassilios Skouris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Wassilios Skouris Ramona Betz (Trautmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verfassungsrichterwahlen: Praxis und Kritik Hans Hugo Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Hans Hugo Klein Stefan Kleb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wechselwirkungen zwischen österreichischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung Michael Holoubek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Michael Holoubek Annette Schorr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Urteilswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Heinz Schäffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Heinz Schäffer Silke Löhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Rechtsfragen und Probleme als Folgen der Organisation des Bundesverfassungsgerichts Evelyn Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Evelyn Haas Annette Schorr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtsdurchsetzung Karl Korinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Karl Korinek Daniela Scheidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Referenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit Einführung in das Tagungsthema Von Detlef Merten Das heutige Forschungskolloquium über die „Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich“ knüpft an eine Tagung der Hochschule im Jahre 1999 über den „Bundesrat in Deutschland und Österreich“ an. Die politischen Ereignisse in beiden Staaten haben deutlich gemacht, von welcher Aktualität sowohl der föderalistische Bundesrat als auch eine rechtsstaatliche Verfassungsgerichtsbarkeit ist. Neben der politischen Brisanz der Verfassungsgerichtsbarkeit in beiden Staaten hat eine institutionelle Koinzidenz das heutige Forschungskolloquium beeinflußt. Da sowohl in Österreich als auch in Deutschland im Jahre 2002 die jeweilige Spitze des Verfassungsgerichts ausgeschieden ist, lag es in Würdigung der Verdienste beider Richterpersönlichkeiten nahe, die Veranstaltung zu ihren Ehren abzuhalten. Frau Präsidentin Limbach hat durch ihre liebenswürdig-kooperative, dabei aber nicht unbestimmte Amtsführung das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts gestärkt, wie dies insbesondere bei der Feier zum 50jährigen Jubiläum des Gerichts offenbar wurde. Sie hat – teilweise auch durch organisatorische Maßnahmen – die Reputation der Institution beim rechtsuchenden Bürger gestärkt, so daß sich zu dem akzeptierten Grundgesetz ein akzeptiertes Bundesverfassungsgericht gesellt. Jedenfalls schlägt ausweislich von Umfrageergebnissen das nicht immer unberechtigte Mißtrauen der Bürger gegen Politik und Politiker nicht auf das Gericht durch. Die Bürger sehen in dem Bundesverfassungsgericht die „institutionalisierte Hoffnung auf Erlösung vom Leiden am positiven Recht“, wie es Roellecke einmal für das Instrument der Verfassungsbeschwerde formuliert hat. Auch wenn es in Österreich eine Verfassungsbeschwerde im Sinne deutscher Totalität nicht gibt und für die vor einigen Jahren eingeführte Grundrechtsbeschwerde der Oberste Gerichtshof und nicht der Verfassungsgerichtshof zuständig ist, hat die Verfassungsgerichtsbarkeit hier eine längere historische Tradition. Immerhin wurde für die österreichische Reichshälfte der Doppelmonarchie durch das Staatsgrundgesetz von 1867 ein Reichsgericht eingesetzt, das auch zur Entscheidung über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der

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ihnen verfassungsmäßig gewährleisteten politischen Rechte zuständig war. Die Republik Österreich errichtete dann nicht zuletzt unter dem Einfluß Kelsens einen Verfassungsgerichtshof, der Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit förmlich aufheben konnte. Damit hatte Österreich eine Schrittmacherrolle in der Ausformung einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit übernommen. Hierauf mußte Deutschland nach Ansätzen in der kraftlos, aber nicht wirkungslos gebliebenen Paulskirchen-Verfassung und nach Einführung einer Staatsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik bis zur staatlichen Reorganisation durch das Grundgesetz warten. Mit einer Amtszeit von 19 Jahren (1984 bis 2002) ist Herr Präsident Adamovich der Doyen unter den europäischen Verfassungsgerichtspräsidenten, wie es sich auch bei der Feier zum 50jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts gezeigt hat. Er hat in seiner Amtsführung deutlich gemacht, daß Stimmlosigkeit nicht Einflußlosigkeit bedeuten muß, was auch für seine Stellungnahmen in der causa Österreich gilt. Wir danken beiden Präsidenten sehr herzlich, daß sie – nicht zum ersten Mal – an die Hochschule gekommen sind, und hoffen für den Verlauf der Tagung, daß sie es nicht an der Innehabung des Ehrenvorsitzes bewenden lassen werden, sondern auch ihre wissenschaftliche Überzeugung und ihre richterliche Erfahrung in die Diskussion einfließen lassen werden. Meine Damen und Herren! Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist an einer Schnittstelle von Recht und Politik angesiedelt. Das war in Deutschland im 19. Jahrhundert auch der eigentliche Grund, Verfassungsstreitigkeiten nicht gerichtlich, sondern politisch zu entscheiden. Deshalb bestimmte Art. 76 Abs. 1 der Reichsverfassung von 1871, daß öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten vom Bundesrate zu erledigen seien. Bismarck hatte dazu schon während des preußischen Verfassungskonflikts ausgeführt, daß ungeachtet der hohen Stellung preußischer Richter als juristische Autorität „von dem einzelnen Urteilsspruch eines Gerichts, wie es sich nach der subjektiven Ansicht der Mehrheit der Stimmenden herausstellen wird, die politische Zukunft des Landes, die Machtverteilung zwischen der Krone und dem Landtage sowie zwischen den Häusern des Landtags (nicht) abhängig gemacht werden dürfte“. Modernisiert man dieses Zitat sprachlich und institutionell, so entspricht es den Äußerungen vieler Politiker heutzutage. In einer sehr ordinären Kernaussage im Verfahren über den Grundvertrag hat es sogar Geschichte gemacht. Die Vermessung der Grenzlinie zwischen Recht und Politik entscheidet vordergründig über die Kompetenzen der einzelnen Staatsorgane, in Wirklichkeit aber über die Verteilung der Macht im Staat. So erklärt sich die stete Forderung politischer Akteure nach Enthaltung oder zumindest Zurückhaltung des Verfassungsgerichts in politicis. Umgekehrt ist von verfassungsgerichtlicher Seite Deutschland sogar als Jurisdiktionsstaat qualifiziert worden, wobei rückblickend

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betrachtet die Statusdenkschrift des Bundesverfassungsgerichts wohl auch der Versuch einer politischen Landnahme war. Im wissenschaftlichen Streit um die Natur der Verfassungsgerichtsbarkeit sind schon in der Weimarer Zeit Kontroversen entbrannt, die letztlich in einem deutsch-österreichischen Streit zwischen Triepel und Kelsen gipfelten. Triepel sah bekanntlich Verfassungsstreitigkeiten als politische Streitigkeiten an, die sich wegen des Gegensatzes von Recht und Politik der gerichtlichen Entscheidung entzögen. Demgegenüber waren für Kelsen Verfassungsstreitigkeiten wie andere Streitigkeiten auch infolge rechtlicher Regelung gerichtlicher Entscheidung zugänglich. Pointiert formulierte er: „Die Entscheidung der sogenannten ,politischen‘ Streitigkeiten durch ein Gericht ist nicht weniger ,naturgemäß‘ als die Entscheidung eines Erbstreits zwischen zwei Bauern“. Im Ergebnis ist Kelsen als „eindeutiger Sieger“ aus der Auseinandersetzung hervorgegangen, was auch durch den „weltweiten Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit“, wie Frau Limbach einmal formuliert hat, belegt wird. Gerade weil es ein totalitäres Indiz ist, wenn wie im Dritten Reich Akte der politischen Führung gerichtlicher Nachprüfung entzogen werden, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit als solche Krönung, nicht Überbetonung des Rechtsstaats. Wegen der Gefahr, daß Grundrechte ohne neutrale Kontrolle Programmsätze bleiben, sieht die moderne Grundrechtsdogmatik deren gerichtliche oder gerichtsähnliche Durchsetzbarkeit schon als Begriffselement an. Insoweit darf ich auf den Schlußvortrag von Herrn Vizepräsidenten Korinek verweisen. Das Postulat politischer Zurückhaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie es auch Hermann Heller in seiner eher ambivalenten Sicht der Staatsgerichtsbarkeit formuliert hat, ist letztlich Folge einer vor-rechtsstaatlichen oder nicht-rechtsstaatlichen Sichtweise. In dem Ausmaß, in dem der Rechtsstaat eine verfassungsgerichtliche Kontrolle vorsieht, ist die Wahrnehmung dieser Kontrolle nicht nur Recht, sondern auch Pflicht der Verfassungsgerichtsbarkeit, so daß sie sich selbst davon nicht dispensieren darf. Die Kontrolldichte der Gerichte, insbesondere der Verfassungsgerichte resultiert einzig aus der Regelungsdichte gesetzten Rechts und kann nicht mit präkonstitutionellen Vorverständnissen minimiert werden. So scheitert beispielsweise eine verfassungsgerichtliche Nachprüfung auswärtiger Beziehungen Deutschlands nicht daran, daß es sich hier um eine politische Frage oder eine Prärogative der Regierung handelt, sondern daran, daß das Grundgesetz hierfür keine inhaltlichen Maßstäbe liefert. Da es diese auswärtigen Beziehungen aber in Art. 32 Abs. 1 GG zur Sache des Bundes erklärt, muß das Verfassungsgericht sehr wohl eine Usurpation der Länder auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen. Angesichts der Besonderheiten nationalen Rechts ist die Regelungsdichte für jeden Staat gesondert zu prüfen. Vordergründige Rechtsvergleichung z. B. durch Verweis auf die Rechtsprechung des amerikanischen

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Supreme Courts kann daher nicht weiterhelfen. Zum Souvenirkitsch des juristischen Tourismus gehören grob geschnitzte Ombudsmänner und naive Malereien der political question-doctrine. In Österreich wie in Deutschland ist heutzutage das Verfassungsgericht der vielzitierte „Hüter der Verfassung“, der Bundespräsident allenfalls Vorhüter. Da dem Bundespräsidenten seine Grenzen auch bewußt sind, sollte man aus Gründen des Respekts vor dem Amt mit dem Verfassungsgericht nicht wie mit dem Schwarzen Mann drohen. Das ist im übrigen auch unklug, da aus den unterschiedlichsten Gründen im allgemeinen niemand vorher wissen kann, wie die Verfassungsgerichte später entscheiden. Um dieses Risiko zu minimieren, um beim Hüten der Verfassung wenigstens mithüten zu können, liegt die Wahl der Verfassungsrichter fest in politischer Hand. Ähnlich wie beim ad hoc-Richter im Völkerrecht wählen sich die Kontrollierten ihre Kontrolleure selbst. Gewaltenteilende Elemente sind sowohl in Österreich als auch in Deutschland kaum erkennbar. Die österreichische Verteilung des Vorschlagsrechts für Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs auf die Bundesregierung, den Nationalrat und den Bundesrat darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese rein formale Teilung in Wirklichkeit allein die jeweilige politische Mehrheit berechtigt, da der Bundesrat in Österreich anders als in Deutschland zusammengesetzt ist. Die verfassungsgesetzliche Regelung wird dann proporzdemokratisch dadurch aufgefangen, daß – wie Korinek berichtet – zwischen den großen politischen Parteien ein „gentlemen’s agreement“ besteht, wonach jede der beiden großen Parteien eine bestimmte Zahl von Mitgliedern und Ersatzmitgliedern benennen darf. Letztlich dasselbe Ergebnis wird in Deutschland durch das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit erreicht, womit auch eine mögliche gewaltenteilende Funktion des Bundesrates als verfassungsrichterliches Kreationsorgan überspielt wird. Verfassungsrichterwahlen vollziehen sich demnach wie die Bewertung des Schanzenspringens: Nur extreme Positionen werden ausgeklammert. Dennoch besteht ein Unterschied zum Schanzensport: Hier springen Funktionäre nicht mit, während sich den Verfassungsrichterwahlen – jedenfalls in Deutschland – auch ehemalige Minister und ähnliche Amtsträger stellen. Die Inkompatibilitätsregelung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes steht dem nicht entgegen, sondern geht im Gegenteil sogar eher davon aus. Denn es bestimmt1, daß Verfassungsrichter mit ihrer Ernennung aus dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung oder entsprechenden Landesorganen ausscheiden. Auch das allgemeine Bewußtsein sieht insbesondere die Leitungsfunktionen des Bundesverfassungsgerichts als politische Domäne an. Wegen der abweichenden Übung in Österreich, ehemalige Politiker nicht zu Verfassungsrichtern 1

§ 3 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG.

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zu berufen, erscheint mir die Diskussion mit den österreichischen Kollegen nützlich und fruchtbringend. Herr Präsident Adamovich hat in einem Festschriftbeitrag darauf hingewiesen, „daß die rechtsstaatlichen Institutionen in Gefahr sind, bloße Spielbälle der Parteipolitik zu werden.“ Daß der parteipolitische Einfluß immer mehr zunimmt, ist evident. Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist, daß der Verfassungsmaßstab der Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG für Bundesrichterwahlen in Frage gestellt wird. Als ich auf einer Tagung in Bad Tutzing von einem Bundesrichter gefragt wurde, ob ich diese Verfassungsvorschrift auch für die Wahlen zum Bundesverfassungsgericht heranziehen würde, brach für zwei Menschen eine Welt zusammen. Für mich ob der Frage, für den Frager ob der Antwort. Der Reformvorschläge sind viele, und vielleicht wird sich ihre Zahl nach dem Referat von Herrn Kollegen Klein noch vermehrt haben. Ein eigenständiges Mitwirkungsrecht des Bundespräsidenten, wie von Herrn von Weizsäcker vorgeschlagen, halte ich nicht für opportun. Es würde den Bundespräsidenten unnötig in parteipolitische Auseinandersetzungen verwickeln. Der radikalste Vorschlag stammt von Bettermann, wird aber, wie auch Herr Roellecke festgestellt hat, in der Literatur nicht diskutiert, vielleicht weil er nicht sehr chancenreich ist. Bettermann schlug vor, die Bundesverfassungsrichter durch Losentscheid aus dem Kreis der Bundesrichter zu gewinnen. In diesem Falle wären alle Kandidaten bereits als Bundesrichter hinreichend demokratisch legitimiert. Die parteipolitischen Auseinandersetzungen bei den Bundesrichterwahlen würden mangels Kalkulierbarkeit nicht merklich steigen, wobei ohnehin anzumerken ist, daß Bundesrichter – soweit erfaßbar – im Vergleich zu sonstigen Richtern überproportional parteipolitisch organisiert sind. Solange jedoch das Losverfahren parteipolitisch nicht manipulierbar ist, hat Bettermanns Vorstoß wenig Aussicht auf Erfolg. Realistischer erschiene daher ein Mitwirkungsrecht des Bundesverfassungsgerichts, wie es schon bisher im Falle der Untätigkeit der Kreationsorgane vorgesehen ist. Es entspricht im wesentlichen dem in der Selbstverwaltungsgarantie der Universität ruhenden Vorschlagsrecht der Fakultäten in Form sogenannter Dreiervorschläge. Eine echte Mitwirkung des Gerichts setzte allerdings die Streichung des jetzigen § 7a Abs. 4 BVerfGG voraus, wonach das Recht des Wahlorgans, einen nicht vom Bundesverfassungsgericht Vorgeschlagenen zu wählen, unberührt bleibt. Diese Reform entspräche auch dem Gedanken funktionsgerechter Organstruktur, da das Bundesverfassungsgericht infolge der alltäglichen Gerichtspraxis die Eignung vieler Kandidaten besser beurteilen kann als die jetzt vorgesehenen Kreationsorgane. Der übliche Einwand der Versteinerungsgefahr gegen Selbstergänzungsrechte wird durch die bloße Mitwirkung statt einer endgültigen Entscheidung des Gerichts gemindert.

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Angesichts des unterschiedlichen Rechtszustandes in Österreich und Deutschland sollte auch die zeitliche Begrenzung der Amtszeit der Bundesverfassungsrichter auf dieser Tagung zur Diskussion gestellt werden. Gemeinhin wird die Ernennung auf Lebenszeit als beste Gewähr für eine persönliche und damit auch sachliche Unabhängigkeit der Beamten und Richter angesehen. Die Bedeutung der Stabilität der Verwaltung als eines ausgleichenden Faktors im politischen Kräftespiel ist vom Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben worden, und für die richterliche Tätigkeit erscheint die grundsätzlich lebenszeitliche Anstellung als unverzichtbar. Die wegen des Demokratieprinzips erforderliche Diskontinuität der Legislative auf die beiden anderen Staatsgewalten zu übertragen, hieße Gewaltenteilung und Gewaltentrennung zu überspielen und der jeweiligen politischen Mehrheit auch in der zweiten und dritten Gewalt zum Durchbruch zu verhelfen. Die jetzige Regelung in Deutschland, die Bundesverfassungsrichter im ungünstigsten Falle zwingen kann, sich nach dem 52. Lebensjahr beruflich neu zu orientieren, ist nicht ohne jede Gefahr für die persönliche Unabhängigkeit. Dies gilt allerdings nicht für Bundesrichter oder Professoren, welch letztere sich auf ihren von den Kollegen inzwischen meist zerfledderten Lehrstuhl zurückziehen können. Ob angesichts der Arbeitsbelastung eine mehr als zwölfjährige Amtsperiode vertretbar erscheint, steht auf einem anderen Blatt. Diese Frage leitet über zu dem Referat über die Organisation des Bundesverfassungsgerichts von Frau Bundesverfassungsrichterin Dr. Haas. Die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Dauerthema. Allerdings ist ein Teil der Überlastung als Folge des Lüth-Urteils auch hausgemacht. Die Fülle der Reformvorschläge kann auf der jetzigen Tagung nicht diskutiert werden, so daß einige herausgegriffen werden müssen. So bestehen beispielsweise gegen ein freies Annahmeverfahren des Bundesverfassungsgerichts bei der Verfassungsbeschwerde rechtsstaatliche Bedenken. Unvoreingenommen sollte auch die Erhebung von Gerichtskosten erörtert werden, da unvernünftiges Prozessieren in Karlsruhe durch die vom Bundesverfassungsgericht bisweilen auferlegte Mißbrauchsgebühr nach meiner Auffassung nicht wirksam verhindert wird. Für die Diskussion erscheint insbesondere das Verhältnis der kleinen zu den großen Spruchkörpern von Interesse zu sein. Auch in Österreich tagt der Gerichtshof in einigen Verfahren in kleiner Besetzung. Ob hierfür eine gesetzliche Ermächtigung besteht oder eine praeterlegale Selbstverstümmelung vorliegt, ist umstritten. Für Deutschland möchte ich auf die abnehmende Zahl von Senatsentscheidungen und die zunehmende Zahl von Kammerentscheidungen aufmerksam machen. Hierfür einige Zahlen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren:

Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit 1991

2001

28 Senatsentscheidungen

11 Senatsentscheidungen

3.224 Kammerentscheidungen

4.460 Kammerentscheidungen

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Damit ist die Zahl der Senatsentscheidungen in Verfassungsbeschwerdeverfahren in zehn Jahren von 0,87 auf 0,25 v. H. gesunken. Bedenken gegen die Erledigung durch Kammerentscheidungen bestehen nach meiner Auffassung deshalb, weil die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung einer Sache mitunter abgelehnt wird, obwohl das Problem von fundamentalem Interesse und durch die bisherige Rechtsprechung des Gerichts noch nicht geklärt ist. Darüber hinaus setzen sich Kammerentscheidungen anders als die Senatsentscheidungen mit der Literatur nicht eingehend auseinander und sind – der Natur der Sache folgend – vielfach apodiktisch oder pauschal begründet. Das Problem erscheint mir erörterungsbedürftig, gerade weil Kammerentscheidungen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind und im selben Umfang Rechtskraft wirken und Bindungswirkungen erzeugen wie Senatsentscheidungen. Insoweit darf ich auf das Referat von Herrn Kollegen Schäffer über die Urteilswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen verweisen. Gleichzeitig ist die Frage aber auch für das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit bedeutsam, über das Herr Präsident Papier referieren wird. Denn ungeachtet der vielen Probleme, die eine „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ mit sich bringt, ist aus rechtsstaatlichen Gründen die Bindungswirkung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG hinsichtlich der Auslegung der Verfassung auch in künftigen Fällen von den Verfassungsgerichten zu beachten, so daß sich die Fachgerichte der Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts nicht mit Hilfe hausgemachter Auslegungen entziehen dürfen. Meine Damen und Herren! Daß sich durch die europäische Integration und die Schaffung des Europäischen Gerichtshofs der blaue Himmel, der sonst allein über dem Bundesverfassungsgericht schwebte, eingetrübt hat, hat Frau Limbach kürzlich selbst hervorgehoben. Ob der Europäische Gerichtshof in dem von Bundesverfassungsgericht konstatierten oder propagierten Kooperationsverhältnis mit kooperieren will und ob das Luxemburger Gericht sich zu einem Verfassungsgericht wandelt, wird Herr Kollege Skouris in seinem Referat erörtern. Mit Blick auf die Uhr möchte ich mit dem Hinweis schließen, daß tagungssouverän ist, wer den Zeitplan umwerfen darf. Ich wünsche unserem Gipfeltreffen, wie Herr Isensee es genannt hat, viel Erfolg.

Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit Von Hans-Jürgen Papier* Die dritte Gewalt habe in den letzten Jahrzehnten – so lautet sinngemäß ein bekanntes Bonmot – den Kelch der Zuständigkeiten und Kompetenzen bis zur Neige geleert und sich dann unaufgefordert nachgeschenkt. Diese auf eine allgemeine, reale oder vermeintliche Entwicklung zum Richter- oder Jurisdiktionsstaat abstellende Kritik ist wahrscheinlich auch und gerade auf das Bundesverfassungsgericht bezogen gewesen. Der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland werden – bei Anerkennung höchster Reputation im Gemeinwesen an sich – zwei Entwicklungslinien kritisch entgegengehalten: Zum einen werden „Übergriffe“ in die Politik und die Kompetenzen der Gesetzgebung, zum anderen – dies vor allem in Teilen der Rechtswissenschaft und der Fachgerichtsbarkeit – Einwirkungen in die Zuständigkeiten und Jurisdiktionen der Fachgerichte bzw. der allgemein zuständigen Gerichte beklagt. I. Ich werde mich hier nur mit dem Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit befassen. Insoweit stehen vor allem die Verfassungsbeschwerde sowie die Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG im Blickpunkt. Über 96 v. H. aller Eingänge beim Bundesverfassungsgericht sind Verfassungsbeschwerden. Bis zum 31. Dezember 2001 sind beim Bundesverfassungsgericht insgesamt 136.622 Verfahren anhängig gemacht worden, davon 131.445 Verfassungsbeschwerden sowie 3.319 abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren1. Das Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde hat wesentlich dazu beigetragen, daß das Bundesverfassungsgericht sowohl im In- als auch im Ausland eine beachtliche Reputation erlangt hat. Dabei bleibt der ganz überwiegende Teil der Verfassungsbeschwerden erfolglos. Über 97 v. H. der Beschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil ihnen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt und weil dies auch nicht zur Durchsetzung der Grundrechte angezeigt ist2. Letzteres liegt vielfach daran, daß die betreffenden Verfassungsbeschwerden unzulässig oder ersichtlich unbegründet sind. * Der Beitrag gibt den Stand der Diskussion im April 2002 wieder. 1 Vgl. Bundesverfassungsgericht (Hg.), Jahresstatistik 2001, S. 1. 2 Die Prozentangabe bezieht sich auf die bisher insgesamt eingegangenen und erledigten Verfahren; vgl. BVerfG (FN 1), S. 1.

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1. Die Verfassungsbeschwerden sind ganz überwiegend gegen richterliche Entscheidungen gerichtet3, was auch leicht erklärbar ist. Eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht setzt nämlich die Erschöpfung des regulären Rechtsschutzes voraus (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG); die Verfassungsbeschwerde ist also in jeder Hinsicht subsidiär. Interessant ist, daß von diesen so genannten Urteilsverfassungsbeschwerden schätzungsweise über 40 v. H. allein auf die Verletzung von Verfahrensgrundrechten, vor allem auf die Gehörsrüge gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, gestützt werden. Nochmals etwa 20 v. H. der Verfassungsbeschwerden werden daneben auf die Verletzung materieller Grundrechte und nur der Rest allein auf materielle Grundrechtsverletzungen gegründet. Der besonders hohe Anteil der Gehörsrügen basiert offenbar zu einem erheblichen Teil auf der drastischen Einschränkung der normalen Rechtsmittel in den fachgerichtlichen Verfahren, so daß bei wirklicher oder vermeintlicher Übergehung des eigenen Vortrags bzw. Vorbringens dem Betroffenen sich der Weg zum Bundesverfassungsgericht vielfach als einzige Rechtsschutzmöglichkeit anbietet. Hausinterne Schätzungen besagen, daß etwa 15 v. H. der gegen zivilgerichtliche Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerden sich gegen letztinstanzliche Judikate von Amtsgerichten wenden. Diese Entwicklung ist außerordentlich mißlich, sind doch solche verfahrensrechtlichen Kontrollen gerade gegenüber unteren Gerichten am sinnvollsten im fachgerichtlichen Rechtsmittelzug zu leisten. Hier zeigt sich eine deutliche, disfunktionale Folgeerscheinung einer allzu drastischen und undifferenzierten Rechtsmittelbeschneidung in den jeweiligen fachgerichtlichen Verfahrensordnungen. 2. Auch wenn mit der Verfassungsbeschwerde in der Regel unmittelbar eine richterliche Entscheidung angegriffen wird, so wird vielfach mittelbar die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung, auf die das richterliche Urteil sich stützt, gerügt. Solche Rügen gelangen zum Bundesverfassungsgericht allerdings nicht nur über Verfassungsbeschwerden, sondern – wenngleich sehr viel seltener – auch über Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG (konkrete Normenkontrolle). So genannte abstrakte Normenkontrollen, gestützt auf die Grundrechtswidrigkeit von Gesetzen, sind hingegen noch rarer. Von den im Jahre 2001 anhängig gemachten 4.620 Verfahren waren 4.581 Verfassungsbeschwerden und Anträge auf Erlaß einstweiliger Anordnungen, 31 Normenkontroll- und 8 andere Verfahren4. Im Ersten Senat sind im Geschäftsjahr 2001 15 Richtervorlagen eingegangen, im Zweiten Senat waren es 125. Im Ersten Senat waren am 31. Dezember 2001 noch 48 Richtervorlagen unerledigt (in bezug auf die Verfassungsbeschwerden lautet die Zahl: 1.084).

3 4 5

Vgl. BVerfG (FN 1), S. 15. Vgl. BVerfG (FN 1), S. 10. Vgl. BVerfG (FN 1), S. 10.

Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit

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Für die Praxis wichtig sind aber nicht nur die eben angesprochenen Verfahren der unmittelbaren oder mittelbaren Normenkontrolle, das Bundesverfassungsgericht prüft nämlich die Einhaltung der Grundrechte nach tradierter Judikatur auch auf der Rechtsanwendungsebene nach. Auch wenn beispielsweise das zur Einschränkung von Grundrechten herangezogene Gesetz als solches verfassungsrechtlich unproblematisch ist, wird vom Bundesverfassungsgericht untersucht, ob das jeweilige Grundrecht durch die rechtsanwendenden Organe der zweiten und – vor allem – dritten Gewalt, insbesondere bei Auslegung und Anwendung gesetzlicher Rechtsbegriffe und bei der Ausübung von Ermessen, hinreichende Beachtung und Gewichtung erfahren hat. Die Schwelle eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist beispielsweise erreicht, wenn die Entscheidung des Fachgerichts Auslegungsfehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen6. Werden – was in der Praxis häufig geschieht – zivilgerichtliche Urteile mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen, stellt sich das besondere Problem, daß hier vielfach unterschiedliche Grundrechte in Kollision zueinander treten. Ist jemand beispielsweise durch eine zivilgerichtliche Entscheidung zum Unterlassen oder zum Widerruf bestimmter Äußerungen verurteilt worden und greift er diese fachgerichtliche Entscheidung unter Berufung auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) mit der Verfassungsbeschwerde an, so kann das Bundesverfassungsgericht nicht einseitig allein die Meinungsfreiheit zu Gunsten des Beschwerdeführers heranziehen, sondern es hat auch die gleichfalls grundrechtlich abgesicherten Gewährleistungen des Persönlichkeitsschutzes des Angegriffenen zur Geltung zu bringen. Gerade in derartigen Kollisionsfällen erweist sich der Grundrechtsschutz im Einzellfall, also auf der Rechtsanwendungsebene, als besonders schwierig und spannungsreich. Das Bundesverfassungsgericht greift hier mit einer Kassation der jeweiligen fachgerichtlichen Entscheidung ein, wenn das den Streitfall entscheidende Gericht entweder ein einschlägiges Grundrecht überhaupt nicht herangezogen, seinen Gewährleistungsgehalt verkannt oder diesen bei der nach dem einfachen Recht gebotenen Interessenabwägung nicht in einem ausreichenden Maße gewichtet hat7. 3. Im einzelnen hat das Bundesverfassungsgericht differenzierte Maßstäbe entwickelt, anhand derer es prüft, ob eine Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung begründet ist. Zu unterscheiden ist zunächst einmal, ob es um die inhaltliche Überprüfung von fachgerichtlichen Entscheidungen oder um die Kontrolle des gerichtlichen Verfahrens geht. Im Rahmen der Inhaltskontrolle wird der Prüfungsumfang wiederum differenziert bestimmt. Im 6 7

BVerfGE 18, 85 (92 f.); st. Rspr. Vgl. BVerfGE 95, 28 (37); 97, 391 (401); 101, 361 (388).

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Grundsatz gilt die allgemeine Regel der begrenzten Überprüfbarkeit nach Maßgabe des spezifischen Verfassungsrechts. So heißt es schon in BVerfGE 18, 85 (92 f.): „. . . die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgerichts entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen . . . Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muß gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen . . . Allgemein wird sich sagen lassen, daß die normalen Subsumtionsvorgänge innerhalb des einfachen Rechts solange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind.“

Besonderheiten gelten indes für die Meinungsfreiheit und das Asylgrundrecht. Soweit Eingriffe in die Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG in Rede stehen, wird die Steigerung der Prüfungsintensität seitens der verfassungsgerichtlichen Judikatur mit der bekannten „Je-desto-Formel“ umschrieben. Ich verweise nur auf BVerfGE 42, 143 (149): „Je nachhaltiger . . . ein zivilgerichtliches Urteil im Ergebnis die Grundrechtssphäre des Unterlegenen trifft, desto strengere Anforderungen sind an die Begründung des Eingriffs zu stellen und desto weiterreichend sind folglich die Nachprüfungsmöglichkeiten; in Fällen höchster Eingriffsintensität . . . ist es durchaus befugt, die von den Zivilgerichten vorgenommene Wertung durch seine eigene zu ersetzen.“

Ein effektiver Schutz der in Art. 5 Abs. 1 GG gewährten Grundrechte kann auch eine Kontrolle der tatsächlichen Sachverhaltsfeststellungen und -wertungen gebieten. So heißt es in einer späteren Entscheidung: „Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind ferner verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik einstufen, mit der Folge, daß sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind . . . Sachverhaltsfeststellungen und Rechtsanwendungen dieses Inhalts können den Zugang zu dem grundrechtlich geschützten Bereich von vornherein verstellen. Daher müssen sie vom Bundesverfassungsgericht in vollem Umfang überprüfbar sein, wenn der Schutz der Meinungsfreiheit nicht unzuträglich verkürzt werden soll . . .“8

Verwaltungsgerichtliche Urteile, die das Asylgrundrecht betreffen, werden ebenfalls einer auch die Sachverhaltsermittlung erfassenden Kontrolle unterzo-

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BVerfGE 85, 1 (14).

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gen. In einer Entscheidung zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. wird dieser Prüfungsauftrag so umschrieben: „Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in bezug auf den Tatbestand ,politisch Verfolgter‘ sowohl hinsichtlich der Ermittlung des Sachverhalts selbst als auch seiner rechtlichen Bewertung zu prüfen, ob die tatsächliche und rechtliche Wertung der Gerichte sowie Art und Umfang ihrer Ermittlungen Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG gerecht werden9 . . .“

Die verfassungsgerichtliche Prüfung am Maßstab der Justizgrundrechte ist allgemein intensiver als bei der Kontrolle der Sachentscheidung. Allerdings wird auch hier nicht auf den verfassungsspezifischen Verstoß gänzlich verzichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dem Maß der gebotenen Kontrolle in einem Beschluß aus dem Jahre 1997 – es ging im einzelnen um Präklusionsvorschriften – ausgeführt: „Das legt es nahe, die Auslegung und Anwendung dieser das rechtliche Gehör beschränkenden Vorschriften durch die Fachgerichte einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts geschieht . . . Dem entspricht es, daß die verfassungsgerichtliche Überprüfung . . . über eine Willkürkontrolle hinausgehen muß10 . . .“

Einschränkend heißt es in derselben Entscheidung dann aber kurz darauf: „Geprüft werden muß hier ebenso wie bei der Anwendung jeder anderen Norm einfachen Rechts, ob die jeweilige Rechtsanwendung verfassungswidrig ist. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs kann auch bei der fehlerhaften Anwendung von Präklusionsvorschriften nur dann verletzt sein, wenn dadurch eine verfassungsrechtlich erforderliche Anhörung nicht stattgefunden hat11.“

Präklusionsvorschriften schränken mit anderen Worten die Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Prozeß ein und bewegen sich damit regelmäßig im grundrechtsrelevanten Bereich. Daraus folgt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zwangsläufig, daß bei ihrer Anwendung die Schwelle der Grundrechtsverletzung eher erreicht werden kann, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts der Fall ist. 4. Derartige bundesverfassungsgerichtliche Kontrollen fachgerichtlicher Entscheidungen führen zweifelsohne zu einer gesteigerten Durchsetzung der Grundrechte, zur Effizienz der Grundrechte im täglichen Rechtsleben. Kritiker dieser Judikatur werfen dem Bundesverfassungsgericht aber seit langem eine Beeinträchtigung der Rechtssicherheit, der Voraussehbarkeit und Rationalität richterlicher Entscheidungen sowie eine „Usurpation“ fachgerichtlicher Zuständigkeiten vor. Die traditionellen, auf Rationalität ausgerichteten logischen Prozeduren und 9

BVerfGE 76, 143 (162). BVerfGE 75, 302 (312). 11 BVerfGE 75, 302 (314 f.). Siehe auch BVerfGE 60, 305 (310); 69, 126 (138 f.); 74, 228 (233); 81, 97 (105). 10

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Modi gesetzesanwendender Rechtsfindung würden ersetzt durch dem Grundgesetz entnommene Philosopheme wie die Wertordnung, die Wechselwirkung von Grundrecht und Schranke, die grundrechtsgesteuerte Güter- und Interessenabwägung etc. Hier gilt es, ein gesundes Mittelmaß zu finden, und zwar zwischen der Anerkennung der fachgerichtlichen Entscheidungs- und Beurteilungskompetenzen einschließlich der fachgerichtlichen Aufgabe der Sachverhaltsfeststellung einerseits und andererseits der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Grundrechte zu praktischer Effizienz zu führen. Es darf sicherlich nicht sein, daß die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte durchgehend zu Urteilsvorbehalten werden und das Bundesverfassungsgericht sich in die Rolle einer Super-Rechtsmittelinstanz begibt. Ein prinzipielles Zurück wird und kann es gleichwohl auch nicht geben. Grenzziehungen, die allgemein gültig und vor allem für jeden Rechtsanwender und Rechtsunterworfenen voraussehbar sein können, bleiben hier aber schwierig. Denn bei rein materiell-rechtlicher Sicht sind beispielsweise fachgerichtliche Entscheidungen, die eine Steuerpflicht des Bürgers contra legem bejahen, wegen Verletzung der von Art. 3 Abs. 1 GG mit gewährleisteten Rechtsanwendungsgleichheit und wegen der fehlenden Fundierung in der verfassungsmäßigen Ordnung als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch grundrechtswidrig. Die Verfassungsbeschwerde ist indes kein weiteres Rechtsmittel, so daß sie nur bei Verletzung spezifischen Verfassungsrechts erfolgreich sein kann und darf. Derartige spezifische Verfassungsverstöße auf der Rechtsanwendungsebene auszumachen, ist und bleibt eine delikate Aufgabe, bei deren Bewältigung das Bundesverfassungsgericht zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zu den allgemein zuständigen Fachgerichten kommen muß. Theoretische Großformeln wird es wohl zur Lösung dieser Problematik nicht geben, und einzelne Vorschläge, die im Kontext zu diesem Thema zu lesen waren, etwa zwischen Kontrollkompetenz und Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts einerseits und Kontrollmaßstab andererseits zu differenzieren12, scheinen mir unbrauchbar zu sein. Denn die verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz und die Kontrolldichte werden meines Erachtens ausschließlich und allein durch die Kontrollmaßstäbe des Grundgesetzes bestimmt. Hier eine Differenzierung vorzunehmen, halte ich für unmöglich und verfassungsprozessual nicht belegbar. Das Problem ist weniger ein prozessuales, sondern gründet auf der wiederholt beschriebenen „Konstitutionalisierung“ der Rechtsordnung. 5. Auf der anderen Seite darf das Thema nicht dramatisiert werden. Man sollte sich in diesem Zusammenhang noch einmal die bereits erwähnten Zahlen vor Augen halten: Nicht einmal 3 v. H. der eingelegten Verfassungsbeschwer12 Vgl. etwa Jestaedt, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, DVBl. 2001, S. 1309 (1315 ff.).

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den, die ja ganz überwiegend solche Urteilsverfassungsbeschwerden sind, sind erfolgreich. Dabei ist – wie bereits erwähnt – ein ganz erheblicher Teil jener Verfassungsbeschwerden auf die Verletzung von Verfahrensgrundrechten – insbesondere auf die Gehörsrüge – gestützt. Hier kann jener Einwand einer Usurpation fachgerichtlicher Kompetenzen regelmäßig nicht zum Tragen kommen. Dies macht aus meiner Sicht zweierlei deutlich: Zum einen kann offenbar keine Rede davon sein, daß das Bundesverfassungsgericht sich immer mehr zu einer Super-Rechtsmittelinstanz entwickele und Kompetenzen der allgemein zuständigen Gerichte anmaße. Zum anderen belegen die geringen Erfolgsquoten bei der Verfassungsbeschwerde die Wirksamkeit des Grundrechtsschutzes in der täglichen Rechtspraxis und in seiner Handhabung durch die Exekutive und die allgemein zuständigen Gerichte. II. 1. Der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde hat die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland – gerade in den Augen der Bürger – entscheidend geprägt. Er hat das Vertrauen in die strikte Verfassungsbindung aller öffentlichen Gewalt ganz entscheidend gestärkt und zu dem hohen Ansehen des Grundgesetzes sowie des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit beigetragen. Nicht zuletzt auf Grund des Instituts der Verfassungsbeschwerde ist es während der letzten Jahrzehnte gelungen, die Anerkennung und Beachtung der Grundrechte in Gesetzgebung, Verwaltung und Judikatur in einem Maße durchzusetzen, welches für die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands signifikant ist. Die bereits genannten Zahlen führen allerdings zu der Überlegung, das Bundesverfassungsgericht gerade im Bereich der Verfassungsbeschwerde entscheidend zu entlasten. Die vom Bundesministerium der Justiz vor einigen Jahren eingesetzte Entlastungskommission hatte ein Modell der „senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen“ vorgeschlagen. Nach den Vorstellungen dieser Kommission sollte die grundlegende normative Regelung zur Verfassungsbeschwerde wie folgt lauten: „Das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen. Dabei berücksichtigt es, ob seine Entscheidung für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte von besonderer Bedeutung ist.“13

Für ein solches nach US-amerikanischem Vorbild ausgerichtetes Annahmeverfahren nach Ermessen14 dürfte der Gedanke der bereits angesprochenen Verfassungsorganqualität des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne Bedeutung ge13 Bundesministerium der Justiz (Hg.), Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, 1998, S. 43. 14 Vgl. hierzu Bundesministerium der Justiz (FN 13), S. 37 ff.

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wesen sein. Das Bundesverfassungsgericht würde nämlich in bezug auf die Verfassungsbeschwerden einen Entscheidungsspielraum von der Art erhalten, wie er den anderen Verfassungsorganen selbstverständlich zukommt und vom Bundesverfassungsgericht jenen Verfassungsorganen auch immer zugestanden worden ist. Das Gericht könnte bei der Geltung eines solchen Annahmeermessens in Grundrechtsfragen sein Entscheidungsprogramm selbst bestimmen und damit in gewissem Grade selbst Grundrechtspolitik betreiben. Dem gegenüber hält sich das Annahmeverfahren des geltenden Rechts (§§ 93a ff. BVerfGG) eher im Rahmen des klassischen Funktionsbereichs der rechtsprechenden Gewalt. Denn es stellt rechtliche Annahmekriterien auf, bei deren Vorliegen die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen ist. Von einem freien Annahmeermessen kann de jure keine Rede sein. Daß in der faktischen Anwendung die Grenzen zum Annahmeermessen hin flüchtig werden können, überrascht denjenigen nicht, der um die Schwierigkeiten einer Abgrenzung der unbestimmten Rechtsbegriffe vom Ermessen weiß. 2. Es gibt sicherlich gute Gründe für, aber auch gegen das angesprochene Änderungsmodell. Eines ist allerdings klar hervorzuheben. Nach dem geltenden Recht verfügt der Bürger über ein verfassungsrechtlich verbürgtes subjektives öffentliches Recht auf eine Sachentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht – zumindest über die Annahme seiner Verfassungsbeschwerde –, wenn er sich durch die öffentliche Gewalt in seinem Grundrecht verletzt wähnt. Folgte man dem Änderungsvorschlag, würde dieses Recht dem Bürger genommen werden. Das subjektive Verfahrensrecht würde entfallen, die objektiv-rechtliche Funktion der Verfassungsbeschwerde würde ganz eindeutig in den Vordergrund treten. Auf der anderen Seite brächte dieser Wandel in der Funktion der Verfassungsbeschwerde von einem individualrechtlichen, außerordentlichen Rechtsbehelf des Bürgers zu einem Instrument vorrangig objektiv-rechtlicher Verfassungskontrolle ein Stück mehr Offenheit und Ehrlichkeit mit sich, und zwar im Hinblick darauf, was mit einer Verfassungsbeschwerde wirklich erreicht werden kann und was sich in den derzeitigen hohen Nichtannahmequoten widerspiegelt. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat sich im Ergebnis gegen die Übernahme jenes Modells des senatsgesteuerten Annahmeermessens ausgesprochen. Diesem Votum lagen die Auswertungen eines „Entlastungs-Selbstversuchsverfahrens“ zu Grunde. Dieser so genannte Selbstversuch hatte zum Inhalt, für die Dauer von sechs Wochen das von der Kommission empfohlene Verfahren einer Annahme nach Ermessen unter Fortfall der Kammern und der Einführung des so genannten „Mitberichterstatters“ parallel zu dem gesetzlichen Verfahren versuchsweise zu praktizieren. Von einer Annahme nach Ermessen hatten viele Mitglieder des Gerichts eine deutliche Entlastung erwartet. Das statistische, wenngleich nicht empirisch hinreichend valide Ergebnis des „Selbstversuchs“ ließ indes deutlich zu Tage treten, daß diese Erwartungen wohl letztlich unbegründet waren.

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In diesem Kontext des Experimentierens und der Beratungen um den so genannten Selbstversuch haben beide Senate des Bundesverfassungsgerichts überdies feststellen können, daß – entgegen dem Vorschlag der Entlastungskommission – die Kammern unverzichtbar sind und daher in jedem Fall erhalten bleiben sollten. Das von der Entlastungskommission vorgeschlagene Modell war aber gerade durch jene Verknüpfung der Zubilligung eines Ermessens mit der „Rückkehr zu einer zentralen Stellung des Senats auch im Verfassungsbeschwerde-Verfahren“ gekennzeichnet. Nicht zuletzt wegen jener gegen die Kammern gerichteten Zielsetzung hat der Entlastungsvorschlag letztlich wohl keine Chancen. 3. Die Umsetzung des Entlastungsvorschlags bedingte überdies eine Änderung des Grundgesetzes15. Ich meine, dies entfaltete eine falsche Signalwirkung in der Öffentlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht ist in erster Linie ein Gerichtshof, es sollte daher nach rechtlichen Maßstäben über die Annahme von Verfassungsbeschwerden entscheiden, nicht aber Grundrechtspolitik betreiben. Das Gericht würde sich von den Funktionen eines Organs der rechtsprechenden Gewalt weiter entfernen; es würde sein Entscheidungsprogramm selbst festlegen, etwa in der Weise, daß es Verfahren nicht aufgreift, weil ihm der Sachverhalt oder der Zeitpunkt dafür ungeeignet erscheint, weil es die aufgeworfenen Fragen als von geringer objektiv-verfassungsrechtlicher Bedeutung erachtet und nicht oder derzeit nicht für klärungsbedürftig hält oder weil dies auf Grund der gegebenen Arbeitsbelastungen des Gerichts inopportun erscheint. Die sicherlich notwendige Entlastung des Bundesverfassungsgerichts kann zu einem gewissen Teil auf anderen Wegen erreicht werden; der partielle Entzug eines für die Verfassungsrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland prägenden und dieser eine Beispielhaftigkeit verleihenden Rechtsbehelfs erscheint nicht ratsam. 4. Im übrigen wird auch schon durch das Annahmeverfahren des geltenden Rechts erreicht, daß weniger gewichtige Grundrechtsverstöße der Fachgerichte, die – auch bei Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts – an sich zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde führen müßten, nicht den Weg zu einer umfassenden, mit einer Sachentscheidung abschließenden Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht eröffnen. So kommt der Verfassungsbeschwerde grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne von § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG nicht zu, wenn an ihrer Klärung kein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse besteht. Ist die Grundrechtsverletzung nicht auf Grund hinzukommender Umstände (generelle Vernachlässigung, grobe Verkennung des Grundrechts, leichtfertiger Umgang mit den Grundrechten, krasse Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze) „besonders gewichtig“, erfordert die Annahme nach dem zweiten Annahmegrund (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) eine 15

Vgl. Bundesministerium der Justiz (FN 13), S. 54 ff.

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„existenzielle Betroffenheit“ des Beschwerdeführers16. Für die Fachgerichte begründen also schon die geltenden gesetzlichen und vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Annahmevoraussetzungen einen nicht exakt abgrenzbaren Bereich, in dem sie einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen sind und in dem ihnen zugleich die Beachtung der Grundrechte in Letztverantwortung übertragen ist. 5. Auch das Subsidiaritätsprinzip enthält eine grundsätzliche Aussage über das Verhältnis der Fachgerichte zum Bundesverfassungsgericht. Nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung obliegt zunächst den Instanzgerichten die Aufgabe, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen. Dem Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs entspricht die Pflicht der Gerichte, etwaige im Instanzenzug eingetretenen Grundrechtsverstöße selbst zu beseitigen. Es gehört also zu den Aufgaben eines jeden Gerichts, im Rahmen seiner Zuständigkeit bei Verfassungsverletzungen Rechtsschutz zu gewähren17. Auf der anderen Seite gebietet der Grundsatz der Subsidiarität, daß der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um es gar nicht erst zu dem Verfassungsverstoß kommen zu lassen oder um die geschehene Grundrechtsverletzung zu beseitigen18. Dadurch ist zugleich gewährleistet, daß dem Bundesverfassungsgericht nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet wird. III. Der bereits angesprochene hohe Anteil von Verfahrensrügen, insbesondere von Gehörsrügen, an den beim Bundesverfassungsgericht erhobenen Verfassungsbeschwerden hat allerdings zu der Überlegung geführt, durch Änderungen der einfach-rechtlichen Verfahrensordnungen in jedem Fall sicherzustellen, daß gegen richterliche Entscheidungen spezifische Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, um Gehörsverletzungen geltend zu machen. Es geht also um die Forderung an den Gesetzgeber, das Verfahrensrecht so zu gestalten, daß im jeweiligen fachgerichtlichen Verfahren auf Grund spezifischer Rechtsbehelfe Gehörsverletzungen geltend gemacht und in der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit selbst gegebenenfalls behoben werden können. Ein solcher Weg bedingte keine Verfassungsänderung, er führte zu einer aus meiner Sicht durchaus effizienteren und sachnäheren Korrektur begangener Verfahrensverstöße und würde daher mittelbar aller Voraussicht nach eine substantielle Entlastung des Bundesverfassungsgerichts bringen. Durch partielle Korrektur des einfachen (Verfahrens-)Rechts 16 17 18

BVerfGE 90, 22 (25 f.). BVerfGE 49, 244 (258). BVerfGE 74, 102 (113); 78, 58 (68); st. Rspr.

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sollten Verfahrensrügen mit anderen Worten dorthin verlagert werden, wo sie am schnellsten und effizientesten behandelt werden können, nämlich zum iudex a quo und – falls dieser nicht abhelfen will oder kann – zum iudex ad quem des jeweiligen fachgerichtlichen Instanzenzuges. Der Gesetzgeber hat mittlerweile in dieser Hinsicht reagiert. Mit der neuen Vorschrift des § 321a ZPO ist ein erster Schritt der Abhilfe geleistet worden, beschränkt auf den Zivilprozeß und den Gehörsverstoß durch das Gericht des ersten Rechtszuges. Nach wie vor verbleiben aber Fallkonstellationen, in denen trotz eindeutiger Gehörsverletzungen fachgerichtliche Abhilfemöglichkeiten nicht bestehen. Nach der bisherigen Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfassungsgerichts ist es in solchen Fällen ausreichend, daß der Betroffene Verfassungsbeschwerde erheben kann. An dieser Rechtsauffassung, nach der das Fehlen einer fachgerichtlichen Abhilfemöglichkeit bei entscheidungserheblichen Verstößen gegen das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG nicht das Grundgesetz verletzt, will der Erste Senat jedoch nicht mehr festhalten. Er hat daher mit Beschluß vom 16. Januar 2002 gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG das Plenum des Bundesverfassungsgerichts angerufen19. Hintergrund der Anrufung des Plenums ist eine derzeit beim Ersten Senat anhängige Verfassungsbeschwerde. Die Beschwerdeführer rügen dort eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör durch ein Oberlandesgericht in der Berufungsinstanz. Nach den maßgeblichen Vorschriften der Zivilprozeßordnung ist gegen das angegriffene Urteil kein Rechtsmittel möglich. Dies hält der Erste Senat mit dem Justizgewährungsanspruch für nicht vereinbar. Er ist der Auffassung, daß das Gesetz unter diesem verfassungsrechtlichen Aspekt dem Bürger bei Gehörsverletzungen Rechtsschutz bereits durch die Fachgerichte selbst eröffnen muß. Wie das Plenum hier entscheiden wird, bleibt abzuwarten. IV. 1. Die bisherigen Blicke waren, was die möglichen Entlastungen des Bundesverfassungsgerichts angeht, auf die Verfassungsbeschwerde gerichtet. Betrachtet man allein die Zahlen, dann liegt diese einseitige Ausrichtung auch nahe. Von erheblicher Belastungswirkung ist indes auch die Richtervorlage. Zwar fallen diese Vorlagen zahlenmäßig hinter die Verfassungsbeschwerden weit zurück, sie sind aber regelmäßig von höherem Gewicht und beanspruchen größere Arbeitskapazitäten, zumal sie originäre Senatszuständigkeiten begründen, sieht man einmal von der Möglichkeit einer Kammerentscheidung nach § 81a BVerfGG wegen Unzulässigkeit der Vorlage ab. Auch in bezug auf die Richtervorlagen 19

ZVI 2002, S. 122.

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muß daher über eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts nachgedacht werden, zumal hier wegen der Aussetzung der Ausgangsverfahren und der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht insgesamt häufiger eine überlange Verfahrensdauer und damit Rügen nach Maßgabe des Art. 6 EMRK drohen. 2. In diesem Zusammenhang gibt es verschiedene Überlegungen, die allesamt noch nicht ausgereift und entscheidungsreif sind. Zum einen könnte daran gedacht werden, bei offensichtlich unbegründeten Vorlagen in Analogie zur jetzigen Regelung des § 81a BVerfGG eine Zurückweisung durch Kammerentscheidung zu ermöglichen. Zwar könnte eine solche Kammerentscheidung nicht zu einer positiven Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Norm mit den Wirkungen des § 31 BVerfGG führen, wohl aber könnte daran gedacht werden, eine Kammerentscheidung mit dem Tenor zu ermöglichen, wonach die Vorlage keine Gründe aufzeigt, die den gerügten Verfassungsverstoß ergeben. Dies stellte gewissermaßen eine Begründetheitsprüfung auf der Grundlage der vom vorlegenden Gericht dargelegten Gründe dar, beinhaltete aber noch keine endgültige und abschließende Verfassungsmäßigkeitsfeststellung des Bundesverfassungsgerichts. Es wäre allerdings zu prüfen, ob ein solcher Weg ohne eine Änderung des Art. 100 Abs. 1 GG einfachgesetzlich beschritten werden könnte. Es könnte ferner diskutiert werden, ob das Verwerfungsmonopol nach Maßgabe des Art. 100 Abs. 1 GG auch für solche Gesetze gelten muß, die im Zeitpunkt der Entscheidung über eine Vorlage bereits außer Kraft getreten sind. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner bisherigen Spruchpraxis mit dieser Frage bislang nicht ausdrücklich auseinandergesetzt. Es hat allerdings in ständiger Rechtsprechung die Zulässigkeit einer konkreten Normenkontrolle von der Fortgeltung eines Gesetzes nicht abhängig gemacht. Erinnert sei zum Beispiel an einen im letzten Jahr ergangenen Beschluß zur Verfassungsmäßigkeit einer Regelung des Bundesurlaubsgesetzes, nach der bestimmte Kuren in begrenztem Umfang auf den Erholungsurlaub angerechnet werden konnten. Die dem Bundesverfassungsgericht durch ein Arbeitsgericht zur Prüfung vorgelegte Norm hat lediglich von 1996 bis 1998 gegolten. Mit Beschluß vom 3. April 2001 stellte der Erste Senat fest, daß die Regelung für die Dauer ihrer Geltung mit dem Grundgesetz vereinbar war20. Durch Art. 100 Abs. 1 GG soll die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers gewahrt werden. Aus diesem Leitgedanken hat das Bundesverfassungsgericht gefolgert, daß vorkonstitutionelle Normen der Vorlagepflicht und damit dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nicht unterliegen. Für Normen, die der Gesetzgeber selbst aufgehoben hat, kann dieser Gedanke möglicherweise in ähnlicher Weise Geltung beanspruchen. Wird ausgelaufenes Recht von den Gerichten als unvereinbar mit dem Grundgesetz angesehen und 20

BVerfGE 103, 293 ff.

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deshalb nicht mehr angewendet, so bleibt die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers möglicherweise in gleicher Weise gewahrt. Diese Hinweise können allerdings im Augenblick nur Denkanstöße bewirken, vielfältige Fragen wären im einzelnen zu durchdenken und auf mögliche Implikationen hin abzuklopfen. Letztendlich könnte man erörtern, ob eine Vorlagepflicht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nur für solche Gerichte in Betracht kommen kann, die jeweils letztinstanzlich im fachgerichtlichen Rechtszug entscheiden. Bei diesem Lösungsmodell ist allerdings zu bedenken, daß nach deutschem Verfassungsrecht jeder Richter ein Prüfungsrecht und eine Prüfungspflicht in bezug auf die anzuwendenden Gesetze hat, so daß sich auch der nicht letztinstanzlich entscheidende Richter über die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer von ihm anzuwendenden Gesetzesnorm im Klaren werden muß. Hielte er ein von ihm anzuwendendes Gesetz für verfassungswidrig, könnte er dieses aber dem Bundesverfassungsgericht nicht zur endgültigen Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit vorlegen, gäbe es aus meiner Sicht kaum lösbare Bruchstellen.

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Hans-Jürgen Papier Leitung: Jutta Limbach Von Marion Weschka Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jutta Limbach, Präsidentin a. D. des Bundesverfassungsgerichts, eröffnete die Diskussion mit einer Bezugnahme auf die Feststellung von Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, daß laut einer Schätzung mindestens 50 v. H. der Verfassungsbeschwerden die Gehörsrüge beträfen. Im zweiten Senat sei es sogar noch deutlicher, daß die Justizgrundrechte als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde im Vordergrund stünden. Auch ihrer Ansicht nach treffe die Behauptung, daß die Entscheidungslast des Bundesverfassungsgerichts durch die Lüth- und die Elfes-Entscheidung weitgehend hausgemacht sei, nicht zu. Es sei nur so, daß Entscheidungen, die in den Spuren der Lüth-Entscheidung gefällt würden, wie z. B. die Bürgschaftsentscheidung des ersten Senats aus dem Jahre 1993, mehr Aufmerksamkeit erregten, da jedermann glaube, nun tappe das Bundesverfassungsgericht wieder in seine alten Fallen hinein. Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Georg Ress, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, machte darauf aufmerksam, daß das Verhältnis der Nachprüfung durch den Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte zu den mitgliedstaatlichen Gerichten der Relation des Bundesverfassungsgerichts zu den letztinstanzlichen Gerichten entspreche, da es sich in beiden Fällen um eine Art Urteilsbeschwerde handele. Dabei gebe es Bereiche, in denen eine Willkürkontrolle auf der einen Seite einer intensiveren Nachprüfung auf der anderen Seite gegenüberstehe. Für Deutschland bestünden in den Bereichen, in denen eine intensive Nachprüfung durchgeführt werde, wie z. B. bei der Kommunikationsfreiheit, keinerlei Probleme, da sich hier die Nachprüfungsintensität beider Gerichte decke. In anderen Staaten, wo eine derart intensive Nachprüfung nicht durchgeführt bzw. die Abwägung in anderer Art und Weise vollzogen werde, würden dagegen im Verhältnis zum EGMR Probleme auftreten. Dies sei z. B. bei den vielen begründeten Beschwerden im Bereich der Meinungsfreiheit gegenüber Österreich der Fall, wo die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und individuellem Ehrschutz vom OGH und auch vom Verfassungsgerichtshof in einigen Fällen anders gesehen werde als vom Straßburger Gerichtshof. Festzu-

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halten sei jedoch, daß es im Bereich einer intensiveren Überprüfung durch das nationale Verfassungsgericht kaum Probleme bei der Kontrolle durch den EGMR gebe. Lasse das letztinstanzliche nationale Gericht jedoch eine reine Willkürkontrolle ausreichen, seien Probleme auf Straßburger Ebene vorprogrammiert. Auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht entspreche die Judikatur des EGMR, wonach Fehler bei der Tatsachenfeststellung, unrichtige Rechtsanwendung etc. in der Sphäre der nationalen Gerichte belassen werden, vollständig der Abgrenzung zwischen Fachgerichtsbarkeit und dem Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts. Vor dem Straßburger Gerichtshof gebe es natürlich auch Kunstformeln wie die des „margin of appreciation“ und Abstufungen in der Prüfungsintensität. So würde der EGMR z. B. in der Frage des Lebensschutzes eine ganz intensive Kontrolle vielleicht bis zur Überprüfung gewisser Elemente der Tatsachenfeststellung durchführen. Ress erinnerte an das umstrittene McCann-Urteil über die Frage des Polizeieinsatzes in Gibraltar gegen angebliche IRA-Terroristen, in dem der Gerichtshof die Abwägung der Polizei vor Ort bei der Waffenanwendung und plötzlichen Erschießung der angeblichen Terroristen sehr intensiv nachgeprüft hat. Zur Diskussion in Deutschland über die Einführung eines Annahmeverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht äußerte Ress sich kritisch. In dem Maße, in dem der deutsche Gesetzgeber dazu überginge, ein Annahmeverfahren einzuführen, bekäme der Straßburger Gerichtshof nicht unerhebliche Probleme, weil es eine ständige Rechtsprechung gebe, daß ein Verfahren, das völlig in das Ermessen des Gerichts gestellt sei, kein effektiver Rechtsbehelf mehr sei und nicht mehr zur Erschöpfung des nationalen Rechtsweges gehöre. Aus diesem Grunde seien z. B. Verfahren vor dem kroatischen Verfassungsgericht nicht in den Bereich des effektiven Rechtsschutzes einbezogen worden, und er persönlich wäre nicht glücklich, wenn man diese Schlußfolgerung auch für die Bundesrepublik Deutschland ziehen müsse. Bertold Sommer, Richter des Bundesverfassungsgerichts, hob hervor, daß sich am Asylgrundrecht das Verhältnis von Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit geradezu paradigmatisch darstellen lasse. Verfassungsbeschwerden im Bereich des Asylrechts seien durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet: Erstens gebe es zwar ein Asylverfahrensgesetz, aber von geringen Nebenfragen abgesehen kein materielles Ausführungsgesetz, was zur Folge habe, daß Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit „auf demselben Acker ihre Furchen zögen“, nämlich im Bereich des Artikels 16a GG. Es gebe daher schon im Ansatz nicht die in der Figur des spezifischen Verfassungsrechts aufscheinende Möglichkeit, voneinander unterscheidbare Rechtsmassen abzugrenzen, was allerdings in dem Moment, in dem die gesamte Rechtsordnung verfassungsrechtlich durchdrungen sei, ohnehin fraglich geworden sei. Zum anderen gehe es im Be-

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reich der Verfassungsbeschwerden zum Asylrecht in fast allen Fällen nicht darum, ob das Grundrecht in gewissen Ausprägungen eingeschränkt worden sei, sondern darum, ob es bestehe oder nicht bestehe. Es handele sich also immer um Fälle von höchster Eingriffsintensität. Daraus habe der 1. Senat in einer Entscheidung im 54. Band die Konsequenz gezogen, daß das Verfassungsgericht in vollem Umfang für die richtige Anwendung des damaligen Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG verantwortlich sei. Dies bedeute letztlich die Superberufung und die Superrevision. Der 2. Senat habe in Erkenntnis dessen, daß mit dieser Formel angesichts der steigenden Fallzahlen nicht zu arbeiten sein würde, die Figur des Wertungsrahmens erfunden. Dies bedeute eine Art der Vertretbarkeitskontrolle, so daß in der praktischen Anwendung der Unterschied zu den übrigen Grundrechten nicht mehr ein prinzipieller sei, sondern nur noch graduell in der Schärfe der Kontrolle zu Tage trete. Über den Begriff des Wertungsrahmens, der den Fachgerichten erhalten bleiben müsse, laufe die gesamte Sachverhaltsfeststellung und auch die Rechtsanwendung im Einzelfall bis zu einer gewissen Grenze in der Verantwortung der Fachgerichte, obwohl es im anzuwendenden Recht eine Identität der Maßstäbe gebe. Das habe ihn persönlich zu der Einsicht geführt, daß bei der Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit der Blick viel stärker auf die Erhaltung der den jeweiligen Gerichtsbarkeiten zugewiesenen speziellen Funktionen zu richten sei als auf die Vorstellung, daß es sich dabei um von einander abgrenzbare Rechtsmassen handele. Beide Gerichtsbarkeiten müßten die ihnen in der jeweiligen Gesamtordnung zugewiesenen speziellen Funktionen wahrnehmen können, ohne daß die eine der anderen Wesentliches wegnehme. Em. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Stern, Universität Köln, zeigte sich im wesentlichen mit Papier einverstanden, da die vorgeschlagene mittlere Linie der einzige Weg sei, um dem Verständnis der Grundrechte auf der einen Seite und dem einfachen Recht auf der anderen Seite gerecht zu werden. Als das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil die Entscheidung gefällt habe, daß die Grundrechte zugleich Wertentscheidungen seien und auf das einfache Recht im Sinne einer Ausstrahlungswirkung, Wertorientierung und als objektivrechtliche Prinzipien einwirkten, sei klar gewesen, daß das einfache Recht weit mehr in den Einwirkungssog der Grundrechte geraten würde als bisher. In diesem Zusammenhang sei die Entscheidung im 6. Band zum Ehegattensplitting bemerkenswert, da sie die Einwirkung auf das Steuerrecht, also auf ein verwaltungsrechtliches Gebiet erwähnt habe. Jedenfalls von diesem Zeitpunkt an sei das Verständnis der Grundrechte ein anderes gewesen als in der Weimarer Zeit, was vom parlamentarischen Rat auch so beabsichtigt gewesen sei. Aus der damaligen Zeit seien Sätze zu ermitteln, die sagten, die Grundrechte müßten das ganze System des Rechts durchdringen und seien für die gesamte Rechtsordnung maßgeblich. Dies habe das Bundesverfassungsgericht im Grundsatz richtig umgesetzt. Zwar habe bereits das Reichsgericht in den zwanziger Jahren davon ge-

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sprochen, daß die Grundrechte das Heiligtum des deutschen Volkes seien, wenn man aber nachprüfe, was das Reichsgericht tatsächlich aus den Grundrechten gemacht habe, komme man zu dem Ergebnis, daß dies praktisch nichts sei. Der entscheidende Wandel sei durch die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Einführung der Verfassungsbeschwerde bewirkt worden, was dazu geführt habe, daß die Verletzung von Grundrechten gerügt werden könne, wenn Urteile oder Gesetze nicht den Grundrechten entsprächen. Die Frage bestehe nun allein darin, wie man das Spannungsverhältnis zwischen Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit auflösen könne. Dabei sei, auch laut Papier, die Verantwortung des Richters gefordert. Diese Verantwortung bestehe nicht nur dem Bürger gegenüber, der seine Grundrechte geltend machen wolle, sondern auch der Fachgerichtsbarkeit gegenüber. Und umgekehrt müsse die Fachgerichtsbarkeit, worauf auch Sommer gerade hingewiesen habe, diese Wirkung der Grundrechte auch gebührend berücksichtigen. Dieses Spannungsverhältnis habe die Verfassungsgerichtsbarkeit z. B. mit der Heck’schen Formel aufgelöst. Abstrakt sei daher die Frage ordentlich gelöst, so daß es jetzt nur noch auf den Einzelfall ankomme, wo man sicherlich da und dort Kritik üben könne und die Rechtsprechung noch verfeinert werden könne. Nach Ansicht von Prof. Dr. Jörg Paul Müller, Wissenschaftskolleg Berlin, liegt die Wurzel des Problems darin, daß die Grundrechtsrechtsprechung in der Regel eine ganz andere Rechtsmethodik und eine ganz andere Ausbildung im juristischen Denken voraussetzt als die Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit. Es sei also nicht nur der Konflikt zwischen Gewalten im Staat und Eifersüchteleien darüber, wer das letzte Wort habe, sondern vor allem ein Konflikt von Methoden. Die Zivilrechtler störten sich deshalb an der Verfassungsrechtsprechung, weil man mit einer völlig anderen Methode, die eher fallorientiert sei und fast dem case law ähnele bzw. einer sehr teleologisch orientierten Methode, die sich nach den Interessen der Öffentlichkeit oder des due process im Gerichtsverfahren richte, an die Fälle herantrete, die der Jurist doch schulmäßig, wie er es gelernt habe, deduktiv nach klaren Regeln und Begriffen zu lösen gewöhnt sei. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, unterstrich die Ausführungen von Müller und ergänzte, daß man seiner Ansicht nach z. B. Strafprozeßrecht ohne Grundgesetz nicht lehren und auch nicht konzipieren könne. Dies ändere jedoch nichts daran, daß in Deutschland im Strafprozeßrecht und erst recht im Strafrecht nur das gelehrt werde, was in der Tradition des jeweiligen Faches stehe. Man müsse sich wundern, daß die Tradition im Strafrecht, die mit der Einschränkung des staatlichen Eingriffs in bürgerliche Freiheiten der Botschaft der Grundrechte entspreche, in Forschung und Ausbildung zu den Grundrechten parallel laufe, und daß erst jetzt langsam Arbeiten vor allem von jüngeren Kollegen erschienen, die ver-

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suchten, das Verfassungsrecht für die Traditionen des Strafrechts nutzbar zu machen und umgekehrt. Im Anschluß daran nahm Papier zu den bisherigen Diskussionsbeiträgen Stellung. Bezug nehmend auf die Äußerungen von Ress zeigte er sich sehr erfreut, daß sich die Lösungen, die Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in gleich gelagerten Fällen fänden, zumindest teilweise entsprächen. Die Abstufungen in der Nachprüfung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte seien vergleichbar mit der durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten „Je-desto-Formel“, welche die Grundlage für die Abstufungen der Prüfungsintensität innerhalb der einzelnen Grundrechte, aber auch innerhalb der einzelnen Eingriffsarten bilde. Bezüglich der Stellung der Verfassungsbeschwerde im Rechtsschutzverfahren wies Papier jedoch auf unterschiedliche Auffassungen der beiden Gerichtsbarkeiten hin: Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gehöre die Verfassungsbeschwerde trotz des gesetzlich strukturierten Annahmeverfahrens nicht zum Rechtsschutzverfahren im Sinne des Artikels 6 EMRK. Der Straßburger Gerichtshof sei in dieser Frage jedoch anderer Ansicht. Bei Umgestaltung der Verfassungsbeschwerde zu einem Ermessensverfahren sei klar, daß dieses Verfahren nicht mehr von der Gewährleistung des Art. 6 EMRK umfaßt sei. Es stelle sich jedoch auch bei dem gegenwärtig bestehenden Annahmeverfahren die Frage, ob dieses wirklich noch im Schutzbereich von Art. 6 EMRK liegen könne. Nach einem Dank an Sommer, dessen Ausführungen er zustimmte, wandte sich Papier dem Beitrag von Stern zu. Auch mit diesem stimmte er sowohl hinsichtlich der Analyse des Problems als auch hinsichtlich der daraus zu ziehenden Konsequenzen überein, wies jedoch darauf hin, daß der Aspekt der Verantwortung vor den Fachgerichten vom Bundesverfassungsgericht zu einem nicht geringen Teil mit dem Subsidiaritätsprinzip zum Ausdruck gebracht werde. Das Bundesverfassungsgericht nehme das Subsidiaritätsprinzip sehr ernst und setze es auch rigide durch, so daß der Bürger sich nur dann in zulässiger Weise mit seinen Rügen an das Bundesverfassungsgericht wenden dürfe, wenn er sie zuvor im fachgerichtlichen Verfahren vorgebracht habe. Habe er seine Rügen vor dem Fachgericht nicht vorgebracht, obwohl er sie hätte vorbringen können, so sei er auch vor dem Bundesverfassungsgericht mit diesem Vorbringen ausgeschlossen. Diese strikte Judikatur diene dazu, in Verantwortung für die Beurteilungs- und Entscheidungskompetenz der Fachgerichte diesen in bezug auf Sachverhaltsfeststellung und Auslegung des einfachen Rechts eine Vorrangstellung einzuräumen. So wäre z. B. das Bürgschaftsurteil des Bundesverfassungsgerichts entbehrlich gewesen, wenn die Zivilgerichte in angemessener Handhabung des einfachen Rechts anders judiziert hätten. Das gleiche gelte auch für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Verzicht auf nachehelichen

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Unterhalt. Hier wäre zu erwarten gewesen, daß die Zivilgerichte schon längst gegengesteuert hätten. Die vor kurzem vom ersten Senat getroffene Entscheidung zur Berechnung des nachehelichen Unterhaltes sei durch eine jahrzehntelange zivilrechtliche Judikatur provoziert worden, die insbesondere die nicht berufstätige Frau im Falle der Scheidung ganz offensichtlich unterhaltsrechtlich benachteiligt habe. Noch während das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig gewesen sei, habe der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung korrigiert. Die vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffene Entscheidung sei zwar nicht vom BGH, sondern von einem Oberlandesgericht gewesen, habe sich jedoch gänzlich an der damals tradierten Rechtsprechung des BGH orientiert und sei folglich vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden. Gleichzeitig habe das Bundesverfassungsgericht aber die neuen Kriterien des BGH verfassungsrechtlich abgesegnet, um diese Rechtsprechung zu stützen. Hätten die Zivilgerichte rechtzeitig in Anwendung des einfachen Rechts ihren Kurs korrigiert, wäre also auch hier die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts entbehrlich gewesen. Hinsichtlich der Problematik der unterschiedlichen Methoden gab Papier Müller und Hassemer dahingehend Recht, daß sich die Zivil- und Strafrechtsjuristen erst an die Methode der Verfassungsrechtsauslegung gewöhnen müßten, obwohl sie so fremd gar nicht sei. Der methodische Einstieg sei vielmehr ein ganz traditioneller. Nach dem Bundesverfassungsgericht wirkten die Grundrechte als objektivrechtliche Normen bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln des Zivilrechts ein, also z. B. bei den §§ 242 und 138 BGB. Bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs der guten Sitten habe der Zivilrichter jedoch schon immer auf außerhalb des Zivilrechts liegende Wertungen, ja manchmal sogar auf außerjuristische Wertesysteme zurückgreifen müssen. Daher stelle sich die Frage, ob es denn methodisch so anders sei, wenn das Bundesverfassungsgericht nun in ständiger Rechtsprechung die Zivilgerichte dazu veranlasse, bei der Ausfüllung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs und seiner Anwendung im Einzelfall eine objektiv-rechtliche Werte beinhaltende Rechtsordnung heranzuziehen. Dies könne zwar im Einzelfall in der täglichen juristischen Praxis für den Ziviljuristen gewöhnungsbedürftig sein, sei jedoch methodisch gar nicht so anders. Wenn der Ziviljurist z. B. im Falle einer Unterlassungsklage bei rufschädigenden Äußerungen auf die Ebene des Verfassungsrechts zurückgreifen müsse, so stelle dies keine prozeßrechtlich unzulässige Erweiterung von Handlungsvollmachten des Bundesverfassungsgerichts dar, sondern sei ein Ausfluß der Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung, die im Grunde ja auch von allen akzeptiert werde. Um diese Konstitutionalisierung der Rechtsordnung auch verfahrensrechtlich in aller Tiefe und Schärfe zum Ausdruck zu bringen, müsse jedoch ein prozeßrechtliches Instrument hinzukommen, wie es auf Bundesebene mit der Verfassungsbeschwerde der Fall sei. In Ländern, in denen es keine Verfassungsbeschwerde gebe, wie z. B. auf

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Bundesländerebene in Nordrhein-Westfalen, zeigten sich die Auswirkungen der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung nicht so deutlich. Nach Ansicht von Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek, Vizepräsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, liegt das Problem weniger in der unterschiedlichen methodischen Ausgangsposition als vielmehr in der Frage, welche Elemente bei der jeweiligen Auslegungsmethode heranzuziehen sind. Wenn man in der Interpretation des Zivilrechts, des Strafrechts oder des Strafprozeßrechts auch die Grundrechte berücksichtige, so sei dies nichts anderes als eine systematische Interpretation, die zusätzlich den Stufenaufbau der Rechtsordnung mit einbeziehe. Die Fachgerichte und die Fachdisziplinen im klassischen Zivilrecht und Strafrecht interpretierten systematisch immer aus dem Gesetz heraus und teleologisch aus den Zielen des konkreten Gesetzes, während es jedoch darum gehe, in die systematische Interpretation auch die Grundrechtswertung einzubeziehen und bei der teleologischen Interpretation auch die grundsätzlichen Ziele der Grundrechtsordnung zu berücksichtigen. Es handele sich also in jedem Fall um eine systematische bzw. teleologische Interpretation. Zum Konflikt führte jedoch, daß diese Interpretationen auf der Ebene des einfachen Gesetzes sehr oft aufhörten. Frau Limbach kam erneut auf das Bürgschaftsurteil zurück mit dem Hinweis, daß es gut gewesen wäre, wenn sich der Bundesgerichtshof vom Oberlandesgericht Stuttgart, das ja im Gegensatz zum BGH den hier für richtig gehaltenen Weg eingeschlagen hatte, hätte belehren lassen. Ihrer Ansicht nach stellt die Behauptung, daß sich die Zivilisten vorzugsweise an den Savigny’schen Auslegungsmethoden orientierten, die Wirklichkeit nicht richtig dar, denn man suche immer krampfhaft Kathederfälle, um diese Auslegungsmethoden den Studenten nahe zu bringen, und sobald die Zivilisten selbst eine Grundsatzentscheidung erreichten, argumentierten sie auch eher wie das Bundesverfassungsgericht als so, wie es den Erstsemestern beigebracht werde. Immerhin sei eine der ersten Entscheidungen, in der Zivilrecht im Geiste des Grundgesetzes ausgelegt worden sei, die Entscheidung des Bundesgerichtshofes zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht gewesen. Dies habe der BGH mustergültig gemacht, so daß das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung nur noch bekräftigt habe. Über die Generalklauseln sei dort sehr schön im Geiste von Artikel 1 und Artikel 2 argumentiert worden. Daran müsse man die Richter der Fachgerichtsbarkeit immer wieder erinnern, um deutlich zu machen, daß das Bundesverfassungsgericht in diesem Bereich überhaupt nichts Abartiges mache. Privatdozentin Dr. Dagmar Richter, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, knüpfte nochmals an die bereits von Müller erwähnten unterschiedlichen Methoden der Fachgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit an. Hier könne man die Diskussion noch weiter treiben mit den Fragen, ob es überhaupt ein Abgrenzungsproblem gebe, ob die Frage nach

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der Abgrenzung beider Bereiche richtig gestellt sei und wo eigentlich das Problem für die Fachgerichtsbarkeit liege. Erörterungswürdig sei auch die von Diederichsen vor einigen Jahren formulierte Behauptung, daß ein Eingriff des Bundesverfassungsgerichts nicht nur die einzelne Entscheidung betreffe, sondern Systeme zerstöre, wie z. B. das System der Bürgschaften oder sogar das System des Bürgerlichen Gesetzbuches. Prof. Dr. Karin Graßhof, Bundesverfassungsrichterin a. D., brach eine Lanze für den Bundesgerichtshof, indem sie auf die Entscheidung zum Schmerzensgeld hinwies, wo der BGH durch die Auslegung des § 847 BGB i.V. m. Artikel 2 die Vorreiterrolle in der Begründung von Schmerzensgeldansprüchen wegen immaterieller Schäden aufgrund einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts übernommen habe. Aber es gebe auch unzählige weitere Fälle, bei denen die zivilgerichtliche Rechtsprechung unter Hinweis auf Grundrechte argumentiere. Dies überzeuge allerdings nicht immer und es überzeuge auch in der Regel deshalb nicht, weil die Zivilgerichte nicht das letzte Wort hätten. Ein Beispiel sei der Bundesgerichtshof, der die Wertung des OLG Stuttgart nicht übernommen habe. Andererseits habe das OLG Stuttgart bereits vorher einmal bei der Bürgschaft aus Artikel 2 ein Recht auf Glück entwickelt und wegen Verletzung dieses Rechts auf Glück die Bürgschaft für nichtig gehalten, was dann vor dem 9. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes gescheitert sei. Nicht immer seien die Fälle jedoch verfassungsrechtlich so überzogen bzw. im Verfassungsrecht überhaupt nicht zu fundieren. Sie erinnerte an die Rechtsprechung zur Frage der Menschenwürdewidrigkeit bei der Zuerkennung eines Schadensersatzanspruches für die Geburt eines ungewollten Kindes. Wie schwierig die verfassungsrechtliche Würdigung in diesem Fall sei, zeige die kontroverse Rechtsprechung innerhalb des Bundesverfassungsgerichts selbst. Und da sei es doch immer entscheidend, wer das letzte Wort habe. Die Zivilgerichte verlören gelegentlich den Mut, rein grundrechtlich zu argumentieren, wenn sie wüßten, daß letztlich doch das Verfassungsgericht entscheide, und daher zögen sie sich auf eine Würdigung des einfachen Rechts zurück. Dr. Evelyn Haas, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, ergänzte die Ausführungen von Graßhof mit dem Hinweis darauf, daß nicht nur die Zivilgerichte angesichts gewisser Rechtsprechungslinien des Bundesverfassungsgerichts den Mut verlören, sondern auch die Staatsanwaltschaften. So habe die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit dazu geführt, daß die Staatsanwaltschaften in einem sehr hohen Maße verunsichert seien und nur noch in seltenen Fällen, bei denen offensichtlich sei, daß es ungeachtet der Meinungsfreiheit zu einer Verurteilung komme, Anklage erhöben, da eine Anklageerhebung in allen anderen Fällen angesichts des letzten Wortes des Bundesverfassungsgerichts aus Sicht der Staatsanwaltschaften keinen Sinn mehr mache. Sie erinnerte an den bayrischen Generalstaatsanwalt, der im Hinblick auf die zurückgehenden Zahlen von Verfassungsgerichtsbeschwerden gegen ehr-

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prozessuale Strafurteile darauf hinwies, daß es zu solchen Urteilen schon deshalb nicht komme, weil keine Anklage erhoben werde. Dies sei eine sehr bedenkliche Entwicklung. Frau Limbach wunderte sich darüber, daß immer noch die Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht“ gebraucht werde, denn wenn man als Gegenteil vom „unspezifischen Verfassungsrecht“ spreche, könne man sich nichts darunter vorstellen. Hinter dieser Formel verberge sich allenfalls eine Frage der Kontrolldichte. Ihrer Ansicht nach gehe es bei dem Verhältnis von Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, wie auch Sommer schon betont hatte, um eine sinnvolle Arbeitsteilung. Das einfache Recht sei das Feld, für das die Fachgerichtsbarkeit eingesetzt worden sei. Sie ermittele den Sachverhalt, was die Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts in solchen Fragen erkläre. Die Fälle, auf die Papier Bezug genommen habe, seien solche Fälle gewesen, wo weniger der Sachverhalt im individuellen Fall eruiert worden sei, sondern wo es mehr um den verallgemeinerbaren Kontext von Sachverhalten gehe. Am Beispiel des Ehrenschutzes zeige sich, daß es eine andere Frage sei, ob man sich hier spezifisch um den Sachverhalt des Strafrechtsfalles kümmere oder ob man deutlich mache, daß es bei der Frage, ob es sich um eine Meinungsäußerung handele oder ob die Äußerung doch mehr den Charakter einer Beleidigung habe, auch darauf ankomme, in welchem gesellschaftlichen Kontext die Äußerung gefallen sei, ob sie wie in dem „Soldaten-sind-Mörder“-Fall an den einzelnen Bundeswehrsoldaten oder an eine Gruppe adressiert sei oder ob man als Pazifist mit einem Aufkleber auf dem Auto durch die Gegend fahre. Es handele sich hierbei um eine andere Ebene der Tatsachenaufmerksamkeit, und es sei in der Tat die Ausnahme, daß sich das Bundesverfassungsgericht um solche Sachverhaltsfragen kümmere. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sei es vielmehr, Impulse zu setzen und im Sinne von Richtlinien zu judizieren. Daher entscheide es auch zumeist nicht den Fall selbst, sondern adressiere ihn mit seiner Interpretation oder mit den offenen Interpretationsmöglichkeiten an die fachliche Instanz. Folglich sollte man sich nicht ohne Not an der Leerformel vom spezifischen Verfassungsrecht festhalten. Die Richter hätten es bei der zunehmenden Praxis, auch Kammerentscheidungen wenigstens mit ein paar Sätzen zu begründen, sehr gut gelernt, daß man sich solcher Leerformeln nicht bedienen müsse, sondern daß man Anhaltspunkte in den Gründen transportieren könne, die dem Bürger besser klar machten, warum er hier keinen Erfolg gehabt habe. In Ergänzung zu Frau Limbachs Ausführungen wies Stern darauf hin, daß das Wort „spezifisch“ sprachlich falsch gebraucht werde, denn es gehe nicht um „spezifisches Verfassungsrecht“, sondern um Verfassungsrecht, das in spezifischer, flagranter oder besonderer Weise verletzt worden sei. Es sei klar, daß es unspezifisches und spezifisches Verfassungsrecht nicht gebe.

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Papier knüpfte an die zuvor diskutierte Arbeitsteilung und die unterschiedlichen Funktionen der Gerichtsbarkeiten an. Seiner Ansicht nach liege das Problem darin begründet, daß der Grundrechtsschutz mit derselben Methodik und derselben Intensität auch von den Fachgerichten zu leisten sei, so daß man nicht sagen könne, die Funktion der Fachgerichte sei bloß die Ermittlung des Sachverhalts und die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, denn was die verfassungsrechtliche Seite anlange, habe die Fachgerichtsbarkeit genau dieselbe Aufgabe wie das Bundesverfassungsgericht. Dadurch komme es dann zu den Überschneidungen. Bei den meisten Rechtsstreitigkeiten, die um Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz kreisten, beschäftigten sich auch die Fachgerichte mit der Kollision von Art. 5 und Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und stellten methodisch und sachlich fundierte Erwägungen an, nur kämen sie eben häufig zu einem anderen Ergebnis als das Bundesverfassungsgericht. Er wisse deswegen nicht, ob der von Sommer eingeführte Topos der sachgerechten Funktionsabgrenzung so viel weiter helfe, weil sich die Aufgaben letztlich eben doch überschnitten. Sommer erklärte sich im Ausgangsbefund mit Papier völlig einverstanden. Er habe allerdings versucht, anhand des Grundrechts auf Asyl zu zeigen, daß zwar auf demselben Feld geackert werde, daß es aber trotzdem sinnvoller Weise eine Abgrenzung geben müsse. Diese könne nur in den speziellen Unteraufgaben der Fachgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der gemeinsamen Aufgabe des Grundrechtsschutzes gefunden werden. Fachgerichte und Verfassungsgericht seien daher schon in ihren Prozeßordnungen unterschiedlich ausgestaltet. Eine spezielle Aufgabe der Fachgerichte, für die diese auch besonders ausgestattet seien, sei die Aufbereitung des Sachverhaltes und die Würdigung der Tatsachen, also die Erfüllung von Sachaufklärungspflichten. Dies müsse das Verfassungsgericht so hinnehmen. Auch die Anwendung einfachrechtlicher Begriffe, die ja immer eine gewisse Bandbreite erlaube, sei Aufgabe der Fachgerichte, allerdings gebe es hier in gewisser Weise einen Umschlag ins Verfassungsrecht. Sommer räumte ein, daß auch dies nur eine allgemeine Formel sei, die im Einzelfall umgesetzt werden müsse. Es sei ihm jedoch darauf angekommen, den Blick auf eine andere Leitlinie zu lenken weg von der Vorstellung, es gebe unterscheidbare Rechtsmassen, und schwerpunktmäßig darauf, was die Unteraufgaben dieser beiden Gerichtsbarkeiten innerhalb der gemeinsamen Aufgabe des Grundrechtsschutzes seien. Frau Limbach rundete die Diskussion mit der These ab, daß die Tatsache der geringen Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden auch so gedeutet werden könne, daß es in der Mehrzahl der Fälle den Fachgerichten gelinge, den Schutz der Grundrechte im Einzelfall sicherzustellen, und dankte Papier abschließend herzlich für seinen Vortrag.

Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht? Von Wassilios Skouris I. Einleitung Vor fast fünfzehn Jahren habe ich auf einem unter anderen von Detlef Merten, Hans-Jürgen Papier und mir selbst organisierten Seminar aus Anlaß des 75. Geburtstages unseres gemeinsamen Lehrers Karl August Bettermann bereits einmal über den Europäischen Gerichtshof als Verfassungsgericht referiert1. Herr Merten hat mir heute das gleiche Thema aufgetragen – dabei allerdings ein Fragezeichen hinzugefügt, möglicherweise um damit zum Ausdruck zu bringen, daß die Verfassungsgerichtseigenschaft des Europäischen Gerichtshofes seit dieser Zeit zweifelhafter geworden ist. Doch der Schein trügt, weil die grundsätzliche Problematik gleich geblieben ist. Es gilt nach wie vor, den Nachweis dafür zu erbringen, daß es sich überhaupt lohnt, nach Anknüpfungspunkten zwischen der europäischen Gerichtsbarkeit und der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit zu suchen, und herauszufinden, welchem Zweck der Vergleich dient und inwiefern eine ausgewogene Gegenüberstellung der Ähnlichkeiten und Unterschiede die praktische Rechtsfindung erleichtern würde. Anders formuliert, standen wir damals und stehen heute vor der Frage, welche Bedeutung der Feststellung zukommt, der EuGH sei oder sei nicht mit einem Verfassungsgericht vergleichbar. Was hat sich in der Zwischenzeit geändert? Die Antwort fällt nicht gleich aus für die zwei Vergleichspole unseres Themas. Nicht viel gibt es zu berichten über die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Mitgliedstaaten sind von zwölf auf fünfzehn angewachsen, ohne daß die Verfassungsgerichtsbarkeit dadurch einen nennenswerten Auftrieb erhalten hätte. Wir verzeichnen eine Entwicklung, die eher zuungunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit läuft, weil bis zur letzten Erweiterung 1995 immerhin sechs von zwölf Mitgliedstaaten eine besondere Verfassungsgerichtsbarkeit kannten2 – wenn man einerseits den belgi1 Skouris, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht, in: Kloepfer/Merten/Papier/Skouris (Hg.): Die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaften für das deutsche Recht und die deutsche Gerichtsbarkeit, 1989, S. 67 ff. 2 Nämlich Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und Belgien. Das deutsche Bundesverfassungsgericht beruht auf dem Gesetz vom 12.3.1951, der italienische Corte costituzionale hat seine Tätigkeit erst 1956 aufgenommen, den französischen Conseil constitutionnel gibt es seit 1958, während die Verfassungsgerichtsbarkeit in

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schen Schiedsgerichtshof und andererseits den präventiv agierenden französischen Verfassungsrat mitzählt –, während von den drei zuletzt beigetretenen Staaten lediglich Österreich mit seinem traditionsreichen Verfassungsgerichtshof3 die Gruppe der Länder mit Verfassungsgerichtsbarkeit gestärkt hat. Nunmehr lautet das Verhältnis sieben zu fünfzehn, was heißt, daß von den fünfzehn Mitgliedstaaten lediglich sieben selbständige oder spezifische Verfassungsgerichte eingerichtet haben. Das Gleichgewicht wird sich freilich erheblich verschieben, sobald sich die nächste und größte Erweiterung der Europäischen Union vollzogen hat. Die Kandidatenstaaten aus Zentral- und Osteuropa4 sind nämlich fast bedingungslos dem Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit beigetreten und werden die Gruppe der über besondere Verfassungsgerichte verfügenden Mitgliedstaaten wesentlich stärken5. Aber selbst wenn man diese Zukunftsvision vor Augen hat und die über keine besonderen Verfassungsgerichte verfügenden Staaten der Europäischen Union aussondert, ist es alles andere als einfach, die Kriterien und Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bestimmen. Es gibt keine einheitliche Konzeption der Verfassungsgerichtsbarkeit, die den Verfassungsgerichten zugerechneten Spruchkörper – aber auch die ihnen zugewiesenen Aufgaben – sind teilweise zu verschieden, als daß sie erlauben könnten, das typische Verfassungsgericht zu kennzeichnen und dem Europäischen Gerichtshof gegenüberzustellen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diejenigen, die sich um einen Vergleich zwischen der europäischen Gerichtsbarkeit und der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit bemühen, stets das eigene Verfassungsgericht als Vorbild benutzen. Wenden wir uns dem anderen Vergleichspol, nämlich der Europäischen Union und dem Europäischen Gerichtshof, zu, so hat sich – immer in bezug auf Spanien 1979 und in Portugal 1982 eingeführt wurde. In Belgien gibt es seit 1. Oktober 1984 den Schiedsgerichtshof, dessen Kompetenzen 1988 erweitert wurden. 3 Vgl. Art. 137 ff. der Österreichischen Verfassung. 4 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, Zypern; zu den einzelnen Ländern und dem Stand der Beitrittsverhandlungen siehe „Strategiepapier und Bericht der Europäischen Kommission über die Fortschritte jedes Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt“ vom November 2001, zu finden im Internet unter http://europa.eu.int/comm/en largement/report2001/index.htm#Strategy%20Paper%202001 oder http://www.europawird-bunter.de/. 5 Z. B. gibt es in Slowenien eine Verfassungsbeschwerde (Art. 160 Verf. Slowenien), in Polen ein Verfassungsschutzverfahren (Art. 188 Ziff. 4 Verf. Polen), in der Türkei eine konkrete Normenkontrolle (Art. 152 Verf. Türkei), eine völkerrechtliche Normenkontrolle in Polen (Art. 188 Ziff. 1 und 2 Verf. Polen), in Litauen ein Wahlprüfungsverfahren (Art. 105, Art. 2 Verf. Litauen) sowie eine Gutachtenkompetenz in Rumänien (Art. 144 lit. f Verf. Rumänien) und Litauen (Art. 105 Verf. Litauen); siehe Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 466 f.; zu Polen siehe auch Wyrzykowski, in: Häberle/Morlok/Skouris (Hg.), Staat und Verfassung in Europa, 2000, S. 53 ff.

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die Problemstellung vor fünfzehn Jahren – einiges getan. Wir haben erstens gleich drei Vertragsrevisionen zu verzeichnen, die sich in Maastricht6, Amsterdam7 und Nizza8 vollzogen haben und für unser Thema von unterschiedlichem Gewicht sind. Die nächste und grundlegende Vertragsänderung ist bereits angekündigt, und zwar für 2004, während seit zwei Monaten die sog. Konvention9 in Brüssel tagt, die unter Beteiligung von Mitgliedern des Europaparlaments, Abgeordneten der nationalen Parlamente und Regierungsvertretern zur Aufgabe hat, über die künftige Verfassung der Europäischen Union zu reflektieren und ihre Arbeit möglichst mit konkreten Vorschlägen an die nächste Regierungskonferenz abzuschließen.10 Schließlich verfügen wir seit Dezember 2000 über die Charta der Grundrechte für die Europäische Union11, die zwar nicht mit rechtsverbindlicher Wirkung beschlossen worden ist, gleichwohl aber die Diskussion über die Verfassungsgerichtseigenschaft des Europäischen Gerichtshofes in einem neuen Licht erscheinen läßt12. In welchem Umfang die wiederholten Vertragsrevisionen einschließlich der Grundrechte-Charta unsere Fragestellung beeinflussen, werden wir später sehen. Nach diesen einleitenden Bemerkungen darf ich den weiteren Gang meines Beitrags kurz erläutern: In einem ersten Abschnitt werde ich versuchen, die Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit genauer zu erkunden, damit wir einen Vergleichsmaßstab haben (unten II.). Der nächste Abschnitt ist logischerweise 6 Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992 (BGBl. II S. 1253, konsolidierte Fassung: BGBl. 1998 II S. 387, ber. BGBl. 1999 II S. 416). 7 Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 (BGBl. 1998 II S. 387, ber. BGBl. 1999 II S. 416); siehe z. B. Neunreither/Wiener (Hg.): European Integration after Amsterdam, New York 2000; Mendez de Vigo, Die Europäische Union nach Amsterdam, in: Häberle/Morlok/Skouris (Hg.), Staat und Verfassung in Europa, 2000, S. 129 ff.; zur Lage vor Nizza siehe auch die Zusammenfassung von Lenz: Die Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft nach dem Vertrag von Nizza, EuGRZ 2001, S. 433 ff., 434. 8 Vertrag von Nizza, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 80/1 vom 10.03.2001; dazu u. a. Lenz (FN 7), S. 434 ff.; Everling: Zur Fortbildung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften durch den Vertrag von Nizza, in: FS Steinberger, 2002, S. 1103 ff.; Ruiz-Jarabo, La réforme de la Cour de justice opérée par le traité de Nice et sa mise en oeuvre future, RTD eur. 37 (4), oct.–déc. 2001; Kamann, Das neue gemeinschaftliche Gerichtssystem nach dem Vertrag von Nizza – auf dem Weg zu einer europäischen Fachgerichtsbarkeit, ZeuS 2001, S. 627 ff. 9 Konvent zur Zukunft der Europäischen Union unter der Leitung des früheren französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing. 10 Siehe dazu die „Erklärung [des Europäischen Rates] von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“ (Dezember 2001). 11 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 364/1, 18.12.2000. 12 Vgl. dazu z. B. Galloway, The Treaty of Nice and Beyond, Realities and Illusions of Power in the EU, 2001, S. 152 ff.; Häberle (FN 5), S. 134 und S. 479 ff.; sowie Ronge, Die Charta der Grundrechte – Legitimierender Eckstein einer Europäischen Verfassung, in: Ronge (Hg.): In welcher Verfassung ist Europa – Welche Verfassung für Europa? 2001, S. 333 ff.

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den als verfassungsrechtlich zu qualifizierenden Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofes vorbehalten (III.). Als nächste Punkte stehen auf dem Programm der Vertrag von Nizza und die Charta der Grundrechte für die Europäische Union (IV.), bevor wir in einem abschließenden Teil über die direkten Beziehungen des Europäischen Gerichtshofes zu den nationalen Verfassungsgerichten nachdenken (V.). II. Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit Man kann sich wahrlich nicht über einen Mangel an Versuchen beklagen, die Verfassungsgerichtsbarkeit zu definieren. Die Staatsrechtslehre hat sich intensiv mit der Materie beschäftigt und dabei Merkmale und Kriterien entwickelt, die ein Spruchkörper erfüllen muß, um als „Verfassungsgericht“ qualifiziert zu werden. Selbst wenn die diesbezüglichen Aussagen nicht immer einmütig ausfallen, sind gewiß Tendenzen zu erkennen, die uns gestatten, auf einer soliden Grundlage zu argumentieren. 1. Zwei Methoden haben sich im Lauf der Zeit herausgebildet, um Verfassungsgerichtsbarkeit zu beschreiben. An das Problem kann man entweder institutionell oder funktionell herangehen13. Das heißt, daß wir uns einmal auf die als Verfassungsgerichte, Verfassungs- oder Staatsgerichtshöfe bezeichneten Instanzen konzentrieren, damit die Institution „Verfassungsgerichte“ in den Vordergrund schieben und die besonderen Merkmalen dieser Organe systematisch studieren. Diese Arbeitsmethode ist allerdings nicht besonders beliebt, weil die als Verfassungsgerichte zu qualifizierenden Institutionen erstens nicht überall existieren und zweitens zu verschieden sind, um einen Prototyp zu bilden und ihm Modellcharakter zu verleihen. Deswegen herrscht in der Staatsrechtslehre eher die Neigung vor, die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit14 in den Vordergrund zu schieben und nach der exakten Position der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen zu suchen15. 2. Es fehlt allerdings nicht an Beiträgen, welche die institutionelle Seite der Verfassungsgerichtsbarkeit beleuchten. Überwiegend werden der Institution drei Elemente zugeschrieben – die verfassungsrechtliche Grundlage, die Richterbestellung unter politischem Einfluß und ein Platz im Gleichgewicht der Verfassungsorgane16. Das Verfassungsgericht leitet erstens seine Legitimation norma13

Skouris (FN 1), S. 73. So zum Beispiel der Präsident des Europäischen Gerichtshofs Rodríguez Iglesias in einem Vortrag vom April 2000: Der Gerichtshof und die institutionelle Reform der Europäischen Union. 15 Auf der Staatsrechtslehrertagung 1980 in Innsbruck haben Korinek, Müller und Schlaich Referate zum Thema „Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen“ vorgelegt: VVDStRL 39 (1981), S. 7 ff., S. 53 ff. und S. 99 ff. 16 Skouris (FN 1), S. 72 f. 14

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lerweise aus dem jeweiligen Staatsorganisationsgesetz ab, es besteht zweitens aus Mitgliedern, die – abweichend von den Richtern in den Fachgerichtsbarkeiten – nach einem besonderen Bestellungsmodus, unter Beteiligung von politischen Organen und für eine bestimmte Zeit gewählt bzw. ernannt werden und wird drittens in den Rang eines Verfassungsorgans erhoben. 3. Die funktionelle Methode ist besonders beliebt, insofern sie den Bogen für rechtsvergleichende Untersuchungen sehr weit spannt und sich für die Frage interessiert, ob in den verschiedenen Ländern Rechtsstreitigkeiten auf der Ebene des Verfassungsrechts entstehen und einer Entscheidung durch unabhängige Richter zugeführt werden17. Der Vorteil der funktionellen Betrachtungsweise liegt in der Fülle des rechtsvergleichenden Materials, weil verfassungsrechtliche Streitigkeiten auch dort entstehen und gelöst werden (müssen), wo keine spezifischen Verfassungsgerichte bestehen. Ein gewisser Nachteil liegt darin, daß die inhaltlichen Anforderungen an die Funktion „Verfassungsgerichtsbarkeit“ nicht identisch sind. Sieht man von dieser Unsicherheit ab, so faßt die funktionelle Methode die Verfassungsstreitigkeiten üblicherweise in fünf Hauptgruppen zusammen18. Das sind erstens die Wahlprüfungssachen einschließlich der Mandatsprüfung, zweitens die Bund-Länder-Streitigkeiten bzw. Streitigkeiten zwischen dem Zentralstaat und den autonomen Körperschaften, drittens die Organstreitigkeiten, viertens die diversen Verfahren der Normenkontrolle und fünftens die Grundrechtsstreitigkeiten. Die grundsätzliche Einigkeit über die Einteilung der Verfassungsstreitigkeiten bedeutet freilich nicht, daß sie alle vorliegen müssen, damit in einem bestimmten Land von einer Verfassungsgerichtsbarkeit die Rede sein kann. Die Anforderungen fallen unterschiedlich hoch aus und lassen deutlich erkennen, daß je niedriger sie gehalten werden, umso stärker die Zahl der eine solche „Verfassungsgerichtsbarkeit“ besitzenden Staaten wächst. Das Beispiel der Grundrechtsstreitigkeiten liefert einen eindrucksvollen Beleg, weil echte Grundrechtsklagen sehr selten vorkommen und eigentlich in einer generellen Form lediglich in Deutschland19 und Spanien20 vorgesehen sind. Würde man die Grundrechtsbeschwerden als eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz der Verfassungsgerichtsbarkeit ansehen, so würden mehrere auf eine lange Tradition zurückblickende Verfassungsgerichte ausscheiden müssen. Deshalb machen die Anhänger der funktionellen Methode erhebliche Abstriche und lassen es für die Annahme einer Verfassungsgerichtsbarkeit sogar genügen, daß eine einzige von den vorhin erwähnten fünf Gruppen von Verfassungsstreitigkeiten einer gerichtlichen Lösung zugeführt wird21. Es leuchtet ein, daß auf die17

Siehe dazu statt vieler die Aufstellung bei Häberle (FN 5), S. 464 ff. Skouris (FN 1), S. 75. 19 Art. 93, Nr. 4a GG, i.V. m. § 13 Nr. 8a BVerfGG. 20 Art. 53 Abs. 2 Verf. Spanien; siehe auch Häberle (FN 5), S. 466. 21 Insbesondere die Überwachung des Vorrangs der Verfassung im Rahmen der Normenkontrolle wird als entscheidendes Kriterium gesehen: vgl. z. B. Unruh, Der Verfas18

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ser Basis Verfassungsgerichtsbarkeit fast überall zu entdecken ist, die Funktion „Verfassungsgerichtsbarkeit“ aber im gleichen Maß an Konturen verliert. III. Verfassungsrechtliche Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs 1. Gleich ob man die institutionelle oder die funktionelle Methode auf den Europäischen Gerichtshof anwendet, wird festzustellen sein, daß der Gerichtshof als Verfassungsgericht bezeichnet werden kann22. Als Institution erfüllt der Europäische Gerichtshof die vorhin aufgeführten Kriterien der Verfassungsgerichtsbarkeit, indem zunächst die Organisation, die Zusammensetzung und die Zuständigkeiten in den Gründungsverträgen und damit im Basistext der Union/ Gemeinschaft geregelt werden23. Dem Gerichtshof ist hier ein ganzes Kapitel vorbehalten (Art. 220–245 EG-Vertrag). An der Richterbestellung wirken politische Instanzen maßgeblich mit, weil die Mitglieder des Europäischen Gerichtshofes (Richter und Generalanwälte) von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt werden und ein zeitlich beschränktes Mandat zu erfüllen haben24. Man mag hier – anders als bei vielen Verfassungsgerichten – die parlamentarische Beteiligung vermissen; doch wird dieser Umstand angesichts der besonderen Stellung des Europäischen Parlaments nicht als ausschlaggebend angesehen25. Schließlich reiht sich der Europäische Gerichtshof in das von den Verträgen errichtete institutionelle Gefüge reibungslos ein, weil wie aus Art. 7 EG-Vertrag folgt, die der Europäischen Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben durch das Europäische Parlament, den Rat, die Kommission, den Gerichtshof und den Rechnungshof wahrgenommen werden und weil jedes dieser Organe nach Maßgabe der ihm im Vertrag zugewiesenen Befugnisse handelt. Speziell auf den Gerichtshof bezogen überträgt Art. 220 EG-Vertrag dieser Institution die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern. Der Europäische Gerichtshof ist von den übrigen Gemeinschaftsorganen völlig unabhängig, er hat seine eigenen Zuständigkeiten und ist mit der Rechtmäßigkeitskontrolle des Handelns dieser Organe betraut26. Die Bedeutung der Institution wächst in dem Maß, in dem die Mitgliedstaaten sich in Art. 292 EG-Vertrag ausdrücklich verpflichtet haben, „Streitigkeiten über die sungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 513 ff.; ebenso deren Auslegung: Unruh, a. a. O. S. 530; auch Häberle geht davon aus, daß nicht alle Kompetenzen auf einmal vorliegen müssen, eine einzelne Kompetenz ist nach seiner Ansicht jedoch zu wenig: Häberle (FN 5), S. 467. 22 Skouris (FN 1), S. 75. 23 Art. 7 Abs. 1 und Art. 220–245 EGV. 24 Art. 223 EGV. 25 Skouris (FN 1), S. 72. 26 Siehe dazu Gaudin, la Cour de justice, juridiction constitutionelle?, R.A.E. – L.E.A. 2000, S. 209 ff. (212).

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Auslegung oder Anwendung dieses Vertrags nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln“ und damit praktisch dem Gerichtshof zur Entscheidung zu überlassen27. 2. Kein anderes Ergebnis ist zu erwarten, wenn man die funktionelle Methode bemüht: Die weitreichenden Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofes lassen sich relativ einfach in einen primär verfassungsgerichtlichen und in einen eher verwaltungsgerichtlichen Bereich einteilen. Üblicherweise werden der Funktion des Gerichtshofes als Verfassungsgericht zugerechnet28: a) die Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen der Gemeinschaftsorgane untereinander gemäß Art. 230 und 232 EG-Vertrag; b) die Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen der Mitgliedstaaten gegen das Europäische Parlament, den Rat oder die Kommission wiederum nach Art. 230 und 232 EG-Vertrag; c) die Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Mitgliedstaaten bzw. der Mitgliedstaaten untereinander (Art. 226–228 EG-Vertrag); d) die Gutachten über die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft zum Abschluß internationaler Abkommen nach Art. 300 EG-Vertrag und schließlich e) die Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG-Vertrag über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und Auslegung von Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane. 3. Durch die Errichtung des Gerichts Erster Instanz sind die verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten des Gerichtshofes noch deutlicher zum Vorschein gekommen, weil seit 1989 das Gericht Erster Instanz über alle Direktklagen der Gemeinschaftsbürger gegen Individualakte der Gemeinschaftsorgane entscheidet. Es handelt sich hierbei um die Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen sowie die Amtshaftungsklagen der Gemeinschaftsbürger und die sog. Beamtenstreitigkeiten, die einen starken verwaltungsrechtlichen Bezug aufweisen. In diesen Fällen können die Prozeßparteien die Urteile des Gerichts Erster Instanz mit einem auf Rechtsfehler beschränkten Rechtsmittel vor dem Gerichtshof angreifen. Infolgedessen lassen sich die verfassungsrechtlichen und die verwaltungsrechtlichen Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofes der Einfachheit halber je nach dem unterscheiden, ob dieser in erster und letzter Instanz entscheidet (das sind die mehr verfassungsrechtlichen Streitigkeiten) oder als Rechtsmittelgericht in den eher verwaltungsrechtlichen Fällen tätig wird.

27 Vgl. Kallmayer/Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 32007, Art. 292 EGV. 28 Vgl. Skouris (FN 1), S. 70.

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4. Zwischen der Institution und der Funktion steht ein weiterer Gesichtspunkt, der seit längerer Zeit diskutiert wird und im Zusammenhang mit der gegenwärtig tagenden Konvention eine noch größere Bedeutung erlangt hat. Es geht um die Frage, ob die Gründungsverträge Merkmale von Staatsverfassungen aufweisen29, mit der Folge, daß der Spruchkörper, der sich mit diesen Gründungsverträgen auseinandersetzen und ihnen zur Geltung verschaffen soll, diese Zuständigkeit als Verfassungsgericht wahrnimmt. Ich halte es in diesem Zusammenhang nicht für unbedingt erforderlich, die intensive und tiefgreifende Auseinandersetzung um die Verfassungsnatur der Verträge aufzugreifen30, die zwangsläufig mit der Frage einer Verfassung für die Europäische Union verbunden ist und uns sehr weit führen würde. Auf der anderen Seite darf nicht verkannt werden, daß der Ausgang dieser Auseinandersetzung Auswirkungen haben kann auf die Stellung und Funktion des Europäischen Gerichtshofes als Verfassungsgericht. Je mehr wir uns einer Verfassung der Europäischen Union nähern, umso stärker kommt der Gerichtshof, der zur Aufgabe hat, die Interpretation und die Durchsetzung dieser Verfassung zu besorgen, in die Nähe eines Verfassungsgerichts und Verfassungsorgans31. IV. Die Auswirkungen des Vertrages von Nizza und der Grundrechte-Charta 1. Der nächste Punkt betrifft die durch den Vertrag von Nizza herbeigeführten Änderungen im Rechtsschutzsystem der Europäischen Gemeinschaft sowie die möglichen Auswirkungen der Grundrechte-Charta auf die Stellung und Funktion des Europäischen Gerichtshofes. Der Vertrag von Nizza nimmt eine Neuverteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Gerichtshof und dem Gericht Erster Instanz vor, um die Kompetenzordnung zu vereinfachen und den Gerichtshof zu entlasten32. Künftig sollen alle Direktklagen gegen Individualakte der Gemeinschaftsorgane vor dem Gericht Erster Instanz erhoben werden – und dies unabhängig davon, ob Gemeinschaftsbürger oder Mitgliedstaaten als Kläger auftreten33. Weiter hat man die Grundlagen dafür geschaffen, daß einerseits Vorabentscheidungsverfahren für bestimmte Sachgebiete dem Gericht Erster In29 Vgl. Nicolaysen, Der Streit zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 459 ff. (510 f.); Hirsch, EG: Kein Staat, aber eine Verfassung?, NJW 2000, S. 46 f.; Schwarze, Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, EuR 2000, Beiheft 1, S. 7 ff. (14). 30 Vgl. dazu Morlok, Grundfragen einer Verfassung auf europäischer Ebene, in: Häberle/Morlok/Skouris (FN 5), S. 73 ff. (83). 31 Vgl. dazu z. B. Häberle (FN 5), S. 479 ff.; Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkung auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497 ff. 32 Siehe hierzu den Beitrag von Everling (FN 8), S. 1103 ff. 33 Art. 225 Abs. 1 EGV.

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stanz zur Entscheidung übertragen34 und andererseits diesem Gericht gerichtliche Kammern beigeordnet werden können, die im ersten Rechtszug über Klagen aus bestimmten Sachgebieten entscheiden sollen35. Eine erste Kammer soll für Beamtenangelegenheiten errichtet werden und eine zügigere Behandlung dieser Streitigkeiten ermöglichen. Schließlich ist zu erwähnen, daß der Gerichtshof die Rolle des Wächters über die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen bei der Gewährleistung der politischen Grundordnung der Union erhalten hat. Die in Art. 6 EU-Vertrag aufgeführten Verfassungsprinzipien der Europäischen Union können im Fall ihrer Verletzung durch einen Mitgliedstaat die in Art. 7 vorgesehenen Sanktionen nach sich ziehen; das Verfahren unterliegt dabei der Kontrolle des Gerichtshofes. Alle diese Neuerungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Charakter des Europäischen Gerichtshofes als Verfassungsgericht stärken36. Das gilt insbesondere für die neue Zuständigkeit bei der Überprüfung des Verfahrens im Rahmen der Gewährleistung der freiheitlichen und demokratischen Ordnung in den Mitgliedstaaten. Aber auch die strukturellen Reformen des Gerichtssystems werden den Gerichtshof für die Aufgabe freihalten, Entscheidungen über die Grundlagen des Gemeinschaftsrechts zu treffen und für dessen Einheit zu sorgen. Denn auch dort, wo entweder das Gericht Erster Instanz neue Kompetenzen erhält oder Fachgerichtsbarkeiten für bestimmte Direktklagen geschaffen werden, hat man dafür gesorgt, daß der Zugang zum Gerichtshof in Rechts- bzw. Grundsatzfragen offen bleibt37. 2. Die genaue Beurteilung der Grundrechte-Charta ist nicht einfach, weil sie mit dem Schicksal dieses Katalogs im Rahmen der nächsten Regierungskonferenz untrennbar verbunden ist. Wenn wir davon ausgehen, daß die Charta einen wesentlichen Teil der künftigen Verfassung der Europäischen Union bilden wird, muß sie als rechtsverbindlicher Text von den Gemeinschaftsgerichten angewandt werden. Man mag zwar hier einwenden, daß die Beschäftigung mit Grundrechten des Gemeinschaftsbürgers dem Europäischen Gerichtshof nicht fremd ist, wenn man an die einschlägige Judikatur denkt, die als Vorbild für

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Art. 225 Abs. 3 EGV. Dies sind die neu eingeführten Art. 220 i.V. m. Art. 225a EGV. Siehe dazu auch Everling (FN 8), S. 437. 36 Lenz (FN 7), S. 434 und Everling (FN 8), S. 1107. 37 Wenn der erste Generalanwalt der Auffassung ist, daß eine ernste Gefahr der Beeinträchtigung der Einheit oder der Kohärenz des Gemeinschaftsrechts besteht, kann er eine nach Art. 225 Abs. 2 und 3 EGV dem Gerichtshof Erster Instanz zugewiesene Sache dem Gerichtshof vorlegen: siehe Art. 245 EGV und Art. 62 Abs. 1 des Protokolls zum Vertrag über die Europäische Union, zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, Amtsblatt der EG, C 80/53, 10.03.2001; siehe dazu auch Lenz (FN 7), S. 440 und Kamann (FN 8), S. 646. 35

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den aktuellen Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag gedient hat38. Auf der anderen Seite ist aber kaum vorstellbar, daß ein ausführlicher Grundrechtskatalog keine Auswirkungen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes haben wird. Nicht übersehen darf man ferner, daß die Charta auch die nationalen Gerichte einschließlich der Verfassungsgerichte angeht, insofern die europäischen Grundrechte nicht lediglich die Gemeinschaftsorgane bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten, sondern auch die Mitgliedstaaten binden, wenn diese Gemeinschaftsrecht ausführen39. Beschränken wir uns jedoch auf den Gerichtshof. Ein Problembereich sollte hier vor allem angesprochen werden, der mit gewissen Befürchtungen verbunden ist. Die Grundrechte-Charta kann einerseits zu Vorlagen nationaler Gerichte an den Europäischen Gerichtshof Anlaß geben und hat andererseits die Diskussion um die Einführung einer Verfassungsbeschwerde in der Europäischen Union wiederbelebt40. Der erste Aspekt liegt in der Natur der Dinge, weil die Charta Auslegungs- und Anwendungsprobleme aufwerfen wird, die am besten mit Hilfe des bewährten Instruments des Vorabentscheidungsverfahrens zu bewältigen sind. Hingegen ist die zweite Entwicklung alles andere als selbstverständlich, weil eine europäische Verfassungsbeschwerde41 bislang nur das Interesse eines Teils der Lehre des Gemeinschaftsrechts geweckt hat. Doch sollte man die Dynamik eines rechtsverbindlichen Grundrechtskatalogs auch im Hinblick auf die nähere Ausgestaltung des Rechtsschutzes nicht unterschätzen. Selbst wenn der Ausbau der bestehenden und die Einführung neuer Grundrechte sich hauptsächlich im materiellen Recht vollzieht, sind Konsequenzen auf dem Gebiet des Verfahrensrechts unvermeidlich – der Grundrechtsschutz führt notwendigerweise zum Rechtsschutz. Derartige Auswirkungen sind auch ohne förmliche Vertragsrevision vorstellbar, wenn etwa der Gemeinschaftsrichter sich dazu entschließt, die Voraussetzungen für die Erhebung der gegen Gemeinschaftsrechtsakte gerichteten Nichtigkeitsklagen aufzulockern und die Anfechtungslegitimation der Gemeinschaftsbürger großzügiger zu behandeln42. Unter diesen Bedingungen kann man nicht ausschließen, daß der Europäische Gerichtshof in Sachen Grundrechtsschutz in eine „Konkurrenz“ tritt – und zwar 38 Art. 6 Abs. 2 EUV: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“ 39 Art. 51 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtscharta. 40 Vgl. schon Reich, Zur Notwendigkeit einer europäischen Grundrechtsbeschwerde, ZRP 2000, S. 375 ff. 41 Vgl. z. B. Rengeling, Brauchen wir eine Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS Everling, 1995, S. 1187 ff.; Reich (FN 41), a. a. O. 42 Generalanwalt Jacobs in seinen Schlußanträgen zu EuGH, Urt. v. 25.7.2002, Rs. C-50/00 P (Unión de Pequeños Agricoltores ./. Rat der Europäischen Union), Slg. 2002, I-6677, Ziffern 44, 49, 60 ff., insbesondere 62 f.

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sowohl mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg als auch mit den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten. Daß es sich um eine bloße Perspektive handelt, sollte uns nicht daran hindern, schon jetzt über das Problem nachzudenken. Auf diesen Punkt werde ich noch zu sprechen kommen, möchte aber bereits jetzt hervorheben, daß die oft vorgetragene Angst um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung (und Rechtsanwendung) in Fragen des Grundrechtsschutzes m. E. nicht ganz gerechtfertigt ist. V. Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zu den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten Mit unserem Thema hängt die delikate Frage nach dem direkten und konkreten Verhältnis des Europäischen Gerichtshofes zu den Verfassungsgerichten in Europa zusammen. Dieses Verhältnis kann nicht einfach sein, weil die Verfassungsgerichte eine Sonderstellung in der jeweiligen Verfassungsordnung einnehmen, sich gegenüber den politischen Verfassungsorganen behaupten müssen und deshalb ein konstitutionelles Selbstbewußtsein entwickeln, das sie in eine gewisse institutionelle Isolation bringt. Dieses Selbstbewußtsein wird durch das Europäische Gemeinschaftsrecht und den Europäischen Gerichtshof in zwei Bereichen auf die Probe gestellt. Es geht einmal um den sog. absoluten Vorrang des Gemeinschaftsrechts und zum anderen um die Frage, wie Verfassungsgerichte mit dem Instrument der Vorlage gemäß Art. 234 EG-Vertrag umgehen bzw. umzugehen haben43. 1. Den unter maßgeblicher Beteiligung des Europäischen Gerichtshofes propagierten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht hat man ausführlich diskutiert und von allen möglichen Seiten beleuchtet44. Neue Erkenntnisse sind hier kaum zu erwarten und deshalb darf ich sogleich auf den zweiten Aspekt übergehen und den Umgang der Verfassungsgerichte mit dem Vorlageverfahren nach Art. 234 EG-Vertrag behandeln. Einen Gesichtspunkt darf ich freilich hervorheben: Aus europäischer Sicht stellt sich die Vorrangfrage für das Gemeinschaftsrecht als Ganzes und kann keine Differenzierung nach primären und sekundären Gemeinschaftsregeln vertragen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist die zwingende Folge der Grundkonzeption einer Gemeinschaftsrechtsordnung, die in die nationalen Rechtsordnungen eingeführt und dort integriert wird. Etwaige Unstimmigkeiten, Widersprüche oder gar Gegensätze zwischen Rechtsnormen europäischen Zuschnitts und solchen nationa-

43 Zu dem Verhältnis zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof s. Broß, Bundesverfassungsgericht – Europäischer Gerichtshof – Gerichtshof für Kompetenzkonflikte, VerwArch 2001, 425 ff. 44 Vgl. statt vieler Häberle (FN 5), S. 62; sowie Ronge, Europa im Werden. Zwischen Pragmatismus und Visionen, in: Ronge (FN 12), S. 18.

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ler Herkunft müssen ohne Ausnahme zugunsten des Gemeinschaftsrechts gelöst werden. 2. Die Schwierigkeiten der Verfassungsgerichte beim Umgang mit dem Instrument der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof sind zu einem wesentlichen Teil Ausfluß ihrer doppelten Natur: Insofern die Verfassungsgerichte zugleich Rechtsprechungs- und Verfassungsorgane sind, nehmen sie eine Sonderstellung in Anspruch und lassen sich nicht einfach als „Gerichte“ im Sinne von Art. 234 EG-Vertrag qualifizieren. Es ist wohl zutreffend, daß bei der Einführung des Vorlageverfahrens zuallererst die Fachgerichte angesprochen waren. Es sind die nationalen Zivil-, Straf-, Verwaltungs-, Finanz-, Sozial- und Arbeitsgerichte, die mit dem Gemeinschaftsrecht in Berührung kommen und sich an den Europäischen Gerichtshof wenden können oder sogar müssen, wenn es für die Entscheidung des bei ihnen anhängigen Prozesses um die Auslegung bzw. die Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts geht. Die Verfassungsgerichte kommen mit dem primären wie sekundären Gemeinschaftsrecht viel weniger und viel seltener in Kontakt. Was folgt allerdings aus dieser Feststellung? Oder was besagt die Tatsache, daß Verfassungsgerichte regelmäßig auch die Qualität von Verfassungsorganen besitzen? Reichen solche Gründe aus, um eine Vorlage auszuschließen, wenn vor einem Verfassungsgericht die Interpretation oder die Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts relevant werden sollte? Man wird die Frage schwerlich bejahen können. Bezeichnenderweise verfolgen die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union keine einheitliche Praxis, was gerade an dem Beispiel der zwei in diesem Forschungskolloquium zu behandelnden Verfassungsgerichte deutlich wird. Obwohl Österreich erst seit 1995 der Europäischen Union angehört, hat sich der österreichische Verfassungsgerichtshof bereits dreimal mit Vorlagefragen an den Europäischen Gerichtshof gewandt45 und damit gemeinsam mit Verfassungsgerichten aus anderen Mitgliedstaaten gezeigt, daß es sehr wohl und unter voller Beachtung der gegenseitigen Kompetenzen zu einer sinnvollen Kooperation zwischen dem Gemeinschaftsrichter und den Verfassungsgerichten kommen kann. 3. Ein letzter, aber nicht minder wichtiger Gesichtspunkt beim Verhältnis des Europäischen Gerichtshofes zu den Verfassungsgerichten betrifft den Grundrechtsschutz. Bewußt oder unbewußt fühlen sich die traditionell dem effektiven Grundrechtsschutz verpflichteten und gewidmeten Verfassungsgerichte in ihrem Wirkungskreis eingeengt, wenn und weil der Europäische Gerichtshof sich zu45 So zum Beispiel EuGH, Urt. v. 8.5.2003, Rs. C-173/01 (Wählergruppe „Gemeinsam Zajedno/Birlikte Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/UG“), EuGH, Rs. C-79/00 (Österreichischer Rundfunk u. a.), und EuGH, Urt. v. 8.11.2001, Rs. C143/99 (Adria-Wien Pipeline and Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke ./. Finanzlandesdirektion für Kärnten), Slg. 2001, I-8365.

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nehmend mit den Grundrechten der Gemeinschaftsbürger auseinandersetzt, seine einschlägige Rechtsprechung erweitert und in dieser Tätigkeit durch die Charta der Grundrechte für die Europäische Union möglicherweise neue Impulse erhält. Dazu ist zu sagen, daß der Gerichtshof mit Fragen des Grundrechtsschutzes immer sehr vorsichtig umgegangen ist. Als es um die Frage des möglichen Beitritts der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention ging, hat der Gerichtshof in einem viel beachteten und oft mißverstandenen Gutachten erklärt, daß die Gemeinschaft über keine Kompetenz in Grundrechtsangelegenheiten verfügte und daher ohne eine entsprechende Vertragsrevision nicht der EMRK beitreten könnte.46 Auf die feierlich proklamierte, aber nicht mit Rechtsverbindlichkeit ausgestattete GrundrechteCharta hat sich der Europäische Gerichtshof nicht berufen – und das obwohl die Generalanwälte die Charta in ihren Schlußanträgen mehrmals zitiert haben47. Der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene wird nach wie vor in Ausführung von Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag gewährt, der die Union anhält, die Grundrechte zu achten, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Der Europäische Gerichtshof hat keinen Anlaß, mit den Verfassungsgerichten in Sachen „Grundrechtsschutz“ zu konkurrieren und sieht seine vorrangige Aufgabe darin, sich um die Rechte des Gemeinschaftsbürgers insbesondere dann zu kümmern, wenn dieser der Gemeinschaftsgewalt gegenübersteht und durch Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane in seinen Rechten beeinträchtigt wird. VI. Schlußbemerkungen 1. Mit meinen Schlußbemerkungen darf ich kurz die Aktualität kommentieren, insofern die gegenwärtige Entwicklung auf die Stellung und Funktion des Europäischen Gerichtshofes im Hinblick auf seine verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten Einfluß zu nehmen vermag. Wir müssen dem Umstand Rechnung 46 EuGH Gutachten 2/94, v. 28.03.1996, Slg. 1996, I-1759: nach der Rechtsprechung des EuGH begründet Art. 292 EGV das allgemeine Verbot, einem anderen Gericht als der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit Zuständigkeiten hinsichtlich der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu übertragen. Vgl. Wegener (FN 27). 47 Z. B. Generalanwalt Tizzano in seinen Schlußanträgen zu EuGH, Urt. v. 26.6.2001, Rs. 173/99 (Broadcasting, Entertainment, Cinematographie and the Theater Union (Bectu) ./. Secretary of State for Trade and Industry), Slg. 2001, I-4881, Ziffern 23 ff., insbesondere 26 ff.; Generalanwalt Mischo, EuGH, Urt. v. 31.5.2001, verbundene Rs. C-122/99 P und C-125/99 P (D und das Königreich Schweden ./. den Rat der Europäischen Union), Slg. 2001, I-4319, Ziffer 97; Generalanwalt Alber zu EuGH, Urt. v. 17.5.2001, Rs. C-340/99 (TNT Traco SpA ./. Poste Italiane SpA, Michele Carbone, Raffaele Cirolo und Clemente Marino), Slg. 2001, I-4109, Ziffer 94; sowie Generalanwältin Stix-Hackel in ihren Schlußanträgen zu EuGH, Urt. v. 15.11.2001, Rs. C-49/00 (Kommission ./. Italienische Republik), Ziffer 57.

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tragen, daß zum einen die Aufnahme von zehn bis zwölf neuen Mitgliedstaaten in die Europäische Union unmittelbar bevorsteht und daß gleichzeitig eine wie auch immer bezeichnete Verfassung der Union nebst Grundrechte-Charta in Bearbeitung ist48. Beide Aussichten bringen für die Gemeinschaftsinstitutionen große Herausforderungen mit sich und werden nicht zuletzt die Arbeitsweise des Gerichtshofes nachhaltig beeinflussen49. Die Erweiterung bedeutet für den Europäischen Gerichtshof auf der Basis der in Nizza beschlossenen Vertragsänderung die Ankunft von zehn neuen Kollegen und eine Gesamtzahl von fünfundzwanzig Richtern. Es leuchtet ein, daß unter diesen Bedingungen der Gerichtshof einen Arbeitsrhythmus finden muß, der auf Konsolidierung aus ist, der die Kontinuität wahrt und keine Risse im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft entstehen läßt. Unter diesen Umständen sind groß angelegte Initiativen kaum zu erwarten – wir werden damit zu kämpfen haben, daß die Erweiterung reibungslos verläuft und die neuen Mitgliedstaaten den aquis communautaire respektieren und nicht lediglich inkorporieren. 2. Auf der anderen Seite wird wohl speziell im Hinblick auf die Verfassungsgerichtseigenschaft des Europäischen Gerichtshofes die zu erwartende Verfassung der Europäischen Union eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Eine Entlastung der Gründungsverträge von eher technischen und weniger bedeutsamen Vorschriften wird es erlauben, daß die Prinzipien und Grundlagen der Gemeinschaft deutlich in Erscheinung treten und auf diese Weise das Verfassungsbewußtsein der Gemeinschaftsbürger stärken. Wenn die Grundrechte-Charta hinzukommt und Rechtsverbindlichkeit erlangt, kann man mit gutem Grund vermuten, daß die verfassungsspezifischen Aufgaben des Europäischen Gerichtshofes wachsen und daß der Grundrechtsschutz in einem stärkeren Umfang zu pflegen sein wird. Dies gilt umso mehr, als die Grundrechte der Charta nicht nur die Gemeinschaftsorgane in der Ausübung ihrer Zuständigkeiten binden, sondern darüber hinaus den Mitgliedstaaten und ihren Behörden Grenzen setzen, wenn immer diese Gemeinschaftsrecht ausführen. Aber selbst in diesem Fall steht nicht zu befürchten, daß der Gerichtshof sich wesentlich auf die Aufgabe „Grundrechtsschutz“ konzentriert. Hier haben die nationalen Verfassungsgerichte und hat wohl auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Vortritt. Insoweit wird der Europäische Gerichtshof beim Grundrechtsschutz auch in der Zukunft nicht die erste Geige spielen. Doch sollte man ihm nicht streitig machen, daß er zusammen mit den Verfassungsgerichten in den Mitgliedstaaten und dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, unter Beachtung ihrer Verdienste um den Ausbau und die Durchsetzung von Grundrechten, dem Gemeinschaftsbürger verstärkt zur Seite steht.

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Vgl. Kamann (FN 8), S. 636. Vgl. Everling (FN 8), S. 1109.

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Wassilios Skouris Leitung: Jutta Limbach Von Ramona Betz (Trautmann) Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ludwig Adamovich, Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Wien, griff zunächst die von Skouris prognostizierten Auswirkungen der Grundrechtecharta der EU auf die Funktion und Rechtsprechung des EuGH auf. Er wies darauf hin, daß die Grundrechtecharta gegenwärtig lediglich politisch proklamiert sei, Rechtsverbindlichkeit indes noch nicht bestehe. Zudem habe sich der EuGH in seinen Urteilsbegründungen bisher nicht auf die Grundrechtecharta gestützt, obwohl sich verschiedene Generalanwälte in ihren Schlußanträgen auf Bestimmungen der Charta berufen hätten. Insofern sei es interessant, Näheres über die Haltung des Europäischen Gerichtshofs zur Anwendung der Grundrechtecharta zu erfahren. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Magiera, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, ergänzte, daß zwar das Gericht erster Instanz (GeI) in einer Entscheidung die Grundrechtecharta herangezogen habe, allerdings lediglich zur Bestätigung seiner Auffassung und nicht zur Begründung der Entscheidung. Skouris betonte, daß die einmalige Erwähnung der Grundrechtecharta durch das GeI nicht automatisch Rückschlüsse auf eine künftige Beibehaltung dieses Vorgehens zulasse, zumal der Europäische Gerichtshof sich in seinen Urteilen gerade nicht auf die Grundrechtecharta berufe. Es sei zwar richtig, daß verschiedene Generalanwälte den EuGH durch ihre Schlußanträge aufgefordert hätten, die Grundrechtecharta zur Urteilsbegründung heranzuziehen, er könne jedoch soviel sagen, daß es kein Zufall sei, daß der EuGH dem nicht gefolgt ist; dies sei vielmehr bewußt geschehen. Welche Handhabung allerdings in der Zukunft erfolge, könne er gegenwärtig nicht sagen. Zu der im Zusammenhang mit der Grundrechtecharta geführten Diskussion um die Einführung einer „europäischen Verfassungsbeschwerde“ gab Magiera zu bedenken, daß eine derartige Erweiterung des europäischen Rechtsschutzsystems die momentan schon hohe Arbeitsbelastung des EuGH erheblich vergrößern würde. Skouris gab zu, daß man aus diesem Grund über eine solche Verfassungsbeschwerde nicht besonderes glücklich sein würde, gerade auch im Hinblick auf die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union um solche

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Staaten, in denen vielleicht ein gewisser Nachholbedarf im Bereich des Grundrechtsschutzes bestehe. Mit seinen Ausführungen habe er zu verstehen geben wollen, daß es bei Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta nicht auszuschließen sei, daß es zu einer Ausweitung der Anfechtungslegitimation bei Nichtigkeitsklagen nach Art. 230 EG-Vertrag komme. Hierzu verwies em. o. Univ.-Prof. Dr. iur Dr. rer.pol. Dr. iur. h.c. mult. Georg Ress, Richter am EGMR, Europarat Straßburg, auf die bisher restriktive Praxis des EuGH und betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG-Vertrag. Gäbe es dieses Verfahren nicht, erschiene die Gewährleistung ausreichender Rechtschutzmöglichkeiten des einzelnen gegen europäische Rechtsakte – gerade auch im Lichte des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention – fraglich. Wenn Staaten einen Teil ihrer Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung übertragen, wie dies auch im Rahmen der europäischen Integration erfolgt sei, müsse nach der Rechtsprechung des EGMR ein gleichwertiges alternatives Rechtsschutzverfahren gewährleistet werden. Betrachte man nun die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes aus der Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention und des EGMR, lasse sich die künftige Situation so beschreiben, daß der Mitgliedstaat innerhalb seines eigenen souveränen Bereichs die nationalen Grundrechte und auch die Grundrechtecharta anwenden und in dem übertragenen Bereich eine Überprüfung am Maßstab der Grundrechtecharta erfolgen würde. Ob und inwieweit dahingehend auch eine Nachprüfungsmöglichkeit durch den EGMR gegeben ist, sei hingegen bisher nicht entschieden. Dabei müsse man jedoch bedenken, daß es nicht sein könne, daß sich Staaten durch die Bildung internationaler Organisationen mit mehr oder weniger gutem Grundrechtsschutz aus dem Anwendungsbereich der EMRK „herausstehlen“. Eine entsprechende Kontrolle der Gewährleistung ausreichenden Grundrechtsschutzes durch den EGMR würde ebensowenig wie die Autonomie der nationalen Rechtsordnungen auch die häufig in diesem Zusammenhang zitierte „Autonomie des Gemeinschaftsrechts“ berühren. Was die Folgen einer Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta sowohl für die nationale als auch die europäische Gerichtsbarkeit betrifft, vertrat Ress die Auffassung, daß das Vorabentscheidungsverfahren dann eine völlig andere Intensität erreichen würde. Wenn die Grundrechtecharta verbindliches Gemeinschaftsrecht werde, seien auch die nationalen Gerichte verpflichtet, die Anwendung des Gemeinschaftsrechts an diesem neuen Maßstab zu messen. Gleichzeitig sei abzusehen, daß dann die Prüfung der rein nationalen Grundrechte durch die vorrangige Anwendung der Grundrechtecharta in die zweite Reihe gedrängt werde. Zur Rolle des Vorabentscheidungsverfahrens ergänzte Magiera, daß dessen Prüfung das gesamte Gemeinschaftsrecht umfasse, auch die bisher anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung und im Falle der Rechtsverbindlichkeit dann eben auch die Grundrechtecharta einschließe. Daher könne man überlegen, ob man den

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Parteien des nationalen Rechtsstreits für den Fall, daß das letztinstanzliche mitgliedstaatliche Gericht nicht an den EuGH vorlegen wolle, eine Art Nichtzulassungsbeschwerde an den EuGH einräumt. Nach dem gegenwärtigen System bestehe lediglich die Möglichkeit zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht mit der Berufung auf die Entziehung des gesetzlichen Richters im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien, äußerte seine Besorgnis hinsichtlich einer Überbordung verschiedener Grundrechtskataloge, die sich dann nicht vollständig entsprechen. So habe in Österreich die EMRK Verfassungsrang mit der Folge, daß jede Verletzung der EMRK gleichzeitig eine Grundrechtsverletzung darstelle; daneben bestehe ein zwar zersplitterter, aber immerhin vorhandener nationaler Grundrechtskatalog. Wenn nun noch die Grundrechtecharta der Europäischen Union rechtsverbindlich werde und beachtet werden müsse, verfüge man über drei verschiedene Rechtsquellen, die nicht deckungsgleich seien, verbunden mit verschiedenen judizierenden Organen in Straßburg, Luxemburg und Wien bzw. Karlsruhe. Er halte dies, um es vorsichtig zu sagen, für ein nicht ganz leicht durchschaubares Durcheinander. Die Problematik werde auch an einem Beispielsfall deutlich, der sowohl beim österreichischen Verfassungsgerichtshof als auch beim EuGH anhängig sei. Dabei gehe es im wesentlichen um das Grundrecht auf Datenschutz, das in der EMRK nicht ausdrücklich vorgesehen sei, sondern mit einigen Mühen und nicht in vollem Umfang aus Art. 8 EMRK, der Privatsphäre, abgeleitet werde. Demgegenüber sehe die Grundrechtecharta ein solches Recht in ihrem Art. 8 ausdrücklich vor. Eine gemeinschaftsrechtliche Regelung für diesen Bereich sei zudem in der Datenschutzrichtlinie erfolgt, deren Gegenstand nach ihrem Art. 1 insbesondere die Gewährleistung des Schutzes der Privatsphäre – als Bestandteil der Grundrechte und Grundfreiheiten – natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sei. Im konkreten Fall habe der österreichische Verfassungsgerichtshof dem EuGH die Frage vorgelegt, ob bestimmte Veröffentlichungsverpflichtungen von personenbezogenen Daten mit der europäischen Grundrechtsordnung übereinstimmen und dabei auch auf die Regelung der Grundrechtecharta verwiesen. Kern dieser Frage sei das Problem, ob man ohne weiteres über die gemeinsame Grundrechtstradition der Mitgliedstaaten zum Schutz der Privatsphäre hinweg könne, wenn diese in der Grundrechtecharta ihren Niederschlag gefunden habe, in der EMRK hingegen nur in begrenztem Umfang zum Ausdruck komme. Wie man in einem solchen Fall zu einer Entscheidung kommen kann, zeigte Skouris anhand eines Vorlageersuchens eines britischen Gerichts zur Frage des jährlichen Erholungsurlaubs eines Arbeitnehmers. Die nationale Regelung habe einen solchen Anspruch erst nach sechs Monaten ununterbrochener Beschäfti-

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gung bei einem Arbeitgeber vorgesehen. Darüber hinaus bestehe zu dieser Frage auch eine gemeinschaftsrechtliche Regelung in Form einer Richtlinie, die allerdings insoweit nicht eindeutig sei, daß sie keine Aussage über den Zeitpunkt des Entstehens des Urlaubsanspruchs enthalte. Zur Beantwortung der Frage, ob einem Arbeitnehmer das Recht auf jährlichen Erholungsurlaub entgegen der britischen Regelung „vom ersten Tag“ an zustehe, sei demnach eine Interpretation der Richtlinie notwendig gewesen. Der Generalanwalt sei in seinen Schlußanträgen unter Hinweis auf die nunmehrige ausdrückliche Anerkennung eines solchen Rechts in Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta zu dem Ergebnis gekommen, man müsse die Richtlinie entsprechend den Vorgaben der Grundrechtecharta so interpretieren, daß dem Arbeitnehmer das Recht auf anteilmäßigen Jahreserholungsurlaub ohne die Einhaltung einer Mindestbeschäftigungsdauer zustehe. Was die Auslegung der Richtlinie anbetraf, sei der EuGH der Auffassung des Generalanwaltes gefolgt, er habe dies aber natürlich nicht mit der Grundrechtecharta begründet. An diesem Beispiel werde deutlich, daß man auch ohne Bezugnahme auf die Grundrechtecharta zu angemessenen Ergebnissen kommen könne. Korinek griff im folgenden die Bemerkungen von Skouris zu den Abweichungen in der Vorlagepraxis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem österreichischem Verfassungsgerichtshof auf und erläuterte, daß man insofern einen wesentlichen Unterschied in den Kompetenzen der beiden Verfassungsgerichte beachten müsse. Nach dem österreichischen Rechtsschutzsystem judiziere der Verfassungsgerichtshof grundsätzlich nur über verwaltungsbehördliche Entscheidungen letzter Instanz, nicht jedoch über Gerichtsentscheidungen. Anders als in Deutschland gebe es in Österreich keine Verwaltungsgerichte, vor denen gegen behördliches Verhalten vorgegangen werden könne. Dies liege in Österreich im Regelfall in der Zuständigkeit des obersten Verwaltungsorgans, dessen Entscheidungen beim Verfassungsgerichtshof anfechtbar seien. Dieser sei folglich die erste befaßte Instanz, welche die Eigenschaft eines Gerichts im Sinne des Art. 234 EGV erfülle und damit überhaupt vorlageberechtigt sei. Anders als das Bundesverfassungsgericht könne sich der österreichische Verfassungsgerichtshof dementsprechend nicht darauf berufen, die Unterinstanzen hätten an den EuGH vorlegen müssen. Diesen Systemunterschied müsse man in den Vergleich der Vorlagepraxis beider Verfassungsgerichte mit einbeziehen. Bertold Sommer, Richter des Bundesverfassungsgerichts, schloß an diese Ausführungen an und kam darauf zurück, daß Skouris im Zusammenhang mit der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte an den EuGH zwar über den österreichischen Verfassungsgerichtshof und dessen bereits dreimalige Vorlage an den EuGH berichtet habe, über das Bundesverfassungsgericht hingegen habe er in diesem Zusammenhang keine Aussagen getroffen. Auf die Frage, wie dieses Schweigen zu bewerten sei, betonte Skouris, daß er mit seinen Ausführun-

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Wassilios Skouris

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gen nicht die Haltung des Bundesverfassungsgerichts habe kritisieren wollen. Seine Absicht sei vielmehr gewesen, aufzuzeigen, daß es durchaus auch nationale Verfassungsgerichte gebe, die von der Vorlagemöglichkeit an den EuGH Gebrauch machten. Dies sei ihm insbesondere unter dem Eindruck eines kürzlichen Besuchs beim italienischen Verfassungsgericht wichtig gewesen, wo in der Diskussion von einigen Mitgliedern des italienischen Verfassungsgerichts die Auffassung vertreten worden sei, ein Verfassungsorgan wie es das oberste Gericht des Landes darstelle, dürfe nicht als ein Gericht im Sinne des Art. 234 EG-Vertrages angesehen werden. Aus diesem Grund würden auch keine Vorlagen an den EuGH erfolgen. Da er diese Vorbehalte ernst nehme, habe er anhand des Beispiels des österreichischen Verfassungsgerichtshofs aufzeigen wollen, daß dies von einigen Verfassungsgerichten auch anders gesehen werde. Um die Haltung des Bundesverfassungsgerichts in Erinnerung zu rufen, fügte Sommer hinzu, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner „Solange-I“-Entscheidung durchaus die grundsätzliche Möglichkeit und dann auch Verpflichtung des Verfassungsgerichts zu einer Vorlage an den EuGH in Betracht gezogen habe. Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, leitete über zur Frage des Verhältnisses einer Normenkontrolle nach Art. 100 GG und eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG-Vertrag. Zur Verdeutlichung der Problematik führte er mehrere Verfahren an, die gegenwärtig vor dem Bundesverfassungsgericht als Vorlagefragen des Bundessozialgerichts anhängig seien. Dabei gehe es um die Verfassungsmäßigkeit derjenigen Regelungen des Sozialgesetzbuches, die eine Festlegung von Festbeträgen im Arzneimittelrecht durch die Spitzenverbände der Krankenkassen beinhalteten. Gleichzeitig sei auch ein Vorlageverfahren beim EuGH anhängig, weil deutsche Instanzgerichte, insbesondere das OLG Düsseldorf, hierin einen Verstoß gegen das Kartellverbot des Art. 81 EG-Vertrag sähen. In dieser Konstellation stelle sich nun die spannende Frage des Verhältnisses zwischen der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht und der Vorlage an den EuGH. Zum einen könne man streng genommen argumentieren, daß möglicherweise die Frage der Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Normen des deutschen Sozialgesetzbuches gar nicht entscheidungserheblich sei. Denn sollte der EuGH zu dem Ergebnis kommen, daß die Festlegung der Arzneimittelbeträge eine mit gemeinschaftsrechtlichem Kartellrecht unvereinbare Absprache darstelle und damit gemeinschaftsrechtswidrig sei, dann gelte der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, und die entsprechenden Normen des deutschen Sozialgesetzbuches wären gar nicht anzuwenden. Zum anderen seien im Grunde die Streitgegenstände aber ganz unterschiedlich. Nach deutschem Verfassungsrecht sei entscheidend, ob die rechtsstaatliche Rechtsquellenlehre eingehalten ist, wenn die Festlegung der Beträge für Arzneimittel durch die Spitzenverbänden der Krankenkassen und nicht durch Rechtsnormen im klassischen Sinne erfolge. Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene sei hingegen maßgeblich, ob die Krankenkassen „Unternehmen“ im

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Sinne des Wettbewerbsrechts darstellen und damit Adressat eines Kartellverbotes sein können. Hierzu brachte Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, den Gedanken ein, ob man dies nicht als einen Fall des negativen Kompetenzkonflikts zwischen beiden Gerichten sehen könne. So sei es doch auch möglich, daß der EuGH die ihm vorgelegte Frage nicht für entscheidungserheblich erachte. Denn wenn die deutschen Normen bereits nach deutschem Recht verfassungswidrig seien, dann stelle sich gar nicht die Frage ihres möglichen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht. Dem entgegnete Skouris, daß eine derartige Sichtweise von Seiten des EuGH nicht möglich sei, da es insofern an einer verfahrensrechtlichen Grundlage fehle. Vielmehr sei der EuGH aufgrund der bestehenden Verfahrensregelungen verpflichtet, eine Entscheidung selbst dann zu treffen, wenn das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig erkläre und damit nachträglich die Basis für die Vorlage an den EuGH nicht mehr existiere. O. Prof. Jörg Paul Müller, Wissenschaftskolleg Berlin, richtete den Blick auf die in dem Referat angesprochene Verfassungsfrage der Europäischen Union und stellte die These auf, in Europa gebe es gegenwärtig bereits verschiedene, sich überlappende Teilverfassungen. Hierzu zählten die nationalen Verfassungen, die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechteverfassung des Europarates, der EG-Vertrag als europäische Verfassung und im militärischen Bereich könne man vielleicht auch die Nato-Verfassung hinzunehmen. Wenn man nun den EuGH als Verfassungsgericht bezeichnen wolle, stelle sich unter diesem Aspekt doch die Frage, ob man dann nicht zuallererst auch den EGMR in Straßburg als Verfassungsgericht ansehen müsse. Es sei zuzugeben, daß dies von unterschiedlicher Tragweite für die einzelnen Mitgliedstaaten des Europarates sei. Für einen Staat wie Österreich, der eine unmittelbare Integration der Urteile des EGMR im nationalen Recht anstrebe, hätten diese Urteile aufgrund des Verfassungsrangs der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits Verfassungsqualität. Darüber hinaus gehe es aber bei dieser Frage nicht nur um Begrifflichkeiten, sondern vielmehr auch darum, die Rolle des EGMR zu überdenken. Dies erlange besonderes Gewicht im Hinblick auf die Vorbereitung der Erweiterung der Europäischen Union. Insofern komme dem EGMR eine Vorreiterrolle als einer Art „pädagogischer Vorraum“ zu, in dem man die Beitrittskandidaten lehren könne, was Grundrechte im Sinne des Art. 6 EMRK bedeuten. Letztlich sei dies auch für die Beitrittsfähigkeit nach Art. 49 EU-Vertrag, der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EU-Vertrag als Vorraussetzung für die Aufnahme in die Europäische Union fordere, von erheblicher Bedeutung. Ress bestätigte dies und fügte hinzu, daß man nicht verkennen dürfe, daß mit der Einführung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des EGMR durch das 11. Protokoll zur EMRK eine radikale Wende in Europa eingetreten sei, die einen wichtigen Schritt für einen bedeutsamen Bereich zwischenstaatlicher und auch teilweise innerstaatlicher Streitigkeiten bedeute.

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Wassilios Skouris

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Skouris gab zu bedenken, daß die im Titel seines Referates aufgeworfene Frage der Einordnung des EuGH als „Verfassungsgericht“ etwas irreführend sein könne. Zwar beschäftige sich der EuGH in seiner Rechtsprechung notwendigerweise auch mit Grundrechten, in der Praxis stünden jedoch vielmehr Fragen des einfachen Rechts zur Entscheidung, insbesondere die Auslegung von Richtlinien verschiedenster Bereiche. Man solle daher nicht den Eindruck haben, die tägliche Arbeit des EuGH bestehe in der Auseinandersetzung mit grundlegenden Verfassungsfragen und der Entwicklung der Europäischen Union. Insofern werde der EuGH auch im Falle der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta nicht zu einem Verfassungsgericht im herkömmlichen Sinne. Was die Frage einer Überlappung verschiedener Grundrechtsverfassungen angehe, so stimme er mit der Einschätzung von Müller überein; überdies bestehe dieses Problem bereits zum jetzigen Zeitpunkt über das in Art. 6 Abs. 2 EUVertrag enthaltene Gebot der Achtung der Grundrechte der EMRK und aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. Gerade was Letzteres angehe, seien es insbesondere deutsche Fälle gewesen, die zur Entwicklung des gegenwärtigen Standards an Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene durch den EuGH geführt hätten. Gleichzeitig dürfe aber auch nicht verkannt werden, daß der EuGH selbst in den Fällen, in denen er über Grundrechte judiziere, sich zum einen intensiv mit der Rechtsprechung der betroffenen Staaten, insbesondere derjenigen der Verfassungsgerichte, auseinandersetze und zum anderen auch die Rechtsprechung des EGMR heranziehe. Interessant sei in diesem Zusammenhang auch, daß der EuGH in seinen Entscheidungen stets nur aus seiner eigenen und aus der Rechtsprechung des EGMR zitiere. Daran werde deutlich, daß der EuGH keine Konkurrenz zwischen den beiden Gerichten hervorrufen wolle, sondern vielmehr um Einheitlichkeit bemüht sei und sich demgemäß durchaus auch von der Rechtsprechung des EGMR leiten lasse. Zur Verdeutlichung führte Skouris die im Fall Höchst aufgeworfene Frage nach der Interpretation des Wohnungsbegriffs an, wobei der Kläger dem EuGH vorgeworfen habe, er sei hinter der Interpretation geblieben, die man diesem Begriff in Deutschland gebe. Mittlerweile habe nun auch der EGMR zum Begriff der Wohnung Stellung genommen, so daß der EuGH nunmehr in einem anhängigen Fall aufgrund dieser Entwicklung eine Überprüfung seiner eigenen Rechtsprechung vornehme. Daß diese Wechselwirkung in der Rechtsprechung beider Gerichte auch von Seiten des EGMR positiv gesehen werde, machte Ress an einem Fall deutlich, in dem der EGMR seine Interpretation von Art. 6 EMRK im Lichte der Europäische Gerichtshof-Rechtsprechung geändert und an dessen funktionale Interpretation des Begriffs der „öffentlichen Gewalt“ angenähert habe. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., lenkte die Diskussion auf einen weiteren Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes und warf die Frage auf, ob in der Grundrechtecharta neben der

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erheblichen Ausweitung des Grundrechtsschutzes im Hinblick auf die Zukunft der Europäischen Union nicht auch ein guter Weg in Richtung größerer Akzeptanz bei ihren Bürgern zu sehen sei. Man habe sich in letzter Zeit vermehrt mit der Frage beschäftigt, wie der EuGH mehr in das öffentliche Bewußtsein der Bürger Europas gelangen könnte. Zwar sei die Popularität eines Gerichts sicherlich kein Selbstzweck, wenn jedoch die Arbeit, die dort im Bereich des Grundrechtsschutzes geleistet werde, bei den Bürgern zu dem Eindruck führe, auch auf der supranationaler Ebene werde der öffentlichen Gewalt Grenzen gezogen, sei dies doch im Sinne der europäischen Integration. Skouris fügte dem zustimmend hinzu, daß man die mit der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta einhergehende Zunahme von Vorlagen an den EuGH nicht nur aus der Perspektive der damit befaßten Organe, sondern auch aus derjenigen der Grundrechtsträger betrachten müsse. Natürlich sei die damit zu erwartende Verstärkung des Grundrechtsschutzes für den europäischen Bürger eine positive Entwicklung, er bekomme mehr Grundrechte und werde sich dann wohl an diejenige Instanz wenden, von der er sich die größten Erfolgsaussichten für seinen Fall verspricht. Um die Kompetenzfragen und das Verhältnis der Gerichte untereinander werde er sich hingegen nicht so sehr kümmern. Dr. Evelyn Haas, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, äußerte ihre Skepsis gegenüber der Vorstellung, daß der einzelne sozusagen freie Wahl der Gerichtsbarkeit erhalten solle. Damit würde eine Art Grundrechtskarussell geschaffen, bei dem man dort aufspringen könne, wo man die beste Sitzgelegenheit habe. Skouris stellte klar, daß er lediglich eine überspitzte Formulierung gewählt habe und daß er es keineswegs für wünschenswert erachte, wenn es durch die verschiedenen Grundrechtsquellen zu einer Wahl des Gerichts „à la carte“ komme, auszuschließen sei eine derartige Tendenz allerdings nicht. Frau Limbach faßte in ihrem Schlußwort zusammen, die Diskussion habe deutlich gemacht, daß die Vielfalt der Instanzen nicht zu einer Gefährdung eines einheitlichen Grundrechtsschutzes führe, sondern sich gerade in der jüngsten Rechtsprechung zeige, daß die verschiedenen Gerichte das Ziel verfolgten, einen gemeinsamen Grundrechtsstandard zu entwickeln und zu erhalten.

Verfassungsrichterwahlen: Praxis und Kritik Von Hans Hugo Klein \Eleuqhrßh suneike~in – mit der Freiheit unter einem Dache wohnen! Diese – einem Sinngedicht des um 400 nach Christus lebenden und in Alexandria wirkenden Grammatikers Pallades entnommene – Hoffnung zu verwirklichen, ist im demokratischen Verfassungsstaat letztlich den Verfassungsgerichten aufgegeben. Heute dürfen wir zuvörderst uns, die Deutschen und Österreicher, dazu beglückwünschen und uns bei Jutta Limbach und Ludwig Adamovich dafür bedanken, daß der österreichische Verfassungsgerichtshof und das deutsche Bundesverfassungsgericht in den Jahren, in denen sie diesen Gerichten als Präsidenten vorstanden, diese Hoffnung erfüllt haben. Zwar hat es manchmal geknirscht, beim Kruzifix etwa oder bei den Ortsnamen in Kärnten. Aber weder in Österreich noch in Deutschland hätten die Verfassungsrichterwahlen, welche Regelung man sich für sie auch ausdenken mag, auf geeignetere Persönlichkeiten fallen können. I. Grundlegung „Weil die Entscheidungen der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur etwas schon Vorentschiedenes nachvollziehen, kommt ihnen eine selbständig gestaltende Wirkung zu. Diese Wirkung betrifft nicht, wie die Entscheidungen der übrigen Gerichtsbarkeiten, das Detail gesetzlich normierter Lebensverhältnisse, sondern den verfassungsrechtlich geordneten Bereich politischer Einheitsbildung, politischer Gesamtleitung und politischer Willensbildung. Das Bundesverfassungsgericht . . . hat daher – begrenzten – Anteil an der obersten Staatsleitung.“ – Zitat Konrad Hesse1. „. . . im organisatorischen Bereich, vor allem bei der Richterbestellung, weiters bei den Aufgaben, die typischerweise in stärkerem Maße politisch, d.h. auf die politeia, die öffentliche Ordnung des Staates bezogen sind . . . und schließlich in der Wirkung der Entscheidungen, die . . . typischerweise in stärkerem Maß eine über die Einzelfallentscheidung hinausgehende ist . . . liegt zweifellos eine politische Dimension der Verfassungsgerichtsbarkeit.“ – Zitat Karl Korinek2. 1 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 201995, RN 566, siehe auch RN 669; zust. Benda/E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, 22001, RN 106. 2 Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 7 (15 f.); auch in ders., Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2000, S. 243 (249 f.).

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Die Verfassungsgerichtsbarkeit steht nicht außerhalb des politischen Prozesses, „da sie ihm den Rahmen setzt, ihm seine Grenzen und mitunter auch seine Ziele weist. . . . Im Maße, in dem dies geschieht, wird die Verfassungsgerichtsbarkeit . . . zu einem wichtigen Steuerungsfaktor im politischen Geschehen“ – ein Selbstzitat3. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch gern daran, daß die westlichen Alliierten in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 bestimmten, daß Berlin „may not be governed by the Federation“ und daß sie zum „government“ eben auch das Bundesverfassungsgericht gezählt haben. Vor allem die USA, zu jenem Zeitpunkt die einzigen unter den drei Westmächten mit eigenen Erfahrungen in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit, wußten sehr wohl, warum sie diese Bestimmung trafen. Dieses aufgaben- und kompetenzbedingte Hineinragen in den Bereich des „Politischen“ ändert allerdings nach nahezu einhelliger Auffassung nichts an der Gerichtsqualität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie ergibt sich sowohl aus der normativen Bindung der Verfassungsgerichte an die (mitunter allerdings erhebliche Auslegungsspielräume eröffnenden) verfassungsrechtlichen Maßstäbe als auch aus ihrer prozeduralen Gebundenheit4. Im übrigen wäre es falsch anzunehmen, daß alle verfassungsgerichtlichen Erkenntnisse politische Bedeutung besitzen, oder zu übersehen, daß auch die Urteile der Fachgerichte politische Auswirkungen haben können und nicht selten haben5. Die Position von Ingwer Ebsen, dessen Buch über „Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung“ (1985) von Karl Korinek nicht gerade begeistert besprochen wurde6, sei immerhin erwähnt. Sie fügt sich in Vorstellungen, wie sie auch für das Zusammenwirken von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit im Sinne einer arbeitsteiligen Gemeinwohlkonkretisierung entwickelt worden sind7. Wird, wie es bei Ebsen geschieht, die rechtliche Determinationskraft von Verfassungsnormen in Abrede gestellt, bleibt der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tat nur die Funktion eines Moderators bei der Suche nach politischen Kompromissen zwischen den von partikularen Interessen geleiteten gesellschaftlichen Kräften. Wenn Klaus Schlaich8 dem entgegenhält, das Bundesverfassungsgericht stehe außerhalb des staatlichen Willensbildungsprozesses, sei nicht Steuerungs- sondern schlicht Kontrollinstanz, so schießt er freilich über das Ziel

3 Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstruktur in: P. Kirchhof u. a. (Hg.), Steuerrecht – Verfassungsrecht – Finanzpolitik, FS Franz Klein, 1994, S. 511 (515). 4 Korinek (FN 2), S. 47 f. 5 Schambeck, Österreichs Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Schäffer u. a. (Hg.), Im Dienst an Staat und Recht, FS Melichar, 1983, S. 185 (186). 6 Korinek, AöR 111 (1986), S. 440. 7 Vgl. etwa Brohm, DVBl. 1986, S. 321 (329). 8 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 72007, RN 35.

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hinaus, denn Kontrolle bewirkt eben auch Steuerung, mindestens im Sinne von Rahmensetzung. Meine Ausführungen heute (auch sie behandeln freilich ein Thema, das jeglichen Neuigkeitswertes ermangelt) verfolgen aber nun nicht den Zweck, zum aberhundertsten Mal die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit in staatstheoretischer Hinsicht zu erörtern. Für das Nachfolgende genügt die ebenso unbestreitbare wie banale Feststellung, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit, etwa indem sie die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kontrolliert, die Bedingungen eines zulässigen Einsatzes des Militärs oder das Maß der an eine supranationale Einrichtung übertragenen oder übertragbaren Hoheitsrechte näherhin bestimmt, auf den Entscheidungsspielraum der politischen Handlungsträger, insbesondere also Parlament und Regierung, einwirkt, und zwar unter Umständen überaus nachhaltig. Daran ändert der Umstand nichts, daß sie im Unterschied zu Legislative und Exekutive ausschließlich nach verfassungsrechtlichen Rationalitätskriterien judiziert, also „auf einen Teilbereich beschränkt“ ist, wie es Detlef Merten einmal formuliert hat9. Nach allem wird man ein gewisses Interesse derjenigen, die in Parlament und Regierung Verantwortung tragen, daran verstehen können, wer die Personen sind, die kraft ihres richterlichen Amtes, indem sie die Verfassung „hüten“, die normativen Leitplanken errichten, zwischen denen sich die politischen Akteure zu bewegen haben. Das ist der eine Grund dafür, daß in nahezu allen Staaten, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen, Legislative und Exekutive in allerdings sehr unterschiedlichen Formen an der Kreation der Verfassungsrichter beteiligt sind. Der andere ist nicht weniger offensichtlich: Da sie staatliche Gewalt ausüben, bedürfen sie demokratischer Legitimation – auch die Inhaber von staatlichen Richterämtern müssen ein Glied jener ununterbrochenen Legitimationskette bilden, die in der Demokratie alle Staatsorgane mit dem Volk als dem Träger der Staatsgewalt verbindet. Sofern also die Richter nicht unmittelbar vom Volk gewählt werden, was jedenfalls für die Mitglieder von Verfassungsgerichten nirgendwo der Fall ist, sind das Parlament oder das direkt gewählte Staatsoberhaupt als Glieder jener Kette unentbehrlich, sei es, daß sie unmittelbaren Einfluß auf die Auswahl der Verfassungsrichter haben, sei es, daß sie die personelle Zusammensetzung der Organe bestimmen, die ihrerseits die Verfassungsrichter wählen. Mit dem demokratischen Prinzip sind gewiß sehr unterschiedliche Formen der Richterwahl im Allgemeinen (insoweit bieten das Bundes- und das Landesrecht in der Bundesrepublik Deutschland, erst recht der Blick in andere Rechtsordnungen, reiches Anschauungsmaterial) und die Bestellung von Verfassungs9 Merten, Aktuelle Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich, in: FS Melichar (FN 5), S. 107 (120). Hingewiesen sei auch auf die wichtigen Beiträge von Öehlinger, Verfassungsgerichtsbarkeit und parlamentarische Demokratie, in: FS Melichar (FN 5), S. 125 und Schambeck (FN 5).

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richtern im besonderen vereinbar. Die für den Parlamentsvorbehalt im Bereich der Rechtsetzung entwickelte Wesentlichkeitstheorie ist in dem Sinne verallgemeinerungsfähig, daß bei den Trägern von Entscheidungen, die inhaltlich nicht determiniert und für das Gemeinwesen insgesamt von wesentlicher Bedeutung sind, die auf das Volk zurückführbare Legitimationskette kurz sein muß und gegebenenfalls beim Parlament selbst endet. In diesem Sinne ist auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht der Ausländer zu den Bezirksversammlungen der Freien und Hansestadt Hamburg10 zu deuten. Je weiter die Spielräume eigener Gestaltung bemessen sind, desto höher muß nach dieser Entscheidung das Legitimationsniveau sein. Da aber richterliche Entscheidungen in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit getroffen werden müssen, eine Rückbindung an den Inhaber der Staatsgewalt also nicht wie im Bereich der Exekutive durch Weisung oder Rechenschaftslegung erfolgen kann, gewinnt die personelle Legitimation an Gewicht, wie sie im Wege der Kreation wenn schon nicht durch das Volk selbst, so doch durch das Parlament, das vom Volk gewählte Staatsoberhaupt oder – mindestens – die dem Parlament verantwortliche Regierung vermittelt wird. Sind also „politische“ Organe an der Auswahl der Richter „geradezu systemnotwendig“11 beteiligt, so ist die Richterwahl unausweichlich eine „politische“ Entscheidung. Das gilt wiederum ganz allgemein, vor allem aber für Verfassungsrichter. Das Verfassungsrecht läßt seines oft und zumal im Bereich der Grundrechte nur lapidaren Charakters wegen typischerweise – was keineswegs heißt, daß es solches auf der Ebene des „einfachen“ Rechts nicht gäbe – der Auslegung viel Spielraum. So richtig es also einerseits ist, daß die Methode verfassungsrichterlicher Entscheidungsfindung und das Verfahren, in welchem das Verfassungsgericht zu seiner Entscheidung gelangt, sich qualitativ nicht von herkömmlichen gerichtlichen Maßstäben, Methoden und Verfahren unterscheidet12, so richtig ist es andererseits aber auch, daß verfassungsgerichtliche Entscheidungsfindung regelmäßig ein höheres Maß an autonomer Gestaltung aufweist und stärker in die Breite wirkt, als dies bei fachgerichtlichen Entscheidungen der Fall ist. Das rechtfertigt nicht nur, das gebietet vielmehr eine enge Anbindung der Auswahl der Verfassungsrichter an Parlament und Regierung. Die Legitimationsebene ist hoch anzusetzen13.

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BVerfGE 83, 60 (72 ff.). Gusy, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 60 RN 16. 12 Korinek, VVDStRL 39 (1981), S. 16 f. 13 So schon Bettermann, Opposition und Verfassungsrichterwahl in: Bernstein u. a. (Hg.), FS Zweigert, 1981, S. 723 (724). – Überblick über Formen der Verfassungsrichterwahl bei v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992, S. 30 ff. 11

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Dem entspricht die rechtliche Regelung, welche die Wahl der Verfassungsrichter im Grundgesetz und im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht erfahren hat. Ich beschränke mich auf die knappe Hervorhebung des für das hier zu behandelnde Thema Wesentlichen. Bundestag und Bundesrat wählen die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte, im Wechsel den Präsidenten und den Vizepräsidenten, also die Vorsitzenden der beiden Senate, jeweils mit zwei Dritteln der Stimmen14. Anstelle des Bundestages wählt der aus zwölf Abgeordneten bestehende Wahlausschuß, dessen Mitglieder von den Fraktionen vorgeschlagen und vom Plenum nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Die Richter dürfen nicht früher als drei Monate vor Ablauf der Amtszeit ihrer Vorgänger gewählt werden. Ihre Amtsdauer ist auf zwölf Jahre begrenzt, währt jedoch äußerstenfalls bis zum Ende des Monats, in dem der Richter das 68. Lebensjahr vollendet. Allerdings haben die Richter ihr Amt bis zur Ernennung ihrer Nachfolger fortzuführen. Daß die Ablösung pünktlich erfolgen soll, gibt das Gesetz dadurch zu erkennen, daß es die Wahlorgane anhält, innerhalb eines Monats nach dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters zu wählen, daß es den Bundestag verpflichtet, innerhalb eines Monats nach seinem Zusammentreten zu wählen, wenn die Amtszeit eines Richters während der Parlamentsferien endet, und daß es dem Plenum des Bundesverfassungsgerichts ein unverbindliches Vorschlagsrecht einräumt, wenn zwei Monate nach dem Ablauf der Amtszeit oder dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters die Wahl eines Nachfolgers nicht zustande gekommen ist. Nach ihrer Wahl werden die Richter vom Bundespräsidenten ernannt; eine Frist, binnen deren die Ernennung erfolgen muß, legt das Gesetz nicht fest. Das Bundesministerium der Justiz führt zwei Listen, deren eine alle Bundesrichter15 enthält, welche die Wählbarkeitsvoraussetzungen erfüllen, während in der anderen wählbare Personen geführt werden, die von einer Fraktion des Deutschen Bundestages, der Bundesregierung oder einer Landesregierung für das Amt eines Richters des Bundesverfassungsgerichts vorgeschlagen werden. Gewählt werden können allerdings und werden oft Kandidaten, die weder auf der einen noch auf der anderen Liste gestanden haben. Das Vorschlagsrecht für die Richterwahl ist nicht geregelt – jedermann kann Vorschläge machen, wenn auch den Mitgliedern der Wahlorgane vorbehalten bleibt, sie dort zur Abstimmung zu stellen. Kein Vorschlag ist für die Wahlorgane bindend. Zusammenfassend läßt sich sagen: Die oft gestellte Frage „Wie wird man Verfassungsrichter?“ beantwortet das Gesetz, indem es nur die formalen Prozeduren regelt, welche die demokratische Legitimation der Amtsträger sicherstellen. Bei den Abgeordneten der Volksvertretungen ist es nicht anders und ebenso wenig bei Regierungsmitgliedern. Das Auswahlverfahren mündet zwar in das gesetzlich geregelte Wahlverfahren, überläßt je14 Bis zur ersten Novelle vom 21. Juli 1956 betrug das Quorum drei Viertel der Stimmen. 15 Gemeint sind nur die an den obersten Bundesgerichten tätigen Bundesrichter.

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doch, was ihm vorausgeht, der von formalen Zwängen bewußt frei gehaltenen Praxis. Die österreichische Verfassung (Art. 147 B-VG) räumt der Exekutive bei der Ernennung der 14 Mitglieder und sechs Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofs eine im Vergleich zum deutschen Recht deutlich stärkere Stellung ein16. Auf Vorschlag der Bundesregierung ernennt der Bundespräsident den Präsidenten, den Vizepräsidenten, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder aus dem Kreis der Richter, Verwaltungsbeamten und Rechtsprofessoren. Die weiteren sechs Mitglieder und drei Ersatzmitglieder ernennt der Bundespräsident auf Grund von Vorschlägen des National- oder Bundesrats – sie müssen nicht dem Kreis der Richter, Verwaltungsbeamten und Rechtsprofessoren entstammen, wohl aber die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien vollendet und mindestens zehn Jahre in einer Berufsstellung tätig gewesen sein, für welche die Vollendung dieser Studien vorgeschrieben ist. Aus rechtsvergleichender Sicht ist die Regelung von Interesse, daß der Vorsitzende (also in der Regel der Präsident, sonst sein Vertreter) nur dann Stimmrecht besitzt, wenn eine von mehreren Meinungen wenigstens die Hälfte aller Stimmen, bei voller Besetzung also sieben, auf sich vereinigt hat; in diesem Falle gibt seine Stimme den Ausschlag (§ 31 VfGG). Eine gewisse Distanz der Verfassungsrichter zur Politik sucht das Gesetz durch Inkompatibilitätsvorschriften zu gewährleisten – Manfried Welan hat einmal von den „stiffest rules“ im Vergleich zu den für andere Richter geltenden Unvereinbarkeiten gesprochen17. Unvereinbar mit dem Amt eines Richters des Verfassungsgerichtshofs sind die Ämter von Regierungsmitgliedern auf Bundes- und Landesebene, von Mitgliedern des Nationalrats, des Bundesrates oder sonstiger allgemeiner Vertretungskörper – soweit sie auf Zeit in ihre Ämter gewählt sind, dauert die Unvereinbarkeit bis zum Ende der Amtsperiode fort, auch bei vorzeitigem Amtsverzicht. Auch Angestellte und Funktionäre einer Partei können dem Verfassungsgerichtshof nicht angehören – Regeln, die sich zum Teil daraus erklären, daß die Richter mit Ausnahme der zu Richtern gewählten Verwaltungsbeamten nebenamtlich tätig sind. Die unter Umständen lange Amtsdauer (das Gesetz zwingt zum Ausscheiden erst zum Ablauf des Jahres, in dem der Richter sein 70. Lebensjahr vollendet) mag ebenfalls Distanz zur „Politik“ befördern.

16 Zum folgenden: Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Starck/ A. Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilbd. I: Berichte, 1986, S. 149 (155 ff.). Siehe auch Klecatsky, Über die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Leibholz u. a. (Hg.), FS Geiger, 1974, S. 925. 17 Constitutional Review and Legislation in Austria, in: Landfried (Hg.), Constitutional Review and Legislation, 1988, S. 63 (65).

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II. Praxis und Kritik Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht wurde am 16. April 1951 verkündet und trat am folgenden Tag in Kraft. Aber erst am 4. und 6. September wurden die damals 24 Richter des Bundesverfassungsgerichts von Bundestag und Bundesrat gewählt. Der Wahl war ein monatelanges, zuweilen heftiges Tauziehen um die Besetzung der Richterbank vorausgegangen, durchaus auch unter dem Gesichtspunkt der parteipolitischen Zuordnung der Richter, die dann in dem bald aufkommenden Gerede vom roten und schwarzen Senat zum Ausdruck kam. Die Verhandlungen des damaligen Wahlmännerausschusses begannen am 9. Mai 1951, wurden aber meistens in einem vorbereitenden Ausschuß geführt, dem je sechs Vertreter des Wahlmännerausschusses und des Bundesrates angehörten. Schon damals also sind Bundestag und Bundesrat bei der Vorbereitung der Verfassungsrichterwahlen nicht getrennte Wege gegangen. Auch die Bundesregierung hat sich mehrfach mit den Kandidaten für diese Richterwahl befaßt. Nach dem Zeugnis des Ältesten des Wahlmännerausschusses18, des CDU-Abgeordneten Laforet, war es vor allem dem hessischen Ministerpräsidenten Zinn zu verdanken, daß man sich Ende Juli schließlich über die meisten Kandidaten einig war19. Nur wer Präsident des Gerichts werden solle, war noch offen. Der damalige Staatspräsident von Südwürttemberg-Hohenzollern, Dr. Gebhard Müller, hatte eine Kandidatur ebenso abgelehnt wie der ehemalige württembergische Zentrumsabgeordnete und Landesminister Dr. Josef Beyerle, der eine aus politischen, der andere aus gesundheitlichen Gründen. Im Gespräch war lange der frühere preußische und nordrhein-westfälische Finanzminister Dr. Hermann Höpker Aschoff, zu dieser Zeit FDP-Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Er hatte aber am 3. Juli 1951 mitteilen lassen, daß er nicht mehr zur Verfügung stehe, verärgert, wie man annehmen darf, über Widerstände von Seiten der Katholischen Kirche und der Bayerischen Staatsregierung, die gegenüber einer „laizistischen“ und nord-deutschen Doppelspitze (als Vorsitzender des 2. Senats war der SPD-Politiker Dr. Katz vorgesehen) um das Eltern- und Naturrecht, das Konkordat und den Föderalismus bangten. Am Ende wurde Höpker Aschoff dann doch Präsident, und zwar ein guter, wenngleich ich ihm nicht verzeihen kann, daß er von meiner Vaterstadt Karlsruhe eine üble Meinung hatte. „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen,“ schrieb er am 26. November 1951 an den Bundesminister der Justiz, seinen Parteifreund Dr. Dehler, „welche bitteren Wochen hinter mir liegen, Tage und Nächte des Grolls, daß ich in

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Vgl. § 6 Abs. 3 BVerfGG. Schreiben des Abg. Laforet an den Präsidenten des Deutschen Bundestages vom 27. Juli 1951, in: Schiffers, Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit: Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, in: Bracher u. a. (Hg.), Quellen zur Geschichte des Parlaments und der politischen Parteien, Vierte Reihe: Deutschland seit 1945, Bd. II, 1984, S. 451 (siehe auch S. XXXIX). 19

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meinen alten Jahren dazu gezwungen bin, in diesem furchtbaren Karlsruhe zu leben . . .20!“ Die Richterwahl stand damals wie heute vor der Notwendigkeit, vier nicht immer leicht miteinander vereinbaren Forderungen zu genügen: „nach demokratischer Legitimierung der Verfassungsrichter, nach Ausschluß einseitiger Einflüsse . . ., nach hoher richterlicher Qualifikation und nach föderalistischer Repräsentation“21. Von den rechtlichen Regelungen wird man kaum mehr verlangen können als dies: daß „der möglichen Entfaltung der menschlichen Schwäche nicht irgendwie Vorschub geleistet wird.“22

Die parteipolitische Präferenz oder Zuordnung der Kandidaten hat auch später immer eine entscheidende Rolle bei der Richterwahl gespielt. Sie hat dadurch eine faktische Verfestigung erfahren, daß die beiden großen im Bundestag vertretenen Parteien CDU/CSU und SPD sich wechselseitig Vorschlagsrechte für die Besetzung von jeweils der Hälfte der Richterstellen in jedem Senat eingeräumt haben mit der Maßgabe, daß die mit einer kleineren Partei in einer Regierungskoalition verbundene der beiden großen Parteien dieser einen „ihrer“ Sitze überläßt, und mit der weiteren Maßgabe, daß nicht mehr als sechs Richterstellen in jedem Senat mit parteigebundenen Kandidaten besetzt werden dürfen. Ergänzend besteht seit den 70er Jahren eine Vereinbarung, derzufolge die Präsidentschaft zwischen dem Ersten und dem Zweiten Senat wechselt, wobei die Stelle des Vorsitzenden des Ersten Senats auf Vorschlag der CDU/CSU, die des Vorsitzenden des Zweiten Senats auf Vorschlag der SPD besetzt wird. Die Vorschläge der einen binden die andere Seite nicht, sie wird sie aber nicht leichthändig zurückweisen, da sie sonst bei nächster Gelegenheit mit einer „Retourkutsche“ rechnen muß. Der Einigungszwang beruht auf der in beiden Wahlorganen erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit, die wechselseitige Akzeptanz und also Kandidaten der „Mitte“ verbürgt, aber auch den geschilderten Proporz begünstigt. Zur Praxis gehört, daß die Auswahl der Verfassungsrichter im Ablauf der Zeit zur „Chefsache“ geworden ist. Das bedeutet zwar regelmäßig nicht, daß die Parteivorsitzenden sich persönlich auf die Suche nach potentiellen Verfassungsrichtern begeben, aber doch, daß sie mit der notwendigen Personal- und Sachkenntnis ausgestattete Persönlichkeiten aus ihrem Umkreis mit dieser Aufgabe betrauen – auf seiten der CDU/CSU waren und sind dies in jüngerer Zeit Friedrich Vogel, Benno Erhard, Wolfgang Schäuble und Rupert Scholz, auf seiten der SPD Gerhard Jahn und Hertha Däubler-Gmelin. Diese Beauftragten (sie sind auch maßgeblich an der Auswahl der Richter der obersten Bundesgerichte beteiligt) können freilich keineswegs nach Belieben schalten und walten, 20 21 22

Schreiben vom 26. November 1951 in Schiffers (FN 19), S. 456 (459). Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 207. Leibholz, zit. nach Fromme in: FS Geiger (FN 16), S. 884.

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und zwar schon deshalb nicht, weil der Bundesrat in den Findungsprozeß eingeschaltet werden muß. Genauer handelt es sich dabei um die Ministerpräsidenten, die ihrerseits für die so genannten A- und B-Länder je einen von ihnen mit einer Art Sprecherfunktion ausstatten, derzeit die Ministerpräsidenten Kurt Beck und Bernhard Vogel. Sie alle haben gewiß Schlüsselpositionen inne, sind aber auf mannigfache Rückkoppelungen angewiesen – die Ministerpräsidenten auf ihre Amtskollegen, die Fraktionsbeauftragten auf die Partei- und Fraktionsführungen und die Mitglieder des Wahlausschusses, die ihnen unterbreitete Vorschläge der Legende zum Trotz mitnichten nur „abzunicken“ pflegen. Wenn am Ende der Wahlprozedur oft einstimmige Entscheidungen stehen, so ist dies die Folge ihrer sorgfältigen Vorbereitung und nicht eines Diktats. Gegenteilige, freilich nicht selten anzutreffende Äußerungen verkennen die Wirklichkeit gleich doppelt. Bar aller Sachkenntnis wird die Ansicht kolportiert, die eigentliche Entscheidung sei auf ein bis zwei Unterhändler pro Seite konzentriert23 – sie verwechselt ganz einfach Verhandlungsführung und Entscheidung. Zum anderen wird übersehen, daß, wie es Christoph Gusy trefflich ausgedrückt hat, im Parlament politische Entscheidungen nicht gemacht, sondern verbindlich gemacht werden24. Wer käme auch auf die Idee, die demokratische Legitimation des Bundeskanzlers in Frage zu stellen, weil seine Person nicht in freier parlamentarischer Deliberation (das Grundgesetz schließt sie ausdrücklich aus, Art. 63 Abs. 1 GG) ausgesucht, sondern von den Parteien bestimmt wird und der Bundestag den Bundeskanzler „nur“ wählt!? Und wer würde die öffentliche Ausschreibung von Ministerämtern verlangen, wie es für die Ämter der Verfassungsrichter im Schrifttum allen Ernstes gefordert worden ist!?25 Zur Praxis gehört auch, daß die hier in Rede stehenden wie andere Personalfragen zwar nicht in öffentlicher Sitzung von den Wahlorganen oder sonstigen Gremien erörtert werden; ein öffentliches Anhörungsverfahren nach US-amerikanischem Vorbild kennt das deutsche Recht aus guten Gründen nicht. Ob und in welchem Maße die Öffentlichkeit sich am Auswahlverfahren beteiligt, liegt jedoch bei ihr. Niemand würde beispielsweise der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, dem Richterbund oder wem auch sonst (die großen Kirchen z. B. sind traditionell interessiert und werden in die Vorgespräche einbezogen) das Recht bestreiten, sich mit Vorschlägen oder Kritik zu Wort zu melden. Gleiches gilt für Rundfunk und Presse. Wenn man dort meist wenig hört oder liest, so deshalb, weil – im Unterschied zu Ministerposten – die Besetzung der Richterstellen des Bundesverfassungsgerichts die öffentliche Meinung offenbar nur begrenzt interessiert (ein Indiz dafür ist, daß die Richter des Bundesverfas23 Etwa Majer in: Umbach/Clemens (Hg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 6 RN 45; siehe auch Kröger, in Starck u. a. (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, FG BVerfG, Bd. I, 1976, S. 93. 24 Vgl. Gusy (FN 11), § 60 RN 17. 25 Majer (FN 23), RN 46.

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sungsgerichts, anders als die Institution selbst, keinen hohen Bekanntheitsgrad genießen) und weil es nur wenige Journalisten gibt, welche die dafür erforderliche Sachkenntnis besitzen. Das war auch schon mal anders. Henning Frank und Friedrich Karl Fromme, der eine beim Deutschlandfunk, der andere bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, auch Werner Birkenmaier von der Stuttgarter Zeitung, haben über Jahrzehnte die Richterwahlen ebenso aufmerksam wie sachkundig verfolgt, im Vorfeld der Entscheidung öffentlich erörtert und dadurch gelegentlich auch Einfluß ausgeübt. Vorwürfe wie der, die Parteien legten bei der Auswahl der Verfassungsrichter ein „konspiratives Gehabe“26 an den Tag, fallen auf diejenigen zurück, welche die Gelegenheit mitzureden verschlafen. In der freiheitlichen Demokratie bleibt in aller Regel nur geheim, was die professionellen Beobachter des politischen Geschehens entweder nicht wissen wollen oder nicht verstehen können. Die an Wahlverfahren und Wahlpraxis geübte Kritik27 läßt an Schärfe nichts zu wünschen übrig, und nicht ohne Süffisanz wird angemerkt, Verteidiger fänden sich fast nur unter Wählern und Gewählten. An der Kritik fällt allerdings auf, daß sie um Alternativen meist verlegen ist. Wo sie dennoch angeboten werden28, insbesondere in dem Bestreben, den Einfluß der Parteien auf die Richterwahl zu vermindern oder den Kreis der Vorschlagsberechtigten und so mittelbar denjenigen der Kandidaten zu erweitern, wird ihnen, nicht nur von den Betroffenen, also Wählern und Gewählten, entgegengehalten, daß sie an der Praxis wenig ändern würden29. So endet denn auch Gecks Philippika mit dem Vorschlag, nicht eine Reform der Normen, sondern eine Reform der Praxis ins Auge zu fassen30. Dabei stößt man allerdings kaum jemals auf die Behauptung, diese Praxis habe überhaupt oder gar überwiegend zur Wahl für das Amt nicht geeigneter Richter geführt. Angesichts des Ansehens, dessen sich das Gericht gerade auch bei der Zunft der Staatsrechtslehrer erfreut, wäre eine darauf zielende Kritik auch ohne rechte Überzeugungskraft. Was bleibt, ist das Unbehagen an der Parteinähe der Richter, obschon betont wird, es lasse sich nicht belegen, daß die „parteinahen“ Richter (es gibt übrigens unter den parteilosen 26

DER SPIEGEL Nr. 34/1987, S. 30. V. a. Geck, Wahl und Amtsrecht der Bundesverfassungsrichter, 1986; ders. in: Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 21998, § 55 RN 55 ff. – Geck hat mir vor seinem allzu frühen Ableben freundlicherweise versichert, seine Kritik beziehe sich nicht auf mich – aber wie sollte ich mich, aktiv wie passiv am Wahlverfahren beteiligt, nicht doch getroffen fühlen? 28 Etwa: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht der Fraktion DIE GRÜNEN, BTDrs. 11/73; dazu Stern, in: Fiedler/Ress (Hg.), Verfassungsrecht und Völkerrecht, GS W. K. Geck, 1989, S. 885. 29 Eine Änderung würde wohl durch die Einführung einer öffentlichen Anhörung bewirkt werden, eine Wendung zum Besseren im Sinne einer Erhöhung der Chance, besser qualifizierte Richter zu gewinnen oder die Wahl zu „entpolitisieren“, gewiß nicht. 30 Geck, in: HStR II (FN 27), § 55 RN 19 f. 27

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nicht selten parteinähere Richter als unter den parteigebundenen) regelmäßig im Sinne ihrer Partei entschieden. Es mag an dieser Stelle die Beobachtung eingeschaltet werden, daß es kein Verfassungsgericht mit einer derjenigen des Bundesverfassungsgerichts auch nur annähernd ähnlichen Kompetenzfülle geben dürfte, das weniger „parteinah“ ist als das deutsche. Für die USA ist das notorisch. Für Österreich hat schon vor Jahren Korinek von dem zwischen den beiden großen Parteien bestehenden gentlemen’s agreement berichtet, demzufolge je sieben Mitglieder und drei Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofs von jeder der beiden großen Parteien benannt werden31. Klecatsky32 verdanken wir dazu einen (allerdings nun schon über ein Vierteljahrhundert alten) anschaulichen Bericht. Die Zeitschrift PROFIL33 bezeichnete am 17. Juli 2000 den österreichischen Verfassungsgerichtshof als „perfektes Produkt rot-schwarzer Postenbesetzung“ und spekulierte darüber, daß bei allfälligen Vakanzen wohl auch die FPÖ Ansprüche erheben werde. Allein, so wird in dem Bericht fairerweise und in bemerkenswerter Parallele zum deutschen Bundesverfassungsgericht hinzugefügt, das Verhalten des Gerichtshofs, sprich: seine Entscheidungstätigkeit, lasse sich mit dieser Zusammensetzung ganz und gar nicht erklären. Kehren wir nach dieser Abschweifung noch einmal zu der in Deutschland geübten Praxis der Richterwahl zurück, die sich, wie gesagt, auf den Punkt zu großer Parteinähe konzentriert. Ein rechtsstaatlichen Anforderungen genügendes Gericht, so entspricht es herkömmlichen und durchaus berechtigten Vorstellungen, muß neutral sein, und Neutralität eines Verfassungsgerichts besteht dann, so hat es Bettermann einmal formuliert, „wenn die potentiellen Akteure des Verfassungsstreits keinen Einfluß auf die Besetzung des Verfassungsgerichts und damit auf die Auswahl der Verfassungsrichter haben – noch besser: wenn jeder Einfluß politischer Gruppen oder Kräfte ausgeschaltet ist, die Auswahl der Verfassungsrichter also von unpolitischen Elektoren nach rein sachlich-fachlichen Kriterien erfolgt“34. Bettermann hat allerdings hinzugefügt, daß das Gebot der Entpolitisierung der Richterschaft mit der Notwendigkeit ihrer demokratischen Legitimation kollidiere, die das Parlament als Wahlorgan ins Spiel bringe. Und nicht grundlos hat er zugleich Zweifel anklingen lassen, ob solche „politische Aseptik“ wirklich wünschbar oder möglich sei. Sie ist m. E. weder das eine noch das andere. In der 1961 durch das Deutsche Richtergesetz aufgehobenen ursprünglichen Fassung des § 3 Abs. 2 BVerfGG hieß es deshalb ganz zu Recht, die Richter des Bundesverfassungsgerichts müßten „im öffentlichen Leben erfahren sein“, und Theodor Ritterspach hat einmal, bezogen auf die ita31 32 33 34

Vgl. Korinek (FN 16), S. 155. Vgl. Klecatsky (FN 16), S. 932 ff. Geck, Der Individualisten-Klub, in: PROFIL 29/2000, S. 34. Vgl. Bettermann (FN 13), S. 724.

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lienischen Verfassungsrichter, aber verallgemeinerungsfähig, gesagt, von ihnen werde „ein hohes Maß an Sensibilität für die politischen Auswirkungen ihrer Rechtsprechung verlangt“35. Aber man muß auch klar erkennen: Es gibt keine politische, und das heißt in der Parteiendemokratie: keine parteipolitische Neutralität im demokratischen Staat, es sei denn, man mißverstünde (nach dem Gesagten gänzlich unerwünscht) Neutralität als politisches Desinteresse. Es gibt nicht den unpolitischen Sachverstand. Weil die Verfassungsgerichtsbarkeit eine unleugbare Nähe zur Politik hat – sie ist umso ausgeprägter, je umfangreicher die Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts sind –, wird von einem Verfassungsrichter mit Fug nicht nur fachliche sondern auch politische Kompetenz verlangt. Unter politischer Kompetenz verstehe ich die Fähigkeit, die Folgen des Richterspruchs auf das Verfassungsleben einzuschätzen. Diese Fähigkeit erwirbt man nicht durch Zeitungslektüre sondern durch politisches Handeln, keineswegs nur, aber durchaus auch in politischen Ämtern. Politisches Engagement heißt aber immer auch Parteinahme. Sie schließt Unabhängigkeit nicht aus, solange die Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik erhalten bleibt, die wiederum vom Intelligenzquotienten und vom Sachverstand abhängt. Je klüger und kenntnisreicher ein Richter ist, desto weniger ist er in der Gefahr, in die Abhängigkeit von einer Partei zu geraten, selbst wenn er ihr angehört, desto eher ist er in der Lage, die Raison des ihm anvertrauten Amtes zu begreifen. Wenn der politisch neutrale Richter eine Chimäre ist, dann wird man von dem Verfahren der Richterwahl verlangen müssen, daß es Richter hervorbringt, die in intellektueller, charakterlicher, fachlicher und politischer Hinsicht in dem geschilderten Sinne ihrem Amt gewachsen sind. Das scheint in 50 Jahren meist gelungen zu sein. Die Fehlerquote, wenn es sie denn gab, war jedenfalls gering. Die in diesem Zusammenhang wie auch sonst beliebte Parteienschelte kontrastiert fast stets auf merkwürdige Weise mit den bedeutenden Leistungen der Parteiendemokratie. Ich kenne kein politisches System, kein wirtschaftliches oder wissenschaftliches Management, das auf zuverlässigere Weise achtbare Leistungen hervorbrächte. Die gegenwärtige rechtliche Regelung des Richterwahlverfahrens sorgt für die Ausgewogenheit der Besetzung der Richterbank – in politischer Hinsicht, aber auch, was die landsmannschaftliche, soziale, berufliche und weltanschauliche Prägung der Richter anbelangt. Das Bundesverfassungsgericht war nie das Gericht einer parlamentarischen Mehrheit oder gar einer Partei, es hat, wie es seine Aufgabe ist, im Rahmen des verfassungsrechtlich Vertretbaren stets und meist mit Erfolg nach Wegen gesucht, die auch dem im Streit Unterlegenen (der ja seinen potentiellen Rollenwechsel im politischen Kräftespiel stets vor Augen hat) das Gefühl vermittelten, in seinem eigentlichen Anliegen verstanden und nicht um sein Recht geprellt worden zu sein. 35

(81).

Ritterspach, Die italienische Verfassung nach vierzig Jahren, JöR 37 (1988), S. 65

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Über Verbesserungen nachzudenken, lohnt sich immer. Auch in anderen Ländern werden entsprechende Vorschläge, meist mit vergleichbar geringem Erfolg wie in Deutschland – so etwa von Klecatsky36 oder zuvor schon von René Marcic in der 1970 erschienenen Festschrift für Gebhard Müller37 – immer wieder vorgetragen. Ich beschränke mich abschließend auf vier Erwägungen: Man hat immer wieder eine Erweiterung des Kreises der Vorschlagsberechtigten empfohlen38. Das verwundert, denn dieser Kreis ist nicht geschlossen. Jeder kann Vorschläge machen. Sollten allerdings Vorschläge gemeint sein, welche die Wahlorgane in irgendeiner Weise binden, steht dem im Falle des Bundestages die Freiheit des Mandats entgegen, im Falle des Bundesrates die auch ihm als einer parlamentarischen Körperschaft zukommende Freiheit der Entschließung. Zweitens: die auf zwölf Jahre begrenzte Dauer der Amtszeit führt – sonstige Gründe für einen Richterwechsel kommen hinzu – zu erheblicher Unbeständigkeit auf der Richterbank. Ich habe sie am 3. Mai 1996 geräumt, von meinen damaligen Senatskollegen war 2002 noch einer im Amt. Die Amtsdauer der Richter des österreichischen Verfassungsgerichtshofs und die des US-Supreme Court ist regelmäßig deutlich länger. In Ländern, die wie die Bundesrepublik keine Wiederwahl bei begrenzter Amtszeit kennen, ist diese wie in Italien, Spanien oder Frankreich mit neun Jahren sogar noch kürzer. Es gilt, die Mitte zu finden zwischen Kontinuität, Verkrustung und Innovationsfähigkeit39, aber auch die physische und geistige Regenerationsfähigkeit der Richter zu berücksichtigen, die nicht nur die Aufgabe eines arbeitsintensiven Amtes zu bewältigen, sondern sich auch wissenschaftlich und politisch auf dem Laufenden zu halten haben. Meine Erfahrung zeigt mir: man mag im Amt des Bundesverfassungsrichters auch fünfzehn Jahre durchstehen, aber zwölf sind auch genug. Allerdings sollten die Wahlorgane davon Abstand nehmen, Richter zu wählen, die älter sind als 56 Jahre, da sie dann wegen der Altersgrenze von 68 Jahren nicht einmal die ihnen vom Gesetz zugestandene Amtsdauer erreichen. Man hat, dafür spricht einiges, gemeint, ein Richter des Bundesverfassungsgerichts solle kein anderes politisches Amt mehr übernehmen dürfen. Dazu sage ich: auf den Bundespräsidenten Roman Herzog hätte ich nur ungern verzichtet. „Letzten Endes aber meine ich doch“ (so lautet bekanntlich der Titel des 2. Bandes von Theodor Eschenburgs Memoiren), einen Änderungsvorschlag ma36

Vgl. Klecatsky (FN 16). Ritterspach u. a. (Hg.), FS G. Müller, 1970, S. 217 (255 f.); siehe ferner: Schreiber, Die Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, 1976, bes. S. 136 ff., der die diskutierten Vorschläge kritisch würdigt; Wenger, Gedanken zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1978, S. 16 ff. 38 Z. B. Stern (FN 28), S. 894. 39 A. Weber, in: Starck/Weber (FN 16), S. 55. 37

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chen zu sollen – ich greife damit auf schon an anderer Stelle Gesagtes und natürlich ungehört Gebliebenes zurück40. Dem Amt des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts – er wird ebenfalls von den Wahlorganen bestimmt (§ 9 BVerfGG) – kam von Beginn an, in jüngerer Zeit aber zunehmend, ein (partei-) politischer Mehr- oder Prestigewert zu, der dem Ansehen des Gerichts nicht dienlich ist, eine Feststellung, die mit der Amtsführung derjenigen, die in Vergangenheit und Gegenwart das Amt des Präsidenten innehatten und -haben, nicht das mindeste zu tun hat. Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit und Repräsentationspflichten sind geeignet, den Präsidenten – er ist nur Vorsitzender seines Senats und außerdem noch Chef der Verwaltung –, unabhängig von seinen eigenen Absichten, in eine Lage zu bringen, die nicht die ihm durch Verfassung und Gesetz zugewiesene ist: die eines Sprechers des Gerichts als solchen in politischen, zumal verfassungspolitischen Zeitfragen. Dem ließe sich leicht abhelfen: durch eine Wahl des Präsidenten und des Vizepräsidenten für eine kurze Amtsperiode durch die Senate aus ihrer Mitte. So verfahren, nicht zu ihrem Schaden, etwa Italien, Spanien und Portugal, so auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof.

40 H. H. Klein, Gedanken zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Burmeister u. a. (Hg.), Verfassungsstaatlichkeit, FS K. Stern, 1997, S. 1135 (1151).

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Hans Hugo Klein Leitung: Jutta Limbach Von Stefan Kleb Nach dem Referat von Univ.-Prof. Dr. Hans Hugo Klein über „Verfassungsrichterwahlen. Praxis und Kritik“ merkte Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., an, ob es klug gewesen sei, gerade einem ehemaligen Richter des Bundesverfassungsgerichts dieses Vortragsthema zu geben. Zu den Verfassungsrichterwahlen fiele ihr noch eine Anekdote ein: Sie sei neulich auf eine wütende Postkarte gestoßen, in der ihr ein Bürger, offensichtlich Anhänger der Sozialdemokratie, nach der Serie von Familienurteilen des Bundesverfassungsgerichts bescheinigt habe, daß deutlich erkennbar sei, daß diese Urteile ihre CDU-Handschrift trügen, wo sie doch die sozialdemokratische Regierung in finanzielle Bedrängnis brächten. Univ.-Prof. Dr. Ludwig Adamovich, Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, teilte mit, daß es in Österreich keine Wahl der Verfassungsrichter durch das Parlament gäbe. Es existiere lediglich ein Vorschlagsrecht des Parlaments. Der derzeitige Bestellungsmodus sei ein Produkt der Verfassungsreform von 1929, die eine stark antiparlamentarische Tendenz gehabt habe. Die Gerichte, die sich mit öffentlichem Recht befaßten, sollten entpolitisiert werden. In bezug auf das Verwaltungsgericht sei das auch gelungen, beim Verfassungsgericht dagegen nicht, weil der ursprüngliche Regierungsentwurf nicht durchs Parlament kam. Nach diesem Konzept hätten beide Kammern des Parlaments bei der Wahl gar keine Funktion mehr besessen, nur noch die Regierung, das Verfassungsgericht selbst und die höchsten Gerichtshöfe des Bundes. Was bezüglich des Verfassungsgerichts herausgekommen sei, sei ein Kompromiß gewesen, was auch heute noch deutlich zu sehen sei. Die deutsche Transparenz, die trotz aller Kritik existiere, gäbe es so in Österreich nicht. Die Richtereinsetzung habe früher de facto auf einem „Gentleman’s agreement“ der großen Parteien beruht, auch wenn diese das immer bestritten hätten. Die Existenz dieses „Gentlemans aggreement“ beweise aber der Lärm, den es zwei Mal gegeben hatte, als das agreement nicht eingehalten worden war. Heute gäbe es das agreement aber natürlich nicht mehr. Daß es diese Praxis gab, habe der FPÖ genutzt, weil sie sagen konnte, daß das österreichische Verfassungsgericht nur

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eine Versammlung von Vertretern der ursprünglich über seine Zusammensetzung beschließenden zwei großen Parteien sei. Der „Profil“-Artikel, der erwähnt worden sei, sei durch die spätere Entwicklung, vor allem den Protest der FPÖ gegen das Gericht, den bisherigen Besetzungsmodus und die Angriffe auf die Person des Gerichtspräsidenten inzwischen völlig überholt. Insgesamt betrachtet gäbe es kein perfektes System der Verfassungsrichterbestellung. Man müsse bedenken, daß sobald man zugäbe, daß gerade grundrechtsrelevante Entscheidungen nicht ohne Wertungen getroffen werden könnten, man denen Munition in die Hand gäbe, die simplifizierend behaupteten, daß die Richter sogar selbst zugäben, daß subjektive und persönliche Wertungen ein Rolle spielten. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Limbach bewertete es positiv, daß pro Senat drei Richter von Bundesgerichten rekrutiert werden sollten. Es sollten aber nicht alle aus den Bundesgerichten kommen müssen. Je unterschiedlicher die Senate mit Vertretern verschiedener juristischer Berufe besetzt seien, desto spannender seien die Diskussionen. Auf die Wahlen der Bundesverfassungsrichter versuchten, das solle man ehrlicherweise sagen, im übrigen auch die bereits tätigen Richter Einfluß auszuüben, nicht so sehr in bezug auf eine konkrete Person, aber in bezug auf eine konkrete Funktion. Für die Wahl des Verfassungsgerichtspräsidenten sei es nicht gut, ihn aus der Mitte der Senate zu wählen. Das würde schnell dazu führen, daß man sich die Wahl erspare und immer den ältesten oder sogar den sanftmütigsten wähle. Besser sei es, den Präsidenten von außen wählen zu lassen. Em. o. Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Georg Ress, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, merkte an, daß es am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch die Möglichkeit der Wiederwahl gäbe. Das solle aber abgeschafft – und auch in Straßburg eine Amtszeit von 9–10 Jahren eingeführt werden. Daß diese u. U. durch die Altersgrenze verkürzt werde, müsse man hinnehmen, wenn man auf die Erfahrung der älteren Richter nicht verzichten wolle. Mit der Wahl des Gerichtspräsidenten, des Vizepräsidenten und der Kammerpräsidenten durch die Richter selbst habe man gute Erfahrungen gemacht. Da habe sich am Ende doch immer ein breiter Konsens gebildet. Es sei auch für den Funktionsträger dann gut, wenn er wüßte, daß er vom Plenum des Gerichts gewählt worden sei. Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek, Vizepräsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, meinte zur Äußerung Adamovichs, daß das „Profil“-Zitat sehr wohl im wesentlichen noch Gültigkeit besitze. Es gäbe zwar rein rechnerisch eine 7:6-Mehrheit für die Sozialdemokraten, aber es habe viele Entscheidungen gegeben, die von den Sozialdemokraten scharf kritisiert worden seien. So habe die FPÖ aufgrund einer Entscheidung des Gerichts einen großen Betrag aus der Wahlkampfkostenerstattung erhalten, was von den Roten und den Schwarzen sehr kritisiert worden sei. Die Objektivität des Richters sei das Ent-

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scheidende. Und auch die Pluralität auf der Richterbank sei sehr wichtig. In Österreich könnten auch praktizierende Rechtsanwälte richten, die seien allerdings oft befangen, weswegen man die Ersatzmitglieder brauche. Die stärkste Polarisierung zwischen den Mitgliedern sei die methodische zwischen den Zivilisten und den Öffentlich-Rechtlern. In Österreich fehle es ein wenig an der notwendigen Sensibilität für politische Auswirkungen von Entscheidungen. Noch eine Bemerkung: Der Bundespräsident habe früher aus einem Dreiervorschlag der Parlamente die Richter gewählt. Einmal habe er sich über die Wünsche des Parlaments hinweggesetzt und den Drittplatzierten genommen, daraufhin sei ihm durch Verfassungsänderung das Wahlrecht genommen worden. Auch die Parlamente dürften jetzt nur noch einen vorschlagen. Eigentlich könne der Bundespräsident heute diesen Vorschlag ganz ablehnen – was allerdings wohl zu einer Staatskrise führen würde. Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten unterstützte das Vorbringen einiger Diskussionsteilnehmer, daß die Pluralität auf der Richterbank sehr wichtig sei. Deshalb sei es nicht gut, Bundesverfassungsrichter nur aus dem Kreis der Bundesrichter zu nehmen. Auch die Wahl des Gerichtspräsidenten aus dem Kreise der Verfassungsrichter sei problematisch. Man sehe das auch an der Wahl von Rektoren und Dekanen in den Universitäten. Das führe häufig dazu, daß man sich auf formale Verfahren einige, um einen Krieg aller gegen alle zu vermeiden, häufig auf das Anciennitätsprinzip, was auch in Speyer praktiziert werde. Zur Wiederwahlmöglichkeit: Das sei in der Tat problematisch, wenn es um wichtige Entscheidungen gehe, die durch hauptamtliche Richter gefällt würden. Dann müsse aus persönlichen und sachlichen Gründen eine Wiederwahl ausgeschlossen sein. Bei den Landesverfassungsgerichten gäbe es teilweise auch die Möglichkeit der Wiederwahl, aber da seien die Richter ja häufig nur ehrenamtlich und nicht ständig tätig. Für die Bundesverfassungsrichter halte er daran fest, daß die zwölfjährige Wahlperiode zu kurz sei, jedenfalls wenn sie mit einer Altergrenze von 40 Jahren gekoppelt sei. Aus rechtsstaatlichen Gründen sei es sinnvoll, die Wahlperiode zu verlängern. Es stünde zu befürchten, daß jemand, der nach zwölf Jahren mit 52 aus dem Gericht ausscheide, während seiner Amtszeit nicht die notwendige Unabhängigkeit besitze. Vor der Vergreisung schützten dann Altersgrenzen. Univ.-Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, meinte zu Klein, daß die Wahl von Bundesrichtern ja selbst schon Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen eines Verwaltungs- und eines Oberverwaltungsgerichts in Schleswig-Holstein gewesen sei und fragte ihn nach seiner Auffassung zu diesem Fall, auch vor dem Hintergrund einer möglichen Parallele zu den Bundesverfassungsrichterwahlen. Frau Limbach ergänzte, daß die Amtsperiode der deutschen Verfassungsrichter nicht zu kurz sei. Im Ausland betrage sie im Durchschnitt ungefähr neun Jahre.

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Im Bundesverfassungsgericht würde sehr hart gearbeitet. Irgendwann lebe man dann von der Substanz. Es habe seinen guten Sinn, daß die Demokratie Ämter auf Zeit vergebe. Man würde auch darauf achten, daß die Gefahr des sich Orientierens an späteren Beschäftigungsmöglichkeiten auch durch ein nicht zu niedriges Eintrittsalter gering gehalten würde. Allerdings sei ihr Senat jetzt schon sehr jugendlich mit drei Richtern unter 50, dadurch verändere sich der Wahrnehmungshorizont, was sie als sehr angenehm empfände. Ihr seien Beispiele aus den USA bekannt, wo man sehr bedauere, daß es keine Altersbegrenzung gäbe. Em. Univ.-Prof. Dr. Gerd Roellecke, Karlsruhe, erinnerte daran, daß aufgrund des scharfen Konflikts zwischen Roosevelt und dem Supreme Court in den USA angesichts der Politik des „New Deal“ in den USA der gesamte Spruchkörper des Supreme Court ausgewechselt worden sei und fragte, ob ein solcher Konflikt auch in Deutschland vorstellbar sei und wie er wohl gelöst würde. Klein meinte zur Frage, wie der Präsident zu wählen sei, daß die Diskussion gezeigt habe, daß es offenbar verschiedene Auffassungen darüber gäbe, ob dieser besser durch die Richter selbst gewählt oder von außen eingesetzt werden solle. Zur Dauer des Richteramts wolle er anmerken, daß er beim Eintritt in das Bundesverfassungsgericht gemeint habe, daß zwölf Jahre viel zu kurz seien. Als er dann gegangen sei, habe er die Zeit aber als ausreichend empfunden. Neun Jahre empfände er allerdings als zu kurz. Zu Roellecke wolle er bemerken, daß aufgrund der unterschiedlichen Einstellungszeitpunkte der Richter die Zusammensetzung der Senate sich sehr schnell grundlegend ändern könne, z. B. seien die Richter des 2. Senats in den letzten 7 Jahren vollständig ausgetauscht worden. Eine Entwicklung wie beim Supreme Court, wo die Richter auf Lebenszeit ernannt würden, sei in Deutschland daher sicher nicht denkbar. Zu von Arnim meinte Klein, daß er die Vorgänge als skandalös empfinde, allerdings nicht nur das Verhalten des Wahlorgans, sondern vor allem die Kommentierung der gerichtlichen Entscheidung durch Verantwortliche innerhalb des Wahlorgans. Es sei auch nicht befriedigend, daß nun der alte Kandidat, der wegen der Konkurrentenklage nicht habe ernannt werden können, wieder gewählt worden sei. Es wäre dem damaligen Konkurrentenkläger zu raten, jetzt erneut Konkurrentenklage zu erheben. Er halte aber auch nichts davon, die Wahlorgane an die Beurteilung durch die obersten Bundesgerichte zu binden. Es gäbe viele Beispiele, in denen der Wahlausschuß sich über Empfehlungen hinweggesetzt habe, trotzdem aber gute Richter gewählt worden seien. Auch die Mitglieder der Präsidien der beurteilenden Gerichte seien natürlich nicht frei von gewissen Sympathien oder Antipathien. Adamovich meinte noch einmal zum „Profil“-Artikel, daß man es den Entscheidungen vielleicht nicht anmerke, daß aber immer noch getrommelt werde, daß der Gerichtshof die 5. Kolonne der Opposition sei. Von gewisser Seite

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werde dem Gerichtshof vorgeworfen, daß die feingliedrige juristische Argumentation in den Entscheidungen in Wahrheit nur vorgeschoben sei, weil man ein gewisses politisches Ziele erreichen wolle. Es sei schwierig, sich gegen solche Vorwürfe zur Wehr zu setzen. Klein merkte noch einmal zu Roellecke an, daß ein Konflikt zwischen Regierung und Verfassungsgericht wohl momentan nicht in der Luft läge, obwohl es nicht das erste Mal wäre, daß es zu einem solchen Konflikt kommen würde. Die Konfliktsituationen 1953, 1961, 1973 und 1995 seien bereinigt worden. Es habe sich schon eine politische Kultur im Umgang mit unbequemen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts herausgebildet. Eine schwer lösbare Konfliktsituation sähe er momentan am ehesten bei finanzwirksamen Entscheidungen des Gerichts. Finanzwirksame Entscheidungen des Gerichts habe er immer mit einem gewissen Unbehagen verfolgt. Das Budgetrecht des Parlaments würde dadurch eingeschränkt. Das Verfassungsgericht sollte Auswirkungen seiner Entscheidungen auf das Budgetrecht des Parlaments entschärfen. Sicherlich würde es aber weiterhin solche Entscheidungen geben. Dr. Evelyn Haas, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, sagte zur Bindungswirkung der Empfehlung des Präsidialrats eines Bundesgerichts, daß dort nicht nur Sympathien und Antipathien eine Rolle spielten, es handele sich auch nur um ein halbstündiges Gespräch. Da könne man sich nur ganz beschränkt ein Bild von dem Kandidaten machen. Dennoch müsse man sagen: Wenn schon die Papiere des Kandidaten den Anforderungen nicht genügten und der Präsidialrat auch zur Ungeeignetheit käme, dann habe man eine ganze Anzahl von Beurteilungen, die in dieselbe Richtung gingen. Für einen solchen Fall sollte geregelt werden, daß man die Empfehlung des Bundesgerichts nicht mehr übergehen könne. Anders sei es, wenn die schriftliche Beurteilung sehr gut sei, aber gleichwohl die Beurteilung des Präsidialrats davon sehr stark divergiere. Dann würde man sicherlich sagen können, daß ein halbstündiges Gespräch mit dem Kandidaten keine geeignete Beurteilungsgrundlage sein könne, um die schriftlichen Beurteilungen, die auf der Einschätzung der jahrelangen Arbeit des Kandidaten beruhten, zu entwerten. Hier müßte man eine differenzierte Lösung, möglicherweise in einem Gesetz treffen. Korinek meinte zu Roellecke für die österreichische Situation, daß scharfe Konflikte wohl kaum durch ein einziges Urteil ausgelöst werden könnten, sondern eher bei grundlegenden Fragen, wie Aufhebung des Sozialstaats, Gefährdung einer Budgetkonsolidierung usw. Dann könne es schon sein, daß die Regierung reagiere und man ein völlig neues Gericht schaffen müsse. das wäre die einzige Möglichkeit, die amtierenden Richter vorzeitig zu entlassen. Das würde der Verfassungsgerichtshof aber wohl nicht akzeptieren – und diese Verfassungsbestimmung als gesamt ändernd aufheben würde. Dann käme es zu einer Volksabstimmung. Im österreichischen System könne es dann zu einem großen

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Konflikt zwischen Gericht und Regierung kommen, der mit einer Volksabstimmung enden würde. Das sei ein ganz anderes System als das deutsche, weil man in Österreich die meisten Bestimmungen der Verfassung, auch Grundsätze, durch Volksabstimmung ändern könne. Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, meinte, daß latente Konflikte zwischen Regierung und Verfassungsgericht in Deutschland nicht nach dem Modell der amerikanischen Ereignisse der dreißiger Jahre gelöst werden würden. Durch die Notwendigkeit einer 2/3-Mehrheit im Parlament für Verfassungsänderungen und das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat bei der Verfassungsrichterwahl sei eine solche Entwicklung schwer vorstellbar. Er sehe in bezug auf die Verfassungsrichterwahlen vor allem ein Manko: Es fehlten gesetzliche Regelungen über eine geordnete Ergänzung der Senate, die durch das Zusammenspiel von zwölfjähriger Wahlperiode und Altersgrenze nicht gegeben sei. So habe innerhalb der letzten vier Jahre die Hälfte des Senats gewechselt und in einigen Jahren wechselte dann die zweite Hälfte. An dieses Problem habe man wohl bei Verabschiedung des Gesetzes nicht gedacht. Frau Limbach stimmte Papier zu: Wegen der andersartigen Richterwahl, insbesondere dem Erfordernis der 2/3-Mehrheit, seien amerikanische Verhältnisse in Deutschland nicht vorstellbar. In Deutschland werde die Kontrolle über das Verfassungsgericht vor allem durch die Öffentlichkeit ausgeübt. Das sei auch 1995/96 so gewesen, als die Öffentlichkeit Kritik an der Entscheidung durch Politiker hingenommen habe, aber gleichzeitig davor gewarnt worden sei, das Bundesverfassungsgericht demontieren zu wollen. Damit schloß Frau Limbach die Diskussion.

Wechselwirkungen zwischen österreichischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung* Von Michael Holoubek I. Einleitung Wenn der wissenschaftliche Leiter dieser Tagung für einen Vortrag über „Wechselwirkungen zwischen österreichischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung“ kein Mitglied eines der beiden Verfassungsgerichte, sondern einen schlichten Hochschullehrer ausgewählt hat, so hat er damit eine wesentliche Weichenstellung für die Behandlung des Themas vorgenommen: Ich kann natürlich nicht darüber berichten, wie sich der Informationsaustausch zwischen Karlsruhe und Wien anläßlich der regelmäßig stattfindenden wechselseitigen Besuche oder der Informationsfluß am Rande der Tagungen der europäischen Verfassungsgerichte in der Rechtsprechung der beiden Höchstgerichte niederschlägt. Ich kann nur vermuten, daß dies ein ganz wesentlicher Ort des Dialogs zwischen diesen beiden Verfassungsgerichten ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß dieser Dialog insoweit hinter verschlossenen Türen stattfindet. Die Blicke, die ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter im österreichischen Verfassungsgerichtshof durch das Schlüsselloch dieser Türen werfen durfte, bestärken mich freilich in der Vermutung, daß über die genannten institutionalisierten Formen des Gedankenaustausches zwischen den Verfassungsgerichten hinaus auch

* Der Beitrag wurde im Herbst 2002 abgeschlossen. Zwischenzeitig ist zu ergänzen: Das BVerfG hat in E 116, 135 (150) im Zusammenhang mit Fragen eines gleichheitsrechtlich gebotenen Primärrechtsschutzes im Vergaberecht auch unterhalb der gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Schwellenwerte ausdrücklich auf den VfGH (VfSlg 16.027/2000) Bezug genommen, in der Sache aber gerade anders als der VfGH entschieden. In BVerfG (Kammer) VIZ 2003, S. 280 f. hat das BVerfG eine Auslegung des zuständigen Fachgerichtes als nicht denkunmöglich bestätigt, indem dieses seine Entscheidung entgegen einer völkerrechtlichen Auslegung des Globalentschädigungsabkommens Österreich–DDR durch den VfGH vorgenommen hatte. Der VfGH nimmt in VfSlg 16.928/2003 auf BVerfGE 108, 82 im Zusammenhang mit Fragen der Aktivlegitimation des Kindes bei der Bestreitung der Vaterschaft und Art. 8 EMRK Bezug, sowie in VfSlg 17.600/2005 im Zusammenhang mit Fragen des Versammlungsbegriffs auf BVerfGE 104, 92. Verfahrensparteien vor dem VfGH stützten sich des öfteren auf Entscheidungen des BVerfG, um ihrer Argumentation mehr Gewicht zu verleihen (beispielsweise VfSlg 16.636/2002, 17.330/2004, 17.340/2004, 17.206/2004, 17.605/ 2005, 17.584/2005; VfGH 12.1.2006, B 551/06; 12.10.2006, B 771/06; 29.11.2006, B 525/06).

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sonst eine Reihe von informellen Kontakten vorhanden sind, die auch durchaus genutzt werden. Aber nicht Vermutungen sind hier meine Aufgabe, sondern der Versuch, als außenstehender Beobachter anhand der veröffentlichten Entscheidungen der beiden Verfassungsgerichte Wechselwirkungen in der Rechtsprechung nachzuspüren. Das legt es in einem ersten Schritt nahe, nach eindeutig nachweisbaren Bezugnahmen in der Form wechselseitiger Zitate zu suchen. II. Unmittelbar nachweisbare Wechselwirkungen 1. Österreichischer Verfassungsgerichtshof zitiert deutsches Bundesverfassungsgericht

Beurteilt man den Dialog der beiden Verfassungsgerichte anhand der wechselseitigen Zitate, dann hält sich die Kommunikation, und zwar auf beiden Seiten, in Grenzen. Der österreichische Verfassungsgerichtshof zitiert, jedenfalls seit 19801, das deutsche Bundesverfassungsgericht gerade fünf Mal2: Einmal davon zählt freilich nicht wirklich, weil der Verfassungsgerichtshof hier nicht selbst auf das Bundesverfassungsgericht Bezug nimmt, sondern nur ein im Verfahren vom Verfassungsgerichtshof selbst in Auftrag gegebenes Gutachten des Max Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg wiedergibt, das im Zuge einer europäischen Rechtsvergleichung auch auf das Bundesverfassungsgericht Bezug nimmt3. In zwei Fällen beruft sich der Verfassungsgerichtshof auf das Bundesverfassungsgericht als Steuerexperte: In einem Fall ging es um die Frage, ob der Gesetzgeber das Institut des Verlustvortrags nur jenen Einkommensteuerpflichtigen zukommen lassen darf, die ihren Gewinn durch Vermögensvergleich – und nicht durch Einnahmen/Ausgabenrechnung – ermitteln. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Frage aus einer Reihe von Gründen bejaht, unter anderem, weil dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht zukommt: Ist ein Einnahmen-/Ausgabenrechner der Auffassung, daß für ihn eine Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich gesamthaft günstiger ist, hat er die Wahl, zu diesem System der Gewinnermittlung überzugehen4. Davon, so das Zitat des Verfassungsgerichtshofs, „ist auch das deutsche Bundesverfassungsgericht“ zur vergleichbaren deutschen einkommensteuerrechtlichen Bestimmung „ausgegangen“. Der Verfassungsge1 Das Rechtsinformationssystem des Bundes enthält eine umfassende elektronische Dokumentation aller Entscheidungen des VfGH ab 1980 (www.ris.bka.gv.at). 2 VfSlg 10.029/1984; 10.291/1984; 11.260/1987; 13.038/1992; 14.390/1995. 3 VfSlg 10.291/1984. 4 So VfSlg 11.260/1987.

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richtshof zieht also das Bundesverfassungsgericht als Autorität dafür heran, daß ein wirtschaftliches Argument für die Sachlichkeit der Beschränkung des Verlustvortrags das Wahlrecht des Steuerpflichtigen ist. Im zweiten Fall – es ging um die Frage, ob der Gesetzgeber im Steuerrecht eine wesentliche, also 25 v. H. übersteigende Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft wirtschaftlich einer Mitunternehmerschaft bei einer Personengesellschaft gleichhalten darf – hat der Verfassungsgerichtshof eine Entscheidung des Bundesverfassungsgericht sozusagen als „Beweis“ dafür ins Treffen geführt, daß der mit einer solchen wesentlichen Beteiligung verbundene Einfluß auf die Geschäftsführung des Unternehmens in einem zureichenden sachlichen Zusammenhang mit der für die Besteuerung ausschlaggebenden Möglichkeit steht, den Wert des Anteils über den Nennwert und die früheren Anschaffungskosten hinaus zu erhöhen5. In diesen beiden Fällen geht es also um Detailfragen einer gleichheitsrechtlichen Argumentation, in denen auf eine Begründung des Bundesverfassungsgerichts mit gleichen Sachargumenten Bezug genommen wird. Den beiden anderen Fällen liegen jeweils Konstellationen zu Grunde, in denen beide Verfassungsgerichte dieselbe Verfassungsrechtsfrage zu beurteilen hatten: einmal die Frage nach der Verfassungskonformität eines Nachtarbeitsverbots für Frauen6 und im anderen Fall die Frage, ob im Sinne des Art. 83 Abs. 2 österreichisches B-VG beziehungsweise im Sinne des Art. 101 Abs. 1 GG der EuGH als „gesetzlicher Richter“ der jeweiligen nationalen Verfassung anzusehen ist7. Im Fall des Nachtarbeitsverbots begründet der Verfassungsgerichtshof durchaus eingehend, warum er zu einer anderen Auffassung als das Bundesverfassungsgericht gelangt. Ich komme darauf noch einmal zurück8. In der Frage der Qualifikation des EuGH als gesetzlicher Richter kommt der Verfassungsgerichtshof zum selben Ergebnis wie das Bundesverfassungsgericht. Die Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgt freilich in einem ganz spezifischen Zusammenhang: Der Verfassungsgerichtshof spricht nicht davon, daß für die zu beantwortende Auslegungsfrage Art. 83 Abs. 2 B-VG beziehungsweise Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG den gleichen Inhalt haben; das Bundesverfassungsgericht wird nicht mit seiner Auslegung des Art. 101 Abs. 1 GG angeführt, sondern für ein bestimmtes Verständnis der gemeinschaftsvertraglichen Regelung über das Vorabentscheidungsverfahren: In dem durch dieses Verfahren gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen „dualistischen Rechtsschutzsystem“ wirkt, so der Verfassungsgerichtshof, „der EuGH in spezi5 6 7 8

VfSlg 10.029/1984. VfSlg 13.038/1992. VfSlg 14.390/1995; vgl. in der Folge auch VfSlg 14.607/1996; 14.889/1997. Siehe unten bei FN 34.

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fischer Form an der innerstaatlichen Entscheidung mit, was in der Literatur9 und Judikatur10 bisweilen als Zusammenarbeit der Gerichte, bisweilen“ – und dafür erfolgt jetzt die Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht – „als Aufgabenteilung zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH bezeichnet wird“11. Auch wenn es der Verfassungsgerichtshof nicht deutlich macht: Es steht außer Zweifel, daß er die mit dem Kloppenburg-Beschluß12 beginnende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts13 bei seiner Begründung, warum der EuGH gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 83 Abs. 2 der österreichischen Bundesverfassung ist, vor Augen hatte. Daß er sich nicht direkt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Kern der Auslegungsfrage beruft, hat freilich einen guten Grund: Anders als das Bundesverfassungsgericht geht der österreichische Verfassungsgerichtshof nämlich von einer „Feinprüfung“, also in seinen Worten davon aus, daß „nicht nur die grobe, sondern jede Verletzung der Vorlagepflicht“ durch das vorlagepflichtige Gericht im Sinne des Art. 234 EGV eine Verfassungsverletzung darstellt14. Demgegenüber beschränkt das Bundesverfassungsgericht seinen Kontrollmaßstab auf die Frage, ob die Nichtvorlage „offensichtlich unhaltbar“ ist, also auf Willkür beruht15. Im Ergebnis macht das einen entscheidenden Unterschied: Während der österreichische Verfassungsgerichtshof damit letztlich immer selbst über die Vorlage entscheidet, prüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkannt hat, wenn es bewußt von der Rechtsprechung des EuGH ohne vorzulegen abweicht oder, wenn die Auslegungsfrage in der Rechtsprechung des EuGH noch offen ist und das Gericht den ihm dann zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn mögliche Gegenauf9 Der VfGH verweist auf B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/J. Streil (Hg.), Die Europäische Union, 52001, S. 252, sowie Borchardt in: Lenz (Hg.), EG-Vertrag, 1994, Art. 177 RN 17. 10 Der EuGH betont immer wieder die Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten als den mit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts betrauten Gerichten. So EuGH, Urt. v. 27.5.1977, Rs. 107/76 (Hoffmann ./. La Roche), Slg. 1977, 957; Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-337/95 (Parfums Christian Dior), Slg. 1997, I-6013; jüngst Urt. v. 4.6.2002, Rs. C-99/00 (Kenny Roland Lyckeskog ./. Åklagarkammaren i Uddevalla). 11 So VfSlg 14.390/1995, S. 948; der VfGH beruft sich hier insbes. auf BVerfGE 82, 159 (192). 12 BVerfGE 75, 223. 13 Siehe weiters BVerfGE 82, 159; BVerfG 2 BvR 557/88 v. 22.12.1992; 1 BvR 1036/99 v. 9.1.2001. 14 Dies hat der VfGH in VfSlg 14.889/1997 in Konkretisierung seiner Leitentscheidung VfSlg 14.390/1995 ausdrücklich klargestellt. 15 Vgl. zuletzt BVerfG 1 BvR 1036/99 v. 9.1.2001 und dazu Voßkuhle, Zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Pflicht der Fachgerichte, Rechtsfragen dem EuGH vorzulegen, JZ 2001, S. 925.

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fassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind. In dieser zuletzt genannten Fallkonstellation hat das Bundesverfassungsgericht freilich in seiner jüngsten Rechtsprechung den Kontrollmaßstab bekanntlich insoweit ein bißchen enger gezogen, als es nicht inhaltlich das Ergebnis der Rechtsauffassung des vorlagepflichtigen Gerichts überprüft, sondern einen prozeduralen Kontrollmaßstab anwendet: Wenn das Gericht auf die gemeinschaftsrechtliche Frage gar nicht eingeht, sich also, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert, „hinsichtlich des europäischen Rechts nicht ausreichend kundig macht,“ verletzt es Art. 101 Abs. 1 GG, egal, ob das Ergebnis aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht vertretbar ist oder nicht16. 2. Deutsches Bundesverfassungsgericht zitiert österreichischen Verfassungsgerichtshof

Wie sieht nun die Bezugnahme in die andere Richtung aus? Das Bundesverfassungsgericht verweist, soweit zu sehen, in vier Fällen auf den österreichischen Verfassungsgerichtshof. Einmal davon allerdings nur in einem Sondervotum, wenn auch in einem berühmten, nämlich in der abweichenden Meinung von Brünneck/Simon zum ersten Abtreibungsurteil17. Zum einen wird dort der Verfassungsgerichtshof als Beleg für eine bestimmte Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention angeführt, nämlich dafür, daß eine Fristenlösung mit dem in Art. 2 Abs. 1 EMRK garantierten Recht auf Leben vereinbar ist. Zum Zweiten bezieht sich das Sondervotum auf den Verfassungsgerichtshof, um seine Auffassung zu untermauern, daß der biologische Entwicklungsprozeß der Leibesfrucht es wenigstens zuläßt, bei der rechtlichen Beurteilung zeitliche, dieser Entwicklung entsprechende Zäsuren zu berücksichtigen. Die Bezugnahme auf den Verfassungsgerichtshof steht in diesem Sondervotum nicht isoliert, die dissentierenden Richter bemühen sich um einen umfassenderen Rechtsvergleich, beziehen sich auch auf den Supreme Court der Vereinigten Staaten und darüber hinaus auf die Rechtslage in einer Reihe europäischer Staaten. Das Bundesverfassungsgericht selbst bezieht sich damit drei Mal auf den österreichischen Verfassungsgerichtshof: Das erste Mal schon 1969 und hier wiederum in einem steuerrechtlichen Zusammenhang. Die beiden Verfassungsgerichte neigen also offenbar dazu, sich wechselseitig Steuerberatung zu holen. Im konkreten Verfahren18 ging es um die Frage, ob der Gesetzgeber ein Grundstück, das ein Gesellschafter seiner Personengesellschaft mietweise überläßt, für die Zwecke der Veranlagung zur Einkommensteuer dem Betriebsvermögen zu16 17 18

Siehe BVerfG 1 BvR 1036/99 v. 9.1.2001. BVerfGE 39, 1. BVerfGE 26, 327.

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rechnen darf. Das Bundesverfassungsgericht hatte an der Regelung unter anderem mit folgendem Argument gleichheitsrechtlich nichts zu beanstanden: Die Differenzierung, ob die Grundstücksüberlassung durch einen Gesellschafter oder einen gesellschaftsfremden Dritten erfolgt, ließe sich sachlich rechtfertigen. Denn, so das Bundesverfassungsgericht, der Mitunternehmer behält dadurch die Kontrolle über sein Grundstück, die Überlassung des Grundstücks stärkt seine Stellung in der Gesellschaft, während dem fremden Grundstückseigentümer bei Überlassung des Grundstücks eine vergleichbare Position nicht zukomme. Als Beleg für diese wirtschaftlichen Zusammenhänge beruft sich nun das Bundesverfassungsgericht auf den österreichischen Verfassungsgerichtshof, der die gleiche verfassungsrechtliche Frage vier Jahre vorher mit demselben Argument genauso beantwortet hat19. 1996 stellte sich dem zweiten Senat die Frage, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts besteht, nach der Ansprüche aus innerstaatlichem Recht, die auf Kriegsereignissen beruhen, nicht individuell durchsetzbar sind, sondern auf zwischenstaatlicher Ebene geltend gemacht werden können20. Zum Beleg der Annahme, daß der Staatenpraxis die Unterscheidung zwischen staatlichen und individuellen Ansprüchen bei Entschädigungsregelungen im Zusammenhang mit Kriegsfolgen immer bewußt gewesen ist und daher keine Regel des Völkergewohnheitsrechts existiert, derzufolge Individualentschädigungen allein völkervertragsrechtlich geregelt werden können, untersucht das Bundesverfassungsgericht die einschlägige Praxis seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Dabei kommt es schließlich auch zu Art. 7 des Vertrages der damaligen DDR mit Österreich vom 21. August 1987 und verweist dazu auf ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshof, der ausdrücklich feststellt, daß dieser Art. 7 nur einen Interventionsverzicht der Republik Österreich enthält, Österreich damit aber nicht namens seiner Staatsbürger auf irgendwelche Rechte verzichtet hat, es diesen also nach wie vor freisteht, allfällige Ansprüche nach deutschem Recht geltend zu machen21. Die jüngste und daher wohl auch bekannteste Bezugnahme findet sich schließlich im Urteil des ersten Senats vom Jänner 2002 zum Schächten22. Auch hier beruft sich das Bundesverfassungsgericht aber nicht im Zusammenhang mit der grundrechtlichen Auslegungsfrage auf den Verfassungsgerichtshof, sondern zieht ihn gleichsam als Islamexperten heran. Das Bundesverfassungsgericht geht im Anschluß an eine Stellungnahme des Zentralrats der Muslime in Deutschland davon aus, daß nach den Regeln des Islam das Schächten so vorgenommen werden muß, daß der Tod des zu schlachtenden Tieres so schnell 19 20 21 22

VfSlg 5116/1965. BVerfGE 94, 315. VfSlg 13.130/1992. BVerfGE 104, 337.

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wie möglich herbeigeführt wird und dessen Leiden unter Vermeidung jeder Art von Tierquälerei auf ein Minimum beschränkt wird. Zum Beleg dieser These verweist das Bundesverfassungsgericht auf den Verfassungsgerichtshof. Dieser ist unter Berufung auf Literaturstellen23 davon ausgegangen, daß das Schächten nach islamischem Ritus „auf die bestmögliche Vermeidung von Schmerzen, Leiden und Angst bei den zu schlachtenden Tieren höchsten Wert legt“24. 3. Vergleichende Analyse

Versucht man zu systematisieren, zu welchen Zwecken die beiden Verfassungsgerichte sich wechselseitig aufeinander berufen, so zeigt sich folgendes Bild: Im Vordergrund steht die Heranziehung der Judikatur des jeweils anderen Höchstgerichts als Sachexpertise; beide Höchstgerichte benützen das jeweils andere zur Verifizierung von Sachverhalten, um jeweils ihre verfassungsrechtliche Beurteilung darauf abstellender rechtlicher Einordnungen abzustützen. Die Beispiele liegen in der Feststellung wirtschaftlicher Sachverhalte und der daran anknüpfenden steuerrechtlichen Konsequenzen25 sowie im Zusammenhang mit der Beschreibung des Schächtens in der Feststellung des Inhalts islamischer Glaubensriten26. In zwei Fällen – Ermittlung der Staatenpraxis im Beschluß des Bundesverfassungsgericht über die jüdischen Zwangsarbeiter27 und im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshof zum österreichischen Vorbehalt zu Art. 5 EMRK28 – sowie im Sondervotum zum ersten Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgericht29 erfolgt die Bezugnahme in einem rechtsvergleichenden Kontext zur Ermittlung eines völkerrechtlichen oder gemeineuropäischen Standards. Ähnlich gelagert ist die Bezugnahme des Verfassungsgerichtshof auf das Bundesverfassungsgericht zur Qualifikation des mit dem Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV errichteten dualen Rechtsschutzsystems als „Aufgabenteilung“ zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten30. Unmittelbar im Zusammenhang mit der Auslegung der jeweils eigenen Verfassungsnormen erfolgt die rechtsvergleichende Bezugnahme demgegenüber

23 Der österreichische VfGH zitiert Budischowsky, Die staatskirchenrechtliche Stellung der österreichischen Israeliten, 1995, S. 98 f., sowie Schwaighofer, Tierquälerei im Strafrecht, in: F. Harrer/G. Graf (Hg.), Tierschutz und Recht, 1994, S. 147 (157). 24 VfSlg 15.394/1998. 25 Siehe BVerfGE 26, 327 einer- und VfSlg 5116/1965 andererseits. 26 BVerfGE 104, 337. 27 BVerfGE 94, 315. 28 VfSlg 13.130/1992. 29 BVerfGE 39, 1. 30 VfSlg 14.390/1995 und BVerfGE 82, 159.

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überhaupt nur in einem einzigen Fall: im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshof zum Nachtarbeitsverbot für Frauen31. Beide Verfassungsgerichte hatten die Frage zu beurteilen, ob im Interesse des Schutzes von Frauen vor Doppelbelastung ein gesetzliches Nachtarbeitsverbot mit dem verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbot zwischen Mann und Frau des Art. 3 Abs. 3 GG beziehungsweise des Art. 7 Abs. 1 B-VG vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht stellte einen Verstoß gegen dieses Diskriminierungsverbot fest32: Der Gesetzgeber dürfe nicht an einer geschlechterspezifischen Differenzierung, sondern müsse am Tatbestand der Doppelbelastung selbst – der etwa auch allein erziehende Männer trifft – anknüpfen. In den Worten des Bundesverfassungsgericht: „Dem nicht zu leugnenden Schutzbedürfnis für Nachtarbeiterinnen und Nachtarbeiter, die zugleich Kinder zu betreuen und einen Mehrpersonenhaushalt zu führen haben, kann sachgerechter durch Regelungen Rechnung getragen werden, die an diesem Tatbestand anknüpfen.“33

Der österreichische Verfassungsgerichtshof kommt zum gegenteiligen Ergebnis34. Wieder in den Worten des Verfassungsgerichts selbst: „Der Gerichtshof kann dem Gesetzgeber daher nicht entgegentreten, wenn er bei Abwägung der mit der Maßnahme verbundenen Vor- und Nachteile annimmt, daß ein wirksamer Schutz vor jenem besonderen Druck auf Frauen zur Übernahme von Nachtarbeit – wie auch sonst häufig im Arbeitsrecht – nur durch ein generelles Verbot der Beschäftigung von Frauen in der Nacht gewährleistet ist, und dabei jenen, die dieses Schutzes auf Grund ihrer günstigeren Lage nicht (mehr) bedürfen, zumutet, in Solidarität mit den Schutzbedürftigen auf Nachtarbeit zu verzichten35.“

Die divergierenden Entscheidungen beruhen erkennbar auf einer unterschiedlichen Auffassung über den normativen Inhalt des geschlechterspezifischen Diskriminierungsverbots. Der österreichische Verfassungsgerichtshof spricht diese Auslegungsdifferenz auch offen an und bringt sie auf den Punkt: Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, so führt der Verfassungsgerichtshof aus, verneine die Gefahr der Doppelbelastung nicht; es meine nur, „daß dem Schutzbedürfnis für doppelt belastete Frauen und Männer „sachgerechter durch Regelungen Rechnung getragen werden (könne), die an diesen Tatbestand anknüpfen36.“ Demgegenüber hält es der Verfassungsgerichtshof für die Aufgabe des Gesetzgebers, abzuwägen, ob er den für (noch) erforderlich gehaltenen Schutz gewährt und damit indirekt – wie etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht

31 32 33 34 35 36

VfSlg 13.038/1992. BVerfGE 85, 191. BVerfGE 85, 191, (209). VfSlg 13.038/1992. VfSlg 13.038/1992, (452). Siehe dazu die Ausführungen in BVerfGE 85, 191 (209).

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befürchtet37 – „die überkommene Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern verfestigt“, oder die Angleichung der Lebensverhältnisse von Frauen und Männern auf Kosten eines verläßlichen Schutzes der gegenwärtig Betroffenen für die Zukunft vorantreibt38.“ Hier fungiert die Rechtsvergleichung tatsächlich im Sinne von Peter Häberle als „fünfte Auslegungsmethode“39. Die aus dem jeweiligen nationalen verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbot abgeleiteten Normgehalte werden unmittelbar zueinander in Beziehung gesetzt. Eine solche Vorgangsweise ist allerdings vereinzelt geblieben. Das hat auch einen guten Grund: Die These von der Rechtsvergleichung als „fünfte Auslegungsmethode“ ist nämlich methodisch gesehen nicht unproblematisch. Man muß nämlich jeweils eigenständig begründen, warum zwei in unterschiedlichem verfassungsrechtlichem Kontext stehende Verfassungsnormen gleiche Regelungsinhalte aufweisen sollen. Vielleicht ist es signifikant, daß im erwähnten Fall die Auslegung auch zu divergierenden Ergebnissen geführt hat. Wenn man, das sei hier nur angemerkt, wertende Rechtsvergleichung40 betreibt, dann muß man sich darüber im Klaren sein, daß einer damit intendierten Rechtsangleichung, was auch nur Angleichung der Auslegung inhaltlich vergleichbarer Grundrechte heißen kann, ein starkes rechtspolitisches Element innewohnt. Darauf hat schon einer der Väter der modernen Rechtsvergleichung, Ernst Rabel, deutlich hingewiesen41. Einen sinnvollen Platz dürfte daher die Bezugnahme auf die Auslegung funktional vergleichbarer Verfassungsnormen in anderen Verfassungsrechtsordnungen durch die dortigen Verfassungsgerichte vor allem dann haben, wenn ein Verfassungsgericht an die Grenzen gesicherter Auslegung geht beziehungsweise sich in den Bereich für Höchstgerichte in bestimmten Grenzen durchaus legitimer42 Rechtsfortbildung hineinbewegt. Genau zu einer solchen, ein Stück weit „dynamischen“ Auslegung des Gleichheitsgrundsatzes wollten die Beschwerdeführer im zitierten Nachtarbeitsverbotsverfahren den österreichischen Verfassungsgerichtshof ja auch bewegen. 37 So führt das BVerfG aus: „Der Satz ,Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘ will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen (. . .). Er zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse. So müssen Frauen die gleichen Erwerbschancen haben wie Männer (. . .). Überkommene Rollenverteilungen, die zu einer höheren Belastung oder sonstigen Nachteilen für Frauen führen, dürfen durch staatliche Maßnahmen nicht verfestigt werden (. . .) (BVerfGE 85, 191 [207]). 38 So VfSlg 13.038/1992, S. 453. 39 Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode, JZ 1989, S. 913. 40 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 31996, S. 33 ff., m. w. H. 41 E. Rabel, Gesammelte Aufsätze, Bd. III, 1967, S. 186. 42 Statt aller dazu Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 290 ff.

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Insofern methodisch aus meiner Sicht mustergültig hat der Verfassungsgerichtshof diese Möglichkeit auch rechtsvergleichend erwogen, den Schritt dann aber aus funktionell rechtlichen, also gewaltenteilenden Gründen verworfen. 4. Zwischenresümee

Gemessen an den expliziten Bezugnahmen ist der Dialog zwischen den beiden Verfassungsgerichten ein begrenzter. Aus der Sicht des österreichischen Verfassungsgerichtshof ist freilich das Bundesverfassungsgericht immer noch das Gericht, mit dem in dieser expliziten Weise am meisten gesprochen wird. Beim deutschen Bundesverfassungsgericht ist das anders: Vier Bezugnahmen auf den Verfassungsgerichtshof stehen etwa sieben, wenn ich es richtig nachgeprüft habe, Bezugnahmen auf den Supreme Court der Vereinigten Staaten gegenüber43. Eine Bezugnahme auf dieses Höchstgericht findet sich demgegenüber in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, soweit zu sehen, überhaupt nicht. Das referierte Bild ändert sich in bezug auf den Verfassungsgerichtshof allerdings doch ein Stück weit, wenn man nicht nur die Ausführungen des Verfassungsgerichts selbst in den Blick nimmt, sondern auch Vorbringen der Prozeßparteien. Dann finden sich in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs 21 weitere Bezugnahmen auf das deutsche Bundesverfassungsgericht44. Auch hier – ich sehe jetzt von einer Einzelfallbetrachtung ab – oft in der Funktion sozusagen als Absicherung der Beweislage45, aber in einem deutlich verstärkten Ausmaß ziehen die Prozeßparteien Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts heran, um dem Verfassungsgerichtshof eine ähnliche, naturgemäß für sie günstige Sichtweise nahe zu legen: Häufig findet sich das im Zusammenhang mit Berufsantrittsbeschränkungen und einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 12 GG, etwa im Zusammenhang mit Apotheken46, Güterbeförderung47, Taxis48 oder Heilmasseuren49. Eine zweite große

43 BVerfGE 16, 27; 39, 1; 46, 342; 54, 53; 2 BvR 435/87 v. 19.10.1994; 91, 335; 95, 335. 44 Siehe VfSlg 8981/1980; 10.932/1986; 11.402/1987; 11.483/1987; 11.651/1988; 11.774/1988; 12.103/89; 12.568/1990; 12.645/1991; 12.660/1991; 12.940/1991; 13.036/1992; 13.661/1993; 13.785/1994; 14.466/1996; 15.031/1997; 15.094/1998; 15.103/1998; 15.299/1998; 15.390/1998; VfGH 17.11.1998, B 2020–2029/98. 45 Vgl. z. B. VfSlg 11.651/1988 (Versammlungsbegriff); 11.774/1988 (Nachtarbeit Bäckerei); 14.466/1996 (Arbeitslosengeld und Werkstudent); 15.094/1998 (Wahldiskussion im Fernsehen); VfGH 17.11.1998, B 2020–2029/98 (Gefangenenentlohnung). 46 Siehe VfSlg 11.402/1987; 15.103/1998. 47 Siehe VfSlg 11.483/1987. 48 Siehe VfSlg 10.932/1986. 49 Siehe VfSlg 15.390/1998.

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Gruppe betrifft gleichheitsrechtliche Fragestellungen, insbesondere im steuer-50 und familienrechtlichen 51 Zusammenhang. III. Die bekannten Einflüsse und das traditionelle Bild Wechselwirkungen in der Rechtsprechung finden sicherlich nicht nur dann statt, wenn ein Verfassungsgericht explizit auf die Judikatur des anderen Bezug nimmt. Natürlich lassen sich Einflüsse auch darin nachweisen, daß insbesondere der österreichische Verfassungsgerichtshof Argumentationsfiguren und dogmatische Konstruktionen übernimmt, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind. Darauf ist, insbesondere im Zusammenhang mit der jüngeren Grundrechtsjudikatur, schon oft hingewiesen worden52. Hier haben Lehre und Rechtsprechung zusammengewirkt. Sicherlich haben die deutsche Grundrechtswissenschaft und die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen nachhaltigen Einfluß auf die österreichische Grundrechtslehre und in der Folge auch auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ausgeübt: Wesensgehaltssperre, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, grundrechtliche Schutzpflichten markieren hier im Allgemeinen die wesentlichen Begriffe. Die Stufentheorie zur Berufsfreiheit hat sicher ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zur Erwerbsfreiheit des österreichischen Grundrechtskatalogs und seine Differenzierung zwischen objektiven und subjektiven Erwerbsantritts- sowie Erwerbsausübungsbeschränkungen entfaltet53. Natürlich, auch das darf nicht übersehen werden, ist der Einfluß der deutschen Grundrechtsdogmatik nicht der einzige, wahrscheinlich nicht einmal der überwiegende, der den Weg des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zu einem deutlich „materielleren“ Grundrechtsverständnis mitbereitet hat. Von ganz entscheidender Bedeutung war hier sicherlich vor allem auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte54, weil bekanntlich die EMRK in Österreich als unmittelbar anwendbarer verfassungsrechtlicher Grundrechtskatalog gilt und Verfassungsgerichtshof und EGMR daher zwangs-

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Vgl. VfSlg 12.940/1991; 13.036/1992; 13.785/1994; 15.299/1998. Vgl. VfSlg 12.103/1989; 12.645/1991; 13.661/1993; 15.031/1997. 52 Siehe z. B. Grabenwarter, Die Freiheit der Erwerbsbetätigung: Art. 6 StGG, in: R. Machacek/W. Pahr/G. Stadler (Hg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. II, 1992, S. 557; W. Stelzer, Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1991, S. 47. 53 Siehe zum Themenkomplex Grabenwarter (FN 52), S. 553. 54 Siehe nur Berka, Die Grundrechte: Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich, 1999, RN 66 ff., 117; wegweisend Berka, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die österreichische Grundrechtstradition, ÖJZ 1979, S. 365. 51

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läufig in einen sehr intensiven Dialog über dieselben Grundrechtsnormen eintreten mußten55. In die andere Richtung, von Österreich nach Deutschland also, lassen sich hier – das gilt für Lehre wie Rechtsprechung – weitaus weniger Einflüsse nachweisen. Jedenfalls einmal, wenn man die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick nimmt. Geht man zu den Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit zurück, dann ist die Sache natürlich völlig anders56: Ohne das österreichische Vorbild, ohne die Leistungen der Wiener Rechtstheoretischen Schule, ohne die Arbeiten von Hans Kelsen – es sei nur an die berühmte Kontroverse mit Heinrich Triepel auf der Staatsrechtslehrertagung 1928 erinnert57 – oder die Entwicklung des Stufenbaus der Rechtsordnung durch Adolf Julius Merkl würde auch dem Bundesverfassungsgericht heute das Fundament fehlen. Zurück zur Gegenwart: Vergleicht man die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts mit jener des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, dann dürfte es nach wie vor eine allgemein anzutreffende und akzeptierte Einschätzung sein, dem Bundesverfassungsgericht ein Stück mehr an judicial activism, dem Verfassungsgerichtshof demgegenüber etwas mehr an judicial restraint zu attestieren58. Für diese Sichtweise lassen sich auch eine Reihe von Belegen anführen, die erwähnten Entscheidungen zum Nachtarbeitsverbot für Frauen sind besonders kennzeichnend. Vergleichbares gilt etwa für Entscheidungen zum Namensrecht: Das Bundesverfassungsgericht ließ die gesetzliche Regelung, daß im Falle der Nichteinigung zwischen den künftigen Ehepartnern der Geburtsname des Mannes der gemeinsame Ehename werden solle, am Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG scheitern59. Der Verfassungsgerichtshof knüpfte demgegenüber an sein Verständnis des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes im

55 Beispielhaft etwa die Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit des Art. 13 StGG einer- und des Art. 10 EMRK andererseits (Nachweise bei Berka, Die Kommunikationsfreiheit sowie die Informationsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Pressefreiheit und Zensurverbot, in: Machacek/Pahr/Stadler [FN 52], S. 393), zur Versammlungsfreiheit des Art. 12 StGG bzw. des Art 11 EMRK (siehe Hofer-Zeni, Die Versammlungsfreiheit, in: Machacek/Pahr/Stadler [FN 52], S. 349), zur Auslegung des Art. 3 EMRK (vgl. Zellenberg, Der grundrechtliche Schutz vor Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, in: Machacek/Pahr/Stadler [FN 52], S. 441) oder zum grundrechtlichen Eigentumsschutz durch Art. 5 StGG bzw. Art. 1 1. ZP EMRK (siehe dazu Öhlinger, Das Eigentum und die Gesetzgebung, in: Machacek/Pahr/Stadler [FN 52], S. 643 sowie Barfuß, Das Eigentumsrecht und die Vollziehung, in: Machacek/Pahr/Stadler [FN 52], S. 689). 56 Siehe dazu nur Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 7 (= Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2000, S. 262). 57 Siehe die Referate von Triepel und Kelsen zum Thema „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“, VVDStRL 5 (1929), S. 30. 58 Vgl. etwa Korinek (FN 56), S. 31 f. 59 BVerfGE 84, 9.

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Nachtarbeitsverbots-Erkenntnis an und führte aus, daß dieser den Gesetzgeber nicht verpflichtet, auf eine Änderung der tatsächlichen Gepflogenheiten bei der freien Wahl des Ehenamens hinzuwirken. Der Gesetzgeber dürfe daher davon ausgehen, daß die notwendige Einigung auf einen gemeinsamen Familiennamen mangels ausdrücklicher Bestimmung auf den Namen des Mannes erfolgt ist60. Der Vergleich dieser beiden Entscheidungen hinkt freilich insoweit, als das Bundesverfassungsgericht die deutsche Regelung am Maßstab eines Gleichberechtigungsgebots61, der Verfassungsgerichtshof die österreichische „nur“ am Maßstab des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes prüft62. In anderem Zusammenhang läßt sich aber durchaus eine deutliche Annäherung der Rechtsprechung der beiden Verfassungsgerichte feststellen. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Judikatur beider Verfassungsgerichte zur Familienbesteuerung63. In der Rechtsprechung beider Gerichtshöfe ist der entscheidende Punkt wohl der, daß die Entscheidung für Kinder, so der Verfassungsgerichtshof, „keine Sache bloß privater Lebensgestaltung“64 ist, und daß es neben der, wie das Bundesverfassungsgericht meint, vertikalen auch eine horizontale Steuergerechtigkeit gibt65. Steuerpflichtige müssen bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch besteuert werden, womit der Gesetzgeber Bezieher höherer Einkommen mit unterhaltsbedürftigen Kindern nicht stärker besteuern darf als Einkommensbezieher gleicher Stufe ohne Kinder. Beide Verfassungsgerichte anerkennen dabei auch, daß der Gesetzgeber ein Mischsystem von Transferleistungen und steuerlicher Entlastung vorsehen kann, es kommt, so wieder der österreichische Verfassungsgerichtshof, lediglich darauf an, daß im Effekt die Unterhaltsleistung an Kinder in den verfassungsrechtlich vorgezeichneten Grenzen steuerfrei bleibt66. Diese verfassungsrechtlichen Grenzen hat im übrigen der österreichische Verfassungsgerichtshof ganz genau beziffert:

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VfSlg 13.661/1993. Art. 3 Abs. 2 GG – „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ – wird in Richtung eines Verfassungsauftrags zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung verstanden; vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 92007, RN 90 ff.; Eckertz-Höfer, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 32001, Art. 3 Abs. 2, 3 GG, RN 36 ff. 62 Einen dem Art. 3 Abs. 2 GG vergleichbaren Gleichstellungsauftrag kennt das österreichische B-VG mit Art. 7 Abs. 2 erst seit 1998 (BGBl. 68/1998; siehe dazu Berka [FN 54], RN 959 ff.). Die referierte Entscheidung des VfGH stammt bereits aus 1993. 63 Vgl. z. B. BVerfGE 99, 246 einer- und VfSlg 14.992/1997 bzw. VfGH 27.06.2001, B 1285/00 andererseits. 64 VfSlg 14.992/1997, S. 496. 65 Siehe dazu insbes. BVerfGE 99, 246 (260). 66 Siehe VfSlg 16.026/2000; ebenso BVerfGE 82, 60. 61

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„Zumindest die Hälfte der Einkommensteile, die zur Bestreitung des Unterhalts der Kinder erforderlich sind, muß im Effekt steuerfrei bleiben“67. Wenn also Karl Korinek auf der Staatsrechtslehrertagung 1980 im Anschluß an Zeidler und Benda auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts den Satz bezogen hat, es hätte den mit Kompetenzen gefüllten Becher nicht nur bis zur Neige geleert, sondern sich manchmal auch unaufgefordert nachgeschenkt68, so ist auch der österreichische Verfassungsgerichtshof heute kein „Abstinenzler“ mehr, ganz im Gegenteil. Gerade die Familienbesteuerung dürfte ein Beispiel sein, wo sich die beiden Verfassungsgerichte durchaus gegenseitig eingeschenkt haben. In einem abschließenden Teil meiner Ausführungen möchte ich nun näher auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Rechtsprechung der beiden Verfassungsgerichte eingehen. Nicht einzelne Entscheidungen sollen dabei im Vordergrund stehen, sondern der Versuch, gewisse Tendenzen aufzuzeigen. IV. Unterschiede und Gemeinsamkeiten 1. Übereinstimmungen

Weitgehend ähnlich verläuft aus meiner Sicht mittlerweile die Rechtsprechung der beiden Verfassungsgerichte zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Ob die neben die „Willkür-Formel“69 gestellte „neue Formel“70 des Bundesver-

67 VfSlg 14.992/1997, S. 497; 16.026/2000, S. 824. Das BVerfG knüpft in seiner Judikatur an den Grundsatz der einkommensteuerlichen Verschonung existenzsichernder Ausgaben an und betont, daß der für die Bestreitung des Kinderexistenzminimums erforderliche Betrag einkommensteuerlich verschont werden muß; vgl. BVerfGE 82, 60; BVerfGE 91, 93; BVerfGE 99, 216. 68 Korinek (FN 56), S. 32 unter Berufung auf Zeidler, Zum Verwaltungsrecht und zur Verwaltung in der Bundesrepublik seit dem Grundgesetz, in: Der Staat 1962, S. 326 und Benda, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, DÖV 1979, S. 465. 69 Vgl. bereits BVerfGE 1, 14 (52): „Abgesehen davon verbietet der Gleichheitssatz nur, daß wesentlich Gleiches ungleich, nicht dagegen, daß wesentlich Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird. Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß.“ 70 Beginnend mit BVerfGE 55, 72 (88): „Diese Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 22, 387 (415); BVerfGE 52, 277 (280).“ Nä-

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fassungsgerichts oder das aus dem Gleichheitsgrundsatz entwickelte „allgemeine Sachlichkeitsgebot“ des Verfassungsgerichtshofs71 zum Tragen kommen: Im Zentrum steht eine verstärkte Orientierung der Gleichheitsprüfung an den Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Bei beiden Gerichten läßt sich – beim Bundesverfassungsgericht in der Formel explizit, beim Verfassungsgerichtshof eher implizit – auch nachweisen, daß es Abstufungen in der Prüfungsintensität gibt und daß es eine Rolle spielt, wie stark sich, so die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, „die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann“72. Man muß auch hier allerdings beim Vergleich aufpassen: Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des österreichischen Art. 7 Abs. 1 B-VG erfüllt nämlich eine mehrfache Funktion. Es gibt sozusagen echte Gleichheitsfälle und es gibt Fallkonstellationen, in denen das Sachlichkeitsgebot des österreichischen Gleichheitsgrundsatzes die im österreichischen Grundrechtskatalog fehlende allgemeine Handlungsfreiheit substituiert. Während also das Bundesverfassungsgericht eben das Reiten im Wald am Maßstab des Art. 2 Abs., 1 GG beurteilt73, prüft der Verfassungsgerichtshof das Mountainbikefahren im Wald am allgemeinen Sachlichkeitsgebot des Gleichheitsgrundsatzes74. In der Sache kommen sie zu gleichen Ergebnissen, Beschränkungen sind hier durchaus weitreichend zulässig. Steigt man etwas tiefer in die Gleichheitsjudikatur ein, so findet man auch eine Reihe von Fällen, in denen die Verfassungsgerichte vergleichbare Fragestellungen mit ähnlichen Wertungen gleich entschieden haben: So haben es, um nur ein Beispiel zu nennen, beide Verfassungsgerichte als mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz für vereinbar gehalten, wenn „Gewaltspielautomaten“ einem erhöhten Vergnügungssteuersatz unterworfen werden. Die Frage stellte sich nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten: der Verfassungsgerichtshof hatte die Sache 198375, das Bundesverfassungsgericht im Mai 200176 zu entscheiden.

her dazu etwa jüngst Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669. 71 Vgl. z. B. nur VfSlg 8457/1978: „Das Gleichheitsgebot verbietet dem Gesetzgeber jedoch, Differenzierungen zu schaffen, die sachlich nicht begründbar sind.“ Näher dazu Holoubek, Die Sachlichkeitsprüfung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, ÖZW 1991, S. 72. 72 BVerfGE 97, 271 (291). 73 BVerfGE 80, 137. 74 VfSlg 12.998/1992. 75 VfSlg 9750/1983. 76 BVerfG 1 BvR 624/00 v. 3.5.2001.

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Jedenfalls einmal im grundsätzlichen dogmatischen Zugang lassen sich weitgehende Übereinstimmungen auch in der Rechtsprechung zur Berufs-77 bzw. zur Erwerbsfreiheit78 nachweisen. Beide Verfassungsgerichte haben sich hier in

77 Siehe zur vom BVerfG selbst so bezeichnete „Stufentheorie“ (BVerfGE 25, 1 [11] [Mühlengesetz]) BVerfGE 7, 377 (405 ff.) – Apothekerurteil: „Für den Umfang der Regelungsbefugnis ergeben sich so gewissermaßen mehrere ,Stufen‘: Am freiesten ist der Gesetzgeber, wenn er eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im einzelnen zu gestalten haben. (. . .) Der Grundrechtsschutz beschränkt sich insoweit auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer gesetzlicher Auflagen (. . .). Eine Regelung dagegen, die schon die Aufnahme der Berufstätigkeit von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig macht und die damit die Freiheit der Berufswahl berührt, ist nur gerechtfertigt, soweit dadurch ein überragendes Gemeinschaftsgut, das der Freiheit des Einzelnen vorgeht, geschützt werden soll. Dabei besteht offensichtlich ein (. . .) bedeutsamer Unterschied je nachdem, ob es sich um ,subjektive‘ Voraussetzungen, vor allem solche der Vor- und Ausbildung, handelt oder um objektive Bedingungen der Zulassung, die mit der persönlichen Qualifikation des Berufsanwärters nichts zu tun haben und auf die er keinen Einfluß nehmen kann. Die Regelung subjektiver Voraussetzungen der Berufsaufnahme ist ein Teil der rechtlichen Ordnung eines Berufsbildes; sie gibt den Zugang zum Beruf nur den in bestimmter – und zwar meist formaler – Weise qualifizierten Bewerbern frei. (. . .) Hier gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in dem Sinne, daß die vorgeschriebenen subjektiven Voraussetzungen zu dem angestrebten Zweck der ordnungsmäßigen Erfüllung der Berufstätigkeit nicht außer Verhältnis stehen dürfen. Anders liegt es bei der Aufstellung objektiver Bedingungen für die Berufszulassung. Ihre Erfüllung ist dem Einfluß des einzelnen schlechthin entzogen. Dem Sinn des Grundrechts wirken sie strikt entgegen, denn sogar derjenige, der durch Erfüllung aller von ihm geforderten Voraussetzungen die Wahl des Berufes bereits real vollzogen hat und hat vollziehen dürfen, kann trotzdem von der Zulassung zum Beruf ausgeschlossen bleiben. (. . .) Durch die Wahl dieses gröbsten und radikalsten Mittels der Absperrung fachlich und moralisch (präsumtiv) voll geeigneter Bewerber vom Berufe kann so – abgesehen von dem möglichen Konflikt mit dem Prinzip der Gleichheit – der Freiheitsanspruch des Einzelnen in besonders empfindlicher Weise verletzt werden. Daraus ist abzuleiten, daß an den Nachweis der Notwendigkeit einer solchen Freiheitsbeschränkung besonders strenge Anforderungen zu stellen sind; im allgemeinen wird nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut diesen Eingriff in die freie Berufswahl legitimieren können; der Zweck der Förderung sonstiger Gemeinschaftsinteressen, die Sorge für das soziale Prestige eines Berufs durch Beschränkung der Zahl seiner Angehörigen reicht nicht aus, auch wenn solche Ziele im übrigen gesetzgeberische Maßnahmen rechtfertigen würden. Der Gesetzgeber muß Regelungen nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG jeweils auf der ,Stufe‘ vornehmen, die den geringsten Eingriff in die Freiheit der Berufswahl mit sich bringt, und darf die nächste ,Stufe‘ erst dann betreten, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, daß die befürchteten Gefahren mit (verfassungsmäßigen) Mitteln der vorausgehenden ,Stufe‘ nicht wirksam bekämpft werden können.“ Weitere Beispiele, die auch in der Judikatur des VfGH eine Rolle spielten, sind etwa BVerfGE 11, 168 (Taxibedürfnisprüfung unzulässig); BVerfGE 20, 196 (Höchstzahlen von Kfz im Güterfernverkehr mit GG vereinbar); BVerfGE 21, 245 (Arbeitsvermittlungsmonopol auch hinsichtlich Führungskräften mit GG vereinbar).

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gewisser Hinsicht als Motor der Liberalisierung vor allem in überkommenen zünftischen Strukturen erwiesen. Grundsätzlich parallele Entwicklungen, auch wenn sie zeitlich verschoben sein mögen, schließen interessante Detailabweichungen natürlich nicht aus: So haben es beide Verfassungsgerichte in den letzten Jahren verstärkt mit berufsrechtlichen Werbeverboten für Angehörige freier Berufe zu tun gehabt79. Beide Verfassungsgerichte haben hier mit ihrer Rechtsprechung auch überkommene Strukturen aufgebrochen und das Standesrecht in vielen Fällen, wenn sie mir den saloppen Ausdruck gestatten, „entstaubt“. Interessant ist, daß das Bundesverfassungsgericht als Maßstab vor allem die Berufsfreiheit heranzieht80, während der österreichische Verfassungsgerichtshof diese Werbeverbote primär am Maßstab der Meinungsfreiheit des Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention beurteilt81. 78 Die seit VfSlg 11.483/1987 (Bedarfsprüfung für Güternahverkehr verfassungswidrig) gängige Grundrechtsformel des VfGH lautet, daß „gesetzliche, die Erwerbsausübungsfreiheit beschränkende Regelungen nur dann zulässig sind, wenn sie durch das öffentliche Interesse geboten, geeignet, zur Zielerreichung adäquat und auch sonst sachlich zu rechtfertigen sind.“ Weitere Beispiele aus der Judikatur sind etwa VfSlg 15.103/1998 (Existenzschutz bestehender Apotheken verfassungskonform); VfSlg 10.932/1986 (Taxi-Bedarfsprüfung verfassungswidrig); VfSlg 12.383 (Arbeitsvermittlung: verfassungskonforme Interpretation), für eine weitere Übersicht siehe etwa Grabenwarter (FN 52), S. 553 ff. 79 Vgl. BVerfG (Kammer) NJW 2002, S. 3091 (Tierärzte) oder BVerfG (Kammer) NJW 2002, S. 1864 (Zahnarztsuchservice); näher dazu Lorz, Die Erhöhung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte gegenüber berufsrechtlichen Einschränkungen der Berufsfreiheit, NJW 2002, S. 169; Beispiele aus der Judikatur des VfGH sind etwa: VfSlg 13.554/1993 (Werbung der Ärzte); 13.675/1994 (Werbung der Tierärzte); im Erk VfGH 1.10.2001, V56/00 u. a. hat der Gerichtshof aber die Einschränkung der Werbemöglichkeiten betreffend die Preise (Werbung mit festen Preisen) für zahnärztliche Leistungen, „angesichts des (. . .) Risikos, daß ein Preiswettbewerb zu geringerer Qualität der ärztlichen Leistungen führen kann“ für nicht verfassungswidrig erkannt. Siehe aus der Literatur etwa Berka/Stolzlechner, Öffentlichkeitskontakte von Anwälten, Meinungsfreiheit und Werbeverbot, 1988; Mayer, Die Bezeichnung von Anwaltsozietäten, das Werbeverbot für Rechtsanwälte und die Grundrechte, ÖJZ 1988, S. 292; Stolzlechner, Die Werbung der freien Berufe, insbesondere des Anwaltes, AnwBl. 1991, S. 513. 80 Dazu etwa BVerfGE 94, 372 (389) zur Werbung der Apotheker: „Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die Freiheit der Berufsausübung. Zu dieser gehört nicht nur die berufliche Praxis selbst, sondern auch jede Tätigkeit, die mit der Berufsausübung zusammenhängt und dieser dient. Sie schließt die Außendarstellung von selbständig Berufstätigen ein, soweit sie auf die Förderung des beruflichen Erfolges gerichtet ist. Staatliche Maßnahmen, die geschäftliche oder berufliche Werbung beschränken, sind Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung (vgl. BVerfGE 85, 248 (256) m.w. N.).“ 81 StRspr. seit VfSlg 10.948/1986: „In den Schutzbereich des Art. 10 MRK – und damit in jenen der Rundfunkfreiheit – fällt auch die sogenannte kommerzielle Werbung. Zwar hat der VfGH in seiner Rechtsprechung zu Art. 13 StGG die Einschaltung von Anzeigen in ein Presseerzeugnis als eine mit der Meinungsfreiheit nicht im Zusammenhang stehende besondere Form des Wirtschaftsverkehrs gewertet (VfSlg. 4087/ 1961). Die Garantie des Art. 10 MRK umfaßt jedoch einen weiteren Bereich. Denn

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Aber auch im Staatsorganisationsrecht lassen sich durchaus Parallelen feststellen: Wenn das Bundesverfassungsgericht formuliert, daß der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens fordert, daß sowohl der Bund als auch die Länder bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder nehmen müssen82, so trifft sich das mit der Umschreibung des so genannten bundesstaatlichen Rücksichtnahmegebots der österreichischen Bundesverfassung durch den Verfassungsgerichtshof, derzufolge der rechtspolitische Gestaltungsspielraum des Landes- ebenso wie jener des Bundesgesetzgebers insoweit eingeschränkt ist, als es ihm verwehrt ist, Regelungen zu treffen, die sich als sachlich nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung der Effektivität von Regelungen der gegenbeteiligten Rechtssetzungsautorität darstellen83. Dies bedeutet nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshof auch, daß die zur Gesetzgebung berufenen Gebietskörperschaften die Interessen, die von der gegenbeteiligten Gebietskörperschaft wahrzunehmen sind, durch den Gesetzgebungsakt nicht unterlaufen dürfen84. 2. Unterschiede

Hier stechen vor allem zwei Bereiche ins Auge: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zur Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die

die Freiheit zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen geht offenkundig über die Äußerung von Meinungen im engeren Sinn hinaus. Nachrichten oder Ideen übermitteln und das Verhalten des angesprochenen Publikums beeinflussen wollen auch Werbeaussagen. Dieses Ziel von anderen beabsichtigten Wirkungen zu trennen, ist praktisch unmöglich. Dazu kommt, daß Art. 10 MRK nicht auf einen bestimmten Zweck der Äußerung abstellt, sondern vielmehr ,offene Kommunikationsprozesse in allen gesellschaftlichen Teilbereichen garantieren will‘ (Berka, Die Kommunikationsfreiheit in Österreich, EuGRZ 1982, S. 413 ff. [417]). Der VfGH teilt daher die Auffassung der Europäischen Kommission für Menschenrechte (vgl. J. Frowein/W. Peukert, EMRKKommentar, 21996, S. 228, Art. 10 RN 9), wonach auch wirtschaftliche Werbung durch Anzeigen den Schutz von Art. 10 Abs. 1 genießt, allerdings schärferen Einschränkungen unterstellt werden kann als der Ausdruck politischer Ideen.“ Erk VfSlg 13.554/1993 (Arztwerbung) „§ 25 Abs. 1 und 2 normierten ein grundsätzliches Werbeverbot, das dem Arzt jede Art der Werbung untersagte. Die Bestimmungen unterbanden dadurch auch für den Patienten nützliche und sachliche Informationen. Der Verfassungsgerichtshof kann keine Umstände erkennen, die nach Art. 10 Abs. 2 EMRK ein Werbeverbot für Ärzte, wie es die in Prüfung gezogene Bestimmung vorsah, erlauben würden. Im Interesse des Schutzes der Gesundheit, der Moral, des guten Rufes wie der Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten ist ein derart weitreichendes Werbeverbot nicht erforderlich.“ Ein Werbeverbot für Kontaktlinsenoptiker wurde 1985 (VfSlg 10.718) dagegen „nur“ wegen Verstoßes gegen die Erwerbsausübungsfreiheit aufgehoben. 82 BVerfGE 81, 310 (337 f.); BVerfGE 92, 202 (230). 83 Siehe VfSlg 12.282/1984. 84 VfSlg 15.552/1999.

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unterverfassungsgesetzliche Rechtsordnung und der Umgang der Verfassungsgerichte mit dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Beginnend mit dem Lüth-Urteil85 hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich die „verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen“, die Grundrechte als „wertentscheidende Grundsatznormen“, als „objektive Prinzipien“ weit in einfach gesetzliche Regelungsbereiche hineingetragen: In das allgemeine Vertragsrecht – Handelsvertreter86 und Bürgschafts-Entscheidung87, in das Mietrecht – „Mieter als Eigentümer“88, in den zivil- und strafrechtlichen Ehrenschutz – „Soldaten sind Mörder“89, in das Strafrecht – Sitzblockade und Nötigung90, in das Strafprozeßrecht – Spionage-Beschluss91, zuletzt wieder, den BGH korrigierend, in das Wettbewerbsrecht – Bennetton-Entscheidung92. Die Diskussion um diese Rechtsprechungslinien ist bekannt, sie wird mit der gleichen Vehemenz verteidigt wie polemisch kritisiert. Von alledem findet sich in der Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshof so gut wie nichts. Beleg für ein grundsätzlich verschiedenes Grundrechtsverständnis? Ich meine nein93: Auch der österreichische Verfassungsgerichtshof scheut sich in einer Reihe von Sachmaterien nicht, über das Gebot der verfassungskonformen Interpretation bis weit in die Details einfach gesetzlicher Auslegung einzugreifen. Insbesondere ist es hier der Gleichheitsgrundsatz und sein Sachlichkeitsgebot, die bis in Einzelheiten des Sozialversicherungsrechts94, 85

BVerfGE 7, 198. BVerfGE 81, 242. 87 BVerfGE 89, 214. 88 BVerfGE 89, 1. 89 BVerfGE 93, 266. 90 BVerfGE 73, 206. 91 BVerfGE 92, 227. 92 BVerfGE 102, 347. 93 Siehe zum folgenden näher Holoubek, Grundrechte zwischen Freiheitsverbürgung und staatlicher Verantwortung – Antworten und Perspektiven der österreichischen Grundrechtsdogmatik, in: Holoubek/Gutknecht/Schwarzer/Martin (Hg.), Dimensionen des modernen Verfassungsstaates, 2002, S. 31 ff. 94 Vgl. z. B. VfSlg 9365/1982 (Differenzierung im Beitragsrecht aufgrund unterschiedlichen Leistungsspektrums gerechtfertigt); 13186/1991 (keine Unsachlichkeit der Regelung über den Eintritt der Leistungspflicht aus der Unfallversicherung für Versicherte nach dem BSVG erst nach einer zweimonatigen Karenzfrist im Hinblick auf die unterschiedliche Behandlung von Unselbständigen und Bauern im Bereich der konkurrierenden Krankenversicherung); 13.634/1993 (Gleichheitssatz gebietet keine einheitliche Regelung der Sozialversicherungssysteme); 13.829/1994 (keine Vergleichbarkeit zwischen öffentlich-rechtlichem Dienstrecht einschließlich Pensionsrecht mit Sozialversicherungsrecht); 14.593/1996: „Der Gerichtshof ist der Auffassung, daß Unterschiede im Leistungsrecht zwischen Pflicht- und Selbstversicherten durch den Gleichheitssatz selbst bei gleicher Beitragshöhe nicht ausgeschlossen werden. Da Selbstversicherte im Gegensatz zu Pflichtversicherten eine Wahlmöglichkeit haben, ob und bejahendenfalls bei wem sie sich versichern wollen, befinden sie sich in einer 86

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der Unternehmensbesteuerung95 oder jüngst etwa in die Organisation des Vergaberechtsschutzes96 hineinwirken. Der Verfassungsgerichtshof scheut ebenso wenig vor grundrechtlich gebotenen Analogieschlüssen etwa im Fremdenrecht zurück97 wie er interpretativ gesetzlichen Regelungen grundrechtlich gebotene Ausnahmetatbestände entnimmt: Beispiele finden sich im Strafvollzugsrecht im Hinblick auf die Religionsfreiheit98, im Ausländerbeschäftigungsrecht im Hinblick auf die Kunstfreiheit99 oder, heute schon erwähnt, im Tierschutzrecht im Hinblick auf die Religionsfreiheit und das Schächten100. Die Entscheidungen zum Schächten sind auch insoweit bezeichnend, als der Verfassungsgerichtshof mit dem Wortlaut in concreto des Vorarlberger Tierschutzgesetzes101 deutlich mehr Schwierigkeiten hatte, als das Bundesverfassungsgericht mit seinem Tierschutzgesetz102, das immerhin eine Ausnahmeregelung enthielt, an der angesetzt völlig anders gelagerten Situation als Pflichtversicherte, denen eine solche Wahlmöglichkeit von vornherein nicht zukommt. Es ist daher aus der Sicht des Gleichheitssatzes eine völlige Gleichgestaltung des Leistungsrechtes selbst bei gleicher Beitragszahlung nicht geboten.“; jüngst VfGH 27.3.2002, G 217/01ua (unterschiedliche Höhe der Beitragssätze in der gesetzlichen Pensionsversicherung nach dem GSVG und nach dem FSVG nicht verfassungswidrig). 95 Vgl. z. B. VfSlg 10.001/1984 (Sonderabgabe von Kreditinstituten); 11.260/1987 (Verlustvortrag); 14.723/1997; 15.060/1997; 15.115/1998 (Mindestkörperschaftsteuer); 15.040/1997 (Rückstellungen für Dienstjubiläen); vgl. dazu allgemein Doralt/Ruppe, Grundriß des österreichischen Steuerrechts, Bd. II, 2001, S. 192 ff.; Korinek/Holoubek, Gleichheitsgrundsatz und Abgabenrecht, in: Wolfgang Gassner/Eduard Lechner (Hg.), Steuerbilanzreform und Verfassungsrecht, 1991, S. 73. 96 Siehe mit umfangreichen Hinweisen auf die Vorjudikatur Erk v. 11.10.2001, G 12/00ua, wo erstmals eine (einfache) Verfassungsbestimmung (§126a BVergG) wegen Widerspruchs zum Rechtsstaats- und Demokratieprinzip aufgehoben wurde (zum ähnlich gelagerten Problem der Kontrolle oberster Organe durch die Datenschutzkommission VfSlg 13.626/1993). 97 VfSlg 14.148/1995 (Erfordernis, einen Antrag auf Erteilung der Aufenthaltsbewilligung vom Ausland zu stellen, nicht notwendig im Sinne des Art. 8 EMRK, wenn sich Antragsteller bereits jahrelang rechtmäßig in Österreich aufgehalten haben). 98 VfSlg 15.592/1999 (Zuspruch durch einen Seelsorger der „Zeugen Jehovas“ für einen dieser Bekenntnisgemeinschaft nicht angehörigen Strafgefangenen). 99 VfSlg 11.737/1988. 100 VfSlg 15.394/1998. 101 Die konkret zu beurteilende Bestimmung (§ 11 Vbg TierschutzG) lautete: „(1) Das Schlachten von Tieren ohne Betäubung vor dem Blutentzug ist verboten. Ist eine Betäubung unter den gegebenen Umständen nicht möglich oder nicht zumutbar, so ist die Schlachtung so vorzunehmen, daß dem Tier nicht unnötig Schmerzen zugefügt werden. (2) Die Schlachtung eines Tieres darf nur durch Personen, welche die dazu notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, vorgenommen werden. (3) Die Landesregierung kann im Interesse des Tierschutzes durch Verordnung bestimmte Schlachtmethoden verbieten, zulassen oder gebieten sowie Vorschriften über die Behandlung der Tiere unmittelbar vor der Schlachtung erlassen.“ 102 § 4a TierSchG: „(1) Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist.

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werden konnte. Der Verfassungsgerichtshof mußte demgegenüber entgegen dem historischen Zweck und der erkennbaren Absicht der Regelung die Wendung, daß ein Schlachten ohne Betäubung nur dann nicht verboten ist, wenn es „unter den gegebenen Umständen nicht möglich oder nicht zumutbar“ ist, grundrechtskonform dahingehend deuten, daß es auch auf die Unzumutbarkeit der Betäubung aus religiösen Gründen ankommt. Die grundrechtskonforme Interpretation wirkt weitreichend als Kollisionsregel. Ein interessantes Detail am Rande: Der Verfassungsgerichtshof spricht in seinem Erkenntnis zum Schächten auch einmal explizit von der „in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Werteskala“103. Wenn auch vielleicht nicht immer mit derselben grundrechtlichen Rhetorik, der Sache nach kennt auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in Österreich eine nicht gering zu schätzende Ausstrahlungswirkung der Grundrechte. Daß diese im Bereich des Zivil- und Strafrechts kaum eine Wirkung entfaltet, hängt mit einer Grundsatzentscheidung des positiven österreichischen Verfassungsrechts zusammen: Nämlich der, von einem System dreier grundsätzlich gleichrangiger Höchstgerichte – Oberster Gerichtshof, Verwaltungsgerichtshof und eben Verfassungsgerichtshof – auszugehen und insbesondere gegen Entscheidungen der beiden anderen Höchstgerichte keine Urteilsverfassungsbeschwerde an den Verfassungsgerichtshof vorzusehen. Zwar kennt auch das österreichische B-VG das Institut des Normenkontrollantrags der Gerichte104, die Erfahrung zeigt freilich, daß die österreichischen Zivil- und Strafgerichte von dieser Befugnis in den Kernbereichen des Zivilund Strafrechts kaum Gebrauch machen. Schaut man sich einmal die Statistik der einschlägigen Gesetzprüfungsanträge an, so gab es in den Jahren 1997 bis

(2) Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn 1. . . . 2. die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen oder 3. dies als Ausnahme durch Rechtsverordnung nach § 4b Nr. 3 bestimmt ist. 103 VfSlg 15.394/1998, S. 809. 104 Gemäß Art. 89 Abs. 1 B-VG steht in Österreich die Prüfung der Gültigkeit gehörig kundgemachter Gesetze, Verordnungen und Staatsverträge den Gerichten nicht zu. Gemäß Art. 89 Abs. 2 i.V. m. Art. 140 Abs. 1 B-VG haben die Höchstgerichte und zur Entscheidung in zweiten Instanz zuständige Gerichte, wenn sie gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grundsatz der Verfassungswidrigkeit Bedenken hegen, einen Gesetzesprüfungsantrag beim VfGH zu stellen. Für Verordnungen gilt Vergleichbares mit der Maßgabe, daß hier auch erstinstanzliche Gerichte zur Antragstellung beim Verfassungsgericht berufen sind.

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2001 jährlich zwischen neun und 22 Anträge ordentlicher Gerichte105. Zum Vergleich: amtswegige Gesetzesprüfungen durch den Verfassungsgerichtshof in der Regel im Gefolge eines Bescheidprüfungsverfahrens106, also einer Grundrechtsbeschwerde gegen einen letztinstanzlichen Verwaltungsakt, gab es im selben Zeitraum jährlich zwischen 46 und 135107. Während also, um ein Durchschnittsbeispiel herauszugreifen, im Jahr 2001 die ordentlichen Gerichte bei ihrer gesamten Tätigkeit nur in 22 Fällen solche verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein Gesetz hegten, daß sie einen Gesetzesprüfungsantrag beim Verfassungsgerichtshof stellten, hatte der Verfassungsgerichtshof 83 Mal derartige Bedenken. Das Bild wird noch deutlicher, wenn man sich inhaltlich anschaut, zu welchen Materien die Gerichtsanträge ergangen sind. Ich habe das einmal, wenn auch nicht mit dem Anspruch auf lückenlose Vollständigkeit, für die Gerichtsanträge in der genannten Zeitspanne geprüft: Die Gesetzesprüfungsanträge betreffen vorwiegend sozial-108 oder verwaltungsrechtliche Bestimmungen109, in zweiter Linie prozeßrechtliche Vorschriften110. Im engeren Sinn materielles Zivilrecht findet sich überhaupt nicht, klassisches Strafrecht nur ein einziges Mal111. Nun soll man bekanntlich keiner Statistik trauen, die man nicht selbst gefälscht hat. Aber eine gewisse Tendenz ist aus diesen Zahlen schon abzulesen: Sie belegen meines Erachtens sehr deutlich, daß die Ausgestaltung des Zugangs zum Verfassungsgericht weitreichende Konsequenzen hat. Ich sage das jetzt bewußt neutral. Die, um es jetzt salopp zu formulieren, „Nichteinmischung“ des 105 Die Angaben beruhen auf einer vom VfGH auf Anfrage zugesandten Übersicht, siehe allgemein auch den Tätigkeitsbericht des VfGH für 2001 auf der Homepage www.vfgh.gv.at. 106 Art. 144 Abs. 1 B-VG. 107 Siehe oben sub. FN 105. 108 Z. B. VfSlg 16.030/2000; 15.436/1999 (Kostenersatz nach Krankenordnung der BVA); VfSlg 15.787/1999 (Kostenerstattung bei Inanspruchnahme eines Wahlarztes i. H. v. bloß 80 v. H. des Vertragsarzttarifs verfassungskonform); jüngst VfGH v. 19.6.2002, G 7/02 (Aufhebung der Bestimmung des Familienlastenausgleichsgesetzes, wonach die Familienbeihilfe nicht den Unterhaltsanspruch des Kindes mindert; Verpflichtung zur verfassungskonformen Interpretation i. S. d. der Erk zur Familienbesteuerung). 109 So etwa jüngst VfGH v. 13.6.2002, G211/01, V61/01 (feste Taxigebühren verfassungskonform). 110 VfGH v. 29.6.2001, G 108/01 (zu § 480 StPO: Ausschluß eines Rechtsmittels gegen einen die Wiederaufnahme bewilligenden Beschluß des Bezirksgerichtes; Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip); 15.586/1999 (Anhörungsrecht und Kundmachung der Entscheidung nach dem Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz) VfSlg 14.986/1997 (keine Prüfungskompetenz des Arbeitsamtes hinsichtlich des Anspruchs auf Insolvenz-Ausfallgeld, wenn die Forderung bereits vom Masseverwalter anerkannt wurde). 111 VfGH v. 29.11.2001, G190/01 zu § 209 StGB (Schutzalter bei männlicher Homosexualität), i. d. F. noch Zurückweisung, Aufhebung des § 209 StGB durch Erk v. 21.6.2002, G 6/02.

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Verfassungsgerichts in insbesondere das Privatrecht und seine „gewachsenen Strukturen“ hat sicherlich nicht nur Nachteile. Aber ebenso sicher auch nicht nur Vorteile. Was also auf den ersten Blick als auffällige Unterschiedlichkeit in der Rechtsprechung der beiden Verfassungsgerichte erscheint, ist bei näherem Hinsehen Ergebnis verfassungsgesetzlicher Entscheidung über die Gerichtsverfassung und das Verhältnis der Höchstgerichte zueinander. Tatsächlich ein Unterschied dürfte in meinem zweiten Beispielsbereich zu konstatieren sein: Die wechselhafte Einstellung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht und zum gemeinschaftsrechtlichen Auslegungs- und Verwerfungsmonopol des EuGH ist bekannt112. Wer, je nach Standpunkt, ähnliches vom österreichischen Verfassungsgerichtshof erwartet, erhofft oder befürchtet hatte, wurde enttäuscht oder beruhigt, jedenfalls aber vom pragmatischen Umgang des Verfassungsgerichtshofs mit diesem Problem zumindest überrascht: Nicht nur, daß der Verfassungsgerichtshof sich gleichsam an die Spitze der österreichischen Gerichte bei der Entwicklung einer sehr gemeinschaftsfreundlichen Dogmatik des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht setzte: richtlinienkonforme Interpretation auch gegenüber früherem innerstaatlichen Recht als Kollisionsregel wurde ebenso sofort anerkannt113 wie das duale Rechtsschutzsystem des Vorabentscheidungsverfahrens über das Recht auf den gesetzlichen Richter innerstaatlich verfassungsrechtlich sanktioniert114, die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in Parallelität zur verfassungskonformen Auslegung ohne weiteres übernommen und auch Anträge auf Vorabentscheidung durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof115 gibt es schon. Und auch Rückwirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das innerstaatliche Recht greift der Verfassungsgerichtshof bereitwillig auf und zieht die Konsequenzen: So mißt er Fallkonstellationen so genannter „Inländerdiskriminierung“ am Maßstab des – als Staatsbürgerrecht ausgestalteten – innerstaatlichen Gleichheitsgrundsatzes116 etwa mit der Konsequenz, daß gewerberechtliche Nachsichtsklauseln vom Nachweis der Befähigung nicht nur für in anderen Mit-

112 BVerfGE 37, 271 (Solange I); BVerfGE 73, 339 (Solange II); BVerfGE 89, 155 (Maastricht); BVerfGE 97, 350, (Euro); BVerfG NJW 2000, S. 2015 (Alcan-Beschluß); BVerfGE 102, 147 ff. (Bananenmarktordnung). 113 VfSlg 14.391/1995 (Mineralwasser). 114 VfSlg 14.390/1995; siehe dazu bereits oben sub FN 9. 115 Siehe z. B. Vorlagebeschluss v. 10.3.1999, B 2251/97, B 2594/97 und das darauf beruhende Urteil des EuGH, Urt. v. 8.11.2001, Rs. C-143/99 (Adria-Wien Pipeline and Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke ./. Finanzlandesdirektion für Kärnten), Slg. 2001, I-8365 und zur Endentscheidung des VfGH Erk v. 13.12.2001, B 2251/97 (Beihilfenqualität der Energieabgabenvergütung). 116 Siehe VfSlg 14.863/1997; 14.963/1997; 15.683/1999.

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gliedstaaten, sondern auch für im Inland absolvierte einschlägige fachliche Tätigkeiten zur Anwendung kommen müssen117. Die markanteste Entscheidung des Verfassungsgerichtshof in diesem Zusammenhang ist freilich die, den Vorrang sekundären Gemeinschaftsrechts vor innerstaatlichem Verfassungsrecht mit folgenden schlichten Sätzen sozusagen sang- und klanglos zu akzeptieren: „Der . . . Möglichkeit eines Einspruchs im Sinne der Richtlinie 90/387/EWG in Verbindung mit der Richtlinie 97/51/EG“ – es handelt sich um die ONP-Rahmenrichtlinie im Telekommunikationsrecht – „steht mithin lediglich Art. 133 Z 4 B-VG – diese Bestimmung schließt die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof gegen Entscheidungen bestimmter oberster unabhängiger Verwaltungsbehörden aus – entgegen. . . . Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts muß also dahingehend durchschlagen, daß für den Anwendungsbereich der Richtlinie Art. 133 Z 4 B-VG verdrängt wird.“118 Man muß kein Prophet sein um vorherzusagen, daß, sollte es einmal in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu vergleichbaren Darlegungen kommen, der Begründungsaufwand dort ein höherer sein wird. Es ließen sich noch eine Reihe von Judikaturfeldern identifizieren, wo Gemeinsamkeiten, aber auch, wo interessante Unterschiedlichkeiten in der Rechtsprechung festgestellt werden können: Der zuvor angesprochene Pragmatismus des Verfassungsgerichtshof setzt sich etwa beim Umgang mit dem vorbehaltlosen Grundrecht der Kunstfreiheit fort. Hier verzichtet der Verfassungsgerichtshof auf die Figur der ausschließlichen Begrenzung durch kollidierende Verfassungsnormen119 und geht vielmehr der Sache nach in seiner Rechtsprechung davon aus, Art. 17a StGG in gewissen Grenzen eine Art ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt zu unterstellen120. 117

VfSlg 15.683/1999. VfSlg 15.427/1999; siehe in diesem Zusammenhang auch den Vorlagebeschluss des VwGH v. 24.11.1999, 99/03/0071 und die Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed v. 13.12.2001, EuGH, Urt. v. 22.5.2003, Rs. C-462/99 (Connect Austria Gesellschaft für Telekommunikation GmbH ./. Telekom-Control-Kommission). 119 Zur jüngeren deutschen Rechtsprechung siehe die Übersicht von Karpen/Nohe, Die Kunstfreiheit in der Rechtsprechung seit 1992, JZ 2001, S. 801; für die Entwicklung bedeutsame Urteile des BVerfG sind insb. BVerfGE 30, 173 (Mephisto); BVerfGE 67, 213 (Anachronistischer Zug); BVerfGE 81, 278 (Bundesflagge); BVerfGE 83, 130 (Mutzenbacher). 120 Vgl. z. B. VfSlg 10.401/1985 (Erfordernis einer Baubewilligung); VfSlg 11.567/ 1987 und 14.923/1997 (Verwaltungsstrafe wegen ungebührlicher Lärmerregung durch Klavierspielen, wo insb. die Abwägungspflicht der Behörde betont wird); 11.737/1988 (Arbeitsbewilligung für ausländischen Künstler bei unselbständiger Beschäftigung): „Wie der VfGH in seiner Judikatur zu derartigen absoluten Grundrechten erkannt hat (. . .), bindet ein derartiges Grundrecht zunächst den einfachen Gesetzgeber insoweit, als dieser nicht in die grundrechtlich verbürgte Freiheitssphäre in einer Weise eingreifen darf, die sich direkt und intentional gegen den grundrechtlich verbürgten Anspruch richtet. (. . .) Das Grundrecht der Freiheit der Kunst erschöpft sich freilich nicht in diesem Gehalt, verschafft aber dem Künstler für seine Betätigung auch keinen Frei118

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Auffällig, um ein letztes Beispiel zu bringen, ist sicherlich auch die unterschiedliche Rechtsprechung zur Rundfunkfreiheit. Während das Bundesverfassungsgericht der Rundfunkfreiheit bekanntlich für die Demokratie konstituierende Bedeutung zumißt und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG insbesondere auch weitreichende organisations- und verfahrensrechtliche Verfassungsdirektiven entnimmt121, ist diesbezüglich – obwohl die österreichische Bundesverfassung ein eigenes, auf die Organisation der einfach gesetzlichen Rundfunkordnung abzielendes Bundesverfassungsgesetz enthält122 – der österreichische Verfassungsgerichtshof erstaunlich zurückhaltend. Die Liberalisierung der österreichischen Rundfunkordnung kam nicht vom Verfassungsgerichtshof, sondern vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus Straßburg123. Erst in der Folge hat der Verfassungsgerichtshof nachgesetzt124. Und die Ausgestaltung der staatlichen Rundfunkaufsicht mißt der Verfassungsgerichtshof zwar an staatsorganisatorischen Vorschriften beziehungsweise in deren Rahmen wieder mit gleichheitsrechtlichen Argumentationsfiguren125, die Rundfunkfreiheit kommt als Orbrief, denn der Künstler bleibt (. . .) in seinem Schaffen an die allgemeinen Gesetze gebunden. Der VfGH hat in diesem Zusammenhang im Anschluß an eine von der Lehre geprägte Terminologie von ,immanenten Grundrechtsschranken‘ gesprochen.“ Jüngst zu einer „Gegenveranstaltung“ zu einem Totengedenken des Kameradschaftsbundes: „Auch im Fall einer künstlerischen Aktion wäre das künstlerische Schaffen kraft der immanenten Grundrechtsschranken zu Art17a StGG jedenfalls an die allgemeinen Gesetze, zu denen auch das VersammlungsG 1953 zählt (siehe i. d. S. bereits VfSlg. 10.401/1985), gebunden (siehe etwa VfSlg. 10.401/1985, 11.737/1988). Daß daher – wie die Beschwerdeführer vermeinen – ein Schaffen in der Art des hier zu beurteilenden Geschehens allein schon wegen seines künstlerischen Charakters von den ordnungspolizeilichen Vorschriften des VersammlungsG 1953 ausgenommen sei, kann der Verfassungsgerichtshof nicht finden, zumal die im VersammlungsG 1953 vorgesehene Anmeldung einer Versammlung dem Grundrecht der Freiheit der Kunst weder intentional noch im Hinblick auf ihre Auswirkung widerspricht.“ 121 Siehe z. B. BVerfGE 83, 238; BVerfGE 74, 297; BVerfGE 73, 118. 122 Gemäß Art. 1 Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes vom 10. Juli 1974 über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks hat der Bundesgesetzgeber die näheren Bestimmungen für den Rundfunk und seine Organisation festzulegen und dabei die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programme sowie die Unabhängigkeit der Personen und Organe, die mit der Besorgung von Aufgaben des Rundfunks betraut sind, zu gewährleisten. Rundfunk wird durch Art. 1 Abs. 3 des genannten Bundesverfassungsgesetzes zu einer öffentlichen Aufgabe erklärt. 123 EGMR, Urt. v. 24.11.1993, Informationsverein Lentia, EuGRZ 1994, S. 549 (= ÖJZ 1994, S. 32) (im Gefolge unter anderem eines abweisenden Erkenntnisses des VfGH VfSlg 9909/1983); vgl. in weiterer Folge auch EGMR, Urt. v. 21.9.2000, Tele 1 Privatfernsehgesellschaft, MR 2000, S. 263, wonach die Möglichkeit der Verbreitung im Kabelnetz eine taugliche Alternative zur terrestrischen Verbreitung darstellen und eine Rechtfertigung dafür bieten kann, daß die terrestrische Verbreitung von Fernsehprogrammen der öffentlichen Rundfunkanstalt vorbehalten wird. 124 VfSlg 14.258/1995 (Aufhebung des Monopols im aktiven Kabelrundfunk); 14.635/1996 (Werbeverbot im Kabelrundfunk). 125 Der VfGH hat die Einrichtung einer unabhängigen Zulassungsbehörde für private Rundfunkveranstalter mit der Begründung als verfassungswidrig erachtet, daß

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ganisationsdirektive für die staatliche Rundfunkaufsicht in der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs aber nicht vor. Und den an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht geschulten deutschen Rundfunkrechtler wird es auch erstaunen, daß der Verfassungsgerichtshof die Frage, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Übernahme von Werbeaufträgen privater Rundfunkveranstalter ablehnen darf oder muß, nicht aus der Rundfunkfreiheit, sondern – für den österreichischen Verfassungsgerichtshof durchaus typisch – aus dem Sachlichkeitsgebot des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes begründet126. V. Das Rollenbild Lassen Sie mich zum Abschluß noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob das Bild vom „aktiven“ Bundesverfassungsgericht gegenüber dem doch etwas zurückhaltenderen österreichischen Verfassungsgerichtshof heute noch zutreffend ist. Ich glaube, daß die Beispiele zeigen, daß diese Frage für unterschiedliche Rechtsprechungslinien unterschiedlich zu beantworten ist. Nicht zuletzt durch seine Grundrechtsjudikatur ist sicherlich das Bundesverfassungsgericht das auffälligere Verfassungsgericht. Aber auch der österreichische Verfassungsgerichtshof scheut das Licht der Öffentlichkeit und die Arena politisch heikler Verfassungsfragen nicht, er weicht ihnen auch nicht aus, selbst wenn er manchmal könnte. Insbesondere im Staatsorganisationsrecht hat der österreichische Verfassungsgerichtshof in seiner jüngsten Judikatur die einschlägigen Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung deutlich weiter entwickelt. Zur Sicherung der demokratischen Legitimation und Verantwortlichkeit der Verwaltung und damit insbesondere auch der Kontrollkompetenzen des Parlaments hat er in mehreren Zusammenhängen Versuchen des Gesetzgebers, unabhängige Verwaltungsbehörden oder ausgegliederte Rechtsträger mit Hoheitsgewalt einzurichten, deutliche Grenzen gesetzt127. Unabhängige Regulierungsvon Verfassungs wegen der Leitungs- und Weisungszusammenhang zu einem obersten Verwaltungsorgan, also einem Bundesminister, gewahrt bleiben muß, siehe VfSlg 15.886/2000 (Regionalradiobehörde). Das Ergebnis, daß die Zulassung zur Rundfunkveranstaltung verfassungsrechtlich nicht einer unabhängigen Behörde überantwortet werden darf, sondern dem unmittelbaren Einfluß der politischen Verwaltungsspitze unterstehen muß, sollte zum Nachdenken anregen. 126 VfSlg 15.533/1999. 127 Siehe zur Betrauung ausgegliederter Rechtsträger in Privatrechtsform mit Hoheitsgewalt insbesondere VfSlg 14.473/1996 (Austro-Control-GmbH); für den VfGH macht es auch keinen Unterschied, ob der ausgegliederte Rechtsträger in öffentlichrechtlicher Organisationsform eingerichtet ist, siehe zur damaligen Bundeswertpapieraufsicht, einer Anstalt öffentlichen Rechts, VfGH 12.12.2001, G 269/01; vgl. auch VfSlg 15.946/2000 (zur Diensthoheit des Leiters einer ausgegliederten Krankenanstalt über die dort beschäftigten Landesbediensteten); zu den verfassungsrechtlichen Determinanten bei der Einrichtung unabhängiger Verwaltungsbehörden siehe VfSlg 15.427/

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behörden in den liberalisierten Infrastrukturbereichen oder eine unabhängige Finanzmarktaufsicht mußten im Gefolge dieser Rechtsprechung umorganisiert oder verfassungsgesetzlich eigens verankert werden. Diese Rechtsprechung ist deutlich von dem Gedanken getragen, staatliche Kernbereiche in der traditionellen Staatsorganisation zu erhalten. Ein bißchen gewagt könnte man formulieren: Was dem deutschen Bundesverfassungsgericht sein Maastricht-Urteil, ist dem österreichischen Verfassungsgerichtshof seine Ausgliederungsjudikatur. Ich meine, daß entlang der Linie judicial activism/judicial self restraint heute kein allgemeiner Unterschied zwischen den beiden Verfassungsgerichten mehr festzumachen ist. Wenn, wagt man dennoch den Versuch, eine allgemeine Tendenz abzuleiten ist, dann liegt meines Erachtens ein Unterschied im Selbstverständnis der beiden Verfassungsgerichte vielleicht in Folgendem: Insbesondere auch vom Stil und von der Rhetorik der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründungen her ist die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts doch durch ein gewisses – jetzt durchaus positiv gemeint – „Pathos“ eines Verfassungsgerichts getragen. Die Betonung liegt hier deutlich auf dem ersten Teil des Wortes. Insoweit tendiert das Bundesverfassungsgericht auch ein gutes Stück weit mehr zu allgemeinen verfassungsrechtlichen Ableitungen und grundsätzlichen Aussagen. Der österreichische Verfassungsgerichtshof ist demgegenüber meines Erachtens doch stärker auf die Einzelfallentscheidung konzentriert. Er ist vor allem auch, Betonung auf dem zweiten Teil des Begriffs, Verfassungsgericht. Dazu trägt wohl auch die besondere Ausgestaltung der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts in Österreich, insbesondere die Einrichtung der so genannten Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit, bei.

1999 (Telekom-Control-Kommission); VfSlg 15.886/2000 (Regionalradiobehörde); VfGH 13.6.2001, G141/00 u. a. (Privatrundfunkbehörde); VfSlg 16.048/2000 (Übernahmekommission).

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Michael Holoubek Leitung: Ludwig Adamovich Von Annette Schorr Zu Beginn der Diskussion merkte der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ludwig Adamovich an, daß bei Betrachtung der Rechtsprechung der beiden Verfassungsgerichte der Eindruck entstehe, die Grenzen zwischen den beiden Begriffe „judicial activism“ und „judicial-restraint“ würden zunehmend verschwimmen. Besonders in Österreich habe die Annäherung der österreichischen Rechtsprechung an die des Bundesverfassungsgerichts Kritiker sowohl im Bereich der Politik als auch im Bereich der Rechtswissenschaft auf den Plan gerufen. Dies sei aber insoweit nicht überraschend, weil Hans Kelsen, der Architekt der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Begriffe wie Gerechtigkeit, Freiheit und Billigkeit als rein politische Begriffe und nicht als justitiabel angesehen habe, bei denen, das sei der wesentliche Punkt, es auch nichts zu judizieren gebe. Dies habe sich aber in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert. Politiker hätten zu verstehen gegeben, daß nicht das Gericht das letzte Wort in Fragen der Verfassungsinterpretation habe. Univ.-Prof. Dr. Hans H. Klein, Bundesverfassungsrichter a. D., machte darauf aufmerksam, daß es zutreffend sei, daß das Bundesverfassungsgericht zu größerer Grundsätzlichkeit in seinen Entscheidungen neige als der österreichische Verfassungsgerichtshof. Seiner Ansicht nach sei dies damit zu erklären, daß weniger grundsätzliche Entscheidungen in den Kammern getroffen würden, in deren Entscheidungen ein ins Grundsätzliche gehender Begründungsstil schwächer ausgeprägt sei als in den Senaten oder bei den obersten Bundesgerichten. Diese unterschiedlichen Stile seien vielleicht mehr in der deutschen Rechtsprechungstradition begründet als im Verfassungsorgancharakter des Bundesverfassungsgerichts. Er warf die Frage auf, ob in den Vergleich nicht auch die beiderseitige Bezugnahme auf die Rechtsprechung in Straßburg miteinbezogen werden müßte. Im Unterschied zu Deutschland gelte die Europäische Menschenrechtskonvention in Österreich als Verfassungsrecht, woraus eine sehr genaue Beobachtung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in

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Straßburg resultiere. Naturgemäß scheine diese Rechtsprechung in Deutschland nicht mit der gleichen Deutlichkeit auf, weil die Europäische Menschenrechtskonvention in Deutschland nicht im Range eines Verfassungsgesetzes stehe. Andererseits habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung mit Blick auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht, daß eine Interpretation der Grundrechte immer mit Blick auf die Rechtsprechung in Straßburg erfolge. Er glaube, daß das Bundesverfassungsgericht, auch wenn es mit Zitaten zurückhaltender sei, die Grundrechte nicht ohne einen Blick nach Straßburg interpretiere. Diese indirekten Wechselbezüge seien allerdings wesentlich schwerer festzustellen, dürften jedoch seiner Ansicht nach nicht unberücksichtigt bleiben. Die dargestellten Unterschiede in der Rechtsprechung hinsichtlich des Verhältnisses des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht seien nicht überzeugend, da das Bundesverfassungsgericht einer richtlinienkonformen Interpretation deutschen Rechts, einschließlich des Verfassungsrechts, im Prinzip ebensowenig widerspreche, wie es sich einem Vorabentscheidungsverfahren nicht entziehen würde. Im Anschluß stellte Dr. Siegfried Jutzi, MdL, die Frage, ob die markanten Unterschiede z. B. in der Rechtsprechung zur Gleichheit der Geschlechter neben einer unterschiedlichen Interpretation der Verfassungsnormen ihren Ursprung nicht auch in der unterschiedlichen Zusammensetzung der Gerichte haben könnte, da Rechtsprechung immer noch von Menschen gemacht werde. Ihn interessiere insoweit auch der Frauenanteil am Verfassungsgerichtshof. O. Prof. Dr. Jörg Paul Müller, Wissenschaftskolleg Berlin, verwies darauf, daß auch in der Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention Verfassungsrang habe. Im Bereich des internationalen Rechts und des Verfassungsrechts gebe es zwischen Österreich und der Schweiz mehr Ähnlichkeiten als zwischen Deutschland und Österreich. Ihn interessiere, ob dies auch für die UNO-Pakte, vor allem den UNO-Pakt II, der weitgehend self-executing sei, gelte. In der schweizerischen Rechtsprechung werde er durchaus parallel zur Europäischen Menschenrechtskonvention geprüft, angewandt und zitiert. Es gäbe dort zwar nicht die Urteile mit einer vergleichbaren Bindungswirkung wie die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aber in den Berichten der Menschenrechtskommission stecke einiges für die Auslegung der Menschenrechte im Sinne der UNO Beachtliches an juristischer Substanz. Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek schloß sich Klein an, daß Grundsätzlichkeit auch etwas mit dem Begründungsstil zu tun habe. In beiden Ländern bestehe hinsichtlich der Ausführlichkeit und der juristischen Argumentation eine unterschiedliche Kultur der Entscheidungsbegründung, die bis hin zur Verfassungsgerichtsbarkeit wirke. Interessant sei die Frage, ob Wechselwirkungen sozusagen im Dreieck über Straßburg nachzuweisen seien. Das Bundesverfassungsgericht nehme häufiger auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als auf Österreich Bezug. In Österreich sei dies anders, weil ein Dialog

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zwischen den Gerichten bestehe. Die Wechselwirkungen seien eher in der Form zu beobachten, daß sich Grundrechtsdogmatik und Begründungsfiguren über Straßburg in anderen Rechtskulturen nachweisen ließen. Zu berücksichtigen sei auch, daß die Richter in Straßburg von allen europäischen Höchstgerichten am wenigsten auf deutsche Grundrechtsfiguren eingingen oder sie übernähmen. Der französische und englische Einfluß sei wesentlich größer. Er stelle vielmehr die These auf, die aber noch genauer zu überprüfen sei, daß die Rechtsprechung in Straßburg als Filter wirke und sich selten wirkliche Bezugnahmen und Einflüsse nachweisen ließen. Überraschend sei aus Sicht der österreichischen Staatsrechtslehrer, daß der Verfassungsgerichtshof nicht wie das Bundesverfassungsgericht versucht habe, sich in manchen Fragen bewußt als Pol gegenüber dem Europäischen Gerichtshof zu etablieren, um so bestimmte Positionen besser transportieren zu können, sondern sich immer sehr systemkonform verhalten habe, ohne sich anders als das Bundesverfassungsgericht zu positionieren. Allerdings sei zu vermuten, daß auch der Verfassungsgerichtshof mit seinem Weg, erst den Dialog zu suchen und dann die eigene Position zu verdeutlichen, nicht uneffektiv sei und er sich bewußt anders positioniert habe, da auch Vorlagefragen, insbesondere wenn dies grundrechtsrelevante Fragen beträfe, ernst genommen würden und zu einer entsprechenden Auslegung führen könnten. In der Frage der Gleichheitsrechtsprechung seien die unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen ein Grund für die Unterschiede. Allerdings würde sich aufgrund der veränderten Rechtslage der Verfassungsgerichtshof heute schwer tun, dieselbe Linie nochmals zu formulieren und eine gleiche Entscheidung zu treffen. Er vermute, daß mehr die methodischen Grundhaltungen und die Frage entscheidend seien, wo Wertigkeiten gesetzt würden und nicht die Zusammensetzung der Spruchkörper den Ausschlag geben würde. Er wandte sich der von Müller aufgeworfenen Frage nach der Bedeutung der UNO-Pakte zu und führte aus, daß die UNO-Pakte innerstaatlich in Österreich praktisch keine Rolle spielten, da der UNO-Pakt II kein unmittelbar anwendbares Recht sei, sondern unter Erfüllungsvorbehalt stehe. Er habe bisher erst einmal in einem Fall zur Witwenpension überhaupt eine praktische Rolle gespielt, als ein Beschwerdeführer gegen die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zum Menschenrechtsausschuß nach New York gegangen sei, der auch eine Verletzung festgestellt habe. Diese Rechtsprechung sei in der Folge aufgegriffen worden. Auch Adamovich verwies nochmals darauf, daß sich nichts geändert habe, seitdem Frauen Mitglieder des Gerichtshofs seien. Holoubek widersprach, er sei insoweit anderer Ansicht. Dr. Evelyn Haas, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, erklärte sich damit einverstanden, daß deutsche Richter dazu neigten, ins Grundsätzliche zu gehen. Dies sei bereits in den mittleren Instanzen zu beobachten, wo ausführlich die

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verschiedenen Ansichten diskutiert würden, um auch den höheren Instanzen vorzugeben, wie zu entscheiden sei. Da die meisten Entscheidungen als Nichtannahmeentscheidungen endeten, konzentriere man sich bei den Revisionsentscheidungen auf das Wesentliche, das in Auswertung aus früherer Rechtsprechung und der Literatur zu entwickeln sei. Im Bundesverfassungsgericht sei die Neigung zu lehrbuchartigen Darstellungen bei den Professoren größer als bei denjenigen Richtern, die aus der Fachgerichtsbarkeit kämen. Angesichts der in Österreich auftretenden Probleme sei der Subsidiaritätsgrundsatz des deutschen Verfassungsprozeßrechts nur zu begrüßen, weil sich das Bundesverfassungsgericht, da die Feststellungen bereits getroffen seien, darauf konzentrieren könne, ob das Recht oder die Rechtsanwendung Verfassungsrecht entspreche. Dies stelle zum einen eine Erleichterung dar, zum anderen würden so auch nicht die Konturen zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit verwischt. Hinsichtlich der Frage, ob die Beteiligung von Frauen in den Spruchkörpern zu einer Veränderung der Rechtsprechung geführt habe, zeigte sie sich im wesentlichen mit den bereits gemachten Ausführungen einverstanden. Es sei gewagt, aus dem Anteil der Frauen in einem Spruchkörper etwas ableiten zu wollen. Auch Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs, betonte nochmals, daß bei nahezu allen Entscheidungen Frauen auf seiten der Mehrheit und der Minderheit zu finden seien. Als Beispiel für das von Klein angesprochene Dreiecksverhältnis der beiden Verfassungsgerichte, vermittelt über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, verwies er auf den Eigentumsschutz für öffentlich-rechtliche Ansprüche. Er habe den Eindruck, daß die Rechtsprechung in Straßburg ihren Ursprung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts habe. Österreich wiederum sei erst durch die Rechtsprechung in Straßburg zu einer Änderung seiner Rechtsprechung gebracht worden, obwohl ein Dialog zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Verfassungsgerichtshof bestanden habe. Er verwies im Fall Österreichs gerade auch auf die schweizerischen Einflüsse. Besonders die Entwicklung der Erwerbsfreiheitsrechtsprechung, die große Bedeutung für die materielle Grundrechtsrechtsprechung habe, sei in erheblichem Maße durch die schweizerische Rechtsprechung geprägt worden. Er unterstrich, daß in der Vorbereitung einer Entscheidung wesentlich häufiger auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschaut werde, als dies in Zitaten zum Ausdruck käme. Ein Dialog finde in erster Linie zwischen den Staatsrechtslehrern und weniger zwischen den Gerichten selbst statt. Aber auch dieser Austausch habe unmittelbaren Einfluß auf die Rechtsprechung. Auch Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., betonte, daß die großen Gleichheitsrechtsentscheidungen in Zeiten getroffen worden seien, als die zahlenmäßige Beteiligung der Frauen in

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den Senaten noch gering gewesen sei. Generell gelte, daß je unterschiedlicher die Erfahrungshorizonte innerhalb eines Gerichts seien, desto mehr Chancen bestünden, daß unterschiedliche Denkweisen, Blickrichtungen und Interessen berücksichtigt würden. Das gelte aber unabhängig vom Geschlecht der Beteiligten. Hinsichtlich der gegenseitigen Bezugnahmen führte sie aus, daß die Selbstbezogenheit des Bundesverfassungsgerichts auch international wahrgenommen werde. Eine ganz andere Entwicklung sei dagegen bei den jungen Verfassungsgerichten in Osteuropa und Afrika zu beobachten, die sehr auf die Rechtsprechung der anderen Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schauten und Bezug nähmen. Es sei aber zu fragen, welchen Wert und welche Vorzüge diese sogenannte „fünfte Auslegungsmethode“ habe. Bereits in dem Vortrag sei deutlich gemacht worden, daß diese Methode auch immer ein starkes rechtspolitisches Argument enthalte. In Hinblick auf die europäische Integration spiele es eine erhebliche Rolle, daß Gerichte, auf diese Weise dokumentiert, miteinander ins Gespräch kämen. Die Rechtsvergleichung diene auch dazu, voneinander zu lernen, auch wenn man letztlich zu unterschiedlichen Ergebnissen käme. Gerade im Bereich der Verfassungsrechtsprechung fördere der Dialog die Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Menschenrechtsstandards, was auch gerade den jüngeren Verfassungsgerichten helfe, die noch nicht über eine mit der des österreichischen Verfassungsgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts vergleichbare Autorität verfügten, sondern sich in der Auseinandersetzung mit ihren politischen Organen erst behaupten müßten. Sie mahnte an, daß dieser Austausch nicht einseitig verlaufen dürfe, sondern erwidert werden müsse. Ein Lernprozeß dieser Art müsse ein wechselseitiger sein. Dadurch zeichne sich gerade der Verfassungsgerichtshof aus. Univ.-Prof. Dr. Walter Rudolf, Universität Mainz, widersprach Haas bei der These, daß es sich um eine typisch deutsche Entscheidungskultur handele, die es schon immer gegeben habe. Vielmehr sei das erst seit einem halben Jahrhundert der Fall. Zwischen den Entscheidungen des Reichsgerichts, die sehr knapp gehalten waren und heutigen, vor allem öffentlich-rechtlichen Entscheidungen bestehe ein sehr großer Unterschied. Auch die österreichischen Entscheidungen seien wesentlich kürzer begründet. Zu berücksichtigen sei, je weniger deutlich Grundsätze in einer Entscheidung aufgestellt würden desto mehr könne bei künftigen Entscheidungen der Einzelfallgerechtigkeit Genüge getan werden. Wolle man vorher aufgestellte Grundsätze relativieren, bedürfe dies eines wesentlich größeren Begründungsaufwandes, was die Entscheidungen noch umfangreicher werden ließe. Die früheren Entscheidungen seien mehr am konkreten Fall ausgerichtet gewesen. Zur „fünften Auslegungsmethode“ ergänzte er, daß man in Deutschland besonders von strafrechtlicher Seite versucht habe, der Europäischen Menschen-

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rechtskonvention mit der Behauptung, sie sei ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts, einen höheren Rang zu verleihen. Dies werde aber heute nicht mehr vertreten und sei auch nicht haltbar. Er stimmte dem Hinweis von Klein zu, daß hier aber die völkerrechtsfreundliche Auslegungsregel eine Rolle spiele. Er sei sogar der Meinung, daß es in Deutschland dahingehend einen ungeschriebenen Rechtssatz des Verfassungsrechts gebe, wonach nachfolgendes, von dem völkerrechtlichen Vertrag abweichendes Recht soweit wie möglich völkerrechtskonform auszulegen sei. Dieser Rechtssatz sei nicht nur speziell für die Europäische Menschenrechtskonvention von Bedeutung, sondern gelte für alle völkerrechtlichen Verträge. Auch Adamovich wies darauf hin, daß hinsichtlich des Umfangs der Entscheidungen in Österreich die gleiche Entwicklung wie in Deutschland zu beobachten sei. Der Vergleich der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zwischen 1921 und 1933 mit den heute getroffenen Entscheidungen zeige, daß die Entscheidungen heute gegenüber den früheren beinahe schon Lehrbuch- oder Kommentarcharakter angenommen hätten. Dr. Karin Graßhoff, Bundesverfassungsrichterin a. D., stimmte zu, daß die Beteiligung der Frauen an der Verfassungsrechtsprechung zu keiner anderen Rechtsprechung geführt habe. Sie wies auf Wechselwirkungen zwischen deutschem und österreichischem Verfassungsprozeßrecht hin. Das österreichische Verfassungsprozeßrecht hätte dem Bundesverfassungsgericht in der Familienbesteuerungsentscheidung von 1998 Anlaß zu „judicial activism“ gegeben. Abschließend führte Holoubek unter Bezugnahme auf Korinek nochmals aus, daß öffentlich-rechtliche Ansprüche ein gutes Beispiel für einen Einfluß auch „im Dreieck“ seien. Als zweites Beispiel könne man den Fall Markt Intern aus Deutschland anführen, in dem es um die Frage ging, ob Werbung dem Schutz der Meinungsfreiheit unterliege. Die Gedanken daraus wurden von Österreich unter Berufung auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entnommen. In bezug auf die „fünfte Auslegungsmethode“ sei deutlich zu machen, daß es um Rechtsangleichung, einen gemeinsamen europäischen Standard gehe. Rechtsangleichung sei mehr, als das Wort von der Auslegungsmethode nahelege. Die völkerrechtskonforme Interpretationsmethode ergebe sich überall dort für die innerstaatliche Rechtswirkung zwangsläufig, wo zumindest gemäßigter Monismus oder der Primat des Völkerrechts anerkannt werde. Dies dürfte auch bei der Europäischen Menschenrechtskonvention nachzuweisen sein. Dies sei bei den UNO-Pakten nicht so ins Bewußtsein gekommen, da die wesentlichen Rechte durch die Europäische Menschenrechtskonvention abgedeckt seien, so daß sich die Frage nicht stelle. Einzelfälle zeigten aber, daß dies nicht überall so sei.

Zur Urteilswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Von Heinz Schäffer „Unerläßlich für eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit ist der Dialog mit entsprechenden ausländischen Einrichtungen und mit der Rechtswissen1 schaft.“ (Ludwig K. Adamovich)

I. Einleitung Deutsche und österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit sind angesichts der Kompetenzfülle beider Gerichtshöfe durch eine Vielfalt verfassungsgerichtlicher Verfahrensarten gekennzeichnet. Bei aller Ähnlichkeit der beiden Gerichtshöfe in der Grundstruktur ihrer Aufgaben und Verfahren ist doch das deutsche System viel umfassender konzipiert. Während etwa in Österreich nur bestimmte Meinungsverschiedenheiten über Kompetenzfragen vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof ausgetragen werden können, hat Deutschland ein umfassendes Organstreitverfahren. Die Verfassungsbeschwerde, die sich in Österreich nur gegen Verwaltungsakte richten kann, ist in Deutschland infolge des Aufbaus der Gerichtsbarkeit in der Regel Urteilsverfassungsbeschwerde. Anders als Deutschland kennt Österreich kein förmliches Parteienverbotsverfahren. Was am meisten interessiert und im Staatsleben die weitest reichenden Folgen hat, sind die Normenkontrollverfahren, auf die sich die folgenden Ausführungen im wesentlichen beschränken sollen. II. Zur Entscheidungsbefugnis der Verfassungsgerichte 1. Die Gesetzesprüfung – Prinzipien und Prüfungsauftrag

Wenngleich keine Rechtsordnung ein Modell rein verwirklicht, so orientiert sie sich in der Regel doch an bestimmten theoretischen Grundvorstellungen. Dies spielt insbesondere bei der Umschreibung des allgemeinen Prüfungsauftrages eines Verfassungsgerichtes und bei den daraus gezogenen Schlußfolgerun1 Ludwig K. Adamovich, Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Wieser/Stolz (Hg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, FS Richard Novak, 2000, S. 7 ff.

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gen (vor allem hinsichtlich Folgen fehlerhafter Staatsakte und der Wirkungen eines fehlerhafte Normen betreffenden Urteils in der Gesamtrechtsordnung) eine nicht unwesentliche Rolle. Die meisten in neuerer Zeit (nach dem 2. Weltkrieg und später) eingerichteten Verfassungsgerichte mit Gesetzesprüfungsbefugnis beruhen – im Gegensatz zu dem in dieser Beziehung seit jeher viel stärker „pragmatisch“ orientierten österreichischen Konzept – auf der „puristischen“ Vorstellung, daß ein dem Gesetz anhaftender schwerwiegender Fehler dieses von Anfang an gleichsam inexistent mache, so daß es eigentlich auch keine Wirkungen in der Rechtsordnung zeitigen konnte beziehungsweise hätte können. In einem „Nichtigkeitsmodell“ ginge konsequenter Weise Rechtsrichtigkeit als oberster Wert vor Rechtsbeständigkeit und Vertrauensschutz. Dies führt – ohne besondere Anordnungen – begreiflicherweise zu schwerwiegenden Problemen der Rückabwicklung von Rechtsakten und Rechtshandlungen und gelegentlich zu einer Scheu vor Verfassungswidrigerklärung eines Gesetzes. Wenn die Verfassung die Wirkungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nicht im einzelnen festlegt, erlaubt dies der Rechtsprechung auch die Entwicklung neuer Urteilstypen und von rechtlichen Strategien zu einer differenzierten Folgenbewältigung. Grundsätzlich anders orientiert ist ein Modell, das dem Verfassungsgericht eine Bereinigungsfunktion im wesentlichen durch Beseitigung der verfassungswidrig erkannten Norm aus dem Rechtsbestand zuweist (Aufhebungsmodell). In diesem Modell wirkt die Aufhebung in der Regel für die Zukunft; nur für bestimmte Situationen beziehungsweise Fallkonstellationen werden weitere besondere Urteilswirkungen vorgesehen oder zugelassen (Kompromißlösung zwischen den Allgemeininteressen an Rechtsrichtigkeit und Rechtsbeständigkeit der Rechtslage). Auch zwischen so verwandten Systemen der Verfassungsgerichtsbarkeit wie dem deutschen und dem österreichischen existieren daher verschiedene Ausprägungen und unterschiedliche Antworten auf gleichgelagerte Sachprobleme. Es kommt in erster Linie wesentlich darauf an, wie eine Verfassung den verfassungsmäßigen Prüfungsauftrag des Verfassungsgerichts grundsätzlich umschreibt beziehungsweise auf welche Art und wie detailliert sie in prozeßrechtlicher Hinsicht die Sprüche und Urteilswirkungen im einzelnen (zumindest erkennbar) determiniert. So ist etwa der Prüfungsauftrag des deutschen Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz sehr weit umschrieben und läßt in der Ausführungsgesetzgebung beziehungsweise sogar in der Staatspraxis für verschiedene Ausgestaltungen der Anordnungsbefugnisse des Verfassungsgerichts und hinsichtlich der Urteilswirkungen Raum. (Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG „entscheidet“ das Bundesverfassungsgericht „über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetz . . .“) Ähnliches gilt etwa auch für die italienische Corte Costituzionale oder das spanische Tribunal Constitucional.

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Hingegen ist der österreichische Verfassungsgerichtshof seit jeher schon vom Verfassungstext mit vergleichsweise klar umrissenen Befugnissen ausgestattet und zu einer viel präziseren Aussage gezwungen. Seit 1920 erkennt er über die „Verfassungswidrigkeit“ von Bundes- oder Landesgesetzen (Art. 140 Abs. 1 BVG), und er hat ein solches Gesetz im Falle der Verfassungswidrigkeit aufzuheben (Art. 140 Abs. 3 B-VG)2. Ihm ist damit eine klare, der Gesetzgebung entgegengesetzte, grundsätzlich in die Zukunft gerichtete Normvernichtungsfunktion hinsichtlich bestimmter geltend gemachter Bedenken zugewiesen. Es obliegt ihm keine endgültige und abschließende Verfassungsmäßigkeitsprüfung, seine Urteile münden daher nie in ein unbedingtes „Verfassungsmäßigkeitsattest“. Im folgenden wird versucht, die einzelnen Elemente der beiden Systeme durch ein beständiges Hin- und Her-Wandern des Blickes kontrastierend darzustellen. 2. Prozessuale Erledigungsformen

Schon die prozessuale Terminologie und Entscheidungspraxis ist bei aller Ähnlichkeit in unseren beiden Ländern verschieden. a) Prozessuale Form In Deutschland ergehen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als „Urteile“, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, andernfalls handelt es sich um „Beschlüsse“ (§ 25 Abs. 2 BVerfGG). In Österreich werden diese prozessualen Formen nach einem anderen Kriterium unterschieden: verfahrensrechtliche Enderledigungen (Zurückweisung des Antrags beziehungsweise Einstellung des Verfahrens) oder prozeßleitende Erledigungen (wie insbesondere die Einleitung eines weiteren Gesetzesprüfungsverfahrens anläßlich eines bereits anhängigen Verfahrens: Einleitungsbeschluß ist gleich Prüfungsbeschluß) ergehen in Form einer als Beschluß bezeichneten Entscheidung3. Für die in Urteilsform zu treffende Sachentscheidung wird – insoweit auch in der Tradition des alten Reichsgerichts der österreichisch-ungarischen Monarchie – der Begriff „Erkenntnis“ verwendet. 2 Der nach der Stammfassung so klare und uneingeschränkte Auftrag ist seit 1975 durch eine nicht mehr so eindeutige Formulierung ersetzt, die zumindest teilweise auch andere Entscheidungsformen des österreichischen Verfassungsgerichtshofes zuließe. Art. 140 Abs. 3 B-VG wird jedoch von Judikatur und Lehre durchwegs weiterhin im ursprünglichen Sinn verstanden. 3 Das B-VG kennt übrigens die Bezeichnung „Beschluß“ nicht; es verwendet bloß das Zeitwort „erkennen“, wenn offensichtlich von der Sachentscheidung die Rede ist. Nur das Erkenntnis ergeht (gemäß § 19 Abs. 2 VerfGG) „Im Namen der Republik“.

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In Österreich gilt daher: Bei Fehlen einer Prozeßvoraussetzung wird der Aufhebungsantrag zurückgewiesen, bei Wegfall des Verfahrensgegenstandes oder der Präjudizialität das Verfahren eingestellt4. Wird eine Vorschrift (ein Vorschriftenteil) zur Gänze angefochten, ist jedoch nur ein Teil des Angefochtenen präjudiziell, so sind die weitergehenden Gesetzesprüfungsanträge überschießend und somit schon aus diesem Grunde insoweit unzulässig. In solchen Fällen wird der Antrag nur im zulässigen Umfang meritorisch entschieden (also entweder der betreffende Normteil aufgehoben oder es wird bei Nichtvorliegen einer Verfassungswidrigkeit dem Aufhebungsantrag keine Folge gegeben); im übrigen wird der überschießende Antrag zurückgewiesen. b) Spruch (Entscheidungsformel) In Österreich sind alle verfassungsgerichtlichen Verfahren, auch die Normenkontrollen, kontradiktorische Verfahren. Im Erkenntnis können daher, je nachdem ob auf Grund der inhaltlichen Beurteilung der angefochtenen Gesetzesstelle der Anfechtung stattgegeben oder nicht stattgegeben wird, in bezug auf den gestellten Aufhebungsantrag folgende Sachentscheidungen getroffen werden – dementsprechend ist die Entscheidungsformel (Urteilstenor) zu wählen: aa) Stattgebung (1) Aufhebung Gelangt der österreichische Verfassungsgerichtshof zu der Auffassung, daß das in Prüfung gezogene Gesetz verfassungswidrig ist, so hat sein Erkenntnis „auszusprechen, ob der ganze Inhalt des Gesetzes oder bestimmte Stellen als verfassungswidrig aufgehoben werden“ (§ 64 Abs. 1 VerfGG)5.

4 Wenn jedoch im Verfahren einer amtswegig eingeleiteten Gesetzesprüfung der VfGH die im Prüfungsbeschluß getroffenen Annahmen zum Vorliegen der Präjudizialität verwirft, pflegt er einzustellen (Fiktion der Zurückziehung) und nicht – was logisch korrekt wäre – den an sich selbst gestellten Antrag zurückzuweisen. 5 Die ursprünglich in der Stammfassung nicht klar (weil nicht ausdrücklich) geregelte Frage nach dem Umfang der Aufhebungsbefugnis wurde vom VfGH seit Beginn seiner Normenkontrolltätigkeit im Sinne der Bereinigungsfunktion so verstanden, daß er seine Aufgabe der Gesetzesaufhebung nicht zwingend auf das Gesetz als Ganzes zu beziehen habe, zumal unter „Gesetz“ oft auch ein Paragraph desselben als Sitz einer (verfassungswidrigen) Regelung verstanden werde. Das VerfGG 1921 hat dieser Auffassung eine einfachgesetzliche Grundlage gegeben, eine verfassungsrechtliche Untermauerung fand dies erst in der B-VG-Novelle 1925 (Art. 140 Abs. 3 i. d. F. derselben, aus dem zu erkennen ist, daß der Verfassungsgesetzgeber auch an eine Aufhebung von Normteilen gedacht hat). Eine genauere Neukonzeption des gebotenen Aufhebungsumfangs erfolgte 1975 mit der Neufassung des Art. 140 Abs. 3 B-VG.

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Die Aufhebung eines Gesetzes darf im Allgemeinen nur soweit erfolgen, als dies beantragt wurde beziehungsweise insoweit der Verfassungsgerichtshof es anzuwenden hat (Antragsprinzip). Von diesem Prinzip gilt eine doppelte Ausnahme: • Gelangt der Verfassungsgerichtshof jedoch zu der Auffassung, daß das ganze Gesetz – von einem nach der Kompetenzverteilung nicht berufenen Gesetzgebungsorgan erlassen oder – in verfassungswidriger Weise kundgemacht wurde, so hat er das ganze Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben (Gesamtaufhebung)6. Die genannten Voraussetzungen sind (nur) von Amtswegen wahrzunehmen7. • Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Aufhebung des ganzen Gesetzes offensichtlich den rechtlichen Interessen der Partei, die den Aufhebungsantrag gestellt hat oder die am Anlassfall einer amtswegigen Gesetzesprüfung beteiligt ist, zuwiderläuft. Mit dieser Regelung soll vermieden werden, daß die Partei aus dem „Erfolg“ einer Aufhebung der von ihr bekämpften Norm im Ergebnis keinen Nutzen ziehen kann. Um solche Wirkungen auszuschließen, wird dem Verfassungsgerichtshof (seit 1975) gemäß Art. 140 Abs. 3 B-VG eine Interessenabwägung zur Pflicht gemacht8. (2) Feststellung Bezüglich eines Gesetzes, das im Zeitpunkt der Fällung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes „bereits außer Kraft getreten“ ist, hat er nach Art. 140 Abs. 4 B-VG gegebenenfalls auszusprechen, daß „das Gesetz verfassungswidrig war“. bb) Nicht-Stattgebung („negative“ Erkenntnis) (1) Gelangt der österreichische Verfassungsgerichtshof jedoch zu der Auffassung, daß die gegen das geprüfte Gesetz geltend gemachten Bedenken nicht zutreffen, so ist der Aufhebungsantrag abzuweisen (beziehungsweise es wird dem Aufhebungsantrag „nicht Folge gegeben“). 6 In der bisherigen Praxis spielt die Verpflichtung zur Totalaufhebung eines teilweise angefochtenen Gesetzes keine große Rolle. Vgl. Oberndorfer, Die Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen – Landesbericht Österreich zur VII. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, EuGRZ 1988, S. 193 (200). 7 VfSlg 15.133, VfGH 27.11.2000, G 79/00. 8 Kritik an der unklaren Regelung bei Haller, Die Prüfung von Gesetzen, 1979, S. 191 ff.

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Eine andere Formulierung wird in der amtswegigen Normenkontrolle (bezüglich eines noch in Kraft stehenden Gesetzes) gewählt. Hier trifft der österreichische Verfassungsgerichtshof den Ausspruch, daß das Gesetz „nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird.“ Diese Tenorierung ist die Folge der prozessualen Situation, daß der Prüfungsbeschluß nicht als ein vom Verfassungsgerichtshof an sich selbst gerichteter Antrag formuliert ist und auch offenbar nicht als solcher gewertet wird. (2) Hinsichtlich eines bereits außer Kraft getretenen Gesetzes hat der Verfassungsgerichtshof, wenn er es nicht für verfassungswidrig hält, auszusprechen, daß das Gesetz „nicht verfassungswidrig war“ (Feststellung). In Deutschland regelt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz den Inhalt des Entscheidungsausspruchs (Entscheidungsformel, Tenor) für den Fall des Mißerfolgs des Antrages grundsätzlich nicht9. Das Bundesverfassungsgericht greift auf die allgemeine Gerichtspraxis zurück. Unzulässige Vorlagen oder Anträge werden als solche bezeichnet beziehungsweise „verworfen“ oder abgelehnt. Unbegründete Anträge werden „zurückgewiesen“10. (Hier besteht also, wenn auch nicht der Sache nach, so doch in der prozessualen Terminologie ein Unterschied zwischen deutscher und österreichischer Rechtssprache.) Dies führt weiter zum 3. Umfang der Verfassungswidrigkeit und deren Folgen

a) Österreich Zum Umfang der Aufhebung vertritt der Verfassungsgerichtshof folgende Auffassung, die sich nur zum Teil aus dem Verfassungswortlaut (Art. 140 Abs. 3 B-VG), im übrigen aus der Funktion im Verfassungssystem herleiten läßt. Neben der Bindung an die gestellten Anträge hat sich sein Erkenntnis an der ihm überantworteten Aufgabe zu orientieren, verfassungswidriges Gesetzesrecht aus dem Rechtbestand auszuscheiden (Bereinigungsfunktion). Das Erkenntnis hat Verfassungswidrigkeiten – im Rahmen der Anträge und der geltend gemachten Bedenken, so weit die Bedenken zutreffen – vollständig zu beseitigen. Der verbleibende Gesetzesteil soll aber durch die Aufhebung möglichst nicht mehr verändert werden als zur Bereinigung der Rechtslage unbedingt erforderlich, so daß tendenziell möglichst wenige Regelungen aufgehoben werden sollen, gegen die sich vorgebrachte Bedenken richten (Prinzip der Aufhebungs-

9 Geregelt sind nur die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde (§§ 93b Satz 1, 93d Abs. 1 und 3 BVerfGG) und die a limine-Verwerfung eines Antrags nach § 24 BVerfGG. 10 Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 72007, RN 372 (m.w. N.).

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ökonomie). Folglich darf einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden werden, als Voraussetzung für die Entscheidung im Anlaßfall ist, und es ist darauf zu achten, daß anderseits der verbleibende Teil des Gesetzes eine möglichst geringe Veränderung seiner Bedeutung erfährt11. Da beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können, sieht sich der österreichische Verfassungsgerichtshof veranlaßt, in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang gebührt12. Die Grenzen der Aufhebung müssen nach seiner Ansicht ferner so gezogen werden – worauf er schon im Zusammenhang mit den Prozeßvoraussetzungen besonders achtet (der Prüfungsgegenstand muß also durch den Aufhebungsantrag insoweit richtig abgegrenzt werden) –, daß einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und daß andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle in einem untrennbaren Zusammenhang stehenden Bestimmungen ebenfalls erfaßt werden13, 14. Nach österreichischer Auffassung sind – da das Recht in sprachlicher Form in Erscheinung tritt – Normtexte aufzuheben! Durch eine exakte Umschreibung der aufgehobenen Gesetzesstelle(n) – Gliederungsteile eines Gesetzes, einzelne Sätze oder Satzteile, Wortwendungen, einzelne Worte, ja sogar Wortteile oder Zahlen – bemüht sich der österreichische Verfassungsgerichtshof, die bereinigte Rechtslage so abzugrenzen, daß die verbleibenden Normtexte inhaltlich klar und deutlich zu erkennen sind15. Die Verfassungsrechtskonformität der bereinigten Rechtslage anzustreben, ist gewiß Leitlinie der Entscheidungen des österreichischen Verfassungsgerichtshofs. Die Aufhebung einer Gesetzesstelle bedeutet jedoch keineswegs, daß die „bereinigte“ (d.h. nach Aufhebung verbleibende) Rechtslage in jeder Hinsicht verfassungskonform sein muß. Denn die Aufhebung beseitigt ja nur die im Verfahren geltend gemachten und als zutreffend erkannten Verfassungswidrigkeiten16. Vom Verfassungsgerichtshof wird bei seiner Aufhebung in Kauf genom11 12

VfSlg 14.802. Z. B. VfSlg 11.190; jüngst wieder VfGH 28.6.2001, G 103/00; 29.6.2001, G 108/

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Z. B. VfSlg 12.235, 12.465. Dies gilt naturgemäß auch für amtswegig eingeleitete Prüfungsverfahren (VfSlg 8155, 8461, 12.465, 13.739). Im amtswegigen Prüfungsverfahren hat es der VfGH freilich in der Hand, weitere Bedenken, die ihm kommen, durch einen zusätzlichen Prüfungsbeschluß zu artikulieren und damit den Prüfungsumfang zu erweitern, woraus letztlich resultieren kann, daß der Sitz der Verfassungswidrigkeit in einer anderen als der zunächst angenommenen Gesetzesstelle lokalisiert (also gleichsam „verschoben“) wird. 15 Zur Klarheit der bereinigten Rechtslage Lang, in: Holoubek/Lang (Hg.), Verfassungsgerichtliches Verfahren, S. 93 (111) mit zahlreichen Judikaturbeispielen. 16 So auch Haller (FN 8), S. 273 und Lang, Der Sitz der Rechtswidrigkeit, in Holoubek/Lang (Hg.), Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 1998, S. 109. 14

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men, daß unter Umständen aus anderen Gründen eine Verfassungswidrigkeit der bereinigten Rechtslage resultiert oder verbleibt (z. B. Gleichheitswidrigkeit infolge Unterlassens einer entsprechenden Ersatzregelung durch den Gesetzgeber17). Nicht selten bleibt – angesichts der Achtung der gesetzgeberischen Entscheidungsprärogative für rechtspolitische Fragen – bei der Abwägung zwischen Bereinigungsauftrag und Handhabung eines judicial self-restraint ein Entscheidungsspielraum, wo der österreichische Verfassungsgerichtshof den Sitz der Verfassungswidrigkeit lokalisiert und wie umfangreich er die Aufhebung bemißt. Es gehört zu seinem wohlerwogenen Ermessen, ob er meint, daß – gemessen an der Bedeutung des Wortes in seinem Zusammenhang – die Regelung bei Aufhebung dieses Wortes einen völlig veränderten, dem Gesetzgeber keinesfalls mehr zusinnbaren Inhalt erhielte18 oder ob er mit der Aufhebung mehrerer zusammenhängender Absätze dem Gesetzgeber den Weg zu einer umfassenden Neuregelung ebnen will19. Verwehrt wäre es aber dem österreichischen Verfassungsgerichtshof angesichts der bestehenden Rechtslage, eine Gesetzesstelle nur in bezug auf bestimmte Aspekte, etwa hinsichtlich eines bestimmten Anwendungsbereiches aufzuheben20. b) Deutschland Ganz anders als die österreichische Regelung ist die deutsche Regelung beschaffen, was einmal in der griffigen Formel zusammengefaßt wurde: „Das Bundesverfassungsgericht ist auch Herr über die Rechtsfolgen, wenn ein Verfassungsverstoß festzustellen ist21.“ Dementsprechend sieht das Bundesverfassungsgericht den Verfahrensgegenstand und seine Aufgabe. Zwar bestimmt den Verfahrensgegenstand grundsätzlich der Antragsteller (und es gilt daher an sich die prozessuale Maxime ne eat iudex ultra petita partium), aber verschiedentlich wird dem Bundesverfassungsgericht eine über den Antrag hinausgehende Entscheidung ermöglicht: So kann im Organstreit (nach § 67 Satz 3 BVerfGG) und bei der Verfassungsbeschwerde (§ 95 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG) das Bundesverfassungsgericht eine für die Auslegung der einschlägigen Grundgesetzbestimmung erhebliche Frage mit entscheiden. Ein normalerweise den Entscheidungsgründen vorbehaltenes Entscheidungselement kann in solchen Fällen in 17 18 19 20 21

(29).

Vgl. VfSlg 8533. So z. B. VfSlg 9374. So z. B. VfSlg 3431. VfSlg 4170. Isensee, Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Wieser/Stolz (FN 1), S. 15

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den Tenor einbezogen werden.22 In der Normenkontrolle besagt § 78 Satz 2 BVerfGG ausdrücklich, daß dann, wenn weitere Bestimmungen des geprüften Gesetzes aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz oder sonstigen Bundesrecht unvereinbar sind, sie das Bundesverfassungsgericht gleichfalls für nichtig erklären kann. Während keine ausdrückliche Anordnung darüber getroffen ist, welche Entscheidung im Fall der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu treffen ist, ist die Nichtigerklärung der geprüften Norm die von § 78 Satz 1 beziehungsweise § 82 und § 95 Abs. 3 Satz 1 und 2 BVerfGG für den Fall der Nichtvereinbarkeit vorgesehene Rechtsfolge. Das Bundesverfassungsgericht hatte jedoch schon bald davon abgesehen, diese Rechtsfolge strikt anzuwenden. Grundsätzlich ist die Nichtigkeit als Regelfolge der Verfassungswidrigkeit konzipiert, und zwar mit Wirkung ex tunc, was nicht so sehr aus theoretischen Überlegungen zwingend ist, sondern positiv-rechtlich aus § 79 BVerfGG hergeleitet werden kann. Dort ist aber auch – von einigen Sonderfällen abgesehen (so insbesondere die Sonderregelung für rechtskräftige Strafurteile) die grundlegende Regel statuiert –, daß nicht mehr anfechtbare (also rechtskräftige) Entscheidungen im Rechtsbestand bleiben. Die weitreichenden Folgen der Nichtigkeitslehre werden also durch die Rechtsfolgenbestimmung des § 79 BVerfGG sowie mit Hilfe der Lehre von der Bestandskraft der Verwaltungsentscheidungen und Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen weitgehend aufgefangen. Dies wird vielfach als eine akzeptable Folgenbewältigung der Nichtigerklärung bezeichnet23. Eine Besonderheit besteht bei Normenkontrollentscheidungen darin, daß sich das Gericht nicht darauf beschränken muß, den Antrag als unbegründet zurückzuweisen. Es kann vielmehr auch positiv die Vereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz feststellen (§ 31 Abs. 2 BVerfGG)24. Bei der Feststellung der VerBenda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, 22001, RN 1298, 1300. So ausdrücklich Benda/Klein (FN 22), RN 1261. Dort wird es allerdings als etwas unbefriedigend bezeichnet, daß derjenige, der in die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze vertraut hat, schlechter dasteht, als derjenige der sich gewehrt hat und schließlich die Aufhebung der seiner Belastung zu Grunde liegenden Rechtsnorm erreicht hat oder durch die Verzögerung seines Verfahrens von der Nichtigerklärung in einem anderen Verfahren profitiert. – Ähnliche Einwände sind seinerzeit auch z. B. von Robert Walter in Österreich gegen die „Ergreiferprämie“-Regelung des österreichischen Rechts erhoben worden. Diese zu sehr am Gleichheitsideal orientierte Sicht verkennt die überragende Bedeutung des Rechtsfriedens für alle übrigen nichtstreitigen Fälle und den Sinn der Belohnung desjenigen, der das Risiko der Anfechtung auf sich genommen hat. 24 Von dieser Möglichkeit macht das Gericht bei Verfassungsbeschwerden keinen Gebrauch, offenbar um die Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidung nach § 31 Abs. 2 BVerfGG zu vermeiden. Verfassungskonforme Auslegungen werden freilich in dieser Verfahrensart im Urteilstenor festgehalten und damit allgemein verbindlich gemacht. (Bei Urteilsverfassungsbeschwerden kann sich das Bundesverfassungsgericht auch darauf beschränken, die verfassungskonforme Auslegung unerwähnt zu lassen und nur die Zurückverweisung an das Gericht im Tenor auszusprechen.) 22 23

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einbarkeit kommt es häufig zu der Formulierung, eine Norm sei mit dem Grundgesetz „vereinbar, soweit . . .“. Diese Soweit-Formel ist von der Fallgestaltung im Ausgangsverfahren bestimmt. Im konkreten Normenkontrollverfahren wird daher die Norm nur insoweit geprüft, als sie für den Ausgangsfall entscheidungserheblich ist. Dies hat zur Konsequenz: nur insoweit wird auch die Vereinbarkeit der Norm festgestellt. (Diese Beschränkung findet über die Entscheidungsformel letztlich Eingang in das Bundesgesetzblatt und ist bestimmend für den Umfang der Urteilswirkung.)25 Zum Umfang der Verfassungswidrigkeit hat das Bundesverfassungsgericht zunächst ähnliche Gedanken entwickelt, wie sie auf Grund der insoweit vergleichsweise präziseren österreichischen Rechtslage nahe liegen. Gänzlich verfassungswidrig ist ein Gesetz etwa, wenn es an der Kompetenz des Gesetzgebers mangelt oder wenn der verfassungswidrige Teil des Gesetzes den übrigen Inhalt so dominiert, daß letzterer für sich genommen keinen Sinn ergäbe. Übereinstimmend meinen beide Verfassungsgerichte daher: Durch Verfassungsgerichtsentscheid einen inoperablen „Gesetzestorso“ zu hinterlassen, ist nicht gefordert. Mangels einer ausdrücklichen Anordnung im GG beziehungsweise BVerfGG rekurriert man zur Lösung dieser Frage zumeist auf den verallgemeinerungsfähigen Rechtsgedanken der Teilnichtigkeit (§ 139 BGB)26. Ähnlich wie der österreichische Verfassungsgerichtshof hat das Bundesverfassungsgericht zunächst auf textliche Differenzierungsmöglichkeiten gesetzt. Von dieser klaren Linie ist das Gericht allerdings später abgerückt und hat abgesehen vom Normtext auch auf den Sinngehalt der Norm abgestellt. Diese an sich rechtstheoretisch zutreffende Aussage sollte jedoch die Tür zu ungeahnten Entwicklungen öffnen. Es kann danach nicht nur Fälle geben, in denen der Text um einen verfassungswidrigen Teil zu reduzieren ist, sondern auch „nichtige“ Anwendungssituationen, die dem Gesetzestext nicht unterstellt werden dürfen und die – gleichsam als „qualitative Teilnichtigkeit“ – ausgeschieden werden müssen. Dies führt entweder zu komplizierten Tenorierungen oder – wenn es nicht möglich erscheint, eine derartige Umschreibung in der Entscheidungsformel selbst vorzunehmen – zu einem im Tenor enthaltenen Verweis auf die Entscheidungsgründe (was noch nicht gänzlich gegen die für die Wirkungen gebotene Bestimmtheit der Aussagen des verfassungsgerichtlichen Urteils verstößt). Allerdings geht das Bundesverfassungsgericht seit einiger Zeit verstärkt den Weg,

25 Eine Beschränkung des Prüfungsgegenstandes findet bei der abstrakten Normenkontrolle nur ausnahmsweise statt. 26 Zuerst Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1973; siehe heute auch Benda/Klein (FN 22), RN 1262 ff. Nach Schlaich (FN 10), RN 349 ff. praktiziert das Bundesverfassungsgericht „zu Recht, wenn auch ohne gesetzliche Ermächtigung“ die Teilnichtigerklärung. Sie ist sogar die Regel.

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die Norm (nur) für verfassungswidrig zu erklären und den Gesetzgeber zur Neuregelung aufzufordern. Diese Arten der Tenorierung führen u. U. – und zwar tendenziell stärker als die österreichische Praxis – zu Aussagen, die der Gesetzgeber gerade so wohl nicht treffen wollte27. Im Gegensatz dazu sind im österreichischen System der Gesetzesaufhebung dem Verfassungsgerichtshof (der nur die Verfassungswidrigkeit zu prüfen und kein Verfassungsmäßigkeitsattest auszustellen hat) besondere Anordnungsbefugnisse gegeben, die einen vernünftigen Ausgleich zwischen Bereinigung der rechtlichen Situation, Vertrauen in die Beständigkeit der Rechtslage und Reformbedarf darstellen. 4. Besondere Anordnungen des österreichischen Verfassungsgerichtshofs im Gesetzesprüfungsverfahren

Abgesehen vom Abspruch in der Hauptsache kann das Erkenntnis noch folgende weiteren Spruch-Bestandteile aufweisen28: (1) Obwohl die Kundmachungsverpflichtung hinsichtlich eines aufhebenden Erkenntnisses schon unmittelbar aus Art. 140 Abs. 5 B-VG folgt, pflegt der Verfassungsgerichtshof diese Verpflichtung ausdrücklich in den Spruch seines Erkenntnisses aufzunehmen. (2) Vor allem kann der österreichische Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten einer aufgehobenen Gesetzesstelle eine Frist bestimmen. (Diese Frist darf 18 Monate nicht überschreiten.) Damit kann dem Gesetzgeber – materien- und situationsangemessen – ein entsprechender zeitlicher Rahmen zur Gesetzesreparatur eingeräumt und dennoch mittlerweile die Rechtssicherheit gewahrt werden. (3) Abweichend von der ex lege eintretenden Wirkung des aufhebenden Erkenntnisses (daß nämlich jene „gesetzlichen Bestimmungen wieder in Wirksamkeit treten, die durch das . . . als verfassungswidrig erkannte Gesetz aufgehoben worden waren“) kann der Verfassungsgerichtshof auf Grund der in Art. 140 Abs. 6 erteilten Ermächtigung „anderes“ aussprechen. Dies ist die Grundlage für die in der Spruchpraxis häufig verwendete Formel: „Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.“ Damit kann das automatische Wiederinkrafttreten einer veralteten, nicht mehr zeitgerechten Rechtslage ausgeschlossen werden.

27 Als ein Beispiel, daß die Intentionen des Gesetzgebers geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden können, führen Benda/Klein (FN 22), RN 1265 die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch an, mit der das Gericht der Sache nach die Fristenlösung in eine Indikationenlösung umgewandelt habe. 28 Näheres zu den Urteilswirkungen siehe unten sub III.

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Für einstweilige Anordnungen auf dem Sektor der Gesetzesnormen gibt die erwähnte Bestimmung allerdings, wie noch zu zeigen ist, keine Grundlage. (4) Nach Art. 140 Abs. 7 B-VG kann der österreichische Verfassungsgerichtshof weiters in Ausnahmefällen „anderes“ anordnen als normalerweise für die zeitlichen Wirkungen des aufhebenden Erkenntnisses gilt. Dies gibt ihm insbesondere die Möglichkeit zur Erstreckung der Anlaßfallwirkung auf andere Fälle oder Fallgruppen, was im Ergebnis einer teilweisen oder gänzlichen „rückwirkenden Aufhebung“ gleichkommen kann. (5) Nur ausnahmsweise erfolgt ein Kostenzuspruch. Ein Ersatz der im Gesetzesprüfungsverfahren auflaufenden Prozeßkosten ist nur im Falle der Individualanfechtung vorgesehen, wenn der obsiegende Antragsteller Kostenersatz begehrt hat (§ 65a i.V. m. § 27 VerfGG).29 5. Neue Entscheidungstypen

Neben den in Verfassungs- und Verfahrensordnung geregelten Formen haben sich sowohl in Deutschland als auch in Österreich in unterschiedlicher Intensität neue Entscheidungsstrategien und damit neue Urteilstypen herausgebildet30. a) Deutschland aa) Feststellung der Unvereinbarkeit Vielfach enthält sich das Bundesverfassungsgericht einer Nichtigerklärung und begnügt sich mit der Feststellung der Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz. Zutreffend wurde konstatiert, das Bundesverfassungsgericht habe diesen Entscheidungstypus „buchstäblich erfunden“. Diese vom Gesetz gelöste, zunächst nur mit der Verfahrensautonomie des Gerichts begründete, Entscheidungsbefugnis ist nachträglich vom Gesetzgeber gebilligt worden31. Die Praxis 29 Als Obsiegen gilt es, wenn dem Individualantrag stattgegeben und die generelle Norm aufgehoben wird. Die Höhe des Kostenersatzanspruches wird vom VfGH mit einem Pauschbetrag bemessen. Kosten sind jedoch nicht zuzusprechen, soweit sie für abgegebene (nicht aufgetragene) Äußerungen begehrt werden, wenn es sich um Äußerungen der im Anlaßverfahren beteiligten Partei(en) handelt. Im Falle einer inzidenten Normenkontrolle ist es nämlich Aufgabe des Antrag stellenden Gerichts, über allfällige Kostenersatzansprüche nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften zu erkennen (z. B. VfSlg 13.040, 14.314). 30 Über Gestaltungsvarianten und den Bedarf an Feinsteuerung der Entscheidungswirkungen siehe Steiner, Zum Entscheidungsausspruch und seinen Folgen bei der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, in: Isensee/Lecheler (Hg.), Freiheit und Eigentum, FS Walter Leisner, 1999, S. 569 ff. 31 Siehe die vom 4. Änderungsgesetz zum BVerfGG von 1970, BGBl. I S. 1765, verfügten Änderungen und die dadurch bestimmte heutige Fassung von § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 sowie § 79 Abs. 1 BVerfGG.

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des Bundesverfassungsgerichts hat aber trotz vielfältiger Kritik weitgehende Anerkennung gefunden. Der prinzipielle Unterschied zwischen Nichtigerklärung und Unvereinbarkeitserklärung wird darin erblickt, daß letztere die verfassungswidrige Norm zunächst bestehen läßt. Die nichtig erklärte Norm braucht der Gesetzgeber nicht mehr durch Gesetz abzuschaffen. Im Fall der Beschränkung des Ausspruchs auf Unvereinbarerklärung und Nichtanwendbarkeit der Norm kann beziehungsweise muß dann der Gesetzgeber das Gesetz entweder aufheben oder es ergänzen. Hingegen wird eine Art „Ersatzvornahme“ etwa durch nachfolgende Nichterklärung des fraglichen Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht nach erneuter Antragstellung im Allgemeinen als nicht möglich angesehen32. In zahlreichen Fällen scheint die Vorgangsweise des Bundesverfassungsgerichts mit Unvereinbarerklärung dadurch motiviert, daß die Nichtigerklärung zu einer schwer erträglichen Rechtslage führen würde (die mit dem Grundgesetz noch weniger verträglich wäre, als jene, die für verfassungswidrig erkannt wurde). In solchen Fällen wird eine vorübergehende Fortgeltung des gegenwärtigen Rechtszustandes angeordnet. Die prozessuale Grundlage für solche Anordnungen wird in § 35 BVerfGG erblickt, der dem Bundesverfassungsgericht nicht nur die Befugnis gibt zu bestimmen, wer seine Entscheidungen vollstreckt, sondern ganz allgemein die Ermächtigung erteilt, „im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung“ zu regeln33. Dieser Bestimmung liegt ja erkennbar eine weit über die zivilprozessuale Vollstreckung hinausreichende Bedeutung zu Grunde. (Es ist aber nicht zu übersehen, daß das Gericht sich heute vielfach gar nicht mehr auf eine gesetzliche Grundlage beruft, sondern schlechthin – wie wenn dies Verfassungsgewohnheitsrecht wäre – eine entsprechende Anordnungsbefugnis für sich in Anspruch nimmt34.) Die genannte Bestimmung wird auch als Grundlage dafür angesehen, bis zu einer gebotenen Neuregelung die Weiteranwendung der für verfassungswidrig erklärten Norm (unter Umständen in modifizierter Form) zu gestatten oder gar eine völlig neue Übergangsregelung zu schaffen35. § 35 BVerfGG wird schließlich auch als die Grundlage dafür angesehen, das anwendbare Recht zu bezeichnen (und damit den Gerichten eine Entscheidungsgrundlage zu geben), wenn der Gesetzgeber seiner Reparaturpflicht nicht rechtzeitig nachkommt.

32

Schlaich/Korioth (FN 10), RN 424 ff. BVerfGE 98, 169 (215); 99, 300 (331 f.). 34 Eine großzügige Handhabung der Fristsetzung begegnet insbes. dann, wenn dem Gesetzgeber nahegelegt wird, die Auswirkungen der Unvereinbarkeitserklärung auch für andere Teilbereiche der Rechtsordnung zu prüfen. 35 Z. B. BVerfGE 84, 9 (20); 99, (341, 358); 100, 313 (402 f.); 101, 106 (132). Dazu auch Benda/Klein (FN 22), RN 1277. 33

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Auf die Nichtigerklärung wird auch verzichtet, wenn der Gesetzgeber mehrere Alternativen hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen; ein Gesichtspunkt, der – das sei aus der Außenperspektive kritisch angemerkt – fast immer zutreffen könnte! (Offenbar läßt die Unvollständigkeit und/oder Ergänzungsbedürftigkeit einer Regelung das Bundesverfassungsgericht nicht selten davor zurückschrecken, die Nichtigkeit auszusprechen.) Andere Fallkonstellationen betreffen das allmähliche „Hineinwachsen“ einer Regelung in die Verfassungswidrigkeit durch Nichtreaktion des Gesetzgebers auf maßgebliche Veränderungen (sei es im tatsächlichen oder rechtlichen Umfeld) oder Fälle, bei denen in komplexen Normengeflechten – wie der österreichische Verfassungsgerichtshof formulieren würde – der „Sitz der Verfassungswidrigkeit“ nicht eindeutig auszumachen ist und eine Gesetzesreparatur an verschiedenen Stellen ansetzen könnte. Hinsichtlich der Rechtsfolgen der (bloßen) Unvereinbarerklärung ist zu unterscheiden: (1) Hinsichtlich der Behörden bewirkt ein solches Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein Ausscheiden der für unvereinbar erklärten Vorschrift aus dem Rechtsbestand, sondern eine (auf den Zeitpunkt der Kollision zurückweisende) Anwendungssperre. • Im Anlaßfall einer Verfassungsbeschwerde ist die Entscheidung, die unmittelbar Beschwerdegegenstand war, aufzuheben und an das Instanzgericht zurückzuverweisen. • Eine vergleichbare Wirkung ergibt sich für das Vorlagegericht im konkreten Normenkontrollverfahren. • Aus § 31 BVerfGG folgt auch eine Aussetzungspflicht für Parallelverfahren und neue Verfahren. (2) Darüber hinaus nimmt man in Deutschland – anders als in Österreich – als unmittelbare Wirkung des Verfassungsgerichtsentscheides auch eine Pflicht des Gesetzgebers zum positiven Tun, nämlich zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Gesetzeslage an36, wobei – ohne gesetzliche Ermächtigung – gelegentlich auch zeitliche Vorgaben für die Gesetzesreparatur (und zwar häufig im Urteilstenor37, zum Teil auch nur in den Gründen38) aufgenommen werden. (3) Bereits abgewickelte Einzelfälle sind nach § 79 BVerfGG zu beurteilen39.

36 37 38 39

BVerfGE 55, 100 (110); 81, 363 (384); 99, 202 (216). Z. B. BVerfGE 33, 303 (305); 72, 330 (333); 100, 104 (106). BVerfGE 40, 296 (329); 100, 226 (248). Vgl. Benda/Klein (FN 22), RN 1278 m.w. N.

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bb) Appellentscheidungen Im Gegensatz zum bisher Gesagten geht das Bundesverfassungsgericht bei sog. Appellentscheidungen davon aus, daß es im Entscheidungszeitpunkt eine Norm noch nicht für verfassungswidrig erachtet, zugleich aber den Gesetzgeber auffordert, den sicher scheinenden Umschlag in die Verfassungswidrigkeit durch gesetzgeberische Maßnahmen abzuwenden. Dieser Urteilstypus wird auch in Deutschland vielfach als nicht akzeptabel und ohne ausreichend gesicherten rechtlichen Grund angesehen. „Der Appell ist ein obiter dictum, das der Gesetzgeber beherzigen mag oder nicht“. Verbindlichkeit kann ihm jedenfalls nicht zukommen40. Zutreffender Weise hat das Bundesverfassungsgericht selbst eine Verfassungsbeschwerde wegen fehlender Umsetzung einer (nicht terminierten) Appellentscheidung zurückgewiesen41. In diesem Zusammenhang wird es allgemein als unzutreffend angesehen, von einer Pflicht des Gesetzgebers zu sprechen und derartiges in den Urteilstenor aufzunehmen. Keine Bedenken bestehen hingegen bezüglich eines allgemeinen Hinweises an den Gesetzgeber, es treffe ihn im Falle des Verfassungswidrigwerdens eine „Nachbesserungspflicht“42. cc) Warn- und Ankündigungsentscheidungen Eine weitere Strategie der Rechtsprechung zur Konfliktvermeidung mit der Gesetzgebung wird in „Warn- und Ankündigungsentscheidungen“ gesehen, künftig einen entsprechenden Appell an den Gesetzgeber zu richten. Sie sind rechtlich keinesfalls mehr als ein obiter dictum. dd) Verfassungskonforme Auslegung Rechtliche, insbesondere prozessuale Relevanz hat hingegen die Interpretationsmethode der „verfassungskonformen Auslegung“. Denn sie inkludiert gedanklich die Feststellung der grundsätzlichen Vereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung, jedoch gleichsam „unter Ausschaltung der beanstandeten Auslegung“. Derartige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden, zumal kein anderes Gericht eine für verfassungswidrig erachtete Interpretation als verfassungsmäßig behandeln dürfte. (Eine dagegen gerichtete Urteilsverfassungsbeschwerde hätte Erfolg.)

So z. B. Stern, in: Bonner Kommentar, 21982, Art. 93 RN 319; Pestalozza, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I, 1976, S. 522; Benda/Klein (FN 22), RN 1280. 41 BVerfGE 86, 369 (379). 42 So z. B. Badura, in: FS Kurt Eichenberger, 1982, S. 481 ff.; Benda/Klein (FN 22), RN 1282. 40

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b) Österreich Neben der streng formgebundenen Gestaltung des Spruches (Tenorierung) seiner Erkenntnisse versucht auch der österreichische Verfassungsgerichtshof in steigendem Maße, mit Andeutungen, Hinweisen, Appellen usw. die strengen Urteilswirkungen zu nuancieren und in ein Kooperationsverhältnis mit der Gesetzgebung zu treten. Von den sogenannten „vermittelnden“ Urteilen im Sinne der rechtsvergleichenden Terminologie43 sind drei von ihm entwickelte Urteilstypen zu erwähnen44. aa) Verfassungskonforme Auslegung Der auch vom österreichischen Verfassungsgerichtshof45 seit langem angewandte Grundsatz der „verfassungskonformen Auslegung“ kann methodologisch als Unterfall einer systematisch-teleologischen Interpretation des Rechts betrachtet werden, der auf dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung aufbaut. Verfassungskonforme Interpretation bedeutet, daß einem Gesetz im Zweifelsfalle nicht eine Auslegung gegeben werden darf, die zu seiner Verfassungswidrigkeit führt.46 Von mehreren im Gesetzeswortlaut angelegten Normbedeutungen darf eben nur eine solche gewählt werden, die das Gesetz als verfassungsrechtlich einwandfrei erscheinen läßt. Man muß aber kritisch anmerken, daß das Verfassungsgericht diese Auslegungsmethode nicht überdehnen sollte. Es wäre gut beraten, sich dabei auf seine Rolle als „negativer Gesetzgeber“ zu beschränken, also lediglich nichtkonforme Interpretationen zu korrigieren. Keineswegs aber steht ihm zu, dem Gesetz seine eigene Interpretation und damit unter Umständen eine zum klaren Willen des Gesetzgebers widersprüchliche Bedeutung aufzuzwingen. (Die Grenze wäre überschritten, wenn zur Erzielung eines verfassungskonformen Ergebnisses etwa ein fehlendes Tatbestandsmerkmal hinzugedeutet wird.) Die verfassungskonforme Interpretation darf also – korrekt angewendet – nicht zur ergänzenden Fortbildung des Gesetzesrechts durch Richterspruch führen. Im Einzelfall mag es schwierig sein, zwischen verfassungskonformer Auslegung und richterlicher Rechtsschöpfung eine genaue Grenze zu ziehen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht liegt die Bedeutung der verfassungskonformen Interpretation darin, daß damit jedenfalls im Gesetzesprüfungsverfahren 43 Cardoso da Costa, Generalbericht zur VII. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, EuGRZ 1988, S. 242 f. 44 Oberndorfer (FN 6), S. 193. 45 Diese Auslegungstechnik ist jedoch nicht Monopol des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, sie spielt auch bei anderen Staatsorganen (z. B. beim OGH) eine Rolle. 46 VfSlg 2264, 3151, 3556, 3910 u. a. m.

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eine Aufhebung der in Zweifel gezogenen Norm verhindert wird; eine solche Entscheidung wird hinsichtlich der insoweit zerstreuten Bedenken rechtskräftig. In anderen als Gesetzesprüfungsverfahren des österreichischen Verfassungsgerichtshofs bewirkt diese verfassungskonforme Auslegung, daß keine Bedenken bestehen und er dann keinen Anlaß zur Einleitung der amtswegigen Gesetzesprüfung sieht. Von einer solchen Auslegung kann er aber auch wieder abweichen. Ein weiteres Problem kann aus der verfassungskonformen Interpretation resultieren, wenn entweder der Verfassungsgerichtshof oder ein anderes Gericht, jeweils im Hinblick auf seine Unabhängigkeit, die (verfassungskonforme) Deutung des anderen Gerichts für die ihm obliegende Rechtsanwendung nicht akzeptiert. Da in Österreich keine Urteilsverfassungsbeschwerde besteht, sind in solchen Fällen Judikatur-Divergenzen zwischen den drei Gerichtszweigen und ihren Höchstgerichten unvermeidlich. bb) Gesetzesergänzende Entscheidungen Vereinzelt hat es der österreichische Verfassungsgerichtshof unternommen, unmittelbar aus verfassungsrechtlich verankerten Staatszielen oder Bekenntnissen (Programm-Normen) normative Aussagen abzuleiten, die ein einfaches Gesetz ergänzen und es dadurch verfassungsmäßig machen („gesetzesergänzende Entscheidungen“). Ein Beispiel: Mangels eines einfachgesetzlichen Verbotes der Kandidatur nationalsozialistischer Parteien im österreichischen Wahlrecht leitete der Verfassungsgerichtshof ein solches aus der unmittelbaren Anwendbarkeit des (im Verfassungsrang stehenden) Wiederbetätigungsverbots (§ 3 VerbotsG47) für jede staatliche Behörde in ihrem Wirkungsbereich ab48. Eine solche – dem positiven Gesetzgeber gleichende – Vorgangsweise der Verfassungskonkretisierung scheint zwar nicht im Spruch eines Verfassungsgerichtshof-Erkenntnisses auf, entfaltet aber – weil es sich meist um richtungweisende Entscheidungen handelt – eine faktische Wirkung für alle gleich gelagerten Fälle. cc) Appellentscheidungen (in der Form von Anregungen, Hinweisen beziehungsweise Vorgaben) In der vergleichenden Literatur wird auf einen besonderen Entscheidungstyp hingewiesen, bei dem die Abweisung eines Normkontrollantrages bei gleichzeitiger Feststellung des Verfassungsgerichts erfolgt, ein Gesetz sei „noch“ nicht verfassungswidrig, und mit dem Appell an den Gesetzgeber verbunden wird, 47 Diese Bestimmung untersagt es jedermann, sich für die NSDAP oder ihre Ziele irgendwie zu betätigen. 48 VfSlg 10705; vgl. dazu auch VfSlg 9909.

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den Rechtszustand – eventuell innerhalb eines bestimmten Zeitraumes – zu ändern49. Eine schwächere Form von Appellen an den Gesetzgeber kannte schon die ältere Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs. Mochte er auch nicht praeter oder contra legem entscheiden, so hat er sich doch gelegentlich veranlaßt gesehen, bei unbefriedigenden Ergebnissen der Rechtsfindung in seinen Erkenntnissen Appelle an den Gesetzgeber zur legislatorischen Änderung der Rechtslage in die Entscheidungsbegründung mit aufzunehmen50. „Appellentscheidungen“ im eigentlichen Sinne kennt die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit bislang nicht, wenngleich der Verfassungsgerichtshof in der neueren Zeit verschiedentlich (etwa zum Thema Witwerpension51) neben der Begründung für die Aufhebung der verfassungswidrigen Regelung auch deutliche Anregungen im Hinblick auf mögliche verfassungsgemäße Lösungen zur Bereinigung des erkannten Gleichheitsverstoßes gegeben hat. Der Gerichtshof gab – in den Entscheidungsgründen – bloß in der Form eines obiter dictum zu erkennen, daß er eine andauernde Ungleichbehandlung nur insofern als akzeptabel ansehen würde, als sie bloß vorübergehend sei und „wenigstens in der Richtung eines Abbaues der Unterschiede“ wirken würde. Hinweise noch kräftigerer Art gab der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis zur Familienbesteuerung52. Die dort angesprochenen Vorgaben waren recht deutlich; sie deter49 Vgl. Zeidler, Die Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen – Landesbericht Bundesrepublik Deutschland zur VII. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, EuGRZ 1988, S. 211. 50 Darüber Spanner (Diskussionsbeitrag), 1. ÖJT 1961, Bd. II/1, S. 50 f., der sogar rechtspolitisch erwogen hat, ob der VfGH in solchen Fällen nicht besser mit einem non-liquet-Beschluß vorgehen sollte, und meinte daß eine eindeutige Verweisung an den Gesetzgeber angesichts der Autorität des VfGH bei den politischen Faktoren der Gesetzgebung einen nachdrücklicheren Eindruck machen würde als die bisher geläufigen Appelle. Dem an sich bestechenden Gedanken ist aber (nachträglich auch) entgegenzuhalten, daß er die Gefahr in sich birgt, die Straße zu einer political-questionDoktrin des VfGH zu eröffnen. 51 VfSlg 8871. 52 VfSlg 14.992. Es enthält folgende inhaltlichen Empfehlungen: Jene Einkommensteile, die für den Unterhalt aufgewendet werden, müßten nicht gänzlich von der Besteuerung entlastet werden, im Effekt sollten sie aber zumindest zur Hälfte steuerfrei bleiben, „weil Kinder nicht nur Sache privater Lebensgestaltung seien“ (bei der Höhe der Unterhaltspflicht sei steuerlich nicht bloß das Existenzminimum maßgeblich, sondern es müsse berücksichtigt werden, was die Zivilgerichte als Unterhalt zuerkennen, gedeckelt mit dem 2,5fachen des sog Regelbedarfs). – Die in der Folge getroffene Neuregelung der Familienbesteuerung („Familienpaket 2000“) ist sodann vom VfGH als verfassungskonform befunden worden. Die Begründung lag vor allem darin: Es müsse berücksichtigt werden, daß Kindesunterhalt auch aus Einkommen geleistet wird, das nicht der vollen Tarifbesteuerung unterliegt, sondern tariflich begünstigt oder steuerbefreit ist. Die Neuregelung entspräche den Vorgaben von 1997. Der Gesetzgeber sei in der Wahl des Systems der Familienbesteuerung frei, es komme nur auf den geforderten Effekt an. Im Ergebnis meinte der VfGH, daß die erhöhten Trans-

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minierten den Handlungsspielraum des Gesetzgebers bei der Gesetzesreparatur nicht völlig, schränkten ihn aber praktisch doch erheblich ein. Der Sinn derartiger Aussagen in den Entscheidungsgründen liegt darin, bestimmte denkbare oder bereits diskutierte Varianten der Gesetzesreparatur vorsorglich als bedenklich und aufhebungsgefährdet zu kennzeichnen. Zur Frage der Bindung des Gesetzgebers an Erkenntnisse des österreichischen Verfassungsgerichtshofs näher unten.53 III. Die Wirkungen des Normenkontrollerkenntnisses Die Unwiderruflichkeit und Unanfechtbarkeit höchstgerichtlicher Entscheidungen stehen außer Zweifel. Im folgenden seien die Wirkungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen – um des Kontrastes willen – zunächst von der österreichischen Rechtslage her dargestellt. Ungeregelt ist jedenfalls die Rechtskraftwirkung abweisender Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs in den Normenkontrollverfahren. Aussagen dazu sind daher der Funktion des Rechtsinstituts in der Verfassungsordnung abzugewinnen. 1. Prozessuale Wirkung (Unanfechtbarkeit und Unwiederholbarkeit)

Die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs im Normenkontrollverfahren werden rechtskräftig: In prozessualer Hinsicht zwischen den Streitparteien des kontradiktorischen Verfahrens, und zwar sofort mit Verkündung oder mit Zustellung des Urteils (formelle Rechtskraft)54; ein Rechtsmittel kommt nicht in Betracht. Ein gleichartiges Verfahren zwischen denselben Prozeßparteien und über dasselbe Prozeßthema (dieselben Bedenken) darf nicht mehr abgeführt werden: ne bis in idem55. Die materielle Rechtskraft des Erkenntnisses zeitigt aber auch Wirkung für alle späteren, nach Eintritt der formellen Rechtskraft eingebrachten Prüfungsinitiativen: Normenprüfungsanträge sind zurückzuweisen, und auch beim österreichischen Verfassungsgerichtshof selbst aus Anlaß eines anderen Verfahrens auftauchende Bedenken können nicht mehr zur Prüfung führen.

ferleistungen ausreichten, die steuerliche Mehrbelastung unterhaltspflichtiger Eltern gegenüber Kinderlosen auszugleichen. 53 Siehe unten sub III. 5. b). 54 In der Praxis wird allerdings zumeist noch vor der Zustellung eines Normenkontroll-Erkenntnisses auch über den Anlaßfall entschieden. 55 Vgl. § 19 Abs. 3 Z 2 lit. d VerfGG.

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Heinz Schäffer 2. Bindungswirkung gegenüber allen Rechtsanwendungsorganen

a) Erweiterte Rechtskraft-Wirkung aufhebender Erkenntnisse Hat der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz für verfassungswidrig erkannt56, so hat dieses Erkenntnis gemäß Art. 140 Abs. 7 Satz 1 B-VG die Wirkung, daß „alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden“ sind. Hiermit ist wegen der Rechtsbereinigungsfunktion des aufhebenden Erkenntnisses eine Art erweiterte Rechtskraft-Wirkung statuiert. Diese Wirkung tritt kraft verfassungsrechtlicher Anordnung unmittelbar („eo ipso“) ein, also schon vor der Normwirkung der Aufhebung, welche erst durch die Kundmachung vermittelt wird. Demzufolge sind Aufhebungsanträge, die nach der Fällung des Erkenntnisses und vor seiner erforderlichen Kundmachung beim Verfassungsgerichtshof einlangen57, von diesem wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, obgleich die Antragsteller bei einer solchen Konstellation nicht am Normenkontrollverfahren teilgenommen haben (können). Unter „allen Gerichten“ ist übrigens auch der Verfassungsgerichtshof selbst zu verstehen. Diese Interpretation gewinnt dann Bedeutung, wenn und solange (ausnahms- und rechtswidrigerweise) die Kundmachung eines Aufhebungserkenntnisses durch das zur Kundmachung verpflichtete Organ unterblieben ist. In dieser Situation betrachtet der Verfassungsgerichtshof jeden weiteren, auf das für verfassungswidrig erkannte Gesetz gestützten und an ihn herangetragenen Fall als „Anlaßfall“ und entscheidet ihn unter Außerachtlassung des als verfassungswidrig erkannten Gesetzes, auch wenn die Allgemeinverbindlichkeit der Aufhebung erst durch die nachzuholende Kundmachung bewirkt wird58. b) Wie steht es mit der Rechtskraft abweisender Erkenntnisse? Während bei Stattgebung der Anfechtung (Aufhebung beziehungsweise Erklärung, daß eine Gesetzesstelle verfassungswidrig war) nur der Spruch des Erkenntnisses in Rechtskraft erwächst (und kundzumachen ist), müssen jene Er56 Also: aufgehoben bzw. gemäß Art. 140 Abs. 4 B-VG ausgesprochen, daß ein Gesetz verfassungswidrig war. 57 Jedenfalls so spät einlangen, daß sie der VfGH nicht mehr mit (einem oder mehreren) anhängigen Verfahren verbinden konnte. Pöschl, Die Rechtskraft von Normprüfungserkenntnissen, in: Holoubek/Lang (FN 15), S. 139 formuliert das (mit Hinweisen auf die Rsp.) so: „Negativen“ Normprüfungserkenntnissen kommt damit zwar Rechtskraft erst mit ihrer Verkündung oder Zustellung zu, die Rechtskraft kann ab diesem Zeitpunkt auch „zurückwirken“ und die Zurückweisung von Anträgen bewirken, die vor ihrer Fällung zugestellt worden sind. In einem normaufhebenden Erk macht der VfGH allerdings immer wieder von der gemäß Art. 140 Abs. 7 bestehenden Dispositionsmöglichkeit Gebrauch, die Anlaßfallwirkung auszudehnen (z. B. VfSlg 12.948, 13.029, 14.536). 58 VfSlg 5198.

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kenntnisse differenzierter betrachtet werden, die einen Prüfungsantrag abweisen beziehungsweise (in amtswegigen Verfahren) aussprechen, daß die geprüfte Gesetzesnorm nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird („negative“ Normprüfungserkenntnisse)59. Da über die in der Anfechtung vorgetragenen Bedenken nicht im Spruch, sondern nur in den Entscheidungsgründen abgesprochen wird, erwachsen die tragenden Gründe bei Ablehnung der Bedenken insoweit mit in Rechtskraft 60. Der Verfassungsgerichtshof prüft angefochtene Gesetzesstellen nur im Hinblick auf die geltend gemachten, bestimmt umschriebenen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Eine umfassende Prüfung angefochtener Gesetzesnormen gehört weder zu seinem Prüfungsauftrag noch wäre (nach österreichischer Sicht) eine Prüfung nach allen Richtungen denkbarer Verfassungswidrigkeiten überhaupt praktisch möglich. Ein nicht stattgebendes Erkenntnis bedeutet daher keineswegs ein umfassendes Attest der Verfassungsmäßigkeit einer einmal geprüften Norm. Das hat Konsequenzen: Nur insoweit Bedenken geprüft wurden, ist der Abspruch über das Zutreffen derselben (Verfassungswidrigkeit) oder über deren Nichtzutreffen (insoweit liegt keine Verfassungswidrigkeit vor) der Rechtskraft fähig61. Seit dem in dieser Frage grundlegenden Erkenntnis VfSlg 5872 vertritt der österreichische Verfassungsgerichtshof die Auffassung, ein abweisendes Erkenntnis schaffe – obwohl es nicht kundgemacht wird – „nicht nur gegenüber dem Antragsteller, sondern nach allen Seiten hin“ Rechtskraft. Die subjektive Grenzenlosigkeit negativer Normenkontrollerkenntnisse ist seither herrschende Auffassung62 und läßt sich mit der besonderen Funktion der Normenkontrollentscheidung begründen. Zum Unterschied von anderen Prozessordnungen (insbesondere dem Zivilprozeß), in denen regelmäßig die Entscheidung nur gegenüber den Verfahrensparteien in Rechtskraft erwachsen kann, wird dies für die Normenkontrollverfahren anders gesehen. Auch wenn sie über die Anlaßfälle oder Situationen individueller unmittelbarer Normbetroffenheit ausgelöst werden können, steht doch in allen Normenkontrollverfahren das objektive Recht und seine Vereinbarkeit mit dem ranghöheren Recht als Prozeßthema zur Entscheidung. Der Verfassungsgerichtshof hat daher bezüglich der Rechtskraft-Wirkungen seiner Entscheidungen zu Recht nicht auf die ZPO zurückgegriffen, sondern ist offenbar von einem allgemeineren, die Rechtsordnung insgesamt durch-

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Ausdruck von Pöschl (FN 57), S. 115. So schon Oberndorfer (FN 6), S. 204. 61 Dieser Gedanke schon bei Adamovich (sen.), Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof, 1923, S. 280 (288). 62 Ständige Rechtsprechung: z. B. VfSlg 6391, 7748, 12.661. Diese Auffassung wird von der Literatur geteilt: R. Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht – System, 1972, S. 741; Pöschl (FN 57), S. 119. 60

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waltenden Rechtskraft-Prinzip ausgegangen63 und hat seine Einzelaussagen vor allem an Sinn und Zweck des Normenkontrollverfahrens orientiert. Die erwähnte Rechtsprechung ist jedoch auch als Absage an das Konzept einer absoluten Rechtskraft-Wirkung von Normenkontrollentscheidungen und als Hinweis auf die objektiven Grenzen der Rechtskraft von Normenkontrollentscheidungen zu sehen. Aus Gründen der Rechtskraft unwiederholbar ist die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, und damit gegen neuerliche Anfechtung „immunisiert“ ist eine einmal geprüfte (Gesetzes)Norm, soweit es sich um ein identisches Prozeßthema handeln würde. Diese Identität wird jedenfalls durch „Identität der Norm“ und „Identität der Bedenken“, bei genauerer Betrachtung aber auch noch durch „Identität der Sachlage und des Prüfungsmaßstabs“ konstituiert64. Im Ergebnis ähnlich judiziert das Bundesverfassungsgericht, wenn es als Gegenstand des (abstrakten) Normkontrollverfahrens allein die von Anregungen und Rechtsbehauptungen des Antragstellers unabhängige Rechtsfrage bezeichnet, ob ein bestimmter Rechtssatz gültig oder ungültig ist, ob also objektives Recht besteht oder nicht65. Diesbezüglich erwächst eine Entscheidung im Normenkontrollverfahren in materieller Rechtskraft. Als maßgeblich wird also der objektive Verfahrensgegenstand angesehen, subjektive Rechtskraftgrenzen bleiben außer Betracht. Wer dieser Ableitung nicht folgt, gelangt aber über „Gesetzeskraft“ und Bindungswirkung der Normenkontrollentscheidung (§ 31 BVerfGG) zum selben Ergebnis. Eine für verfassungswidrig oder nichtig erklärte Norm kann klarerweise nicht tauglicher Gegenstand einer neuerlichen Kontrolle sein. Ein Problem kann nur die Prüfung einer inhaltsgleichen späteren Norm bilden. Dies ist aber eine Frage nach den Bindungswirkungen für die Gesetzgebung. 3. Allgemeinverbindlichkeit (Wirkung erga omnes)

Die Aufhebung eines Gesetzes (beziehungsweise die Feststellung, daß es verfassungswidrig war) berührt nicht nur die am Normenkontrollverfahren Beteiligten, sondern jedermann. Sie ist daher der Öffentlichkeit durch Kundmachung im Gesetzblatt zur Kenntnis zu bringen.

63 Welches über den Umfang der Einzelanordnung des Art. 140 Abs. 7 hinausgehend auch für den VfGH selbst gilt. 64 Pöschl (FN 57), S. 123 und Schäffer, in: Rill/Schäffer (Hg.), Bundesverfassungsrecht, 2001, Art. 140 RN 87. 65 Benda/Klein (FN 22), RN 707, 1300.

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a) Österreich In Österreich ist ein der Anfechtung stattgebendes Erkenntnis, selbst wenn es nicht auf Regierungsantrag ergangen ist, jedenfalls auch dem BKA oder dem zuständigen LH zuzustellen, je nach dem, ob es sich um eine bundes- oder landesrechtliche Norm handelt. Die Aufhebung eines Bundesgesetzes durch den Verfassungsgerichtshof (beziehungsweise der Ausspruch gemäß Art. 140 Abs. 4, daß eine gesetzliche Regelung verfassungswidrig war) ist vom Bundeskanzler im BGBl. (§ 2 Abs. 2 Z 4 BGBlG), die Aufhebung eines Landesgesetzes vom zuständigen Landeshauptmann im LGBl. unverzüglich kundzumachen. Die Kundmachung hat nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift klar zum Ausdruck zu bringen, „daß das Gesetz durch das genau zu bezeichnende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes aufgehoben worden ist“. (§ 64 Abs. 2 VerfGG ist nach 1975 nicht angepaßt worden. Er ist jedoch ebenfalls sinngemäß auf den Fall anzuwenden, daß eine Regelung „verfassungswidrig war“.) Ganz ähnlich besteht in Deutschland für jene Entscheidungsformeln des Bundesverfassungsgerichts, die Gesetzeskraft haben, die Pflicht zur Veröffentlichung im BGBl. durch den Bundesminister der Justiz (§ 31 Abs. 2 Satz 3 und 4 BVerfGG). Diese Veröffentlichung erfolgt aus Gründen der Rechtssicherheit und gilt nicht als konstitutiv. Die Gesetzeskraft tritt vielmehr schon mit der Verkündung oder Zustellung der Entscheidung ein. – In Österreich aber tritt die Aufhebung am Tag der Kundmachung in Kraft 66, soweit nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Norm eine Frist bestimmt67. Die Kundmachung ist also im Rahmen der österreichischen Normenkontrolle Voraussetzung für das Wirksamwerden des verfassungsgerichtlichen Spruches auf der Normenebene. Nach ihr richtet sich ferner der Zeitpunkt, von dem ab er Allgemeinverbindlichkeit (und Wirksamkeit) erlangt. Die Verpflichtung zur unverzüglichen Kundmachung bedeutet nach in Österreich herrschender Rechtsterminologie, daß das kundmachungspflichtige Organ den gebotenen Vorgang nicht schuldhaft (mutwillig oder durch Vernachlässigung der gebotenen Sorgfalt) verzögern darf. Schuldhaft wäre eine Verzögerung, die vorwerfbar ist, wenn nicht alles Zumutbare unternommen wird, um die Verzögerung zu vermeiden. Die übliche und angemessene Zeit zur Vorbereitung eines Kundmachungstextes, zur Einholung der erforderlichen Approbation und zur Bewerkstelligung des Druckvorgangs ist gewiß zuzubilligen. Würde dieser Zeitrahmen grundlos und ohne Rechtfertigung überschritten, so inhibierte 66 D.h. um 0.00 Uhr des Kundmachungstages (Rückwirkung der Kundmachung auf den Beginn des Tages). – Beachte jedoch: Seit dem BG BGBl. I 2003/100 ist Art. 140 Abs. 5 B-VG dahin geändert, daß die Aufhebung mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft tritt. 67 Über die zeitlichen Wirkungen der Aufhebung siehe im einzelnen Schäffer (FN 64), RN 89 ff.

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das kundmachungspflichtige Organ den gebotenen Eintritt der Allgemeinwirkung der Aufhebungsentscheidung und handelte insoweit (unter staatsrechtlicher Verantwortlichkeit) gesetzwidrig68. Kommt das zur Kundmachung verpflichtete Organ seiner Kundmachungsverpflichtung nicht nach, so bleibt die für verfassungswidrig erkannte Gesetzesbestimmung weiterhin in dem für die Rechtsanwendungsorgane maßgeblichen Rechtsbestand und bildet nach wie vor die Grundlage für gerichtliche und verwaltungsbehördliche Entscheidungen69. Wenngleich die Kundmachungsverpflichtung direkt aus dem Gesetz folgt, pflegt sie der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich in den Spruch seines Erkenntnisses aufzunehmen. Damit konkretisiert er die gesetzliche Pflicht zu einer urteilsmäßig statuierten Handlungspflicht, die – weil es sich letztlich um eine vertretbare Leistung handelt – im äußersten Falle beharrlicher Säumnis des kundmachungspflichtigen Organs auch einer Vollstreckung gemäß Art. 146 BVG im Wege einer Ersatzvornahme zugänglich wäre.70 b) Deutschland Anders als mit den doch sehr detaillierten österreichischen Regelungen wird in Deutschland eine zentrale Urteilswirkung mit „Gesetzeskraft“ umschrieben. Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG bildet die Grundlage dafür, bundesgesetzlich festzulegen, in welchen Fällen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „Gesetzeskraft“ haben. Auf dieser Ermächtigungsgrundlage beruht § 31 Abs. 2 BVerfGG. Gesetzeskraft haben danach die Entscheidungen „in den Fällen“ der abstrakten und konkreten Normenkontrolle, der Völkerrechtsverifikation und der Normenqualifizierung (§ 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) sowie der Verfassungsbeschwerde, „wenn das BVerfGG ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt“ (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG), was nur in der Entscheidungsformel zum Ausdruck kommen kann. Mit dem etwas unscharfen Begriff der Gesetzeskraft wird an ältere Vorstellungen angeknüpft71; gemeint ist nicht, daß der Gerichtsentscheid zum Gesetz würde, wohl aber, daß die subjektiven Grenzen der Rechtskraft – gesetzesgleich – auf alle (erga omnes) erstreckt sind. Aus dem Konzept der Gesetzeskraft wird auch hergeleitet, daß die Normprüfung eine umfassende sein müsse, um dem weitgespannten Prüfungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts entsprechen zu können. 68 Art. 142 B-VG. Einen Amtshaftungsanspruch erwägen außerdem Rohregger/ Schuch, Die Rechtswirkungen aufhebender Erkenntnisse im verfassungsgerichtlichen Normenprüfungsverfahren, in: Holoubek/Lang (FN 15), S. 146 f. 69 Dies. (FN 68), S. 146. 70 So schon Schäffer, Die Exekution der Erkenntnisse des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, ÖZöR 1969, S. 37 ff. 71 Dazu Benda/Klein (FN 22), RN 1309.

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Von der „Gesetzeskraft“ wird nach deutscher Sicht die Bindungswirkung differenziert und nach Bindungsadressaten und Bindungsgegenstand differenziert. (Es geht also um die Fragen: wer ist woran gebunden?) 4. Bindungsumfang

Während Rechtskraft und Gesetzeskraft hinsichtlich ihrer inhaltlichen Reichweite unbestritten nur durch die Entscheidungsformel bestimmt werden und auf Entscheidungsgründe nur zurückgegriffen werden darf, um den Sinn der Entscheidungsformel zu klären, meint das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, daß an der Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG auch die „tragenden Gründe“ seiner Entscheidungen teilhaben72. Nach dieser Auffassung wären sie nicht nur faktisches Präjudiz, sondern mit rechtlicher Verbindlichkeit ausgestattet. Diese Auffassung wird im Schrifttum überwiegend, teilweise sogar scharf, kritisiert. Gewarnt wird vor einer „Kanonisierung“ der Entscheidungsgründe und einer daraus folgenden „Verkrustung“ des Verfassungsrechts einerseits, und hervorgehoben wird andererseits die Schwierigkeit, tragende von nicht tragenden Gründen zu trennen73. Für die Auffassung des Bundesverfassungsgericht wird freilich ins Treffen geführt, daß es tatsächlich Wille des Gesetzgebers gewesen sei, die staatlichen Organe über Einzelfälle hinaus an die Auffassung des Bundesverfassungsgericht zu binden, solange dieses seine Rechtsprechung nicht ändert. – Eine vergleichbare Rolle kommt dem österreichischen Verfassungsgerichtshof bei aller faktischen Bedeutung seiner Rechtsprechung nicht zu. Bezüglich der Rechtsfolgen der Bindungswirkung leitet man in Deutschland aus § 31 Abs. 1 BVerfGG eine allgemeine Verpflichtung der Staatsorgane ab, einen festgestellten verfassungswidrigen Zustand in einen verfassungsmäßigen Zustand zu überführen (Reaktionspflicht) – eine Sicht, die in dieser Allgemeinheit für Österreich nicht zutrifft. 5. Bindungsadressaten

a) Andere Behörden und Gerichte Nach § 31 Abs. 1 BVerfGG binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle

72

Z. B. BVerfGE 1, 14 (37); 40, 88 (93 f.). Es mag manchmal schwierig sein, tragende und nicht tragenden Gründen (bloße obiter dicta) auseinander zu halten. Als „tragend“ wird man jene Gründe anzusehen haben, die eine notwendige argumentative Stütze für das in der Entscheidungsformel zum Ausdruck kommende Ergebnis darstellen (rationes decidendi). 73

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Gerichte und Behörden“. Diese Bindungswirkung richtet sich also nicht an die Allgemeinheit, sondern an die Träger öffentlicher Gewalt. Nicht endgültig geklärt ist die Frage, ob sog. „Kammerbeschlüssen“ des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls diese Bindungswirkung zukommt.74 Dies ist für stattgebende Entscheidungen anzunehmen, da sie einer Senatsentscheidung gleich stehen; Zweifel bestehen jedoch bezüglich der Kammerentscheidungen, mit denen die Annahme von Verfassungsbeschwerden abgelehnt wird. b) Bindung des Gesetzgebers? – Wirkungen für die Gesetzgebungsorgane aa) Deutschland Wie zuvor gesagt leitet man in Deutschland aus § 31 Abs. 1 BVerfGG ein Zuwiderhandlungs- oder Abweichungsverbot ab. Dies ist naturgemäß primär für die Grundrechtsbeschwerde von Bedeutung, wurde aber – lege non distinguente – auch auf den Gesetzgeber bezogen. Allerdings hat sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts 198775 von dieser Sicht distanziert und den Gesetzgeber als nicht gehindert angesehen, eine inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Regelung zu beschließen. Eine neuerliche Wende wurde 1997 vollzogen76. Seither wird die Ansicht vertreten, daß der Gesetzgeber zwar inhaltlich gleichlautende Bestimmungen erlassen dürfe, freilich nur aus besonderen Gründen und unter Respektierung derjenigen Gründe, die zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des früheren Gesetzes geführt haben. – Ob es dieses „erhobenen Zeigefingers“ bedurft hätte, ist fraglich, weil dem Bundesverfassungsgericht ohnedies die Prüfung des neuen Gesetzes am Maßstab der Verfassung obliegt. Diese nüchterne Sicht kann vielleicht durch einen Blick auf die ähnliche und doch andere Situation in Österreich bekräftigt werden. bb) Österreich Keine förmliche Bindung hat das Normenkontrollerkenntnis für den Gesetzgeber, zumal die Hauptfunktion des österreichischen Verfassungsgerichtshofs in der Beseitigung verfassungswidriger Gesetze besteht. Mit dieser Bereinigungsfunktion steht der Verfassungsgerichtshof der Gesetzgebung ebenbürtig, aber eben doch nur als Kontrollorgan gegenüber (Verfassungsgerichtshof als „negativer Gesetzgeber“). Die Aufhebung eines Gesetzes schafft Freiraum für eine verfassungsmäßige Neugestaltung der Rechtslage durch den Gesetzgeber, sie 74 Dafür Benda/Klein (FN 22), RN 1321; dagegen Rennert in: Umbach/Clemens (Hg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 31 RN 70. 75 BVerfGE 77, 84 (103). 76 BVerfGE 96, 260 (263).

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begründet aber grundsätzlich keine Verpflichtung zu gesetzgeberischem Handeln. Nur wo ausnahmsweise schon von Verfassungs wegen bestimmte Rechtspositionen durch Gesetz näher auszugestalten sind, kann der Verfassungsgerichtshof insofern ein partielles Untätigbleiben des Gesetzgebers durch Aufhebung der insoweit verfassungswidrigen Teilregelung sanktionieren, nicht jedoch ein völliges Untätigbleiben des Gesetzgebers. Es ist aber die freie rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers, ob er anstelle der aufgehobenen Regelung eine Ersatzregelung beschließt und wie diese inhaltlich beschaffen ist. Die Reaktionen des Gesetzgebers auf stattgebende, also aufhebende, Gesetzesprüfungserkenntnisse können verschieden sein. Vom inhaltlichen Standpunkt bildet die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für den Gesetzgeber eine Orientierung für eine geplante und zu beschließende Neuregelung, zumal man von einer grundsätzlichen Konstanz der Entscheidungsbegründungen des Verfassungsgerichtshofs ausgehen kann. Wurde also z. B. ein Gesetz wegen Kompetenzwidrigkeit aufgehoben und trifft der unzuständige Gesetzgeber neuerlich eine Regelung in der betreffenden Materie, so hat er klarer Weise die Aufhebung dieser Regelung wegen Kompetenzwidrigkeit zu gewärtigen. Die Aussagen der Judikatur haben darüber hinaus in bezug auf zahlreiche formelle und inhaltliche Fragen Orientierungswert für den Gesetzgeber, etwa inwieweit eine (grundsatz-)gesetzliche Regelung über- oder unterdeterminiert ist, ob bestimmte Regelungen mit dem Organisationsplan der Bundesverfassung übereinstimmen beziehungsweise ob und inwieweit sie grundrechtskonform sind. Wenn nun eine vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Regelung im Gewande eines neuen Gesetzes neuerlich zum Gesetzesbeschluß erhoben wird, so ist dieses neue Gesetz nicht wegen Widerspruchs zum Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs verfassungswidrig. Es könnte nur den Gegenstand eines weiteren, selbständigen Gesetzesprüfungsverfahrens bilden77; mit seiner Aufhebung wäre zu rechnen. Abgesehen von diesem weniger wahrscheinlichen Fall ist es denkbar und auch schon vorgekommen, daß der Gesetzgeber noch während eines laufenden Verfahrens die in Prüfung gezogene Vorschrift rückwirkend aufhebt. In einem solchen Fall, bei dem der Verfassungsgerichtshof die Vereitelungsabsicht als erwiesen ansah, hat er die Entziehung des Prüfungsgegenstandes ignoriert und das Gesetzesprüfungsverfahren mit Aufhebung zu Ende geführt78, 79. Häufiger begegnet der Fall, daß der Gesetzgeber einer absehbaren Aufhebung zuvorkommt und der von Aufhebung bedrohten gesetzlichen Rege-

77

VfSlg 4126. VfSlg 10.091. 79 Zustimmend berichtet bei Oberndorfer (FN 6), S. 204; als verfehlt kritisiert von Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 102007, RN 1158, 1163. 78

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lung mit Verfassungsbestimmung „Deckung“ gibt80 oder eine schon aufgehobene Regelung unter „Absicherung“ durch eine Verfassungsbestimmung neuerlich erläßt. Damit werden derartige Regelungen im Ergebnis von der Gesetzesprüfung eximiert, weil durch die zum bisherigen Bundesverfassungsrecht jeweils hinzutretende Verfassungsbestimmung für den österreichischen Verfassungsgerichtshof der Prüfungsmaßstab verändert wird. Angesichts der Häufung dieser Vorgangsweise wurde die Gefahr einer Paralysierung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aufgezeigt. „Verfassungsdurchbrechungen“ dieser Art sind verfassungspolitisch gewiß unerwünscht, auf der Grundlage des positiven Verfassungsrechts aber nicht auszuschließen81. Eine materielle Schranke findet der einfache Verfassungsgesetzgeber an den tragenden Grundprinzipien der Bundesverfassung, deren Verletzung aber nur bejaht werden könnte, wenn durch eine derartige Regelung zumindest ein prägendes Element eines Baugesetzes preisgegeben würde.82 c) Bindung des Verfassungsgerichts an seine eigenen Entscheidungen? Hier sind zwei Aspekte zu unterscheiden: die objektiven Grenzen der Rechtskraft und die Frage nach der Änderung der Rechtsprechung. aa) Objektive Grenzen der Rechtskraft Wie schon dargelegt, haben „negative“ Normenkontrollerkenntnisse keine allseits bindende Wirkung. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit das einmal geführte Verfahren und das geschöpfte Erkenntnis den österreichischen Verfassungsgerichtshof an einer neuerlichen Befassung mit der schon einmal geprüf80 Der Umstand, daß eine Ungleichbehandlung nachträglich (ab einem bestimmten Datum) verfassungsrechtlich gedeckt ist, kann eine vorher bestandene Verfassungswidrigkeit nicht rückwirkend beseitigen. Eine derartige Regelung verhindert jedoch die Aufhebung der angefochtenen Norm durch den VfGH und bewirkt, daß sich dieser mit der Feststellung begnügen muß, daß eine angefochtene Gesetzesstelle bis zum Inkrafttreten der „Deckung“ gebenden Verfassungsbestimmung verfassungswidrig war (VfSlg 13.275). 81 Dies wird in der Kommentierung von Rill/Schäffer (FN 64), Art. 44 RN 10, 36– 39 näher dargelegt und begründet. 82 M. E. verfehlt und überzogen war die erstmalige Aufhebung einer Verfassungsbestimmung durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof (§ 126a BundesvergabeG BGBl. I 1997/56 i. d. F. BGBl. I 2000/125 aufgehoben mit Erkenntnis VfGH 11.10. 2001, G 12/00 u. a.). Dort wird nämlich eine zeitlich begrenzte „Deckung“ und damit Eximierung von der Gesetzesprüfung, die erweislich zur Ermöglichung der Sanierung einer Rechtsschutzlücke im Sinne der Rechtsprechung dienen sollte, zu einer „Suspendierung der Maßstabfunktion der Verfassung“ hochstilisiert und als Verletzung des Rechtsstaatsprinzips qualifiziert, und es wird mit noch weniger Begründung ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip behauptet. Der in diesem Urteil ebenfalls anklingende Gedanke des Mißbrauchs der Verfassungsform wird weder theoretisch noch dogmatisch ausreichend begründet.

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ten Gesetzesnorm hindert. Diese Frage ist vom Verfassungswortlaut (auch in der B-VGNov 1975) offen gelassen worden. Im Zivilprozeßrecht entfaltet ein Urteil Rechtskraft in subjektiver Hinsicht in der Regel für die Parteien, in objektiver Hinsicht wird die Rechtskraft durch die „Identität des Anspruchs“ bestimmt. Ohne die subsidiäre Anwendbarkeit der ZPO argumentativ ins Spiel zu bringen, zumal Normenkontrolle von Struktur und Prozeßthema her etwas grundsätzlich anderes ist als ein Zivilrechtsstreit zwischen Parteien, die über ihren Streitgegenstand materiell und prozessual disponieren können, haben Judikatur und Lehre von Anbeginn das Rechtskraftprinzip auch für die verfassungsgerichtliche Gesetzesprüfung im Grunde nie in Frage gestellt. Bereits Adamovich (sen.) hat daher die Auffassung vertreten, daß eine schon einmal geprüfte und nicht aufgehobene Norm „aus denselben Gründen“ nicht mehr angefochten und aufgehoben werden könne83. Die Rechtskraft entfalte Wirkung nur hinsichtlich der geprüften Bedenken, stehe aber einer Normenkontrolle wegen anderer Bedenken nicht im Wege. Vor der Neuordnung der Normenkontrolle durch die B-VGNov 1975, die ja auch eine Stärkung der Parteiinteressen und des Individualrechtsschutzes brachte, hat hingegen Walter eine allseitige Überprüfung der angefochtenen Norm und dementsprechend eine absolute Rechtskraftwirkung der Normenkontrollentscheidung für eine systemgerechte Deutung gehalten84. In dem schon erwähnten grundlegenden Erk VfSlg 5872 hat sich jedoch der Verfassungsgerichtshof zu der Auffassung bekannt, daß „über bestimmt umschriebene Bedenken gegen die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes lediglich ein einziges Mal entschieden werden kann“85 und daß eine „Entscheidung über dieselben Bedenken (§ 62 Abs. 1 VerfGG 1953)“ – und nur über sie – Rechtskraft schafft. Er hat dies als die dem Sinn des Art. 140 B-VG gemäße Lösung angesehen. In der Tat sprechen überzeugende Gründe für eine so konzipierte Einschränkung der Prüfung auf vorgebrachte Bedenken. In erster Linie erscheint es praktisch nahezu unmöglich, im Rahmen der Normenkontrolle alle nur irgend denkmöglichen Rechtswidrigkeiten ins Auge zu fassen. Selbst wenn dies möglich wäre, würde dies einen enormen Verfahrensaufwand und erhebliche, nahezu untragbare Verfahrensverzögerungen zur Folge haben. Die daraus resultierende lange Verfahrensdauer könnte ihrerseits die Rechtssicherheit beeinträchtigen. Vor allem wird aber zu bedenken gegeben, daß es eine wirklich absolute Rechtskraft nicht geben kann, weil – wie auch sonst in der Rechtsordnung – Veränderungen in der Sach- und Rechtslage jeweils eine neue Prüfung zulassen müssen86. 83

Adamovich (FN 61), S. 280 ff. Walter (FN 62), S. 750. 85 Ständige Rechtsprechung VfSlg 5872, 7748, 10.841, 12.661, 13.085, 15.199, 15.293 u. a. m. 86 Hinweise auf diese Gesichtspunkte schon bei Haller (FN 8) S. 194 f. und Pöschl (FN 57), S. 122. 84

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Es ist allein schon im Zusammenhang mit den Prozeßvoraussetzungen darauf hinzuweisen, daß die aufgeworfenen Bedenken in der Beziehung zwischen geprüfter Norm (Prüfungsgegenstand) und Prüfungsmaßstab das Prozeßthema des Normenkontrollverfahrens – und damit die Grenzen der Rechtskraft – abstekken. (1) In prozessualer Hinsicht ist zu unterscheiden: Zum einen gibt es die Situation, daß die von den Parteien eines anderen Verfahrens vorgebrachten Bedenken nicht zur Einleitung einer amtswegigen Gesetzesprüfung führen. Den Überlegungen des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, daß er hinsichtlich anzuwendender Normen keinen Anlaß zur Einleitung des Normenkontrollverfahrens sieht, kommt keine bindende Bedeutung zu87. Die angenommene Unbedenklichkeit ist in solchen Fällen nur Vorfrage der Normenkontrolle und bildet an sich Hauptgegenstand des anderen Verfahrens (meist einer Bescheidprüfung)88. Die solcherart verworfenen Bedenken (nur Bedenken gegen dieselbe Norm) können durchaus zu einem späteren Zeitpunkt in einem gehörig eingeleiteten Normenkontrollverfahren zum Aufgreifen der Bedenken und zur Prüfung der Norm führen. Freilich wird es besserer und neuerer Gründe bedürfen, die den Verfassungsgerichtshof von seiner früher bezogenen Interpretation abrücken lassen. Dies wird aber nicht als eine Frage der Zulässigkeit des Verfahrens gesehen, sondern als eine „Frage der inhaltlichen Beurteilung, weshalb auf sie im Zusammenhang mit der meritorischen Erledigung Bedacht zu nehmen ist“89, 90. Andererseits ist eine Gesetzesnorm gegen zwar erhobene, aber nicht geprüfte Bedenken ebenso wenig immunisiert, wie gegen Bedenken, die überhaupt nicht erhoben wurden. Nicht geprüft werden Bedenken, die zu unbestimmt sind oder die zu spät vorgebracht werden, um in das Gesetzesprüfungsverfahren einbezogen zu werden. Aussagen freilich, die der österreichische Verfassungsgerichtshof (ausdrücklich oder implizit) im Gesetzesprüfungsverfahren über nicht erhobene Bedenken macht, und die er in seiner meritorischen Entscheidung zu einer geprüften Gesetzesnorm zu Grunde legt91, sind jedoch nicht bloße „obiter 87

VfSlg 8753. Die Entscheidung in einem Beschwerdeverfahren kann nicht bloß in Abweisung der Beschwerde bestehen (mit der Begründung, daß die zugrunde liegende Gesetzesnorm nicht verfassungswidrig sei oder einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich sei), sie kann ja auch in der Zurückweisung oder Ablehnung der Beschwerde oder in der Abweisung eines Abtretungsantrags bestehen. Gerade im letzteren Falle liegt klar zu Tage, daß das Prozeßthema ein anderes ist als das der Normenkontrolle. 89 VfSlg 14.433. 90 Oberndorfer (FN 6), S. 204; Pöschl (FN 57), S. 124 f. 91 Zu denken ist etwa an die Fälle, daß der VfGH in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren von sich aus weitere Bedenken aufwirft und darüber abspricht und daß er sich zwar an aufgeworfene Bedenken hält, diese aber mit Argumenten widerlegt, die überdies andere Bedenken zu zerstreuen bestimmt sind. 88

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dicta“; sie sind vielmehr Teil der Entscheidung über den Prozeßgegenstand des Gesetzesprüfungsverfahrens und damit der Rechtskraft fähig92. (2) Die Frage der Identität der Bedenken und damit der Identität der „Sache“ ist unproblematisch zu bejahen, soweit unter Berufung auf dieselbe Verfassungsbestimmung dieselben Argumente gegen die Verfassungsmäßigkeit derselben Gesetzesnorm vorgetragen werden. Werden hingegen neue Argumente vorgebracht oder wird auch nur eine andere Norm als verletzt kritisiert (oder werden beide Argumentationsweisen kombiniert), so steht mangels Identität des Prozeßthemas Rechtskraft nicht entgegen, eine schon einmal geprüfte Gesetzesstelle neuerlich zu prüfen93. Das Vorbringen neuer Argumente, mit denen die Verletzung derselben schon einmal bezogenen Verfassungsnorm geltend gemacht wird, ist häufig, zumal wenn es sich um so grundsätzliche und vielfältige Bedeutungsinhalte einschließende Maßstab-Normen handelt wie z. B. das Legalitätsprinzip oder den Gleichheitssatz. In solchen Fällen werden in aller Regel neue Aspekte einer möglichen Verfassungswidrigkeit als Bedenken vorgetragen. Der Verfassungsgerichtshof hat solche Bedenken soweit ersichtlich bisher immer als neu qualifiziert.94 Wesentliche Bedeutung für die Beurteilung der Identität der Sache und damit für die Grenzen der Rechtskraft haben ferner jene Entwicklungen im Verlauf der Zeit, die Veränderungen der geprüften Norm oder des Prüfungsmaßstabes bewirken. Zum Einfluß der Zeit auf die Bedeutung der Normen ist zutreffend herausgearbeitet worden, daß die Zeit verschiedene Angriffspunkte auf die

92

Pöschl (FN 57), S. 126 f. Werden aber keine neuen Bedenken gegen die angegriffene Norm ausgebreitet, sondern erschöpft sich das Vorbringen in Kritik an der Richtigkeit der seinerzeitigen verfassungsgerichtlichen Urteilsbegründung, so ist dem VfGH ein Eingehen auf derartige Einwände im Rahmen einer neuen Sachentscheidung auf Grund der Rechtskraft des Vor-Erkenntnisses verwehrt (VfGH 8.3.2000, G 132/99). Jüngst hat der österreichische Verfassungsgerichtshof den Antrag auf neuerliche Prüfung des „Homosexuellenparagraphen“ (§ 209 StGB) wegen rechtskräftig entschiedener Sache zurückgewiesen, weil das vom antragstellenden Gericht vorgetragene Bedenken mit jenem übereinstimmt, über das bereits in einem früheren Verfahren (VfSlg 12.182) abgesprochen worden ist, ohne daß eine Änderung der für die damalige Entscheidung wesentlichen Umstände dargelegt wurde. Am Ende der Entscheidungsbegründung wird ausdrücklich – um Missverständnissen vorzubeugen – betont, weder dem seinerzeitigen Erkenntnis noch dem jetzt getroffenen Beschluss dürfe das Verständnis beigelegt werden, die angegriffene Gesetzesbestimmung sei unter jedem Gesichtpunkt geprüft und für verfassungskonform befunden worden. Ob andere Bedenken zu einem anderen Ergebnis führen würden, müsse offen bleiben. (VfGH 29.11. 2001, G 190/01). 94 Denkbar, wenngleich seltener wird es sein, daß mit denselben Argumenten die Verletzung einer anderen Verfassungsnorm behauptet wird. Auch das wäre zulässig. Nachweise zu beiden Konstellationen bei Pöschl (FN 57), S. 129 ff. 93

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Rechtskraft haben kann. Die Frage nach der Identität kann sich aus drei Gründen stellen95: • Die zu prüfende Norm kann verändert sein. • Der (verfassungs-)rechtliche Prüfungsmaßstab kann ein anderer geworden sein. • Und schließlich können sich „Änderungen im Tatsächlichen“ (des Regelungsbereiches) ergeben haben, die zu einer anderen Sicht der Relation zwischen zu prüfender Norm und Prüfungsmaßstab und unter Umständen zu der Beurteilung führen können, daß die zu prüfende Norm verfassungswidrig geworden ist. Eine völlige Identität der zu prüfenden Norm mit einer anderen Norm (Fall der sog Gemination) kommt kaum in Betracht. Mit der Frage, ob ein als verfassungswidrig kritisiertes Gesetz mit einer schon einmal geprüften Norm identisch sei, hat sich der österreichische Verfassungsgerichtshof nur in seltenen Fällen zu befassen. Er vertritt in diesem Zusammenhang einen streng formellen Standpunkt und damit im Ergebnis eine prüfungsfreundliche Haltung zur Frage der Identität der geprüften Norm. Tritt eine wortgleiche Regelung an die Stelle einer älteren, so liegt im späteren Gesetz ein neuer formeller Gesetzesbefehl und somit keine identische Norm96. Selbst eine Novellierung, die eine geringfügige Änderung im Wortlaut ohne Veränderung des normativen Sinngehaltes herbeiführt, schafft einen neuen Prüfungsgegenstand.97 Bei der Wiederverlautbarung hat der Verfassungsgerichtshof die theoretisch begründbare Position eingenommen, daß diese die rechtskraftrelevante Identität der Norm grundsätzlich unberührt läßt. Ändert sich aber an einer Gesetzesnorm mehr als nur ihre Fundstelle (liegt also in der Anordnung ein „neuer Rechtsanwendungsbefehl“, insbesondere in zeitlicher Hinsicht), so scheint der Verfassungsgerichtshof das Vorliegen einer neuen Norm auch dann anzunehmen, wenn sich an ihrem materiellen Sinn nichts ändert98. Allgemeiner: Die Intervention der rechtssetzenden Autorität schafft eine formell neue Norm, selbst wenn durch eine (scheinbar) inhaltsgleiche Regelung eine Verdoppelung der normativen Anordnung eintritt. Eine formale Änderung ermöglicht daher eine neuerliche Prüfung, auch wenn die Norm nach ihrem Inhalt keine Änderung erfahren hat, der entscheidungserheblich wäre. Bei Veränderung des tatsächlichen oder rechtlichen Umfeldes kann sich trotz gleich bleibenden Wortlauts der normative Gehalt einer gesetzlichen Regelung verändern. Auch solche Veränderungen müssen als rechtskraftrelevant ange95 96 97 98

Pöschl (FN 57), S. 131 ff. Z. B. VfSlg 10.091. Z. B. VfSlg 14.301 (im Vergleich mit VfSlg 12.103). Pöschl (FN 57), S. 133.

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sehen werden, wenngleich sich der Verfassungsgerichtshof mit dieser Konstellation bislang nicht detailliert auseinandergesetzt hat. „Änderungen des rechtlichen Umfelds“ – auf die er abstellt, ohne sie näher zu definieren – ermöglichen auch im Hinblick auf schon einmal geprüfte Normen ein neues Prozeßthema99, dem dann eine rechtskräftig entschiedene Sache nicht entgegensteht. Betrachtet man die Frage vom Standpunkt des Prüfungsmaßstabs, so ist zwischen einer Erlassungs- und Bestandesprüfung der Gesetzesnormen zu unterscheiden100: Seinen Erzeugungsbedingungen muß ein Gesetz in der Regel nur im Entstehungszeitpunkt entsprechen; in kompetenzieller Hinsicht hingegen muß das Gesetz im Zweifel auch in der aktuellen, möglicherweise im zeitlichen Verlauf veränderten Verfassungsgrundlage Deckung finden. Ohne jeden Zweifel aber muß ein Gesetz in inhaltlicher Hinsicht jederzeit der übergeordneten Verfassungsrechtslage entsprechen. Hat sich also die als Prüfungsmaßstab heranzuziehende (Verfassungs-)Rechtslage verändert, so stützen sich Bedenken gegen das identische Anfechtungsobjekt auf eine andere Rechtsvorschrift und stellen insofern neu zu bewertende Bedenken dar, deren Geltendmachung nicht durch Rechtskraft abgeschnitten ist. Ein Verfassungswidrig-Werden (Invalidation) kann aber nicht nur durch explizite Änderungen des Prüfungsmaßstabes, sondern auch durch maßgebliche Änderungen der Sachlage eintreten. Sowohl Änderungen im Tatsächlichen als auch Änderungen in anderen Teilen der Gesamtrechtsordnung, die mit der zu prüfenden (schon einmal geprüften) Norm in Zusammenhang stehen – auch letztere zählen im Rahmen der Gesetzesprüfung, gemessen am höherrangigen Prüfungsmaßstab zum Sachverhalt – verändern die Perspektive des anzuwendenden Prüfungsmaßstabs, weil diesem – gerade im Hinblick auf die veränderte 99 Zutreffend Pöschl (FN 57), S. 135 (138). – Sie sieht ein Indiz für ihre Auffassung darin, daß der Gerichtshof eine (mit VfSlg 12.832) schon einmal geprüfte und unbedenklich befundene Regelung (§ 2 Abs. 2 Wohnbauförderungs-ZweckzuschussG 1989) in VfSlg 14.262 ein zweites Mal prüfte, diesmal aber „vor dem Hintergrund des durch die Umstände der Erlassung des FAG 1993 geänderten rechtlichen Umfeldes“. Der VfGH ging davon aus, daß zwar der Inhalt der geprüften Bestimmung nicht verändert sei, aber neue Bedenken vorlagen. Pöschl hält dem entgegen, weder der Prüfungsmaßstab noch die Argumente (gleichheitswidrige, weil unsachliche Aufteilung der Zweckzuschüsse auf die Länder) seien anders geworden. Sie hält die neuerliche Befassung des VfGH dennoch für zulässig, allerdings wegen Änderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts, die nach ihrer Ansicht zu einer neuerlichen rechtlichen Beurteilung der Verfassungskonformität der geprüften Bestimmung führen konnte. Die Zulassung der neuerlichen Überprüfung durch den VfGH war m. E. richtig, weil die Erörterung der aufgeworfenen Frage im Rahmen des neuen Finanzausgleichs und der Umstände seines Zustandekommens sehr wohl eine veränderte Stellung des gleich belassenen Gesetzes im Rahmen des Finanzausgleichssystems und damit eine veränderte Beurteilung aus der Sicht allgemeiner verfassungsrechtlicher Determinanten (Gleichheitssatz) und der finanzverfassungsrechtlichen Prinzipien nahe legten. 100 Siehe dazu im einzelnen Schäffer (FN 64), Art. 140 RN 37.

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Sachlage andere Antworten abgewonnen werden können101. Insbesondere der als allgemeine Sachlichkeitsgarantie verstandene Gleichheitssatz kann erfordern, daß der Gesetzgeber bestimmten regelungsbereichsrelevanten Entwicklungen im Tatsächlichen beziehungsweise neueren Entwicklungen in einem größeren rechtlichen Regelungszusammenhang Rechnung trägt, auch wenn ihm ein schrittweises Vorgehen und Zeit zur Reaktion auf veränderte Sach- und Rechtslagen zugebilligt wird. Insofern können sich aus demselben Titel neue Bedenken gegen die Norm ergeben. Voraussetzung für die Zulässigkeit der neuerlichen Prüfung einer schon einmal geprüften und seinerzeit unbedenklich befundenen Gesetzesnorm muß sein, daß die geltend gemachte Neuerung entscheidungserheblich ist102. Andererseits muß es genügen, daß die Änderung zu einer anderen Beurteilung führen könnte, selbst wenn die Prüfung dann letztlich zu keinem anderen Ergebnis führen sollte103. bb) Änderung der Rechtsmeinung Die dargestellte formell-rechtliche Seite der Bindung in künftigen Gesetzesprüfungsverfahren hindert den österreichischen Verfassungsgerichtshof nicht, in anderen neuen Fällen eine geänderte Rechtsmeinung zu vertreten. Zu fragen ist also nach der rechtlichen Relevanz einer ständigen Rechtsprechung und einer allfälligen Abweichung von einer einmal gebildeten Judikaturlinie. Das grundsätzliche Festhalten an einer einmal gewählten Auslegung in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ist nicht nur eine rechtssoziologisch feststellbare Verhaltenskonstanz in den meisten Rechtssystemen. Auch wo Rechtsprechung nicht den Rang und die Funktion einer allgemein verbindlichen Rechtsquelle hat, sprechen gewichtige Gründe (Vertrauensschutz des Publikums in eine gefestigte Rechtsprechung, Gewährleistung von Rechtsanwendungsgleichheit) für eine solche Praxis, so daß im Hinblick darauf das Abweichen von einer bestehenden Rechtsprechung jeweils einer besonders eingehenden Offenlegungs- und Begründungspflicht unterliegt104. Nach der in der österreichischen Verfassung vorgezeichneten Rollenverteilung ist der Verfassungsgerichtshof Garant der Verfassung und nicht Katalysator, geschweige denn Motor gesellschaftspolitischer Reformen. Die rechtspolitische Entscheidung und Entwicklung ist Sache des Gesetzgebers. Besonders auf der Ebene des Verfassungsrechts ist es wegen der relativen Biegsamkeit der Verfassung Sache des Verfassungsgesetzgebers, die erforderlichen Änderungen

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Als Wandlungen des Maßstabs gesehen bei Haller (FN 8) S. 146 ff. Pöschl (FN 57), S. 136. 103 VfSlg 13.917. 104 Dazu schon Schäffer, Rechtsquellen und Rechtsanwendung, 5. ÖJT 1973, Bd. I/ 1.B, S. 68 ff. 102

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und Anpassungen durch verfassungspolitischen Entscheid auf den vorgesehenen Wegen der Verfassungsänderung zu bewerkstelligen, nicht hingegen Sache des Verfassungsgerichtshofs, Verfassungswandlungen durch aktualisierende Interpretation herbeizuführen105. Diese Grundposition ist vereinbar damit, daß über werthaltige Begriffe und generalklauselartig umschriebene Gewährleistungen der Verfassung, wie insbes. den Gleichheitssatz auch neue gesellschaftliche Wertvorstellungen in die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs Eingang finden. 6. Die zeitlichen Wirkungen der Gesetzesaufhebung in Österreich

a) Der Grundsatz: Aufhebungswirkung ex nunc Durch die Aufhebung wird eine Gesetzesnorm (ex nunc) für die Zukunft aus dem Rechtsbestand ausgeschieden. Letzte rechtliche Bedingung für das Wirksamwerden der Aufhebung gegenüber der Allgemeinheit ist ihre Kundmachung im jeweiligen Gesetzespublikationsorgan. So wie bei der Erlassung einer Gesetzesnorm die zeitlichen Wirkungen differenziert gestaltet sein können, hat die Verfassung auch für das Wirksamwerden des durch verfassungsgerichtliches Erkenntnis bewirkten Geltungsendes differenzierte Regeln über das Wirksamwerden des negativen Anwendungsbefehls statuiert. Die zeitlichen Wirkungen sind in Abs. 6 und 7 des Art. 140 geregelt, wo keine Aussagen über die ursprüngliche Fehlerhaftigkeit der Norm getroffen sind, sondern geregelt wird, wie sich die Staatsorgane künftig zu verhalten haben106. Im Normalfall (Aufhebung ohne Fristsetzung) tritt die Aufhebung am Tage107 ihrer Kundmachung in Kraft, die aufgehobene Vorschrift sohin außer Kraft. Kein Staatsorgan hat das aufgehobene Gesetz mehr anzuwenden. Die aufhebende Entscheidung entkleidet die geprüfte Norm ihres Anwendungsbefehls nur für die Zukunft. Die ohne Rückwirkung aufgehobene Norm gilt für die Vergan-

105 Dazu grundsätzlich Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich, 1971, S. 31 ff. 106 Gerade spiegelverkehrt erscheint die deutsche Regelung der Normenkontrolle durch das OVG hinsichtlich Satzungen nach dem Baugesetzbuch beziehungsweise über sonstige „im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften“ nach § 47 Abs. 5 VwGO: „1Das OVG entscheidet durch Urteil . . . 2Kommt das OVG zu der Überzeugung, daß die Rechtsvorschrift ungültig ist, so erklärt es sie für nichtig; in diesem Fall ist die Entscheidung allgemein verbindlich und die Entscheidungsformel vom Antragsgegner ebenso zu veröffentlichen wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre. 3Für die Wirkung der Entscheidung gilt § 183 entsprechend. [D.h.: Rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte bleiben unberührt.] 4Können festgestellte Mängel einer Satzung oder einer Rechtsverordnung, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuches erlassen worden sind, durch ergänzendes Verfahren behoben werden, so erklärt das OVG die Satzung oder Rechtsverordnung bis zur Behebung der Mängel für nicht wirksam; Satz 2 zweiter Halbsatz ist entsprechend anzuwenden. 107 Seit 2003 „mit Ablauf des Tages“ (siehe oben FN 66).

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genheit weiter und ist in diesem zeitlichen Anwendungsbereich für seinerzeit konkretisierte Sachverhalte, soweit diese noch zu beurteilen sind, von allen Rechtsanwendungsorganen anzuwenden. Im übrigen aber ist die aufgehobene Norm infolge der Rechtskraft des verfassungsgerichtlichen Urteils unangreifbar geworden.108 Weder eine neuerliche Anfechtung noch eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit für die Vergangenheit kommen mehr in Betracht (Sperrwirkung)109. b) Wirkungen für die Rechtsanwendung Die Aufhebungswirkung bezieht sich ausschließlich auf den Rechtsfolgenbereich. Abgesehen vom Anlaßfall ist nämlich das Gesetz „auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände . . . weiterhin anzuwenden“, sofern der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis nicht anderes ausspricht (Art. 140 Abs. 7 Satz 2 B-VG); auf Sachverhalte, die sich ab dem der Kundmachung folgenden Tag ereignen, ist das Gesetz nicht mehr anzuwenden (Grundsatz der Nichtrückwirkung der Aufhebung). Ein „verwirklichter Tatbestand“ in diesem Sinn liegt vor, wenn ein – noch vor dem Zeitpunkt, in dem die Sache selbst entschieden werden soll – unveränderter Sachverhalt vorliegt, auf den sich der Tatbestand einer vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenen Rechtsvorschrift bezieht. Solche Sachverhalte sind also nach wie vor auf der Grundlage der vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärten Rechtslage zu beurteilen (es sei denn, daß der Verfassungsgerichtshof anderes ausgesprochen hätte). Insoweit sind also Entscheidungen nach der alten, nicht nach der berei-

108 Verfehlt ist die früher gelegentlich verwendete Formulierung, daß das Gesetz durch das Erk insoweit gleichsam „verfassungsmäßig“ geworden wäre. Ein aufhebendes Erk macht (auch bei Fristsetzung) einen Feststellungsantrag gemäß Art. 140 Abs. 4 unzulässig: „Immunisierung“ (ebenso VfSlg 8277, 12.564; gleichartig für Verordnungen 14.136). 109 Ringhofer, Über die Wirkung des verfassungsgerichtlichen Erkenntnisses im Normenprüfungsverfahren nach den Art. 139 und 140 B-VG, Österr.Verwaltungsarchiv 1978, S. 119 f. hat den scheinbaren Widerspruch zwischen Art. 140 und Art. 89 Abs. 3 B-VG dahingehend gelöst, „daß dem Gebot der Weiteranwendung einer vom VfGH aufgehobenen Norm der Vorrang vor dem Gebot der Anfechtung einer bereits außer Kraft getretenen Norm zukommt.“ A. M. Laurer, in: Heinz Mayer (Hg.), Staatsrecht in Theorie und Praxis, FS Walter, 1991, S. 426 f., der die in Art. 89 Abs. 3 B-VG verankerte Antragsverpflichtung dominieren lassen will. Demnach hätte das Gericht den Antrag jedenfalls zu stellen. Und der VfGH hätte demnach inhaltlich zweimal zu entscheiden: einmal im Aufhebungsverfahren und ein zweites Mal im Verfahren zur Feststellung, daß die Rechtsvorschrift verfassungswidrig war. Diese Auffassung vermag nicht zu überzeugen, weil sie die Bedeutung der dem österreichischen Normenkontrollsystem seit jeher immanenten Grundregel (Aufhebung ex nunc) nicht richtig gewichtet und die Dispositionsbefugnis des VfGH nach Art. 140 Abs. 7 zur ausnahmsweisen Anordnung der Rückwirkung nicht gebührend mitberücksichtigt.

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nigten Rechtslage zu treffen110. Wann ein verwirklichter Tatbestand gegeben ist, hängt im Allgemeinen vom materiellen Recht ab, um dessen Anwendung es geht. Die Bundesverfassung hat sich – wie schon eingangs dargelegt – von Anbeginn an unter Abwägung der grundlegenden Gesichtspunkte (völlige Bereinigung der Rechtslage im Sinne der Rechtsrichtigkeit, das heißt Verfassungsmäßigkeit der Normen von Anfang an [ex tunc] versus Vertrauen auf Rechtsbeständigkeit einmal geschaffener Rechtslagen) gegen ein theoretischen Bedürfnissen entsprechendes Nichtigkeitsmodell und für ein den Bedürfnissen des praktischen Rechtslebens eher entsprechendes Aufhebungsmodell entschieden. In diesem Sinne ist es – wenngleich nirgends ausdrücklich geregelt – stets als selbstverständlich angesehen worden, daß alle rechtlichen Wirkungen, die das verfassungswidrig erkannte Gesetz hervorgebracht hat, bestehen bleiben und unanfechtbar sind; insbesondere bleiben abgeschlossene, durch rechtskräftige verwaltungsbehördliche oder gerichtliche Entscheidung beendete Verfahren unberührt, die auf Grund eines aufgehobenen Gesetzes durchgeführt wurden111. Das in der Gesamtrechtsordnung gleichsam stillschweigend vorausgesetzte Rechtskraft-Prinzip wird sohin nicht nur neuen Gesetzen, sondern auch der Gesetzesaufhebung durch den Verfassungsgerichtshof als Vorverständnis unterstellt. c) Wirkungen für die Rechtslage Die Aufhebungswirkung betrifft nicht nur die Rechtsanwendungsebene (individuelle Normerzeugung), sondern auch die Ebene der generellen Normen. Dem Erkenntnis, womit ein Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben wird, kommt – anders als bei der Verordnungsprüfung – nach Art. 140 Abs. 6 noch eine weitere Wirkung zu: Mit dem Tag des Inkrafttretens der Aufhebung treten „die gesetzlichen Bestimmungen wieder in Wirksamkeit, die durch das vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erkannte Gesetz aufgehoben worden waren“; dies allerdings nur, „falls das Erkenntnis nicht anderes ausspricht“. Ob der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis eine derartige Anordnung aus110 Berchtold, Verwirklichte Tatbestände im Sinne des Art. 140 Abs. 7 B-VG, in: B.-Ch. Funk/H. R. Klecatsky u. a., Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels, FS Adamovich, 1992, 16 ff. 111 Vgl. VfSlg 3086. Kelsen/Froehlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, 1922, S. 260; Oberndorfer (FN 6), S. 203. Ebenso schon zu Beginn der Republik Neumann-Ettenreich, Der Verwaltungs- und der Verfassungsgerichtshof nach dem Bundes-Verfassungsgesetze, ZfV NF 1 (1921), S. 78 (mit interessanter Begründung aus dem historischen Kontext); er sah darin auch eine besondere Motivation für die BReg bzw. LReg, Neuregelungen der anderen Gesetzgebungsautorität aufmerksam daraufhin zu beobachten, ob eine Anfechtung geboten sei, um zu verhüten, daß durch verfassungsrechtliche bedenkliche Gesetze „unerwünschte und unbehebbare Erfolge“ entstehen.

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spricht oder unterläßt, steht in seinem Ermessen112. An ihm liegt es zu bestimmen, ob die durch das aufgehobene Gesetz seinerzeit aufgehobenen gesetzlichen Bestimmungen außer Kraft bleiben oder aber neuerlich in Geltung treten. Einer ausdrücklichen Verfügung bedarf freilich nur ersteres. Immer wenn der Gerichtshof eine solche Anordnung nicht trifft, treten alle seinerzeit aufgehobenen gesetzlichen Bestimmungen wieder in Geltung. Hebt der Verfassungsgerichtshof ein Grundsatzgesetz (Art. 12 B-VG) auf, so verliert dieses mit dem Tag des Inkrafttretens der Aufhebung seine Eigenschaft als rechtliche Grundlage des Ausführungsgesetzes113. Diese Rechtswirkung tritt auch im Verhältnis zwischen Gesetz und Durchführungsverordnung ein114. Dazu hat der Verfassungsgerichtshof angenommen, daß ein Verordnungsprüfungsverfahren als Anlaßfall für ein Gesetzesprüfungsverfahren in Betracht kommt und daß gegebenenfalls im Sinne der Anlaßfallwirkung nach Art. 140 Abs. 7 B-VG vorzugehen ist115, 116. d) Die Wirkungen einer Feststellungsentscheidung Im Gegensatz zur Gesetzesaufhebung ist bei der Feststellungsentscheidung, daß ein Gesetz verfassungsfassungswidrig war, keine ausdrückliche Anordnung über die zeitlichen Wirkungen des Erkenntnisses getroffen117. Dies legt den – keineswegs zwingenden – Umkehrschluß nahe, eine Erstreckung der Rückwirkung komme nicht in Betracht. Die Feststellungsentscheidung wirkt unzweifelhaft für den Anlaßfall beziehungsweise für den Antragsteller einer Individualanfechtung118. Bleibt bei einer „außer Kraft getretenen“ gesetzlichen Regelung überhaupt Raum für andere Urteilswirkungen?119 Es kann ja durchaus Regelungen geben, bei denen zwar der Rechtsbedingungsbereich, noch nicht aber der Rechtsfolgenbereich im Zeitpunkt der Fällung des Erkenntnisses beendet ist,

112 Anders als im Verordnungsprüfungsverfahren ist also der österreichische Verfassungsgerichtshof nicht auf die Aufhebung der als rechtswidrig erkannten Norm beschränkt. 113 VfSlg 13.955. 114 VfSlg 14.524. 115 VfSlg 14.041, 14.679; VfGH 2.3.2000, V 4/00. 116 Unklar ist, ob damit die traditionelle Auffassung, eine Durchführungsverordnung falle mit Wegfall ihrer gesetzlichen Grundlage ipso iure dahin (sog. Herzog-MantelTheorie), aufgegeben wurde. Kritisch daher Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer (FN 79), RN 1170; Öhlinger, Verfassungsrecht, 41999, RN 1032. 117 Art. 140 Abs. 7 B-VG spricht ausdrücklich nur vom aufhebenden Erkenntnis, die sinngemäße Anwendung ist nur bezüglich der Gesamtaufhebung und bezüglich der Kundmachungsverpflichtung angeordnet. 118 VfSlg 12.743. 119 Offenbar verneinend Heinz Mayer, Das österreichische Bundes-Verfassungsrecht. Kurzkommentar, 21997, S. 400.

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mit anderen Worten: Gesetzesvorschriften, deren Tatbestände in zeitlicher Hinsicht nicht mehr konkretisiert werden können, die aber immer noch Gegenstand der Vollziehung (und insoweit Bestandteil der Rechtsordnung) sind120. Der überwiegende Teil der Lehre schließt aus Art. 140 Abs. 7 Satz 1 B-VG auf eine umfassende zeitliche Rückwirkung der Feststellungsentscheidung121. Der Verfassungsgerichtshof hat aber entgegen dem Wortlaut alle für die Aufhebung geltenden Bestimmungen auch auf Feststellungserkenntnisse angewendet; für diese nicht näher begründete Auffassung können Entstehungsgeschichte und System der heutigen Normkontrollbestimmungen ins Treffen geführt werden, wonach der Verfassungsgesetzgeber trotz mangelhaften sprachlichen Ausdrucks auch bei der Feststellungsentscheidung die spezifischen zeitlichen Wirkungen des verfassungsgerichtlichen Ausspruchs mitgemeint hat und daher dem Verfassungsgerichtshof auch hier die entsprechende Gestaltungsmöglichkeit eingeräumt hat122. e) Ausnahmen von der ex nunc-Wirkung Der Grundsatz der Nichtrückwirkung der Aufhebung erfährt von Verfassungs wegen zwei Ausnahmen: erstens im unbedingt begünstigten „Anlaßfall“ und zweitens für jene Fälle, in denen der österreichische Verfassungsgerichtshof „anderes ausspricht“ und damit über den Anlaßfall hinaus Gestaltungsmacht hat und eine Rückwirkung anordnen kann. aa) Anlaßfall123 Eine zwingende vom Verfassungsgerichtshof nicht auszuschließende Rückwirkung hat sein normaufhebendes Erkenntnis auf den sog „Anlaßfall“. Diese 120 In diesem Zusammenhang verdient jedoch erwähnt zu werden: Der VfGH nimmt – ohne Begründung – an, daß er Abgabengesetze „mit einem auf die Vergangenheit beschränkten zeitlichen Anwendungsbereich“ im Fall ihrer Verfassungswidrigkeit – ungeachtet des Art. 140 Abs. 4 – aufzuheben habe: z. B. VfSlg 8101, 8709, 11.666; dagegen zutreffend Thienel, Was ist ein außer Kraft getretenes Gesetz?, JBl 1994, S. 98. 121 Ringhofer, Die österreichische Bundesverfassung, 1977, S. 463; Haller (FN 8), S. 280 ff.; Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer (FN 79), RN 1132; Laurer, Zeitliche Aspekte der Aufhebung von Gesetzen und Verordnungen durch den VfGH, in: FS Walter (FN 108), S. 423 ff. Dann könnte die umfassende Bindungsanordnung in Art. 140 Abs. 3 Satz 1 nur den Sinn haben, daß das betroffene Gesetz (außer im Anlaßfall) überhaupt nicht mehr anzuwenden sei. Daß eine solche Auffassung eigentlich die Bestimmungen über die Gesamtaufhebung und die Kundmachungsverpflichtung funktionslos machte, betont Aichlreiter, in: Rill/Schäffer (FN 64), Art. 139 B-VG RN 33. 122 So Thienel (FN 120), S. 93, ihm folgend Rohregger/Schuch (FN 68), S. 154 f. 123 Die Anlaßfallwirkung wurde ursprünglich als eine Systemkonsequenz der amtswegigen Prüfungsbefugnis (Kelsen/Froehlich/Merkl [FN 111], S. 189 und 261), später auch als eine Konsequenz der Verfassungsbeschwerde gesehen, weil es undenkbar sei,

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Regelung begünstigt zumeist die Partei des Anlaßverfahrens124 und wird, weil sie gleichsam deren Beitrag zur Bereinigung der Rechtslage belohnt, als „Ergreiferprämie“ bezeichnet125. Die ungleiche Wirkung der Aufhebung für den „Ergreifer“ einerseits und andere, durchaus vergleichbare Fälle anderseits (also das Andauern des verfassungswidrigen Zustandes, etwa einer grundrechtswidrigen Regelung bis zum Inkrafttreten der Aufhebung, kraft einer Art „Übergangs-Bonus“) wird in Österreich angesichts der bewußten Entscheidung der Verfassung für dieses System nicht in Frage gestellt. • Anlaßfall ist naturgemäß jene konkrete Rechtssache, die tatsächlicher Anlaß für die Einleitung eines Normenkontrollverfahrens gegeben hat. Im Sinne des gleichmäßig zu gewährenden Rechtsschutzes hat der Verfassungsgerichtshof den Anlaßfall-Begriff im Laufe der Zeit weiter interpretiert („Quasi-Anlaßfälle“). • Nach einer ersten Erweiterung126 werden heute dem Anlaßfall im engeren Sinn alle jene Fälle gleichgehalten, die im Zeitpunkt des Beginns der mündlichen Verhandlung127 oder wenn eine solche unterbleibt, bei Beginn der nicht öffentlichen Beratung128 des Verfassungsgerichtshofs im Normenkontrollverfahren beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig sind129.

daß die Aufhebung einer als verfassungswidrig erkannten Norm keine Rückwirkung auf das Verfahren haben sollte, das Voraussetzung für die Auslösung der Normenkontrolle war. Die Anerkennung der Anlaßfallwirkung entspringt also eigentlich einer richterrechtlichen Wurzel. Die B-VGNov 1975 hat dies gleichsam bestätigt und kodifiziert. Zur heutigen Rechtslage eingehend Ruppe, Der Anlassfall, in: Holoubek/Lang (FN 15), S. 175 ff. m.w. N. 124 Die Rückwirkung kann gelegentlich auch zum Nachteil gereichen, etwa wenn die Partei im Anlaßverfahren die Nichtanwendung einer sie begünstigenden Bestimmung bekämpft und die Normenkontrolle zu deren Aufhebung führt. Walter/Mayer/ Kucsko-Stadlmayer (FN 79), RN 1170 halten dies für „unabwendbar“. Ruppe (FN 123), S. 188 f. erwägt allerdings mit guten Gründen, ob nicht in einer solchen Konstellation vom VfGH auf Grund seiner Anordnungsbefugnis nach Art. 140 Abs. 7 B-VG die Rückwirkung im Anlaßfall ausgeschlossen werden könnte. 125 Welan, Altes und Neues vom Anlaßfall, Staatsbürger 1967/17, S. 4; Rohregger/ Schuch (FN 68), S. 148. Vor der Neuregelung von 1975 sah Walter (FN 62), S. 730, keine theoretische Notwendigkeit für die Begünstigung des Anlaßfalles. 126 VfSlg 10.067. 127 Die Termine der mündlichen Verhandlungen werden öffentlich bekannt gemacht. 128 Der Zeitpunkt des Beginns der nicht öffentlichen Beratung ist freilich für einen potentiellen Antragsteller kaum ermittelbar. Aus der Praxis wird berichtet: „Um die Rechtzeitigkeit (im Hinblick auf die Anlaßfallwirkung) zu einer Beschwerde feststellen zu können, wird in der Kanzlei des VfGH während der Session nicht bloß der Eingangstag einer Beschwerde, sondern auch die genaue Uhrzeit des Einlangens festgehalten. Damit ist bei persönlich überbrachten Beschwerden wohl auch der richtige Zeitpunkt dokumentiert. Bei Beschwerden, die per Post einlangen, müsste man aber eigentlich auf den Aufgabezeitpunkt abstellen. Die ratio dieser Vorgangsweise ist ja

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Die Anlaßfallwirkung besteht darin, daß im fortgesetzten Anlaßverfahren die Rechtsfrage so zu beurteilen ist, als ob die aufgehobene Bestimmung schon zum Zeitpunkt der im Anlaßverfahren zu treffenden Entscheidung nicht mehr bestanden hätte. Der Anlaßfall ist also grundsätzlich auf Grund der „bereinigten Rechtslage“ zu entscheiden. Ist der Anlaßfall eine Bescheidbeschwerde nach Art. 144 B-VG, so pflegt allerdings der Verfassungsgerichtshof in der neueren Rechtsprechung den Bescheid jedenfalls aufzuheben, ohne die Gesetzmäßigkeit streng an der bereinigten Rechtslage zu prüfen130; der Verfassungsgerichtshof begnügt sich in der Regel mit der Begründung, es sei nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, daß die Anwendung der aufgehobenen Norm für den Beschwerdeführer von Nachteil war131. In einem sonstigen fortzusetzenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren ist die bereinigte Rechtslage anzuwenden (allenfalls unter Berücksichtigung der seit dem Bereinigungsstichtag erfolgten Änderungen)132.

wohl, daß nicht nach Bekanntwerden bestimmter Ergebnisse des Normenprüfungsverfahrens noch Beschwerden eingebracht werden können. Dies ist bei vor Beginn der mündlichen Beratung aufgegebenen Beschwerden aber sichergestellt, mögen sie auch erst ein oder zwei Tage nach diesem Zeitpunkt beim VfGH einlangen.“ (Rohregger/ Schuch [FN 68], S. 152 FN 48). 129 Seit VfSlg 10.616 st. Rsp.; 10.736, 10.954, 11.711, 11.191, 12.649, 13.067, 14.190, 14.304 usw. Ob diese Auffassung teleologisch im Begriff des Anlaßfalls abgestützt werden kann (so die Judikatur) oder in der Befugnis des VfGH, die Wirkungen seines Erk nach Art. 140 Abs. 7 auszudehnen (so Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer [FN 79], RN 1170), ist vom Gedanken des Individualrechtsschutzes her zweitrangig. Das „Gleichhalten“ dieser Fälle mit dem tatsächlichen Anlaßfall macht eine ausdrückliche Ausdehnung der Anlaßfallwirkung entbehrlich. 130 Seit VfSlg 10.303. 131 In manchen Fällen gelangt der VfGH auf Grund der bereinigten Rechtslage zur Abweisung der Beschwerde (wenn nach Aufhebung der angefochtenen Norm dem geltend gemachten Anspruch die Grundlage völlig entzogen ist; (z. B. VfSlg 10.689, 13.545, 13.549, 13.899) oder zur Zurückweisung (wenn nach Aufhebung einer den Instanzenzug abkürzenden Bestimmung der angefochtene Bescheid nicht mehr als letztinstanzlich und daher nicht als beschwerdetauglich gelten kann: VfSlg 13.308). In solchen Fällen spricht der VfGH dem Beschwerdeführer nach § 88 VerfGG die Kosten der Beschwerdeführung zu, zumal sie insofern erfolgreich war, als sie zur Aufhebung einer präjudiziellen Norm führte (zumindest insofern „Ergreiferprämie“). Hatte im Anlaß gebenden Verfahren hingegen eine als verfassungswidrig erkannte Behörde entschieden, so wird der Bescheid wegen Verletzung des gesetzlichen Richters aufgehoben (VfGH 13.6.2001, B 89/01). 132 Auf die bereinigte Rechtslage ist abzustellen, auch wenn dies der Partei des Anlaßverfahrens zum Nachteil gereichen kann (VwGH 29.8.1996, 96/06/0131; dort auch Ablehnung des vom Beschwerdeführer geltend gemachten Gedankens einer „positiven“ Ergreiferprämie).

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bb) Anordnung einer erweiterten Anlaßfallwirkung (Ausdehnung der Rückwirkung pro praeterito) Auf die vor Aufhebung einer generellen Norm verwirklichten Tatbestände ist (mit Ausnahme des Anlaßfalles) die generelle Norm grundsätzlich weiterhin anzuwenden. Aus Art. 140 Abs. 7 B-VG ergibt sich jedoch: Der Verfassungsgerichtshof kann aussprechen, daß ein von ihm aufgehobenes Gesetz – über den Anlaßfall hinaus – auch für frühere Sachverhalte nicht mehr anzuwenden ist133. Im Ergebnis kommt ein solcher Ausspruch einer rückwirkenden Aufhebung gleich (Aufhebung pro praeterito). Eine solche Anordnung liegt im Ermessen des Verfassungsgerichtshofs, welches scheinbar undeterminiert ist. Solche Entscheidungen liegen selbstverständlich nicht in seinem Belieben, sondern in einem wohlerwogenen Ermessen, das von sachlichen Gesichtspunkten geleitet sein muß und begründungspflichtig ist. Die Ermächtigung erlaubt es ihm, die Rückwirkung auf näher umschriebene Fälle oder Fallgruppen einzugrenzen; auch andere, etwa stichtagsbezogene Differenzierungen werden als zulässig erachtet134. Daß die Ermächtigung „verbal nicht begrenzt“135 ist, könnte zu dem Schluß (ver)führen, die Rückwirkung dürfe auch für alle vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände ausgesprochen werden. Im letzteren Fall verbliebe der aufgehobenen Norm überhaupt kein zeitlicher Anwendungsbereich, die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs würde sich dem Nichtigkeitsmodell angleichen (Aufhebung ex tunc beziehungsweise ab initio). Die seit 1975 erweiterten Anordnungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Verfassungsgerichtshofs sind aber gewiß nicht dazu bestimmt, das Verhältnis von Regel (Aufhebung) und Ausnahme (rückwirkende Anordnung) und damit auch das Verhältnis von Gesetzgeber und Verfassungsgericht dem Grunde nach in ihr Gegenteil zu verkehren. Tatsächlich hat der Verfassungsgerichtshof bis in neuere Zeit ausdrücklich festgehalten, daß keine Rechtsvorschrift ihn ermächtige, das Inkrafttreten der Aufhebung schlechthin mit einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt zu bestimmen136, 137. Hingegen wird eine selektive Erstreckung 133 Rein nach dem Wortlaut „anderes“ könnten auch Sachverhalte nach der Aufhebung erfasst sein, dies liegt aber nicht im Sinne der in Art. 140 Abs. 7 B-VG statuierten Grundregel. So auch Haller (FN 8), S. 269 und Rohregger/Schuch (FN 68), S. 149; a. M. Mayer, Strukturanpassung und verfassungsrechtliche Grundordnung, Österr. Steuerzeitung, Sonderheft August 1997, S. 8 („undeterminiertes Ermessen“ – für bereits verwirklichte Fälle wie auch für zukünftige Fälle), der jedoch andererseits – Mayer (FN 119), S. 400 – die Rückwirkung auf rechtskräftige Bescheide als unzutreffend bezeichnet. 134 VfSlg 11.190. 135 Ringhofer (FN 108), S. 117. 136 VfSlg 14.262. 137 Im konkreten Fall (zum Wohnbauförderungs-ZweckzuschussG 1989 und zum FAG 1993) hatte eine antragstellende LReg derartiges beantragt. Der VfGH deutet dies als Antrag auf Festlegung der vollständigen Rückwirkung, hält dies aber im gege-

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der Anlaßfallwirkung und eine selektive zeitliche Rückwirkung auf einen Stichtag als gleichwertig und zulässig angesehen138. Mittlerweile hat sich aber in der Rechtsprechung – zumindest für besondere Situationen – die Auffassung von einer umfassenden rückwirkenden Anordnungsbefugnis durchgesetzt, offenbar um weitere Rechtsgänge zu ersparen, in denen zusätzlich festgestellt werden müßte, daß eine Vorschrift verfassungswidrig war. Als eine selbstverständliche Begrenzung wurde es lange gesehen, daß sich die rückwirkende Aufhebung grundsätzlich nur auf noch nicht rechtskräftig entschiedene Fälle auswirken könne139. Nach anfänglich zurückhaltender Handhabung der in Rede stehenden Ermächtigung hat der Verfassungsgerichtshof in den letzten Jahren häufig großzügigeren Gebrauch von seiner Dispositionsmöglichkeit über die zeitlichen Wirkungen gemacht. Anfangs im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes, insbesondere um einer mißbräuchlichen Handhabung von Verfahrenvorschriften seitens der Behörden gegenzusteuern, die mit der Aussetzung von Berufungsverfahren die Erlassung eines bekämpfbaren Bescheides, solcherart die Erlangung einer Anlaßfallsituation und damit ein Element des Individualrechtsschutzes verhinderten. Die Rechtskraft verwaltungsbehördlicher Bescheide oder richterlicher Urteile bildet dann im Ergebnis keine Grenze mehr. Der Verfassungsgerichtshof bezeichnet seine aus Art. 140 Abs. 7 B-VG folgende Ermächtigung ausdrücklich als „nicht näher begrenzt“, sieht sich jedoch jeweils zur Darlegung der ihn bestimmenden Gründe veranlaßt. Unter Darlegung der bisherigen Judikaturlinie wird im Erk VfSlg 14.723 allgemein rechtfertigend betont, der Gerichtshof habe seine Ermächtigung in einer der jeweiligen Sachlage Rechnung tragenden Weise genutzt. So hat er die Wirkung der Aufhebung auf Fälle ausgedehnt, die bei einem anfechtungsberechtigten Gericht (oder UVS) anhängig waren, wenn dieses Organ aus Gründen des Verfahrensablaufs nicht oder nicht rechtzeitig in der Lage war, Aufhebungsanträge beim Verfassungsgerichtshof zu stellen, so daß – im zweitgenannten Fall – die Anträge in ein bei ihm anhängiges Gesetzesprüfungsverfahren auf Grund des fortgeschrittenen Prozeßgeschehens nicht mehr einbezogen werden konnten140. Damit wirkte sich die Gesetzesaufhebung im Falle ihrer Erstreckung auf beim VwGH anhängige Verfahren auch auf rechtskräftig entschiedene Verwaltungssachen, die nicht Anlaßfälle waren, aus.

benen Zusammenhang auch aus inhaltlichen Gründen für unmöglich. Ein solcher Abspruch würde eine äußerst aufwendige Rückabwicklung erfordern, in deren Verlauf Gebietskörperschaften, die an diesem Verfahren nicht beteiligt waren, zur Rückzahlung bereits gutgläubig verbrauchter Zweckzuschüsse verpflichtet wären. 138 Rohregger/Schuch (FN 68), S. 156 f. 139 Klecatsky/Öhlinger, Die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, 1984, S. 91; Oberndorfer (FN 6), S. 203; Rohregger/Schuch (FN 68), S. 150. 140 Z. B. VfSlg 13.499, 13.704, 14.000.

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In besonders gelagerten Fällen hat der Verfassungsgerichtshof – wie er sagt: aus Gründen der Fallgerechtigkeit – die Wirkung der Aufhebung noch weiter gezogen und verfügt, daß die aufgehobenen Bestimmungen auch auf vor der Aufhebung verwirklichte Tatbestände nicht mehr anzuwenden sind141. Die Rechtfertigung für die besonders extensive Nutzung seines Gestaltungsspielraums im Falle des Mindest-KöSt-Erkenntnisses (Auswahl von vier konkreten Anlaßfällen und Erstreckung der Wirkungen auf eine Unzahl weiterer Fälle) ergab sich für ihn aus der Konfrontation mit einer „Beschwerdeflut“ von (damals) 11.122 Beschwerdefällen142. Damit zeigt sich, daß die in der älteren Diskussion idealtypische Gegenüberstellung von Nichtigkeits- und Aufhebungsmodell in dieser Form nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Die Rechtfertigung der konstitutiven Wirkung des Aufhebungsurteils wurde immer darin gesehen, daß die Annahme einer Nichtigkeit des aufgehobenen generellen Aktes (ab initio, ex tunc) zu unabsehbaren und völlig unhaltbaren Auswirkungen im Hinblick auf die Rechtssicherheit führen müßte, wenn nun plötzlich alle unter Anwendung dieses Gesetzes ergangenen Rechtsakte und Rechtsgeschäfte nichtig wären143. Diese Konsequenz wurde aber von anderer Seite insofern nicht als schwerwiegend gesehen, als eine rechtskräftige Entscheidung immer eine rechtskräftige und somit unabänderliche Entscheidung bleibe, auch wenn das Gesetz, auf dem sie beruht, später für nichtig erklärt werde; unterstützend wurde hinzugefügt, das eine Entscheidung ja auch dann rechtskräftig bleibe, wenn sie auf gar keinem Gesetz beruht144.

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Z. B. VfSlg 8233, 11.190, 13.492, 13.651, 13.834. Der Spruch lautete (auszugsweise, in den hier interessierenden Teilen): „I. § 24 Abs. 4 des Körperschaftssteuergesetzes 1988 . . . wird als verfassungswidrig aufgehoben. Die aufgehobene Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden und verliert ihre normative Kraft nicht nur in dem beim Verfassungsgerichtshof zu B 2909/96, B 2947/96, B 2959/96 und B 2962/96 anhängigen Anlaßfällen, sondern auch hinsichtlich aller anderen schon rechtskräftig gewordenen Bescheide. Diese anderen Bescheide verlieren ihre Wirkung; die beim Verfassungsgerichtshof gegen solche Bescheide anhängigen Beschwerdeverfahren gelten als beendet, ohne daß über die darin gestellten Anträge einschließlich jener auf Kostenersatz abzusprechen ist. . . .“ Ähnlich formulierte der VfGH im Folge-Erkenntnis VfSlg 15.060: „Der Verfassungsgerichtshof sah sich zu dieser weitgehenden Ausschöpfung der ihm durch Art. 140 Abs. 7 B-VG eingeräumten Ermächtigung zur Ausdehnung der Wirkung der Gesetzesaufhebung im Interesse eines raschen, effizienten und unmittelbaren Rechtsschutzes veranlaßt, da eine Einzelbehandlung und -erledigung der bei ihm anhängigen gleichartigen Beschwerden Jahre gedauert und die Behandlung der übrigen, im Verfassungsgerichtshof anhängigen Beschwerden und Anträge um viele Monate verzögert hätte, was angesichts der Bedeutung der im Rechtsstaat essentiellen Kontrollfunktion des Verfassungsgerichtshofs nicht hingenommen werden könnte.“ 143 So schon Kelsen/Froehlich/Merkl (FN 111), S. 188; Spanner, Rechtliche und politische Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1. ÖJT 1961, Bd. I/2. 144 R. Walter (Diskussionsbeitrag), 1. ÖJT 1961, Bd. II/2, S. 61. 142

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Diese Auffassung geht von einer apriorischen Rechtskraft-Vorstellung aus und übersieht, daß es Rechtskraft nur gibt und daß die Grenzen der Rechtskraft dadurch bestimmt sind, weil und insoweit die Prozeßordnungen entsprechende positivrechtliche Anordnungen enthalten. Für die grundsätzliche Abwägung zwischen der Herstellung absolut verfassungsmäßiger Zustände und Rechtsbeständigkeit ist anderseits auch ins Treffen geführt worden, man könne nur von einem „bedingt schützenswürdigen Vertrauen“ sprechen, zumal die Regelung, auf die vertraut wird, ja verfassungswidrig ist.145 Zutreffend ist jedenfalls die rechtspolitische Kritik an der konstitutiven Wirkung verfassungsgerichtlicher Erkenntnisse in der Richtung, daß sie zu dem unerfreulichen Ergebnis führen, daß Gerichte und Verwaltungsbehörden ein Gesetz anwenden müssen, von dem der Verfassungsgerichtshof bereits erklärt hat, daß es verfassungswidrig ist – eine Konsequenz, über deren Beseitigung schon auf dem 1. Österreichischen Juristen-Tag 1961 diskutiert worden ist. Die generelle Neuordnung der zeitlichen Wirkungen normaufhebender Erkenntnisse des österreichischen Verfassungsgerichtshofs wäre daher eine rechtspolitische Frage. Der eingeschlagene Weg ist hingegen nur in besonderen, das Rechtsschutzsystem belastenden Ausnahmesituationen und – wie aus den Anlaßfällen ersichtlich – für gesetzliche Regelungen mit einem eng begrenzten zeitlichen Anwendungsbereich (wie sie insbesondere in der Steuergesetzgebung vorkommen) gerechtfertigt. Mittlerweile verwendet der Verfassungsgerichtshof auch in seine Entscheidungskapazität weniger belastenden Fällen das Instrument einer Erstreckung der Anlaßfallwirkung zur Verfahrensvereinfachung in bezug auf andere parallel anhängige Gesetzesprüfungsverfahren. Mit der Ausdehnung der Anlaßfallwirkung „erübrigt sich“ eine weitere Behandlung solcher Anträge146. 7. Die Aufhebung unter Fristsetzung (pro futuro-Wirkung)

Der österreichische Verfassungsgerichtshof kann in seinem Erkenntnis eine Frist mit der Wirkung setzen, daß das aufgehobene Gesetz „auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlaßfalles anzuwenden“ ist (Art. 140 Abs. 7 Satz 3 B-VG). In diesem Fall ist das „aufgehobene“ Gesetz auf alle Sachverhalte, die sich vor oder nach der Kundmachung der Aufhebung bis zum Fristablauf ereignet haben, weiterhin – auch nach Fristablauf – anzuwenden. Der Ausspruch verleiht dem aufgehobenen Gesetz also einen zusätzlichen Rechtsanwendungsbefehl: Der Bedingungsbereich der Norm

145

Haller (FN 8), S. 263. VfSlg 14.701 m.w. N.; VfGH 27.2.2001, G 130–137/00 (hinsichtlich mehrerer paralleler Anträge von Unabhängigen Verwaltungssenaten). 146

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wird bis zum Ende der Frist erstreckt. Die Norm ist innerhalb dieses Zeitraums nicht verfassungsrechtlich einwandfrei, aber unangreifbar147. Die Wirkung der Frist ist also eine Art „negative Legisvakanz“, die Aufhebung tritt mit all ihren Wirkungen erst später ein: In diesem Fall wird die zeitliche Wirkung der Aufhebung nach vorne verschoben. Nicht nur alle vor der Kundmachung, sondern auch alle zwischen Kundmachung und Fristende verwirklichten Tatbestände unterliegen der alten Rechtslage. Die „bereinigte Rechtslage“ soll erst nach Ablauf der Frist Platz greifen. Diese Regelung hat also den Aspekten der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gegenüber jenen der materiellen Gerechtigkeit und Rechtsrichtigkeit den Vorzug gegeben und überdies die politische Handlungsfreiheit des Gesetzgebers respektiert. Dieser hat es auch innerhalb der Frist in der Hand, durch eine eigene Neuregelung der provisorisch weitergeltenden Norm zu derogieren148. Der gute verfassungspolitische Grund für eine derartige „Karenzfrist“, wie Kelsen149 sie genannt hat, ist von Anbeginn darin gesehen worden, „daß nicht ein leerer, gesetzloser Zwischenraum eintritt, sondern für die etwa notwendige Umarbeitung des nicht unmittelbar als verfassungswidrig stigmatisierten Teiles des Gesetzes gesorgt werden kann150.“ 147 Angesichts der erkannten Verfassungswidrigkeit in der Sache nicht ganz zutreffend die Formulierung der älteren Judikatur, daß die aufgehobene Bestimmung innerhalb der Frist „einem verfassungsmäßig einwandfreien Bestandteil der Rechtsordnung gleichzuhalten“ sei (z. B. VfSlg 4718). 148 Eine Kombination der Aufhebung und der Fristsetzung mit einer rückwirkenden Aufhebung scheint intentional widersprüchlich und wird überwiegend für unzulässig angesehen. So Ringhofer (FN 108), S. 124; Haller (FN 8), S. 264; a. M. Thienel (FN 120), S. 34 FN 54. In der Rspr. ist ein solcher Fall schon vorgekommen (VfSlg 11.190). 149 Kelsen/Froehlich/Merkl (FN 111), S. 259 f. 150 Neumann-Ettenreich (FN 111), S. 79, der übrigens (im Hinblick auf den Umfang der Aufhebungsentscheidung) auch eine Folgenorientierung ins Auge faßte; ebenso sieht schon VfSlg 90/1921 den Zweck der Fristsetzung darin, den kompetenten gesetzgebenden Faktoren Gelegenheit zu geben, bis zum Außerkrafttreten des aufgehobenen Gesetzes ein verfassungsmäßiges, den Gegenstand des Gesetzes regelndes Gesetz vorzubereiten. Gelegentlich wird kritisch vermerkt, daß dem Reparaturzweck in der Spruchpraxis nicht vollends entsprochen werde, da der VfGH vorwiegend absolute Fristen setzt, die ab der Urteilsfällung des VfGH laufen. Dadurch büßt die zur „Reformation“ berufene Behörde unter Umständen einen Teil der Frist ein, da sie mit den Vorbereitungen für ein neues Gesetz in der Regel erst nach Zustellung des Erkenntnisses bzw. nach Kundmachung der Aufhebung beginnen kann. Dies ist allerdings eine sehr formelle Betrachtungsweise, zumal konkrete Vorüberlegungen zur Reparatur verfassungswidrig erkannter Gesetze(sstellen) schon unmittelbar nach der mündlichen Verkündung beginnen können. Als eine gewisse Kompensation hat man bekanntlich in neuerer Zeit (BVG BGBl. 1992/276) die Fristsetzungsmöglichkeit auf 18 Monate erweitert, während man in der Ersten Republik ursprünglich eine Fristsetzung bei Verordnungen überhaupt nicht für erforderlich hielt und bei Gesetzen mit sechs Monaten das Auslangen fand.

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Mit der Fristsetzung kann der Verfassungsgerichtshof die Auswirkungen seiner Entscheidung auf die Rechtsordnung besser abschätzen und „feinsteuern“. Zurecht hat man gesagt, daß diese österreichische Konstruktion bloße Feststellungsurteile oder Appellentscheidungen des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber überflüssig macht151. Wenn dem Gesetzgeber eine solche Frist (von maximal 18 Monaten) gesetzt wird, so hat er es in der Hand, den aus der Aufhebung resultierenden Rechtszustand nach seinen rechtspolitischen Vorstellungen zu ordnen. Der Verfassungsgerichtshof macht von der Fristsetzung häufigen, ja fast regelmäßigen Gebrauch, zumeist über Anregung der zur Vertretung der Norm auftretenden Regierung. Wird von dieser kein entsprechendes Ersuchen gestellt, so hält der Verfassungsgerichtshof eine Fristsetzung in der Regel für entbehrlich. Die Argumentationslast für die Gründe, die ein sofortiges Außerkrafttreten des aufgehobenen Gesetzes mit Kundmachung als untunlich und eine gewisse Sanierungsfrist als zweckmäßig erscheinen lassen, liegt bei der die Fristsetzung anregenden Regierung. Die Ersuchen der Regierungen um Fristsetzung gründen sich zumeist auf den Zeitaufwand für legistische Vorkehrungen, neuerdings gelegentlich auch auf den Zeitaufwand, um mit einer geplanten Neuregelung dem Konsultationsmechanismus entsprechen zu können sowie auf die manchmal auftretenden Komplikation, daß eine Neuregelung sowohl gemeinschaftsrechtlichen Geboten wie auch den nationalen verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen muß. Darauf geht der Verfassungsgerichtshof regelmäßig kurz begründend ein. Die ältere Rechtsprechung, welche hier ein undeterminiertes Ermessen annahm152, ist heute aufgegeben. Bei der Bemessung der Frist läßt sich der Verfassungsgerichtshof je „nach Lage des Falles“ von seiner Sicht des von der Regierung vorgetragenen Zeitbedarfs leiten, was zur Gewährung einer langen Frist etwa bei „Notwendigkeit der völligen Umgestaltung des Rechtsschutzsystems“ in einem bestimmten Regelungsbereich führen kann153. Verhältnismäßig kürzere Fristen werden hingegen festgelegt, wenn dem Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit an der aufgehobenen Norm bereits aus einem gleichgelagerten Vorerkenntnis bekannt sein muß154, wenn ein Landesausführungsgesetz zu einem Bundesgrundsatzgesetz mehrere Jahre überfällig ist155, oder wenn die Verfassungswidrigkeit trotz Kompliziertheit der Materie in gravierenden Verstößen

151 Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 39. 152 Kritisch Haller, ÖJZ 1974, S. 175 und Haller (FN 8) S. 251 ff., der eine Ausübung dieses Ermessens nach offenzulegenden Determinanten und eine Begründung einforderte. 153 So im Vergaberecht (VfSlg 15.578): 15 Monate. 154 VfSlg 8657, 14.536; jüngst VfGH 20.6.2001, G 25/01 (§ 70a Wiener BauO): mit Endtermin, im Ergebnis sechs Monate und zehn Tage. 155 VfGH 20.6.2000, G 54/98: sechs Monate angemessen aber auch ausreichend.

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der Gesetzesbeschlußfassung gegen die parlamentarische Geschäftsordnung gelegen war156. Die Frist kann durch ein Enddatum (z. B. „. . . mit Ablauf des 31. Juli 2001 in Kraft“) oder durch eine Zeitstrecke bemessen sein. Da der Lauf der Frist von der Kundmachung abhängt157, ist die datumsmäßige Umschreibung für den österreichischen Verfassungsgerichtshof in der Regel die sicherere Lösung; dadurch hat das kundmachende Organ keinen Einfluß auf den Fristablauf. Die Setzung einer Frist verbietet sich aus der Sicht des Verfassungsgerichtshofs, wenn tragender Grund für die Aufhebung einer Gesetzesnorm die durch Unklarheit und Widersprüchlichkeit der Vorschrift bewirkte Vollzugsuntauglichkeit war158. Daß eine Frist nicht zu bestimmen sei, wird ferner angenommen, wenn die Verfassungswidrigkeit in einem Verstoß gegen die EMRK besteht; denn während des Laufes der Frist wären die maßgeblichen einfachgesetzlichen Bestimmungen verfassungsrechtlich immunisiert, ihre Anwendung würde aber zu einem vom EGMR wahrzunehmenden Verstoß gegen die Konvention führen159. Keine Frist gewährte der Verfassungsgerichtshof jüngst bei der Aufhebung einer Verfassungsbestimmung, in der er einen Verstoß gegen Grundprinzipien der Bundesverfassung erblickte160. Eine Fristsetzung kam für ihn schon „allein deshalb nicht in Betracht, weil dadurch die Maßgeblichkeit der Verfassung weiterhin eingeschränkt bliebe und die Verletzung des demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzips perpetuiert würde.“ Vielmehr sah sich der Gerichtshof bemüßigt, ausdrücklich auszusprechen, daß die Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist, „so daß die umfassende Immunisierungswirkung der Verfassungsbestimmung . . . wegfällt“. 8. Negative Geltungsanordnung durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof (Befugnis, das Wiederinkrafttreten aufgehobener Gesetze zu verhindern)

Durch ein Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, mit dem ein Gesetz aufgehoben wird, treten – wie schon gesagt – eo ipso die früheren gesetzlichen Vorschriften wieder in Kraft (Art. 140 Abs. 6 B-VG): Wiederherstellung der alten Rechtslage. Mit der Aufhebung eines Gesetzes beseitigt der Verfassungsgerichtshof auch die derogatorischen Wirkungen des betreffenden 156 So daß dem VfGH offenbar, obwohl er dies nicht ausdrücklich sagte, eine neuerliche Beschlussfassung der Gesetzgebungsorgane kurzfristig möglich erschien (VfGH 16.3.2001, G 150/00, PensionsreformG 2000): nur ca. dreieinhalb Monate! 157 Novak, Die Fehlerhaftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, 1967, S. 103 ff. (192 ff.); zu Einzelheiten bei der Technik der Fristsetzung Haller (FN 8), S. 255 ff. 158 VfSlg 14.802. 159 VfSlg 15.129. 160 VfGH 11.10.2001, G 12/00 u. a. (Aufhebung des § 126a BundesvergabeG BGBl. I 1997/56 i. d. F. BGBl. I 2000/125).

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Gesetzes, freilich ex nunc. Durch die Gesetzesaufhebung werden rechtskräftige individuelle Vollziehungsakte in ihrem Bestand nicht betroffen. Der Verfassungsgerichtshof kann aber auch hier anderes aussprechen und verfügen, daß frühere gesetzliche Regelungen nicht wieder in Kraft treten („negative Gesetzgebung“) und damit die derogatorischen Wirkungen des aufgehobenen Gesetzes unberührt lassen. Eine solche Verfügung steht in seinem nicht näher determinierten Ermessen. Man wird daher – insbes. in Verbindung mit Art. 140 Abs. 7 B-VG – anzunehmen haben, daß der Verfassungsgerichtshof die derogatorischen Wirkungen eines von ihm aufgehobenen Gesetzes auch ex tunc beseitigen kann. Von der genannten Ermächtigung macht der Verfassungsgerichtshof extensiven Gebrauch, so daß die zuerst genannte Regel von der Rückkehr zur vorherigen Rechtslage faktisch in ihr Gegenteil verkehrt wird. In der Kundmachung über die Aufhebung des Gesetzes ist jedenfalls auch zu verlautbaren, ob und welche gesetzlichen Bestimmungen wieder in Kraft treten. Im B-VG ist zwar nicht gesagt, daß es Sache des Verfassungsgerichtshofs ist, darüber einen Ausspruch zu treffen. Die Formulierung könnte auch dem kundmachungspflichtigen Organ obliegen. Dennoch ist es sinnvoller und entspricht der Praxis, daß schon der Verfassungsgerichtshof eine entsprechende Aussage in den Spruch seines Erkenntnisses aufnimmt, sodaß das zur Kundmachung verpflichtete Organ diesbezüglich nur ein ausführendes Organ ist. Im Spruch des Erk begegnet daher entweder die Formel „Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit“ oder ein genaues Zitat (und womöglich wörtliche Wiedergabe) der Bestimmungen, die wieder in Kraft treten (Pendant zur formellen Derogation)161. IV. Einstweilige Anordnungen – Vorläufiger Rechtsschutz Dies ist nun ein weiterer Aspekt, in dem sich österreichische und deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit grundlegend unterscheiden. 1. Deutschland

In Deutschland kann das Bundesverfassungsgericht nach § 32 BVerfGG einstweilige Anordnungen erlassen und einen Zustand vorläufig regeln, wenn dies 161 Gelegentlich wird eine weniger klare Formulierung gewählt, die an die unglückselige Technik der „materiell-formellen“ Derogation in der Gesetzgebung erinnert („Alle widersprechenden Regelungen werden aufgehoben“) und die daher ihren Zweck eigentlich verfehlt. Siehe z. B. die in VfGH 16.3. 2001, G 150/00 getroffene Anordnung: „Mit dem Tag des Inkrafttretens der Aufhebung treten jene bundesgesetzlichen Bestimmungen wieder in Wirksamkeit, die durch die vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erkannten Bestimmungen des Pensionsreformgesetzes 2000 aufgehoben worden waren.“

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– zur Abwehr schwerer Nachteile, – zur Verhinderung drohender Gewalt oder – aus einem anderen gewichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Zu diesen Voraussetzungen und zu der vom Bundesverfassungsgericht gehandhabten Abwägungsmethode existiert eine weitläufige Judikatur und Literatur162. Neben dieser gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit der einstweiligen Anordnung mit ihren durchaus generalklauselartig weit gespannten und biegsamen Voraussetzungen verfügt das Gericht aber auch noch über ein praeter legem improvisiertes, informales Präventionsinstrumentarium, um vorläufige oder auch endgültige Maßnahmen in schwebenden Verfahren zu treffen. Berichtet wird davon, daß etwa der Vorsitzende oder der Berichterstatter (sei es mit oder ohne Wissen des Senats) per Telefon oder Fax interveniert oder Arrangements trifft (z. B. einen Polizeipräsidenten ersucht, ein Demonstrationsverbot zurückzunehmen, eine Abschiebung nicht vorzunehmen, ja eventuell sogar mit dem Bundespräsidenten einen Deal trifft, die Ratifikation eines prekären völkerrechtlichen Vertrages zumindest auf Zeit zurückzustellen, u. a. m.)163. 2. Österreich

Nach österreichischem Recht ist hingegen ausdrücklich ein vorläufiger Rechtsschutz nur bei der Verfassungsbeschwerde (Bescheidbeschwerdeverfahren), und zwar in Form der Gewährung aufschiebender Wirkung vorgesehen (§ 85 VerfGG). In der Lehre wird übrigens jüngst zum Teil bezweifelt, ob diese Situation den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen entspricht164. Aus der bisherigen Judikatur des EuGH geht allerdings nicht hervor, unter welchen konkreten Voraussetzungen staatliche Gerichte (in den beiden genannten Konstellationen) vorläufigen Rechtsschutz gewähren müssen. Weder ein Erfordernis der amtswegigen Zuerkennung aufschiebender Wirkung noch eine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des § 85 VerfGG können – zumindest beim gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des EuGH – klar und zwingend aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleitet werden. Überhaupt nicht bekannt sind dem verfassungsgerichtlichen Verfahren mangels ausdrücklicher Rechtsgrundlage165 einstweilige Anordnungen zur vor162 Vgl. z. B. Schlaich (FN 10), RN 427 ff.; Benda/Klein (FN 22), RN 1191–1236; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 31991, § 18 zu § 32 BVerfGG. Berkemann, in: Umbach/Clemens (FN 74); alle m.w. N. 163 Isensee (FN 21), S. 15 (31). 164 Z. B. Potacs, in: Holoubek/Lang (FN 15), S. 56 f. m.w. N. 165 VfSlg 8157, 12.181, 13.706.

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läufigen Herstellung eines bestimmten rechtlichen oder faktischen Zustandes „zur Sicherstellung späterer Entscheidungen“, wie sie im Urteil Factortame ebenfalls erwähnt werden. Eine Meinung in der Lehre geht allerdings dahin, daß es einer expliziten Rechtsgrundlage gar nicht bedürfe, weil sich diese Befugnis – richterrechtlich – unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergebe. Nach dieser Auffassung seien die Einzelheiten unter Anwendung des Äquivalenzgrundsatzes in Analogie zu den bestehenden Bestimmungen über die aufschiebende Wirkung zu entwickeln166. Diese besonders europarechtsfreundliche Konstruktion scheint aber doch die Grenzen zur freien Rechtsfindung zu überschreiten. Was für den Individualrechtsschutz allenfalls noch mit großzügiger Analogie entwickelt werden könnte, sprengt wohl die Grenzen zulässiger Analogie, wenn es im Normenkontrollverfahren um allgemeine positive Anordnungen zur Gestaltung der Rechtslage ginge (österreichischer Verfassungsgerichtshof als positiver Gesetzgeber?). Die Festlegung von Organzuständigkeiten, von Einzelheiten in verfahrensrechtlicher Hinsicht und vor allem die Festlegung entsprechender Standards muß wohl nach wie vor Sache der nationalen Gesetzgebung des Mitgliedstaates sein, der nur im Einzelfall für die Verletzung europarechtlicher Standards – mögen diese auch erst in der Judikatur entwickelt werden – einzustehen hat167. Der österreichische Verfassungsgerichtshof, der die Frage nach der Zulässigkeit eines Provisorialrechtsschutzes ohne gesetzliche Grundlage zunächst offen gelassen hatte168, betonte jüngst im Zusammenhang mit der Normenkontrolle auf Grund eines Individualantrags169: „Im innerstaatlichen Recht ist für das Verfahren nach Art. 140 B-VG die Erlassung einer einstweiligen Anordnung weder gegenüber den Antragstellern nach Art. 140 Abs. 1 letzter Satz B-VG noch gegenüber der Allgemeinheit vorgesehen; die Befugnis dazu läßt sich auch nicht im Wege einer analogen Anwendung des § 85 VerfGG herleiten. Im Zusammenhang mit der Klärung dieser Frage kann aber auch aus dem 166 Potacs, Die Europäische Union und die Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, 14. ÖJT 2000, Bd. I/1, S. 82 – auch mit subtilen Überlegungen zum Verfahren und zu den Grenzen der Anordnungsbefugnisse. 167 Korinek, Fragen des Gemeinschaftsrechts in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, in: Österreichische Juristenkommission (Hg.), Österreich als Mitglied der Europäischen Union (Kritik und Fortschritt im Rechtsstaat), 1999, S. 53 ff. hält es für Einzelfälle zumindest für möglich, daß eine einstweilige Verfügung auch im Normenkontrollverfahren geboten ist. Er meint, daß in solchen Fällen die Kriterien, die der EuGH für bei ihm selbst anhängige Verfahren entwickelt hat, auch für ein nationales Normenkontrollverfahren maßgeblich sein müssten; nämlich: die besondere Dringlichkeit im Hinblick auf die zu schützenden Rechtspositionen (periculum in mora) und eine gewisse, nach vorläufiger Beurteilung anzunehmende Erfolgswahrscheinlichkeit (fumus boni iuris). Auch Korinek gibt aber deutlich zu erkennen, daß er es eigentlich aus demokratiepolitischen und rechtsstaatlichen Gründen für die Sache des Gesetzgebers hält, allgemeingültige Regelungen für solche Situationen zu schaffen. 168 VfGH Beschluss 11.12.1997, B 2672/97 bzw. Beschluss 6.4.2000, B 508/00. 169 VfGH 10.3.2001, G 69/01.

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Gemeinschaftsrecht für die Gewährung von Provisorialrechtsschutz, der seinem Wesen nach dazu bestimmt ist, die Wirkungen einer Endentscheidung in der Sache vorab zu sichern, nicht jedoch das endgültige Prozeßziel vorwegzunehmen, weder eine Berechtigung noch gar eine Verpflichtung hergeleitet werden. Da im Hinblick auf die vom Verfassungsgerichtshof im Rahmen seiner Zuständigkeit wahrzunehmenden Rechtswidrigkeiten die Gewährung von Provisorialrechtsschutz im vorliegenden Fall bei keiner denkbaren Konstellation der Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht im Rahmen einer dem Gerichtshof obliegenden Sachentscheidung dient, erwiesen sich die darauf gerichteten Anträge als unzulässig.“

V. Reformanliegen in der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit Wie jede Institution erfährt auch die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle ihre Bewährung in der Praxis. Daß die Einführung der Gesetzesprüfung am Maßstab der Verfassung seinerzeit eine bahnbrechende Entwicklung war und tatsächlich politische Machtkonflikte in Rechtskonflikte verwandeln half, ist heute unbestritten. Die Leistungsfähigkeit einer Institution hängt aber vielfach auch von ihrer Ausgestaltung im einzelnen ab170. Hier sind im Laufe der Zeit Probleme sichtbar geworden, die einer künftigen Regelung harren. Im vorliegenden Zusammenhang können nur einige wenige skizzenhafte Hinweise gegeben werden. 1. Eine Reform-Idee grundsätzlicher Natur bezieht sich auf die eben angesprochene Frage, ob es nicht im Gesetzesprüfungsverfahren eines spezifischen Provisiorialrechtsschutzes bedürfte. Diese Frage ist nicht nur von gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzerfordernissen her induziert, sondern von allgemeinerer Art. Die bloße Erweiterung von Regeln über die aufschiebende Wirkung, wie sie für Beschwerdeverfahren vorgesehen ist, erscheint für die Normenkontrollsituation nicht geeignet. Wenn ein einfaches Gesetz die geltende Rechtslage in verfassungsrechtlich umstrittener Weise grundlegend neu gestaltet, so ist es je nach Regelungsinhalt durchaus möglich, daß durch das Inkrafttreten praktisch unumkehrbare oder nur schwierig rückabwickelbare Wirkungen für bestehende Rechtsverhältnisse eintreten, oder daß neue Rechtsbeziehungen geschaffen werden, die im Falle der Aufhebung des Gesetzes als verfassungswidrig ähnlich weitreichende Auswirkungen haben, daß sie nur durch ein – vom Gesetzgeber nicht ohne weiters einforderbares positives Tun – rückabgewickelt werden könnten. Daß Gesetze im Wege der abstrakten Normenkontrolle bereits während ihrer Legisvakanz geprüft werden können und daß der österrei170 Eine Übersicht über die verschiedensten, die Verfassungsgerichtsbarkeit betreffenden Reformideen, die allerdings die Gesetzesprüfung nicht im Kern berühren (diesbezüglich vor allem eine Auflistung der Ideen zur nochmaligen Erweiterung der Antragsbefugnisse) bei Wenger, Gedanken zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1977.

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chische Verfassungsgerichtshof in besonderen Fällen wegen der Vorwirkungen eines Gesetzes die Anfechtungslegitimation des einzelnen ausnahmsweise auch schon während der Legisvakanz eines Gesetzes anerkannt hat, vermag das aufgezeigte grundsätzliche Problem nicht aufzufangen. Es ist daher an ein für die Gesetzesprüfung spezifisches Provisorialverfahren zu denken, in welchem die Normwirkungen des angefochtenen Gesetzes vorübergehend ausgesetzt wären. Dies wäre zumindest für Gesetzesanfechtungen zu erwägen, die vor dem Inkrafttreten eines Gesetzes erfolgen. Da es schwierig ist, alle denkbaren Konstellationen vorherzusehen, müßte die Befugnis zum Ausspruch dieser provisorisch die Norm suspendierenden Wirkung dem Verfassungsgerichtshof überantwortet werden. Selbstverständlich wäre auch eine solche, in ihren Auswirkungen weitreichende verfahrensleitende Entscheidung begründungspflichtig. Dies kann nicht so weit gehen, daß damit praktisch das Ergebnis des eigentlichen Normenkontrollverfahrens vorweggenommen würde. Es müssten allerdings verfahrensrechtliche Vorkehrungen getroffen werden, die es dem Gerichtshof erlauben, in solchen Fällen verhältnismäßig rasch zu einer Endentscheidung zu gelangen. 2. Ein anderes, in den letzten Jahren virulent gewordenes Problem sind Massenverfahren. Schon im Jahre 1995 hatte der Verfassungsgerichtshof circa 1.000 Individualanträge auf Gesetzesprüfung zu bewältigen. Als noch schwerwiegender erweisen sich Massenbeschwerden, die – sobald Gesetze angewendet wurden und der Instanzenzug durchlaufen ist – unter Umständen auf breiter Front organisiert werden, um die Vorteile der Anlaßfallwirkung zu erlangen. Auf diese Weise wurde der Verfassungsgerichtshof im Jahr 1996 in über 11.000 Beschwerdefällen mit der Anregung auf Gesetzesprüfung angerufen. Der Gerichtshof konnte damals das Problem nur durch eine (bis dahin nicht gekannte, großzügige) Handhabung seiner Dispositionsbefugnis nach Art. 140 Abs. 7 B-VG und damit durch eine Ausdehnung der Anlaßfallwirkung bewältigen. Dies ist rechtspolitisch kontrovers diskutiert worden und vermochte das Problem nur ad hoc, und nicht im Grundsätzlichen zukunftsorientiert zu lösen. Der Verfassungsgerichtshof hat daher mehrmals in seinen Tätigkeitsberichten auf die Gefahr seiner Überlastung und Lahmlegung hingewiesen und selbst ein Lösungsmodell angedeutet. Seine Anregung wurde aufgenommen. Mehrere, bisher allerdings nicht verwirklichte Entwürfe171 beruhen auf folgendem Grundkonzept: Wenn zu einer bestimmten Rechtsvorschrift ein Massenverfahren zu erwarten ist172, solle dies der Verfassungsgerichtshof unter Bezeichnung der Rechtsvor171 Vgl. die Initiativanträge 150/A, 234/A, 306/A, 318/A BlgNR 21. GP. Diese Initiativen wurden jüngst zu einem Ausschußantrag des Verfassungsausschusses (gemäß § 27 GOGNR) zusammengefaßt und einem sog. „Ausschuß-Begutachtungsverfahren“ (gemäß § 40 Abs. 1 GOGNR) unterzogen (Parlamentsdirektion 1.3.2001, Zl. 13440. 0060/1-L 1.3/2001). 172 Rechtspolitisch – freilich unter Beachtung des aus dem Gleichheitssatz folgenden Sachlichkeitserfordernisses – zu entscheiden ist, ob dies für alle Rechtsvorschrif-

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schrift im BGBl. verlautbaren. Dies hätte die Wirkung, daß letztinstanzliche Verwaltungsverfahren und Verfahren vor dem VwGH, in denen die betreffende Norm anzuwenden ist, unterbrochen werden – ähnlich wie in Deutschland im Falle eines „Musterverfahrens“ nach § 93a VwGO. Auszujudizieren wäre dann nur der „Testfall“; alle übrigen Verfahren kämen, ohne daß ein Verfahren vor dem Gerichtshof eingeleitet werden müßte, generell in den Genuß der Anlaßfallwirkung, mit anderen Worten: in diesen Fällen wäre dann auf Grundlage der allenfalls durch den Verfassungsgerichtshof bereinigten Rechtslage zu entscheiden. 3. Die genannten rechtspolitischen Anstöße geben auch Anlass zu der Überlegung, ob nicht die Wirkungen verfassungsgerichtlicher Erkenntnisse im Gesetzesprüfungsverfahren überhaupt anders und differenzierter gestaltet werden sollten. Aus verfassungspolitischer Sicht wäre es in manchen Fällen vertretbar, bloß die Verfassungswidrigkeit einer Regelung festzustellen und die Neugestaltung der Rechtsverhältnisse in angemessener Frist dem Gesetzgeber zu überlassen. Die Herstellung der bereinigten Rechtslage dürfte freilich letztlich nicht bloß von der Kooperationsbereitschaft der Gesetzgebungsorgane abhängen, sondern müsste doch zumindest nach Verstreichen einer Frist vom Verfassungsgericht kontrollierbar sein. Ob eine differenziertere Gestaltung der Urteilswirkungen in Österreich auf Grund der geltenden Verfassungsrechtslage durch den einfachen Gesetzgeber des VerfGG möglich ist, wäre zumindest zu erwägen. Immerhin spricht das B-VG im 1975 neu gefaßten Wortlaut des Art. 140 nur davon, daß der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzten „erkennt“. Ob das Urteil ein konstitutives oder deklaratives sein soll, welche Wirkungen es im einzelnen haben sollen, ist damit nicht festgelegt. Im übrigen gebietet Art. 140 B-VG eine aufhebende Wirkung ausdrücklich nur für die im Abs. 3 erfassten weitreichenden und schwerwiegenden Fälle der Gesamtaufhebung. Daß die Gesetzesanfechtung zwingend einen Aufhebungsantrag zu enthalten hat,173 ist nämlich eine Festlegung hinsichtlich der Pflichten der Antragsteller, nicht aber unbedingt eine Aussage über die letztlich vom Verfassungsgerichtshof zu treffende Entscheidung. Der Verfassungswortlaut besagt also bei unbefangener Lektüre nicht zwingend, daß die Wirkungen des Erkenntnisses nur aus einer Aufhebung oder der Abweisung eines Aufhebungsantrages bestehen könnten. Eine Modifikation der traditionellen Sicht hat sich ja ferner mit dem Feststellungsausspruch ergeben, daß eine Gesetzesnorm verfassungswidrig war. Es ist aber einzuräumen, daß das in Österreich von Anfang an verwirklichte „Aufhebungsten oder für ausgewählte Rechtsbereiche (z. B. nur für abgabenrechtliche Bereiche) gelten soll. 173 So vor allem traditionell einfachgesetzlich § 62 VerfGG und auf Verfassungsebene seit 1975 Art. 89 B-VG bezüglich der Gerichtsanträge und der Anträge der (gerichtsähnlichen) Unabhängigen Verwaltungssenate.

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modell“ auch der Neuregelung von 1975 Pate gestanden ist, so daß eine grundlegende Neuordnung der Urteilswirkungen, wenn man diesem Gedanken näher treten wollte, in zweifelsfreier Weise wohl nur durch Neuformulierung des allgemeinen „Prüfungsauftrags“ des Verfassungsgerichtshofs im Wege einer Gesamtüberarbeitung des Art. 140 B-VG zu bewerkstelligen wäre.

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Heinz Schäffer Leitung: Ludwig Adamovich Von Silke Löhr Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ludwig Adamovich, Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, dankte dem Referenten und eröffnete die Diskussion. Zunächst wies Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Folgeaussprüchen hin. Im Fall der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm habe sich in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts ein ganzes Bündel von Gestaltungsformen und Gestaltungsmitteln entwickelt, eine Entwicklung, die sich gewissermaßen vorbei am geltenden Recht vollzogen habe. So werde die Rechtsfolge des § 78 BVerfGG nur ausnahmsweise in Entscheidungen festgesetzt. Man könne daher von der Existenz eines bunten Straußes von Folgeaussprüchen sprechen. Papier überlegte, ob man bereits von Verfassungsgewohnheitsrecht bzw. prozessualem Gewohnheitsrecht sprechen könne mit der Folge, daß das Bundesverfassungsgericht bei festgestellter Verfassungswidrigkeit bezüglich der Folgeaussprüche über einen gewissen Ermessensspielraum verfüge. Früher sei die Grundlage für differenzierte Folgeaussprüche § 35 BVerfGG gewesen, heute würde man sich jedoch kaum noch auf diese Norm stützen. Papier wandte sich an Dr. Karin Graßhof, Bundsverfassungsrichterin a. D., und bemerkte, daß sie ihm sicherlich zustimmen werde. Graßhof erwiderte, daß es keine einheitliche Praxis gäbe, der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts würde dazu neigen, § 35 BVerfGG als Grundlage heranzuziehen. Papier stellte daraufhin die grundsätzliche Diskussionsbedürftigkeit der Anwendung des § 35 BVerfGG fest. In diesem Zusammenhang sprach Papier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung an. Man habe in dieser Entscheidung die Unvereinbarkeit des bisherigen Beitragsrechts mit Art. 3 und Art. 6 GG festgestellt und darüber hinaus eine Frist gesetzt, bis zu deren Erreichen das geltende Beitragsrecht anwendbar bleibt. Papier bezog sich nun auf seine Ausgangsthese und erläuterte, am meisten Aufsehen erregt habe die Aussage, daß die relativ großzügige Fristbestimmung auch deshalb erfolgt sei, weil der Gesetzgeber prüfen müsse, ob die Grundsätze des Pflegeversicherungsurteils auch auf andere

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Zweige der Sozialversicherung anzuwenden seien. Es handele sich hierbei um einen Normprüfungsauftrag im Hinblick auf die anderen Sozialversicherungssysteme, insbesondere die Rentenversicherung, dessen Sprengkraft offensichtlich sei. Papier erläuterte, daß es ihm darum gegangen sei, ein Beispiel aus jüngster Zeit zu präsentieren, in dem ungeachtet eines Rückgriffs auf § 35 BVerfGG ein Gestaltungsspielraum bei den Folgeaussprüchen in Anspruch genommen wurde. Zusammenfassend sah Papier diese Gestaltungsmacht als eine verfassungsgewohnheitsrechtliche Ermächtigung an. Dr. Evelyn Haas, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, schilderte einen abstrakten Fall, in dem das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung den Vorschlag einer verfassungskonformen Gesetzesänderung beigefügt habe. Käme der Gesetzgeber diesem Ansinnen nach und würde das Gesetz einige Jahre darauf wieder dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, seien verschiedene Konstellationen denkbar. So könne das Gesetz nun von einem anderen Senat oder demselben Senat in nunmehr anderer Besetzung geprüft werden. In beiden Fällen könne die aufgrund des ersten Urteils von dem Gesetzgeber umgesetzte Empfehlung als verfassungswidrig angesehen werden. Haas stellte dann die Frage, ob derartige Konstellationen auch am österreichischen Verfassungsgerichtshof vorgekommen wären. Univ.-Prof. Dr. Hans Hugo Klein, Bundesverfassungsrichter a. D., stimmte in seinen Ausführungen Papier im wesentlichen zu, da auch er die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts, die es in der Regel aus eigener Machtvollkommenheit in Anspruch nähme, als äußerst vielgestaltig ansähe. Allerdings seien zwei Fälle zu unterscheiden: Zum einen die Nichtigkeits- und Unvereinbarkeitserklärung, für die eine explizite Basis im Gesetz bestünde. So habe die Unvereinbarkeitserklärung zwar nicht in § 78 BVerfGG, wo nach wie vor nur von der Nichtigerklärung die Rede sei, jedoch in § 31 BVerfGG gesetzliche Resonanz gefunden. Zum anderen der Fall, in dem im Rahmen einer Unvereinbarkeits- oder Nichtigerklärung für eine bestimmte Zeit eine Anordnung getroffen wird, in der die temporäre Weitergeltung des für unvereinbar erklärten Gesetzes bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers angeordnet werde. In diesen Zusammenhang sei auch die zuvor von Papier erwähnte Konstellation einzuordnen, in der das Gericht ein Gesetz bis zu einem festgelegten Zeitpunkt für weiterhin gültig erkläre mit der Auflage des ersatzlosen Wegfalls bei Untätigkeit des Gesetzgebers. Klein betonte, daß hier doch eigentlich nur § 35 BVerfGG als gesetzliche Grundlage in Betracht käme, sofern eine solche überhaupt für erforderlich gehalten würde. Das Bundesverfassungsgericht sei seiner Ansicht nach souverän genug, hierauf ganz verzichten zu können. Univ.-Prof. Dr. Walter Rudolf, Universität Mainz, äußerte Bedenken hinsichtlich der Rechtssicherheit, die trotz des sicherlich zu begrüßenden und von Papier erwähnten Straußes an Folgeentscheidungen nicht im erforderlichen Maße

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gewährleistet sei. Zu denken sei an den Fall, daß das Gericht Teile eines Gesetzes aufhebe, sich aus der Begründung des Gerichts aber erschlösse, daß mit dieser Entscheidung Hunderte anderer Gesetze ebenfalls verfassungswidrig seien. Rudolf bezog sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil und erläuterte, daß dort keine Fristen gesetzt worden seien mit der Folge, daß sich das Prinzip des Übergangsbonus herausgebildet habe. Im Hinblick auf Grundrechte sei diese Praxis sehr fragwürdig, da sie ermögliche, Grundrechte auf der Grundlage des Übergangsbonus nicht einzuhalten bzw. zu verletzen. In einigen Fällen sollte der Übergangsbonus zehn Jahre weitergelten, so daß hier eine erhebliche Unsicherheit bestanden habe. Diese Rechtsunsicherheit habe nicht nur daraus resultiert, daß das verfassungswidrige Recht weiterhin Anwendung gefunden habe, sondern auch daraus, daß nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mehrere Möglichkeiten einer verfassungsgemäßen Regelung offen geblieben seien. Zusammenfassend führte Rudolf aus, daß in diesen Fällen letztlich eine völlige Rechtsunsicherheit eingetreten sei. Helmut Wolf, Präsident des Finanzgerichts, Vizepräsident des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern, merkte zu den Ausführungen von Papier hinsichtlich der Entscheidungsmöglichkeiten an, daß das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern in diesem Bereich sehr zurückhaltend sei. Dies sei auch im Zusammenhang mit der Rechtslage im Land selbst zu sehen. Im Anschluß ging Wolf auf das Aufhebungsmodell ein, von dem Univ.Prof. Dr. Heinz Schäffer in seinem Vortrag gesprochen hatte. Er stellte die Frage, wie es mit der Legitimation eines Gesetzes bestellt sei, das mit der alten Rechtslage wieder auflebe. Er habe Probleme mit der Anwendung des Aufhebungsmodells auf noch strittige Fälle, so beispielsweise der Fall der Mindestkörperschaftsteuer aus dem Bereich des Steuerrechts. Wolf ergänzte hierzu, daß solche Fälle natürlich auch bei den Entscheidungsformen des Bundesverfassungsgerichts vorkämen. Adamovich merkte an, daß der Körperschaftsteuerfall ein ausgesprochen atypischer Fall und der bisher einzige seiner Art gewesen sei. Es habe sich um einen Notwehrakt gehandelt, da man sonst nicht gewußt habe, wie man mit den über 11.000 Fällen umgehen sollte. Anschließend erteilte er das Wort dem Referenten, Univ.-Prof. Dr. Schäffer. Schäffer bedankte sich zunächst für die Bemerkungen und Anregungen. Im Hinblick auf die Folgeaussprüche führte er aus, daß im Schrifttum überwiegend § 35 BVerfGG als Grundlage angegeben werde; eine Argumentation, die ihn auch überzeugt habe. Exaktere Grundlagen wären zwar denkbar und insbesondere im österreichischen System sei eine Entwicklung hin zu einer deutlicheren und differenzierteren Rechtsgrundlage vorstellbar, wenn nicht sogar wünschenswert. Auf die Anmerkung von Haas antwortete er, daß sich ein derartiges Pro-

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blem nach seinem Kenntnisstand noch nicht gestellt habe, die Situation prinzipiell aber in Österreich genauso zu lösen sei wie in Deutschland. Die ursprünglich unter einem bestimmten Aspekt für unbedenklich gehaltene Norm müsse dann für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben werden. Haas warf daraufhin ein, daß in diesem Bereich äußerste Zurückhaltung geboten sei. Schäffer stimmte dem zu und ergänzte, daß der österreichische Verfassungsgerichtshof deutliche Anweisungen äußerst selten, wenn nicht sogar noch nie gegeben habe. In der Regel würde er allenfalls Andeutungen machen, wie eine Übergangsregelung beschaffen sein könne, um vertretbar zu sein. Dies sei in dem bereits erwähnten Urteil über die Pensionsfolgeregelungen der Fall gewesen. Schäffer bedankte sich für den Hinweis von Klein, daß die Unvereinbarkeitserklärung, wenn auch nachträglich, eine positiv-rechtliche Grundlage erhalten habe. Bezüglich der Frage eines anderen Rechtszustandes bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers habe auch er Probleme, eine Vollstreckungsanordnung als Grundlage zu nehmen. Schäffer regte an, auch in Deutschland über die Schaffung einer positiv-rechtlichen Grundlage nachzudenken. Er wisse natürlich, daß jedes Rechtssystem in einem Zusammenspiel von Praxis und Gesetzgebung operiere und es daher flexible Systeme seien. Im übrigen gewöhne man sich daran, daß Judikatur in einem bestimmten Maß voranschreite. Sobald dies allgemeine Akzeptanz finde, sei auch der Grad der Determinierungsbedürftigkeit als geringer einzuschätzen. Ob man hier wirklich von Gewohnheitsrecht sprechen könne, bleibe trotz der unbestrittenen hohen Akzeptanz eine theoretische Frage. Zu den Anmerkungen von Rudolf führte Schäffer aus, daß auch er die Frage des Übergangsbonus als problematisch ansehe. Insbesondere in Fällen, in denen auch nach Änderung des als verfassungswidrig festgestellten Gesetzesinhalts die noch bestehenden Gesetzesteile aus einem anderen Grund weiterhin verfassungswidrig seien. Mit Blick auf die Bemerkung von Wolf erläuterte Schäffer, daß man in der österreichischen Lehre die Anlaßfallregelung schon vor Jahren kritisiert habe. Sie sei im Grunde eine Ungerechtigkeit, da trotz gleicher Rechtswidrigkeit der eine einen Vorteil erhielte und ein anderer nicht. Hier habe die rechtsetzende Autorität die Entscheidung getroffen, daß derjenige, der die Initiative ergreife, belohnt werde. Im übrigen bleibe es in Österreich bei der Wirkung pro futura. Die Legitimation des Wiederauflebens einer alten Regelung stoße in Österreich nicht auf größere Schwierigkeiten, da die verfassungswidrige Regelung keinen Anspruch auf dauerhaften Bestand habe. Diesen habe grundsätzlich nur die zurückgedrängte Regelung. So wäre denkbar, daß eine seit Jahrzehnten veraltete Rechtslage wieder auflebe. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn man das 1938 erlassene Ehegesetz zwischen Deutschland und Österreich für verfassungswidrig erklärte. Die Folge wäre das Wiederaufleben des zuvor gültigen konfessionell definierten Eherechts. Um diese aus mehreren Gründen unerwünschte

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Folge zu vermeiden, sei die Ermächtigung des Verfassungsgerichtshofs durchaus legitim, den Fall so zu regeln, daß das konfessionelle Eherecht nicht wieder auflebe. Eine explizite Ermessensrichtlinie existiere nicht, aber der Verfassungsgerichtshof nutze die Ermächtigung als eine Ausnahmeermächtigung äußerst restriktiv. Schäffer fügte abschließend an, daß der Fall des Massenverfahrens wirklich ein Ausreißer gewesen sei. Adamovich dankte den Beteiligten und schloß die Diskussion.

Rechtsfragen und Probleme als Folgen der Organisation des Bundesverfassungsgerichts Von Evelyn Haas In meinem Referat möchte ich Fragen und Probleme behandeln, die sich aus der Organisation des Bundesverfassungsgerichts im engeren wie im weiteren Sinne ergeben. Im Vorfeld des Vortrags habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie ich um dieses Tageszeit Ihr Interesse wecken kann. So habe ich mich entschlossen, Ihnen – sozusagen zum Aufwärmen – zunächst ein Scheinproblem zu präsentieren. Wir hatten es ja gestern schon mit einem Scheinproblem zu tun, worauf Herr Klein selbst hingewiesen hatte. Ich will heute als Scheinproblem nur kurz die Problematik der Beteiligung wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Entscheidungsfindung der Senate ansprechen. Im zweiten und Hauptteil des Vortrags möchte ich einige Bemerkungen zu den Folgen und Problemen, die sich aus der Organisationsform des Bundesverfassungsgerichts ergeben und zum Abschluß die Frage stellen, ob die aufgezeigten Probleme sich auch ergäben oder sich dann jedenfalls anders darstellten, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht gerichtsförmig oder jedenfalls nicht als Zwillingsgericht organisiert wäre. 1. Ich komme zum ersten Fragenkomplex. Weshalb habe ich von allen möglichen Scheinproblemen gerade dieses ausgesucht? Der Grund ist darin zu sehen, daß von Zeit zu Zeit immer einmal wieder die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts ins Gerede kommen. Fleißige NJW-Leser wissen, daß in der NJW wiederholt Beiträge erschienen sind, die dem einen oder anderen Mißverständnis über unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter Vorschub geleistet haben. Man könnte das auf sich beruhen lassen, aber steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Und, wie ich kürzlich feststellen mußte, das stete Wiederholen zeitigt auch hier die gewünschte Wirkung. Dies wurde mir jüngst deutlich, als ein Kollege eines internationalen Gerichtshofs mir nicht ohne Unterton erzählte, sie jedenfalls hätten in ihrem Gerichtshof keinen „Dritten Senat“. So will ich hier die Gelegenheit nehmen, einigen Mißverständnissen entgegenzutreten, zu der die Heranziehung von wissenschaftlichen Mitarbeitern bei der Vorbereitung von Voten – und zwar sowohl von Kammer- als auch Senatsvoten – geführt hat. a) Ihnen allen ist bekannt, daß nach § 13 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts jeder Richter berechtigt ist, wissenschaftliche Mitarbeiter zu

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beschäftigen. Die Zahl hat variiert. War es zunächst nur ein wissenschaftlicher Mitarbeiter pro Richter, so waren es deren in den 80er Jahren schon zwei, in den 90ern sodann drei Mitarbeiter. Seit Ende der 90er Jahre beschäftigen einige Richter sogar bis zu fünf wissenschaftliche Mitarbeiter. Damit hat der – allerdings auch sehr notwendige – Abbau der Rückstände bewerkstelligt werden können. b) Die Dauer der Verfahren beim Bundesverfassungsgericht ist ein Sonderthema, ein unerfreuliches obendrein. Die Entlastungsdiskussion allerdings ist inzwischen verstummt, wie Sie sicherlich bemerkt haben. Ihrer bedarf es auch nicht mehr. Das Gericht – und das sollte auch einmal gesagt werden – ist mit den Rückständen auch ohne Änderung seiner Prozeßordnung im wesentlichen fertig geworden. In verschiedenen Dezernaten standen im Jahr 2002 nur noch Verfahren aus den Jahren 2000 und 2001 zur Entscheidung an. Andere Richter, das gebe ich zu, arbeiten allerdings immer noch nahezu rechtshistorisch, wenn sie Verfahren zur Entscheidung bringen, die zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts eingegangen sind. Der beklemmende Schatten des Reichskammergerichts in seiner letzten Phase lastet daher noch immer auf dem Bundesverfassungsgericht. Über die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verfahrensdauer, wie wir sie bei der Fachgerichtsbarkeit einfordern, darf und will ich gar nichts sagen. Insofern bin ich trotz meines sehr euphorischen Beginns zum Thema Verfahrensdauer ganz froh, daß der Kollege Ress nicht mehr anwesend ist. Das ermöglicht mir, mich etwas ungenierter zu den Straßburger Verhältnissen zu äußern. Die Kollegen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben sich in jüngster Zeit zunehmend intensiver des Themas „Verfahrensdauer“ angenommen. Sicherlich hat das von ihnen geäußerte Mißfallen auch dazu geführt, daß die Aufholjagd in unserem Hause sich beschleunigt hat, wenngleich ihre Rechtsauffassung im Hause nicht geteilt wird. Aber wenn man doch einmal so recht betrachtet, was in Straßburg geschieht, muß man feststellen, daß auch die Straßburger Verfahren recht lange und zunehmend länger dauern und daß das Prinzip der Beschleunigung nicht unbedingt von den Straßburger Kollegen erfunden worden ist; sie dieses für sich wohl auch nur in Maßen verbindlich empfinden. c) Zurück zu den wissenschaftlichen Mitarbeitern. Die personelle Verstärkung der Richterdezernate mit jungen Mitarbeitern war also dringend geboten. Regelmäßig sind diese Richter der ersten, seltener der zweiten Instanz. Die Zahl der Mitarbeiter führt nicht dazu, wie in der Literatur immer wieder vermutet wird, daß den Richtern das Zepter aus der Hand genommen würde. Sie läßt keineswegs den Schluß zu, daß die Richter die Verfahrensherrschaft verloren hätten. Und daß – wie zu lesen war – die Richter nur noch Unterschriften leistende Marionetten ihrer Mitarbeiter seien, ist reine Polemik. Natürlich kenne ich nicht die Arbeitsweise der einzelnen Richterkollegen. Es ist auch nicht ganz unproblematisch, von sich auf andere zu schließen. Aber sicher sind die Unterschiede

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in der Arbeitsweise jedenfalls diesbezüglich nicht sehr groß. Aus eigener Erfahrung kann ich bekunden, daß man bei drei wissenschaftlichen Mitarbeitern – mehr beschäftige ich nicht – durchaus in der Lage ist, die mit dem Votum wieder vorgelegten Akten vollständig zu lesen und mir eine eigene Meinung zu bilden. Im übrigen besteht eine solche Verfahrensakte regelmäßig nur aus der mehr oder minder umfänglichen Verfassungsbeschwerde sowie den in Anlage beigefügten angegriffenen Entscheidungen. Wenn ich in aller Regel dem Entscheidungsvorschlag im Votum folge und mit mir dann auch die Kammermitglieder, so liegt das an der Qualität der Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter und nicht an meinem zugegebenermaßen chronischen Zeitmangel, der die richterliche Meinungsbildung und Entscheidungsfindung etwa hinderte. Förderlich ist sicher auch eine rasche Arbeitsweise. Die Verfahren werden mir zumeist innerhalb von drei Monaten nach Eingang mit Votum wieder vorgelegt. Die Hälfte aller Verfahren wird sogar innerhalb eines Monats nach Eingang entschieden. Das Aktenstudium wird dann noch von der Erinnerung der Aktenlektüre bei Eingang unterstützt. Also das Fazit: Ich fühle mich genauso wie alle anderen Verfassungsrichterkollegen auch durch das Troß und das Wirken meiner Mitarbeiter nicht entmündigt. Wenn Zuständigkeit und Verantwortung geklärt sind, werden die Entscheidungen auch, wie von Verfassungs wegen gefordert, vom gesetzlichen Richter getroffen. Wer die Entscheidung dann letztlich vorbereitet, ist völlig unerheblich. d) Scheinprobleme werden auch nicht deshalb zu Rechtsproblemen, weil sie häufig thematisiert werden. Wer sich als Kenner der Materie geriert, dann aber aus Bezeichnungen wie „Dritter Senat“ für die Mitarbeiter Honig für die These der Verselbständigung der Mitarbeiter saugen will, der stellt letztlich doch nur seine Unkenntnis unter Beweis. Denn „Dritter Senat“ haben sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter schon in grauer Vorzeit mit einem Augenzwinkern genannt, und diese Bezeichnung war keineswegs als Anmaßung gedacht. Über das Selbstverständnis der wissenschaftlichen Mitarbeiter – ich müßte korrekterweise sagen, der gegenwärtigen wissenschaftlichen Mitarbeiter – des Gerichts ist damit jedenfalls nichts ausgesagt. Sicher hat es auch einmal Ungeschicklichkeiten auf seiten der wissenschaftlichen Mitarbeiter gegeben, die der Öffentlichkeit nicht immer verborgen geblieben sind. Ich denke dabei daran, daß wissenschaftliche Mitarbeiter nach außen wie Verfassungsrichter aufgetreten sind; Mitarbeiter, die sich in Diktion und Auftreten gegenüber Richtern der Fachgerichtsbarkeit vergriffen haben, sich nach außen Befugnisse beigemessen haben, die sie im Innenverhältnis nicht haben, ja, die selbst ein Verfassungsrichter in derselben Lage nicht gehabt hätte. Ich denke da an jenen Unglücksraben – oder sollte ich besser neudeutsch „-rabin“ sagen, weil es sich um eine Mitarbeiterin handelte? –, die sich von einem Anwalt drängen ließ, ihm die Begründung eines nicht begründeten Nichtannahmebeschlusses aus dem Votum bekanntzugeben. Aus solchen vereinzelt

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gebliebenen Fällen kann nicht auf ein fehlgeleitetes Selbstverständnis der Mitarbeiter generell geschlossen werden oder gar, wie dies immer wieder geschieht, auf ein sich verselbständigendes System, welches das Prozeßrecht aus den Angeln hebt. 2. Ich möchte mich nun dem zweiten Thema zuwenden. Das Gericht hat – jeder weiß das – zwei Senate. Jeder dieser Senate ist mit acht Richtern besetzt. Und beide Senate stehen gleichgeordnet nebeneinander. Das Gericht wird deshalb, und nicht etwa wegen des (gelegentlichen) Bruderzwists im Hause – eigentlich heißt es im Hause Habsburg – auch als Zwillingsgericht bezeichnet. Diese Organisationsform hat die unterschiedlichsten Folgen, von denen ich hier einige skizzieren will. a) Diese Gleichordnung bedingt, daß es keine Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des einen Senats durch Appellation an den anderen Senat oder gar an das Plenum geben kann. Das Plenum in seiner Zusammensetzung mit sechzehn Richtern entscheidet in den vom Gesetz bestimmten Fällen, etwa wenn ein Senat von der Rechtsprechung eines anderen abweichen will – darauf komme ich noch später – als eigener Spruchkörper, und ist insoweit dann ebenfalls das Bundesverfassungsgericht. Sowenig die Verfassungsbeschwerde als Rechtsbehelf hausintern gegen eine Entscheidung des anderen Senats taugt, sowenig gegen eine Kammerentscheidung der Senat angerufen werden kann, sowenig besteht die Möglichkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an den anderen Senat, wenn die Entscheidung des einen Senats nach Auffassung eines Fachgerichts verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt. Deshalb konnte die Vorlage des niedersächsischen Finanzgerichts an den für Vermögensteuerrecht zuständigen Ersten Senat mit dem Antrag festzustellen, daß die in der Vermögensteuerentscheidung des Zweiten Senats – dieser Senat war im Zeitpunkt seiner Entscheidung für diese Rechtsmaterie noch zuständig – getroffene Anordnung der Weitergeltung der als verfassungswidrig erkannten Steuerrechtsnorm für einen bestimmten Zeitraum verfassungswidrig sei, keinen Erfolg haben. Zwar konnte die Anordnung, wie sich alsbald herausstellte, beim Steuerpflichtigen zu Mißverständnissen Anlaß geben. Die Auffassung war bei Steuerpflichtigen wie auch bei vielen Steuerberatern verbreitet, nach Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht festgelegten „Noch-Geltungsdauer“ der beanstandeten vermögenssteuerrechtlichen Norm dürften überhaupt keine Vermögenssteuerbescheide, also auch nicht für in der Vergangenheit liegende Sachverhalte erlassen werden. Dies wurde im Rahmen von Verfassungsbeschwerdeverfahren von einer Kammer des Ersten Senats geklärt. Für eine verfassungsrechtliche Prüfung einer gerichtlich getroffenen Anordnung des einen Senats durch den jeweils anderen fehlt es an einer entsprechenden Kompetenz. Jeder Senat ist das Bundesverfassungsgericht. Das gerichtliche Vorlageverfahren

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nach Art. 100 GG ist auch kein Vehikel, das eine solche Überprüfung der Rechtsprechung des einen Senats durch den anderen ermöglichte. b) Die Bildung von zwei Spruchkörpern war bei der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1951 ursprünglich nur als Übergangslösung gedacht, um die für die Anfangszeit erwartete hohe Arbeitsbelastung bewältigen zu können. Geplant war, daß das Gericht später nur noch aus einem einzigen Spruchkörper bestehen sollte. Da die Belastung des Bundesverfassungsgerichts jedoch entgegen den ursprünglichen Erwartungen immer stärker zugenommen hat, wird es wohl auf absehbare Zeit nicht mehr zur Bildung eines einzigen Spruchkörpers kommen. Im Gegenteil. Vereinzelt wurde schon der Ruf nach einem dritten, einem echten Dritten Senat laut. Aber auch dazu wird es nicht kommen. aa) Dieser Struktur des Bundesverfassungsgerichts als eines Zwillingsgerichts ist es geschuldet, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts für einen bestimmten Senat und nicht lediglich an das Bundesverfassungsgericht als Institution gewählt werden. Ihre Wahl und Ernennung erfolgt unmittelbar in den Ersten oder in den Zweiten Senat. Das hat zur Folge, daß die Richter zwischen den Senaten nicht wechseln und deshalb auch nicht, wie bei anderen Gerichten üblich, nach einem Geschäftsverteilungsplan einmal dem einen und einmal dem anderen Senat zugeteilt werden können. Bis zu einer Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahre 1985 wurde das strikt durchgehalten mit der Folge, daß ein Richter des einen Senats auch nicht vertretungsweise, etwa bei Urlaub, krankheitsbedingter Abwesenheit, bei begründeten Befangenheitsanträgen oder Vorliegen eines Ausschlußgrundes für den verhinderten Richter an Entscheidungen des anderen Senats mitwirken durfte. Da aber ein Senat erst bei Anwesenheit von mindestens sechs der ihm zugehörigen Richter beschlußfähig ist, bestand stets die Gefahr der Beschlußunfähigkeit der Senate. Dieser begegnete das Bundesverfassungsgericht durch eine sehr restriktive Befangenheitsrechtsprechung. Sie stieß auf heftige Kritik, zumal das Gericht bei der Fachgerichtsbarkeit einen strengen Maßstab anlegte, von dem es sich selbst dann aber dispensierte. In den 80er Jahren ergänzte der Gesetzgeber das Bundesverfassungsgerichtsgesetz und ermöglichte das Hinzutreten von Richtern des anderen Senats in bestimmten Fällen. Nunmehr wird, wenn ein Senat die Ablehnung oder Selbstablehnung eines seiner Richter wegen Befangenheit für begründet erklärt hat, durch Los ein Richter des anderen Senats zum Vertreter bestimmt. Diese Rechtsänderung nahm das Bundesverfassungsgericht in der Folgezeit allerdings nicht zum Anlaß, seine restriktive Prüfungspraxis in eigener Sache aufzugeben. Aus gegebenem Anlaß wies es Anfang der 90er Jahre darauf hin, daß die Gefahr der Beschlußunfähigkeit des Senats in der Vergangenheit nicht der einzige Grund für die restriktive Prüfungspraxis gewesen sei. Vielmehr sei

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auch die Erwägung maßgeblich gewesen, daß eine erleichterte Ablehnung von Richtern des Bundesverfassungsgerichts zu vermehrten Ablehnungsanträgen führen würde; dies zwar nicht schon bei Verfahren mittlerer Art und Güte, mit Sicherheit jedoch bei Verfahren von hoher politischer Bedeutung. Denn die Selbstergänzung des Senats durch das nunmehr vorgeschriebene Losverfahren eröffnet dem Ablehnenden jedenfalls die Chance, eine ihm politisch genehmere Zusammensetzung des Senats zu erreichen. Daß diese Hoffnung, wir haben gestern darüber gesprochen, sich auch als trügerisch erweisen kann, steht auf einem anderen Blatt. Die Senate stehen mithin in der Gefahr, bei einer großzügigeren Rechtsprechungspraxis nicht mehr in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Zusammensetzung entscheiden zu können. Zur Regel wird dann, was der Gesetzgeber selbst nur als Notbehelf normiert hat. bb) Ob und wie weit das Bundesverfassungsgericht gegenwärtig noch an diesem Maßstab für die Prüfung der Befangenheit festhält, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Entscheidungspraxis fehlt es meines Erachtens insoweit an hinreichenden Konturen. Das betrifft sowohl Prüfungsumfang als auch Prüfungsintensität. Die Entscheidungen in letzter Zeit lassen eine einheitliche Linie nicht erkennen. Unterschiedlich ist auch das Selbstverständnis der einzelnen Richter zur Frage ihrer Befangenheit. Um Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit herauszugreifen: So sah sich ein Richterkollege unter Hinweis auf seine Teilnahme als Prozeßvertreter an einem früheren, etwas anders gelagerten Verfahren wegen bestimmter Ausführungen vor dem Bundesverfassungsgericht als befangen an, während ein anderer in einem ähnlichen Fall die Besorgnis der Befangenheit verneinte. Eine Kollegin weigerte sich sogar, sich für befangen zu erklären, obwohl eine von ihr unterzeichnete Stellungnahme eines Verbandes in just dem zur Entscheidung stehenden Verfahren vorlag. Andere Kollegen wiederum bejahten für sich die Besorgnis der Befangenheit, weil sie im Vorfeld eines späteren Verfassungsbeschwerdeverfahrens Gutachten erstattet hatten. Der zur Entscheidung berufene Senat ist jeweils den Auffassungen der betroffenen Richter gefolgt. Um zur Frage der Prüfungsintensität in dieser Frage zurückzukehren. Naturgemäß ist es mißlich, wenn im Anschluß an eine die Besorgnis der Befangenheit bejahende Entscheidung des Senats die inhaltliche Darstellung eines Richters zu den die Besorgnis der Befangenheit begründenden Ausführungen dezidiert und substantiiert von Dritten in Frage gestellt wird. Wenn etwa offenbar wird, daß solche Ausführungen, auf die sich der Richter bezieht, überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in der behaupteten Weise gemacht worden sind. Deshalb hat der Senat auch bei der Selbstablehnung von Richtern eine höchstmögliche Sorgfalt bei der Prüfung des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen anzuwenden; er darf also nicht ungeprüft das Vorbringen des Richters seiner Entscheidung zugrunde legen.

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Der gesetzliche Richter, und damit ist die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Senats gemeint, ist – jedenfalls in Deutschland, keineswegs auch in anderen europäischen Staaten – für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens unabdingbar. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert sie bei den Fachgerichten unnachsichtig ein. Die von den Fachgerichten entwickelten und angewandten Grundsätze zum Prüfungsmaßstab lassen sich mühelos auch vom Bundesverfassungsgericht anwenden. Dazu gehört, daß eine Entscheidung über das Vorliegen der Besorgnis der Befangenheit eines Richters nur auf der Grundlage vom Senat selbst festgestellter Tatsachen ergehen kann, will man den rechtsstaatlich gebotenen Standard nicht unterschreiten. Deshalb ist es erforderlich, dann, wenn etwa der Richter sich auf die Besorgnis der Befangenheit begründende Ausführungen in einer mündlichen Verhandlung vor diesem Gericht beruft, das Tonbandprotokoll dieser Verhandlung beizuziehen und sich so Kenntnis vom genauen Wortlaut zu verschaffen. Denn auf den genauen Wortlaut kommt es an, um zuverlässig beurteilen zu können, ob bei Dritten der Eindruck der Befangenheit entstehen kann. Bei schriftlichen Ausführungen muß sich der Senat die Schriftsätze vorlegen lassen, um Gewißheit darüber zu erlangen, ob diese geeignet sind, den vom Richter befürchteten Eindruck der Befangenheit entstehen zu lassen. Keinesfalls kann allein die Bekundung des Richters hierzu ausreichen. c) Zwei Senate, zwei Gerichte in einem vereint. Die Feststellung führt zwangsläufig zur Frage der Zuständigkeitsverteilung. Auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen, der Zweite Senat ist vorwiegend Staatsgerichtshof, der Erste Senat der Grundrechtssenat, oder anders formuliert, Verfahren vor dem Ersten Senat betreffen vorwiegend das Verhältnis des Bürgers zum Staat, währenddessen dem Zweiten Senat die Entscheidungen in den großen staatspolitischen Prozessen vorbehalten sind. Die ursprünglich klare gesetzliche Zuständigkeitsverteilung konnte indessen in der Folge nicht gehalten werden. So waren seit Errichtung des Gerichts im Jahre 1951 bis Ende Februar 1955 beim Ersten Senat insgesamt fast 3.000 Verfahren eingegangen, während demgegenüber beim Zweiten Senat nur 30 Sachen anhängig waren. Der Gesetzgeber gab daraufhin dem Bundesverfassungsgericht freie Hand bei der Zuständigkeitsverteilung, die es in der Folge durch Plenarbeschlüsse regelte. Gebunden allerdings ist diese Zuständigkeit zur Regelung einer von der gesetzlichen Zuordnung abweichenden Geschäftsverteilung daran, daß der eine Senat an einer Überlastung leidet, die nicht nur vorübergehender Natur (§ 14 Abs. 4 BVerfGG) ist. Es muß also festgestellt werden, daß eine auf Dauer bestehende Überlastung vorliegt, so daß die Neuregelung durch einen Plenarbeschluß unabweisbar geworden ist. Dies soll verhindern, daß nach Gusto die Zuständigkeiten zwischen den Senaten hin- und hergeschoben werden. Die Regelung, das Bundesverfassungsgericht selbst über seine Zuständigkeitsverteilung

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entscheiden zu lassen, hat sich bewährt, mag sie auch auf den ersten Blick nicht ganz unproblematisch erscheinen. aa) Jede Geschäftsverteilung birgt ihre Abgrenzungsschwierigkeiten in sich. Derartige Probleme ergeben sich naturgemäß auch bei der Verteilung der Zuständigkeiten auf die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts. Zwar ist es ein ehernes Gesetz, daß die Zuständigkeitsverteilung gerade zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten nach formalen Kriterien erfolgen sollte. Daran haben sich die Plenarbeschlüsse der Vergangenheit jedoch bedauerlicherweise nicht immer gehalten. So regelt ein Plenarbeschluß aus dem Jahre 1993, daß das Strafrecht als ganzes Sachgebiet in die Zuständigkeit des Zweiten Senats fällt. Werden jedoch in einer Verfassungsbeschwerde überwiegend Rügen der Verletzung des Art. 5 GG (Meinungsfreiheit) oder des Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) erhoben, so ist der Erste Senat zuständig. Und für das Europarecht ist folgende Regelung gefunden worden: Die Zuständigkeit des Zweiten Senats ist gegeben, wenn das Verfahren Fragen des primären Europarechts von erheblicher Bedeutung betrifft. Im Geschäftsverteilungsplan des Zweiten Senats ist das Wort „primär“ entfallen, wenn dort nur noch von Europarecht die Rede ist, das von erheblicher Bedeutung sein muß. Der Rechtsuchende wird, wenn er nur den Geschäftsverteilungsplan konsultiert, in die Irre geführt. Aber die Kardinalfrage ist noch eine andere: Wann ist etwas eigentlich von erheblicher Bedeutung, oder aber, wann ist eine Rüge überwiegend erhoben? Wo liegt denn das Schwergewicht einer Verfassungsbeschwerde? Ist in offensichtlich berechtigte und unberechtigte Rügen einzuteilen oder aber in erfolgreiche und nicht erfolgreiche? Oder nimmt man die Prüfung nach formalen Kriterien, etwa nach der Zahl der Seiten vor, welche die jeweiligen Grundrechtsrügen füllen? Wenn sich bei Meinungsverschiedenheiten über die Zuständigkeit keine interne Einigung zwischen den betroffenen Richtern der beiden Senate ergibt, so ist der Sechserausschuß anzurufen. Sechserausschuß deshalb, weil ihm sechs Richter – die beiden Vorsitzenden der beiden Senate sowie die beiden dienstältesten Richter eines jeden Senats – angehören. Der Sechserausschuß entscheidet mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden, in aller Regel also die des Präsidenten, den Ausschlag. Der Beschluß wird nicht begründet. Ob und wie die Zuständigkeitszuweisung an einen Senat begründet wird, bleibt deshalb im Dunkeln. Diese Verfahrensweise ist hochproblematisch, handelt es sich hier doch um eine in Form eines Beschlusses ergangene richterliche Entscheidung, die grundsätzlich zu begründen ist. Rechtlich ist diese richterliche Entscheidung auch anders als die schlichte Zuweisungsverfügung des Senatsvorsitzenden zu beurteilen. Eine Vorschrift, die die Richter der Pflicht zur Begründung enthebt, besteht nicht. Vergleichbare Begründungsdefizite gibt es in anderen Fällen der Bestimmung des gesetzlichen Richters nicht. So wird die Entscheidung des Senats über die

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Hinderung eines Richters an der Mitwirkung am Verfahren selbstverständlich begründet. Weshalb hier etwas anderes gelten sollte, leuchtet nicht unmittelbar ein. Der Begründungszwang dient nicht zuletzt dazu, Gewähr für die Richtigkeit einer Entscheidung zu bieten. Jeder, der einmal ein mündlich gewonnenes Ergebnis schriftlich fixieren mußte – das sind, wenn ich so in die Runde sehe, hier doch wohl nahezu alle im Saal –, kennt das Phänomen, daß sich einem beim Schreiben plötzlich unüberwindbare Begründungslücken auftun. In einem solchen Fall muß noch einmal die Sache beraten werden. Und nicht selten kommt dann ein anderes, rechtlich begründbares Ergebnis heraus. Auch unter einem anderen Aspekt ist die fehlende Begründung angreifbar. Nur die im Ausschuß an der Entscheidung beteiligten Richter wissen, welche Kriterien letztlich den Ausschlag für die Zuteilung gegeben haben. Der Grundsatz der Verschwiegenheit, das Beratungsgeheimnis, das selbstverständlich auch hier gilt, hat zur Folge, daß dies auch so bleibt. Für künftige, vergleichbare Fälle ist damit die Frage des gesetzlichen Richters nicht beantwortet. Es bleibt ein Spiel des Zufalls, ob dann derselbe Maßstab für die Zuweisung erarbeitet und angewendet wird. In hohem Maße ungewiß ist daher für spätere Richtergenerationen wie auch die Beteiligten späterer Verfahren, welcher Senat der gesetzliche Richter ist, insbesondere dann, wenn sich gute Gründe für die Zuständigkeit des einen wie des anderen Senates anführen lassen. Aber nicht nur die Zukunft, auch die Gegenwart hält Fragen bereit, welche die Problematik deutlich machen. So ist es nach außen schlechthin nicht zu vermitteln, warum etwa das Verfahren LER, also das Verfahren betreffend den Unterricht im Fach „Religionskundeersatz“ in brandenburgischen Schulen, durch Beschluß des Sechserausschusses vom Zweiten Senat, in dem das Verfahren anhängig gemacht worden war, in den Ersten Senat verwiesen worden ist. Der Erste Senat hat keine Zuständigkeit für das Staatskirchenrecht und, so wird einem immer wieder entgegengehalten, Grundrechtsfragen spielten ohnehin keine Rolle, denn die von den Beteiligten herangezogenen Vorschriften des Art. 7 des Grundgesetzes hätten nach einer früher ergangenen Entscheidung des Ersten Senats keine Grundrechtsqualität. Was also sagt man in einem solchen Fall? Sehen wir – ich sagte es schon – anders als andere Staaten es als ein Essential des rechtsstaatlichen Verfahrens an, daß der gesetzliche Richter von vornherein bestimmt ist, so müssen wir dem auch hier in der gebotenen Weise Rechnung tragen. Mit Nachdruck ist deshalb zu fordern, daß der Beschluß des Sechserausschusses künftig begründet werden muß. Dies auch deshalb, damit alle Beteiligten für den gegebenen und auch für künftige Fälle wissen, warum so und nicht anders entschieden worden ist. In späteren Verfahren werden diese Kriterien als Leitlinien zur Entscheidung herangezogen werden können. Für die Gleichmäßigkeit und die Voraussehbarkeit der Entscheidungen des Sechserausschusses wird dies förderlich sein. Eine Begründungspraxis übrigens wird in künftigen vergleichbaren Verfahren eine Ausschußentscheidung wahrscheinlich überflüssig

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machen. Und – last not least – dem Vorwurf der Willkür, der hier und da schon einmal erhoben wird, kann entschieden entgegengetreten werden. Diesem von mir in der Vergangenheit immer wieder vorgetragenen Petitum hat sich jüngst der Kollege Prof. Hans Hugo Klein angeschlossen, der in einer Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, daß die bisherige Praxis des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig ist. bb) Unklare Zuständigkeitsverteilungskriterien führen auch in anderer Weise zu unerfreulichen Erscheinungen. Anwälte versuchen daraus Kapital zu schlagen, etwa dort, wo das Gewicht der Grundrechtsrügen die Zuständigkeit begründet, wie zum Beispiel bei strafrechtlichen Verurteilungen, wo über die Rüge des Art. 5 Abs. 1 GG oder des Art. 8 Abs. 1 GG die Zuständigkeit zum Ersten Senat gewechselt werden kann. Je nach Bedarf ein paar Sätze mehr oder weniger zu Art. 5 GG, das wird über die Zuständigkeit entscheiden. Ein merkwürdiges Ergebnis. Es gibt effektivere Methoden als diese Abgrenzung, die solches zu verhindern wissen. Unverfroren allerdings möchte ich jene Anwälte nennen, die ihre Verfassungsbeschwerde, um keinen Zweifel an der von ihnen gewillkürten Zuständigkeit aufkommen zu lassen, gleich demjenigen Richter direkt und persönlich zusenden oder zufaxen, dessen Zuständigkeit sie begründen möchten. Allzu offensichtlich ist hier die Erwartung, daß dieser sich schon ihrer Sache förderlich annimmt. Man fühlt sich ein wenig an die Sach- und Rechtslage, wie sie bei der Bestechlichkeit gegeben ist, erinnert. Denn zu Recht fühlt sich derjenige Beamte beleidigt, dem Geld für eine Dienstleistung geboten wird. Liegt doch in dem Angebot gleichzeitig die Annahme begründet, der Betroffene werde das Geld auch annehmen, sich also als bestechlich erweisen. Bedenklich deshalb, wenn Anwälte meinen, ein Verfassungsrichter sei bereit, mit ihnen zusammen die Zuständigkeit zu manipulieren. Deshalb ist es unabweisbar, gerade auch beim Bundesverfassungsgericht, die Abgrenzungskriterien bei der Zuständigkeitsverteilung absolut eindeutig zu formulieren. Und das kann auch gelingen. Davon bin ich fest überzeugt. Und den betroffenen Richtern in einem solchen Fall anwaltlich gewillkürter Zuständigkeitszuweisung ist zu empfehlen, den Schriftsatz unverzüglich in den Geschäftsgang zu geben und dies nach außen auch in geeigneter Form gegenüber dem Rechtsanwalt zu dokumentieren. d) Über die Zuständigkeitsgrenzen hinweg sind immer einmal wieder von beiden Senaten dieselben Grundrechtsfragen in anderem rechtlichen Gewand zu behandeln oder aber dieselben Fragen zur Gesetzgebungskompetenz zu beurteilen. Dies führt unausweichlich dazu, daß dieselbe Rechtsfrage in den Senaten auch einmal unterschiedlich beurteilt werden kann. Eine Situation, wie sie bei allen Gerichten vorkommt, und die der Gesetzgeber auch deshalb vorausgesehen und geregelt hat.

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§ 16 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes normiert die bindende Verpflichtung eines Senats zur Anrufung des Plenums, wenn er von einer Rechtsauffassung des anderen Senates abweichen will. Die Gesamtheit aller Verfassungsrichter entscheidet dann, was gelten soll. Konkretisiert hat das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift dahingehend, daß nur die Absicht, von einer die Entscheidung des anderen Senats tragenden Rechtsauffassung abweichen zu wollen, den Senat verpflichtet, das Plenum anzurufen. Was als sinnvolle Eingrenzung der Anrufungspflicht gedacht war, entpuppte sich im Laufe der Zeit als Vehikel, die unbeliebte „Plenumsfalle“ zu umfahren. Deshalb verwundert es nicht, daß es in der 50jährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts bislang erst in vier Fällen zur Anrufung des Plenums gekommen ist, wovon drei Fälle bereits entschieden sind. 1954 war die erste Entscheidung, sechzehn Jahre später die zweite, und wieder dauerte es zwanzig Jahre, bis es zu einer dritten Plenumsentscheidung kam. Der horror pleni. Die Gründe, das Plenum zu meiden, sind ebenso vielfältig wie die Umgehungsmechanismen, welche die Senate entwickelt haben. Genannt wird hier etwa die Verzögerung der Entscheidung, wenn das Plenum angerufen wird. In Zeiten, in denen die Verfahren bis zu zehn Jahren beim Berichterstatter, man kann schon fast sagen, ruhten, mag das wohl kaum eine Rechtfertigung für die Umgehung des Plenums gewesen sein. Die arbeitsaufwendige Prozedur bis zu einer Plenarentscheidung soll ebenso Grund für die Zurückhaltung sein wie die Befürchtung des abweichenden Senats, für seine Rechtsauffassung im Plenum keine Mehrheit zu bekommen. Der Umstand, daß es weder für das Plenum selbst noch für den Senat, von dessen Rechtsauffassung abgewichen werden soll, eine Möglichkeit gibt, den anderen Senat an der Abweichung ohne vorherige Anrufung des Plenums zu hindern, fördert naturgemäß die Neigung, von einer Anrufung des Plenums abzusehen. So wird gelegentlich die tragende Bedeutung bestimmter Gründe schlicht geleugnet. Oder es findet sich der Hinweis auf eine angeblich notwendige weitere Klärung oder Fortbildung der Rechtsprechung, die bei Lichte besehen doch eine Abweichung von den tragenden Gründen einer Entscheidung des anderen Senats ist. Dabei wird auch schon einmal ganz geflissentlich übersehen, daß der nunmehr abweichende Senat in anderer Besetzung vordem in einer früheren Entscheidung die Rechtsauffassung des anderen Senats geteilt, unterstützt und klärend vertieft hat. In Betracht schließlich kommt aber auch, die Frage der Abweichung einfach mit Schweigen zu übergehen. Die Fachliteratur verfolgt derartiges mit Unbehagen, das gelegentlich in herbe Kritik umschlägt. Kritik, die dann von der Tagespresse aufgegriffen wird; nachzulesen etwa unter Überschriften wie „Unermeßlicher Schaden“. Dem Ansehen des Bundesverfassungsgerichts ist das nicht sonderlich zuträglich, wie im Falle des schlagwortartig mit „Kind als Schaden“ bezeichneten Verfahrens, auf das sich die hier zitierte Pressenotiz bezieht, zu exemplifizieren ist. Hier hat die

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Verfahrensweise des Ersten Senats in ganz besonderem Maße Staub aufgewirbelt, weil ein ungewöhnlicher Mangel an Sensibilität im Umgang der Senate miteinander erkennbar zu werden scheint und mit der Würde des Menschen, dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes, in diesem Verfahren Verfassungsrechtsfragen von höchster Bedeutung in Rede standen. Die Konzentration auf die Frage, wer entscheidet, welchen Ausführungen in einer Entscheidung tragende Bedeutung zukommt, erfaßt das Problem nicht in seiner ganzen Tragweite. Ob Ausführungen in einer Entscheidung tragende Bedeutung für das Ergebnis zukommen, ergibt sich daraus, was der erkennende Senat auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung im übrigen zur Lösung der Rechtsfrage für seinen Lösungsweg zu benötigen meint. Er ist es, der Herr seines Lösungsweges ist. Daß man mit anderen rechtlichen Erwägungen durchaus auch zum selben Ergebnis hätte kommen können, ist dabei unerheblich. Normalerweise wird der Nachvollzug des Lösungsweges dem anderen Senat keine Probleme bereiten. Erweist sich wegen der Komplexität der Begründungsstränge der Nachvollzug als schwierig, so kann ein klärender Hinweis oder Beschluß des erkennenden Senats insoweit hilfreich sein. In die Verfahrensherrschaft des anderen Senats über das bei ihm anhängige Verfahren wird dadurch nicht eingegriffen. Ob dieser verpflichtet ist, den Senat, von dessen Rechtsauffassung abzuweichen er erwägt, zu einer klarstellenden Äußerung zu der Frage aufzufordern, ob seinen Rechtsausführungen tragende Bedeutung zukommt, ist wohl zu verneinen. Faßt dieser aber einen klarstellenden Beschluß, so ist er vom anderen Senat zu beachten. 3. Zum Schluß möchte ich noch die Frage aufwerfen, ob sich nicht manche dieser Probleme in anderem Licht darstellten, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht als Zwillingsgericht organisiert wäre. Gemach, ich möchte hier nicht die Schlachten von vorgestern schlagen. Die Organisationsform des Gerichts steht letztlich nicht in Frage. Sie ist weitgehend akzeptiert. Gleichwohl: Es gibt Institutionen, die gerichtsähnlich verfahren, deren Entscheidungen endgültig sind und die dennoch anders organisiert sind. Denken wir nur an die Heiligsprechung nach Kanonischem Recht. Stellen wir also die Frage nach der Organisationsstruktur. Zur Gerichtsbarkeit – wir hatten das gestern auch schon einmal gehört – gehört die prozessuale Gebundenheit des Verfahrens. Man kann immer wieder beobachten, daß das Korsett eines zwar nicht übermäßig eng gewirkten Prozeßrechts vom Bundesverfassungsgericht doch schon als recht einengend, ja als einschnürend empfunden wird. Ein Umstand, der die kreativsten Köpfe eines Senats immer wieder zu Hochleistungen anspornt, ohne daß die Ergebnisse solchen Bemühens stets über jede Kritik erhaben wären. Ein Vorteil einer anderen Organisationsform wäre mithin darin zu sehen, daß die strikte Bindung an das Prozeßrecht, so wie diese ja auch für die Fachgerichte gilt, nicht mehr gegeben wäre. Und von den Vor-

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schriften einer Geschäftsordnung, die man sich selbst gibt, löst man sich erfahrungsgemäß viel ungehemmter. a) Derartigen Erwägungen zur Organisationsstruktur kann nicht mit dem Einwand entgegengetreten werden, der oberste Hüter der Verfassung bedürfe zur Wahrung seiner Autorität der Gewährleistung der Unabhängigkeit seiner Akteure in sachlicher wie persönlicher Hinsicht. Denn die Gewährung der Unabhängigkeit setzt nicht zwingend die Innehabung eines richterlichen Amtes voraus. Das Erfordernis der Unabhängigkeit kann gesetzlich auch für Mitglieder eines Ausschusses, eines Rates, ja für einzelne geregelt werden. Diese hätten als Nicht-Richter den Vorteil, daß sie nicht denselben strikten Anforderungen unterlägen, wie sie für die Richter der Fachgerichtsbarkeit gelten. Der – an anderer Stelle hieß es einmal so schön – etwas laxe Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit den für andere Richter entwickelten Kriterien zur Befangenheit – ich habe sie vorhin geschildert – ließe sich möglicherweise dann besser rechtfertigen oder wäre jedenfalls kein Stein des Anstoßes mehr. Eine in der Diskussion zur (inneren) Unabhängigkeit der Richter nicht oder wenig thematisierte Konstellation der Betroffenheit kann ohnehin nicht gesetzlich geregelt werden. Der sachlichen Diskussion im Senat und der sachgerechten Entscheidung entgegenstehen können Animositäten zwischen einzelnen Mitgliedern des Kollegialorgans, die zu beherrschen einzelnen nicht möglich ist. Hier entsteht der Rechtsprechung größerer Schaden aus persönlicher Betroffenheit als dies in den auf den Einzelfall zugeschnittenen Fällen der Befangenheit eines Richters gegenüber Dritten in einzelnen Verfahren je entstehen könnte. Wäre das Bundesverfassungsgericht nicht als Zwillingsgericht organisiert, wäre eine solche Problematik leicht zu entschärfen, indem diese Richter verschiedenen Senaten zugeteilt würden. b) Ein anderes Thema: Auch das Wahlverfahren wäre in anderem Licht zu sehen. Der unübersehbare, und auch gar nicht zu leugnende Einfluß der politischen Parteien – Herr Klein hat das Thema gestern ausführlich behandelt – auf die Wahl von Bundesverfassungsrichtern wird vielfach in der Öffentlichkeit als für die Besetzung eines Gerichts unpassend angesehen, ja als Ärgernis empfunden. Von Zeit zu Zeit wird deshalb die Forderung nach einer Änderung des Wahlverfahrens erhoben. Wir haben es gestern gehört, welche Vorschläge da denkbar sind. Der Wahl der Richter durch politische Körperschaften werden vielfach, müssen allerdings nicht politische Erwägungen zugrunde liegen. Von den Gewählten aber wird sodann erwartet, daß sie die Umstände und Motive ihrer Wahl negierend in innerer Unabhängigkeit ihres Amtes walten. Daß diese Erwartung gelegentlich enttäuscht wurde, ist bekannt. Es sind aber stets nur Ausnahmen gewesen. Gleichwohl sind sie es gewesen, die den Argwohn genährt haben, mit dem das Wahlverfahren von der Öffentlichkeit beäugt wird. Kein probates Rezept ist

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es allerdings, mit Adolf Merkl zu fordern, daß Verfassungsrichter keiner Partei angehören dürfen. Es erscheint mir blauäugig, und Herr Kollege Klein hat gestern auch darauf hingewiesen, zu vermuten, daß parteilose Richter stets auch parteifern sind und etwa nicht auch Partei ergreifen könnten. Wären die Gewählten nicht Richter, sondern Mitglieder einer anders organisierten Institution, etwa eines Rates, würde die Kritik gewiß leiser ausfallen. Die Verzögerung der Wahl, die Verlängerung von Amtszeiten der Verfassungsrichter über Gebühr, ich erinnere nur an das Jahr 1996 oder die Jahre währende Nichtberücksichtigung des von einem Bundesverfassungsrichter erklärten Rücktritts durch die politisch Verantwortlichen, gab Anlaß zu dem in der Öffentlichkeit wiederholt geäußerten Vorwurf der Manipulation der Richterbank. Der Zwang zur Legitimierung des Verfahrens gegenüber der Öffentlichkeit entfiele zwar nicht, wenn es sich nicht um die Wahl von Richtern handelte; er wäre aber deutlich geringer. c) Schließlich: Wären sie nicht zu Richtern bestellt, wer wollte dann kritisieren, wenn Verfassungsrichter mitunter Landfahrern gleich übers Land ziehen und ihre Ansichten dem Volk, dem Fernsehvolk zumal, in Talkshows und Interviews, in Vorträgen, vielleicht gar noch den Betroffenen, etwa den Soldaten, die Mörder geheißen werden dürfen, erläutern, kommentieren und wo nötig Verständnis einwerben. Für Richter verbietet sich dieses. Auch ist dem Verfassungsrichter versagt, den Prozeß der Gesetzgebung mit warnenden Hinweisen zu begleiten. Dem Verfassungsrichter gebührt – dem System der Gewaltenteilung gemäß – das letzte, nicht das erste Wort. Durch andere Organisationsformen könnten möglicherweise Freiräume erschlossen werden. Vielen Kritikern also würde der Wind aus den Segeln genommen, wenn eine andere Organisationsform gewählt worden wäre. Und dennoch, kommt nicht der Organisationsform Gericht in Deutschland ein ganz eigenes Gewicht zu? Ein Nimbus, nicht vergleichbar dem von Ausschüssen oder den von der Politik gebildeten Beratungsgremien, die von Zeit zu Zeit mit ihren Berichten und Gutachten ins Bewußtsein der Bevölkerung treten. Um diese angemessen aufzuwerten, bedarf es entsprechender Zusätze. Ich erinnere hier nur an den Rat der Wirtschaftsfachleute, der als „Rat der Weisen“ in der Öffentlichkeit präsent ist. Das wird an Bedeutung auch kaum noch zu überbieten sein. d) Auctoritas, non veritas facit iudicium. Die Autorität der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts speist sich zu einem guten Teil eben auch aus seiner Organisationsform. Im Rechtsstaat Deutschland, von manchem als Rechtswegstaat apostrophiert, genießen Gerichte – ungeachtet ihrer tatsächlichen Qualität, wovon die Revisionsgerichte ein Lied singen können – hohes Ansehen. Das Bundesverfassungsgericht zumal. Auch wenn die Öffentlichkeit in ihrem Urteil schwankend geworden ist, nachdem es insbesondere in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – das klingt schon etwas entrückt, fast

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schon wie Rechtsgeschichte – eine ganze Anzahl von in der Öffentlichkeit sehr kritisch aufgenommenen Entscheidungen gefällt hat. e) Was also bliebe, wenn man den Gerichtscharakter für entbehrlich halten wollte? Es bliebe die Legitimation durch die Verfassung selbst, die Macht, die Verfassung autoritativ und letztinstanzlich zu interpretieren, und die Überzeugungskraft, mit der diese Aufgabe im Einzelfall bewältigt wird. In jedem Fall aufs neue müßten sich die Verfassungshüter der Herausforderung in vollendeter Form stellen und die Wirkkraft ihrer Argumente aufs genaueste prüfen. Der Rechtfertigungszwang wäre mithin höher, die Legitimation schneller in Frage gestellt. Argumentation auf höchstem Niveau – gerade hier zeigen sich gegenwärtig gewisse Erosionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Wirkung einer Rechtsprechung, die nicht auf das Argument selbst, sondern auf abfällige Bemerkungen setzt, muß aber auch von einem Gericht bedacht werden. Der Beispiele für Fehlleistungen dieser Art sind nicht wenige. Ich greife hier einige Formulierungen aus Sondervoten heraus, die insbesondere in der Fachliteratur aufgespießt worden sind. So heißt es dort, „inhaltsleer und ohne Überzeugungskraft“ sei die Mehrheitsmeinung. Sie unterlaufe Verfassungsgrundsätze, verkehre sie in ihr „exaktes“ Gegenteil oder gar „hebele“ die Verfassungsorgantreue aus. Aber auch die Senatsmehrheiten sind in neuerer Zeit dazu übergegangen, nicht mehr auf die Macht ihrer Argumentation im Entscheidungskontext zu vertrauen, sondern im Vorgriff auf das vom Leser zumeist wohl noch nicht gelesene Sondervotum dieses als „unrichtig“ oder in vergleichbar wertender Weise zu kritisieren. Tritt hier nicht das Bewußtsein der eigenen Argumentationsschwäche offen zutage? Diese Kritik fordert den Leser geradezu heraus, das Sondervotum zur Hand zu nehmen. Die Fachwelt liest derartiges aber auch als „forensische Selbstzerstörung“ der Institution. Stil und Niveauverlust dieser Art kann indessen leicht entgegengesteuert werden. Weitaus schwieriger, aber ebenso wichtig dürfte es aber sein, die Sensibilität dafür zu schärfen und auch zu erhalten, daß die formelle Kompetenz des letzten Wortes fundamental auf der materiellen Richtigkeit der Auslegung beruht. Eine Entscheidung ist nicht schon deshalb richtig, weil sie von der höchsten Instanz kommt, unanfechtbar ist und deshalb Gehorsam einfordert. Bezugspunkt jeder Interpretation ist und bleibt der Text, der Wortlaut, die Sinnhaltigkeit der Verfassung. Er eröffnet den Weg zur Interpretation, setzt ihr aber auch Grenzen. Verfassungsinterpretation darf der Norm keinen Sinn beimessen, der Text und Textverständnis des Souveräns, des Staatsvolkes überspielt. Ohne hier auf die Grenze zwischen noch zulässiger Verfassungsinterpretation und schon unzulässiger Verfassunggebung eingehen zu wollen: Der Verfassungsinterpret muß stets darauf Bedacht nehmen, diesem Sinnverständnis nicht ein anderes entgegenzusetzen. Verfassungsinterpretation muß sich die Sensibilität für die Rezeption durch den Bürger bewahren. Politische Kompetenz des Verfassungsrichters – Herr Klein, so haben Sie das gestern genannt. Den

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Blick für die Folgen der Entscheidung muß man sich bewahren. Das ist nicht gleichbedeutend mit dem Zeitgeist zu folgen. Das sollte man tunlichst vermeiden. Denn, wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird allzu schnell Witwe sein oder Witwer. Verfassungsrechtsprechung ist keine Spielwiese einiger Theoretiker. Sie darf nicht das Vehikel sein, in der Literatur vereinzelt gebliebenen Mindermeinungen zur Dominanz zu verhelfen. Dem Bürger nutzen Gewährleistungen nichts, von denen er nicht weiß, ob sie im Ernstfall halten, was sie versprechen. Kapriolen und Feinwebzeug mögen den Kenner erfreuen, für den täglichen Gebrauch sind sie schlicht unbrauchbar. Deshalb muß Verfassungsinterpretation auf einfache Nachvollziehbarkeit der Gedankengänge Bedacht nehmen. Unbehelflich ist es, mit immer neuen Elementen immer neue Abwägungsprozesse anzureichern. In diesem Reigen werden schließlich nur noch wenige mittanzen. Die Fachgerichtsbarkeit – darauf wies Frau Prof. Graßhof in ihrem Diskussionsbeitrag hin – wird ihr die Gefolgschaft versagen. Der Bürger schließlich – er wird in Verwirrung gestürzt. Wenn Verfassungsgewährleistungen nur noch unter Zuhilfenahmen von Diagrammen verständlich zu machen sind, hat die Verfassungsinterpretation ihren Zweck verfehlt. In dem Maße aber, wie die Verfassung dem Bürger als etwas Fremdes gegenübertritt, wird sie seine Zustimmung verlieren. Deshalb muß darauf geachtet werden, daß Entscheidungen verständlich und nachvollziehbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Dies hätte zwar besonders dann zu gelten, wenn die verfassungsrechtlichen Erkenntnisse nicht durch die formale auctoritas eines Gerichts gestützt würden. Dies hat aber auch für das Bundesverfassungsgericht in seiner Organisationsform als Gericht zu gelten.

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Evelyn Haas Leitung: Ludwig Adamovich Von Annette Schorr An das Referat von Haas schloß sich eine Diskussion über im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland auftretende organisatorische Probleme an. Ein Schwerpunkt der Aussprache lag bei der Frage nach den Auswirkungen uneinheitlicher Rechtsauffassungen der beiden Senate. Zur Sprache kam aber auch die Qualifikation der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts und die Wirkung und Aufnahme der Urteile in der Öffentlichkeit. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ludwig Adamovich, Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, eröffnete die Diskussion mit dem Hinweis, daß die Ausführungen auch für die ausländischen Gäste von großem Interesse gewesen seien. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Magiera bat zunächst um einige Erläuterungen zur Qualifikation, Rekrutierung und weiteren Karriere der Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts. Auch er verwies darauf, daß die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Teil sehr lang seien, wobei er offen lassen wolle, ob dies der Verständlichkeit mehr oder weniger zuträglich sei. Beim Europäischen Gerichtshof werde eine andere Methode angewandt, so daß die Urteile dort relativ kurz seien. Weitergehende Informationen seien dort den Schlußanträgen der Generalanwälte zu entnehmen. Er stellte zugleich die Frage in den Raum, ob das französische Modell nicht auch in Deutschland hilfreich sein könnte, um nicht nur bezogen auf das Bundesverfassungsgericht die Verständlichkeit der Urteile zu erhöhen. Eine Stellungnahme Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jutta Limbachs, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., führte zu einem weiteren von Haas angesprochenen Punkt, der Befangenheit. Sie merkte an, es sei wünschenswert, wenn beide Senate des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Besorgnis der Befangenheit gleichermaßen strikt verfahren würden. Sie verwies darauf, daß es nicht um Befangenheit, sondern um die Besorgnis der Befangenheit gehe. Dies müsse aus Sicht eines Dritten beurteilt werden und gerade nicht aus der des betroffenen Richters oder seiner Kollegen. In ihrem Senat sei das immer sehr reflektiert diskutiert worden, zumal auch unter den Richtern für eine enge Be-

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fangenheitserklärung votiert werde, da nach der historischen Genese die persönliche Befangenheit gemeint gewesen sei und nicht der Umstand, daß jemand in derselben Sache als Gutachter tätig geworden oder wie sie selbst, als Politikerin für eine bestimmte Auffassung, z. B. die Strafbarkeit der Regierungskriminalität, eingetreten sei. Sie vertrat aber die Auffassung, daß die Richter eher streng seien und im Zweifelsfall von einer Befangenheit ausgegangen werde. Sie teilte Haas’ Einschätzung insoweit, daß sicherlich manche Streitigkeit bei der alten Zuständigkeitsverteilung, Zweiter Senat als Staatsgerichtshof und Erster Senat für die Grundrechte, nicht aufgetreten wäre. Sie betonte aber nochmals, daß diese Streitigkeiten zahlenmäßig überhaupt keine Rolle spielten. Allein der Zweite Senat wäre mit den Organstreitigkeiten bereits hinreichend ausgelastet. Sie habe aber den Eindruck, daß manche der von Haas angesprochenen Probleme lediglich punktuelle Ärgernisse seien, den Gerichtsalltag jedoch nicht charakterisierten. Gerade in Hinblick auf die Frage der Minderheitenvoten fielen ihr aus ihrer Zeit am Bundesverfassungsgericht nur eine verschwindend geringe Anzahl Entscheidungen oder Minderheitenvoten ein, in denen die gewählte Sprache den Eindruck erwecke, die Argumente könnten nicht sehr stark gewesen sein, wenn mit solchen Prädikaten gearbeitet werden müsse. Sie äußerte ihre Verwunderung darüber, daß Haas eine These zu der Zuständigkeitsverteilung mit einem Fall untermauert habe, der ihr gänzlich unbekannt sei. Sie habe es so verstanden, daß einem Kollegen eine Verfassungsbeschwerde anscheinend in der Absicht zugesandt worden sei, zu vereinbaren, wie die Begründung auszusehen habe, damit sie in den gewünschten Senat passe. Haas erwiderte daraufhin, daß es darum gehe, dem Schein entgegenzutreten. Welche Absichten in Wirklichkeit verfolgt worden seien, wisse sie nicht. Frau Limbach stimmte dem zu und regte an, daß gerade wenn es sich um Fragen handele, die zu Verstimmungen führen könnten, der Dialog gesucht werden sollte. Oftmals käme es auch zu Beginn der Tätigkeit eines Bundesverfassungsrichters, gerade was die Gesprächsbereitschaft gegenüber der Öffentlichkeit angehe, zu dem ein oder anderen durchaus menschlichen Ausreißer. In der Regel ließe sich das aber sehr schnell unter den Kollegen regeln. Sie betonte, sie möchte verhindern, daß der Eindruck entstehe, es handele sich bei dem von Haas thematisierten Problem um eine Gepflogenheit des Gerichts. Es sei zutreffend, daß auch wenn die Senate in bestimmten Dingen unterschiedlicher Auffassung seien, das Plenum deswegen nicht immer bereits angerufen worden sei. Zu bedenken sei aber auch, daß es mit einigen Schwierigkeiten verbunden sei, den geeigneten Fall zu finden, um die unterschiedlichen Auffassungen, z. B. zum Gleichheitssatz zu diskutieren. Dieses Problem bestehe aber auch mit der Rechtsprechung der früheren Generationen. Zu Beginn ihrer Tätigkeit sei es für sie überraschend gewesen, in welchem Ausmaß die Kollegen auf Kontinuität bedacht gewesen seien. Es bestehe das Bedürfnis, eine gewisse Kontinuität und Homogenität darzutun und es fehle manchmal die Kraft und

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Bereitschaft für ein offenes Wort oder den Marathon der Plenarsitzungen. Sie glaube aber nicht, die Plenumentscheidung werde aus Angst, zu unterliegen, nicht gesucht. Die Erfahrung, daß auch eine wohlbegründete Meinung nicht die Mehrheit der anderen finde, mache ein Richter im Laufe seiner Tätigkeit häufiger. Der größte Beispielsfall für das Auseinanderfallen der Ansichten der beiden Senate sei sicherlich der bereits erwähnte Fall des Unterhaltes für ein behindertes Kind als Schaden, in dem es nicht nur zwischen den Senaten große Unterschiede gegeben habe, sondern es auch innerhalb der Senate zu Kontroversen gekommen sei. Interessanterweise sei sie, wenn es um eine Bilanz ihrer Tätigkeit ginge, nie nach dieser Auseinandersetzung zwischen den Senaten gefragt worden. In der Öffentlichkeit sei damals eine große Unruhe entstanden, weil es gerade die besondere Reputation des Gerichts ausmache, daß es im Gegensatz zum Bundestag, der Bundesregierung und den Parteien in der Mehrzahl der Fälle mit einer Stimme spreche. Bestehende Konflikte würden nicht öffentlich, sondern hinter verschlossenen Türen ausgetragen. Es sei allerdings durchaus nicht unbedenklich und könne auch auf einen Mangel an politischer Kultur hindeuten, wenn die Bürger lieber so eine Autorität sprechen ließen, als dabei zuzusehen, wie die verschiedenen Parteien sich auseinandersetzten. Sie betonte, es sei aber auch ein Vorzug, auf welche Weise im Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen getroffen würden. Es werde nur in der Sache, frei von politischen Vorgaben oder Druck diskutiert, da aufgrund der nicht-öffentlichen Beratungen keine Rücksicht auf darauf genommen werden müsse, welchen Eindruck ein Argument in der Öffentlichkeit erwecke und so auch unpopuläre Meinungen geäußert werden könnten. Dies sei Ausfluß der richterlichen Unabhängigkeit und einer der Gründe, warum das Bundesverfassungsgericht als Gericht konzipiert worden sei. Klein stimmte Haas zu, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts in einen bestimmten Senat gewählt würden und nicht von einem Senat in den anderen umgesetzt werden könnten. Unumstritten sei diese Ansicht nicht, aber bisher sei diese Frage noch nicht zur Entscheidung gekommen. Im Hinblick auf die organisationsrechtlichen Rahmenbedingungen für das Bundesverfassungsgericht vertrat Papier die gleiche Meinung wie Haas. Nach seiner Einschätzung bestünden darüber hinaus im Augenblick keine organisatorischen Probleme. Er gestand aber zu, daß im Bereich der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Senaten in der ein oder anderen Frage, gerade mit Blick auf das Europarecht Modifizierungsnotwendigkeit bestehe, da für das primäre Europarecht kaum noch ein Anwendungsbereich vorhanden sei. Ihm sei aber in seiner Zeit in Karlsruhe kein Fall bekannt geworden, in dem es bei der Zuständigkeitsverteilung unlösbare Schwierigkeiten gegeben hätte. Das werde auch daran deutlich, daß der Sechserausschuß kaum getagt habe. Nicht klar geworden sei ihm die Fragestellung, ob Gerichtsqualität oder Verfassungsausschuß, da sich seiner Meinung nach diese Frage überhaupt nicht stelle, weil nach dem Grund-

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gesetz das Bundesverfassungsgericht Gerichtshof des Bundes sei und damit auch die konstitutionelle Basis eindeutig sei. Selbstverständlich habe es als Verfassungsorgan eine gewisse Zwitterstellung, aber niemand denke ernsthaft daran, die Gerichtsqualität, mit der große Vorteile verbunden seien, aufzugeben. Die persönliche und sachliche Unabhängigkeit könne auch außerhalb einer gerichtsförmigen Institution gewährleistet werden, aber die Gerichtsförmigkeit garantiere auch, daß verfahrensgebunden auch repressiv, punktuell und korrigierend eingegriffen werden könne, wie Böckenförde dies einmal ausgedrückt habe. Die Gerichtsorganisation verhindere, daß sich die Institution allzu stark Macht usurpierend in die politische Gestaltung einmische. Adamovich erläuterte, daß vergleichbare Probleme derzeit in Österreich nicht bestünden. In Österreich sei die Ablehnung eines Richters durch eine Prozeßpartei aus gutem Grund nicht möglich. Es gebe Ausschließungsgründe, über deren Vorliegen der Verfassungsgerichtshof selbst zu entscheiden habe. Man habe sich gegen das Ablehnungsrecht entschieden, weil man befürchtete, daß auf diese Weise der Versuch unternommen werden könnte, die ganze Institution handlungsunfähig zu machen. Er merkte zu dem Thema der Nachvollziehbarkeit der Urteile und der Rezeption durch die Bürger an, daß es vor allem prozessuale Fragestellungen gebe, die so kompliziert und technisch seien, daß sich selbst Juristen mit deren Verständnis schwer täten. Diese Situation gebe oftmals Gelegenheit zu Polemik. Es sei nicht gerade ein alltäglicher Vorgang, wenn mit großem Nachdruck und nicht nur von einer politischen Partei die Auffassung vertreten werde, ein Verfassungsgericht sei zum Schaden und zum Nachteil eines ganzen Bundeslandes aufgetreten und die juristische Argumentation sei nichts anderes als ein Mäntelchen, daß man einer in Wirklichkeit bestehenden politischen Ansicht umgehängt habe. Prof. Dr. Karin Graßhof, Bundesverfassungsrichterin a. D., merkte unter Bezugnahme auf Frau Limbach an, sie glaube, der „horror pleni“ sei weniger auf die Angst des einen Senats, dem anderen zu unterliegen, zurückzuführen, sondern Ursache sei wohl vielmehr eine gewisse Überzeugtheit jedes der beiden Senate von seiner eigenen Rechtsprechung. Etwas überspitzt dargestellt, stehe eine gewisse „Überheblichkeit“ jedes Senats hinsichtlich der Qualität der Rechtsprechung einer Anrufung des Plenums entgegen. Sie bezweifelte, daß Haas beabsichtigt habe, mit dem Beispiel des „Kindes als Schaden“ den alten Streit wiederaufleben zu lassen, sondern vielmehr habe zeigen wollen, daß die Auslegung des § 16 BVerfGG im Sinne einer nur bestehenden Verpflichtung, das Plenum anzurufen, wenn voneinander in tragenden Rechtsfragen abgewichen werden soll, nicht zutreffend sein kann. Mit der Vorschrift habe nur erreicht werden sollen, daß nach außen in Rechtsfragen von gewisser Bedeutung einheitlich entschieden werde. Nicht so sehr von Bedeutung sei, ob es sich um eine tragende Rechtsfrage handele. Haas habe vielmehr deutlich machen wollen, daß auch in

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manchen anderen Fragen, besonders bei so grundlegenden Fragen wie der Menschenwürde, das Gericht nach außen hin einheitlich auftreten sollte. Nach Änderungen beispielweise der Prozeßordnung des Gerichts böten sich Grundsatzentscheidungen zur Auslegung dieser Prozeßrechtsvorschriften an. Sie verwies auf die Situation im Jahre 1993, als das Annahmeverfahren geändert worden sei. Der Erste Senat habe damals dazu grundlegend entschieden, ohne mit dem Zweiten Senat Kontakt aufzunehmen. Natürlich habe es sich nicht um einen Plenarfall gehandelt, da diese Rechtsfrage zum ersten Mal zur Entscheidung anstand, aber sie hätte eine vorherige Abstimmung als besser empfunden und plädierte dafür, in solchen Situationen das Plenum anzurufen. Dr. Stefan Mückl, München, begrüßte die Rezeption bestimmter Aspekte der Kritik durch das Gericht, die mitunter schon längere Zeit im Schrifttum geäußert worden seien. Er wies darauf hin, daß es, obwohl es zur Begründung der Beschlüsse des Sechser-Ausschusses (§ 14 Abs. 5 BVerfGG) relativ wenige Fälle gebe, dennoch nichts daran ändere, daß es sich um eine Problemfrage handele. Eine Charakterisierung als Problemfrage sei unabhängig von der Quantität, mit der ein Problem auftrete. Auf Widerspruch stieß die Äußerung Mückls, er stimme Haas zu, daß gerade wenn damit weitreichende Konsequenzen verbunden seien, wie z. B. bei dem Fall „LER“, aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit offenzulegen und zu begründen sei, warum eine Zuständigkeitsverlagerung stattgefunden habe, auch wenn es in dieser konkreten Sache umstritten gewesen war, ob dies der Fall gewesen sei. Auch die Sondervoten seien organisatorische Fragen mit dem Unterschied, daß dies bereits vor über dreißig Jahren entschieden worden sei. Ebenso wie Frau Limbach sei er der Meinung, daß eine stärkere Offenlegung der Entscheidungsmaßstäbe wünschenswert sei. Ein vergleichbares Problem aus dem Bereich der einstweiligen Anordnungen sei von Schoch in der Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts behandelt worden. Auf die Frage nach der Qualifikation der wissenschaftlichen Mitarbeiter antwortete Haas, es handele sich meist um erst- oder zweitinstanzliche Richter oder Verwaltungsbeamte. Die Rekrutierungsmöglichkeiten seien unterschiedlich, entweder infolge persönlicher Kontakte auf Tagungen oder aufgrund von auf Anfrage abgegebenen Vorschlägen der Justizministerien. Die Dauer der Beschäftigung hänge auch von den Vorstellungen des einzelnen Mitarbeiters ab. Je größer die Entfernung zwischen Arbeitsstelle und Familie, desto kürzere Abordnungszeiten würden seitens der Mitarbeiter vorgezogen, während sie selbst aufgrund der langen Einarbeitungsphase der Ansicht sei, daß eine Abordnung erst ab einer Dauer von mindestens drei Jahren sinnvoll sei. Erst im dritten Jahr sei für beide Seiten der höchste Ertrag zu erwarten. Abgeordnete Richter strebten nach Möglichkeit eine Beförderungsposition an, was früher eher möglich gewesen sei, als in der derzeitigen Situation. Die frühere Karriere, vom Bundesver-

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fassungsgericht nach einem Jahr am Heimatgericht an ein OVG oder OLG befördert zu werden, sei heute infolge des Stellenabbaus sehr schwierig geworden und es werde eine wesentlich größere Flexibilität vorausgesetzt. In bezug auf die Verständlichkeit der Urteile betonte Haas, daß sich das französische System für eine Anwendung in Deutschland nicht so gut eigne, da es vor allem an den Schlußanträgen, auf die Bezug genommen werden könnte, was die Urteile verkürze, fehle. Kürze und Verständlichkeit wären aber schon gewonnen, wenn beispielsweise die lehrbuchartigen Darstellungen zum Maßstab gekürzt würden. Wiederholungen ließen sich so vermeiden, um durch eine insgesamt knappere Darstellung zu mehr Prägnanz zu gelangen. Auf die Ausführungen von Limbach und Papier erwiderte sie, daß sie anhand von Beispielen und der Darstellung inhaltlicher Fragen die Instrumente der Rechtsprechungsvereinheitlichung und deren Folgen darlegen wollte. In ihrem Referat sei es ihr in erster Linie nicht um die Darstellung organisatorischer Probleme gegangen, sondern sie habe allgemein einige Bemerkungen zur Organisation und den daraus resultierenden Folgen machen wollen. Dazu gehöre neben der Organisation des Sechserausschusses die Organisation des Plenums. Ausreißer, egal in welcher Form, gebe es immer, insoweit stimmte sie Frau Limbach zu, müßten aber beschränkt bleiben. Gerade die recht intensiven Textberatungen zeigten jedoch deutlich, daß man im Bereich der sprachlichen Ausreißer bemüht sei, dies zu verhindern. Für sie sei es ein Grundproblem, das sie an der Argumentationsdichte und Überzeugungskraft einer Entscheidung letztlich auch im Hinblick auf die Rezeption durch die Betroffenen habe festmachen wollen. Wie Graßhof unterstrich auch sie nochmals, daß es weniger die Angst, zu unterliegen sei, sondern vielmehr die Überzeugtheit und der Wunsch, eine bestimmte für richtig erkannte Rechtsprechungslinie einzuführen und durchzuhalten. Sie machte deutlich, daß sie nicht die Gerichtsqualität habe in Frage stellen wollen, da dies verfassungstheoretisch überhaupt nicht zur Debatte stehe. Sie habe sich einfach die theoretische Frage gestellt, ob der inhaltliche Zwang zu einer verdichteten Argumentation nicht stärker wäre, wenn der Gerichtscharakter entfiele. Einige Probleme, die sich aus der dargestellten Organisation ergäben, hätte man dann nicht oder nur in abgeschwächter Form und geriete so auch nicht in die Kritik. Die geschilderten Probleme, Befangenheitsrechtsprechung etc., ergäben sich aus der Institution als Zwillingsgericht und würden unter Umständen nicht auftreten, wenn es kein Gericht wäre. Sie widersprach Papier in der Äußerung, sie habe das Gericht abschaffen wollen. Bei der Frage der Rezeption habe sie den Idealfall geschildert. Ob ein solches Ideal erreichbar sei, müsse dahingestellt bleiben, aber man solle es immer im Auge behalten. Man könne sich mit dem Bemühen um einfache Begründungsstränge diesem Ideal immerhin annähern, wobei dies in prozessualen Fra-

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Evelyn Haas

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gen sicher oft problematisch sei. Für die Bürger seien auch mehr die materiellen Fragen von Interesse, worauf seitens der Gerichte Rücksicht zu nehmen sei. Gerade die meist sehr intensive Abwägung, die sicher dem Bundesverfassungsgericht auch die Möglichkeit einräume, steuernd zu wirken, da hier letztlich entschieden werde, wie abzuwägen sei, führe zu erheblichen Rechtsunsicherheiten. Dessen müsse man sich bewußt sein, um gegebenenfalls in der juristischen Deduktion nach Möglichkeit von allzu komplizierten Gedankengängen Abstand zu nehmen.

Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtsdurchsetzung* Von Karl Korinek I. Einleitung Die Pflicht, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, ist heute allgemein anerkannt. Das Bekenntnis zur Menschenwürde ist geradezu Legitimationsbasis und einheitsstiftende Kraft in der pluralistischen Gesellschaft1. Sie ist aber darüber hinaus auch positiv-rechtlich anerkannt und zwar nicht nur auf völkerrechtlicher Ebene in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, sondern auch auf staatlicher Ebene, am prominentesten wohl im Bonner Grundgesetz. Aber auch im österreichischen Verfassungsrecht ist die Menschenwürde – was oftmals übersehen wird – verfassungsrechtlich verankert, und zwar zunächst schon dadurch, daß die Präambel der EMRK, die in Österreich bekanntlich Verfassungsrang aufweist2, auf die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verweist, die gleich in ihrem ersten Satz die zentrale Bedeutung der Menschenwürde und der unveräußerlichen Menschenrechte hervorhebt. Auch der Verfassungsgerichtshof hat den Rechtsgrundsatz der Menschenwürde als „allgemeinen Wertungsgrundsatz unserer Rechtsordnung“ bezeichnet und daraus entsprechende rechtliche Schlußfolgerungen gezogen3. Als positiv-rechtliche Umsetzung des Gedankens der Menschenwürde erweist sich die Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten, von leges fundamentales, von fundamentalen Rechtspositionen der Menschen, die mit besonderer rechtlicher Qualität ausgestattet und durchsetzbar sind. Daß sie auf diese Weise „Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“4 sind – häu* Die Vortragsfassung wurde beibehalten; der wissenschaftliche Apparat ist auf notwendige Belege beschränkt. 1 Vgl. grundlegend J. Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: FS Willi Geiger, 1974, S. 221; jüngst dazu auch Korinek, Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage moderner Grundrechtskataloge, in: FS Donato Squicciarini, 2002, S. 76. 2 BGBl. 59/1964; vgl. VfSlg 4706/1964, 5100/1965. 3 VfSlg 13.635/1983 unter ausdrücklichem Hinweis auf die ausführliche Ableitung bei Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988, S. 171 (insbes. S. 176). Dazu insbes. auch Berka, Die Grundrechte, 1999, RN 376 ff. 4 Vgl. den ersten Satz der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948.

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fig muß man leider sagen: sein sollen –, wird immer wieder explizit zum Ausdruck gebracht – nicht nur in den schon erwähnten rechtlichen Dokumenten sondern auch grundlegenden politischen Dokumenten und wissenschaftlichen Arbeiten, an prominenter Stelle übrigens auch in einer Reihe päpstlicher Dokumente5. Dieser Kontext der Grundrechtsverbürgungen des modernen Verfassungsstaates macht deutlich, daß Grundrechte nach umfassender Verwirklichung und Durchsetzung verlangen. Mit diesen beiden Begriffen sind nicht nur die Themenschwerpunkte des Schlußvortrags dieses Kolloquiums angesprochen, sondern auch ihr Zusammenhang und ihre Bedeutung für das Anliegen der Grundund Menschenrechte schlechthin. II. Grundrechtsverwirklichung 1. Einleitung

Es hat sich in der modernen Grundrechtsdogmatik die Auffassung durchgesetzt, daß Grundrechte auf umfassende Realisierung angelegt sind. Sie prägen – wie alle Normen in Verfassungsrang – die gesamte Rechtsordnung und entfalten auf diese Weise umfassende Wirkung. Vehikel dafür ist die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte als positiv-rechtlich gesetzte Vorgaben des Verfassungsrechts. In diesem Sinn hat etwa Hans Kelsen – aufbauend auf der von Adolf Merkl entwickelten Einsicht in den Stufenbau der Rechtsordnung6 – schon 1930 formuliert: „Mit einem Katalog von Grund- und Freiheitsrechten wendet sich der Verfassungsgesetzgeber in erster Linie . . . an den einfachen Gesetzgeber, in dem er ihm verbietet, in die als subjektive Rechte statuierte Interessenssphäre der Untertanen einzugreifen, oder ihm gebietet, den von ihm zu erlassenden Normen einen bestimmten positiven Inhalt zu geben“7. Welchen Inhalt diese die Gesetzgebung bindenden Grund- und Freiheitsrechte im einzelnen haben und wie weit diese Bindungswirkung geht, war freilich in der österreichischen Verfassungsrechtslehre höchst umstritten. Ich kann und will das hier nicht im Detail nachzeichnen aber einige Marginalien dazu doch anbringen: 5 Vgl. die Hinweise bei Korinek, In der Achtung der Menschenrechte liegt das Geheimnis des wahren Friedens, in: Squicciarini (Hg.), Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II. 1993–2000, 2001, S. 209. 6 Vgl. grundlegend Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, JBl 1918, S. 425 sowie zur Anwendung ders., Die gerichtliche Prüfung von Gesetzen und Verordnungen, ZBl. für die jur. Praxis, 39 (1921), S. 569. 7 Kelsen, Die Entwicklung des Staatsrechts in Österreich seit dem Jahr 1918, in: Anschütz/Thoma (Hg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 147 (154 f.).

Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtsdurchsetzung

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2. Die Intensität der Bindung an die grundrechtlichen Vorgaben

Die Verfassungsrechtslehre hatte bis in die späten 60iger Jahre den formalen Gehalt der Verfassungsrechtsordnung so sehr betont, daß der Blick für die Inhalte und damit auch der Blick für die Wirkkraft der Grundrechte weitgehend verloren ging8. Die Grundrechte waren im Verfassungsrechtsleben unbedeutend: Grund dafür war die rein formale Sicht der Gesetzesvorbehalte, die man als umfassende Ermächtigung des Gesetzgebers verstand, Grundrechte einzuschränken; lediglich eine Wesensgehaltssperre wurde anerkannt. Auch sah man die Grundrechte nur als Abwehrrechte gegenüber dem hoheitlich tätig werdenden Staat. Auf die Idee, daß Grundrechte darüber hinaus irgendeine materielle Wirkung, etwa auf den Privatrechtsgesetzgeber auslösen könnten, kam man gar nicht. Ende der 60iger und Anfang der 70iger Jahre setzte – zunächst zögerlich – in der Verfassungsrechtslehre ein Umdenken ein. Eine ganz große Rolle kommt in diesem Zusammenhang Günther Winklers wegweisender Schrift „Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen“ zu9. Er machte darauf aufmerksam, daß „die Allgemeinheit verfassungsrechtlicher Begriffe nicht Beliebiges, sondern inhaltlich Bestimmbares bedeute“ und Peter Oberndorfer sprach davon, daß die Grundrechte dem Gesetzgeber gewisse feste inhaltliche Richtpunkte geben10. Auf Basis dieser methodischen Neukonzeption11 und unter dem Einfluß der EMRK und ihrer Interpretation durch die Straßburger Organe12 und auch nicht unbeeinflußt von Judikaturentwicklungen in Deutschland und der Schweiz13 8 Vgl. Korinek, Gedanken zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten, in: FS Adolf Merkl, 1970, S. 171 (wieder abgedruckt in: Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2000, S. 1). 9 Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, 1969, insbes. S. 46 f. 10 Oberndorfer, Grundrechte und staatliche Wirtschaftspolitik, ÖJZ 1969, S. 449 (457 f.). 11 Vgl. auch Korinek/Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, in: Schambeck (Hg.), Das österreichische B-VG und seine Entwicklung, 1980, S. 291 (insbes. S. 316 ff.); Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, JBl 1980, 225 (insbes. 233 ff.). Vgl. die Darstellung der Entwicklung bei Öhlinger, Das Grundrechtsverständnis in Österreich – Entwicklungen bis 1982, in: Machacek/Pahr/ Stadler (Hg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich Bd. I, S. 29 und Berka (FN 3) S. 68. 12 Vgl. insbes. Heller, Judicial Self Restraint in der Rechtsprechung des Supreme Court und des Verfassungsgerichtshofes, ÖZöffR 33, 1988, S. 89 (111 ff.); ders., Funktion und Grenzen der Gerichtsbarkeit im Rechtsstaat, Vortrag am 11. ÖJT 1991, Bd. I/2, S. 1 (36 ff.) mit beispielhaften Hinweisen auf den Einfluß des EGMR auf verfassungsgerichtliche Entscheidungen. 13 Zum Einfluß der Judikatur des BVerfG vgl. den Beitrag von Holoubek in diesem Sammelband; zum Einfluß der Judikatur des Schweizerischen Bundesgerichts vgl. paradigmatisch die Entwicklung der Judikatur zur Erwerbsfreiheit in Österreich (dazu Korinek, Das Grundrecht der Freiheit der Erwerbsbetätigung als Schranke für die

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setzte Ende der 70iger Jahre auch im österreichischen Verfassungsgerichtshof eine Entwicklung zu einer stärker inhaltsbezogenen Judikatur ein, in deren Gefolge die Gleichheitssatzprüfung zu einer Sachlichkeitsprüfung wurde und Grundrechtseinschränkungen auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft werden14. Aber noch, als ich in einem gemeinsam mit Brigitte Gutknecht geschriebenen Beitrag über den Grundrechtsschutz in Schambecks Buch zum 60. Geburtstag des B-VG im Jahr 1980 schrieb, „daß die Grundrechte dem Gesetzgeber auftrügen, für eine möglichst weitgehende Realisierung der in den Grundrechten positivierten Wertentscheidungen Sorge zu tragen“15, entgegnete mir Öhlinger, der als durchaus gemäßigter Positivist gilt: „Nur eine Schrankentheorie der Grundrechte entspreche dem System der Verfassung“16 und er meinte das durchaus kritisch gegenüber einer wertorientierten Grundrechtsdogmatik. Der Konflikt, der letztlich auf einem Mißverständnis beruhte17, dürfte inzwischen erledigt sein18. Ich glaube, daß ich weitgehend konsensfähig formuliert habe, als ich vor einigen Tagen in meiner Kommentierung des Grundrechts der Unversehrtheit des Eigentums für den von mir gemeinsam mit Holoubek herausgegebenen Kommentar zum österreichischen Bundesverfassungsrecht formulierte, „daß Grundrechte dem Gesetzgeber bloß Schranken ziehen, die ihn zwar nicht zur beliebigen, sondern zur inhaltlichen näher bestimmten, leitbildgerechten Ausführung ermächtigen, ihm aber innerhalb des grundrechtlichen Rahmens einen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum offen lassen“19. 3. Die Reichweite der Grundrechte

Erst als man sich der inhaltlichen Dimension der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers besonnen hatte, war es möglich, die Frage überhaupt zu verstehen, ob und welche Wirkung die Grundrechte etwa auf den Privatrechtsgesetzgeber und den Strafrechtsgesetzgeber entfalten oder ob ihnen Wirkungen auch gegenüber dem privatrechtsförmig tätigen Staat zukommen, aber auch die Frage, ob sich aus der Verfassung Gewährleistungspflichten ergeben – zwei FraWirtschaftslenkung, in: FS Karl Wenger, 1983, S. 243 (insbes. 256 f.), (wieder abgedruckt in: Korinek [FN 8], 119 [138 f.]). 14 Vgl. (m. w. H.) etwa Korinek, Entwicklungstendenzen in der Grundrechtsjudikatur des Verfassungsgerichtshofes, Schriftenreihe der NÖJurGes, H 61, 1992 (wieder abgedruckt in Korinek [FN 8], S. 47). 15 Korinek/Gutknecht (FN 11), S. 318. 16 Öhlinger, Die Grundrechte in Österreich, EuGRZ 1982, S. 216 ff. (224). 17 Vgl. Korinek (FN 13), S. 250 f. bzw. S. 126. 18 Vgl. Holoubek, Grundrechte zwischen Freiheitsverbürgung und staatlicher Verantwortung, in: Holoubek/Gutknecht/Schwarzer/Martin (Hg.), Dimensionen des modernen Verfassungsstaates, 2002, S. 31 (32 mit den entsprechenden Hinweisen). 19 Korinek, Art. 5 StGG, in: Korinek/Holoubek (Hg.), Bundesverfassungsrecht, 2002, RN 61.

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gen, die nicht deckungsgleich sind, aber inhaltlich miteinander insofern zusammenhängen, als etwa die Frage nach der Bindung des Privatrechtsgesetzgebers und des Strafrechtsgesetzgebers an die Grundrechte ins Leere liefe, würde man nicht zumindest grundsätzlich die Existenz von grundrechtlichen Gewährleistungspflichten bejahen. Nun: Im Ergebnis bejaht heute auch die österreichische Grundsrechtsdogmatik – sieht man von einigen wenigen „Ausreißern“ im Gefolge einer insofern mißverstandenen Reinen Rechtslehre ab20 – sowohl das Bestehen der Pflicht des Gesetzgebers, Grundrechte zu gewährleisten, und zwar auch gegenüber dem privatrechtsförmig tätigen Staat wie auch gegenüber dem Privatrechts- und Strafrechtsgesetzgeber. Das ist insbesondere ein Verdienst der theoretischen Fundierung der Existenz grundrechtlicher Gewährleistungspflichten durch Michael Holoubek21 und der Aufarbeitung der Grundrechtsdogmatik durch Walter Berka.22 Und auch der Verfassungsgerichtshof akzeptiert inzwischen – wie Holoubek gezeigt und an Beispielen exemplifiziert hat – der Sache nach eine „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte23. In der Schweiz ist das nunmehr sogar normativ vorgegeben. Art. 35 der neuen schweizerischen Bundesverfassung steht unter der Rubrik „Verwirklichung der Grundrechte“ und normiert: „(1) Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. (2) Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen. (3) Die Behörden sorgen dafür, daß die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden24.“ 4. Die Notwendigkeit einzelgrundrechtlicher Analyse

Damit ist freilich nur der Grundsatz aufgezeigt. Die österreichische Lehre vom Verfassungsrecht tendiert – das ist wohl eine problematische Fernwirkung der großartigen theoretischen Leistung des Erfassens der Struktur der Rechtsordnung durch Hans Kelsen und Adolf Merkl – dazu, sich mit den strukturtheoretischen Einsichten zufrieden zu geben. Aber es gilt, einen Schritt weiterzugehen und die einzelnen Grundrechte auf ihre je und je unterschiedliche Wirkung 20 Vgl. insbes. R. Walter/H. Mayer/G. Kucsko-Stadlmayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 102007, S. 626 ff. 21 Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997. 22 Berka (FN 3). 23 Vgl. dazu Holoubek (FN 18), S. 37 f. 24 Dazu J. P. Müller, Grundrechte zwischen Freiheitsverbürgung und staatlicher Verantwortung, in: Dimensionen (FN 18), S. 21 (insbes. 25); ders. in: Thürer/Aubert/Müller (Hg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, insbes. S. 633 ff.

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hin zu untersuchen. Berka hat das trefflich formuliert: „Denn auch wenn die gemeinsame Mitte aller Grund- und Menschenrechte der Schutz der menschlichen Würde und Freiheit ist, garantieren sie im einzelnen doch Unterschiedliches“25. Von der Notwendigkeit einer „Bereichsdogmatik“ hat in diesem Sinn Holoubek gesprochen26. Eine solche kann natürlich nicht hier und jetzt geleistet werden, aber es gilt festzuhalten, daß die Untersuchung jedes einzelnen Grundrechts nicht nur der Frage nachgehen muß, wo die Grenzen für die möglichen Einschränkungen des Grundrechts durch staatliche Gesetzgebungs- oder Vollzugsakte liegen, sondern auch die anderen Aspekte der Wirkung der Grundrechte nicht ausblenden darf. Ich habe dabei sechs verschiedene Aspekte im Auge, die ich in Form von Fragen deponieren möchte: – Wirkt eine Grundrechtsverbürgung auch als Institutsgarantie, also verlangt das Grundrecht eine bestimmte Ausgestaltung eines Rechtsinstituts oder – was wohl eher der Fall sein wird – verbietet es eine bestimmte Ausgestaltung? Die Frage wurde bislang vor allem im Hinblick auf das Eigentumsgrundrecht erörtert27, kann sich aber auch im Hinblick auf andere Grundrechtsverbürgungen stellen; denken sie etwa an die Vereinigungsfreiheit oder die Rundfunkfreiheit. – Verlangt eine bestimmte Grundrechtsverbürgung organisationsrechtliche und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu ihrer Durchsetzung? – Welche Wirkungen kommen einer Grundrechtsverbürgung gegenüber dem Staat zu, soweit er privatrechtsförmig tätig wird28? Kommt es dabei vielleicht auf den Inhalt der Tätigkeit an? Bindet – um Beispiele zu nennen – etwa der Gleichheitsgrundsatz, das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens oder das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit den Staat etwa bei der Anstellung von Dienstnehmern, bei der Auftragsvergabe, bei unternehmerischen Tätigkeiten wie der Führung eines Theaters oder Wahrnehmung der Aufgaben der Abfallbeseitigung oder bei der Vermögensverwaltung? Und welcher Art ist diese Bindung und wie ist sie umzusetzen und durchzusetzen? – Welchen spezifischen Gehalt haben Grundrechtsverbürgungen dann, wenn die öffentliche Hand die Aufgaben nicht selbst wahrnimmt, sondern durch eigene

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Berka (FN 3), RN 84. Holoubek (FN 18), S. 41 ff. In diesem Sinn der Sache nach schon Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrechtliche Probleme privatrechtsförmiger Subventionsverwaltung, ÖZW 1995, S. 110 ff. 27 Vgl. für Österreich die Hinweise bei Korinek (FN 19), RN 61. 28 Vgl. zur Fiskalgeltung der Grundrechte Korinek/Holoubek, Grundlagen staatlicher Privatwirtschaftsverwaltung, 1993, S. 146 ff.; Berka (FN 3), RN 213 ff. (beide m. w. H.). 26

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Rechtsträger – öffentlich-rechtliche Anstalten etwa oder privatrechtsförmig organisierte Kapitalgesellschaften – besorgen läßt? Auch hier wird man wohl grundrechtsspezifisch argumentieren und tätigkeitsspezifisch, vielleicht auch organisationsspezifisch differenzieren müssen. – Welche Wirkungen kommen einer Grundrechtsverbürgung im Hinblick auf den Privatrechtsgesetzgeber zu29? Verbietet etwa die Meinungsäußerungsfreiheit eine bestimmte Gestaltung arbeitsrechtlicher Beziehungen oder verlangt das Eigentumsgrundrecht eine bestimmte Ausgestaltung des Sachen- oder Obligationenrechts? – Verlangt oder verbietet eine Grundrechtsverbürgung eine bestimmte Ausgestaltung des Strafrechts? Hier ließen sich aktuelle Fragestellungen aus dem Bereich des Schutz des Lebens ebenso formulieren wie aus dem Bereich des Eigentumsschutzes oder der Grundrechtsposition von Religionsgesellschaften. All diese Fragen müssen grundrechtsspezifisch bei der Aufarbeitung des Schutzbereichs eines Grundrechts, der Grundrechtsschranken und der Ausstrahlungswirkung mitbedacht werden, will man konkret darstellen, welche Anforderungen die Grundrechtsverbürgung an den Gesetzgeber im Interesse der Grundrechtsverwirklichung stellt, beziehungsweise um festzustellen, ob der Gesetzgeber seinem Auftrag zur umfassenden Verwirklichung der Grundrechte nachgekommen ist. 5. Abwägungsentscheidungen des Gesetzgebers oder der Vollzugsorgane

Bei Behandlung dieser Fragen wird man freilich auch zu bedenken haben, daß dem Gesetzgeber bei der Grundrechtsverwirklichung häufig aufgegeben ist, unterschiedliche Grundrechtspositionen oder Grundrechtspositionen mit anderen öffentlichen Interessen auszugleichen30. Das Spannungsverhältnis von Gleichheitsgrundsatz und Privatautonomie im Bereich der Drittwirkung ist oft als Beispiel dafür genannt worden. Aber denken sie auch an andere Beispiele, etwa an das Spannungsverhältnis zwischen der Berichterstattungsfreiheit des Journalisten und der Privat- und Persönlichkeitssphäre von Menschen oder allgemeiner: zwischen der Kommunikationsfreiheit und dem Persönlichkeitsschutz, oder etwa an das Spannungsverhältnis zwischen der Wissenschaftsfreiheit und unter Umständen entgegenstehenden Grundrechtspositionen wie dem Grundrecht auf Datenschutz oder dem Grundrecht auf Leben oder an das Spannungsverhältnis von Kunstfreiheit und dem Schutz religiöser Gefühle der Menschen und der Grundrechtspositionen von Religionsgesellschaften.

29 30

Vgl. statt aller Berka (FN 3), RN 222 ff. (m. w. H.). Ausführlich Holoubek (FN 21), insbes. S. 255 ff.

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All diese Beispiele wollen nichts anderes, als darauf hinweisen, daß bei der Verwirklichung von Grundrechten die zuständigen Organe, also primär der Gesetzgeber die zu realisierende Grundrechtsposition zwangsläufig mit gegenläufigen Grundrechtsinteressen oder anderen öffentlichen Interessen auszugleichen haben wird, eine – wie Hesse gesagt hat – „praktische Konkordanz“31 oder – mit Lerche formuliert – einen „schonenden Ausgleich“32 suchen muß. Zusammenfassend: Es sind Abwägungsvorgänge notwendig, die häufig komplexe und sehr wertungsoffene Abwägungsprozesse erfordern, im Effekt also dem Gesetzgeber einen relativ weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum einräumen. Nützt er ihn, so wird sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle darauf beschränken müssen, festzustellen, ob der Abwägungsprozeß zu unvertretbaren Ergebnissen geführt hat, eine Grundrechtsposition gegenüber anderen Positionen unverhältnismäßig zurückgedrängt hat oder nicht nachvollziehbar ist. Verzichtet der Gesetzgeber aber darauf, die divergierenden Interessenlagen auszugleichen oder flüchtet er sich in weite Generalklauseln oder gar in inhaltsleere Formelkompromisse, so überläßt der die Aufgabe der Suche der praktischen Konkordanz dem im einzelnen für die Grundrechtsdurchsetzung zuständigen Organ, für Österreich gesprochen: den ordentlichen Gerichten oder dem Verfassungsgerichtshof – für Deutschland gesprochen den Fachgerichten und letztlich dem Bundesverfassungsgericht. III. Grundrechtsdurchsetzung 1. Allgemeines

Grundrechte müssen durchsetzbar sein. Von leges fundamentales haben wir zu Beginn gesprochen und deren Durchsetzbarkeit als essentiale der Verbürgung von Grundrechten als subjektive Rechte qualifiziert. Die Verbindung von Grundrechtsgewährleistung und Durchsetzbarkeit der Grundrechte hat in Österreich eine lange Tradition. Sie läßt sich – sieht man von Vorläufern ab – schon in der staatsgrundgesetzlichen Verfassung von 1867 nachweisen33 und findet ihren Abschluß in der Übertragung der Kompetenz zur Kontrolle der Übereinstimmung der Gesetze mit den Vorgaben der Verfassung

31 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, RN 72. 32 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, insbes. S. 152 f.; zusammenfassend auch ders., Grundrechtsschranken, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 22000, S. 775. 33 Vgl. etwa Hellbling, Die geschichtliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, JBl 1951, S. 197 oder R. Walter, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle in Österreich, in: Vogel (Red.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, 1979, S. 4.

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und damit mit den Grundrechten an den Verfassungsgerichtshof durch das B-VG 192034. Bei allem Respekt vor der Bedeutung von Berichtspflichten und Besuchssystemen – insbesondere im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes sollte das nicht zu gering geachtet werden, wie insbesondere auch die Ergebnisse der Antifolterkommission des Europarates zeigen35 – und auch im Bewußtsein, daß Institutionen nach Art eines Ombudsmanns oder einer Volksanwaltschaft eine Bedeutung für die Grundrechtsdurchsetzung haben können36: Das Zentrum der Verantwortung für die Grundrechtsdurchsetzung liegt im demokratischen Rechtsstaat im gerichtlichen Grundrechtsschutz. Dabei muß man zwei Ebenen unterscheiden: Wir haben gesehen, daß die Aufgabe der Grundrechtsverwirklichung primär Aufgabe des Gesetzgebers ist und dementsprechend hängt die Durchsetzung der Grundrechte ganz zentral mit der Prüfung der Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Grundrechtsverbürgungen zusammen. Durchsetzung von Grundrechten wird aber in concreto von der Vollziehung erwartet – vom entsprechenden verwaltungsbehördlichen Verhalten bei einer Vereinsanmeldung oder Versammlungsauflösung, bei einer Konzessionserteilung oder bei einem Eigentumseingriff, aber auch vom Verhalten bei der privatrechtsförmigen Vergabe öffentlicher Aufträge oder der Zuerkennung einer Förderung oder – um den Drittwirkungsbereich anzusprechen – von der Beurteilung einer die Meinungsäußerungsfreiheit beeinträchtigenden Kündigungsklausel in einem Arbeitsvertrag, von der Beurteilung der Relevanz der Meinungsäußerungsfreiheit für die Zuerkennung eines Schadenersatzes wegen Ehrverletzung oder von der Beurteilung der Bedeutung der Kunstfreiheit in einer Streitigkeit zwischen einem Theaterdirektor und einem Regisseur oder einem Regisseur und einer Sängerin. Die Durchsetzung der Grundrechtspositionen liegt in allen derartigen Fällen – und zwar sowohl gegenüber der Vollziehung, wie auch gegenüber dem Gesetzgeber bei den Gerichten. Dieser gerichtliche Grundrechtsschutz ist in unseren beiden Ländern durchaus unterschiedlich organisiert. Ich will das nicht im Detail nachzeichnen, aber auf zwei Besonderheiten des österreichischen Systems und dessen Konsequenzen für die Grundrechtsdurchsetzung aufmerksam machen:

34 Siehe etwa Korinek, Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL, 39 (1981), S. 8 ff. (wieder abgedruckt in Korinek [FN 8], S. 243 ff.). 35 Vgl. etwa Machacek, Supranationaler Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung – Prävention und Reaktion, JRP 1993, S. 247. 36 Die österreichische Volksanwaltschaft dokumentiert dies seit dem Jahr 2001 auch in ihrem jährlichen Bericht an den Nationalrat.

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Karl Korinek 2. Besonderheiten des österreichischen Systems

a) Im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit einschließlich der Arbeitsund Sozialgerichtsbarkeit gibt es in Österreich keine Verfassungsbeschwerde. Das bedeutet, daß über behauptete Grundrechtsverletzungen – etwa in den von mir genannten Beispielen der Fiskalgeltung und der Drittwirkung der Grundrechte – die ordentlichen Gerichte zu entscheiden haben: Wenn diese Gerichte Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder der Rechtmäßigkeit einer Verordnung haben, haben sie im Zuge eines Vorlageverfahrens die Frage der Verfassungswidrigkeit dem Verfassungsgerichtshof vorzulegen und die Aufhebung der von ihnen als verfassungswidrig erachteten Bestimmungen zu beantragen. Tun sie das nicht, passiert – innerstaatlich gesehen – auch nichts; lediglich der Weg nach Straßburg steht dem Betroffenen dann offen. Liegt die behauptete Grundrechtsverletzung im Vollzugsbereich – dabei geht es sowohl um Fragen der grundrechtskonformen Interpretation als auch darum, ob Grundrechtsaspekte bei der Gesetzesanwendung ausreichend berücksichtigt werden –, so ist nicht einmal ein Vorlageverfahren vorgesehen: Die ordentlichen Gerichte entscheiden über die behaupteten Grundrechtsverletzungen selbst, und ihre Entscheidungen sind innerstaatlich durch das Verfassungsgericht nicht nachprüfbar; sie sind zur Grundrechtsdurchsetzung in diesen Bereichen berufen. In der Praxis ist mit diesem System vor allem das Problem verbunden, daß von den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Regelfall der Aufgabe der Grundrechtsdurchsetzung nicht das ausreichende Augenmerk zugewendet wird. Es fehlt diesen Gerichten häufig die notwendige grundrechtliche Sensibilität, was beispielsweise dazu führt, daß Aufhebungsanträge an den Verfassungsgerichtshof nur selten gestellt werden37. Das Dilemma ist bekannt38: Dort, wo die Normenkontrolle nach dem Vorlagesystem eingerichtet ist, ist die Effizienz mangels Sanktion der Nichtvorlage eingeschränkt; dort, wo es zu einer nachträglichen Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen durch das Verfassungsgericht kommt, sind Konflikte zwischen den Fachgerichten und dem Verfassungsgericht vorprogrammiert39. Eine weitere Folge der geringen Sensibilität der Gerichte für Grundrechtsfragen ist, daß es relativ oft Grundrechtsbeschwerden gegen Entscheidungen der Zivil- und Strafgerichte an den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof gibt. Denn die Gerichte unterlassen nicht selten die

37 Die Parteien gerichtlicher Verfahren haben bloß die Möglichkeit, Vorlagen an den VfGH anzuregen; ein (subsidiäres) Antragsrecht steht ihnen aber nicht zu. 38 Vgl. dazu Korinek, Für eine umfassende Reform der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, in: FS Friedrich Koja, 1998, S. 289 (294 f.) (wieder abgedruckt in Korinek [FN 8], S. 323 [328 f.]). 39 Vgl. dazu den Beitrag von Papier in diesem Band.

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ausreichende Berücksichtigung von Grundrechtsaspekten bei der Gesetzesanwendung. In der verfassungspolitischen Diskussion wird im Interesse der Steigerung der Effizienz des Grundrechtsschutzes in diesem Bereich immer wieder ein subsidiäres Antragsrecht der Parteien erwogen; man strebt daher freilich weniger eine Verfassungsbeschwerde nach deutschem Muster an, als vielmehr die Möglichkeit, daß nach einem höchstgerichtlichen Urteil der Antrag an den Verfassungsgerichtshof gestellt werden können soll, zu entscheiden, ob das Urteil des Gerichts auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruht40. Im Falle der Stattgabe eines solchen Aufhebungsantrags käme es nach diesen Vorstellungen zur Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens. b) Die zweite Besonderheit liegt im System der Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen. Diese ist in Österreich nicht wie in Deutschland bei den Verwaltungsgerichten konzentriert, sondern anders aufgebaut. Bei uns führt der Instanzenzug in der Regel zu den Obersten Organen der (Bundes- oder Landes-) Verwaltung, das ist in der Regel ein Mitglied der Bundes- oder Landesregierung. Nur in Ausnahmefällen geht der Instanzenzug an unabhängige letztinstanzliche kollegiale Verwaltungsbehörden – insb. in Verwaltungsstrafsachen und Asylsachen. Dann gibt es noch einen dritten Typ: Teilweise sind Entscheidungen oder Verfügungen von Verwaltungsorganen vor Sonderbehörden anfechtbar, die formal als Verwaltungsbehörden organisiert, aber weisungsfrei gestellt und daher als Tribunale im Sinne des Art. 6 EMRK (und auch als Gerichte im Sinne des Art. 234 EGV) anzusehen sind; der Sache nach sind das Verwaltungsbehörden mit sonderverwaltungsgerichtlichen Aufgaben. In allen drei genannten Fällen können die Entscheidungen beim Verfassungsgerichtshof bekämpft werden; die Grundrechtsdurchsetzung liegt daher bei der Kontrolle der Verwaltung stets beim Verfassungsgerichtshof. Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist also – und das unterscheidet unser System der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts vom System der meisten anderen Staaten vergleichbaren rechtsstaatlichen Niveaus – nicht das Urteil eines Verwaltungsgerichts, sondern der Bescheid des jeweils zuständigen höchstinstanzlichen Verwaltungsorgans. Gegen derartige letztinstanzliche Bescheide kann in der Regel auch der Verwaltungsgerichtshof angerufen werden, entweder gleichzeitig oder auch – und das ist in der Praxis der Regelfall – im Anschluß an die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs.

40 Vgl. zusammenfassend Korinek, Überlegungen zu einer Reform der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, in: Holoubek/Lang (Hg.), Das verwaltungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 1999, S. 413 (423 ff.).

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Der Verfassungsgerichtshof ist bei seiner Kontrolle der letztinstanzlichen Verwaltungsakte zur Prüfung der Verfassungsfrage berufen, also der Frage, ob der Beschwerdeführer durch den bekämpften Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt wurde41. Stellt sich heraus, daß eine derartige Verletzung nicht stattgefunden hat, oder lehnt der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab42, so ist die Beschwerde über Antrag des Beschwerdeführers dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten43, der nach der verfassungsgerichtlichen „Grobprüfung“ die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids zu prüfen hat. Für die Durchsetzung der Grundrechte – also im Blickwinkel der uns hier interessierenden Frage – bringt dieses System keine besonderen Probleme, sieht man davon ab, daß durch die regelmäßige „Vorschaltung“ der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Anfall beim Verfassungsgerichtshof sehr groß ist, so daß die Intensität der Grundrechtsprüfung naturgemäß zurückgedrängt wird44. Aber der Verfassungsgerichtshof ist in der Lage, sowohl Grundrechtsverletzungen, die er im Gesetz ortet – indem er aus Anlaß eines Beschwerdeverfahrens ein Gesetzesprüfungsverfahren einleitet – als auch Grundrechtsverletzungen, die der Vollziehung anzulasten sind, festzustellen. 3. Problem des Grundrechtsschutzes im Bereich des Gemeinschaftsrechts

Abschließend möchte ich unter dem Aspekt der Grundrechtsdurchsetzung noch einige Bemerkungen zum Problemkreis des Grundrechtsschutzes beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch mitgliedsstaatliche Organe machen: In 41

Art. 144 Abs. 1 B-VG. Dies ist nach Art. 144 Abs. 2 B-VG zulässig, wenn die Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (etwa weil bereits eine einschlägige Vorjudikatur die Aussichtslosigkeit erweist) oder wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist, also keine spezifisch verfassungsrechtlichen Überlegungen zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen erforderlich sind. Stets ist eine Ablehnung aber unzulässig, wenn es sich um Fälle handelt, die von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgenommen sind; dies trifft relativ häufig bei den oben genannten unabhängigen kollegialen Verwaltungsbehörden mit sonderverwaltungsgerichtlichen Aufgaben zu (vgl. Art. 133 Z 4 B-VG; dazu Grabenwarter, Art. 133 B-VG, in: Korinek/Holoubek [Hg.], Bundesverfassungsrecht, 1999, RN 36 ff.). 43 Art. 144 Abs. 3 B-VG. 44 Neben dem Massenproblem bringt die Konstruktion auch gemeinschaftsrechtliche Probleme mit sich, da Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in der Regel erst bei der Rechtsmäßigkeitskontrolle, nicht aber bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle relevant werden, so daß erst der Verwaltungsgerichtshof Fragen der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation oder des Anwendungsvorrangs wahrnehmen kann und auch (erst) dieser Gerichtshof in die Lage kommt, Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten, was der Effektivität des Gemeinschaftsrechts natürlich Abbruch tut. 42

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Österreich hat sich die Theorie der doppelten Bedingtheit des Gesetzesrechtes durchgesetzt: Gesetze müssen sowohl den Vorgaben des Verfassungsrechts als auch den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts entsprechen. Es ist in Lehre und Rechtsprechung unbestritten, daß der Gesetzgeber bei Ausführung von Gemeinschaftsrecht jedenfalls insofern an bundesverfassungsgesetzliche Vorgaben gebunden bleibt, als eine Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben durch diese nicht inhibiert wird. Der Gesetzgeber unterliegt in diesen Fällen also einer doppelten Bindung45. Angesichts dessen ist die Grundrechtsdurchsetzung auch im gemeinschaftsrechtlich relevanten Bereich dann weitgehend gesichert, wenn der nationale Gesetzgeber Gemeinschaftsrecht in gemeinschaftsrechtskonformer Weise umgesetzt hat. Dann können nämlich die Grundrechte von den nationalen Gerichten in gleicher Weise durchgesetzt werden wie vorhin dargestellt, also entweder durch die ordentlichen Gerichte oder durch den Verfassungsgerichtshof, und die Kontrolle erstreckt sich sowohl auf die Überprüfung der Übereinstimmung der Gesetze mit den grundrechtlichen Vorgaben wie auch auf die Vollziehung. Neben diesem im Hinblick auf die Grundrechtsdurchsetzung unproblematischen Bereich sehe ich allerdings auch einige problematische Bereiche; vier davon möchte ich ansprechen: a) Zunächst ist der Fall zu bedenken, in dem sich die behördliche Entscheidung nicht auf eine mitgliedsstaatliche Rechtsvorschrift, sondern eine unmittelbar anwendbare gemeinschaftsrechtliche Vorschrift stützen muß, sei es, daß eine Umsetzung gar nicht, sei es, daß sie fehlerhaft erfolgt ist, so daß den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften Anwendungsvorrang zukommt. In diesem Fall ist der Grundrechtsschutz durch die nationalen Gerichte unterlaufen. Sie können weder die Gemeinschaftsrechtsvorschrift überprüfen, noch eine bestimmte grundrechtskonforme Auslegung verlangen oder eine grundrechtswidrige Anwendung verwerfen. Allenfalls können sie, wenn sie Bedenken gegen die Grundrechtskonformität der Richtlinienbestimmung oder der Anwendung haben, sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH wenden, der aber nicht die nationale Grundrechtsordnung zum Prüfungsmaßstab nehmen kann, sondern bloß die gemeinsamen Grundrechtstraditionen der Mitgliedsstaaten46; wir wissen aus der Praxis, daß dieser Maßstab ein wesentlich gröberer ist als der Maßstab, den die nationalen Verfassungsgerichte anlegen und auch ein

45 Vgl. statt aller Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 22001, S. 101 ff. und aus der Judikatur etwa VfSlg 15.106/1998. 46 Vgl. aus der reichen Literatur etwa Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S. 16 ff.; Hengstschläger, Grundrechtsschutz kraft EURechts, JBl 2000, S. 409 (m. w. H.) sowie jüngst Neisser/Verschraegen, Die Europäische Union, 2001, S. 251 ff.

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gröberer, als jener Maßstab, den der EGMR anlegt. Ich darf beispielsweise nur auf den Eigentumsschutz verweisen47. b) Wenn eine nationale Gesetzesvorschrift nicht unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht widerspricht, funktioniert hingegen der Grundrechtsschutz; die nationale gesetzliche Regelung ist anzuwenden, der Vollzugsakt und das Gesetz können auf ihre Grundrechtskonformität geprüft werden48. c) Weiters ist folgende Konstellation zu bedenken, die sich aus der doppelten Bindung mitgliedstaatlichen Rechts ergeben kann; Nehmen sie an, eine innerstaatliche Gesetzesvorschrift ist grundrechtskonform, wird aber zwar gemeinschaftsrechtskonform, aber grundrechtswidrig ausgelegt. Hier kann das für die Grundrechtsdurchsetzung zuständige innerstaatliche Organ nicht ohne weiteres eine grundrechtskonforme Auslegung durchsetzen; es muß vielmehr prüfen, ob auch die grundrechtskonforme Rechtsanwendung gemeinschaftsrechtskonform ist. Auch das kann unter Umständen ein Vorabentscheidungsverfahren erforderlich machen und das Ergebnis eines solchen Verfahrens kann der innerstaatlichen Grundrechtsdurchsetzung im Wege stehen. d) Auch ist es denkbar, daß ein eine Gemeinschaftsrechtsvorschrift korrekt umsetzendes nationales Gesetz seinerseits gegen die grundrechtlichen Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts verstößt. Eine solche Vorschrift ist jedenfalls als verfassungswidrig zu beheben, wenn es auch eine grundrechtskonforme Umsetzungsmöglichkeit gibt49. Was aber dann der Fall sein soll, wenn die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift selbst in der Weise gegen die Grundrechte verstößt, daß sie nur eine grundrechtswidrige Umsetzung ermöglicht, ist in der österreichischen Dogmatik umstritten. Ich möchte die beiden vertretenen Auffassungen schlagwortartig mit den Begriffen „Vorranglösung“ und „Bindungslösung“ ansprechen. aa) Die „Vorranglösung“ vertreten jene, die meinen, in der beschriebenen Konstellation schlage der Vorrang des Gemeinschaftsrechts durch50, so daß staatliche Rechtsakte, soweit sie gemeinschaftsrechtlich determiniert sind, der Prüfung am Maßstab der österreichischen Grundrechtsordnung entzogen sind. Wenn also das Gemeinschaftsrecht keinen Spielraum für eine grundrechtskonforme Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber läßt, würden insofern die Grundrechte eben unanwendbar. In Frage käme aber ein Vorabentscheidungser47

Vgl. etwa Grabenwarter, in: Bonner Kommentar, 2001, Anh. Art. 14 GG. Die Frage der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit kann in solchen Fällen höchstens über ein Staatshaftungsverfahren releviert werden. 49 Vgl. oben bei FN 45. 50 Vgl. etwa Holzinger, Zu den Auswirkungen der österreichischen EU-Mitgliedschaft auf das Rechtsschutzsystem der Bundesverfassung, in: FS Günther Winkler, 1997, S. 351 (355); Öhlinger, EU-Beitritts-BVG, in: Korinek/Holoubek (Hg.), Bundesverfassungsrecht, 1999, RN 77 f.; Öhlinger/Potacs (FN 45), S. 102 f. 48

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suchen, in dem die Grundrechtskonformität der Gemeinschaftsrechtsvorschrift auf den Prüfstand des EuGH zu stellen wäre. bb) Die Gegenposition51 geht vom Gedanken der doppelten Bindung des mitgliedstaatlichen Gesetzesrechts aus: Auch Gesetze, die Gemeinschaftsrecht umsetzen, müssen nach dieser Ansicht stets der Verfassung entsprechen. Dementsprechend wäre ein Gesetz, das eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift grundrechtswidrig umgesetzt hat, immer als verfassungswidrig aufzuheben, also unabhängig davon, ob das Gemeinschaftsrecht Spielraum für verschiedene Arten der Umsetzung offen läßt. Nach einer Aufhebung wäre der Gesetzgeber gefordert zu überlegen, ob eine grundrechtskonforme Regelung möglich ist, die den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts entspricht; findet er eine solche Möglichkeit nicht, so wäre er gehalten, die Umsetzung im Range von Bundesverfassungsrecht vorzunehmen52. Es ist also resümierend festzuhalten, daß es durch das Zusammenspiel von nationalem Recht und Verfassungsrecht doch eine Reihe von Konstellationen geben kann, in denen die Durchsetzung der Grundrechte inhibiert wird. Die praktische Relevanz dieser Konstellationen ist jedoch bislang klein geblieben.

51 Korinek, Fragen des Gemeinschaftsrechts in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, in: ÖJK (Hg.), Österreich als Mitglied der Europäischen Union, 1999, S. 53 (61 f.) (wieder abgedruckt in Karl Korinek [FN 8], S. 303 [311 f.]); Vcelouch, Auswirkungen der österreichischen Unionsmitgliedschaft auf den Rechtsschutz vor dem VwGH und dem VfGH, ÖJZ 1997, S. 721 (724); Baumgartner, Der Rang des Gemeinschaftsrechts im Stufenbau der Rechtsordnung, JRP 2000, S. 84 (89). 52 Die Lösung ist in Österreich deshalb nicht unpraktikabel, weil es in der österreichischen Verfassung kein Inkorporationsgebot gibt und das österreichische Bundesverfassungsrecht sehr leicht abänderbar ist.

Diskussion im Anschluß an den Vortrag von Karl Korinek Leitung: Ludwig Adamovich Von Daniela Scheidt Im Anschluß an das Referat von Karl Korinek kam Evelyn Haas, Richterin am Bundesverfassungsgericht, in ihrem Beitrag auf die von Korinek vorgeschlagene Lösung der Frage nach der Umsetzung verfassungswidriger europäischer Richtlinien zu sprechen. Sie stellte zur Diskussion, daß man im Hinblick auf die Möglichkeiten, welche die österreichische Verfassung böte, in diesen Fällen die Umsetzung der Richtlinie mit verfassungsändernder Mehrheit vornehmen könne. Angenommen, man fände eine solche Mehrheit nicht, ergäbe sich die Situation, daß eine Richtlinie vorhanden sei, welche die Umsetzung erfordere, was aber dem nationalen Gesetzgeber wegen des verfassungswidrigen Inhalts der Richtlinie nicht möglich sei. Trotzdem sei man gegenüber Europa in der Pflicht und fragte deshalb, wie dieser Konfliktfall zu lösen wäre. Korinek antwortete, dies sei kein qualitativ anderes Problem als dasjenige bei der Notwendigkeit einer einfachen Mehrheit. Die könne in einer bestimmten Situation auch nicht findbar sein. Es sei und bleibe die Pflicht des Staates, mit einer Mehrheit zu agieren, unabhängig davon, ob er sie finde oder nicht. Dahinter stehe letztlich ein Vertragsverletzungsverfahren. Univ.-Prof. Dr. Hans H. Klein, Bundesverfassungsrichter a. D., merkte zum Gliederungspunkt 4 des ersten Teils des Vortrags von Korinek an, daß hier Probleme angesprochen seien, die allen Teilnehmern aus der grundrechtsdogmatischen Diskussion der letzten Jahrzehnte geläufig seien und in Deutschland – wenn auch vielleicht nicht in dogmatisch unstreitiger Weise – jedenfalls im Ergebnis als gelöst erschienen. Der einzige offene und streitige Punkt unter den hier genannten sei die Frage nach der Fiskalgeltung der Grundrechte und ob hiervon auch die fiskalischen Hilfsgeschäfte erfaßt wären? Anschließend leitete Klein zum zweiten Teil der Ausführungen von Korinek über. Habe man es mit einer Richtlinie zu tun, die der Umsetzung in nationales Recht bedürfe und durch den nationalen Gesetzgeber – was häufig vorkomme – ohne Spielraum zu eigener Entscheidung umgesetzt werde, dann sei dieses Produkt des deutschen Gesetzgebers ausschließlich am Gemeinschaftsrecht und den dort gewährleisteten Grundrechten zu messen, es sei denn, das Ergebnis dieser Prüfung ergäbe, daß das ge-

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meinschaftsrechtlich gewährleistete Schutzniveau in einem nicht mehr hinnehmbaren Ausmaß hinter dem deutschen zurückbliebe (so mittlerweile auch in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG geregelt). Er vertrat die Ansicht, daß insoweit eine sowohl relativ klare, als auch – vor allem für den Grundrechtsträger in Deutschland – gewöhnungsbedürftige Rechtslage bestehe. Sehr viel schwieriger werde es, wenn die Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber Spielraum zu eigener Entscheidung lasse. Dann werde das Produkt des deutschen Gesetzgebers nicht nur an Gemeinschaftsgrundrechten, sondern soweit er von seinem eigenen Entscheidungsspielraum Gebrauch mache, auch an der nationalen Grundrechtsordnung zu messen sein. Dieses „Spiel“ (so Klein) könne man fortsetzen; es wiederhole sich bei der Exekutive und bei den Gerichten. Nach seiner Ansicht würden hier ungeheure Anforderungen an den Rechtsanwender gestellt. Vor allem sei der Grundrechtsträger selbst oftmals nachhaltig verwirrt, da er nie genau wisse oder dies nur sehr schwer vorläufig ermitteln könne, in welchem Umfang die nationale Grundrechtsordnung noch gelte. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts a. D., setzte bei der in Österreich fehlenden Verfassungsbeschwerde an. Dies führe dazu, daß die ordentlichen Gerichte in Österreich die letzten Instanzen seien, um den Grundrechtsschutz im Einzelfall zu gewährleisten. Konkret ging sie auf die im Vortrag von Korinek angesprochene fehlende Sensibilität der ordentlichen Gerichte für Grundrechtsfragen ein. Frau Limbach erinnerte an ein gemeinsames Gespräch vor ca. ein oder zwei Jahren in Salzburg, in dem man sich darüber Gedanken gemacht habe, ob nicht ein Gericht nach dem Modell des US-Supreme Court beispielhaft sei, d.h. ein oberstes Gericht, das gleichzeitig fachgerichtliche und verfassungsgerichtliche Fragen entscheide. Man habe sich schon damals der Frage zugewandt, worin eigentlich der besondere Vorzug einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit liege. Frau Limbach betonte, daß der besondere Vorzug einer eigenständigen Gerichtsbarkeit eben in deren Eigenständigkeit liege. Da bestehe eine besondere Sensibilität für Grundrechtsfragen. Bezogen auf Straßburg und die auch von Haas zu Recht (so Frau Limbach) dargestellte Überbelastung dort, die zu immer längerer Verfahrensdauer führe (was angesichts der Tatsache, daß die Akten dort in über 30 Sprachen zu übersetzen seien, viel leichter entschuldbar sei als beim Bundesverfassungsgericht), müsse dieses Gericht entlastet werden. Eine Entlastung könne nur durch Vorarbeit der nationalen Verfassungsgerichte erfolgen, damit die Bürger nicht in hoher Zahl den Weg von den ordentlichen Gerichten nach Straßburg wählten. Denn dieses Gericht brauche sicherlich mehr Aufmerksamkeit für die jungen, die werdenden Demokratien als für eine so gestandene wie die österreichische. Österreich müsse deshalb darüber nachdenken, die Verfassungsbeschwerde einzuführen. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Magiera nahm im Anschluß hieran zu zwei Bemerkungen von Korinek Stellung: Der Vortrag von Korinek habe gezeigt, daß die

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Grundrechtsproblematik heute besonders auf die Drittwirkung bezogen und deswegen stets ein Ausgleich von Grundrechtspositionen erforderlich sei. Er bedauerte, daß diese Erkenntnis leider noch nicht zum Allgemeingut geworden sei. In der Öffentlichkeit fordere man mehr Grundrechte in der Vorstellung, daß allein eine größere Anzahl von Grundrechten auch einen besseren Schutz für die Bürger bedeute. Magiera meinte, dies sei besonders gut bei der Diskussion um die europäische Grundrechtecharta zu sehen gewesen. Er vertrat die Ansicht, man solle stärker betonen, daß es nicht um eine Maximierung von Grundrechtspositionen gehen könne, sondern um einen Ausgleich der Positionen zwischen den einzelnen. Desweiteren widersprach er der Auffassung Korineks, der Europäische Gerichtshof benutze sehr viel gröbere Maßstäbe, als die deutsche Verfassungsrechtsprechung. Zwar seien die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs manchmal sehr kurz; doch bemühten sich die Generalanwälte des Europäischen Gerichtshofs, dessen Rechtsprechung in einen Gesamtzusammenhang zu setzen. Die beiden sehr knappen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Bananenstreit und zum Streit über die Rückforderung staatlicher Beihilfen seien eine Bestätigung dafür gewesen, daß die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in diesem Bereich und mit diesem Vorwurf nicht richtig gesehen werde. Im Alcan-Streit habe der Europäische Gerichtshof – wenn man dies zusammen mit den Schlußanträgen der Generalanwälte sähe – sehr eingehend den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes u. ä. dargelegt. Prof. Dr. Karin Graßhof, Bundesverfassungsrichterin a. D., wies darauf hin, daß auch das BVerfG nur sehr wenige Vorlagen aus der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit bekäme. Viele Verfassungsbeschwerden dagegen kämen aus diesen Gerichtsbarkeiten. Abgesehen von den früheren Gleichberechtigungsregelungen habe das Bundesverfassungsgericht ihrer Erinnerung nach kein bürgerliches Recht als verfassungswidrig angesehen; vielmehr habe der Fehler immer in der Anwendung der Norm gelegen, die nicht berücksichtigt habe, daß Grundrechte dahin ausstrahlten. Als Beispiele gab Graßhof den Handelsvertreter- und den Bürgschaftsfall an, die Haftung der Jugendlichen und die Beurteilung von familienrechtlichen Unterhaltsregelungen. Dasselbe gelte auch für das Strafrecht; so seien alle Nötigungsentscheidungen des Gerichts einheitlich davon ausgegangen, der Fehler habe nicht in der Strafnorm, sondern in der Anwendung derselben gelegen. Wenn es in Österreich eine Verfassungsbeschwerde gäbe, dann gäbe es auch dort nur selten die Möglichkeit, die entsprechenden Gesetze für nichtig zu erklären. Im Hinblick auf eine Korrektur von Anwendungsfehlern äußerte sie Zweifel an einer angeblich dabei zu Tage tretenden – auch durch Frau Limbach betonten – fehlenden Sensibilität der Fachgerichte für die Maßgeblichkeit bzw. das Einwirken von Grundrechten. Die Fachgerichte fänden manchmal Ergebnisse, die auch zu einer als gerecht erscheinenden Entscheidung führen, die sich – wenn sie beim Bundesverfassungsgericht anhängig wä-

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ren – nur mit den Grundrechten entscheiden ließen. Graßhof erinnerte daran, daß im übrigen der Bundesgerichtshof (da habe sie eigene Erlebnisse) eher auf die Grundrechte zurückgreifen würde, wenn es nicht – um in der Redewendung des Bundesgerichtshofs zu bleiben – den „Schloßplatz“ gäbe. Sie habe häufig in der Beratung erlebt, daß es geheißen habe, man einige sich jetzt auf eine bestimmte Lösung; wenn dies verfassungsrechtlich zu beanstanden sein sollte, dann solle es eben „der Schloßplatz machen“. Wenn der Bundesgerichtshof davon ausgehen müßte, er sei die letzte Instanz auch für die Grundrechte, dann würde man – so Graßhof – „auch noch andere Gesichtspunkte mit hereinbringen“. Manchmal frage man sich, wieso der Bundesgerichtshof nicht auch unter dem Blickwinkel der Grundrechte geurteilt habe. Doch verband Graßhof die angeblich fehlende Sensibilität im Ausklang ihres Beitrages mit einem kleinen Fragezeichen. Nunmehr wollte em. Univ.-Prof. Dr. Willi Blümel wissen, wie im österreichischen System die Prozeßgrundrechte durchgesetzt werden können, z. B. bei der Verletzung des Grundsatz des rechtlichen Gehörs in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Zu Graßhof gewandt erwiderte Korinek auf zwei Punkte: Bei der Frage der Sensibilität ginge es nicht um Anträge auf Aufhebung, sondern häufig um Fragen der verfassungskonformen Anwendung des angefochtenen Gesetzes. In der österreichischen Realität sei die Höchstfunktion des Obersten Gerichtshofes in der Auslegung der Verträge und in der Anwendung des Zivil- und Strafrechts so fest verankert, daß die Einführung einer umfassenden Verfassungsbeschwerde „völlig unrealistisch“ wäre. Eine andere Bemerkung – und damit wandte sich Korinek zugleich an Blümel – betraf die Frage nach der Einhaltung der Prozeßgrundrechte. Jene würden genauso gewährleistet wie alle anderen Grundrechte, d.h. im Bereich des Zivil- und Strafrechts nicht durch den Verfassungsgerichtshof, sondern nur durch die ordentlichen Gerichte; nähmen die ordentlichen Gerichte diese Aufgabe wahr, sei es gut, wenn sie es nicht täten, sei es schlecht. Manch einer ginge dann nach Straßburg und mancher ließe „es sich halt gefallen“. Der zweite Punkt, in welchem er Graßhof antwortete, bezog sich auf den von ihr vorgenommenen Vergleich zwischen dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht („Schloßplatz“). Korinek äußerte Zweifel, ob die Haltung des Bundesgerichtshofs, in den Fällen der Entscheidungserheblichkeit bzw. des Einwirkens von Grundrechten die Letztentscheidung dem Bundesverfassungsgericht zu überlassen, in dieser Form auf Österreich übertragbar sei. Diese Haltung sei nur im Hinblick auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde verständlich. Gäbe es eine solche nicht und könnte man nicht von einem Bundesgericht zum Bundesverfassungsgericht gehen, sei eine völlig andere Situation gegeben. Korinek gestand zu, auf einem Symposium zu Ehren von Klein die Position vertreten zu haben, daß ein reines Vorlageverfahren zur Sicherung „irgendwelcher“ Positionen – unabhängig davon, ob es sich um inter-

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nationales oder Verfassungsrecht handele – nicht ausreiche, wenn es nicht die subsidiäre Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gäbe. Dies sei auch der Grund, weshalb der Europäische Gerichtshof zunächst einmal die „Unmittelbaranwendbarkeitsjudikatur“ und später dann die Staatshaftungsjudikatur entwikkelt habe. Beim Verfassungsgericht nur auf Vorlagen abzustellen hieße, sich weitgehend dem guten Willen auszuliefern. Zur Frage Kleins machte er zwei Anmerkungen: Er bezog sich zunächst darauf, ob die Frage der Grundrechts- bzw. Ausstrahlungswirkungen gelöst sei. Er habe versucht, als Gast in Deutschland sehr vorsichtig zu formulieren und nur die österreichische Grundrechtsdogmatik zu kritisieren. Allerdings habe er „ein bißchen den Eindruck“, daß man sich auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik mitunter mit der strukturtheoretischen Antwort zufrieden gäbe. Es sei noch längst nicht gesichert, welche konkreten Wirkungen ein ganz bestimmtes Grundrecht (eine Untersuchung der einzelnen Grundrechte vorausgesetzt) in seiner Dimension auf die Tätigkeit eines ausgegliederten Rechtsträgers, der öffentliche Aufgaben besorge, oder in bezug auf die Fiskalgeltung oder in seiner Wirkung auf den Strafrechtsgesetzgeber besäße. Zu den beiden von Klein genannten Beispielen der Richtlinienumsetzung erwiderte Korinek folgendes: Daß es bei den Richtlinien ohne Spielraum unterschiedliche Positionen gäbe, habe er verdeutlicht. Im übrigen habe der Fall, daß der nationale Gesetzgeber Spielraum bei der Umsetzung einer Richtlinie besaß und diesen nutzte, das richtlinienumsetzende Gesetz jedoch dann angefochten und mangels Verfassungskonformität vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde, in Österreich schon mehrfach eine Rolle gespielt. Die letzten beiden Bemerkungen galten Magiera: Dessen erste Aussage, die sich auf das Niveau der Judikatur in Luxemburg bezog, erkenne er als zutreffend an. Korinek resümierte, daß er vielleicht von Teilbereichen sprechen sollte, in denen die Judikatur noch nicht mit derjenigen der nationalen Verfassungsgerichte beider Länder vergleichbar sei. Hinsichtlich des Eigentumsschutzes sei die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Gunsten einer Vertretbarkeitsprüfung unglaublich weit zurückgedrängt. In zwei oder drei Fällen habe der Europäische Gerichtshof ein Verhalten bzw. eine Norm als richtlinienkonform und primärrechtskonform bestätigt, sie jedoch wegen Widerspruchs zu Art. 6 EMRK aufgehoben. Der Europäische Gerichtshof sei also nicht „weiter gegangen als ,Straßburg‘“, hätte damit nur „Straßburg“ angewandt. Bei den Grundrechten auf ein faires Verfahren könne er aufgrund zweier konkreter Entscheidungen sagen, daß das Niveau einfach niedriger sei; doch nähme er seine generelle Aussage zu dem in Europa prinzipiell noch unterentwickelten Prüfungsniveau zurück.

Verzeichnis der Referenten Evelyn Haas Michael Holoubek Hans Hugo Klein Karl Korinek Detlef Merten Hans-Jürgen Papier Heinz Schäffer Wassilios Skouris