Verdi und Wagner: Kulturen der Oper 9783412216665, 9783412222499


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Verdi und Wagner: Kulturen der Oper
 9783412216665, 9783412222499

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Verdi und Wagner

Kulturen der Oper

Herausgegeben von Arnold Jacobshagen

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von Volkswagen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelcollage nach dem Gemälde von Giovanni Boldini (Verdi) und der Fotografie von Franz Hanfstaengl (Wagner), Zeichnung Adrien Marie © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22249-9

Inhalt Vorwort  ................................................................................................ 7

Kontexte Albert Gier

Mythos und Kolportage Verdi, Wagner und die (Welt-)Literatur  ........................................ 11 Martin Fischer-Dieskau

Verdi und Wagner – Dirigenten wider Willen?  ........................... 34 Michael Walter

Verdi, Wagner und die Politik  ......................................................... 55 Jean-François Candoni

Verdi, Wagner und die französische Grand Opéra  ..................... 93 Johannes Schild

Heitere Spätblüte: Falstaff und Meistersinger gegenübergestellt  ............................................................................. 112 Wolfram Breuer

Zeitabläufe und „musikalische Zeit“ bei Verdi und Wagner  .... 150

Rezeption Arnold Jacobshagen

Konstanten und Konjunkturen Verdi, Wagner und die Deutschen  ................................................. 191 Rainer Nonnenmann

Tabu und Faszinosum Wagner und Verdi in der neuen Musik  ......................................... 211 Jürgen Maehder

Wagner-Forschung versus Verdi-Forschung Anmerkungen zum unterschiedlichen Entwicklungsstand zweier musikwissenschaftlicher Teildisziplinen  ........................ 263

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Interpretation Thomas Seedorf

Heldentenor und Tenore di forza  ................................................... 295 Jens Malte Fischer

Wie Verdisänger Wagner und Wagnersänger Verdi singen  .... 306 Clemens Risi

Verdi und Wagner auf dem Theater  .............................................. 321

Anhang Uraufführungschronik der Opern Verdis und Wagners  ............ 335 Über die Autoren  ............................................................................... 337

Vorwort Giuseppe Verdi (1813–1901) und Richard Wagner (1813–1883) waren die bedeutendsten Opernkomponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Gegensätze zwischen beiden Künstlern, die einander persönlich nie begegnet sind, scheinen auf den ersten Blick unüberbrückbar: Verdi und Wagner verkörpern zwei unterschiedliche Kulturen des musikalischen Theaters. Dessen ungeachtet eröffnet der Vergleich ihrer Kompositionen, ihrer Ge­­ sangsästhetik oder ihrer internationalen Dirigententätigkeit eine Vielzahl ungewöhnlicher Perspektiven auf die Oper in ihrer Zeit. Gemeinsam ist beiden zudem, dass sie zu den führenden kulturellen Repräsentanten ihrer Nationen zählten, in einer Epoche, als Italien und Deutschland sich erstmals in ihrer Geschichte nationalstaatlich konstituierten. Die Bedeutung Verdis und Wagners reicht daher weit über das Gebiet der Musik hinaus. Ihr Verhältnis zur Politik, zur Literatur und zu den Zentren des europäischen Kulturbetriebs steht ebenso im Fokus dieses Buches wie die Rezeption beider Künstler bis in die Gegenwart hinein. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine zwölfteilige Ringvorlesung zurück, die anlässlich des 200. Geburtstags beider Komponisten im Frühjahr und Sommer 2013 im Kammermusiksaal der Hochschule für Musik und Tanz Köln unter der Leitung des Herausgebers stattfand. Es war die Absicht der Veranstaltungsreihe, in jedem einzelnen Vortrag beide Komponisten gleichberechtigt aus einer übergeordneten Perspektive in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise sollte ein Doppelporträt entstehen, das weniger auf Anekdotisches als vielmehr auf Grundsätzliches zielt. Für die Veröffentlichung wurden alle Vortragstexte grundlegend überarbeitet und zum Teil wesentlich erweitert. Der Dank des Herausgebers gilt vor allem den Autoren für ihre Beiträge und für die überaus produktive und angenehme Zusammenarbeit. Danken möchte ich auch dem Böhlau-Verlag und hier insbesondere Elena Mohr und Susanne Kummer für die sehr gewissenhafte und stets zuvorkommende verlegerische Betreuung. Nicht zuletzt danke ich Peter Büssers und Laura ­Zucchini für ihre administrative und redaktionelle Mitarbeit an diesem Projekt. Der Hochschule für Musik und Tanz Köln und ihrem Rektor Heinz Geuen danke ich für die repräsentative Ausrichtung der Ringvorlesung, der Oper Köln und ihrer Intendantin Birgit Meyer für die organisatorische und publizistische Unterstützung der Veranstaltungsreihe. Ein ganz besonderer Dank gilt Volkswagen als generösem Verdi- und Wagner-Sponsor, der die Buchveröffent­ lichung in der vorliegenden Form ermöglicht hat. Arnold Jacobshagen

Albert Gier

Mythos und Kolportage Verdi, Wagner und die (Welt-)Literatur Im Sommer 1869 empfing Wagner in Tribschen drei französische Wagnerianer, den Romancier und Journalisten Catulle Mendès, seine junge Frau Judith Gautier und den Schriftsteller Philippe-Auguste de l’Isle-Adam. Am 25. Juli notierte Cosima in ihrem Tagebuch: „Gespräch über Mendès; außerordentliche Menschen, sie eine Natur, er ein fein gebildeter Mensch, leider ist das französische Wesen wie eine Schranke, sie nennen Shakespeare und V. Hugo zugleich.“1 Am 8. Mai 1856 schrieb Giuseppe Verdi an Francesco Maria Piave, der ihm ein Drama Victor Hugos als Vorlage für ihre nächste Oper (es sollte dann Rigoletto werden) vorgeschlagen hatte: „Oh, Le Roi s’amuse ist der größte Stoff und vielleicht das größte Drama der neuen Zeit. Tribolet [so heißt der Hofnarr bei Victor Hugo] ist eine Schöpfung, die Shakespeares würdig wäre.“2 Vielleicht ist es doch ganz gut, dass Verdi nie in Bayreuth und Wagner nie in Sant’Agata zu Gast war: Sie hätten einander mit Sicherheit nicht verstanden. Die beiden Zitate spiegeln das Bild wieder, das sich die ältere Forschung von den beiden Komponisten machte und das populärwissenschaftliche Darstellungen bis heute fortschreiben: Auf der einen Seite Wagner, der Bildungsbürger und unersättliche Leser, der seine Klassiker kennt und in Philosophie, Religionswissenschaft, politischer Theorie und Geschichte zu Hause ist; auf der anderen Verdi, der Bauer aus Le Roncole, der sinnliche Instinktkünstler, dem „nichts zu grell, zu spektakulär und gegebenenfalls zu trivial war, wenn er sich Effekt davon versprach“,3 und für den Bildung und Gelehrsamkeit bloß hinderlich wären.4 Beide Sichtweisen gehen wesentlich auf die Komponisten selbst zurück: Während Wagner das Publikum in seinen Schriften, vor allem in der (postum veröffentlichten) Autobiographie Mein Leben, detailliert über seinen intellektuellen Werdegang informierte und im Übrigen durch die bei Autodidakten nicht seltene Neigung, sich zu allem und jedem zu äußern, die Breite seiner Interessen unter Beweis stellte, wollte Verdi nicht als Komponist und schon gar nicht als Intellektueller, sondern als Theaterpraktiker wahrgenommen werden und hielt sich mit öffentlichen Stellungnahmen sehr zurück. Richard Wagner stammt aus Leipzig, das Anfang des 19. Jahrhunderts über 30.000 Einwohner hatte, und besuchte die Kreuzschule in Dresden, das fast doppelt so groß war, Verdi wurde in dem Dörfchen Le Roncole geboren und besuchte das Gymnasium in Busseto, einer Kleinstadt, die noch heute knapp über 7.000 Einwohner hat. Dennoch war beider Bildungsgang recht

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ähnlich: In der Kreuzschule und später in der Leipziger Nikolaischule lernte Wagner Latein und Griechisch und begeisterte sich namentlich für die antike Mythologie;5 sehr tief scheint er in die alten Sprachen aber nicht eingedrungen zu sein, später las er die antiken Autoren stets in Übersetzungen.6 Daneben wurden jedenfalls Englisch7 und Französisch unterrichtet, aber vom Französisch-Unterricht hat Wagner eingestandenermaßen wenig profitiert.8 Die für sein eigenes Werk wichtigen Kenntnisse erwarb er nicht in der Schule, sondern durch unermüdliche, teils wahllose, gelegentlich auch systematische Lektüre, wie etwa bei der mittelalterlichen deutschen Literatur, die er gegen Ende seines ersten Parisaufenthalts (1839–1842) für sich entdeckte9 und während des „altgermanistischen Sommers 1845“10 eingehend studierte. Das Gymnasium in Busseto, das Verdi von 1823 bis 1827 besuchte,11 scheint in dieser Zeit beachtliches Niveau gehabt zu haben. Ob er Griechisch gelernt hat, ist nicht klar (obwohl sein Lehrer ein ausgewiesener Hellenist war12); im Lateinischen soll er es so weit gebracht haben, dass er Vergil, Cicero, Plinius und Juvenal lesen konnte.13 Auch Dante hat er sicher in der Schule kennengelernt.14 1896 schrieb Verdi, der Dichter der Divina Commedia sei „der größte von allen“, umfassender und vollständiger als Homer, die griechischen Tragiker, Shakespeare oder die Bibel, die doch ebenfalls groß und oft erhaben seien.15 Vielleicht dürfen wir diese Liste als Verdis persönlichen Kanon betrachten, der dann bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Reihe der „Unentbehrlichen“ hätte, auf die sich Wagner und Cosima am 4. Juni 1871 beim Abendessen verständigten: „Homer, Aischylos und Sophokles, das Symposion, Don Quijote, ganz Shakespeare, und Goethe’s Faust“16. Über Homer, die Tragiker, Shakespeare ist man sich einig (allerdings teilt das Ehepaar Wagner Nietzsches Abneigung gegen Euripides17). Für das italienische Weltgedicht setzt Wagner, der Dante kannte und schätzte,18 das deutsche – Goethes Faust – ein;19 Platos Symposion hätte Verdi vermutlich ebenso gelten lassen wie Wagner die poetischen Qualitäten der Bibel (vielleicht wäre ein gemeinsames Abendessen doch ganz harmonisch verlaufen). Dass Wagner, der zwar Witz hatte, aber völlig humorlos war,20 den Don Quijote so hoch schätzte, erstaunt aus mehreren Gründen; eine Affinität zu diesem Buch hätte man eher beim Komponisten des Falstaff vermutet. 1878 notiert Cosima21 „Lektüre für Fidi [den Sohn Siegfried, der damals neun Jahre alt war] später“, ihre Liste der „Geister ersten Ranges“ steht Verdis Kanon noch etwas näher: „Goethe, Schiller, Dante, Calderon [sic], Shake­speare, Homer, Aischylos, Sophokles“. Wie Wagner war auch Verdi ein großer Leser. 1868, als er mit dem Librettisten Antonio Ghislanzoni an der zweiten Fassung der Forza del destino arbeitete, war dieser auf Sant’Agata zu Gast; über die Lebensweise des Hausherrn berichtete er der interessierten Öffentlichkeit in einem Artikel, wo es heißt:

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„Er gönnt sich keinen Augenblick Ruhe. Um sich von der Musik auszuruhen, greift Verdi zur Dichtung; um die starken Empfindungen abzumildern, die die eine wie die andere erregt, flüchtet er sich zu Geschichte und Philosophie. Es gibt keinen Zweig des menschlichen Wissens, auf den sich sein unruhiger, nach Bildung verlangender Geist nicht mit Leidenschaft stürzt.“22 Wie Haus Wahnfried verfügt auch Verdis Gut Sant’Agata über eine reiche Bibliothek.23 Während aber der umfangreiche Katalog der Bayreuther Büchersammlung inzwischen im Internet zugänglich ist24 (das Inventar der Bibliothek, die der Komponist in den 1840er Jahren in Dresden aufbaute, war schon 1966 im Druck erschienen25), muss man wohl immer noch nach Italien fahren, um Verdis Bücherschätze kennenzulernen. Auch daran zeigt sich, wie unterschiedlich die Interessenlage der Wagner- und der Verdi-Forschung bis heute ist. Hinsichtlich der bevorzugten Autoren und des Lektüreverhaltens ist die Quellenlage für beide Komponisten gleichfalls sehr unterschiedlich. Über Wagners letzte Lebensjahre (1869 bis Februar 1883) geben die Tagebücher Cosimas26 detailliert Auskunft; auch die von Wagner gelesenen Bücher sind penibel verzeichnet. Vergleichbare Quellen gibt es für Verdi nicht; gelegentlich kommen seine literarischen Vorlieben in Briefen zur Sprache, und natürlich lässt auch die Wahl der Stoffvorlagen für seine Opern gewisse Rückschlüsse zu. Wagners Lesegewohnheiten in den siebziger und frühen achtziger Jahren lassen sich mit Sicherheit nicht auf frühere Lebensphasen übertragen, schon deshalb nicht, weil er erst in der Zeit, die Cosima dokumentiert, über ausreichende Geldmittel verfügte, um sich die Bücher zu kaufen, die er haben wollte. Dass er sich in den schwierigen Pariser Jahren (1839–1842) wohl vor allem mittels Zeitschriften, d.h. aus zweiter Hand, über künstlerische und intellektuelle Entwicklungen informierte,27 liegt auch daran, dass er sich teure Bücher nicht leisten konnte. In Tribschen und Bayreuth liest er verhältnismäßig viel französische Autoren,28 was offensichtlich auf den Einfluss Cosimas zurückzuführen ist; manches (auch deutsche Bücher) liest er mit ihr zusammen (es macht ihm Freude, ihr vorzulesen), wobei die Textauswahl natürlich ihren Kenntnissen und Interessen Rechnung trägt. Dabei hält er den Autoren die Treue, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet haben: Allgegenwärtig sind Shakespeare und Goethe, die übrigen „Unentbehrlichen“ Aischylos, Homer, Platon und Cervantes verliert er nie aus dem Blickfeld, wichtig sind ihm auch Schillers Dramen und E.T.A. Hoffmanns Erzählungen.29 Während Wagner dem zeitgenössischen Sprechtheater verhältnismäßig wenig Beachtung schenkt,30 ist er ein eifriger Romanleser; Walter Scott schätzt er von Jugend an, Balzac ist gar „der heimliche Herrscher in [seiner] Lektürewelt“. 31 Er liest auch Gottfried Keller, Turgenjew, Victor Hugo, Benjamin Disraeli und viele andere.32

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Es kommt also eine durchaus eindrucksvolle Liste zusammen. Auffällig ist allerdings, dass keines der genannten Bücher unmittelbaren Einfluss auf ein Bühnenwerk des reifen Wagner genommen hat. Nur in seinen ersten Opern, die sich an französischen und italienischen Modellen orientieren,33 ist das anders: Zweifellos wählte er eine Märchenkomödie Carlo Gozzis (La donna serpente, 1762) als Vorlage für Die Feen, weil er bei E.T.A. Hoffmann gelesen hatte, der „herrliche Gozzi“ habe „in seinen dramatischen Märchen das ganz erfüllt, was [...] von dem Operndichter“ zu verlangen sei, und es sei „unbegreiflich, wie diese reiche Fundgrube vortrefflicher Opernsujets bis jetzt nicht mehr benutzt worden ist“.34 Das Liebesverbot basiert auf Shakespeares Komödie Measure for Measure, Rienzi auf dem historischen Roman Rienzi: The Last of the Roman Tribuns (1835) von Edward Bulwer-Lytton,35 dessen Last Days of Pompeii ein halbes Dutzend mal verfilmt wurden und auch heute noch nicht völlig vergessen sind. Die Sage vom Fliegenden Holländer fand der Komponist im Fragment Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski (1834) von Heinrich Heine, der ihn entscheidend beeinflusste, was der Antisemit Wagner in späteren Jahren nicht mehr wahrhaben wollte.36 Heine, der die TannhäuserBallade aus Des Knaben Wunderhorn in seiner Schrift Elementargeister37 zitierte und parodierte, gab neben E.T.A. Hoffmann und Tieck auch die Anregung zum Tannhäuser. Wagner beschäftigte sich Anfang der vierziger Jahre in Paris mit diesem Stoff, wo ihm sein Freund Lehrs den mittelhochdeutschen Text des Wartburgkriegs beschaffte:38 Er fand sich in einem Zeitschriftenheft, das auch „ein kritisches Referat über das Gedicht von Lohengrin, und zwar mit ausführlicher Mitteilung des Hauptinhalts dieses breitschweifigen Epos“ enthielt: „Eine ganz neue Welt war mir hiermit aufgegangen.“39 In Frankreich entdeckt Wagner das deutsche Mittelalter, das ihm fortan den Stoff für alle seine musikdramatischen Werke liefert.40 Damit verändert sich sein Zugriff auf die Prätexte, und wohl auch sein Selbstverständnis als Dichterkomponist, radikal: Die Vorlagen von Gozzi, Shakespeare und Bulwer hat er mehr (Das Liebesverbot, Rienzi) oder weniger frei (Die Feen), aber durchaus im Rahmen des auf der Opernbühne Üblichen adaptiert. Dass er seine Texte selbst schrieb, war zunächst vielleicht weniger künstlerischen Erwägungen als den Schwierigkeiten geschuldet, denen sich ein Anfänger bei der Suche nach einem geeigneten Libretto gegenübersah;41 jedenfalls hätte der 23-jährige Wagner keine Bedenken gehabt, ein französisches Libretto zu vertonen, das ihm der große Eugène Scribe, zu jener Zeit – zwei Jahre nach der Première von Meyerbeers Huguenots – der unumschränkte Herrscher über die Pariser Bühnen, nach einer von dem unbekannten jungen Deutschen übersandten Skizze hätte schreiben sollen42 (was schon deshalb von bemerkenswertem Selbstbewusstsein zeugt, weil Wagner damals noch nicht französisch sprach); trotz seiner Unerfahrenheit dürfte ihm klar gewesen sein,

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dass, hätte Scribe sich wirklich der Sache angenommen, von seinem Konzept vermutlich kaum etwas übriggeblieben wäre, aber das schreckte ihn anscheinend nicht. Spätestens mit Lohengrin setzt der Prozess fortschreitender Entfernung von den Konventionen der Oper ein, der die vollkommene Einheit von Text und Musik notwendig macht. Dazu gehört auch, dass Wagner jeweils aus wenigen Elementen des Prätexts eine völlig neue Fabel konstruiert. Natürlich ließen sich die mittelalterlichen Großepen, das Nibelungenlied, Wolframs von Eschenbach Parzival oder Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde, nicht für die Opernbühne adaptieren wie ein Märchenspiel Gozzis; aber Wagner geht es um viel mehr als um den Unterschied zwischen narrativer und dramatischer Gestaltung. In einer langen Schimpftirade über Wolfram von Eschenbach („eine durchaus unreife Erscheinung“) schreibt er 1859 an Mathilde Wesendonk: „[...] man muß nur einen solchen Stoff aus den echten Zügen der Sage sich selbst so innig belebt haben, wie ich dies jetzt mit dieser Gralssage tat, und dann einmal schnell übersehen, wie so ein Dichter, wie Wolfram, sich dasselbe darstellte [...] um sogleich von der Unfähigkeit des Dichters abgestoßen zu werden. (Schon mit dem Gottfried von Straßburg ging mir’s in bezug auf Tristan so.)“43 Wagner unterscheidet zwischen der „Sage“ (oder dem Mythos) und der Fassung des (viel späteren) mittelalterlichen Dichters, die jener „Sage“ nicht gerecht wird: „Daß er [Wolfram] von dem eigentlichen Inhalte rein gar nichts verstanden, macht nichts aus. Er hängt Begebnis an Begebnis, Abenteuer an Abenteuer, gibt mit dem Gralsmotiv kuriose und seltsame Vorgänge und Bilder, tappt herum und läßt dem ernst gewordenen die Frage, was er denn eigentlich wollte? Worauf er antworten muß, ja, das weiß ich eigentlich selbst nicht mehr.“44 Nach heutigem Verständnis kann es den „eigentlichen Inhalt“ nicht geben, ein Mythos ist die Summe seiner Lesarten. Dass Wagner den mittelhochdeutschen Parzival (wie Gottfrieds Tristan oder das Nibelungenlied) nur als Steinbruch benutzt, erscheint vor diesem Hintergrund freilich erst recht legitim. Insofern ist es auch kein Wunder, dass er Wolfram in der Zeit, als er den Parsifal vorbereitete und ausführte,45 nach dem Zeugnis Cosimas nicht noch einmal las.46 Bei Verdi ist, was die Stoffwahl der Libretti betrifft, fast alles anders. Zunächst einmal schreibt er seine Bücher nicht selbst, sondern ist auf die Zusammenarbeit mit einem Textdichter angewiesen. Konnte sich ein Pietro Metastasio noch als der eigentliche Autor des dramma per musica betrachten, bei dem das Drama (das auch gedruckt vorlag) die Hauptsache und die Musik akzidentell sei,47 gelten Librettisten seit Beginn des 19. Jahrhunderts meist als verkrachte Existenzen, ignorante Stümper, als ein notwendiges Übel des

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Opernbetriebs.48 Giuseppe Verdi, das ist allgemein bekannt, hat seine Partner (mit Ausnahme Boitos) gegängelt und auf Stoffwahl und Ausführung der von ihm vertonten Libretti energisch Einfluss genommen. Bei seinen vier ersten, für Mailand komponierten Opern konnte er seine Vorstellungen sicher noch nicht durchsetzen,49 aber schon bei seinem Début am Teatro La Fenice in Venedig (1844) „lehnt [er] Hugos kompliziertes Lesedrama Cromwell (1827) und andere Projekte ab und besteht auf Ernani. Er skizziert nach Hugos Drama die theatralischen und musikalischen Strukturen und bittet Piave um die dafür notwendigen Verse.“50 Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass Hernani erstmals vom Grafen Mocenigo, dem Presidente agli Spettacoli del Teatro, als Stoffvorlage ins Spiel gebracht worden war,51 auf dessen Rückendeckung der Komponist somit zählen konnte. Fortan hatte bei der Wahl des Sujets im allgemeinen Verdi das letzte Wort, aber es gibt Ausnahmen: Bei seiner ersten Zusammenarbeit mit Salvadore Cammarano (1845) verließ er sich ganz auf den bereits berühmten Librettisten, der sich für Voltaires Tragödie Alzire entschied,52 auf die Verdi von selbst sicher nicht gekommen wäre. Für Anregungen seiner Librettisten war er auch sonst durchaus zugänglich: So wies ihn Piave auf das französische Melodram (oder dessen italienische Übersetzung) hin, aus dem dann Stiffelio (1850) werden sollte.53 Als er erstmals eine Oper für Paris zu komponieren hatte, vermochte Scribe ihn vom Sujet der Vêpres siciliennes (1855) zu überzeugen, nachdem Verdi andere Vorschläge des erfahrenen Librettisten abgelehnt hatte. 54 Zwölf Jahre später nannte ihm der Intendant der Pariser Oper drei Stoffe, von denen der Komponist Don Carlos auswählte.55 Zu Aida lieferte ihm der Auftraggeber (Ismail Pascha, der türkische Vizekönig von Ägypten) eine von dem Ägyptologen Auguste-Édouard Mariette verfasste detaillierte Handlungsskizze, von der der Komponist so angetan war, dass er daraufhin seinen Widerstand gegen das ungewöhnliche Projekt, eine Oper für Kairo zu schreiben, aufgab.56 Zwischen 1839 und 1893 hat Giuseppe Verdi insgesamt 26 Opernlibretti57 vertont (Wagners Karriere erstreckt sich von der Magdeburger Uraufführung des Liebesverbots 1836 bis zu Parsifal 1882). Er arbeitete mit rund einem Dutzend italienischer und französischer Librettisten58 zusammen. 1839, als Verdi mit Oberto debütierte, war Gasparo Spontini noch Generalmusikdirektor in Berlin, und Luigi Cherubini leitete das Konservatorium in Paris; seine letzte Oper Falstaff wurde am 9. Februar 1893, gut eine Woche nach Puccinis Manon Lescaut, uraufgeführt, 15 Monate später debütierte Richard Strauss mit Guntram als Opernkomponist. Giuseppe Verdis Vorlieben hinsichtlich der Auswahl seiner Opernsujets allerdings bleiben über dieses halbe Jahrhundert verhältnismäßig konstant:59 Im Gegensatz zu Wagner bevorzugt er dramatische Vorlagen, 19 seiner Opern basieren auf Schauspielen, drei auf älteren Libretti, nur

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zwei auf narrativen Texten. Davon hat Verdi Tommaso Grossis seinerzeit erfolgreiches Kreuzzugsepos I Lombardi alla prima crociata (1826) wohl nicht selbst als Vorlage für seine vierte Oper (1843) gewählt. Dagegen hat Lord Byron, dessen Verserzählung The Corsair (1814) Piaves Libretto zu Il corsaro (1848) zugrunde liegt, einen festen Platz im romantischen Pantheon des Komponisten. Fast drei Viertel der Libretti gehen auf Prätexte zurück, die zu Lebzeiten Verdis oder kurz davor entstanden sind. Dreimal adaptieren seine Textdichter Dramen des 17. Jahrhunderts  – es handelt sich um die drei ShakespeareOpern Macbeth, Othello und Falstaff, denen noch das nicht realisierte LearProjekt zuzurechnen wäre; Verdis Bewunderung für Shakespeare, den „Papà“ der dramatischen Dichtung, ist allgemein bekannt.60 Wir haben schon gesehen, dass es Salvadore Cammarano war, der Voltaires Tragödie Alzire (1736) zur Vorlage des ersten Librettos nahm, das er für Verdi schrieb. In der Zeit Cimarosas und Rossinis war Voltaire bei den italienischen Operndichtern ungemein beliebt, 1845 war Alzira bereits ein Anachronismus (zwischen 1781 und 1830 entstanden mehr als 70 italienische, französische und deutsche Opern nach Tragödien Voltaires, 1831 bis 1880 weniger als zehn61). Die einzigen noch im 18. Jahrhundert entstandenen Dichtungen, die Verdi selbst als Stoffvorlagen wählte, sind Dramen Schillers: Die Räuber (1781; I masnadieri, 1847), Kabale und Liebe (1783; Luisa Miller, 1849), Don Karlos, Infant von Spanien (1787; Don Carlos, 1867), denen noch die 1801 uraufgeführte Jungfrau von Orléans (Giovanna d’Arco, 1845) zuzurechnen wäre. Nun wird Schiller außerhalb Deutschlands gemeinhin eher als Romantiker denn als Klassiker rezipiert,62 insofern wären seine Dramen entgegen der Chronologie eher schon dem „langen“ 19. als dem 18. Jahrhundert zuzurechnen. 15 Prätexte zu Libretti Verdis, deutlich mehr als die Hälfte, entstanden zwischen 1800 und 1840. Seine romantischen Hausgötter sind neben Schiller Byron (der die Vorlagen zu Il corsaro und I due Foscari – Historical Tragedy of the Two Foscari, 1821 – lieferte), Victor Hugo (Ernani, 1844, nach Hernani, 1830; Rigoletto, 1851, nach Le Roi s’amuse, 1832) sowie die spanischen Hugo-Epigonen Antonio García Gutiérrez (Il trovatore, 1853, nach El trovador, 1836; Simon Boccanegra, 1857, nach Simón Boccanegra, 1843) und Angel de Saavedra Duque de Rivas (La forza del destino, 1862, nach Don Álvaro o La fuerza del sino, 1835). Daneben wurden (meist französische) historische Dramen, 63 Melodramen64 und Libretti65 nutzbar gemacht. Drei Prätexte66 entstanden nach 1840; bei Stiffelio wie La traviata griffen Verdi und Piave gar hochaktuelle – im Jahr zuvor uraufgeführte, und in der Gegenwart des Publikums oder einer nahen Vergangenheit angesiedelte – französische Dramen auf. Die meisten Prätexte, nämlich elf, liefert erwartungsgemäß das französische Theater (Schauspiel und Oper). Je fünf Libretti gehen auf deutsche und

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englische, drei auf spanische Vorlagen zurück, nur zwei frühe Opern Verdis folgen italienischen Modellen: Un giorno di regno einem Libretto Romanis,67 I Lombardi alla prima crociata dem Epos Grossis. Verdi verhält sich hier dia­ metral entgegengesetzt zu Wagner, der in seinen ersten drei Libretti auf fremdsprachige Vorlagen rekurrierte und danach nie wieder. Dass Verdi in der ­zeitgenössischen Literatur seines Heimatlands nichts Geeignetes fand, ist allerdings nicht verwunderlich, denn Italien hat kein eigenständiges romantisches Sprechtheater hervorgebracht. Verdis Vorlagen sind von höchst unterschiedlichem literarischen Rang, zwischen Macbeth und Trivialdramatik wie Le Pasteur ou L’Evangile et le foyer von Souvestre und Bourgeois, der Vorlage zu Stiffelio, liegen Welten. Der Komponist war aber offensichtlich bereit, über die bescheidene ästhetische Qualität eines Dramas hinwegzusehen, das ihm brauchbare Figuren und Situationen lieferte. Wiederholt setzt er die in der Romantik so beliebten Geächteten und Außenseiter in Szene: Victor Hugos Hernani, Manrico im Trovatore, Schillers Karl Moor (Carlo in den Masnadieri) und Byrons Korsar sind verschiedene Ausprägungen desselben Typus, auch Don Alvaro (La forza del destino), Rigoletto und selbst Don Carlos sind mit ihnen verwandt. Das weibliche Pendant verkörpert sich in der ‚Traviata‘ Violetta, der Ehebrecherin Lina in Stiffelio sowie Amelia (Un ballo in maschera) und Elisabeth (Don Carlos), die immerhin in Gedanken die Ehe brechen. In dem bereits zitierten Brief über Le Roi s’amuse schrieb Verdi an Piave: „Du weißt, daß ich vor sechs Jahren, als Mocenigo mir Ernani vorschlug, ausrief: Ja, bei Gott ... das kann nicht schiefgehen. Als ich jetzt noch einmal verschiedene Sujets durchging und mir Le Roi [s’amuse] in den Sinn kam, war das wie ein Blitz, eine Eingebung, und ich sagte dasselbe ... ja, bei Gott, das kann nicht schiefgehen.“68 Er bezieht sich damit auf die Handlungsführung, die in beiden Libretti Piaves kaum verändert wurde, und auf die opernnahe Kontrastdramaturgie Hugos.69 Demgegenüber sind die proliferierende Geschwätzigkeit von dessen Figuren und seine Neigung, auf mitunter schockierende Weise Erhabenes mit Trivialem und Komischem zu vermengen, Oberflächenphänomene, die zwar die Physiognomie seiner Dramen prägen, sich aber ohne Mühe beseitigen lassen. So hat Piave die großen Tiraden, Abschweifungen, Pointen und Wortspiele fast ausnahmslos eliminiert. Erhalten bleiben die Fabel und der „gedankliche beziehungsweise emotionale Kern“ des Dramas70 – der Mythos, könnten wir im Anschluss an unsere Überlegungen zu Richard Wagner sagen, wenn der Terminus auf das romantische Drama Victor Hugos bezogen nicht missverständlich wäre. Jener auf Kohärenz und Stimmigkeit zielenden Tendenz steht nun freilich die „Neigung“ zumal „des jungen Verdi zur großen Theatersituation“71 zumindest partiell entgegen: Nicht nur für Temistocle Solera, den Librettisten des

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Nabucco, hatte die „Organisation eindrucksvoller und weitestgehend auf den jeweiligen szenischen Moment beschränkter Theatersituationen“ Vorrang vor „einer Konzeption von einer dynamisch-dramatischen Handlung her“72. Verdis Opern sollten das breite Publikum emotional berühren, und ihm war „nichts zu grell, zu spektakulär und gegebenenfalls zu trivial, wenn er sich Effekt davon versprach“73. Über eine Szene der geplanten, aber nicht realisierten Oper L’Assedio di Firenze schrieb er: „Natürlich kann man hier viel Kritisches einwenden. Ein derart langes Sterben!! – Und das auch noch in einem Vorzimmer? Und auf einer Bahre? Aber es kommt einzig und allein darauf an, ob die Szene wirksam wird. Wenn das gelingt, werden wir auch einen Weg finden, sie logisch zu machen.“74 Nicht die Logik der Handlung generiert eine Folge von (im Idealfall bühnenwirksamen) Situationen, sondern die Handlungsführung hat die effektvolle Einzelszene (mehr oder weniger überzeugend) zu rechtfertigen. Man fühlt sich an den österreichischen Komiker Alexander Girardi erinnert, der bei den Proben zu der frühen Lehár-Operette Wiener Frauen die Zugnummer der Partitur, die ein anderer singen sollte, für sich reklamierte: „Der Librettist murmelte zwar etwas von Logik, die da etwas zu kurz kommen würde. Aber vor Textdichtern hatte der große Girardi keinen übertriebenen Respekt. Was brauchen wir a Logik, sprach er verachtungsvoll, wenn ich einen Schlager hab?“75 Natürlich geht es bei Verdi um viel ernstere Dinge, in Nabucco u.a. um den Sturz des Mächtigen,76 in Rigoletto um den Fluch Monterones, schuldhafte Verstrickung und höhere Gerechtigkeit; weil aber Verdis Oper ohne Effekte und Coups de théâtre nicht auskommt, ist sie „Kino, Kirmes und Kirche zugleich“.77 Was, so hätte sich Cosima Wagner fragen können, soll man auch von einem Menschen erwarten, dem Shakespeare und Victor Hugo eins sind? Einem so klugen Mann wie dem Philosophen Ernst Bloch freilich waren – allenfalls halb im Scherz – Richard Wagner und Karl May eins: „Waldvöglein singt sein Ansichtspostkartenlied, Siegfried zieht durchs wilde Kurdistan, Berg- und Talbahnmusik klingt unter Walhall, das Vorstadtkinoplakat reicht mit grellsten Szenen, pastosen Schicksalen auf die Bühne – der Nibelungenfreund merkt die Absicht und ist nicht verstimmt.“78 Das meinte Bloch – von dem auch einer der hellsichtigsten und vielschichtigsten Essays über Wagners Musik stammt: Paradoxa und Pastorale bei Wagner79  – durchaus nicht, oder nicht nur, negativ. Wagner bezieht die mythischen Stoffe auf Probleme und Befindlichkeiten seiner Gegenwart: Der Ring des Nibelungen wird zur Kapitalismus-Kritik, Parsifal exemplifiziert Schopenhauers Mitleidsethik und Wagners wenig orthodoxe Sicht der Gestalt Jesu. Was er braucht, um den mythischen Stoff der mittelalterlichen Dichtungen seiner Aussageintention dienstbar zu machen, findet der Komponist u.a. in zeitgenössischer Trivial­ literatur – denn „Kolportage enthält streckenweise Bedeutungen, die auch an

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höheren Stellen, in Dichtung und Philosophie, vorkommen, dort aber selten mehr so unbegleitet, ungeleitet hervortreten“, wie Ernst Bloch anlässlich des Detektivromans feststellt;80 das verbindet sie mit dem Märchen.81 Im Parsifal wird aus Wolframs Gralsbotin Cundrîe Kundry-Herodias, die Christus auf seinem Weg nach Golgatha verlachte und deshalb zu ruheloser Wanderschaft bis zum Jüngsten Tag verurteilt ist. Die mittelalterliche Überlieferung kennt Herodias (neben Diana und Abundia) als eine Führerin der Wilden Jagd.82 Heine setzt diese teuflische Dreieinigkeit im Versepos Atta Troll (1843) in Szene,83 allerdings büßt seine Herodias dafür, dass sie (bzw. die von ihr angestiftete Salome) die Hinrichtung Johannes des Täufers verlangt hatte. Zur „Komplementärfigur Ahasvers“,84 des „Ewigen Juden“, der den kreuztragenden Jesus von seiner Schwelle wies, wird Herodias erst im Feuilletonroman Le Juif errant von Eugène Sue (1844/45);85 wie Wagners Kundry wird sie zuletzt erlöst, Gott gewährt ihr und Ahasver den Tod. Le Juif errant erzielte ähnlich hohe Auflagen wie schon die Mystères de Paris desselben Autors (1842/43); 1844–46 erschienen nicht weniger als fünf konkurrierende Übersetzungen ins Deutsche.86 Nach dem Zeugnis der Tagebücher Cosimas sprach Wagner 1872/73 zweimal bewundernd von Sues Version der Geschichte Jeanne d’Arcs (innerhalb der vielbändigen Mystères du peuple), wobei ihm allerdings seine Erinnerung einen Streich spielte.87 Dass er keine Bedenken trug, eine der zentralen Figuren seines Bühnenweihfestspiels nach dem Modell eines (aus seiner Sicht) minderwertigen Unterhaltungsromans (der in den 1880er Jahren noch keineswegs in Vergessenheit geraten war88) zu bilden, scheint immerhin bemerkenswert. Im Rheingold verleitet Loge Alberich dazu, die Macht des Tarnhelms (der auch die Gestalt seines Trägers verändern kann) zu demonstrieren, indem er sich in eine Kröte verwandelt, so dass Wotan ihn fangen kann. Das zeitgenössische Publikum musste dabei an das weitverbreitete Märchen vom Gestiefelten Kater denken.89 Hier wiegt der Kater den Zauberer, auf dessen Schloss er es abgesehen hat, zunächst in Sicherheit, indem er Todesangst heuchelt, wenn der Leichtgläubige sich ihm als Löwe zeigt (so wie Loge scheinbar vor dem als „Riesenwurm“ posierenden Alberich erschrickt); sein Opfer zögert daraufhin nicht, Mäusegestalt anzunehmen, und wird vom Kater gefressen. Im Kontext des Götterdramas kann dieses Märchenzitat nicht anders als komisch wirken. Für die Fabel der Meistersinger von Nürnberg gibt es keine mittelalterliche oder frühneuzeitliche Vorlage.90 Auf den Meistersang wurde Wagner durch die Literaturgeschichte von Georg Gottfried Gervinus (1835–1842) aufmerksam, Interesse an Hans Sachs mag schon Goethes Gedicht Erklärung eines alten Holzschnittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung (1776) geweckt haben. Wesentliche Elemente der Opernhandlung sind in Johann Ludwig Deinhardsteins Schauspiel Hans Sachs (1827), einem Beispiel biedermeierlicher Trivi-

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aldramatik, und der darauf basierenden Oper Albert Lortzings (1837) vorgebildet;91 Wagner hat die Figurenkonstellation grundlegend verändert  – die Figur des alten, entsagenden Sachs ist ganz seine Erfindung, bei Deinhardstein und Lortzing ist Sachs ein junger Mann, der zuletzt über seinen Rivalen triumphiert und die Braut gewinnt –, auch das Wettsingen um Evas Hand ist erst in den Meistersingern eingeführt. Dabei ahmt der Dichterkomponist aber nicht wenige Situationen und sprachliche Äußerungen der Figuren in den Prätexten nach, bis hin zum fast wörtlichen Zitat. In diesem Fall geht Wagner also von einem Schauspiel und einem Libretto aus, die beide zum literarischen „Mittelgut“ (um Lortzings bevorzugten Terminus zu gebrauchen92) seiner Zeit gehören, um Schopenhauers gleichfalls im 19. Jahrhundert wurzelnde Kunstphilosophie zu illustrieren.93 Die Libretti, die Wagner schrieb, wie auch jene, die Verdi für sich schreiben ließ, stellen archetypische Situationen und Konstellationen dar. Das Mythische wie das Historische verweist auf allgemein Menschliches, das nicht nur raum- und zeit-, sondern auch gattungsübergreifend ist und sich in Trivialliteratur (oder -dramatik) wie in Literatur (oder Drama) tout court ausprägt. Als charakteristischstes Merkmal der Detektivgeschichte nennt Ernst Bloch das „Unerzählte, Vor-Geschichtenhafte“, das es aufzudecken gilt: „Vor ihrem ersten Wort, vor dem ersten Kapitel geschah etwas, niemand weiß es, scheinbar auch der Erzähler nicht.“94 Er ist nicht der erste, der den „Urstoff des Detektorischen schlechthin“95 im Ödipusstoff findet (der übrigens gegen die von S.S. Van Dine aufgestellten Regeln für Detektivgeschichten [1946] verstößt, da der ‚Detektiv‘ Oedipus zugleich der Mörder ist, was nach Van Dine „Vorspiegelung falscher Tatsachen“96 wäre). Bloch schlägt damit gleichsam eine Brücke zur Postmoderne: Im letzten Abschnitt seiner Nachschrift zum Namen der Rose (1983) teilt Umberto Eco eine 30 Jahre alte Notiz mit, die sich auf sein Projekt bezieht, Hamlet als Kriminalgeschichte zu erzählen, woraus er schlussfolgert, dass obsessive Ideen niemals einem Menschen allein gehören.97 Natürlich hat das „Unerzählte“ als Herausforderung des „Detektorischen“ auch in den Opern Wagners und Verdis seinen Platz. Der Handlung des Lohengrin geht das Verschwinden Gottfrieds voraus, und sie beginnt mit dem Versuch König Heinrichs herauszufinden, was aus dem Erben von Brabant geworden ist, ob ein Verbrechen vorliegt und wer es gegebenenfalls begangen hat. Eine Zigeunerin, so berichtet Ferrando im ersten Akt des Trovatore, hat vor vielen Jahren den kleinen Sohn des Grafen Luna entführt und ins Feuer geworfen, um ihre auf dem Scheiterhaufen verbrannte Mutter zu rächen; eine vage Ahnung ließ den Vater jedoch am Tod seines Söhnchens zweifeln.98 Was aus ihm geworden ist, verrät uns der vorletzte Vers des Librettos,99 obwohl ein aufmerksamer Zuschauer und Leser es schon in der ersten Szene des zweiten Aktes vermuten kann, wenn erst Azucena den Zigeunern berichtet, wie sie in seltsamer Verwir-

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rung statt des Grafensohns ihr eigenes Kind verbrannt habe, und dann Manrico schildert, wie ihn eine Ahnung, oder die Warnung einer „Stimme vom Himmel“ daran hinderte, seinen Todfeind und Nebenbuhler Luna zu erschlagen, als er die Möglichkeit dazu hatte. Ein weiteres Motiv, das Weltliteratur und Kolportage verbindet, bezieht sich auf die „Inkognito-Natur des Menschen“100: „Ein Fremder trat da herein“101, unscheinbar, wortkarg, schäbig gekleidet, und die Magd Eurykleia erkennt den heimgekehrten Odysseus; oder Wagners Orchester verrät uns, dass Wotan in eigener Person vor uns steht. Der weibliche Archetypus dieser Figur ist das Aschenputtel, das verachtet als Magd unter den Menschen lebt, die keine Augen für die Erscheinung der künftigen Königin haben, bis ihr Prinz sie (auch sexuell) ‚erkennt‘. Das Märchen führt uns in die Nähe der Kolportage: „Deren Helden tragen ja den Imperativ, ein anderer zu sein und eigentlich als Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi, Karl Sternau oder gar als alles vermögendes und überstrahlendes Ich die unübersehbare Weite der Lebensprärie zu durchziehen, als ihren eigentlichen Identitätsausweis auf der Stirn. Wie oft sehen wir in Mays Büchern den Fremden eintreten, den niemand kennt, jeder falsch einschätzt und der plötzlich vom Blutsbruder Winnetou oder an einem seiner Zeichen (den beiden Gewehren, dem Rappen Rih) erkannt wird.“102 Verdis und Victor Hugos (H)Ernani lebt in den Bergen Aragóns als Rebellenführer und Räuberhauptmann; wenn aber König Karl im Glanz der eben errungenen Kaiserwürde unter die Verschwörer tritt, die in der Gruft Karls des Großen seine Ermordung planen, und die an dem Komplott beteiligten Adligen zum Tode verurteilt, da nennt der Bandit stolz seinen Namen: Io son conte, duca sono Di Segorbia, di Cardona. Don Giovanni d’Aragona Riconosca ognun in me.103

Das ist fast so eindrucksvoll wie Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt; Mein Vater Parzival trägt seine Krone, Sein Ritter ich – bin Lohengrin genannt.104

Eine so schöne Rede kann Verdis Manrico leider nicht halten, denn er selbst wird nie erfahren, dass er der Bruder des Grafen Luna ist. Der Jusstudent Pereda, der im II. Akt der Forza del destino wortreich und musikalisch eingängig Vargas Suche nach dem Mörder seines Vaters schildert,105 ist in Wirklichkeit Carlo Vargas selbst, und wenn Sänger vom Format eines Giorgio Zancanaro oder Piero Cappucilli ihm ihre Stimme leihen,

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erkennt ihn das Publikum auch in jeder Verkleidung wieder. Der alte „Wanderer“, der im dritten Siegfried-Akt den jungen Schlagetot auf seinem Weg zu Brünnhilde aufhält,106 hatte vermutlich vor, sich ihm im Verlauf des Gesprächs zu erkennen zu geben – „Dem wonnigsten Wälsung / Weis’ ich mein Erbe nun an“107 –, ob als sein Großvater, als oberster Gott oder als beides, sei dahingestellt. Es ist Siegfrieds Pech, dass er den geschwätzigen Alten allzu gründlich und sogar handgreiflich geringschätzt. Richard Wagner sucht archetypische Situationen in den alten Mythen auf;108 und obwohl er die griechische Antike und die Tragödien des Aischylos bewundert (s.o.), rekurriert er auf das mythische Substrat, von dem er – teils zu Recht, teils zu Unrecht – annimmt, es läge den Dichtungen des christlichen Mittelalters zugrunde. Die Stoffe interessieren ihn jedoch nicht als historische Dokumente, sondern wegen ihrer von ihm postulierten Allgemeingültigkeit, die Deutungsperspektiven auch auf Wagners Gegenwart eröffnet; deshalb liest er nicht nur Hans Sachs vor der Folie Goethes und Lortzings; um sich die Geschichten von Siegfried, Tristan oder Parsifal zu erklären, rekurriert er auf Feuerbach, Schopenhauer, die französischen Sozialisten (vor allem Proudhon), religionswissenschaftliche Arbeiten (Ernest Renan, Gförer) und vieles andere.109 Im Übrigen identifiziert der Komponist sich selbst mit Hans Sachs wie auch mit anderen Protagonisten seiner Opern;110 König Ludwig II. ging auf das (unter dem politischen Aspekt keineswegs unschuldige) Spiel ein und posierte in beider Briefwechsel als Stolzing.111 Giuseppe Verdi dagegen sucht (und findet) Mythisches (Archetypisches) in der (Trivial-)Literatur und (Trivial-)Dramatik seiner Gegenwart, von der Kameliendame des jüngeren Dumas bis zum ziemlich finsteren Mittelalter von Antonio García Gutiérrez. Die bereits zitierte Beobachtung Ernst Blochs: „Kolportage enthält streckenweise Bedeutungen, die auch an höheren Stellen, in Dichtung und Philosophie, vorkommen, dort aber selten mehr so unbegleitet, ungeleitet hervortreten“, hätte Verdi unterschreiben können, Wagner dagegen mit Sicherheit nicht. Dass einige der Prätexte, die er von seinen Textdichtern bearbeiten ließ, von recht bescheidener literarischer Qualität waren, dürfte dem ShakespeareVerehrer Verdi nicht entgangen sein. Sicher war ihm auch klar, dass weder Piave noch Scribe begnadete Stilisten waren. Den einzig am Effekt, der dramatischen Wirkung, interessierten Theatermann hat das nicht gestört, wie auch eine Bemerkung zu Meyerbeers und Scribes Huguenots (1836) zeigt: „Alcuni dicono che il libretto è mal scritto. Ma che m’importa! Anzi nel libretto c’è vero teatro.“112 Konzentration auf das Was, nicht auf das Wie des Textes scheint sogar ein Vorteil: „Pur troppo per il teatro è necessario qualche volta che poeti e compositori abbiano il talento di non fare nè poesia nè musica“, schrieb er an den mit der Versifizierung des (vom Komponisten ent-

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worfenen) Szenarios zu Aida betrauten Antonio Ghislanzoni.113 Man fühlt sich an einen anderen Theaterpraktiker, nämlich an Richard Strauss, erinnert, der mit einem ihm übersandten Operntext nach Wildes Salome nicht zurande kam, bis ihm „eines Tages aufstieg: Warum komponiere ich nicht gleich ohne weiteres: Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht! Von da ab war es nicht schwer, das Stück so weit von schönster Literatur zu reinigen, daß es nun ein recht schönes ‚Libretto‘ geworden ist.“114 Wagner dagegen mochte auf „schönste Literatur“ nicht verzichten: Sein ausgeprägter Individualstil mit den vielen Archaismen (und archaisierenden Neologismen), die äußerst suggestiven („Garstig glatter / Glitschriger Glimmer! / Wie gleit’ ich aus!“), aber das Hörverständnis erschwerenden Stabreime der Ring-Dichtung („Glühender Glanz / Entgleißt dir weihlich im Wag!“),115 schließlich die ausgedehnten narrativen Passagen in allen seinen Opern sind das genaue Gegenteil der Konzision von Verdis parola scenica.116 Freilich – und das ist nur auf den ersten Blick paradox – wird niemand ernsthaft behaupten können, Wagners Opern seien weniger bühnenwirksam als jene Verdis. Dass Wagner Möglichkeiten und Grenzen nicht nur des zeitgenössischen Theaters, die Verdi optimal zu nutzen bestrebt war, in rücksichtsloser Egozentrik ignorierte – spektakulärstes Beispiel dafür ist der unrealisierbare Schluss der Götterdämmerung –, hat die Rezeption seiner Werke seit der Reichsgründung 1871 nicht mehr behindert. Aus Verzweiflung über das „Kostüm- und Schminke-Wesen“ seiner Epoche (allgemeiner gesprochen: über die Rückbindung des die Konvention Sprengenden an eben diese Konvention in der Aufführungspraxis) wünschte er sich zwar, nach dem unsichtbaren Orchester auch noch das unsichtbare Theater erfinden zu können,117 aber für eine nicht mehr mimetische Inszenierungsästhetik öffnet sein einem traditionellen Begriff des Dramatischen fernstehendes Werk Freiräume, die sich die VerdiRegie, so scheint es, erst erarbeiten musste. Dass die Antipoden bei aller Unterschiedlichkeit der Temperamente wie auch ihrer Musik- und Theaterästhetik mehr verbindet, als Publikum und Kritik in früherer Zeit wahrhaben wollten, beweisen u.a. die für beide wichtigen literarischen Fixpunkte: die Griechen, Shakespeare, auch Dante. Beide haben wichtige Jahre in Paris verbracht (wo Wagner von September 1839 bis April 1842 und von September 1859 bis Juli 1861 lebte, während sich Verdi zwischen 1847 und 1867 insgesamt siebenmal, jeweils für mehrere Monate, 1853 bis 1855 gar ohne größere Unterbrechungen mehr als zwei Jahre lang, in der französischen Hauptstadt aufhielt); auf prägende Eindrücke, die Verdi durch das Theater (auch und gerade das Boulevardtheater) dort empfing, wurde erst in der letzten Zeit hingewiesen.118 Wagner, der als junger, unbekannter Komponist nach Paris kam, scheint Anfang der vierziger Jahre keine Kontakte zu französischen Literaten geknüpft und nur wenig Theater gesehen zu haben;119

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nachdem die Konzerte des „Zukunftsmusikers“ Anfang 1860 für Aufsehen gesorgt hatten, war das naturgemäß anders, aber der sonst so auskunftsfreudige Wagner macht zu seiner Bekanntschaft mit Baudelaire und anderen nur knappe Andeutungen. Es wäre sicher lohnend, den Anregungen, die beide Komponisten in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts empfangen haben mögen, noch genauer nachzugehen; wäre dieser Aspekt der intellektuellen Biographie Verdis und Wagners besser bekannt, erschiene vielleicht auch ihr Verhältnis zueinander in etwas anderem Licht.

Anmerkungen 1 Cosima Wagner, Die Tagebücher. Bd. I. 1869–1877, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München/Zürich 1976, S. 131. – Vgl. eine ähnliche Bemerkung vom 16. November 1873, ebd., S. 751f. (anlässlich einer französischen Broschüre über Wagner): „[...] ich mußte zugeben, daß bei Richtigkeit des Gefühles der Franzosen Urteil zu konfus und ungebildet sei, sie sagen Meyerbeer und Beethoven, Wagner und V. Hugo. Die Italiener noch ärger, Dante und Rossini ist für sie eins.“ Vgl. auch A. Gier, Richard Wagner et la littérature française, in: Richard Wagner et la France. Actes du Colloque international des 13, 14 et 15 février 2013 à l’Institut Historique Allemand de Paris, hrsg. von Danielle Buschinger und Jürgen Kühnel, Amiens 2013, S. 59–68. 2 Giuseppe Verdi, Lettere 1835–1900, hrsg. von Michele Porzio (Oscar classici), ­Milano 2000, S. 206: „Oh Le Roi s’amuse è il più gran soggetto e forse il più gran dramma dei tempi moderni. Tribolet è creazione degna di Shakespeare!“ 3 Leo Karl Gerhartz, „Lassen Sie den großen Komponisten beiseite: Ich bin ein Theatermann!“ Giuseppe Verdi – Versuch eines aktuellen Werkporträts, in: Norbert Abels/Beate Maurer (Hrsg.), Vivat Verdi. Der Komponist und seine Aufführungsgeschichte an der Oper Frankfurt, Frankfurt 2002, S. 13–26: 13. 4 In Franz Werfels Verdi-Roman (1924) heißt es: „Nicht zu Bewußtsein kommen, nicht nachdenken, nicht erklügeln, das war das Geheimnis seiner Kunst“; zitiert nach: Hendrikje Mautner, Verdi und Wagner. Franz Werfels Umgang mit einer tradierten Denkform, in: Sebastian Werr/Daniel Brandenburg (Hrsg.), Das Bild der italienischen Oper in Deutschland (Forum Musiktheater, 1), Münster 2004, S. 241–251. 5 Vgl. Richard Wagner, Mein Leben, hrsg. von Martin Gregor-Dellin, Bd. 1, München 1969, S. 20f., 29. Vgl. auch Wolfgang Schadewaldt, Richard Wagner und die Griechen, in: Richard Wagner und das neue Bayreuth, hrsg. von Wieland Wagner, München 1962, S. 149–174; Ulrich Müller, Richard Wagner und die Antike, in: Richard-Wagner-Handbuch, unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hrsg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 7–18. 6 Vgl. Wagner, Mein Leben, S. 274; im Sommer 1847 las er die griechischen Tragiker, Aristophanes und Platon, ebd., S. 356. 7 Vgl. ebd., S. 21. 8 Vgl. ebd., S. 167, sowie auch Gier, Richard Wagner et la littérature française. 9 Vgl. Wagner, Mein Leben, S. 221–224.

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10 So Volker Mertens, Richard Wagner und das Mittelalter, in: Richard Wagner und sein Mittelalter, hrsg. von Ursula und Ulrich Müller (Wort und Musik, 1), Anif/Salzburg 1989, S. 9–84: 70. – Vgl. auch Wagners ‚altphilologischen‘ Sommer 1847 nach Wagner, Mein Leben, S. 274. 11 Vgl. Mary Jane Philipps-Matz, Verdi. A Biography, Oxford/New York 1983, S. 21– 29; auch dies., The Verdi Family of Sant’Agata and Roncole. Legend and Truth, in: Atti del Io Congresso Int. di Studi Verdiani. Venezia, Isola di S. Giorgio Maggiore Fondazione Giorgio Cini 31 luglio – 2 agosto 1966, Parma 1969, S. 216–221. 12 Der Schulleiter Don Pietro Seletti hatte u.a. über griechische Sprache und Literatur publiziert, vgl. Matz, Verdi, S. 24. 13 Ebd., S. 28: Juvenal wurde (nicht aus linguistischen, sondern aus moralischen Gründen) in einer ‚gereinigten‘ Version gelesen. 14 Matz, The Verdi Family, schreibt: „He knew Shakespeare, Alfieri, Manzoni, the sacred scriptures, Latin and Greek literature – all before he was sixteen or seventeen“, ohne eine Quelle anzugeben. Wenn ein noch lebender (Manzoni) und ein vor wenig mehr als zwanzig Jahren verstorbener, obendrein liberaler Autor (Alfieri † 1803) im Unterricht behandelt worden sein sollten, wäre das für das 19. Jh. eine absolute Ausnahme. Freilich konnte Verdi Alfieri und Manzoni in der städtischen Bibliothek lesen, die über 10.000 Bände verfügte und der ebenfalls Seletti vorstand (vgl. Matz, Verdi, S. 24/28). 15 „Dante è proprio il più grande di tutti! Omero, i tragici greci, Shakespeare, i Biblici, grandi, sublimi spesso, non sono né così universali, né così completi“, zit. nach: Wolfgang Osthoff, Dante beim späten Verdi, in: Studi verdiani 5 (1988/89), S. 35–64: 36f. 16 Cosima Wagner, Die Tagebücher, S. 395. 17 Vgl. Die Geburt der Tragödie, Abschnitte 11–13, in: Friedrich Nietzsche, Das Hauptwerk. Bd. 3. Also sprach Zarathustra – Die Geburt der Tragödie – Jenseits von Gut und Böse, hrsg. von Jost Perfahl, München 1990, S. 437–452. 18 Dazu Frank Piontek, Dergleichen gibt es bei Dante ... Wagner liest Dante, in: ders., Plädoyer für einen Zauberer. Richard Wagner: Quellen, Folgen und Figuren, Köln 2006, S. 417–428: Der junge Wagner lernte die Divina Commedia durch seinen Onkel Adolf, den Übersetzer italienischer Dichtung, kennen und las sie wieder 1855 in London. 19 Vgl. Dieter Borchmeyer, Wagner und Goethe oder „das Europäische auf deutsch“, in: ders., Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt am Main/Leipzig 2002, S. 337–352: „Vor allem in seiner letzten Lebenszeit war er ein unermüdlicher ­Goethe-Leser“ (S.  343). 20 Dazu Norbert Abels, Hohn und Lohn. Lose Betrachtungen zum Komischen bei Richard Wagner, Musicorum 12 (2002): Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, Université François-Rabelais de Tours, S. 63–74. 21 Cosima Wagner, Die Tagebücher. Bd. II. 1878–1883, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München/Zürich 1977, S. 160f. (16. August 1878). 22 La casa di Verdi a Sant’Agata (1868), in: Interviste e incontre con Verdi, hrsg. von Marcello Conati, o.O. 21981, S. 66–73: 73 (Übersetzung A.G.). 23 Auf den Reichtum nicht nur der Noten-, sondern auch der Büchersammlung Verdis verweist Luigi Magnani, L’“ignoranza musicale” di Verdi e la biblioteca di Sant’Agata,

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in: Atti del IIIo Congresso internazionale di studi verdiani. Milano, Piccola Scala 12– 17 giugno 1972, Parma 1974, S. 250–257, vgl. S. 256: „La sua curiosità intellettuale [...] spaziava [...] dai mistici trecenteschi alle Memorie di Casanova, dalla Filotea di S. Francesco di Sales al Piacere di D’Annunzio, da Platone a Schopenhauer, da Pascal a Darwin. Nel campo teatrale si passa, senza troppo gravi lacune, da Eschilo ad Alfieri, a Dumas, a Sardou.“ 24 http://www.wagnermuseum.de/files/pdf/Wahnfried-Bibliothek.pdf, letzter Aufruf 1. April 2013. 25 Curt von Westernhagen, Richard Wagners Dresdener Bibliothek 1842–1849. Neue Dokumente zur Geschichte seines Schaffens, Wiesbaden 1966. 26 Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. I, II. 27 Vgl. Gier, Richard Wagner et la littérature française. 28 Vgl. ebd. 29 S. die Nachweise in den Personenverzeichnissen der Tagebücher Cosimas sowie Cord-Friedrich Berghahn, Wagner und die Literatur seiner Zeit, in: Wagner Handbuch, hrsg. von Laurenz Lütteken unter Mitarbeit von Inga Mai Groote und Michael Mayer, Kassel/Stuttgart/Weimar 2012, S. 168–172. 30 Vgl. ebd., S. 171f. 31 Ebd., S. 170, zu Scott 171. Zu Wagners Bewunderung für Balzac vgl. auch Gier, Richard Wagner et la littérature française. Der Lektüreplan für „Fidi“ in den Tage­ büchern Cosimas nennt auch „Romane W. Scott, Balzac. Franzosen, Italiener (Machiavell)“. 32 Vgl. Berghahn, Wagner und die Literatur seiner Zeit, S. 170f. 33 Dazu Damien Colas, Wagner und Frankreich, in: Wagner Handbuch, S. 24–31. 34 E.T.A. Hoffmann, „Der Dichter und der Komponist“, in: Die Serapionsbrüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 4), Berlin/Weimar 1994, S. 92–119: 102. Vgl. Arne Stollberg, Die Feen, in: Wagner Handbuch, S. 286–296: 288.  – Bernd Zegowitz (Der Dichter und der Komponist. ­Studien zu Voraussetzungen und Realisationsformen der Librettoproduktion im deutschen Opernbetrieb der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Würzburg 2012, S. 322) vermutet, der Onkel Adolf Wagner, der u.a. als Übersetzer italienischer Literatur bekannt wurde, habe Richard mit Gozzi bekannt gemacht. 35 Cosima notiert am 28. September 1878 (Tagebücher Bd. II, S. 184), Wagner habe „die Bulwer’schen Romane für Lusch [Cosimas und Bülows damals 18-jährige Tochter Daniela] bestellt“ und „von dem Eindruck, welchen er von ihnen erhalten“, gesprochen. 36 Dazu Berghahn, Wagner und die Literatur seiner Zeit, S. 169. 37 Französisch in De l’Allemagne (1835), erste deutsche Ausgabe 1837; vgl. Heinrich Heine, Werke und Briefe [Bd. 5], Berlin 1961, S. 309–374, die Ballade und Heines Parodie S. 361–374; Zusätze der französischen Ausg. (mit deutscher Übers.) S. 659–714. 38 Vgl. Wagner, Mein Leben, S. 213f. Zu den Quellen des Tannhäuser auch Mertens, Richard Wagner und das Mittelalter, S. 14–16; Liste der „Vorlagen“ bei Cristina Urchueguía, Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg, in: Wagner Handbuch, S. 314–321: 314. 39 Wagner, Mein Leben, S. 224.

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40 Aus der Sicht Wagners und seiner Zeitgenossen gehört auch Hans Sachs (und damit die Handlung der Meistersinger) noch ins Mittelalter. 41 Vgl. einen Brief Wagners an Karl Gaillard von Januar 1844, zit. bei Zegowitz, Der Dichter und der Komponist, S. 330: „Ich [...] gestehe, daß ich nur aus Nothdurft, weil mir keine guten Texte geboten wurden, dazu griff, mir diese selbst zu dichten.“ 42 Vgl. Wagner, Mein Leben, S. 166f. Aus einem Brief an Meyerbeer (wahrscheinlich vom 4. Februar 1837; zit. bei Zegowitz, Der Dichter und der Komponist, S. 338) geht hervor, dass Wagner seinen Entwurf im August 1836 an Scribe gesandt hatte. 43 Brief an Mathilde vom 30. Mai 1859, in: Richard Wagner, Tagebuchblätter und Briefe an Mathilde und an Otto Wesendonk, Berlin o.J., S. 155–160: 158. 44 Ebd. 45 Wagner dürfte das Werk Ende der fünfziger Jahre konzipiert haben, ein ausführlicher Prosaentwurf entstand 1865; die Dichtung wurde 1877 ausgeführt, die Kompositionsskizze im April 1879, die Instrumentierung im Januar 1882 vollendet, vgl. Melanie Wald-Fuhrmann, Parsifal, in: Wagner Handbuch, S. 391–400: 392f. 46 Am 7. November 1872 lesen Richard und Cosima „von Wolfram [...] einige Gedichte“, Tagebücher, Bd. I, S. 594; am 7. November 1875 „lesen wir in Wolfram v. E. Kundry’s Verwünschung des Parzival“ (ebd., S. 933). Sonst ist von WolframLektüre nirgends die Rede. 47 Vgl. Albert Gier, Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung, Darmstadt 1998, S. 75f. 48 Vgl. z.B. Arnold Jacobshagen, Der Mythos vom elenden Poeten. Anmerkungen zu Andrea Leone Tottola, in: Rossini und das Libretto. Tagungsband, hrsg. von Reto Müller und Albert Gier, Leipzig 2010, S. 21–32. 49 Zur nach wie vor rätselhaften Entstehungsgeschichte des Nabucodonosor (1842) vgl. Michael Walter, Nabucodonosor, in: Verdi Handbuch, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Kassel/Stuttgart/Weimar 2001, S. 308–315: 308f., sowie (nicht überzeugend) Klaus Ley, Latentes Agitieren: Nabucco, 1816–1842. Zu Giuseppe Verdis früher Erfolgsoper, ihren Prätexten, ihrem Modellcharakter, Heidelberg 2010, S. 120–132. 50 Leo Karl Gerhartz, Verdi: Ernani, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett, hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, Bd. 6, München/Zürich 1997, S. 397–401: 397. 51 Vgl. Luca Zoppelli, Die Genese der Opern (II): Komponist und Librettist, in: Verdi Handbuch, S. 125–140; hier S. 126. 52 Vgl. Thomas Betzwieser, Alzira, ebd., S. 337–342: 338; ders., Libretto, ebd., S. 106– 124; hier S. 122. 53 Vgl. Sebastian Werr, Stiffelio/Aroldo, ebd., S. 380–385: 381. 54 Vgl. Sabine Henze-Döhring, Les Vêpres Siciliennes, ebd., S. 411–418: 412. 55 Vgl. Matthias Spohr, Verdi: Don Carlos/Don Carlo, in: Pipers Enzyklopädie, S. 471– 478. 56 Vgl. Ursula Günther, Zur Entstehung von Verdis Aida, in: Studi musicali 2 (1973), S. 15–71; Zoppelli, Die Genese der Opern, S. 316. In einem Brief an Camille Du Locle, der als Vermittler fungierte (26. Mai 1870, in: Verdi, Lettere 1835–1900, S. 315), rühmt Verdi „due o tre situazioni, se non nuovissime, certamente molto

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belle“ und erkennt bei dem (ihm unbekannten) Verfasser „una mano molto esperta, abituata da fare, e che conosce molto bene il teatro“. 57 Dabei sind Aroldo (die Neufassung von Stiffelio, 1857), die französischen Bearbeitungen von I Lombardi alla prima crociata (Jérusalem, 1847) und Macbeth (1865) sowie die verschiedenen italienischen Fassungen von Don Carlos nicht mitgezählt. 58 Wenn man nur die jeweils federführenden Autoren zählt (z.B. bei den Vêpres Siciliennes Scribe, nicht aber dessen Co-Autor Duveyrier). 59 Oberto (1839) ist die einzige Oper Verdis, für die keine Stoffvorlage bekannt ist. Don Carlos basiert auf zwei Vorlagen, Schillers Don Karlos und dem französischen Drama von E. Cormon (1846, vgl. Sieghart Döhring, Don Carlos/Don Carlo, in: Verdi Handbuch, S. 448–460: 448); Falstaff liegen zwei Dramen Shakespeares zugrunde, die Komödie The Merry Wives of Windsor und (für einzelne Szenen) King Henry IV. – Als einziges Originallibretto nimmt Aida eine Sonderstellung ein (Mariettes Szenario ist keine literarische Vorlage). 60 „Papà“ nennt er Shakespeare in einem oft zitierten Brief an Clara Maffei (20. Oktober 1876, s. Verdi, Lettere 1835–1900, S. 425). – Vgl. auch Caroline Lüderssen, Giuseppe Verdis Shakespeare-Opern: Musik als verborgener Text, Bonn 2001. 61 Die Zahlen nach der Liste bei R.S. Ridgway, Voltairian bel canto: operatic adaptations of Voltaire’s tragedies, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 241 (1986), S. 125–154: 153f. (wenige Versehen Ridgways wurden berücksichtigt). 62 Vgl. Albert Gier, Zwischen Tragödie und Melodram. Schillers Theater im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts am Beispiel der Wilhelm Tell-Bearbeitungen, in: Musik und Theater um 1800. Konzeptionen – Aufführungspraxis – Rezeption, hrsg. von Detlef Altenburg und Beate Agnes Schmidt (Musik und Theater, 1), Sinzig 2012, S. 255–269. 63 So für Nabucodonosor, vgl. Ley, Latentes Agitieren; La battaglia di Legnano (1849), nach François Joseph Méry, La Bataille de Toulouse, 1828, vgl. Martina Grempler, La battaglia di Legnano, in: Verdi Handbuch, S. 367–373: 367. Attila (1846) basiert auf dem deutschen Attila (1808) von Zacharias Werner, vgl. Kurt Malisch, Attila, ebd., S. 342–347: 342. 64 So für Stiffelio (Émile Souvestre/Eugène Bourgeois, Le Pasteur ou L’Évangile et le foyer), vgl. Emilio Sala, Il valzer delle camelie. Echi di Parigi nella Traviata, Turin 2008, S. 39–47; L’opera senza canto. Il mélo romantico e l’invenzione della colonna sonora, Venedig 1995, S. 183ff. 65 Les Vêpres Siciliennes basieren auf Scribes nicht aufgeführtem Duc d’Albe, dessen Vertonung Donizetti 1839 nicht zu Ende gebracht hatte, vgl. Sabine HenzeDöhring, in: Verdi Handbuch, S. 411–418: 412; Un ballo in maschera (1859) auf Scribes Gustave III ou Le Bal masqué für Auber (1833). Vorlage zu Felice Romanis Libretto Il finto Stanislao, für Verdi eingerichtet als Un giorno di regno, ist bezeichnenderweise ein französisches Sprechstück. 66 Sowie die Nebenquelle für Don Carlos, Eugène Cormons Drama Philippe II roi d’Espagne. 67 Das aber auf einer französischen Vorlage basiert, s. Anm. 65. 68 Verdi, Lettere 1835–1900: „Tu sai che 6 anni fa quando Mocenigo mi suggerì Ernani, io esclamai: ‘sì, per Dio... ciò non sbaglia’. Ora riandando diversi soggetti quando mi passò per la mente Le Roi fu come un lampo, un’ispirazione e dissi l’istessa cosa ... ‘sì, per Dio ciò non sbaglia’.“

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69 Vgl. Gier, Das Libretto, S. 156–159 (zu Rigoletto). 70 Zoppelli, Die Genese der Opern, S. 131, der auch darauf hinweist, dass die „Überzeugung, dass die kritische und philologische Reflexion entscheidende Hinweise auf die Motivation der dramatischen Idee geben kann“, Verdi und Wagner gemeinsam sei (ebd.). 71 Leo Karl Gerhartz, Die Auseinandersetzungen des jungen Giuseppe Verdi mit dem literarischen Drama. Ein Beitrag zur szenischen Strukturbestimmung der Oper, Berlin 1968, S. 25. 72 Ebd., S. 22. 73 Gerhartz, „Lassen Sie den großen Komponisten beiseite: Ich bin ein Theatermann!“, S. 13. 74 Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, Bd. II, Milano 1959, S. 6. 75 Emil Steininger, Vom unbekannten Lehár und dem durchgefallenen Leo Fall, Neues Wiener Journal 16. Dezember 1928, zit. nach: Stefan Frey, „Was sagt ihr zu diesem Erfolg“. Franz Lehár und die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Leipzig 1999, S. 62. 76 Zum literarischen Hintergrund vgl. (ohne Bezug auf Nabucco und Verdi) Der Sturz des Mächtigen. Zu Struktur, Funktion und Geschichte eines literarischen Motivs. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1995–1998, hrsg. von Theodor Wolpers (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse. Dritte Folge, 234), Göttingen 2000. 77 So Gerhartz, „Lassen Sie den großen Komponisten beiseite: Ich bin ein Theatermann!“, S. 19. 78 Ernst Bloch, Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage [1919], in: E.B., Erbschaft dieser Zeit [1935], Frankfurt am Main 1973, S. 372–380: 380. 79 Ernst Bloch, Verfremdungen I, Frankfurt am Main. 1962, S. 104–151. 80 Philosophische Ansicht des Detektivromans, ebd., S. 37–63: 42. 81 Vgl. Ernst Bloch, Werkausgabe Bd. 5. Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. (suhrkamp ­taschenbuch wissenschaft, 554), Frankfurt am Main. 1985, Kapitel 27: „Bessere Luftschlösser in Jahrmarkt und Zirkus, in Märchen und Kolportage“, S. 409–428. 82 H. Naumann, Herodias, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer, Bd. 3, Reprint Berlin/New York 1987, Sp. 1790f.; vgl. Frank Halbach, Ahasvers Erlösung. Der Mythos vom Ewigen Juden im Opernlibretto des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 37f. 83 Heine, Werke und Briefe, (Bd. 1), S. 341–420, Caput XIX, S. 397–400. 84 Halbach, Ahasvers Erlösung, S. 37. 85 Vgl. Albert Gier, „Auch dir bin ich zum Heil gesandt“. Parsifal, Galaad und Ahasver, Sprachkunst 40 (2009), S. 14f. 86 Vgl. Albert Gier, Eugène Sue, Le Juif errant, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, hrsg. von Walter Jens, Bd. 16, München 1991, S. 168–170: 170. 87 Am 24. Juni 1872 (Tagebücher Bd. I, S. 539) erwähnt er im Gespräch die Geschichte Blaubarts, „wie sie E. Sue erzählt; Blaubart höhnisch ausgehend, um die Jeanne d’Arc zu entlarven, von ihrer Roheit und Reinheit überwältigt, dient ihr reuig und treu und ist der einzige, der einen Versuch macht, sie zu befreien; wie

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er sie verbrennen sieht, gerät er in Verzweiflung und ergibt sich seinen früheren Ausschweifungen“. ( Jeanne d’Arcs Gefolgsmann Gilles de Rais [oder de Retz], der nach ihrem Tod als vielfacher Kindermörder hingerichtet wurde, wurde oft als Vorbild der Blaubart-Figur in Charles Perraults Märchen betrachtet.) In Sues Geschichte der Jeanne d’Arc (Le Couteau de boucher ou Jeanne-la-Pucelle. 1412–1461, Bd. IX der 1849–1857 erschienenen Mystères du peuple) ist allerdings von Gilles de Rais (oder Blaubart) nicht die Rede. Judith Gautier (Le Troisième Rang du Collier, 1909; jetzt in: J.G., Visites à Richard Wagner, hrsg. von Christophe Looten, o.O. 1992, S. 67) erinnert sich, dass Wagner während ihres ersten Besuchs in Tribschen (1869) von einer „brochure française“ sprach, an deren Titel er sich nicht erinnerte („[...] il y avait des images. Il s’agissait d’une publication à bon marché, imprimée sur deux colonnes“); sie erzählte offenbar das Blaubart-Märchen ähnlich wie bei Perrault, aber die Ermordung der letzten seiner Frauen wurde nicht von deren Brüdern, sondern von Jeanne d’Arc verhindert. Judiths Suche nach diesem Text blieb erfolglos; drei Jahre später vermischten sich in Wagners Erinnerung wohl die „brochure“ und Eugène Sues Buch. Am 24. Oktober 1873 (Tagebücher Bd. I, S. 743) lobte er Sues Darstellung der Jeanne d’Arc. 88 1869, 1907 und 1909 erschienen weitere deutsche Übersetzungen, vgl. Gier, Eugène Sue, Le Juif errant. 89 Es findet sich in Charles Perraults Histoire ou contes du temps passé (1697) und in der ersten Auflage (1812) der Grimmschen Sammlung. „Obwohl die Brüder Grimm das Märchen wegen der deutlichen Abhängigkeit von Perrault nicht mehr in die 2. und folgende Aufl[age]n der Kinder- und Hausmärchen übernahmen, gilt Der gestiefelte K[ater] auch als Grimmsches Märchen und erscheint in populären Grimm-Ausg[abe]n“ (Ines Köhler-Zülch, Kater: Der gestiefelte K., in: Enzyklopädie des ­Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich, Bd. 7, Berlin/New York 1993, Sp. 1069–1083: 1070f.). 90 Das Folgende nach Albert Gier, Die Meistersinger von Nürnberg: Komödie als Ideendrama, in: Musicorum 12 (2002): Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, Université François-Rabelais de Tours, S. 37–62: 39–42. 91 Auch E.T.A. Hoffmanns Erzählung Meister Martin der Küfner und seine Gesellen (1818) hat ihm manche Anregungen vermittelt, vgl. ebd., S. 44, Anm. 42. 92 Vgl. J.C. Lobe, Ein Gespräch mit Lortzing, in: ders., Konsonanzen und Dissonanzen, Leipzig 1869; zitiert nach: http://www.albertlortzing.org/node/8 (5. April 2013). 93 Dazu Gier, Die Meistersinger von Nürnberg, S. 51–60. 94 Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans, S. 43. 95 Ebd., S. 53. 96 S.S. Van Dine, Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten, in: Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, 2 Bde. (UTB, 81/82), München 1971, S. 143–147: 143. 97 Umberto Eco, Il nome della rosa, Milano 1985, S. 533. 98 Salvatore Cammarano, Il trovatore, in: Tutti I libretti di Verdi hrsg. von Luigi Baldacci, Milano 1975, S. 269–291: 272 (I 1): „pure ignoto del cor presentimento / Gli diceva che spento / Non era il figlio [...]“. 99 Ebd., S. 272 (IV Ult.): „Azucena. Egli era tuo fratello! ...“ (zu Luna).

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100 Gerd Ueding, Bloch liest Karl May, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 21 (1991), S. 124–147; hier S. 141 (zugänglich unter: http://www.karl-may-gesellschaft.de/ kmg/seklit/JbKMG/1991/124.htm, letzte Abfrage 9. April 2013). 101 So bezeichnet Sieglinde (Die Walküre, I. Akt) Siegmund Wotan, der unerkannt bei ihrer Hochzeit mit Hunding erschien und das Schwert, das Siegmund Notung nennen wird, in den Stamm der Eiche stieß. 102 Ueding, Bloch liest Karl May, S. 141f. In diesem Zusammenhang verweist Ueding auch auf Lohengrin (S. 141). 103 Tutti i libretti di Verdi, S. 67–85: 82. 104 Lohengrin, in: Richard Wagners Gesammelte Schriften, hrsg. von Julius Kapp, Bd. 3, Leipzig o.J., S. 191–244: 236 (III 3). 105 Tutti i libretti di Verdi, S. 393–423: 404. 106 Siegfried, in: Richard Wagners Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 141–222: 204–209. 107 Ebd., S. 203. 108 Vgl. dazu u.a. Peter Wapnewski, Tristan der Held Richard Wagners, Berlin 2001, S. 39–82: „Der Mittler des Mittelalters“. 109 Vgl. (neben vielen anderen) Claus-Dieter Osthövener, Wagner und die Philosophie seiner Zeit, in: Wagner Handbuch, S. 181–188; Bryan Magee, Wagner and Philosophy, Allen Lane 2000; Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt/M. 1994; Dieter Borchmeyer, Erlösung und Apokatastasis: Parsifal und die Religion des späten Wagner, in: Ahasvers Wandlungen, S. 308–334. 110 Dazu Sylvia Tschörner, „Bliebst du im Paradies, / da gab es keinen Kies“: Richard Wagners „unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib[er]“, in: Musicorum 12, S. 75–107: 78f. und passim. 111 Vgl. Frank Piontek, „Welche ich zuerst sogar in Nürnberg selbst zu veranstalten wünschte ...“. Zur verhinderten Nürnberger Uraufführung der Meistersinger von Nürnberg, ebd., S. 29–36: 32. 112 Zitiert nach: Anselm Gerhard, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1992, S. 288. 113 Brief vom 17. August 1870, zitiert ebd.; vgl. auch Anselm Gerhard, Verdis ‚Ästhetik‘, in: Verdi Handbuch, S. 287–297; hier 292. Vgl. auch die Mahnung an Piave anlässlich des Macbeth-Librettos (Brief Verdis vom 22. September 1846, in: Lettere 1835–1900, S. 146f.): „abbia sempre in mente di dir poche parole ... poche parole ... poche poche ma significanti“. 114 Erinnerungen an die ersten Aufführungen meiner Opern [1942], in: Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, hrsg. von Willi Schuh, Zürich/Freiburg i.Br. 1949, S. 176–202; hier S. 181. 115 Beide Beispiele aus der ersten Szene des Rheingold, in: Richard Wagners Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 15–70; hier insb. S. 17 und 22. 116 Zu diesem vieldeutigen Begriff vgl. u.a. Gerhard, Die Verstädterung der Oper, S. 287–290; Gier, Das Libretto, S. 25; Sieghart Döhring, Ein Schlüsselbegriff der ­Librettoanalyse: Verdis „parola scenica“, in: Musicorum [5] (2006–07) in: Le livret en question, Tours 2007, S. 29–49. 117 Vgl. Cosimas Tagebücher Bd. II, S. 181 (23. September 1878): Wagner spricht von Befürchtungen für die szenische Realisierung des Parsifal: „wenn ich daran denke,

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daß diese Gestalten wie Kundry nun sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein“. 118 Vgl. Emilio Sala, Il valzer delle camelie, S. 11f. und passim. 119 Vgl. Gier, Richard Wagner et la littérature française.

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Verdi und Wagner – Dirigenten wider Willen? „Noch heute, wo wir andererseits uns an sehr genaue Bezeichnung der Vortragsnüancen gewöhnt haben, sieht der geistvollere Dirigent sich oft genöhtigt, sehr wichtige, aber feine Färbungen des Ausdruckes den betreffenden Musikern durch mündliche Verdeutlichung mitzu­theilen, und in der Regel werden diese Mittheilungen besser beachtet und verstanden, als die schriftlichen Zeichen.“1

Weder Verdi noch Wagner waren Dirigenten im heutigen Sinne. Wagner verhalf dem, was das 20. Jahrhundert unter diesem Begriff zu verstehen lernte, überhaupt erst zum Durchbruch. Verdis Interessen kamen mit der stringenten Evolution des Dirigierens im 19. Jahrhundert zu keiner Deckung. Dirigieren und kreativer Schaffensprozess berührten sich bei Verdi nicht in gleichem Maße wie bei Wagner. Verdi beobachtete zwar mit Missvergnügen, wie Dirigenten den Gesangsprimadonnen den Rang streitig machten, ohne sich jedoch tatkräftig aus den Gepflogenheiten des italienischen Musiklebens seiner Epoche zu verabschieden. Ebenso wenig, wie bis heute abschließend geklärt werden konnte, ob Rossinis Innovationen mehr auf „Kodifizierung“ vorgefundener Kompositionselemente als auf „Erfindung“ beruhten, ebenso wenig wie eindeutig zu bejahen wäre, dass eine Revolution, wie Wagners Musikdramen sie auslösten, auch in Italien hätte stattfinden können, ebenso deutlich waren die Bedingungen auf der Halbinsel darauf ausgerichtet, ein Musikpublikum weniger zu „erbauen“ als vielmehr zu „unterhalten“.2 Das zentrale Interesse konzentrierte sich auf den Starsänger – wie und von wem die Aufführung geleitet wurde, blieb weitgehend unbeachtet. Violindirektor und Kapellmeister teilten sich noch bis weit über die Jahrhundertmitte in die Leitung einer Opernvorstellung italienischen Zuschnitts,3 was zur Folge hatte, dass Verdi viel seltener als Wagner alleinverantwortlich dirigierte, ganz abgesehen von der Tatsache, dass Wagners Dirigieren ausdrücklich und intentional auch dem Werk anderer Komponisten galt, Verdis dagegen nur dem eigenen. Wagner räumte dabei mit den zeitüblichen Aneinanderreihungen von Ouvertüren, Gesangsnummern und Virtuoseneinlagen auf; er sorgte dafür, dass der Name des Dirigenten auf

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dem Programmzettel erschien und gab die gesicherte Existenz als Hofkapellmeister in Dresden schließlich auch wieder auf – seine Verwicklung in die Revolutionsereignisse von 1848 kann dabei nicht als biographischer Zufall gesehen werden –, weil ihm der vielfältige Widerstand gegen seine mannigfachen Innovationen den gerade entfachten, dirigentischen Pioniergeist nach nur sechs Jahren auszulöschen drohte. Er vollzieht den Schritt weg von den Institutionen, ohne den das spätere Werk undenkbar geblieben wäre, ohne den, weil sein Beispiel nachhaltig Schule machte, paradoxerweise allerdings auch die vehemente Verbreitung berufsmäßigen Dirigierens nicht ähnlich nachhaltig befördert worden wäre. Dass Wagner wie Verdi die politischen Ideale Giuseppe Mazzinis teilten, dass ihre frühen Lehrmeister Christian Theodor Weinlig bzw. Vincenzo Lavigna ihren Unterricht auf strengen Kontrapunkt, „Kanons und Fugen“4 ­konzentrierten, dass das Dreigestirn der Wiener Klassik unter Vorsitz Beethovens für beide Komponisten wegweisend war – das sind Gemeinsamkeiten, die einen Niederschlag in beider Dirigieren schon deshalb nicht finden konnten, weil diese Tätigkeit einfach noch nicht in den Rang einer künstlerischen Zielvorstellung per se erhoben worden war. Zu Europäern machen sie sie allemal, ganz entgegen der offensichtlichen Einbindung in das nationale Musikgeschehen. Das Dirigieren ohne Instrument und in stehender Position begann seine rasante Entwicklung etwa gleichzeitig mit Verdis und Wagners Geburt. Im Jahr 1800 noch wäre es schwer, wenn nicht unmöglich gewesen, ein Orchester zu finden, das von einem Musiker geleitet wurde, der sich auf bloße Handzeichen beschränkte. Ab 1850 dagegen wurde es wiederum schwierig bis unmöglich, einem Orchester eben ohne genau diesen Takt schlagenden Anführer zu begegnen. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts erwartete man von der musikalischen Exekutive grundsätzlich, dass sie komponierte, d.h. die Werke selbst herstellte und dann für ihre Darbietung Sorge trug. Der Titel „Kapellmeister“ weist auf die Kirche als ersten musikalischen Arbeitgeber, bevor dies die Höfe übernahmen. Die Unteilbarkeit von Komponist und Kapellmeister war seit diesen Anfängen fester Bestandteil der Erwartungen an den Berufsstand eines Musikdirektors. Ohne den Rienzi komponiert zu haben, hätte Wagner 1842 seine Anstellung in Dresden nicht bekommen, ganz zu schweigen von Liszt oder Schumann, die ihre führenden Positionen in Weimar und Düsseldorf selbstverständlich auch nicht auf eine Reputation als „Dirigenten“ zu gründen brauchten, sondern als renommierte Tondichter empfohlen wurden. In Italien war es dagegen früh zu einer leichten Akzentverschiebung gekommen, die, was unseren Zusammenhang betrifft, ohne weiteres mit der Abhängigkeit aller norditalienisch-lombardischen Städte von Wien seit 1714 verknüpft erscheint: Man verpflichtete den Komponisten aufgrund hoher Aufführungsfrequenzen,

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an denen zur Gänze teilzunehmen ihm nicht zugemutet werden sollte, nur noch gleichsam als „Präsident“ der ersten drei Abende einer Neueinstudierung. Das lässt unwillkürlich an den Theaterzettel der Zauberflöte 1791 denken, auf dem zu lesen ist, dass „Herr Wolfgang Amadé Mozart, Kapellmeister und wirklicher K.K. Kammerkompositeur [...] das Orchester heute selbst dirigieren“ wird. In der dritten Vorstellung hörte Mozart dann bereits wieder von seiner Loge aus zu. Im österreichischen Mailand „residierte“ der Komponist also für gewöhnlich am Tasteninstrument, ohne jedoch aktiv in Erscheinung zu treten. Die Leitung hatte der capo d’orchestra oder auch primo violino direttore d’orchestra vom ersten Geigenpult aus, und der Komponist wurde nach der Erfüllung seiner „Dienstaufsicht“ ab der vierten Vorstellung durch einen maestro al cembalo ersetzt, aus dem später der maestro concertore erwuchs, zuständig für die Einstudierung der Sänger. In vielen Fällen regierte der Geiger dann allerdings auch ganz ohne die Mitwirkung eines Kollegen am Tasteninstrument, laut mitspielend und mit der Bogenhand Zeichen gebend. Viele Zeitzeugen berichten über das offensichtlich langsamere Vordringen des Taktstockdirigierens in Italien gegenüber Deutschland, Frankreich und England.5 Einer der ersten Anwender war Ludwig Spohr im Jahre 1816.6 Moritz Hauptmann verdeutlicht den Unterschied 1829, wenn er über die Verhältnisse am San Carlo in Neapel berichtet: „Das Arrangement des Orchesters und seiner Leitung waren nicht gut; es gibt keine Partitur, der erste Geiger dirigiert von einer Stimme mit nur zwei Systemen.“7 Auch Berlioz besuchte dasselbe Theater und „protestierte“8 gegen das Klopfen des Konzertmeisters mit dem Bogen ans Pult. Beiden Besuchern entging offenbar der Maestro al Cembalo, der in gewohnter Manier sicherlich zugegen, aber jeglicher Macht, das Spiel zu beeinflussen, enthoben war. Indem Wagner sein Über das Dirigiren 1869 direkt an die Seite seiner großen programmatischen Kunstschriften stellt, erhebt er das Dirigieren erstmalig zur Kunst: „Das Denken über Kunst ist mindestens ebensosehr Reflex ihrer realen Situation, wie die Kunst selbst bestimmt wird von ihrer Theorie. Diese ist das Bild, das sich die Künstler selbst von der Kunst entworfen haben.“9 Was Wagner nach ersten Dirigiererfahrungen in Würzburg (1833), Magdeburg (1834–1836) und Riga (1837–1839) vorfand, hatte sich seit den Tagen seiner ersten Theatererfahrungen im Grunde nicht verändert: „In meiner Jugendzeit wurden in den berühmten Leipziger Gewandhaus-Konzerten diese Stücke (gemeint sind die Werke der Wiener Klassik, d.A.) einfach gar nicht dirigirt; sondern unter dem Vorspiele des damaligen Konzertmeisters Matthäi wurden sie, etwa wie die Ouvertüren und Entreakte im Schauspiele, abgespielt. Von störender Individualität des Dirigenten war hier somit gar nichts zu vermerken; außerdem wurden die, an sich keine großen technischen Schwierigkeiten darbietenden Hauptwerke unserer klassischen Instrumentalmusik alle Winter

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regelmäßig durchgespielt: sie gingen daher recht glatt und präzis; man sah, das Orchester, welches sie genau kannte, freute sich der alljährlichen Wiederbegrüßung der Lieblingswerke.“10 Spätestens seit François-Antoine Habeneck 1839 in Paris das Entgegenkommen gezeigt hatte, Wagners Columbus-Ouvertüre in der Société des Concerts du Conservatoire einmal probeweise durchzuspielen und Wagner in der Folge Gelegenheit bekam, die Neunte in der Einstudierung Habenecks zu hören, „fiel es mir denn wie Schuppen von den Augen, was auf den Vortrag ankäme [...].“11 Es lag nahe, sich nicht länger mit den vorgefundenen Zuständen bei deutschen Orchestern zufrieden zu geben, und Wagner gelangte über die Praxis zur Theorie. Er „ersah“, dass es zwei Typen des klassischen Allegro geben musste, das inzwischen längst in den Dirigierkanon eingegangene „sentimentale, ächt Beethoven’sche“ und das „naive“ seiner Vorgänger Mozart und Haydn, und dass alles vom richtigen Erfassen der Nuancen des „Zeitmaaßes“ abhinge. Die Notwendigkeit, das Tempo in Abhängigkeit vom gerade vorherrschenden Melos zu flexibilisieren, sei ihm durch das Vorbild der Sängerin ­W ilhelmine Schröder-Devrient klar geworden. Ein anderer Einfluss war der Liszts. Wagner überträgt auf das Dirigieren, was Liszt als Pianist auszudrücken vermochte: ein Vortragsstil, der häufig mit dem Wort „romantischer Exzess“ banalisiert wird. Die treibende Kraft der Wagnerschen Intention ist, dass das Aufführen von Musik ein schöpferischer, nicht allein nachschöpferischer Akt sei, wie er in seinem Brief an Marie Wittgenstein darlegt: „Wer immer Gelegenheit hatte, Liszt (zum Beispiel) Beethoven im kleinen intimen Kreise spielen zu hören, muß von der Wahrheit wie getroffen sein, dass dies kein bloßer Akt von Wiedergabe, sondern von wahrer Schöpfung war. Die Trennungslinie zwischen beiden ist viel schwieriger auszumachen als gemeinhin angenommen. Aber ich bin überzeugt, um Beethoven adäquat wiederzugeben, muß man mit ihm neu erschaffen.“12 Obwohl Wagners Erbe über ein halbes Jahrhundert lang als Lizenz zu weitgehenden Retuschen an der Partitur missdeutet wurde, ging es ihm, dem Erneuerer und Erweiterer des Dirigierens, weit mehr um das Aufspüren der Bedeutung des schriftlich Fixierten. Es ist wahrscheinlich, dass sich Wagners Termini „Melos“ und die an Schiller angelehnten Epitheta „naiv“ und „sentimental“ in Über das Dirigiren erst der späteren Reflexion über die gemachten Erfahrungen verdanken. Wagner befand in seiner Schrift, dass der „Charakter“ innerhalb eines Satzes ständiger Modifikation unterworfen ist und mit ihm das Tempo, das er als die „eigentliche Seele der Musik“ ansah. Hier öffnete sich ein Tor für die Kreativität des Musikers. Wagner macht die Modulation des Tempos zur Kernfrage nachvollziehenden Verstehens für den „Interpreten“ und erteilt ihm gleichzeitig Order wie Absolution zu dessen Ausführung. Aber diese Freiheiten müssen vom „Geiste“ der betreffenden Stelle diktiert sein, wie

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er vorher aus dem „Melos“ abzuleiten gelernt wurde. Die kontinuierliche Modifikation des Tempos möge darüber hinaus immer „unmerklich“ geschehen, fordert Wagner.13 In Dresden regte sich gleich zu Beginn der ersten praktischen Erprobung Widerstand. Offenbar waren, wie später auch in London und Zürich bemerkt wurde, die Übergänge noch nicht „unmerklich“ genug. Im Gegenteil, den Kritikern waren sie zu abrupt: „Zum Schluß wurde statt der Sinfonia eroica von Beethoven nur ein Zerrbild derselben aufgeführt. Eine ähnliche Verunstaltung ist uns noch nicht vorgekommen. Kaum acht Takte lang dasselbe Tempo, Überladung von Sforzatos und Ritardandos, ungefähr wie moderne Virtuosen des untersten Ranges ihre Phantasien vorzutragen pflegen. Der erste Satz begann im schnellen Walzertempo und retardirte stellenweise bis zum Andante; der Trauermarsch völlig ungenießbar. Scherzo und Finale so übereilt, daß man kaum zu Athem kommen konnte.“14 Die häufige Dresdner Kritik an Wagners „übereilten“ Tempi relativiert sich in der Rückschau natürlich, wenn man bedenkt, dass der tiefere Kammerton15 die langsamer in Schwingung zu versetzenden Darmsaiten der Streicher in der Mitte des 19. Jahrhunderts über ein bestimmtes, für uns heute keineswegs besonders rasches Zeitmaß hinauskommen ließ. Insbesondere über Wagners Mozartdarstellungen entbrannte eine öffentlich geführte und gut dokumentierte Auseinandersetzung mit dem Dresdner Kritiker Dr. med. Julius Schladebach.16 Eine Bemerkung zum äußeren Bewegungsmodus des „neuen“ Dirigenten, den Wagner verkörperte: Ferdinand Praeger, Sohn eines Dresdner Kollegen Wagners, in der Wagner-Literatur wegen seiner Parteilichkeit für den verehrten Freund allerdings nicht unumstritten, vermerkt in seinen Memoiren, dass Wagner „nicht automatenhaft altmodisch den Takt schlug. Manchmal hört er ganz auf – dann beginnt er wieder – das Orchester entweder einem Höhepunkt zuzuführen oder es zum pianissimo abzuschwächen, als ob tausend unsichtbare Fäden es an seinen Stab bänden.“17 Wenn Mendelssohn sein Taktieren nach den Anfangstakten unterbrach, geschah dies noch als Reverenz an dirigentenlose Traditionen, bei Wagner wird es zum „modernen“ Dirigieren. Die Entwicklung auf italienischem Boden folgte ihren spezifisch eigenen Gesetzen. Während der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts begann sich eine Tendenz der durchkomponierten Form und kontinuierlicher orchestraler Textur, wie sie sich in Webers Euryanthe oder Schuberts Alfonso und Estrella andeuteten, auch in der italienischen Oper durchzusetzen. Aus der Pariser Opéra des Empire wurden Werke wie Spontinis La Vestale oder Fernand ­Cortez nach Neapel exportiert, ohne die es nicht zur Vorherrschaft einer neuen Art des Orchester-Rezitativs – das traditionelle recitativo accompagnato galt bislang ausschließlich der Introduktion zu Arie oder Duett – gekommen wäre, das fortan zum sicheren Fundament der kompositorischen Handlungsfortführung

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wurde und – nebenbei gesprochen – zur Herausforderung für das aufkommende Dirigentenhandwerk. Ab 1870 verdrängte die Reform der Konservatorien, die neue Gewichtung der Instrumentalmusik gegenüber der Oper und in der Oper selbst, die um sich greifende Ausrichtung an deutscher Kultur nach Preußens Sieg über Frankreich und die Verbreitung der Schriften Richard Wagners vieles, was sich bis dahin kompositorisch aus der Post-Rossini-Periode in der italienischen Praxis erhalten hatte. Erst mit Lohengrin 1871 in Bologna und Tannhäuser im Jahr darauf stellten sich auch Wagners Werke selbst der italienischen Diskussion. Scena, Largo Concertato, Cabaletta und Stretta waren vorerst getilgt. Diese – hier naturgemäß pauschaliert beschriebene – Individualisierung des Orchesters machte das Erscheinen des professionellen Dirigenten wahrscheinlicher und notwendiger denn je. Aber Verdi war nicht der Mann, diese Entwicklung revolutionär voranzutreiben. Er hatte genug damit zu tun, Missständen wie der mutwilligen Zerstümmelung seiner Opern durch Impresari, Zensoren oder berühmte Sänger, einer durchaus gängigen Erscheinung, entgegenzuwirken. Auch andere Aspekte der Opernreform wie die Durchsetzung neuer, besonders der sogenannten „negativen“ Rollenprofile à la Pizarro oder Caspar, bedurfte auf der italienischen Bühne noch seiner tatkräftigen Mitwirkung, damit die Europäisierung der Oper als „organische“ Form (bisher eben noch keine Selbstverständlichkeit italienischer Opernschöpfungen) und in einmaliger Werkhaftigkeit endgültig auf den Weg kommen konnte. Dass auch auf dem Sektor der Ausführung noch vieles zu optimieren war, erlebte Verdi erst, als sich der Orchesterdirektor Angelo Mariani in einer schrittweisen Entwicklung vom Primgeiger letztlich als alleinverantwortlicher, musikalischer Leiter mit Kompetenz für jedes Detail der Ausführung präsentierte. Jetzt verlangte auch Verdi nach seinen positiven Erfahrungen mit Mariani bei der Einstudierung des Aroldo 1857 die Perpetuierung dieses Prinzips für seine opere a intenzioni.18 „Bedenken Sie immer“, schrieb er an Giulio Ricordi, „dass der Erfolg unserer Opern zuallermeist in den Händen des Dirigenten liegt. Diese Person ist so notwendig wie der Tenor oder die Primadonna“.19 Und an Escudier: „Sehen Sie, wie recht ich habe, zu behaupten, dass eine Hand, wenn sie sicher und machtvoll agiert, Wunder wirken kann. Sie haben es bei Costa in London gesehen, Sie sehen es noch mehr bei Mariani in Bologna.“20Alle Parameter der Aufführung, also nicht wie bis dato allein die Sänger, sondern genauso Orchester, Chöre und Inszenierung, waren von ebenbürtig hoher Bedeutung für die theatralische Gesamterscheinung der Oper. Aus dieser Perspektive lohnt ein Blick auf Verdis erste eigene Kontakte mit dem Dirigieren aus dem Jahr 1834, als er sich unversehens der Aufgabe gegenübersah, mit Angehörigen des Mailänder Adels bei den Filodrammatici eine Chorprobe abzuhalten: „Ich hatte mein Studium gerade beendet, und eine

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Partitur brachte mich nicht in die geringste Verlegenheit. Ich willigte also ein und setzte mich ans Klavier, um mit der Probe zu beginnen. Ich erinnere mich noch sehr gut an manches ironische Lächeln der signori dilettanti, denen meine jugendliche, magere und nicht besonders herausgeputzte Gestalt anscheinend wenig Vertrauen einflößte. Kurzum, die Probe begann, und nach und nach begeisterte ich mich für meine Aufgabe, und ich begnügte mich nicht mehr mit der Begleitung, sondern spielte nur mehr mit der linken Hand, während ich mit der rechten dirigierte. Ich hatte großen Erfolg – umso größeren, da er ganz unerwartet war.“21 Verdi fügt sich demnach von Anbeginn in seine zukünftige Rolle als Maestro al Cembalo, der sich nur so lange mit gewissen unterstützenden Gesten um die Leitung des Sängerensembles zu kümmern hatte, bis der Capo d’orchestra und sein Orchester eintrafen, spürt andererseits aber auch den „unerwarteten“ Reiz selbstbestimmten Führens, der spätere italienische Maestri die Violindirektoren schließlich gänzlich hat verdrängen lassen wie in den anderen genannten europäischen Ländern auch. Er wird dem italienischen Ordnungsprinzip im Orchestergraben allerdings sein Leben lang verhaftet bleiben. Als „Revolutionär“ hat sich Verdi eben niemals begriffen. „Torniamo al antico, sarà un progresso“ lautete Verdis berühmter Ausspruch in seinen Briefen. Von seinem Schüler und Sekretär Emanuele Muzio wissen wir, dass Verdi auch widrige Umstände bzw. zu korrigierende Unzulänglichkeiten der Mitwirkenden zumindest anfänglich nicht haben zum Taktstock greifen lassen. Bei den Vorbereitungen zur Premiere der Lombardi alla prima crociata 1843 in Mailand begnügte er sich mit Zwischenrufen von seinem Platz am Pianoforte aus: „Es macht mich ganz traurig, zu sehen, wie er sich abmüht. Er schreit wie ein Verzweifelter, stampft mit den Füßen auf, als trete er die Pedale einer Orgel, schwitzt so stark, dass Schweißtropfen auf die Partitur fallen.“22 Dass Verdi sich am 22. Juli 1847 zur Premiere seiner Oper I masnadieri am Londoner „Her Majesty’s Theatre“ erstmalig doch überreden ließ, mit einem Taktstock am Pult zu erscheinen, hatte vermutlich Gründe, die mit dem Zerwürfnis zwischen dem Intendanten des Hauses und dessen musikalischen Leiter, Michael Costa, zusammenhingen. Costa, ein Italiener spanischer Herkunft, war 1830 als Maestro al Cembalo ans King’s Theatre nach London gekommen und obgleich ihm nichts fremder sein konnte als das britische Oratorium Händelscher Tradition im Gewand Mendelssohns, gelang es ihm, neben seiner Beschäftigung als Operndirigent auch ein anerkannter Fortführer dieser großen Festivalkultur zu werden und sich auf diese Weise sogar international zu profilieren. Ausgerechnet der italienisch geprägte Costa unterminierte in der Folge das bis in die 1840er Jahre auch in England vorherrschende Modell geteilter Orchesterdirektion, indem er die Orchester zunehmend allein befehligte. Verdi griff also vermutlich zum Taktstock, weil er dem Beispiel Costas in

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nichts nachstehen und seinem Auftraggeber, dem Majesty’s Theatre, die Treue halten wollte. Costa hatte sich nämlich an der „Royal Italian Opera“ im Covent Garden Theatre mit einer eigenen Truppe von seinem ursprünglichen Arbeitgeber mit einem Konkurrenzunternehmen abgespalten, von dem Verdi sich pflichtbewusst schon während der Vorbereitungen zu I masnadieri öffentlich zu distanzieren begann. Henry Chorley, derselbe Kritiker, der sich später auch vehement gegen Wagner stellen sollte, erklärte I masnadieri zu einer der „schlechtesten Opern, die je am Her Majesty’s Theatre zur Aufführung gelangten“.23 Ob Verdis ­L eitungsmodus mit dem noch ungewohnten Taktstock die Schuld an dieser Einschätzung trug, ist insoweit zweifelhaft, als Times, Morning Post und ­Morning Chroni­cle sich als begeisterte Berichterstatter erwiesen.24 Dass Loberzeigungen allerdings oft weniger wissenswerte Information liefern als die detailfreudigeren, kritischen Beurteilungen, zeigt Wagners britische Saison mit der London Philharmonic Society im Jahre 1855. Sie kann weder als besonders harmonisch noch als einhellig erfolgreich bezeichnet werden. Einer der beiden einflussreichsten Kritiker war der zitierte Henry Chorley, der andere J.W. Davison für die Times. Beide übten in ihrer bedingungslosen Anhängerschaft Mendelssohns und einer damit einhergehenden Voreingenommenheit gegen Wagner starken Einfluss auf alle übrigen Zeitungen Londons aus. Davison bemerkte Praeger gegenüber noch vor Wagners Ankunft: „As long as I hold the sceptre of musical criticism, I’ll not let him have any chance here.“ Wagner tat seinerseits nichts, um die Situation zu entschärfen. Weder nahm er, wie ihm von Praeger empfohlen worden war, Kontakt zur Kritikerszene auf, noch liebte er es, stereotypen Erwartungen zu entsprechen. Das Tragen von weißen Handschuhen gehörte dazu, eine Vorschrift der Philharmonic Society: „Bisher erschien ich nun wohl auch immer in weißen Glacé-Handschuhen auf dem Orchester, zog diese zum Dirigiren aber jedes Mal aus.“25 Oder an anderer Stelle: „An diesem Abend hatte ich im Beginn des Conzerts zum ersten Male die Handschuhe zum Dirigieren anbehalten, und zwar – aus Malice – für eine Mendelssohn’sche, sehr schlechte Symphonie; zur Euryanthe-Ouvertüre zog ich sie dann aus.“26 Er verlangte – und hierin legte er gewiss den Grundstein für ein wichtiges Identifikationsmerkmal künftiger Dirigentengenerationen – mehr Proben als üblich (bisher traf man sich außer zur sogenannten, weil alle zusammenführenden „general rehearsal“ höchstens ein weiteres Mal). Er entschied sich für einen eher rauen Umgangston – noch dazu, ohne Englisch zu beherrschen –, was seine schroffe Art betrifft, sicherlich auch wegweisend für das Gebaren vieler Generationen deutscher Kapellmeister, das erst in jüngster Zeit durch die Verbreitung höherer, sozialpsychologischer Kompetenz zunehmend obsolet wird. In der Presse wurde sein Auswendigdirigieren gerügt – damit hatte er

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schon in Dresden Anstoß erregt. Der Leser sollte mit einem grotesken „Umfall“-Szenario schockiert werden, das der Eroica hätte widerfahren können, wäre Wagner nicht wider Erwarten Herr der Lage geblieben. Davison schließlich konnte Wagners Schlag nicht verstehen: „He conducts with great vivacity, and beats up and down indiscriminately. At least we could not, with the best intentions, distinguish his ‚ups‘ from his ‚downs‘, and if the members of the band are down to his ‚ups‘ and up to his ‚downs‘ by the end of the season, we shall be ready to present each of them with a quill tooth-pick, as a forfeit for our own lack of discernment.“27 Natürlich geriet Wagners flexible Tempogestaltung wieder ins Kreuzfeuer, weil er sie nicht eindeutig zu vermitteln verstand. Alle Tempi waren falsch. „We may begin by saying that the band has not yet learnt to comprehend – or, at least, does not appear to be over ready and eager to follow with that undeviating attention indisputable to a good performance – the motions of Herr Wagner’s baton. For our own parts, the more closely we observe, the less we can understand him.“ Es folgt eine präzise Darstellung eben jener Temponahmen in der Freischütz-Ouvertüre, die Wagner etwas mehr als ein Jahrzehnt später getreulich in Über das Dirigiren für dieses Werk festschreiben will. Allerdings ging die Ouvertüre „not with quite as much precision as was desirable“. Davison musste immerhin einräumen, dass das Publikum eine Wiederholung verlangte. Natürlich konnte die damalige Kritik – anders als heute – auf keinerlei reproduzierende Tonträger zurückgreifen. Alles war neu oder selten gehört, und Wagner „interpretierte“ bereits, statt durchspielen zu lassen. Das muss von geradezu verstörender Wirkung gewesen sein. Eine beeindruckende Anzahl biographischer Fundstücke verwundert nun zunächst, die belegen, mit welcher Skepsis, mit welchem Unwillen, ja mit welcher Ablehnung die beiden Komponisten der musikalischen Disziplin des Dirigierens, die noch in den Kinderschuhen steckte, begegneten. Als Reaktion auf die zahlreichen Angriffe in der Presse allein lässt sich das bei Wagner nicht erklären. Es geschah ohnehin bei beiden Komponisten aus unterschiedlicher Motivation: Wagner vermag noch nicht zu ermessen, dass sich aus dem Dirigieren bald eine nach allen möglichen Richtungen hin einträgliche Kunst machen lassen würde, und Verdi kann, kraft seines musikalischen Umfeldes, in der Musikdirektion nur eine untergeordnete Beschäftigung erkennen. Das Dirigieren musste ihnen auf der niedrigen Effektivitätsstufe, auf der es sich in der Mitte des Jahrhunderts noch befand, als ziemlich würdelose Funktion erscheinen: In Paris wurden beide Anfang der 1860er Jahre durch einen beispielhaft ungenügenden Dirigenten, Pierre-Louis-Philippe Dietsch, damit konfrontiert, dass auf dem Sektor der musikalischen Leitung einer Oper noch ein weiter künstlerischer Entwicklungsgang zu durchmessen war. Wagner schreibt über die sich bis März 1861 ausdehnende Probenzeit zum Tannhäu-

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ser: „Das eigentliche Hauptleiden entstand uns jedoch durch die in so hohem Grade, als wir jetzt erfanden, vorher nicht vermutete Unfähigkeit des Orchesterdirigenten Mr Dietsch. In den bisher abgehaltenen zahllosen Orchesterproben hatte ich mich gewöhnt, dieses Menschen wie einer Maschine mich zu bedienen; von meinem gewöhnlichen Platze auf der Bühne, dicht vor seinem Pulte,28 hatte ich ihn mit dem Orchester zugleich dirigirt und hierbei vor allen Dingen meine Tempi in der Weise behauptet, daß ich keinen Zweifel darüber haben konnte, alles Angegebene würde auch nach meiner Entfernung von der Mitwirkung fest bestehen bleiben.“29 Dietsch war aber nicht in der Lage, die Tempi zu halten. Wagner wollte kurzerhand selbst übernehmen, was allerdings der Zustimmung von Kaiser Napoleon III. persönlich bedurft hätte. Insgesamt 164 Proben konnten den bekannten Pariser Tannhäuser-Skandal am 24. März 1861 schließlich nicht verhindern. Hans von Bülow, Wagners bedeutendster Nachfolger in der Evolution des Dirigierens und damals als Assistent an seiner Seite, pflichtete seinem Meister bei. Dietsch sei ein „Greis ohne Intelligenz, ohne Gedächtnis, gänzlich erziehungsunfähig, ohne Gehör und der ekelhafteste, dickfelligste, unmusikalischste aller Kapellmeister“.30 Wenn sich das gleiche Schauspiel 1863 auch bei Verdi wiederholte – Dietsch zeigte sich ebenso unfähig, anlässlich der Neuinszenierung von Les Vêpres siciliennes die Orchesterdisziplin an der Opéra zu heben –, wirft das außerdem ein Licht auf die noch wenig profilierte Urteilskompetenz bei der Amtsvergabe der musikalischen Direktion an den Opernhäusern. Dietsch wurde in Verdis Fall umgehend entlassen und durch Hainl ersetzt, nachdem der Komponist ungehalten mit Abreise gedroht hatte. Er willigte diesmal in Folge der Vorfälle mit Dietsch auch nur besonders widerstrebend ein, den ersten drei Aufführungen „vorzusitzen“.31 Die Skepsis Wagners gegenüber der dirigentischen Aktivität hatte frühe Wurzeln in Dresden – es sei daran erinnert, wie Wagner im Spannungsfeld zwischen politischer Umwälzung, seinem vom Hof bestellten Vorgesetzten Wolf Adolph August von Lüttichau und der gegen ihn aufgebrachten Mitglieder der königlichen Hofkapelle seines Amtes oft überdrüssig wurde –, durchlief eine neue Qualität während des Züricher Exils und ist zuletzt verantwortlicher Faktor für sein Fernbleiben vom Bayreuther Dirigentenpult. Damit einher geht offenbar sein Bestreben, das Dirigieren einer Standardisierung zu unterziehen, um es in andere als die eigenen Hände geben zu können, ja gleichsam, um sich des ungeliebtesten Teils seiner musikalischen Existenz schließlich ganz entledigen zu können. Schauen wir auf die Periode seines Schweizer Exils: Zwischen 1850 und 1855 ließ sich Wagner regelmäßig als Dirigent bei der Allgemeinen Musikgesellschaft und für einzelne Vorstellungen am Aktientheater engagieren. Vor allem seine Konzertauftritte waren publikumswirksam und wurden von der Presse gefeiert. Einen besonderen Höhe-

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punkt bildeten die Maikonzerte 1853, denen ohne weiteres der Rang eines ersten ‚Wagnerfestspiels‘ zukommt. In Zürich arbeitete Wagner gleichzeitig auch zum letzten Mal ununterbrochen mit einem identischen Ensemble und leitete auch zum letzten Mal Werke der klassischen Periode. Dabei gelang ihm, „bei der Ausarbeitung des feineren Vortrags [...] eindringlichst zu verweilen“32 und zu einer „Freiheit des Vortrags“ zu gelangen, die er dann ein Jahrzehnt später in Über das Dirigiren für die Nachwelt festhielt. Es passt in dieses Ambiente des Verfeinerns und Zum-Abschluss-Bringens, dass er in Zürich anfing, sich bewusst der Heranbildung des dirigentischen Nachwuchses zu widmen. Wagner verhalf seinem jungen Freund Karl Ritter, Sohn einer ­Gönnerin, auf dessen Wunsch zu einer Anstellung als Kapellmeister am Ak­tientheater. Als dieser schon bei seiner Antrittsvorstellung des Freischütz erkennen ließ, wie unmöglich es ist, sich ohne vorbereitende Einweisung nicht einmal kapellmeisterlichen Mindestanforderungen gewachsen zu zeigen, kam mit Hans von Bülow, dem als Student der Jurisprudenz von Franz Liszt ausge­ bildeten Pianisten, unversehens ein besser geeigneter Kandidat, um Wagner, wo immer möglich, von seinen Dirigierverpflichtungen zu entlasten: „Bei Dir setzte ich mit gutem Grunde voraus, daß ich schneller an das Ziel komme. Kommst Du jetzt sogleich nach Zürich, so steht Dir der [sic] Gehalt von 100 fr. monatlich zu gebote ... nur von mir hängt es ab, dieß Verhältniß so lange, als Ihr hier bleiben wollt, und Du nichts besseres hast, zu verlängern. Du wirst Dich dann als den eigentlichen, angestellten und bezahlten Musikdirector anzusehen haben ... Du bist hier nöthig.“33 Wagner machte seine Absicht, das Dirigentenamt andern zu überlassen, sogar öffentlich: „Herrn Kramers Anerbieten, mich als Musikdirektor bei seinem Theater anzustellen, musste ich – aus allgemeinen, nicht aus besonderen Gründen – von mir weisen; dagegen war es mir erfreulich, Herrn Kramer dazu bereit zu finden, die Musikdirektion zwei jungen Freunden von mir anzuvertrauen, die mir als Schüler in der Kunst nahe stehen. Mußte ich mich natürlich insoweit für meine Empfohlenen verbürgen, als es nöthig war, um den Herrn Direktor gegen die denkbaren Fälle zu versichern, in denen aus der geringeren Erfahrung meiner jungen Freunde dem Theatergeschäftsgange ein Hinderniß entstehen konnte, [...] so habe ich meiner Theilnahme für die hiesige Oper nur noch den andern Wunsch hinzuzufügen, ihr auch tüchtige Dirigenten heranzubilden, da ich selbst außer Stand bin, auf die Länge der Zeit die musikalische Direktion fortzuführen.“34 Sich tatkräftige Stellvertreter heranzubilden und gleichzeitig nach den Grundlagen für eine sinnvolle Dirigierpädagogik zu suchen, blieb Wagner auch 1874 in Bayreuth noch ein wichtiges Anliegen. Unter den Lernwilligen fanden sich Namen wie Anton Seidl, späterer Ring-Dirigent bei Angelo Neumann und an der Metropolitan Opera, Engelbert Humperdinck, Herrmann

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Zumpe, Herausgeber verschiedener Konzertbearbeitungen Wagnerscher Werke, Felix Mottl, Tristan-Dirigent und Orchestrator der Wesendonck-Lieder, Demetrius Lala, Direktor des Athener Konservatoriums, Franz Fischer, Parsifal-Dirigent 1882, und Heinrich Porges, dem wir detaillierte Beschreibungen des Bayreuther Bühnenalltags verdanken. Wagner unterstreicht die Internationalität und den „Gebrauchswert“ seiner Schüler sowie die Effizienz seines Unterrichts gegenüber seinem Gönner Ludwig II.: „Es ist eine aufopferungsvolle Arbeit, welche mehrere sehr tüchtige junge Musiker seit lange bereits übernommen haben, indem sie für die Aufführungen nötige Kopie [sic] besorgen. Sendungen an sie kommen bereits unter der Adresse: „Nibelungenkanzlei“ in Bayreuth ein. Es sind ihrer jetzt vier: ein Sachse Zumpe, welcher schon kapellmeistert hat, ein Ungar, ein Russe und endlich gar ein Mazedonier. Diese bilde ich zugleich als dereinstige tüchtige Dirigenten meines Werkes aus, während sie mir für jetzt in allem dabei helfen müssen. Diese meine Gesellen lasse ich dann des Abends musizieren, und sie behaupten hierbei einzig etwas zu lernen, und mit Blick auf die Höhe der von Ludwig gewährten Subvention, wie anzunehmen ist, jedenfalls mehr als in den teuer ausgehaltenen Konservatorien und Musikschulen.“35 Auch Verdi betätigte sich als Ratgeber, das Dirigieren wird dabei jene beigeordnete Rolle gespielt haben, die ihm auf den Reisen eines gefragten Opernkomponisten zukam, also im Falle Verdis keine, die ihm Schöpferkraft zu nehmen drohte wie bei Wagner. Emanuele Muzio wurde schon erwähnt: Er war in der Tat einer der ersten Maestri mit eigenen Opern im Gepäck, deren Reihe sich später mit Luigi Mancinelli, Leopoldo Mugnone und Giuseppe Martucci fortsetzen sollte. Muzio kann als Verdis Sekretär gelten, seit er 1844 auf fast identischem Bildungswege wie der Meister selbst bei ihm in Busseto und Mailand in die Lehre ging. Muzio ist vor allem als einfühlsamer Zeuge von Verdis künstlerischem Werdegang in Erinnerung geblieben. Er hätte zweifellos die Kairoer Premiere der Aida 1871 dirigiert, wenn er bei den Musikern nicht seit seiner Amtsübernahme als Musikdirektor dortselbst 1869 in Ungnade gefallen wäre. Neben dieser engen Lehrer-Schüler-Beziehung pflegte Verdi immer wieder intensiven Kontakt zu den Kapellmeistern, die seine Opern herausbrachten. Die Briefe an Alberto Mazzucato36 lesen sich, als ob Verdi seine reformatorischen Impulse praktisch durch einen Stellvertreter ans Orchester weitergeben wollte. Mazzucato hatte noch Ende der 1860er Jahre die Autorität sowohl des ersten Geigers als auch des Concertatore angefochten, um schließlich selbst erfolgreich die zentrale Kontrolle zu übernehmen. Ihm oblag es nun, die Partitur des Don Carlo an der Scala 1868 gegen den Vorwurf verteidigen zu sollen, überinstrumentiert zu sein. Als „größter Defekt“ des Orchesters war nämlich bemängelt worden, es spiele zu laut. Verdi lässt Giulio Ricordi daran teilhaben: „Gerade heute[...] habe ich einen sehr langen Brief (6 Seiten)

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an Mazzucato geschrieben und machte eine lange Liste von Vorschlägen in aller nur erdenklichen Höflichkeit. [...] Ich sagte ihm, dass Delikates sehr schwer für unsere Orchester ist, und dass er alle notwendigen Proben abhalten solle, ohne auf den Protest des Impresarios und des Direktoriums zu achten, und im Falle ihrer Opposition solle er sich an Ricordi wenden, und Ricordi würde sie schon seine Wünsche respektieren lassen. Ich hoffe, Du wirst mir nicht in den Rücken fallen.“37 Edoardo Mascheroni, Uraufführungsdirigent des Falstaff, beabsichtigte, bei der von Faccio einstudierten und von ihm später übernommenen Wiederaufnahme des Otello 1892 die Kontrabässe in einer Reihe aufzustellen, um mehr Präzision bei der berühmten Solostelle im 4. Akt zu erzielen. Für Verdi war die italienische Tradition der Allgegenwart der Basslinie, die nur durch eine Aufteilung der Spieler zu beiden Seiten des Orchestergrabens gewährleistet war, ein zentrales Anliegen: „Ich glaube außerdem, dass das Orchester gut aufgestellt und organisiert ist so wie es ist, und ich sage das nicht, weil ich die Schuld daran trage, als ich es so arrangierte, als wir Aida herausbrachten, sondern weil die Instrumente sich so gut mischen, und die Streicher die Bläser in ihrer Mitte umschließen und einhüllen, besonders das Blech. Das wäre nicht der Fall, wenn Sie die Kontrabässe alle in einer Reihe nahe der Bühne platzierten. Das Blech wäre zu exponiert und es gäbe diesen Widerhall von den Theaterwänden.“38 Dies sind wertvolle Hinweise für den Dirigenten wie für den Komponisten und insofern typisch für die von Verdi vertretene Position. Auf einer Liste mit Verdis häufigsten Dirigaten beanspruchte die Messa da Requiem sicherlich einen der vorderen Plätze, gefolgt von Aida. Das ist kein Zufall, hatten doch Verdi und der junge Giulio Ricordi die Öffentlichkeit wissen lassen, mit diesen beiden Schöpfungen sei Verdis Karriere beendet.39 Von nun an, so könnte man meinen, wolle und solle sich Verdi nunmehr auf das Präsidialamt an der auf der Klaviatur ruhenden Partitur im Orchestergraben konzentrieren.40 Am 22. Mai 1874 dirigierte Verdi die Premiere des Requiem in der Kirche San Marco in Mailand sowie Aufführungen an der Scala und kurz darauf auch an der Pariser Opéra Comique. 1875 geht es weiter mit Konzerten, am 19. April abermals in Paris und am 15. Mai in der Londoner Royal Albert Hall. Zur Enttäuschung Verdis war dieser Abend nur mangelhaft besucht. Das viktorianisch-puritanische Publikum befürchtete offenbar zu viel Theatralisches in Verdis sakralem Werk. Er übergab daraufhin einem gewissen Joseph Barnby den Taktstock noch vor dem Ende der Londoner Konzertserie. Das Dirigieren als Selbstzweck war ihm fremd und er lehnte es ab. Und doch war gerade sein Londoner Dirigat Anlass für populäre Bildveröffentlichungen in Vanity Fair: „The fire that burns in [...] his dramatic music, is revealed undiminished [...] as soon as he holds the baton in his hand [...]. He does not merely

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beat time, but conducts in the fullest sense of the word, he mirrors the musical ideas in his expression, his stance and the movement of his baton.“41 Abwechselnd mit Aida setzt Verdi dieses Tournee-Programm anschließend aber bis ins Jahr 1879 in vielen europäischen Metropolen wieder fort. 1875 erreichte er damit Wien, und es war hier, dass die beiden Protagonisten dieser Darstellung fast, aber eben nur fast, gemeinsam unter dem Dach der Hofoper hätten zusammentreffen können. Zu einer persönlichen Begegnung ist es aber nie gekommen: „Wagner und Verdi dirigieren fast zur selben Zeit in derselben Stadt und beide füllen das Theater zum Bersten. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht? Und dieses Mal hat Verdi Wagner sogar übertroffen, da im dritten Konzert Wagners [...] bereits Plätze leer blieben, wohingegen Verdi in der größten Junihitze und trotz erhöhter Eintrittspreise soviel Publikum anzog, um das große Opernhaus sechs Mal zu füllen. Verdis Requiem wurde vier Mal aufgeführt42 und seine Oper A i d a zweimal. Nicht nur das Publikum bekundete dem Maestro und seinen Werken unermüdlich seine Sympathie, sondern auch der Kaiser persönlich.“43 Es war das Jahr, in dem in Wien sowohl Bizets Carmen als auch Goldmarks Königin von Saba sowie eine Neufassung des Tannhäuser (erst 2003 in der Neuen Gesamtausgabe als „Wiener Fassung“ veröffentlicht) aus der Taufe gehoben wurden. Verdis Gastspiel in Wien war von Giulio Ricordi bereits 1873 akribisch vorbereit und sogar Franco Faccio eigens entsandt worden, um Verdi über das Sängerpersonal der Hofoper zu informieren. Seit dem triumphalen Nabucco in Wien waren 32 Jahre vergangen. Verdi erklärte sich bereit, für Aida und vier Aufführungen des Requiems nach langer Dirigierabstinenz44 ans Pult des Hoftheaters zu treten. Diese Darbietungen gingen als unvergesslicher Erfolg in die Wiener Musikgeschichte ein. Nichtsdestoweniger galt das Requiem den Wagners als „ein Werk, worüber nicht zu sprechen entschieden das beste ist.“45 Sie hörten eine von Richter geleitete Aufführung im Winter 1875. Dem war allerdings bereits Bülows Verdikt über Verdis „letzter Oper in kirchlichem Gewand“ in einer Mailänder Tageszeitung vorausgegangen, heftig kritisiert von Brahms: „Bülow hat sich selbst zum Narren gemacht; es ist das Werk eines Genies.“46 Die musikalischen Ereignisse im Wien des Jahres 1875 zogen viele Kommen­tatoren an, und ihre Beobachtungen werfen Schlaglichter auf beide ­Komponisten-Dirigenten. Verdi war der unumstrittene Publikumsliebling: „Im Verlauf der Probe, bei besonders markanten Stellen, übernahmen die ­Mitwirkenden gleichsam die Rolle des Publikums und brachen in lebhafte Beifallsbezeugungen aus. Verdi, der mit den Musikern zumeist französisch verkehrt, soll von der Leistung des Orchesters und Chores im höchsten Grad befriedigt sein, und sprach es wiederholt aus, daß seine schönsten Erwartungen übertroffen seien.“47

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Und in den Signalen für die musikalische Welt war zu lesen: „Verdi’s Persönlichkeit macht einen überaus günstigen Eindruck. Auf einer etwas mehr als mittelgroßen Gestalt, die schlank und wie aus Stahl gehämmert ist, sitzt ein brauner Kopf mit einem energisch herausgearbeiteten Gesicht, dessen Ernst durch den Ausdruck von Wohlwollen gemildert wird [...] Etwas von anmutiger Unbeholfenheit liegt in seinen Bewegungen. Sein Taktschlag ist fest, deutlich, energisch – ganz der Ausdruck seines Charakters.“48 „Fest, deutlich, energisch ...“ Plötzlich lassen sich Wurzeln für eine offenbar „italienische“ Handhabung des Taktschlags ausmachen, als läse man eine moderne Beschreibung Toscaninis. Der Rezensent Theodor Helm bestätigt die „festen, bestimmten Taktlinien“ ebenfalls. Wenn das zwei Beobachter unabhängig voneinander bei Verdi feststellen, besteht kein Grund zu der Befürchtung, es gäbe kein hinreichendes Informationsmaterial zur Art und Weise, wie Verdi dirigiert hat. Er gebe außerdem „mühelos alle Einsätze“, heißt es, und sei kein Selbstdarsteller in theatralischen Posen, „wie man sie später in Wien an reisenden ‚Pult-Virtuosen‘ so oft zu beobachten Gelegenheit hatte.“49 Eine bemerkenswerte Begebenheit überliefert Clemens Hellsberg: „Höchst interessant waren die Proben unter Verdi. Er bediente sich bei denselben seiner Muttersprache [...], bei einer Stelle in der Aida stimmte die hinter der Bühne spielende Musik nicht mit dem Orchester überein, was dem Umstande zuzuschreiben war, daß der Bühnenmusikdirigent den Takt Verdis nicht genau sehen konnte, weil die für diesen Zweck in der Dekoration befindliche Öffnung zu klein war. Verdi kletterte schnell entschlossen vom Orchester aus auf die Bühne, erweiterte eigenhändig mit seinem Taschenmesser die erwähnte Öffnung, und der Kontakt zwischen den beiden Orchestern war hergestellt. Verdis äußere Erscheinung ist aus [...] Porträts bekannt. Keines dieser Bilder gibt indessen den Ausdruck seines großen dunklen Auges wieder, das auf jedermann so ungemein sympathisch wirkte und auf einen reichen Schatz an Herzens=wie Geistestugenden schließen ließ.“50 Der Einsatz der sogenannten „Persönlichkeit“ als Mittel der Dirigiertechnik ist bis heute fester Bestandteil des Kompendiums für den dirigierenden Musiker geblieben: „Ich konnte mich bei dieser Gelegenheit von Neuem überzeugen, wie oft die deutschen Kapellmeister die Tempi der italienischen Oper vergreifen, hauptsächlich aber verschleppen. Auch die Striche, welche man in Deutschland auf oft unbarmherzige Weise in denselben anbringt, zerstören häufig nicht nur den musikalischen Zusammenhang, sondern auch den Gang der Oper.“51 Diese Beobachtung der Wiener Verdi-Vertrauten und Gesangspädagogin Mathilde Marchesi korrespondiert merkwürdig mit Wagners Dresdner Bestandsaufnahmen, die ihn allerdings, wie wir gesehen haben, häufig zu über-

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eilten Tempi verleiteten. Verdi selbst betonte, „was für ein gutes Orchester und was für ein guter Chor! Wie elastisch sie sind und wie gut sie sich leiten lassen. Alles in allem also eine Aufführung, wie man sie nie wieder hören wird!“52 Verdi war zwar ein Gelegenheitsdirigent, aber aus dieser Aussage spricht, dass man ihn zumindest gut „verstehen“ und ihm in seinem Taktschlag folgen konnte, andernfalls hätte ihm das „Leiten“ nicht ähnlich leicht fallen können. Zu den Musikern im Orchester, denen dies offenbar mühelos gelang, gehörte in der Gruppe der Zweiten Geigen auch Arthur Nikisch; er spielte bei dieser Gelegenheit „unter“ Verdi als ordentliches Mitglied des Wiener Hofopern­ orchesters und hatte vorher schon bei Wagners Neunter in Bayreuth als Substitut mitgewirkt. Nikisch notierte im Anschluss an die Aida-Proben genau, was Verdi dem Orchester gesagt hatte und was ihm von Verdis Temporelationen in Erinnerung geblieben war. Auch hier wird gesagt, es seien rasche Tempi gewesen, die Nikisch von Verdi gelernt und bei späteren eigenen Aida-Dirigaten bevorzugt habe.53 Wagner dirigierte im Frühjahr 1875 drei Konzertveranstaltungen mit dem Kaisermarsch und Auszügen aus der zukünftigen Ring-Musik (hier noch als Siegfrieds Tod) in Wien, um Geldmittel für Bayreuth einzuspielen. Wilhelm Kienzl, Komponist des Evangelimann, war Zeuge der Einstudierung: „Man kann sich denken, in welch fieberhafter Erregung ich in den letzten beiden Proben, die Wagner vor seiner „Großen Musikaufführung“ leitete, jedem seiner Worte lauschte. Ich sah ihn da zum ersten Mal, und zwar so, wie ihn Gustav Gaul in einer sehr realistischen, im Grunde humoristischen Zeichnung festgehalten hat: im Sammetflaus, auf dem Haupte das Barrett, um den Hals einen breiten Wollschal, bebrillt. Ich entsinne mich noch deutlich der Lebendigkeit des kleinen großen Mannes, an die mit Humor gewürzte Präzision seiner Bemerkungen, an die Ruhe seiner Stabführung und an die Zähigkeit, wenn es galt, einer Stelle zu dem von ihm gewollten Vortrage zu verhelfen. Von dem Enthusiasmus, den der Kaisermarsch und die Bruchstücke aus der Götterdämmerung unter des ordnungsgemäß im Frack erschienenen Meisters erregten, kann man sich kaum eine Vorstellung machen.“54 Wagner erscheint hier gereifter. Auch er teilte offenbar das Schicksal aller zeitgenössischen wie zukünftigen Dirigenten, mit den Jahren ökonomischer zu werden, was Umfang und Ausmaß seiner Dirigierbewegungen anging. Der allmähliche Wandel der Musikkultur von einer Kompositionskultur zeitgenössischer Musik zu einer Interpretationskultur überwiegend früher entstandener Musik in den letzten beiden Jahrhunderten erfolgte nicht ohne tiefgreifende Spannungen. In die Zeit der ersten Verbreitung der Wahrnehmung des quasi solistisch auftretenden Musikers am Dirigentenpult fällt auch der Beginn der Unterscheidung zwischen den Kapellmeistern, die die traditionelle Personalunion von Komponist und Dirigent weiterhin „ungebrochen“ verkör-

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pern, und solchen, denen das Komponieren als legitimierendes Alibi und Akzidens ihrer andernfalls als wenig glaubwürdig eingestuften Tätigkeit genügt.55 Seit der junge Wagner ausgerechnet an Mendelssohns Beispiel gelernt hatte, als dieser 1843 sein Oratorium Paulus in Dresden selbst dirigierte, wie wesentlich das Werk durch den „berufenen“ Vortrag des Komponisten in seiner Gesamtwirkung profitieren bzw. überhaupt erst zur wahren Vollendung in der Darstellung gelangen konnte,56 seit diesem Zeitpunkt verfolgt Wagner das Dirigieren als interpretative Kunstleistung und verficht diesen Anspruch bei allen öffentlichen Institutionen und deren Vertretern, wo immer sie ihm begegnen mochten. Bleiben die Ergebnisse allerdings hinter seinen Erwartungen zurück, zieht er sich auf seine Bestimmung als Autor des Kunstwerks zurück. Dirigierend beschwor er eine nachschöpferische Potenz des Interpreten als Voraussetzung für ein „Leben“ der Werke, das durch auktoriale Maßnahmen der Komponisten, wie sehr sie sich auch um eine jeden Zweifel ausschließende Niederschrift bemühten, nicht zu gewährleisten sei. Genau das aber macht ihn geradezu zum Antonym des „komponierenden Kapellmeisters“, so wie selbstverständlich auch der Vorwurf der „Kapellmeistermusik“ avant la lettre an seinem Werk zerbricht. Für Verdi stellt sich die Alternative Tonschöpfer versus Orchesterdirektor erst gar nicht; Verdi hat die Ambition, die hinter dem Wunsch steht, Musik dirigierend zu interpretieren, in seinem Land nicht kennengelernt und sie infolgedessen auch nicht verfolgen oder gar auf das Werk anderer Komponisten ausweiten können. Weil Komponisten und Ausführende nur eine einzige musikalische Sprache redeten – die der eigenen Zeit und des eigenen Landes –, „ließ sich eine durchaus angemessene Aufführung mit Interpretationsmitteln bestreiten, die für jeden Musiker selbstverständlich waren und über die man sich ohne umständliche Proben und ohne Unterwerfung unter die Diktatur eines Dirigenten zu verständigen vermochte.“57 Wenn sich Verdi entschloss, einer öffentlichen Darbietung einer seiner Opern oder seines Requiems „vorzustehen“, scheint es zunächst um elementare Elemente der Ausführung gegangen zu sein, an denen es der italienischen Musizierpraxis seiner Zeit noch mangelte. An „Interpretation“ konnte seinem repräsentativen Dirigat aus diesem schlichten Grunde nicht gelegen sein. Es stand etwa auf halbem Wege der seit etwa zwei Jahrhunderten diskutierten Frage, an welchem Ende der Skala der hermeneutische Mythos vom Interpreten beginnen solle: als eigentlicher Vollender des Werkes oder in der Vorstellung vom Musiker als dem geradezu willenlosen Medium der Komponistenintention.58 Der Begriff der „Interpretation“ entwickelt sich zeitgleich mit der der „Kapellmeistermusik“ und beginnt sich als Synonym für die „Aufführung“ von Musik weithin erst im 20. Jahrhundert durchzusetzen, nachdem ihm Persönlichkeiten wie Clara Schumann, Hans von Bülow und nicht zuletzt Franz

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Liszt den instrumentalen Boden bereitet hatten: „Obschon ich bemüht war, durch genaue Anzeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, so verhehle ich doch nicht, daß Manches, ja sogar das Wesentliche, sich nicht zu Papier bringen läßt, und nur durch das künstlerische Vermögen, durch sympathisch schwungvolles Reproduzieren, sowohl des Dirigenten als der Aufführenden, zur durchgreifenden Wirkung gelangen kann. Dem Wohlwollen meiner Kunstgenossen sei es daher überlassen, das Meiste und Vorzüglichste an meinen Werken zu vollbringen.“59 Dem noch jungen Bewusstsein für die konstitutive Interpretationsbedürftigkeit komponierter Musik stellt sich die auch in Verdis Italien noch vorherrschende Vorstellung einer grundsätzlich objektivierbaren Lehre vom musikalischen „Vortrag“ an die Seite. Und wie hätte Wagner auf den bis heute gültigen Anspruch der Musikwissenschaft reagiert, Musik interpretieren hieße Musik „verstehen“ und nicht „Musik machen“? Er hat damit begonnen, nur die klingende Realisierung der Komposition als Medium ihrer Objektivation zuzulassen und alles „Verstehen“ in sie einfließen zu lassen als „Prozess des Entdeckens und Aktualisierens immer neuer Möglichkeiten der zu dem Werkschema gehörigen potentiellen Gestalten des Werkes“.60 Ferdinand Hiller, in dessen Dresdner Salon Wagner mit den Schumanns und Bakunin zusammenkam und dessen Opern Der Traum in der Christnacht 1844 und Konradin 1847 er in Dresden wiederaufnahm, war auch Initiator der deutschen Erstaufführung von Verdis Requiem 1877 bei den Rheinischen Musikfesten in Köln. 1868 begab er sich als ein äußerst vielseitiger europäischer Musikexperte in die Mitte der Diskussion: „Die Notwendigkeit der Reproduktion des geschaffenen Kunstwerkes durch die Ausführung ist ein Grundübel der Musik.“61 Hiller macht hierin Verdis Pragmatik ebenso begreiflich – lasst dem Werk seine Eigendynamik und fügt nichts hinzu, was nicht drin steht – wie Wagners unabweisliches Postulat, den „Geist“ der Tonschöpfung sprechen zu lassen, ohne den das Werk nicht zum Leben erweckt werden kann. Auf dem damaligen Stand der Orchester-Interpretation wurde es Hiller schwierig, es war ein „Übel“, einem der beiden Pole den Vorzug geben zu sollen. Zu Wagners Findungen gehört aber nicht nur die Fähigkeit und Notwendigkeit des Dirigierens als interpretative Leistung, sondern auch dessen Erhebung in einen gesonderten Berufsstand, der sich von der überkommenen Personalunion Komponist-Dirigent emanzipiert. Und in dieser Hinsicht ist Wagner während der ersten Intensivphase seiner Dirigiertätigkeit schon bald zu einer Entscheidung gedrängt worden. Er hat anhand der vielen äußeren Widerstände und Missliebigkeiten des Betriebes, wie er ihn vorfand und nicht nachhaltig genug nach seinen Vorgaben revolutionieren konnte, dem Dirigieren abgeschworen. Stimmt diese Hypothese, so kann Wagner auch als Begründer einer Tradition gelten, laut derer Dirigenten wie Weingartner, Pfitzner

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oder Furtwängler ihr Dirigieren nur als das „Dach“ bezeichnen wollten, unter das sie unter dem Druck äußerer Umstände als Komponisten geflüchtet seien. Es hat den Anschein, als ob Verdi sich Zeit seines Lebens dieser Entscheidung auf seiner glücklichen (Halb-)Insel nicht zu stellen brauchte.

Anmerkungen   1 Richard Wagner, Bericht an Seine Majestät den König Ludwig II. von Bayern über eine in München zu errichtende deutsche Musikschule, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 8, Leipzig 1873, S. 183.   2 Vgl. Julian Budden, Verdi and the Contemporary Italian Operatic Scene, in: A Verdi Companion, hrsg. von Martin Chusid, Toronto 1979, S. 69.   3 So auch in England und am Theatre Italien in Paris bis etwa zur Jahrhundertmitte.   4 Vgl. Verdis berühmten Brief von 1871 an Francesco Florimo; vgl. Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, Bd. III, 1959, S. 118f.   5 Vgl. Ivano Cavallini, Il direttore d’orchestra. Genesi e storia di un’arte, Venezia 1998.  6 Vgl. Eugen Schmitz (Hrsg.), Louis Spohr’s Selbstbiographie, Kassel 1954.  7 Briefe von Moritz Hauptmann an Franz Hauser, 2 Bde., Leipzig 1871, S. 67.   8 Hector Berlioz, Mémoires, hrsg. von Pierre Citron, Paris 1969, Bd. I, S. 235.   9 Stefan Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, Regensburg 1983, S. 12. 10 Richard Wagner, Über das Dirigiren, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 8, Leipzig 1873, S. 337. 11 Ebd., S. 338. 12 Brief an Marie Wittgenstein, 1857, in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 5, S. 185. 13 Vgl. hierzu auch Gunther Schuller, The Compleat Conductor, New York 1997, S. 84ff. 14 Neue Zeitschrift für Musik, 3. Oktober 1848, Jg. 1834–1914, Leipzig, S. 1056. 15 1859 in Frankreich per Regierungsbeschluss a’ = 435 Hz. 16 Vgl. Gertraut Haberkamp, Wagner und das unglaubliche Vergreifen der Tempi bei den Werken Mozarts, in: Schlagen Sie die Kraft der Reflexion nicht zu tief an, hrsg. von Klaus Döge et al., Mainz 2002. 17 Ferdinand Praeger, Wagner, as I knew him, London 1892, S. 235. 18 Vgl. Gregory W. Harwood, Verdi’s Reform of the Italian Opera Orchestra, in: 19th Century Music 10 (1986–87), S. 108. 19 Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, 4 Bde., Bd. III, Milano 1959, S. 249. 20 Lettres inédites de G. Verdi à Léon Escudier, in: Rivista musicale italiana 35 (1928), S. 526. 21 Giuseppe Verdi, Briefe, hrsg. von Hans Busch, Frankfurt 1979, S. 57. 22 Muzios Bericht nach Frank Walker, The Man Verdi, Chicago 1982, S. 127. 23 Vgl. The Musical World, 4. September 1847, S. 566. 24 Ebd., S. 234. 25 Brief an Minna v. 17. April 1855, in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 7, Wiesbaden/Leipzig 1967. 26 Brief an Kietz v. 27. April 1855, in: ebd. 27 Musical World, 17. März 1855, S. 171.

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28 Der Dirigent agierte in Paris zu diesem Zeitpunkt mit dem Rücken zum Orchester im Graben direkt an der Bühnenmitte. Vgl. Henri Kling, Der vollkommene MusikDirigent, Hannover 1890, S. 273. 29 Richard Wagner, Mein Leben, München 1963, S. 113. 30 Hans von Bülow, Briefe und Schriften, Bd. IV, Leipzig 1895, S. 138. 31 Vgl. Julian Budden, Verdi. Leben und Werk, Stuttgart 1993, S. 54. 32 Richard Wagner, Mein Leben, München 1963, S. 248. 33 Brief an Bülow vom 5. Oktober 1850, in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 3, hrsg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Wiesbaden/Leipzig 1967. 34 Eidgenössische Zeitung v. 18. Oktober 1851, in: Jg. 1850–1858, Zürich. 35 Brief an Ludwig II., 1. Oktober 1874, in: König Ludwig II. und Richard Wagner, Briefwechsel, Karlsruhe 1936, S. 129. 36 Alcune lettere inedite sul Don Carlos dal carteggio Verdi-Mazzucato, in: Atti dei Congressi di Studi Verdiani, Bd. II, Parma 1972, S. 539–541. 37 Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, Bd. III, Milano 1959, S. 168. 38 Abbiati, Giuseppe Verdi, Bd. IV, Milano 1959, S. 521, Übersetzung v. Verf. 39 Brief Verdis an Filippo Filippi vom 9. Dezember 1871, in: Gaetano Cesari/Alessandro Luzio, I copialettere di Giuseppe Verdi, Milano 1913, S. 272. 40 Es folgten aber bekanntlich noch die Revisionen von Simone Boccanegra, Otello, Falstaff und die Quattro pezzi sacri. 41 August Guckeisen, in: Marcello Conati (Hrsg.), Interviews and Encounters with Verdi, London 1984, S. 125. 42 Das vierte Konzert leitete Verdi mit Armschlinge wegen einer „Nervenaffektation am linken Handgelenk“, was für sein von verschiedenen Beobachtern attestiertes Vermögen und seine Absicht spricht, den Taktstock ökonomisch zu handhaben. Vgl. Die Presse, Nr. 165, 16. Juni 1875, Local-Anzeiger, S. 10. 43 Monthly Musical Record, Vienna Correspondent, August 1875. 44 Als letztes hatte Verdi 1850 Stiffelio dirigiert. 45 Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. II, 1982, S. 946, hier zit. n. Julian Budden, Verdi, Stuttgart 1987, S. 126. 46 Joseph Viktor Widmann, Johannes Brahms in Erinnerungen, Berlin 1898, S. 132. 47 Bericht in der Neuen Freie Presse, 8. Juni 1875, Nr. 3872. 48 Signale für die musikalische Welt XXXIII, Jahrgang Nr. 30, Juni 1875, S. 466ff. 49 Der Merker, 7. Jahrgang, 15. Februar 1916, Heft 4, S. 156ff. 50 Vgl. Clemens Hellsberg, Demokratie der Könige. Die Geschichte der Wiener Philharmoniker, Wien 1992, S. 242. 51 Mathilde Marchesi, Marchesi and Music: Passages from the Life of a Famous SingingTeacher, New York 1897, S. 161ff. 52 Verdi an Giuseppe Piroli, 12. Januar 1875, in: Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, Bd. III, Milano 1959, S. 752. 53 Vgl. Ferdinand Pfohl, Arthur Nikisch, Berlin 1922, S.15f. 54 Hans Sittner, Kienzl-Rosegger. Eine Künstlerfreundschaft, 1876–1918, Zürich 1953, S. 52. 55 Vgl. den Beginn dieses Beitrags. 56 Vgl. Ulrike Thiele, Wagners Dresdner Opern-Dirigate, in: Internationales Symposium Richard Wagner in Dresden, Januar 2013.

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57 Carl Dahlhaus, Der Dirigent als Statthalter, in: Melos/Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 2, 1976, S. 370f. 58 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Die musikalische Interpretation und ihre Geschichte, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.Mai 2002, Nr. 118. 59 Franz Liszt, Vorrede zur Symphonischen Dichtung Ce qu’on entend sur la montagne, Eulenburg 3649, S. 11. 60 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft, Halle 1931, S. 89. 61 Ferdinand Hiller, Aus dem Tonleben unserer Zeit, Bd. I, Köln 1868, S. 238.

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Verdi, Wagner und die Politik „Die Aufführung des Nabucco in der Mailänder Scala 1842 wird als Beginn des italienischen musikalischen Risorgimento betrachtet. Das patriotische Element ist wertvoll für Verdis Kreativität und erscheint immer wieder. Es drückt sich auf den berühmten (Partitur-)Seiten mit Chören aus, in denen, als Metapher der vom Libretto evozierten historischen Ereignisse, es immer das italienische Volk ist, das singend seinen Willen zum Ausdruck bringt, sich gegen die Unterdrückung zu erheben und das Gefühl seines unbeugsamen Stolzes zum Ausdruck bringt. [...] Die Oper Verdis wurde zur Biblia pauperum der Patrioten im 19. Jahrhundert erklärt, gerade weil er es verstand, durch das Medium des Melodramma, der beliebtesten Theaterform der Epoche, den patriotischen Gefühlen des Adels, der Bürger und der [Frauen und Männer] aus dem Volk, die in ganz Italien zu den Vorstellungen herbeieilten, eine Stimme zu geben. [...] Mit Mazzini, Garibaldi, Cavour und Vittorio Emanuele II. ist Giuseppe Verdi das Symbol des Risorgimento, und seine Anhängerschaft an die patriotischen Ideale war echt und leidenschaftlich, wobei er immer einen volkstümlichen Geist bewahrte, für den ihn die Leute liebten.“1

Der hier zitierte Text von Gianmaria Patrone findet sich im Internet und spiegelt eine weitverbreitete, vielleicht nicht ausrottbare Meinung über Verdi wieder, die den Mythos des Komponisten für bare Münze nimmt und ihn zum musikalischen Heroen des Risorgimento und der Vereinigung Italiens macht. Tatsächlich entbehrt eine solche Darstellung in fast allen Punkten jeder historischen Grundlage, wie man seit den Arbeiten von Roger Parker und Birgit Pauls aus der Mitte der 1990er Jahre weiß.2 Deren Entmythologisierung der Biographie Verdis war, auch wenn sie im Detail ergänzt oder korrigiert werden muss, so einschneidend, dass selbst wissenschaftliche Autoren sie nicht wahrhaben wollen. Allerdings ist deren Einwand, dass der Italiener an sich eine solche entmythologisierte Darstellung Verdis nicht akzeptiere,3 ebenso wenig als wissenschaftliches Argument brauchbar wie der schiere Glaube an die Bedeutung Verdis für den Risorgimento.4 Während solche Reaktionen wohl dadurch verursacht wurden, dass das Bild des politischen Verdi seit spätestens den 1870er Jahren festzustehen schien und abweichende Deutungen nicht existierten, gab und gibt es eine einheitliche Deutung Richard Wagners, auch bedingt durch den Nationalsozialismus, nicht. Am auffallendsten im weiteren Bereich des Politischen in Wagners Biographie ist im Rückblick zweifellos seine Schrift Das Judenthum in der Musik, weil sie eine der in

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einer breiteren Öffentlichkeit immer noch bekanntesten antijüdischen Schriften des 19. Jahrhunderts ist, deren Bedeutung im Hinblick auf den späteren nationalsozialistischen Antisemitismus erheblich zu sein scheint. Die Schrift hat Wagner allerdings schon bei ihrem Erscheinen in Buchform 1869 in weiten Kreisen intellektuell diskreditiert. Den politischen Wagner auf seinen Anti-Judaismus reduzieren zu wollen ist freilich kaum statthaft – und angesichts der vielen politischen Äußerungen Wagners auch kaum machbar. Das Judenthum in der Musik ist nur ein Symptom für Wagners Zugang zur Politik, der sich von dem Verdis grundlegend unterscheidet. Ein Symptom ist die Schrift allerdings auch für die historischen Deutungsversuche Wagners, der im Gegensatz zu Verdi, der spätestens seit den 1870er Jahren mythisiert wurde, als Person wie als Komponist niemals unumstritten war und dessen Schriften im Laufe der letzten 100 Jahre ebenso häufig umgedeutet worden sind wie sein Leben – abhängig von den jeweiligen politischen und historischen Rahmenbedingungen. Wagner existierte nicht als deutscher Mythos, sondern als deutscher Streitpunkt, sei es im Hinblick auf seine Biographie (die er viel früher als Verdi anfing zu inszenieren) oder sein Werk. Verdis und Wagners Verhältnis zur Politik in einem nicht allzu langen Text zu behandeln zwingt dazu, exemplarisch das Charakteristische herauszuarbeiten. Es bietet sich an, das Verhältnis Verdis und Wagners zur Politik anhand eines vergleichbaren Ereignisses darzustellen, nämlich der Revolutionen von 1848 bzw. 1849. Verdi war vor 1848 vor allem in Norditalien sehr erfolgreich und es zeichnete sich trotz der immer wieder aufkommenden Kritik an seinem lärmenden und gelegentlich sogar als teutonisch bezeichneten Kompositionsstil ab,5 dass er der kommende Komponist Italiens sein könnte. Obgleich er in Italien schon eine Berühmtheit war, war in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre auf italienischen Bühnen immer noch Donizetti der führende Komponist.6 Aber Donizetti komponierte schon seit einigen Jahren nicht mehr und dämmerte im Zustand geistiger Umnachtung in einem Pariser Irrenhaus vor sich hin. Rossini wollte seit 1829 keine Opern mehr komponieren, Bellini war 1834 gestorben. Mercadante und Pacini hatten den Zenith ihre Ruhms schon seit einiger Zeit überschritten. Verdi reüssierte 1842 mit dem sensationellen Erfolg des Nabucco. Aber nicht alle der nachfolgenden Opern waren so erfolgreich wie Nabucco, Ernani (1844), Attila (1846) oder Macbeth (1847)  – I due Foscari (1844) und Alzira (1845) waren bei der Uraufführung nicht günstig aufgenommen worden, Il corsaro (1848) wurde zum Fiasko. Und bei seinen beiden ersten Versuchen auf internationalen Opernbühnen (I masnadieri, London 1847; Jérusalem, Paris 1847) war Verdi gescheitert. Der Komponist befand sich immer noch in einem Stadium, in dem seine Karriere zwar wahrscheinlich, aber noch nicht endgültig gesichert war. Uwe Schweikert hat die fiktive Frage gestellt, was gewesen wäre, wenn Verdi 1850 aufgehört hätte zu komponieren, und vermutet, dass er dann wohl

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eher eine Randfigur der Operngeschichte geblieben wäre,7 die einige experimentierfreudige Opern komponiert hatte, deren Bedeutung aber kaum über die Mercadantes oder Pacinis hinausgehen würde. Diese biographisch wie im Hinblick auf die künstlerische Konzeption durchaus ambivalente Lage war Verdi gewiss bewusst. Immer noch versuchte er evolutionär,8 eine ästhetisch neue und autonome Opernform zu entwickeln.9 Und obwohl seine persönlichen Lebensumstände 1848 mehr als befriedigend waren, zeigen seine Landkäufe in Bussetto, dass er versuchte, sich angesichts der immer gefährdeten Lage des freischaffenden Komponisten materiell für die Zukunft abzusichern. Wagners Karriere als deutscher Opernkomponist war 1848 bei weitem noch nicht so fortgeschritten wie diejenige Verdis als italienischer Opernkomponist. Dennoch standen die Zeichen auch für Wagner durchaus nicht ungünstig. 1842 hatte er mit seinem Rienzi in Dresden einen für eine deutschsprachige Oper sehr ungewöhnlichen großen Erfolg erzielt. 1843 wurde Wagner KöniglichSächsischer Kapellmeister an der Dresdener Hofoper, immerhin eine der prestigeträchtigsten deutschen Kapellmeisterstellen, die einst Carl Maria von Weber innegehabt hatte. 1843 erfolgte in Dresden die Uraufführung des Fliegenden Holländer, 1844 folgt die Aufführung des Werks an der Berliner Hofoper, allerdings blieb der Holländer zunächst dennoch erfolglos und auch der ebenfalls in Dresden 1845 uraufgeführte Tannhäuser erwies sich noch nicht als Durchbruch. Alle drei Opern waren auf deutschen wie auf internationalen Bühnen erst nach 1850 erfolgreich. Wagner war Hof-Angestellter, eine Tatsache, die ihm zum ersten Mal in seinem Leben zwar ein gesichertes, wenn auch nicht allzu hohes Einkommen sicherte, ihn aber auch durch die Tages- und administrativen Verpflichtungen einengte. Wagner wollte Opernkomponist sein, nicht Hofkapellmeister. Von Schulden geplagt, auf den deutschen Bühnen noch nicht erfolgreich, von internationalen ganz zu schweigen, in häufigem Konflikt mit der Intendanz, die seinen Reformvorschlägen ebenso wie seinem persönlichen Verhalten wenig gewogen war, und in der Ungewissheit, ob jene Opernprojekte, an denen er arbeitete, zum Erfolg führen würden, befand Wagner sich in einer subjektiv unbefriedigenden, wenn nicht ausweglosen Lage, deren gordischen Knoten zu zerschlagen die kommende Revolution geeignet war.

Richard Wagner Im Gegensatz zu Verdi hat Richard Wagner sich schon in jungen Jahren nicht von der Politik ferngehalten. Ob die Sympathie für die Pariser Julirevolution 1830 oder für den polnischen Freiheitskampf 1831 jedoch mehr als eine jugendliche Protestschwärmerei waren, lässt sich im Nachhinein ebenso wenig beurteilen wie eine mögliche politische Prägung in den Pariser Armutsjahren

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1839–1842. Mit Sicherheit kam es jedoch in Dresden durch die Gespräche mit dem Musikdirektor August Röckel, einem „sozialrevolutionären Anarchisten“,10 zu einem, wenn auch vorerst dilettantischen Politikverständnis. Wagner las keine politischen Manifeste oder Bücher, er ließ sich von Röckel berichten, was darin stand. Oder er diskutierte die politische Lage mit Röckel, Gottfried Semper und anderen am Stammtisch im Restaurant Engel. Spätestens im Herbst 1846 war Wagner von revolutionärem Elan erfasst und hielt, wie der Schriftsteller Alfred Meißner berichtete, „die politischen Zustände für reif zur gründlichsten Veränderung“.11 Wie sich dies in der Praxis niederschlug, wissen wir, obwohl Wagner seine Beteiligung an der Dresdener Revolution im Mai 1849 später immer wieder zu verharmlosen suchte. Schon im April fanden Besprechungen „über die Bewaffnung des Volkes“12 in Wagners Garten statt, er beteiligte sich an konspirativen Zusammenkünften, bestellte aller Wahrscheinlichkeit nach sogar Handgranaten zur Volksbewaffnung, war aktiv im Vaterlands-Verein tätig, versuchte das sächsische Militär in einer aberwitzigen Aktion mithilfe von kleinen Transparenten auf die Seite des Volks zu ziehen, fand sich als Kundschafter auf dem Turm der Kreuzkirche wieder, verließ dann schließlich am 9. Mai Dresden, entging in Chemnitz nur durch einen glücklichen Zufall der Verhaftung und flüchtete über Weimar in die Schweiz. Am 16. Mai 1849 erließ die Dresdener Polizei den ersten Steckbrief Wagners. All dies betraf die mehr oder weniger unglückliche Realität Wagners als Politiker. Auch später, in München, wird sein Eingreifen in die politische Realität nicht besser enden. Was aber in Dresden begann und fortan für Wagner grundlegende Bedeutung haben sollte, das war die systematische Verbindung politischer Gedanken im weitesten Sinne mit seiner Kunstkonzeption. In seinem weiteren Leben wird sich dies in durchaus unterschiedlicher Weise und unterschiedlichen Gewichtungen niederschlagen, aber eine untrennbare Abhängigkeit der Kunstkonzeption vom Politischen und umgekehrt blieb erhalten, wobei Wagners Rezeption philosophischer und anderer Schriften jeweils beides beeinflusste.13 Rückblickend bemerkte Wagner zu seinen Gesprächen mit Röckel: „Namentlich hatte er die Umgestaltung aller bürgerlichen Verhältnisse [...] durch seine Folgerungen aus einer vollständigen Veränderung ihrer sozialen Grundlage bereits zu einer sehr zusammenhängenden Darstellung davon ausgebildet. Auf die Proudhonschen und anderer Sozialisten Lehren von der Vernichtung der Macht des Kapitales durch die unmittelbar produktive Arbeit baute er eine ganz neue moralische Weltanschauung auf, für welche er mich allmählich durch einige sehr anziehende Behauptungen darüber selbst insoweit gewann, dass ich nun wieder meinerseits darauf die Realisierung meines Kunstideals aufzubauen begann.“14 Es folgen hierauf zwei politisch harmlose Beispiele aus den Diskussionen mit Röckel, die sicher nicht den Kern der Gesprä-

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che betreffen, sondern entsprechend der Tendenz Wagners in Mein Leben der Verharmlosung dienen. Dann fährt Wagner fort: „Diese und ähnliche mit wirklich schöner Emphase von Röckel mir eröffneten Andeutungen leiteten mich selbst zu weiterem Nachdenken und meinem Sinne genehmer Ausbildung von Vorstellungen einer möglichen, meinen höchsten Kunst-Idealen gänzlich, ja einzig entsprechenden Gestaltung der menschlichen Gesellschaft an.“15 Zwar sind biographische Erinnerungen, zumal im Falle Wagners, mit Vorsicht zu betrachten, doch bestätigt Wagners weiteres Leben den hier erwähnten entscheidenden Zusammenhang. Von größerer Bedeutung als das, was Wagner von Röckel an politischen Einsichten erfuhr, ist nämlich Wagners eigene Einsicht, dass die „Realisierung“ seines „Kunstideals“ auf einer „neuen moralischen Weltsicht“ basierte. Sein „Kunstideal“ war für Wagner fortan mit seinen gesellschaftlichen Prämissen verbunden, die, da sie aus Wagners Sicht noch nicht zu seinem „Kunstideal“ passten, notwendigerweise geändert werden mussten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass vor allem die sogenannten „Kunstschriften“ Wagners nie von politischen Implikationen frei sind. In Dresden freilich verlief Wagners Verknüpfung von Kunst und Politik zunächst weniger auf metaphysischem oder ästhetischem Gebiet als auf einem ganz praktischen. Etwas überspitzt ließe sich formulieren, dass die Schnittmenge zwischen „Kunstideal“ und Politik nichts anderes als die Person Wagners selbst als Urheber seiner Kunst war, woraus folgte, dass Wagners Vorstellungen sich nicht abstrakt entwickelten, sondern im Zusammenhang der institutionellen und materiellen Voraussetzungen seiner Kunst. Martin Gregor-Dellin meinte, die Vermischung von Politik und Kunstideen „machte es später so schwer zu entscheiden, wofür er [Wagner] eigentlich die Revolution gewollt hatte“.16 Doch darf man nicht die revolutionäre Praxis Wagners mit der Grundüberzeugung verwechseln, dass eine Revolution den Boden für seine Kunstideen bereiten würde. So unklar dem Stammtischpolitiker Wagner die konkreten politischen Ziele der Revolution gewesen sein mögen, so klar war ihm, dass es zunächst auf die Revolution an sich ankam. Es ging erst einmal nur darum, die, wie er es 1851 in der Mitteilung an meine Freunde nannte, „Nichtswürdigkeit der politischen und sozialen Zustände [...], die aus sich gerade keine andern öffentlichen Kunstzustände bedingen konnten, als eben die von mir angegriffenen“,17 hinwegzufegen.

König und Republik Als, angeregt durch die Pariser Februarrevolution von 1848, in Sachsen erste revolutionäre Bestrebungen entstanden, die im März 1848 unter anderem die Aufhebung der Zensur, eine Reform des Wahlgesetzes und die Aufhebung

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einiger Feudalrechte18 zur Folge hatten, scheint das Wagner, der gerade an der Lohengrin-Niederschrift arbeitete, etwas überrascht zu haben. Das galt vor allem für die Richtung, die die Dinge nahmen, denn es drohte die Streichung der Subventionen für das Hoftheater, womit die Kunst, vor allem die Kunst Wagners bedroht war. Der griff daraufhin zur Feder, um den zuständigen Ministern des neuen Dresdener Reform-Kabinetts einen am 11. Mai19 fertiggestellten Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen20 zuzuleiten. Wagner forderte darin unter anderem eine Herauslösung des Theaters aus der Hofbürokratie, also aus dem Haushalt des Königs, und eine Unterstellung unter das Ministerium, also eine Zuordnung des Theaters zur öffentlichen Staatsverwaltung, was logischerweise auch eine Öffnung der bisher dem Adel vorbehaltenen Stellen für Bürgerliche zur Folge gehabt hätte. Auch eine gewisse Demokratisierung – z.B. die Wahl des Direktors durch die Mitglieder des Theaters – war in Wagners Forderungen enthalten. Was aber auch enthalten war, war die Forderung nach einer Gehaltserhöhung für den Kapellmeister (also Wagner selbst), die aus dessen neuer Rolle erwuchs. Der Kapellmeister nämlich sollte zwar gewählt werden, blieb danach aber auf Lebenszeit im Amt bzw. wurde bei Unfähigkeit nicht etwa gekündigt, sondern pensioniert. Die übrigen Forderungen Wagners in Bezug auf den Kapellmeister liefen auf eine faktische Machtlosigkeit des Theater-Direktors in allen Belangen, die die Kapelle betrafen, hinaus. Wagner hätte allein die Macht über das Orchester und die Sänger und damit in letzter Konsequenz auch über alle künstlerischen Fragen gehabt. Ohne hier im Einzelnen auf Wagners Vorschläge eingehen zu können, ist es doch offensichtlich, dass der Entwurf der Logik folgte, dass das Kunstideal nur durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Zustände, und das hieß konkret: der Zustände am Hoftheater, erfolgen konnte. Und der berufene Experte, dies durchzuführen, wäre natürlich in seiner Vorstellung Wagner selbst gewesen (er übersah dabei den Wahlvorgang, bei dem es durchaus zweifelhaft gewesen wäre, dass er aus ihm erfolgreich hervorgegangen wäre). Der Entwurf wäre im Falle der Realisierung noch in einem anderen gravierenden Punkte für Wagner günstig gewesen. Eine Jury sollte nämlich über die zu spielenden Stücke unter Berücksichtigung nationaler Interessen und mit Stimmenmehrheit entscheiden. Ausländische Werke sollten nur dann zugelassen sein, wenn sie in einer deutschen Bearbeitung der deutschen Kunst würdig seien. In der Praxis hätte dieser Vorschlag das Potential gehabt, die Wagner unerwünschten Werke französischer oder italienischer Komponisten von der Dresdener Bühne fernzuhalten und so die Konkurrenz seiner eigenen Opern zu reduzieren (es war, wohlgemerkt, von Werken und nicht von Komponisten die Rede, so dass unter die Regelung auch die französischen Opern des Preußen Meyerbeer gefallen wären).

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Ein Problem war für den Entwurf bezeichnend: Wagner erkannte sehr klar, dass die bisherige Bedeutung der Hofopern von den Subventionen der Fürsten abhing. Da technisch gesehen die Hoftheater Bestandteil des fürstlichen Haushalts waren, finanzierten die deutschen Fürsten ihre Opernhäuser aus ihrem Privatvermögen bzw. der Civilliste, also jenem Geld, das im konkreten Fall dem König von Sachsen vom Staat Sachsen zugewiesen wurde (das waren ca. 10 % des Staatshaushalts). Eine fiskalische, ständische oder parlamentarische Kontrolle dieser Geldmittel des fürstlichen Haushalts existierte nicht, nachdem die Gesamtsumme einmal zugewiesen war. Der König konnte darüber frei verfügen. Das hatte für die Hoftheater Vor- und Nachteile. Denn einerseits standen die Gehälter der Kapellmitglieder im Belieben des Königs und waren darum in Sachsen seit Jahren nicht angehoben worden. Andererseits aber scherten sich die Hoftheater-Intendanten in Deutschland häufig nicht um den vom Fürsten zugewiesenen Theater-Etat und überzogen permanent ihr Budget. Da der Fürst sich die Blamage eines Hoftheaterbankrotts nicht leisten konnte, glich er in der Regel die Fehlbeträge aus. Und generell richteten sich die Zuweisungen an die Hoftheater immer noch nach deren Funktion als eher fürstliches denn staatliches Repräsentationsinstrument, was schlecht für die Civilliste – denn die Kosten wuchsen dadurch –, aber gut für die Kunst war, weil der Etat insbesondere der großen Hoftheater die Etats der kleineren Stadttheater um ein Vielfaches übertraf. Insofern hatte Wagner zweifellos recht, wenn er das künstlerische Florieren der Hoftheater auf die Fürsten zurückführte. Anlass von Wagners Entwurf war nun genau die Gefährdung dessen, was die Zugehörigkeit des Hoftheaters zum königlichen Haushalt verhindert hatte, nämlich die unkontrollierte Höhe der Subventionen. Denn es waren im Mai 1849 radikale Abgeordnete, die eine Streichung der Theater-Subventionen forderten, wie Wagner in seiner Autobiographie berichtet.21 Wagner musste klar sein, dass ein Ende der Subventionen auch das Ende aller seiner Pläne zur Verwirklichung seines Kunstideals bedeutete (noch heute kann kein Opernhaus ohne Subventionen, seien sie staatlicher oder privater Natur, existieren). Insofern war diese Frage, auch wenn sich Wagners Lösungsvorschlag in concreto nur auf das Königreich Sachsen bezog, eine prinzipielle Frage, nämlich die nach der Sicherstellung von – aus Wagners Sicht – ausreichenden Subventionen auch dann, wenn diese einer staatlichen und darum auch parlamentarischen Kontrolle unterlagen. Im Gegensatz zu den Zuweisungen aus der Civilliste, die sich faktisch an den Bedürfnissen des Theaters orientierte, hätten sich staatliche Zuweisungen an politischen und budgetären Bedingungen orientiert (und wären damit voraussehbar gesunken). Wagner forderte zunächst, dass die Subventionen des Hofes in gleicher Höhe vom Staat übernommen werden sollten. Allerdings behob dies die grund-

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sätzliche Gefahr einer wie auch immer gearteten parlamentarischen Kontrolle der Subventionen nicht. Was am Ende von Wagners Entwurf zunächst unlogisch erscheint, ergibt vor diesem Hintergrund Sinn: Die zunächst verblüffende Aussage nämlich, dass der König das Patronat über das Theater übernehme, was vordergründig bedeutete, dass er realiter keinen Einfluss auf die Theaterpolitik hatte. Eigentlich war die Forderung sinnlos, wenn das Theater nicht mehr aus der Civilliste finanziert wurde. Es scheint, als verstehe Wagner dieses Patronat als Ehrenbeweis für die Kapelle. Tatsächlich aber handelte es sich um einen wenn auch noch unausgegorenen Versuch, die monarchische Finanzierungsstruktur des Theaters mit einer annäherungsweise demokratischen Theaterverfassung unter den Bedingungen der Abhängigkeit des Theaters von staatlicher, also im Zweifelsfall durch nicht voraussehbare parlamentarische Mehrheiten kontrollierten Finanzzuweisung durch das Ministerium so zu kombinieren, dass die materiellen Voraussetzungen des Theaters und mithin auch die Voraussetzungen für Wagners Kunst erhalten blieben. Wagner argumentiert nämlich, dass die Blüte einer Hofoper der Ruhm des Monarchen sei. Eine Veränderung der Theaterverfassung im Sinne Wagners (er spricht von einer Erhebung auf eine höhere Stufe) diene darum ebenfalls dem Ruhme des Fürsten. Zu ergänzen wäre: weil diese neue Theaterverfassung Wagners Kunstideal dient und damit auch einer neuen Gesellschaftsordnung. Dasselbe Argument, nämlich der Erhöhung des Monarchen durch seine faktische Selbstentmachtung, wird sich später in Wagners Rede über das Verhältnis von Königtum und Republik wiederfinden. Der zuständige Minister sei der Nation und dem König verantwortlich. Und durch den Minister solle der König „zu Seiner besonderen Ehre“22 über die Hofoper verfügen. Das hieß im Klartext aber nichts anderes, als dass Wagner sichergestellt wissen wollte, dass der König weiterhin über seinen Minister für eine angemessene Finanzierung der Hofoper zu sorgen gehabt hätte, um seinen Ruhm zu mehren, das heißt, um zu ermöglichen, dass das Hoftheater seinen repräsentativen Aufgaben nachkommen konnte – eben jenen, welche die radikalen Abgeordneten für verzichtbar hielten. Wie der König seiner Aufgabe nachkommen sollte, wenn er selbst nicht mehr über die entsprechenden Budgetmittel verfügte, sondern sein zuständiger Minister im Zweifelsfall von unwilligen Abgeordneten abhängig war, ist ein Rätsel, über dessen Lösung sich Wagner vorerst ausschwieg. Es deutet sich aber bereits an, dass dessen Lösung nicht auf einer konkret politischen, sondern auf einer moralischen Ebene liegen musste. Für Wagners Kunstideal waren nicht nur ideelle und gesellschaftliche Grundlagen notwendig, sondern auch materielle. Und eben diese waren eher durch einen Monarchen als durch eine Republik sichergestellt. Im Idealfall würde der Monarch weiter für die notwendigen Mittel sorgen und Wagner, als der berufene Experte für die Oper, mithilfe dieser Mittel für alles weitere. Das

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Problem war nur, dass Wagner als Nicht-Adeliger nur dann an die zentrale Stelle der Hofoper gelangen konnte, wenn diese eben nicht mehr monarchisch als Teil des fürstlichen Haushalts institutionalisiert war. Wagner brauchte für die Durchsetzung seines Kunstideals insofern beides: monarchische und republikanische Strukturen gleichzeitig. Letztlich scheiterte Wagner daran, dieses Paradoxon aufzulösen. Was davon blieb, war einerseits Wagners Königstreue, die dann am Münchener Hof Ludwigs II. auch materielle Früchte tragen sollte, seine Ablehnung des Adels – die wohl weniger mit politischen Theorien zu tun hatte, als mit der schlichten Tatsache, dass in den Hoftheatern die administrativ wichtigen Stellen eben von Adeligen besetzt wurden, was Wagners Einfluss auf die Opernpolitik minimierte – und schließlich eine subjektiv zutreffende Haltung als politischer Revolutionär (statt als Vertreter seiner materiellen und künstlerischen Interessen) in den folgenden Jahren. Wagners Bemühen, politische Theorie, soweit er sie von Röckel und später auch aus anderen Quellen kannte, mit der Theorie seines Kunstideals, bzw. die revolutionäre Praxis mit der Praxis seines Kunstideals zu verbinden, endete in scheinbar wirren und praktisch nicht durchführbaren Gedanken, die ihren Höhepunkt in seiner Rede am 15. Juni 184823 vor dem Dresdener, republikanisch orientierten Vaterlands-Verein über Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber? erreichten. Es ist ein Irrtum zu glauben, Wagner habe sich nun vom Theater ab und der reinen Politik zugewandt. Denn wie skizziert war genau dieses Thema das zentrale Thema für seine eigenen Ambitionen, auf Basis einer neuen Gesellschaftsordnung eine neue Kunst und deren institutionelle Voraussetzungen zu errichten. Das einzige, was sich geändert hatte, war, dass Wagner, nachdem er in der Praxis mit dem zu keinerlei Konsequenzen führenden Entwurf gescheitert war, versuchte, sein Problem bzw. dessen Lösung in einen theoretischen Rahmen zu fassen. Wagner forderte in seiner Rede, die zuvor schon anonym im Dresdner Anzeiger veröffentlicht worden war,24 vor mehreren Tausend Zuhörern die Abschaffung des Adels, das Wahlrecht für alle Volljährigen sowie die Abschaffung des Geldes, um „in die Rechte freier Menschenwürde“25 einzutreten – also eine neue Gesellschaftsordnung. Das Königtum will Wagner allerdings überraschenderweise nicht abschaffen, vielmehr soll „der König der erste und allerechteste Republikaner“26 sein, nämlich als Repräsentant des gesamten Volks, der in den freien Bürgern keine Untertanen mehr erblicke. Monarchie als Alleinherrschaft des Fürsten könne nicht bestehen bleiben, aber es gehe nicht um die Person des Fürsten, sondern um jene Partei, die den Fürsten auf den Schild erhebe, um daraus persönlichen Gewinn zu ziehen. Der Fürst als Person und als Repräsentant des ganzen Volkes könne jedoch „mit einem einzigen hochherzigen Entschluss“27 den drohenden Krieg zwischen der Partei

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des Fürsten und dem aufständischen Volk verhindern. Der Fürst – konkret der sächsische König – müsse die Republik ausrufen. Das sei nicht der Untergang der Monarchie, sondern die Emanzipation des Königtums. Wagner will die Monarchie abschaffen und durch das „erbliche Königtum“ ersetzen, bei dem der König „der erste des Volkes, der Freieste der Freien“28 sei. Was sich wohl für viele Zuhörern einigermaßen unklar, wenn nicht absurd anhörte, war für Wagner persönlich die Lösung seines Problems. Und das galt im zweiten Teil seiner Rede, in der er die Idee des erblichen Königtums vertrat, nicht nur allgemein, sondern ganz konkret für Sachsen, also für die Lebensbedingungen Wagners. Der Sachse binde sich mit der Überzeugung der Liebe an seinen Fürsten, der wiederum „die höchste vollziehende Gewalt“ sei.29 Der Fürst selbst werde insofern von der konstitutionellen Monarchie erlöst, als diese ja demütigend für einen Fürsten sei, weil sie eben seine Alleinherrschaft einschränke. Als Erster des Volkes aber diene er der Freiheit aller und erhöhe in sich den „Begriff der Freiheit selbst zum höchsten, gotterfüllten Bewusstsein“30 (in diesen Passagen spielte vielleicht schon Wagners Feuerbach-Rezeption eine Rolle). Wagner betrachtet das als Wiederherstellung des germanischen Königtums, wohingegen die Monarchie „undeutsch“ sei. Die praktische Durchsetzung seines Vorschlags war natürlich chancenlos, aber Wagner hatte einen Weg gefunden, die Republik, d.h. eine neue Gesellschaftsform, denn das war für ihn die Republik mehr als eine Staatsform, mit einem Macht ausübenden Königtum zu kombinieren. Es bestand für ihn kein Widerspruch mehr zwischen dieser neuen Gesellschaftsform, die für die Realisierung seiner Kunstidee auf der ideellen Seite wesentliche Voraussetzung war, und dem Königtum, das die materielle Grundlage seiner Kunstidee garantieren sollte.

„Das Judentum in der Musik“ Zwar nimmt Wagner in dieser Rede nicht explizit Bezug auf die Kunst, doch ist die Grundlage seiner Gedanken eben immer – denkt man an die Bemerkung über Röckel – das unauflösliche Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kunst. Was über das eine gesagt wird, bedingt das andere und umgekehrt. Das wird auch an einem im Februar 1849 von Wagner anonym publizierten Text Der Mensch und die bestehende Gesellschaft deutlich,31 dessen zentrale Aussage ist, dass die Aufgabe der Gesellschaft als Vereinigung der Menschen sei, die Menschen zu immer höherem Glück zu führen, nämlich durch die Vervollkommnung der geistigen, sittlichen und körperlichen Fähigkeiten. Das Theater war zumindest zum Zweck der Vervollkommnung der sittlichen Fähigkeiten des Menschen ein, wenn nicht das wesentliche Instrument. Im Entwurf

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hatte Wagner sich auf Joseph II. berufen, nach dem die einzige Aufgabe des Theaters sei, auf die Veredelung des Geschmacks und der Sitten zu wirken. Für die Sicherstellung dieser Aufgabe des Theaters hatte nach Wagner der Staat, konkret der zuständige Minister zu sorgen, und zwar unter Beteiligung der sittlichen Kräfte der Nation. Und es ist genau diese sittliche Funktion des Theaters, die die Rechtfertigung der Subventionen ist, von wem auch immer sie realiter gezahlt werden. Der Widerspruch zwischen politischer Veränderung und den materiellen Bedingungen der Realisierung seines Kunstideals löste sich für Wagner im Sittlichen, also im Moralischen auf. Diese Grundüberzeugung hatte in seiner Schrift über das Judentum ganz fatale Folgen. Wagner beschäftigte sich mit dem „Judentum in der Musik“ ausdrücklich nicht als politischer Frage, sondern im Hinblick auf die Gesellschaft („Anders verhält es sich da, wo die Politik zur Frage der Gesellschaft wird: hier hat uns die Sonderstellung der Juden seit ebenso lange als Aufforderung zur menschlichen Gerechtigkeitsübung gegolten, als in uns selbst der Drang nach sozialer Befreiung zu deutlicherem Bewusstsein erwachte.“32) Der Jude ist für Wagner die Inkarnation der Macht des Geldes, eben jenes Geldes, das Wagner abschaffen will. (Im Ring wird dieses Geld dann zum Gold, dessen Gebrauch die Gesellschaft im ursprünglich ausgewogenen Naturzustand zu einer sittlich verkommenen Gesellschaft transformiert). Der Jude sei vom „Gläubiger der Könige“ zum „König der Gläubigen“ geworden.33 Seine Bitte um Emanzipierung sei aber „naiv“. 34 Bemerkenswerterweise ­verwendet Wagner hier die Terminologie der Rede Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber? – freilich mit dem Unterschied, dass er dem Juden als „König“ die moralisch-sittliche Emanzipation verweigert, weil die Herrschaft des Juden die Herrschaft des Geldes sei. Geld und angebliche Macht der Juden sind für Wagner ein grundlegendes gesellschaftliches (und nicht politisches oder religiöses) Problem und demzufolge auch ein Problem der Kunst. Ohne Veränderung der (gesellschaftlichen) Grundlage sei eine Weiterentwicklung der Künste nicht möglich. Im Begriff des „Kunstwarenwechsels“35 der Juden wird deutlich, dass Wagner die Verbindung von Geld und Kunst als grundlegendes Problem betrachtet. Und diskursiv verbindet Wagner auch die Juden mit dem ihm verhassten Adel: „Von der Wendung unserer gesellschaftlichen Entwicklung an, wo mit immer unumwundenerer Anerkennung das Geld zum wirklich machtgebenden Adel erhoben ward, konnte den Juden [...] das Adelsdiplom der neueren, nur noch geldbedürftigen Gesellschaft nicht nur nicht mehr vorenthalten werden, sondern sie brachten es ganz von selbst dahin mit.“36 Der Jude finde aber selbst als getaufter und gebildeter keinen Zugang zur Gesellschaft, weil er nur mit denen in Zusammenhang stehe, „welche sein Geld bedürfen“.37 Der getaufte Jude sei darum vollends vereinsamt.38 Dieses Argument war aus Sicht Wagners

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schlagend, wenn man bedenkt, dass er 1849 in Der Mensch und die bestehende Gesellschaft postuliert hatte, dass es einzig die Zugehörigkeit des Menschen zur Gesellschaft sei, die ihn vom Tier unterscheide, denn nur durch die Zuge­ hörigkeit zur Gesellschaft könne der Mensch seine sittlichen Fähigkeiten ­steigern. Bildung, „die nur dem Wohlstand zugänglich ist“39, sei, nach Wagner, in der modernen Gesellschaft zum käuflichen  – also für die Gesellschaft unnützen – Luxusgut geworden. Wagner spricht an dieser Stelle noch nicht von den Juden, sondern kritisiert die bestehende Gesellschaft im Allgemeinen, verbindet dies dann aber wenig später damit, dass Juden Bildung mit ihrem Geld als Luxus kaufen könnten, sie aber nicht wüssten, was damit anzufangen sei. Teil der modernen Bildung seien aber auch die Künste. Daraus folgert Wagner, dass der Jude Kunst nur als Gleichgültiges und Triviales ausführen konnte. Das gilt natürlich insbesondere für die Musik. Die Oper sei nur noch ein Unterhaltungslokal, bevölkert von einem Publikum, dessen verwirrter Geschmack von einem Komponisten wie Meyerbeer (der bekanntlich in Wagners Elaborat nicht beim Namen genannt wird, aber leicht erkennbar war) „nur noch auszubeuten war“.40 1852 wird Wagner diesen Gedanken über die „sinnund herzlose Masse des Publikums“, seine „Verderbtheit“, woraus Wagners „Ekel vor dem Publikum“41 rührte, in anderem Zusammenhang noch weiter ausführen. Betrachtet man die Grundstruktur der Argumente Wagners, ist das Judentum nur ein Symptom für die grundsätzliche „Unfähigkeit unsrer musikalischen Kunstepoche“.42 Wer sich weigere, über die „Unfähigkeit [...] in dem Geiste unsrer Kunst selbst“43 nachzudenken, den fasst Wagner ebenfalls (und zwar unabhängig vom Glauben) unter die „Kategorie der Judenschaft in der Musik“.44 „Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden“45 könne der Jude nur, wenn er aufhöre, Jude zu sein. Das meinte, legt man die Gedanken aus Der Mensch und die bestehende Gesellschaft zugrunde: Der Jude kann nur in die (neue) Gesellschaft, die als Gesamtheit den Menschen erst zum Menschen macht, eintreten und „erlöst“ werden,46 wenn er auf das Geld als Bezugssystem verzichtet, denn das war nach Wagner die Ursache für die Vereinsamung, d.h. Gesellschaftsferne der Juden. Wagner spricht dies nicht explizit aus, doch möglich wäre die „Erlösung“ des Juden – und hierbei ist nicht zu vergessen, dass die „Judenschaft in der Musik“ eben eine Kategorie und keine Beschreibung der Religionszugehörigkeit ist  – erst in einer neuen Gesellschaft, die auch ein neues Publikum und eine neue Kunst hervorbringen würde. Die häufig missverstandenen letzten Sätze der Veröffentlichung von 1850 meinen genau dies und werden von Wagner 1869 etwas weniger blumig, dafür aber klarer so formuliert: „Nehmt rücksichtslos an diesem durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke teil, so sind wir einig und ununterschieden! Aber bedenkt, dass nur eines eure Erlösung von dem auf Euch lastenden

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­ luche sein kann: Die Erlösung Ahasvers, – der Untergang!“ 47 Gemeint ist F damit der Untergang der existierenden Gesellschaft zugunsten einer neuen Gesellschaft, die Voraussetzung einer neuen Kunst ist. Die argumentative Grundstruktur des Judenthum-Aufsatzes war mit allem, was Wagner bis dorthin geäußert hatte, konsistent. Der Aufsatz ist keine politische Schrift, sondern eine der Kunstschriften, in dessen Zentrum wieder einmal Überlegungen um die gegenseitige Abhängigkeit einer neuen Kunst und einer neuen Gesellschaft stand. Dies am Beispiel der Juden zu exemplifizieren, war wenig fein, entsprach aber durchaus dem Antijudaismus der Zeit. Freilich war die Grundstruktur der Argumentation kaum zu erkennen, weil sie überwuchert wurde von anthropologischen  – und als solche eben auch rassistischen – Argumenten und Wagners persönlicher Feindschaft gegenüber Meyerbeer. Wie in allen seinen Schriften vermischte Wagner hier seine persönliche lebensweltliche Situation mit theoretischen Überlegungen zu Kunst und Gesellschaft, die wiederum die Basis für die Verwirklichung seines Kunstideals bildeten. Die lebensweltliche Situation Wagners war nicht nur vom Erfolg des beneideten Meyerbeer geprägt, sondern auch vom permanenten Geldmangel. Gewiss stammte die Idee der Abschaffung des Geldes und daraus resultierend die Kritik an der Geldwirtschaft der Juden in irgendeiner, vermutlich von Röckel vermittelten Weise von Proudhon. Aber die Gedanken Proudhons waren eben auch geeignet, Wagners persönliche Geldmisere in eine philosophische Sphäre zu rücken, wobei Wagners völlige Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, von einer individuellen Unfähigkeit zu einem Defekt der Gesellschaft wurde. In ähnlicher Weise wurde der noch immer mangelnde Erfolg Wagners zu einem Symptom nicht stattgehabter, aber notwendiger gesellschaftlicher Umwälzungen, die eben jene Gesellschaft hervorbringen sollten, deren sittlicher Ausdruck Wagners Kunst wäre. Beinhalteten Wagners Vorschläge in einer ersten Reformschrift Die Kö­­nig­ liche Kapelle betreffend von 1846 nur praktische und nur auf die Hofkapelle bezogene soziale Reformen, von denen er selbst materiell vor allem durch die Einrichtung von regelmäßigen Kapellkonzerten profitiert hätte, so wurde Wagners persönlicher Vorteil im Entwurf zur Organisation eines deutschen NationalTheaters für das Königreich Sachsen Teil eines übergreifenden Reformsystems und mündete schließlich in der Rede vor dem Vaterlands-Verein in den Versuch einer Gesellschaftsreform, bei dem nicht mehr ersichtlich war, dass im Hintergrund auch persönliche Interessen Wagners standen. Der Bezug zu den persönlichen Interessen verschwand als expliziter aus den Äußerungen des Komponisten, blieb als Bestandteil seines gedanklichen Systems aber sehr wohl erhalten – als eines der impliziten Steuerelemente, mithilfe derer die Aufnahme fremder Gedanken systemtauglich für Wagners Überlegungen gemacht wurde. Dass auf diesem Wege eher schlichte lebensweltliche Erfahrungen in Wagners

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Schriften eine Rolle spielten, dürfte durchaus eine Rolle für deren Popularität in den Kreisen der Wagnerianer gespielt haben, machte umgekehrt Wagner aber auch angreifbar. Wagner war dies, wie aus dem Vorwort zu Oper und Drama hervorgeht, sehr wohl bewusst. Dort versuchte er wortreich dem zu erwartenden Vorwurf des Neids in Bezug auf den vom ihm angegriffenen Meyerbeer zu entgegnen, indem er aus der Not eine Tugend konstruierte: „[...] nicht aber der versteckte Groll, sondern eine offen erklärte und bestimmte motivierte Feindschaft ist fruchtbar; denn sie bringt die nötige Erschütterung hervor, die die Elemente reinigt, das Lautere vom Unlauteren sondert, und sichtet, was zu sichten ist.“48 Der explizite Hinweis in Oper und Drama, „als Jude“ hätte Meyerbeer keine „Muttersprache“49 gehabt, bezieht sich auf die anthropologische Argumen­ tation im Judenthum in der Musik und war daher in Wagners System noch verständlich. Aber eine persönlich diskreditierende Formulierung wie die von der „gaunerischen Seite in der ekelhaften Ausbeutung unserer Operntheaterzustände“,50 das genüssliche Kolportieren des Gerüchts, „mit welch peinigender Quälerei Meyerbeer auf seinen Dichter, Scribe, beim Entwurfe seiner Operndichtungen einwirkte“51, oder die Behauptung der „ausgesprochensten Unfähigkeit des berühmten Komponisten“52 legten, weil sie für Wagners Argumentation unerheblich waren und nicht das künstlerische System Meyerbeers, sondern allein seine Person angriffen, eben doch den Verdacht des Neids nahe und zeigen, wie sehr Wagners politisch-künstlerisches System biographisch geprägt war. Selbst Wagners berühmte Formulierung von der „Wirkung ohne Ursache“53 in Bezug auf Meyerbeers Opern hat ihre eigene Ursache in der Biographie Wagners, denn er nimmt hier eine Bemerkung Ludwig Rellstabs von 1847 („Wirkungen ohne Ursach“) aus der Vossischen Zeitung auf54 und wendet gegen den Erzfeind Meyerbeer, was ursprünglich auf seinen eigenen Rienzi gemünzt war.

Giuseppe Verdi Als 1848 in Mailand der Aufstand gegen die österreichischen Besatzer ausbrach, befand sich Verdi in Paris. Zuvor war er in London gewesen, um seine Masnadieri aufzuführen. Dort besuchte er auch Giuseppe Mazzini, den Gründer des Giovine Italia, der hier seit 1837 im Exil lebte.55 Sowohl der Aufenthalt in London wie der in Paris waren geschäftlich bedingt: In London komponierte Verdi I masnadieri für Her Majesty’s Theatre und in Paris bereitete er die Umarbeitung der Lombardi in Jérusalem für die Opéra vor, die besonders lukrativ war, weil er dafür bezahlt wurde, als wäre die Umarbeitung eine neue Oper. Ursprünglich beabsichtigte Verdi, nur wenige Wochen in Paris zu blei-

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ben, aber die Tatsache, dass er sich in Paris wohlfühlte, die Arbeit an Jérusalem, die Freiheit, in Paris anonym leben zu können, ohne, wie in Italien, eine öffentliche Berühmtheit zu sein56 und dadurch bedingt auch die Freiheit, unbehelligt von einer neugierigen Öffentlichkeit seiner Freundschaft zu Giuseppina Strepponi nachgehen zu können, verlängerten den Aufenthalt weit über die Première von Jérusalem am 26. November 1847 hinaus, die ein Misserfolg war. Die Februarrevolution 1848 in Paris hatte er, wie Verdi befriedigt an Giuseppina Appiani schrieb, mit eigenen Augen gesehen.57 Das mag merkwürdig erscheinen, aber es war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus keine Seltenheit, dass man sich Revolutionen quasi als Unbeteiligter ansah, als wären es Fußballspiele. Auch Donizetti war 1831 von den revolutionären Umtrieben in Rom relativ unbeeindruckt geblieben und berichtete seinem Vater ungerührt, dass die Kutsche, mit der er nach Rom gereist war, von Kugeln durchlöchert worden sei.58 Meyerbeer flanierte während der Pariser Februarrevolution 1848 durch die Straßen, um sich das revolutionäre Spektakel anzusehen. 59 Wenn Verdi im April 1848 an Francesco Maria Piave schreibt, nachdem ihn die Nachricht vom Ausbruch der Revolution in Mailand erreicht habe, habe er sofort Paris (in Richtung Mailand) verlassen, wo er aber nur (noch) „diese wunderbaren Barrikaden“ („queste stupende barricate“60) habe sehen können, dann schwingt deutlich eine gewisse Enttäuschung über die verpasste Gelegenheit mit, der Revolution in Aktion ansichtig geworden zu sein. Während der „Cinque giornate“ in Mailand war Verdi noch in Paris. In Mailand war am 18. März 1848 der Aufstand gegen die Österreicher ausgebrochen, der als blutiger Barrikadenkampf geführt wurde und in der Nacht vom 22. auf den 23. März Feldmarschall Radetzky dazu veranlasst hatte, den Rückzug der Österreicher zu befehlen und Mailand vorerst aufzugeben, was wiederum Mazzini dazu bewogen hatte, von London nach Mailand zu reisen. Die Freiheit war indes nur von kurzer Dauer, denn schon Anfang August musste Mailand vor den österreichischen Truppen kapitulieren. Das Pariser Journal de Débats hatte seine Leser am 25. März 1848 zum erstenmal ausführlicher über den Ausbruch der Revolution in Mailand anhand italienischer Zeitungsberichte informiert; man darf annehmen, dass vorher in Paris nichts Genaues über den Aufstand bekannt war. Verdi traf am 5. April 1848 in Mailand ein und schrieb an Francesco Maria Piave, der mittlerweile Mitglied der Nationalgarde im freien Venedig geworden war, den bereits erwähnten scheinbar vor Patriotismus überströmenden Brief, in dem er die Stunde der Befreiung ebenso wie die Kraft des Volkes beschwor: „Ja, ja, noch wenige Jahre, vielleicht wenige Monate und Italien wird frei, vereint, republikanisch sein.“61 Piave rede ihm von Musik. Er könne sich jetzt nicht mit Musik befassen, es sei denn der Musik der Kanonen („La musica del cannone!“). Nicht für alles Geld der Welt würde er eine Note schreiben. Schon Anfang

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Mai reiste Verdi aus Mailand nach Bussetto zur Familie Barezzi ab. Und im Sommer findet man ihn zusammen mit Giuseppina Strepponi in Paris wieder, wo er La battaglia di Legnano komponierte. In Mailand überredete Mazzini Verdi, eine patriotische Hymne auf einen Text von Goffredo Mameli zu komponieren. Der erst 21-jährige Mameli, ein glühender Anhänger des Risorgimento, war ebenfalls in Mailand anwesend und hatte sich aktiv an den Kämpfen beteiligt. Bekannt ist der Dichter heute vor allem als Autor der italienischen Nationalhymne Fratelli d’Italia, die 1847 von Michele Novaro vertont wurde. Die Vertonung der Hymne „Suona la tromba“ von Mameli übersandte Verdi jedoch erst am 18. Oktober 1848 aus Paris an Mazzini, „ein wenig spät“,62 wie der Komponist selbst bemerkte. Überblickt man die Ereignisse, scheint sich durchaus das Bild des patriotisch-risorgimentalen Verdi zu ergeben, der unmittelbar nach der Befreiung Mailands dorthin zurückkehrt, sich in Briefen glühend patriotisch äußert und eine revolutionäre Hymne komponiert. Bei näherem Hinsehen trübt sich dieses Bild rasch und nachhaltig. Obgleich Verdi sich in Paris über die politischen Zustände in Italien berichten ließ und über die explosive Lage gerade in Lombardo-Venetien Bescheid wusste, verursachte ihm dies keine schlaflosen Nächte, wie er Giuseppini Appiani schrieb.63 Ihm gehe es sehr gut und wenn nicht etwas Wichtiges seine Rückkehr nach Italien notwendig mache, werde er den ganzen April in Paris bleiben, um sich das Zusammentreten der Nationalversammlung anzusehen. Dass Mailand zu diesem Zeitpunkt schon unter Kriegsrecht stand, war für ihn offenbar kein wichtiger Grund.

Musica del canone Im zitierten Brief an Piave gebraucht Verdi die für einen Komponisten scheinbar originelle Formulierung der „musica del cannone“.64 In Wahrheit handelt es sich um eine in dieser Zeit gebräuchliche Allerweltsfloskel, die in Zeitungen und im täglichen Sprachgebrauch häufig verwendet wurde.65 Und hätte Verdi die Formulierung nicht aus den Zeitungen oder persönlichen Gesprächen entnommen, dann wäre sie ihm sicher auch aus den italienischen Übersetzungen der Räuber von Friedrich Schiller geläufig gewesen, in deren zweitem Akt Moor von „Kanonenmusik“ spricht („und weiß keiner auf Wink und Kommando zu fliegen, oder nach Kanonenmusik zu tanzen“), was sowohl in der Übersetzung Carlo Rusconis als auch der Andrea Maffeis zu „musica del cannone“ wird.66 Obwohl Verdi emphatisch betonte, er würde jetzt nicht für alles Geld der Welt eine Note schreiben, ändert sich im letzten – meist nicht zitierten – Drittel des Briefs abrupt der Inhalt: Verdi schreibt, er müsse wegen seiner Ver-

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pflichtungen und Geschäfte nach Frankreich zurückkehren. Er habe dort nicht nur Opern zu schreiben, sondern sich auch um noch ausstehende Zahlungen an ihn zu kümmern. Die Summe sei so hoch, dass seine Anwesenheit in Paris gerade aufgrund der derzeitigen Krise notwendig sei.67 Diese Bemerkung war zwar unausgesprochen, aber logisch mit dem nur sehr kurzen Aufenthalt in Mailand verknüpft. In beiden Fällen ging es um Geschäfte. Denn Verdi war nicht wegen der revolutionären Ereignisse nach Mailand gereist, sondern aus geschäftlichen Gründen, worauf John Rosselli hingewiesen hat: Verdi, der nach modernen Standards bereits als Millionär bezeichnet werden kann,68 hatte nach dem Erfolg des Ernani 1844 zum ersten Mal einen Hof mit 25 Hektar Land gekauft. Im Mai 1848 führte er Verhandlungen über den Tausch dieses Hofes gegen drei andere Höfe mit insgesamt 105 Hektar. Dazu musste Verdi Hypotheken im Wert von 71.000 Francs aufnehmen.69 Bereits vorher hatte er sich wegen des Ankaufs des ersten Hofs verschuldet. Dies erklärt, warum für Verdi gerade in den 1840er Jahren Geldfragen essentiell waren und er es sich nicht leisten konnte, in Italien den Revolutionär zu spielen und damit Einnahmen in Paris aufs Spiel zu setzen. Verdi war Künstler und Geschäftsmann, wobei das eine vom anderen nicht zu trennen war. Wenn Verdi auf die bestmöglichen Produktionsbedingungen für seine Opern bestand, hatte das genauso künstlerische wie geschäftliche Gründe, denn ein Misserfolg wurde Verdi und nicht den schlechten Produktionsbedingungen der Oper zugeschrieben. Diese enge Verknüpfung von Kommerz und Kunst findet sich bei allen italienischen und französischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts (und bei einem deutschen wie Wagner nur mangels Gelegenheit nicht). Sie waren Teil der Opernindustrie. Der angebliche Gegensatz zwischen Kunst und Kommerz ist eine sehr deutsche Hypothese, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhundert entwickelte, aber im 19. Jahrhundert weder für Italien noch für Frankreich zutrifft. Für den Geschäftsmann Verdi war es aber ebenso wie für die Geschäftsleute Bellini, Donizetti, Rossini, Meyerbeer u.a. essentiell notwendig, sich nicht aktiv an der Realpolitik zu beteiligen – weder in Italien noch außerhalb Italiens – und sich politisch nicht zu exponieren, weil das die Geschäftsfähigkeit ihrer Opern und damit zugleich ihre künstlerische Wirkungsmöglichkeit beeinträchtigt hätte. Schon innerhalb Italiens und völlig unabhängig von Revolutionen mussten die Komponisten darauf bedacht sein, nicht in Konflikt mit der Politik der unterschiedlichen italienischen Staaten zu geraten. Das begann bereits weit im Vorfeld jeder politischen Betätigung, nämlich mit den Werken. Im Falle des Nabucco war Verdi z.B. diese Gratwanderung nicht gelungen. Die äußerst erfolgreiche Oper wurde zwar noch in Rom aufgeführt, aber vor 1848 nicht im Königreich Neapel, weil der König und daher auch die Zensur das Sujet für zu

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christlich hielten, um es in einem katholischen Staat auf die Bühne bringen zu können (das gleiche Problem hatte Donizetti schon mit seinem Poliuto gehabt). Um vieles komplizierter wurde das Problem, wenn die Komponisten im weiteren Sinne international tätig waren, also auch für Bühnen in London, Paris und habsburgischen Städten komponierten. Hätte Verdi sich in Mailand in aufsehenerregender Weise politisch exponiert, wäre es ihm wohl kaum möglich gewesen, sowohl im Oktober 1848 Il corsaro im habsburgtreuen Triest70 als auch am 27. Januar 1849 La battaglia di Legnano im revolutionär-prärepu­ blikanischen Rom71 uraufführen zu lassen.72 Auch im Mailand der 1840er Jahre hatte Verdi sich mit den bestehenden politischen Verhältnissen schon arrangiert gehabt. Anselm Gerhard hat kürzlich ausführlich auf die enge Verbindung des jungen Verdi zur Mailänder Aristokratie hingewiesen,73 auf deren Unterstützung er angewiesen war und die den dominierenden Teil des Opernpublikums ausmachte. Es mag sein, dass diese Aristokratie die Österreicher nicht mochte, aber man arrangierte sich mit ihnen, zumal sich im österreichischen Staatsdienst viele Karrieremöglichkeiten ergaben.74 Von risorgimentalem Eifer war die Mailänder Aristokratie aber weit entfernt und Verdi hatte keinerlei Intentionen, sich mit unpassenden und karriereschädigenden politischen Aktivitäten ins Abseits zu manövrieren. Dass Verdi ein patriotischer Anhänger der italienischen Einheit (und genau genommen müsste man sagen: ein norditalienischer städtischer Patriot75) war, kann kaum bezweifelt werden. Deutlich wird das aber vor allem aus seiner privaten Korrespondenz. Und nur dort, nämlich in der Bemerkung gegenüber Piave, er erwarte sich ein „republikanisches“ Italien, wird deutlich, dass Verdi vielleicht eine Präferenz für Mazzinis radikale republikanischdemokratische Vorstellung eines geeinten Italien hatte (und weniger für die monarchische Variante der politischen Moderati). Diese Sympathie für Mazzini und seine politischen Ansichten führten auch dazu, dass Verdi 1861, als frisch gewählter Abgeordneter des italienischen Parlaments, eine Petition für eine Rückkehr Mazzinis aus dem Exil unterzeichnete, die in der mazzinianisch gesinnten Mailänder Zeitung L’Unità Italiana veröffentlicht wurde. Für einen Außenstehenden war dies vermutlich ebenso irritierend wie das manchmal irrationale Abstimmungsverhalten Verdis im Parlament (falls er dort anwesend war). Zwar saß er auf der rechten Seite, was damals wie heute ein Symbol für die politische Überzeugung war (konkret: für die politische Linie Cavours), aber manchmal, wenn nicht meistens gab er unerwarteterweise seine Stimme für die Linke ab.76 Allerdings ist Verdis Behauptung, er sei politisch unwissend, die sich wie ein „Leitmotiv“77 durch seine Korrespondenz zieht, insofern wohl ernst zu nehmen, als ihm politische Zusammenhänge im engeren Sinn des Wortes tatsächlich nicht durchschaubar waren. Zur brennenden Frage, welche Staats-

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form denn eine befreite Lombardei haben sollte, äußerte sich Verdi bezeichnenderweise nicht. Verdis Unterschrift – zusammen mit sieben anderen sich in Paris befindlichen prominenten Italienern – unter ein Schreiben, das Anselmo Guerrieri Gonzaga, Außenminister der provisorischen Regierung in Mailand und Aleardo Aleardi, französischer Botschafter der provisorischen Regierung in Venedig, dem französischen General Cavaignac und dem französischen Außenminister Jules Bastide überreichten,78 und in dem mit feurigen patriotischen Worten die Unterstützung des republikanischen Frankreich für die italienischen Aufständischen erbeten wurde, belegt einerseits (vielleicht) Verdis Sympathie für Mazzinis politische Vorstellungen, andererseits aber auch eine deutliche politische Ahnungslosigkeit. Verdi hatte sich mit seiner Unterschrift in die Tiefen der realen italienischen Politik begeben, denn die provisorische Mailänder Regierung existierte eigentlich nicht mehr seit Carlo Alberto, der König von Piemont-Sardinien am 23. März Österreich den Krieg erklärt hatte und in der Folge seine Armee in Mailand einmarschiert war. Diese angebliche Unterstützungsaktion war in Wahrheit eine „durch nationalrevolutionäre Phraseologie verbrämte antirepublikanische Intervention, die gleichzeitig zu einer Vergrößerung des piemontesischen Staatsgebiets führen“ und zudem eine „republikanische Einkreisung“ Piemonts verhindern sollte.79 Ende Juli war die Vereinigung von Piemont und der Lombardei erfolgt. Am 1. August 1848 traf der piemontesische Gesandte Ricci in Paris ein und hatte am 3. August zusammen mit Guerrieri eine Unterredung mit Cavaignac,80 der darauf hinwies, dass Guerrieri infolge der nunmehrigen Nichtexistenz der provisorischen Mailänder Regierung keinerlei Regierungsvollmacht mehr habe. Die Interessen Riccis und Guerrieris widersprachen sich fundamental: Während Ersterer ausdrücklich instruiert war, keine militärische Intervention Frankreichs zu verlangen, forderte Guerrieri genau dies. Cavaignac verwies auf das Problem für Frankreich: Wem solle dieses zu Hilfe kommen? Dem monarchischen Piemont oder dem republikanischen Mailand?81 Es war in dieser Situation wenig hilfreich, dass Mazzini, der sich mittlerweile in Genua befand, versuchte, mit einem Brief an Bastide zu intervenieren. Er erklärte, er habe mit den Delegationen aus Italien persönlich nichts zu tun (es war in Paris noch eine dritte Delegation der Mailänder Nationalgarde eingetroffen) und sei auch der Meinung, dass die Italiener sich selbst helfen sollten. Er habe immer für einen europäischen Krieg plädiert (eine Idee, die in der Petition mit dem eher vagen Hinweis darauf, dass ein Krieg zwischen zwei unvereinbaren Prinzipien ja bereits existiere, in etwas unklarer Weise zurückgewiesen wurde), aber nicht für ein (militärisches) Eingreifen in Italien. Aber wenn Frankreich das Schwert ergreife, dann solle es sich nicht dadurch besudeln, dass es einem König, also Carlo Alberto, zu Hilfe käme, es solle vielmehr der (italienischen) nationalen

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Sache und dem italienischen Volk zu Hilfe kommen.82 Cavaignac lehnte schließlich das Begehren der Mailänder bei gleichzeitigem optimistischem, aber diplomatisch unverbindlichem Zuspruch ab.83 Dass dieser komplexe politische Hintergrund, in dessen Zusammenhang Verdi sich mit seiner Unterschrift auf die Seite nicht nur einer bestimmten politischen, nämlich republikanischen, Partei stellte, die indes noch nicht einmal in Mailand mehrheitsfähig war, denn dessen Bevölkerung hatte sich im Mai 1848 ebenso wie Venetien in einem Plebiszit für die Fusion mit Piemont-Sardinien ausgesprochen, dem Komponisten bewusst gewesen war, darf füglich bezweifelt werden. Er reagierte wohl nur auf den flammenden Tonfall der Petition, in der vom Martyrium des edlen italienischen Volks, vom Fortschritt der Menschheit und dem Konzert der freien Völker die Rede war. Insofern ist Verdis Unterschrift unter die Petition eher ein Dokument seiner tatsächlichen politischen Unbedarftheit als der Ausweis einer Zuneigung zur radikalen republikanischen Partei in Mailand. Am 6. Juni erbat Mazzini sich einen Text von Goffredo Mameli, der im Jahr zuvor die heute als italienische Nationalhymne benutzte Hymne Fratelli d’Italia verfasst hatte, für Verdi, den Mameli am 26. August 1848 auch fertig hatte.84 Im Oktober sandte Verdi eine Vertonung der Hymne zusammen mit dem bereits erwähnten Brief vom 18. Oktober 184885 an Mazzini.86 Er habe versucht, so Verdi, so leicht und populär zu sein wie es ihm möglich sei; Mazzini solle mit der Hymne machen, was er wolle. Wenn er sie nicht für würdig erachte, solle er sie verbrennen. Falls er sie aber öffentlich machen wolle, dann solle er Mameli einige Worte ändern lassen (es folgen die genauen Anweisungen). Er habe die Worte so in Musik gesetzt, wie sie waren (wobei unklar ist, ob sich diese Bemerkung Verdis nur auf die vierte Strophe oder alle Änderungen bezieht), aber die Musik würde dadurch schwierig und also auch weniger populär werden. Verdi schließt den Brief mit der Bemerkung „möge dieser Hymnus zwischen der Musik der Kanonen bald in den Ebenen der Lombardei gesungen werden.“ Das liest sich patriotisch genug. Aber wo in den Ebenen der Lombardei sollte die Hymne denn gesungen werden, da diese Ebenen seit der von Carlo Alberto verlorenen Schlacht bei Custozza am 25. Juli 1848 und der erneuten Besetzung Mailands durch Radetzky am 6. August doch wieder zweifelsfrei in österreichischer Hand waren? Auch die Truppen Garibaldis hatten sich aufgelöst (und dieser selbst befand sich zur Zeit ebenso wie Mameli und Mazzini in Genua). Die Rede von der „Musik der Kanonen“ fand sich auch im Brief an Piave. Hier nun, im Brief an Mazzini, in dem die Bemerkung keinen realen politischen Sinn macht, erweist sich, dass sie wohl nur eine patriotische Floskel gegenüber revolutionär gesinnten Bekannten Verdis war. Allzu ernst darf man sie nicht nehmen und schon gar nicht ist sie ein Ausweis für Verdis risorgimentalen Elan.87

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Liest man den Text Verdis genau, erhält man nicht den Eindruck, er habe sein Herzblut in diese Hymne gesteckt. Ganz im Gegenteil: denn fertig im eigentlichen Sinne war die Hymne nicht, passten doch Text und Musik nicht zueinander. Aber glaubte Verdi wirklich, der militärisch aktive Mameli hätte im aufständischen Genua die Zeit gehabt, seinen Text entsprechend den metrischen Anforderungen eines Opernkomponisten umzuarbeiten?88 Verdi selbst betont zwar sein Bemühen, hält die Vertonung der Hymne aber offensichtlich nicht für besonders popularitätstauglich oder gelungen. Die Musik der Hymne blieb bis 1865 unbekannt.89 Das gilt aber nicht für die Tatsache, dass Verdi die Mameli-Hymne komponiert hatte. Im Februar 1849 wurde der Text unter dem Titel „Inno Popolare“ und mit dem ausdrücklichen Hinweis „musicato dal maestro Giuseppe Verdi“90 in Venedig veröffentlicht. Solche Veröffentlichungen von patriotischen Hymnen mit Nennung des Komponisten waren allerdings im revolutionären Italien alles andere als selten und zeichneten Verdi nicht als Risorgimento-Komponisten aus. Und 1860, als der Dichter Giovanni Prati öffentlich den Wunsch äußerte, dass Verdi eine von ihm gedichtete Marsigliese degli Italiana als Nationalhymne vertone, scheint Verdi, der mit Prati im Mailänder Salon der Maffeis bekannt geworden war, wie auch in ähnlichen Fällen schlicht nicht darauf reagiert zu haben.91

Verdis Chöre Die Nennung von Verdis Namen im Zusammenhang der Hymne Mamelis scheint in das Bild Verdis als Komponist des Risorgimento zu passen, also eines Komponisten, in dessen Werken der 1840er Jahre Ideen des Risorgimento nicht nur manifest werden, sondern auch vom Autor beabsichtigt waren.92 Tatsächlich sind die späteren Geschichten über die patriotische Bedeutung einiger von Verdis Chören nur vor dem Hintergrund des politischen Gebrauchs eines anderen Opern-Chores verständlich, der spätestens seit dem Aufstand in Bologna bzw. im Kirchenstaat 1831 populär war und nicht von Verdi stammte. Dass Absingen eines Opernchores als Manifestation patriotischer Gesinnung wäre 1848 jedenfalls nichts Neues gewesen. Das Muster dafür stammte weder von Verdi noch von Rossini, sondern von Saverio Mercadante. Es handelt sich um die zweite Strophe des Chors „Aspra del militar / Bench’è la vita“ (1. Akt, je nach Fassung 8., 9. oder 10. Szene = Einleitung des Finales93) aus Mercadantes Donna Caritea. Allerdings lautet der Text des Chores im Libretto nicht, wie in der patriotischen Variante, „Chi per la patria muor“, sondern „Chi per la gloria muor“.94 Die Textänderung wurde offenbar um 1830/31 während der Rebellion gegen den Papst in der Nähe Bolognas vorgenommen, wo man den Chor als „inno nazionale“ sang.95 Inwieweit die

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politische Geschichte diese Chors von Mercadante ein Mythos ist, braucht hier nicht beurteilt zu werden, denn 1848 galt sein politischer Gebrauch als historische Realität. Und nur diese Realität, ob imaginiert oder nicht, bot überhaupt die Möglichkeit, an den politisierten Gebrauch von Opernchören zu denken. Die patriotische Popularität von Mercadantes Chor wurde jedenfalls durch den Mythos der Fratelli Bandiera weiter befördert. Die Fratelli Bandiera und ihre Mitverschwörer waren 1844 von Ferdinando II. zum Tode verurteilt und in der Nähe von Cosenza hingerichtet worden. Die Brüder sollen, nachdem ihnen das Todesurteil bekanntgegeben worden war, im Kerker oder nach anderen Versionen auf dem Weg zur Hinrichtung „Chi per la patria muor“ angestimmt haben.96 Für die Popularität des Chors spricht auch (und zwar unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Anekdote), dass 1849 bei der Verteidigung des venezianischen Forts Marghera ein Verwundeter Artillerist während der Amputation eines Beines (nach anderen Darstellungen eines Armes) den berühmten Chor gesungen haben soll.97 Mercadantes Chor ist in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für den Umgang mit patriotischen Chören in der Zeit um 1848. Erstens nämlich wird der Chor unabhängig von der Oper außerhalb des Theaters gesungen (patriotische Reaktionen auf den Chor im Theater sind nicht bekannt und konnten 1848 schon deswegen keine Rolle spielen, weil Mercadantes Oper kaum aufgeführt wurde98). Zweitens bekommt der Chor sein patriotisches Potential erst durch eine Textänderung, die auch nicht ansatzweise etwas mit der Logik des ursprünglichen Librettotexts zu tun hat. Denn der Chor wird von portugiesischen Soldaten gesungen, die der portugiesische König in Spanien hat einmarschieren lassen, um die Hochzeit mit Donna Caritea, der spanischen Königin, zu erzwingen. In der patriotischen Textvariante wird also ausgerechnet ein Chor der Usurpatoren umgedeutet. Drittens spielt der Charakter der Musik offenbar keine Rolle, sondern nur die Popularität der Melodie. Der im 3/4Takt stehende Chor erhält eine gewisse militärische – aber keineswegs martialische – Konnotation durch eingestreute Dreiklangs-Trompetensignale und den Gebrauch von Pauken, ist aber ansonsten in einem zeitüblichen Stil gehalten, der sich bereits von dem Rossinis etwas unterscheidet. Erst nach einer langen Instrumentaleinleitung und einer ersten Strophe, die aufgrund der mit den Flöteneinwürfen alternierenden Chorabschnitte kaum für ein UnisonoNachsingen der Melodie geeignet ist, setzt mit der zweiten Strophe „Chi per la gloria muor“ eine gut nachsingbare, unkomplizierte Melodie ein, die auch für die dritte Strophe beibehalten wird, während in der letzten Strophe die musikalische Struktur wieder zu kompliziert ist, um sie außerhalb des Zusammenhangs einer Oper aufzuführen. Jedenfalls legen aber auch die zwei herauslösbaren Strophen musikalisch keineswegs irgendeinen patriotischen Gebrauch

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nahe. Mercadante hatte weder einen patriotischen Chor intendiert, noch hatte der politische Gebrauch des Chors etwas mit dem Inhalt der Oper oder gar Mercadantes politischen Ansichten zu tun. Vielmehr wurde der ursprüngliche Sinnzusammenhang des Texts in der risorgimentalen Rezeption ebenso ignoriert wie der ursprüngliche musikalische Zusammenhang der herausgelösten Chorstrophen. Die bekannteste Anekdote über Verdis Chöre ist die angebliche Wiederholung des Chors „Va pensiero sull’ali dorate“ in der Uraufführung des Nabucco 1842, die jedoch nichts anderes als eine Erfindung des Verdi-Biographen Franco Abbiati ist.99 In den ersten Jahren nach der Uraufführung rief der Chor ebenso wenig patriotische Demonstrationen hervor wie in der Zeit bis 1861.100 In Neapel war die Aufführung des Nabucco im Frühjahr 1848 (die Premiere war am 22. März) sogar ein Misserfolg.101 In der Premiere nahm das Publikum die Oper völlig ohne Applaus zur Kenntnis und verließ dann wütend das Theater,102 die Vorstellungen waren nicht ausverkauft, das Publikum blieb ihnen fern,103 die Einnahmen der Oper blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Dennoch lassen sich in einigen Fällen politische Reaktionen in Aufführungen von Verdis Opern nachweisen. Eine gewisse stabile Tradition zwischen 1846/47 entwickelte sich in Bezug auf Ernani, in der der neue Kaiser Carlos die Verschwörer amnestiert. Auch Pius IX., der als liberal galt und 1846 zum Papst gewählt worden war, hatte politische Gefangene begnadigt. Im römischen Teatro Argentina forderte 1847 „das Publikum die Sänger mehrfach auf, anstatt ‘A Carlo Quinto sia gloria e onor’ doch ‘A Pio Nono sia gloria e onor’ zu singen.“104 Aber auch in etlichen Vorstellungen und unterschiedlichen Städten Italiens wurde im dritten Akt der Name „Carlomagno“ zu „Pio Nono“ verändert. Auch die Worte „d’un pio“ („Noi siam corsi all’invito d’un pio“) aus dem Lombarden-Chor „O Signore, dal tetto natio“, die, wenn man sie aussprach, auch als „d’un Pio“, verstanden werden konnten, wobei „pio“ also vom Adjektiv zum Namen verändert wurde, führten gelegentlich zu Demonstrationen im Theater.105 Der Chor „O Signore, dal tetto natio“ wurde auch in Neapel bei einem patriotischen Konzert anlässlich des Abmarschs eines Freiwilligen-Verbandes in die Lombardei am 15. April 1848 zur Unterstützung im Kampf gegen die Österreicher in Anwesenheit der königlichen Familie (der König hatte sich dem revolutionären Druck beugen müssen und Reformen angekündigt) aufgeführt und zweimal wiederholt.106 Der Text des Chors war vor der Aufführung in der Zeitung Il lume a gas abgedruckt worden107 – und enthielt an der fraglichen Textstelle den Namen des Papstes („Noi siam corsi all’invito di Pio“108). Die Aufführung eines Chores aus I Lombardi war ebenso wie die Aufführung des Nabucco in Neapel per se eine politische Demonstration, die aber

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weniger (wie am Scheitern des Nabucco zu sehen ist) mit Verdi zu tun hatte als mit der Tatsache, dass der König noch 1847 beide Opern aus religiösen Gründen verboten und sich damit konservativer als der Papst gezeigt hatte.109 Die Aufführungen verdeutlichten den Triumph der Revolutionäre gegenüber dem König und seiner reaktionären Zensur, hatten aber nichts mit einem vermeintlich risorgimentalen Inhalt der Opern zu tun. Zu patriotischen Kundgebungen kam es schon am 26. Dezember 1847 während der Macbeth-Aufführungen im venezianischen Teatro La Fenice110 (und in späteren Aufführungen erneut), und zwar an der Textstelle La patria tradita Piangendo ne invita Fratelli! gli oppressi Coriamo a salvar.

Das betrogene Vaterland Ladet weinend uns ein Brüder! Die Unterdrückten Eilen wir zu retten! –

Gia l’ira divina Sull’empio ruina Gli orribili eccessi L’eterno stancar.

Schon der göttliche Zorn Über den grausamen Verfall, Das schreckliche Übermaß Ermüdet die Ewigkeit! –

wie es in einem detaillierten Bericht in den Grenzboten heißt.111 Die Polizei beobachtete in den folgenden Vorstellungen genau, wer sich im Publikum als italienischer Patriot zu erkennen gab.112 Der Bericht ist darum interessant, weil aus ihm klar hervorgeht, dass Verdis Musik bei dieser revolutionären Rezeption keine Rolle spielte, sondern allein die im Libretto gelesenen Worte des Texts. Nur durch diese Textlektüre sind auch die Forderungen nach Textänderung des Ernani sowie die Änderung im Chor der Lombardi zu verstehen, die im Falle des abgedruckten Texts in Neapel den Text-Sinn durch eine drucktechnische Maßnahme veränderte. Bemerkenswert ist darüber hinaus auch in allen Fällen, dass es sich nicht um Texte handelte, die das Schicksal der Italiener beklagten  – das wäre der Fall, wenn man den „Va pensiero“-Chor aus Nabucco allegorisch gedeutet hätte –, sondern ausschließlich einer hoffnungsfrohen Begeisterung Ausdruck geben (im Fall der Referenzen auf Pio IX.), oder drohend gemeint sind („gli opressi coriamo a salvar“). Im Falle des Macbeth erregte jener Chor, der inhaltlich und musikalisch dem „Va pensiero“Chor aus Nabucco entspricht, nämlich der den vierten Akt einleitende Chor „Patria oppressa!“, keine Reaktionen im Publikum. Der Chor „La patria tradita“ ist hingegen genau genommen kein Chor, sondern Teil einer Cabaletta a due con coro der Arie des Macduff „Ah la paterna mano“ nach dem Chor „Patria oppressa!“. Dass eine Arie zu einer Cabaletta a due mit Chor ausgeweitet wurde, war in den 1840er Jahren nichts Ungewöhnliches mehr und auch die musikalische Gestaltung der Cabaletta war eher konventionell – sie war

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zwar wie üblich etwas lärmender als die ähnlichen Cabalette von Donizetti, war aber in der melodischen Linie nicht besonders charakteristisch für Verdi. Die wirkungsvolle, den Rhythmus wechselnde und „con entusiasmo“ zu singende Stretta findet sich nämlich erst in der zweiten Fassung der Oper von 1865. Dass die erste Fassung von „La patria tradita“, die nicht über eine Allerwelts-Cabaletta hinausgeht, von Verdi als patriotische Manifestation gedacht war, scheint auch dann, wenn man das Unisono der Cabaletta berücksichtigt, sehr unwahrscheinlich. Es war hier allein die Zufälligkeit eines zu den politischen Umständen passenden Texts, der zu den Reaktionen im Theater geführt hatte und der offensichtlich nicht mit der Gesinnung des Komponisten gleichgesetzt wurde, ja noch nicht einmal charakteristisch für die Tendenz der aufgeführten Oper war. Der schon lange vor der Revolution allgegenwärtige „patria“-Diskurs reicht nicht aus, um ein Werk, dass sich dieses Diskurses bedient, als besonders patriotisch einzustufen. Ähnlich wie Verdi erging es Mercadante: Im März 1848 löste sein Il giuramento patriotische Reaktionen in Triest aus, aber es war auch hier nicht die Musik, sondern der Text („gli applausi ad ogni frase on cui si trovava qualche allusione allo stato attuale“113), der dies hervorgerufen hatte. Auch das Publikum in Palermo reagierte 1848 auf den Text der Cabaletta des Duetts Riccardo/Giorgio („Suoni la tromba“) aus Bellinis I Puritani, nämlich auf das Wort „Libertà“, das die Zensur bei vorherigen Aufführungen durch „Lealtà“ ersetzt hatte.114 Diese Textbezogenheit, die mit der Musik nichts zu tun hatte, gilt auch für die revolutionäre Reaktion im Zusammenhang mit der römischen Attila-Aufführung im Dezember 1847. In der gegebenen politischen Situation in Rom bezog das Publikum die Worte der Cabaletta der Arie Ezios im zweiten Akt „E gittata la mia sorte, / Pronto sono ad ogni guerra [...]“, wohl nicht, wie Ipson vermutete,115 auf die Österreicher, vielmehr richtete sich das „pronto sono ad ogni guerra“ gegen den Papst. Margaret Fuller, die vom „great applause“ für diese Arie berichtete, fügte ausdrücklich hinzu „The music is in itself very pleasing, but that was not the reason.“116 Mit anderen Worten: Wie später in Venedig bei Macbeth war der Text ausschlaggebend. Auch in Neapel wurden 1848 patriotische Reaktionen durch den Text und nicht durch die Musik ausgelöst, wie ein Bericht in der Augsburger Allgemeinen Zeitung belegt. Über die erste Aufführung der Oper hieß es dort: „Jede nur irgend nach Freiheit duftende Stelle des beschnittenen Operntextes wurde beklatscht.“117 (Mit „beschnittenem Operntext“ waren die starken Eingriffe der Zensur in das ­Libretto gemeint.) Die Belegstellen über politische Reaktionen auf die Chöre in Verdis Opern sind also ziemlich eindeutig: Das Publikum reagierte auf bestimmte Textstellen, die geeignet waren, dem Widerstand gegen die Österreicher und/oder

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gegen eine reaktionäre Politik Ausdruck zu verleihen. Dies betraf nicht nur Opern Verdis, sondern auch die anderer Komponisten, und war jeweils von lokalen Umständen abhängig. Die Musik Verdis hatte damit nichts zu tun. Als Oper wurde Verdis Macbeth in Venedig nicht positiv aufgenommen, sondern verströmte beim Publikum eher Langeweile, wie die zeitgenössischen Berichte zeigen. Davon, dass es sich hierbei um „spontaneous outpourings of emotion, moments when Verdi’s music enabled the populace to express patriotic sentiments forbidden in any guise except the relatively ‘safe,’ ‘meaningless’ medium of song“118 handelte, kann keine Rede sein, auch nicht davon, dass es sich um eine „Verkleidung“ handelte, denn da es um Worte im Libretto ging, deren Zielrichtung für das Publikum, aber auch (in Venedig) für die Polizei klar ersichtlich waren, lag der Sachverhalt für alle Beteiligten offen zu Tage. Das gilt auch für den bisher einzigen Beleg für das Mitsingen eines Chores von Verdi im Herbst 1847 in Lucca: „Die Oper Macbeth von Verdy [sic!] hat hier Veranlassung zu einem völligen Aufstand gegeben. Als der Tenor die Arie mit Chor sang, welche mit dem Vers beginnt: La patria tradita / Pinagendo ne invita / Fratelli! gli oppressi / Corriamo a salvar! wiederholte das ganze Publicum diesen Vers mitsingend und man kann sich von der Aufregung im Theater keine Vorstellung machen. Eine Aufregung auf den morgigen Tag befürchtend, musste nach einer Grossherzogl. Ordre das Theater geschlossen werden.“119 Ob der Berichterstatter die Aufführung tatsächlich gesehen hat und aus erster Hand berichtet, oder ob er sich auf Berichte anderer verlassen hat (was bei den Korrespondenten immer wieder vorkam), muss offen bleiben. Im letzteren Fall kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Bericht eine Reaktion auf den Text in das Einstimmen des Publikums in den Chor ummünzt. Die falsche Schreibweise des Namens Verdi spricht jedenfalls nicht für besondere Opernkenntnisse des Berichterstatters. Eindeutig falsch ist jedenfalls die 1859 gedruckte Behauptung, in Venedig habe das Publikum in den „La patria tradita“-Chor eingestimmt.120 Hier war der Wunsch der Vater des Gedankens.

La battaglia di Legnano Unbestreitbar eine Risorgimento-Oper ist La battaglia di Legnano, deren Sujet der siegreiche Kampf der norditalienischen Städte gegen den „deutschen“ ­Kaiser Friedrich Barbarossa ist und die mit den Worten „Viva Italia!“ beginnt. Die Uraufführung der Battaglia di Legnano am 27. Januar 1849, nur wenige Tage nach den freien Wahlen in Rom, wurde zu einem triumphalen Erfolg. Eine Oper auf dieses Sujet zu komponieren, war im April 1848 allerdings nicht Verdis Idee gewesen, sondern die seines Librettisten Salvadore Camma-

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rano.121 Verdi selbst hatte Rienzi als Sujet erwogen, wovon ihm Cammarano aber dringend abriet, und zwar aus dramaturgischen wie aus patriotischen Gründen, denn ein vom Volk ermordeter Rienzi erschien für eine patriotische Oper ungeeignet. Aus welchen Gründen allerdings Verdi Rienzi vorgeschlagen hat und ob er damit eine patriotische Tendenz verfolgte, ist nicht bekannt. La battaglia di Legnano konnte nur in Rom 1849 uraufgeführt werden, weil sich die politische Lage in Italien so verändert hatte, dass an eine Aufführung andernorts nicht zu denken war. Vermutlich noch bevor die Oper beendet war, bat Verdi, angesichts von zu erwartenden Zensurschwierigkeiten (damals noch der neapolitanischen Zensur), Cammarano über ein Umschreiben von Text und Sujet nachzudenken.122 Auch der Verleger Giovanni Ricordi bat im Dezember 1848 um diese Änderungen,123 woraus dann die Umarbeitung L’assedio di Arlem hervorging, in der die Handlung in die Niederlande verlegt und aus Barbarossa Herzog Alba wurde. Verdi hing also wenig am aktualitätsbezogenen politischen Sujet der Oper, sondern hatte wie sein Verleger den längerfristigen Erfolg des Werks im Auge. Ausgerechnet diese Oper wurde aber nach dem kurzfristigen Triumph nicht zu einem der Verdischen Erfolgsstücke. Zwar hatten Verdi und Ricordi mit der Umarbeitung zu L’assedio di Arlem bereits die veränderten politischen Umstände in Norditalien (und bald auch in Rom) einkalkuliert, aber einerseits waren die Forderungen des Verlegers für eine Aufführung zu hoch 124 und andererseits scheint auch Verdis ästhetisches Konzept mit seinen Anleihen an der Pariser Grand opéra auf wenig Gegenliebe in Italien gestoßen zu sein. La battaglia di Legnano blieb ein Einzelereignis und führte Verdi wie Ricordi im Übrigen nachhaltig vor Augen, wie geschäftsschädigend es war, mit einem Opernsujet auf kurzfristige politische Entwicklungen zu reagieren. Verdi musste erkennen, das eine ästhetisch anspruchsvolle und neue Dramaturgie wenig rezipiert wurde, wenn das Werk nicht aufgeführt wurde. Als darum während der Vorbereitungen der Battaglia di Legnano der Librettoentwurf einer weiteren geplanten patriotischen Oper, L’assedio di Firenze, deren Sujet Verdi diesmal selbst vorgeschlagen hatte, von der Zensur in Neapel aus politischen Gründen nicht genehmigt wurde,125 komponierte Verdi stattdessen Luisa Miller, ein ganz und gar unpatriotisches Sujet nach Schiller. Verdis primäre Intention war offensichtlich nicht, politische Manifeste zu komponieren, sondern wirkungsvolle und erfolgreiche ästhetische Vorstellungen zu realisieren. Gerade am fallengelassenen Projekt der L’assedio di Firenze wird dies deutlich. Die Wahl des Sujets hatte wohl mehr „with the possibility for making use of scenic tableaus capable of producing the right effect“126 zu tun als mit dem Sujet. Verdi zielte weniger auf politischen Patriotismus als auf die Realisierung von etwas ästhetisch Neuem. „Nichts anderes will ich, als wenigstens einige neue Dinge zu versuchen“, schrieb Verdi an Cammarano127 und fügte

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hinzu: „Versuchen wir, ein heißes Drama zu machen, mit starken und ergreifenden Leidenschaften, und dabei sollen uns die musikalischen Formen nicht stören, wenn nur etwas zum Versuchen da ist.“128 Wohl nicht wegen des politisch motivierten Verbots von L’assedio di Firenze, sondern weil sich seine unkonventionelle Konzeption der Eingangsszene, in der Verdi einen predigenden Mönch vorgesehen hatte, dessen Auftritt für die erste Szene essentiell gewesen wäre, weder bei der neapolitanischen noch einer anderen italienischen Zensurbehörde hätte durchsetzen lassen, ließ er das Projekt kommentarlos fallen.

Wagner und Verdi Die Unterschiede im politischen Engagement Wagners und im politischen Nicht-Engagement Verdis sind nicht prinzipieller Natur, sondern durch die Umstände bedingt. Wagner lebte in Deutschland als Hofangestellter in einer für seine künstlerischen Ambitionen prekären Umgebung, zu der es auch gehörte, dass die Erfolgschancen für deutsche Opern nicht sehr groß waren, weil französische und italienische Opern das deutsche Opernrepertoire dominierten. Wagner zog daraus den Schluss, dass die gesellschaftlichen Umstände geändert werden müssten, damit sein „Kunstideal“ erfolgreich sein konnte. Dabei ging es aber durchaus nicht nur um die hehre Kunst, vielmehr schwingt im Hintergrund auch der Drang zum wirtschaftlichen Erfolg mit, der sich in den durch Sozialneid motivierten Attacken auf Meyerbeer niederschlägt. Verdi hingegen hatte bereits künstlerischen und wirtschaftlichen Erfolg und musste danach trachten, diesen nicht dadurch zu gefährden, dass er sich politisch exponierte. Er unterschied sich damit nicht von jedem anderen italienischen Opernkomponisten. Prekär war freilich die Frage, inwieweit er als Komponist auf veränderte politische Umstände reagieren sollte, ohne seine Opernkonzeption zu korrumpieren. Diese Konzeption war Verdi ebenso wichtig wie Wagner sein „Kunstideal“. Beide Komponisten zielten auf die Durchsetzung ihrer Opern – Verdi durch politische Abstinenz, Wagner durch ästhetisch-politische Akti­ vität.

Anmerkungen 1 „La rappresentazione del Nabucco alla Scala di Milano, nel 1842, è considerato come l’inizio del risorgimento musicale italiano. L’elemento patriottico è ricorrente e caro alla creatività verdiana. Esso si esprime attraverso le celebri pagine corali nelle quali, sotto la metafora degli avvenimenti storici evocati dal libretto, è sempre il popolo italiano che canta la sua volontà di riscossa contro l’oppressione e il suo sentimento di indomito orgoglio. Non si può non ricordare, tra le tante pagine che ci ha re-

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galato il genio verdiano, il coro „Patria oppressa“ del Macbeth, opera rappre-sentata la prima volta a Firenze, nel 1847, dove, tra i lugubri rintocchi delle campane che suonano a morto, il popolo scozzese oppresso dal dominio straniero piange la propria misera condizione. Così come l’aria di Procida „Oh tu Palermo, terra adorata”, nell’opera I vespri siciliani, rappresentata con testo francese a Parigi nel 1855. Qui il patriota invoca la rivolta dei siciliani contro lo straniero chiamandoli alla vittoria ed al riscatto. L’opera di Verdi è stata definita la Biblia pauperum dei patrioti ottocenteschi proprio perchè, attraverso il canale del melodramma, ossia la forma di spettacolo più amata dell’epoca, seppe dare voce ai sentimenti patriottici di nobili, borghesi, popolani che accorrevano alle rappresentazioni nei teatri di tutta Italia. Il genio musicale di Giuseppe Verdi ha accompagnato la nascita e la crescita dell’Italia come stato unitario e le sue opere funsero, dunque, da mantice che attizzò il fuoco risorgimentale riempiendolo di simboli e di bellezza. Con Mazzini, ­Garibaldi, C ­ avour e Vittorio Emanuele II, Giuseppe Verdi è simbolo del risorgimento e la sua adesione agli ideali patriottici fu genuina e fervente, mantenendo sempre uno s­pirito popolare che lo fece amare dalla gente.“ (Gianmaria Patrone, Giuseppe Verdi esteta del Risorgimento, in: Mondo dell’Arte. Studi di Lettere e Arti, http://www.lettereearti.it/mondodellarte/musica/giuseppe-verdi-esteta-delrisorgimento/, Datierung des Artikels: 8. März 2011 [abgerufen am 18. März 2013]). Roger Parker, “Arpa d’or dei fatidici vati”. The Verdian Patriotic Chorus in the 1840s, Parma 1997; Birgit Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozess der Nationenbildung, Berlin 1996. Vgl. auch Mary Ann Smart, Verdi, ­Italian Romanticism, and the Risorgimento, in: The Cambridge Companion to Verdi, hrsg. v. Scott L. Balthazar Cambridge u.a. 2004. Auf dem derzeitigen Forschungsstand basierend ist die Darstellung von Anselm Gerhard, Giuseppe Verdi, München 2012, S. 29–32 und 88f. Philip Gossett, Giuseppe Verdi and the Italian Risorgimento, in: Studia Musicologica 52 (2011), S. 241–257 (der Band wurde erst 2012 ausgeliefert); hier S. 246: „In recent years, however, it has become fashionable among non-Italian authors to discredit entirely the composer’s credentials as a card-carrying Risorgimento figure. That strikes me as an exaggerated reaction to myth-making tendencies of the nineteenth- and early-twentieth-centuries and a failure to understand the choices at the basis of all biographical evidence. It is worth pointing out that I cannot think of a single Italian scholar who is prepared to accept such claims.“ Simonetta Chiappini, From the People to the Masses: Political Developments in Italian Opera from Rossini to Mascagni, in: The Risorgimento Revisited. Nationalism and Culture in Nineteenth-Century Italy, hrsg. von Silvana Patriarca und Luca Riall, ­Basingstoke 2012, S. 66–68 versucht Verdis Bedeutung für den Risorgimento durch den Verweis auf die Rezeptionsgeschichte zu retten, wobei sie übersieht, dass eines der wesentlichen Argumente von Parker und Pauls ist, dass Rezeptionsbelege für eine politische Rezeption der Opern Verdis im Jahr 1848 bzw. früher fehlen. Auch Chiappini führt kein einziges entsprechendes Rezeptionszeugnis an. Vgl. zur Kritik z.B. Axel Körner, Ein soziales „Dramma in musica“? Verdi, alte Notabeln und neue Eliten im Theater des liberalen Italiens, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 61–89.

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  6 Schlaglichtartig kann das durch das Programm des Jahres 1846 der Mailänder Scala beleuchtet werden: Von 21 aufgeführten Opern waren sechs von Donizetti, vier von Rossini und drei von Verdi (vgl. Pompeo Cambiasi, Teatro alla Scala. 1778–1881, Milano 1881, S. 56f.).   7 Vgl. Uwe Schweikert, „Sechzehn Galeerenjahre!“ Der frühe Verdi und die italienische Oper seiner Zeit, in: Verdi-Theater, hrsg. v. Udo Bermbach, Stuttgart/Weimar 1997, S. 53f.   8 Vgl. Gerhard, Giuseppe Verdi, S. 39.   9 Vgl. Schweikert, „Sechzehn Galeerenjahre!“, S. 37–54. 10 Franz-Peter Opelt, Richard Wagner – Revolutionär oder Staatsmusikant?, Frankfurt u.a. 1987 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 36, Bd. 28), S. 33. 11 Zit. nach Opelt, Richard Wagner – Revolutionär oder Staatsmusikant?, S. 46. 12 Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München 1983 (neu durchgesehene Auflage), S. 260. 13 Im Folgenden wird es nicht um die ideengeschichtliche Einordnung von Wagners Schriften gehen, sondern um deren argumentative und biographische Logik. Für die ideengeschichtliche Einordnung sei auf Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 verwiesen. 14 Richard Wagner, Mein Leben, hrsg. v. Martin Gregor-Dellin, München 1983, S. 386f. Ob sich die radikalen sozialpolitischen Ideen Röckels bereits in Wagners Reformvorschlägen Die Königliche Kapelle betreffend von 1846 niederschlugen, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls plädierte er darin nicht nur für künstlerische Reformen, sondern auch für soziale Verbesserungen für die Musiker. Sein Vorschlag, Kapellkonzerte einzurichten, bei denen drei Viertel der Einnahmen den Musikern zugutekommen sollte, weil die Gehälter der Kapelle angesichts der Lebenshaltungskosten in Dresden zu niedrig seien, wäre natürlich auch für Wagner selbst von Vorteil gewesen. Im Großen und Ganzen entsprach der Vorschlag aber kaum einer politischen Richtung, sondern dem gesunden Menschenverstand. 15 Wagner, Mein Leben, S. 387. 16 Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 208. 17 Zit. nach ebd., S. 209 18 Vgl. ebd., S. 235. 19 Vgl. ebd., S. 236. Dass Wagner an diesem Schriftstück arbeitete, war allerdings schon vorher bekannt. So berichteten die Signale für die musikalische Welt im Januar 1849: „Der Capellmeister Wagner, der in sättigenden Plänen stark, hat einen solchen im Ministerium eingereicht; natürlich wie das immer bei bescheidenen Plänen ist, auf seine leitende Ausführung berechnet; es soll auch Leipzig’s darin gedacht sein, nämlich des dortigen Connservatoriums, welches von Leipzig fort nach Dresden müsste, um erst etwas Ordentliches zu werden. Herr Wagner würde dann gewiss als Director desselben den Schülern diejenige Klarheit und Solidität in der Composition mittheilen, die aus seinen Werken mit der Stärke des Samum wehen. Die Herren in Leipzig mögen sich’s merken.“ (Signale für die musikalische Welt 7 [1849 = No. 5, Januar 1849], S. 35f.). 20 Richard Wagner, Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, 2. Bd., Leipzig, 6. Aufl. [1911], S. 233–273.

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21 Wagner, Mein Leben, S. 388. 22 Wagner, Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen, S. 273. 23 Vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 238. 24 Vgl. Rüdiger Krohn, Richard Wagner und die Revolution von 1848/49, in: RichardWagner-Handbuch, hrsg. v. Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 93. 25 Richard Wagner, Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber?, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, 12. Bd., Leipzig, 6. Aufl. [1911], S. 224. 26 Ebd., S. 225. 27 Ebd., S. 226. 28 Ebd., S. 228. 29 Ebd., S. 227. 30 Ebd., S. 228. 31 Erschienen am 10. Februar 1849, vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 255. 32 Ich zitiere den Text der Buchausgabe des Judenthums in der Musik von 1869 (die Textunterschiede zur Originalfassung von 1850 sind im vorliegenden Zusammenhang nicht wesentlich) nach der kommentierten Ausgabe von Jens Malte Fischer, Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt 2000, hier: S. 144. 33 Ebd., S. 146. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 147. 36 Ebd., S. 153. 37 Ebd., S. 154. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 153. 40 Ebd., S. 167. 41 Richard Wagner, Ein Brief an den Redacteur der Neuen Zeitschrift für Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik 36 (1852), S. 58. Der Brief wurde noch im selben Jahr auch als Broschüre veröffentlicht (Richard Wagner, Zwei Briefe. I. Brief an den Redacteur d. Neuen Zeitschr. f. Musik. II. Brief an Franz Liszt (über die Goethe-Stiftung), Leipzig 1852). 42 Fischer, Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“, S. 169f. 43 Ebd., S. 170. 44 Ebd., S. 171. 45 Ebd., S. 173. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Richard Wagner, Oper und Drama. Erster Theil. Die Oper und das Wesen der Musik, Leipzig 1852, S. 3. 49 Ebd., S. 143f. 50 Ebd., S. 148f. 51 Ebd., S. 154. 52 Ebd., S. 167.

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53 Ebd., S. 159. 54 Vgl. Gundula Kreuzer, Rienzi, der Letzte der Tribunen. Große tragische Oper in fünf Akten. WWV 49, in: Wagner Handbuch, hrsg. v. Laurenz Lütteken, Kassel u.a. 2012, S. 301. – Rellstab bezog sich seinerseits möglicherweise wiederum auf eine Kritik seines Schauspiels Eugen Aram (nach Bulwer-Lytton) von Wolfgang Stich, in der es geheißen hatte: „Wir sehen lauter Wirkungen ohne Ursache, lauter Scenen ohne poetisches Band, lauter Knall ohne Blitz.“ (Wolfgang Stich, Monatliche Theaterschau. Erster Artikel, in: Deutsche Theeblätter, Nr. 37/1839 [München], S. 296). 55 Vgl. Mary Jane Phillips-Matz, Verdi. A Biography, Oxford u.a. 1993, S. 217. 56 Vgl. den bei Phillips-Matz, Verdi, S. 225 abgedruckten Brief an Toccagni. 57 Vgl. Phillips-Matz, Verdi, S. 228. 58 Vgl. Guido Zavadini, Donizetti. Vita, musiche, epistolario, Bergamo 1948, S. 281. 59 Vgl. Anselm Gerhard, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1992, S. 224. 60 Abdruck des Briefes bei Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, Milano 1959,1. Bd., S. 745. 61 Abbiati, Giuseppe Verdi,1. Bd., S. 745: „Sì, sì, ancora pochi anni forse pochi mesi e l’Italia sarà libera, una, repubblicana.“ 62 Brief Verdis an Mazzini vom 18. Oktober 1848, in: I Copialettere di Giuseppe Verdi, hrsg. v. Gaetano Cesari und Alessandro Luzio, Milano 1913, S. 469f. 63 Vgl. Phillips-Matz, Verdi, S. 223. 64 Abbiati, Giuseppe Verdi, 1. Bd., S. 745. 65 Vgl. z.B. als willkürliche Beispiele: Gazzettino del Mezzodì. Giornaletto italiano politico letterario vom 26. Mai 1848: „Gli Assasini d’Italia sono venuti alle nostre mura. Sono ormai tre giorni che godiamo la musica del cannone.“ (Notizie Italiane. Lettera da Vicenza.); Gazetta dal Popolo vom 18. August 1849: „la musica del cannone continua non interotta.“ (Venezia, 7 agosto); Giuseppe Bianchetti, Alcune Parole sopra certi „articoli“ del Dupanloup; sull’opera, del Gioberti intitolata „Il Primato“ ec.; su quella del Balbo: „Le speranze“ ec.; sopra un „Discorso“ di questo alla camera piemontese; aggiuntavi un’appendice intorno ad un’ „Orazione“ del suddetto Dupanloup, e ad una „Lettera“ del Montalembert al Cavour, in: Memorie del Reale Istituto Veneto di science, lettere e arti, Vol. 14, Venezia 1868, S. 43: „[...] ma la vera pazzia di voler danzare col beretto frigio in testa sull’orlo dell’abisso, che stava là per ingojarci, e danzare alla musica del canone straniero!“ (Brief vom 28. Juli 1849); Raccolta per ordine cronologico di tutti gli atti, decreti, nomine ecc. del governo provvisorio di Venezia non che Scritti, Avvisi, Desiderj ecc. di Cittadini privati che si riferiscono all’epoca presente, Bd. 7, Venezia 1849, S. 61: „Noi per destarci da questa incertezza mortale abbiamo bisogno di una musica degna di noi, della musica del cannone.“ (Al popolo ed ai militi di Venezia, 16. April 1849). – Der Begriff war auch schon im 18. Jahrhundert gebräuchlich. Vgl. z.B. Lettere inedite d’illustri Italiani che fiorirono dal principio del secolo XVIII fino ai nostri tempi, Milano 1835: „ma la musica del cannone poco mi piacerrebbe vicina.“ (Brief Benedetto del Benes vom 23. Juli 1796). 66 Vgl. [Friedrich Schiller,] I masnadieri (Die Räuber). Produzione teatrale, in: Opere di Federico Schiller. Tradotte da Carlo Rusconi, Padua 1843, S. 61: “[Moor:] Non uno sa di disciplina, conosce segnali o comandi, o è atto a danzare alla musica del cannone.“ I Masnadieri. Dramma in prosa di Federico Schiller. Traduzione del Cavaliere Andrea Maffei, Milano 1846, S. 89: „[Carlo (Moor)]: Qui stanno settantanove ai

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quali io comando, e nessuno di questi sa muoversi per cenni e per ordine, nè ballare all musica del cannone.“ 67 Gossett, Giuseppe Verdi and the Italian Risorgimento, S. 250, zitiert diesen Teil des Briefs nicht. 68 Vgl. Gerhard, Giuseppe Verdi, S. 57. 69 John Rosselli, Giuseppe Verdi. Genie der Oper. Eine Biographie, München 2013, S. 121. 70 Triest galt als Habsburgische „Città fedelissima“. Vgl. zur Geschichte Triests während der Revolutionen von 1848/49 Die Moderene und ihre Krisen. Studien von Marina Cattaruzza zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Sacha Zala, Göttingen 2012, S. 73–80. 71 Der Papst war Ende November aus Rom geflüchtet, am 29. Dezember 1848 waren von einer provisorischen Giunta di Stato freie Wahlen für den 21. Januar 1849 ausgeschrieben worden, am 9. Februar wurde die römische Republik ausgerufen. 72 Häufig führten die unterschiedlichen politischen Kontexte in Italien zu Zensurfassungen der Opern, bei denen das Libretto vollständig geändert wurde. So führte man 1845 in Rom z.B. Verdis Giovanna d’Arco, deren Hauptfigur als Häretikerin nicht auf der römischen Bühne erscheinen durfte, als Orietta di Lesbo auf. Die Handlung wurde nach Lesbos und ins 13. Jahrhundert verlegt, wobei die Hauptfigur die „buona causa“ gegen die „seguaci di Maometto“ vertrat (Orietta di Lesbo. Dramma in 4 parti, Milano: Ricordi 1845 [Libretto für die Aufführung im Teatro Argentina in Rom]). 73 Anselm Gerhard, „Cortigiani, vil razza bramata!“ Reti aristocratiche e fervori risorgimentali nella biografia del giovane Verdi (Con un’appendice sulle dediche delle edizioni a stampa di Verdi), in: Acta Musicologica 84 (2012), S. 37–63 und 199–223. 74 Vgl. Eberhard Straub, Wagner und Verdi. Zwei Europäer im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 47–52. 75 Vgl. zum Gegensatz von Nord und Süd sowie Stadt und Land: Ernesto Galli della Loggia, Nord e Sud nel Risorgimento: L’unificazione italiana lontana dai miti, in: Studi Italiani – Estudios Italianos. Revista de Italianística de la Facultad de Lenguas Universidad Nacional de Córdoba, Número especial: 1861–2011: 150º Aniversario de la Unidad de Italia, hrsg. v. Donatella Cannova, Córdoba 2011, S. 31–44. 76 Vgl. F[erdinando] Petrucelli della Gattina, I moribondi del Palazzo Carignano, Milano 1862, S. 41. Verdi war allerdings nicht der einzige, der so handelte. Petrucelli war ein bekannter liberaler Schriftsteller und selbst Mitglied des Parlaments. Ein anderes Mitglied des Parlaments, Angelo Brofferio, vermerkte sogar, Verdi habe fast immer („quasi sempre“) für die Anträge der Linken gestimmt (Angelo Brofferio, I miei tempi. Memorie, Bd. 18, Torino 1861, S. 195). – Zu Verdi als Parlamentarier vgl. auch Michele Manzotti, L’attività politica di Giuseppe Verdi (1848–1865), in: Nuova Antologia 561 (1989), S. 338–353. 77 Gerhard, „Cortigiani, vil razza bramata!“, S. 201. 78 Das Schreiben in Copialettere, S. 466f. 79 Hans Henning Hahn, Die Revolutionen von 1848 als Strukturkrise des europäischen Staatensystems, in: Das europäische Staatensystem im Wandel, hrsg. v. Peter Krüger, München 1996 (Schriftenreihe des Historischen Kollegs. Kolloquien 35), S. 138.

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80 Vgl. Hermann Reuchlin, Geschichte Italiens von der Gründung der regierenden Dynastien bis zur Gegenwart. Zweiter Theil, zweite Hälfte: Von der ersten Niederlage Karl Alberts und der Unterwerfung Siciliens bis auf die Gegenwart, Leipzig 1860 (Staatengeschichte der neuesten Zeit 5), S. 60. 81 Vgl. Reuchlin, Geschichte Italiens, S. 64. 82 Der Brief ist abgedruckt in Jules Bastide, La Republique Française et l’Italie en 1848. Récits, Notes et documents diplomatiques, Brüssel 1858, S. 44f. Vgl. auch Reuchlin, Geschichte Italiens, S. 65. 83 Vgl. auch Luigi Chiala, La vita e i tempi del generale Giuseppe Dabormida. Regno di Carlo Alberto. 1848–49, Torino 1896, S. 104 (die Erinnerung des Gelehrten und Bibliothekars Tommaso Gar, der ebenfalls von der provisorischen Regierung in Venedig nach Paris gesandt worden und Mitunterzeichner der Petition war). 84 Philip Gossett, „Edizione distrutte“ and the significance of operatic choruses during the Risorgimento, in: Opera and Society in Italy and France from Monteverdi to Bourdieu, hrsg. v. Victoria Johnson, Jane F. Fulcher und Thomas Ertman, Cambridge u.a. 2007, S. 189. 85 Abgedruckt in Copialettere, S. 469f. Verdis Brief an Mazzini wurde nicht erst 1904 veröffentlicht, wie Gossett annahm (Gossett, „Edizione distrutte“, S. 237, Anm. 27), sondern schon 1902 in einer kommentierten Ausgaben der Schriften Mamelis (Scritti edite e inedite di Goffredo Mameli. Ordinati e pubblicati con proemio, note e appendici, hrsg. von Anton Giulio Barrili, Genova 1902, S. 460f.). 86 Gossett, „Edizione distrutte“, S. 189. 87 Manche Formulierungen in Verdis Briefen, gerade um 1848, sind weniger durch ihren Informationsgehalt bedingt als offensichtlich dadurch, den Erwartungen des Adressaten entgegenkommen zu wollen (ein Phänomen, das man auch bei anderen jungen Komponisten des 19. Jahrhunderts beobachten kann). Abgesehen von geschäftlichen Fragen, ist darum nicht alles, was Verdi schreibt, beim Nennwert zu nehmen. Ein in diesem Sinne typischer Widerspruch ergibt sich bei den folgenden Aussagen, die nicht unwesentlich sind, wenn man erschließen will, wie Verdi über die „Cinque giornate“ informiert wurde: Verdi schreibt am 9. März 1848 an Giuseppina Appiani, er kaufe zwar täglich 20 Zeitungen, damit er nicht von Zeitungsverkäufern verfolgt würde, aber er lese diese Zeitungen natürlich nicht (vgl. Phillips-Matz, Verdi, S. 223). Am 22. Juli 1848 schreibt er an Piave, er lese ständig Zeitungen und hoffe, in Bezug auf Italien, auf gute Nachrichten (vgl. ­Phillips-Matz, Verdi, S. 234). Beide Bemerkungen standen im Zusammenhang mit Verdis Informationen über die Lage in Italien. Dass er innerhalb eines halben­ Jahres von einem Zeitungs-Ignoranten zu einem passionierten Zeitungsleser geworden wäre, ist nicht anzunehmen. Es wäre gerade beim Vielleser Verdi unwahrscheinlich, wenn er in Paris keine Zeitungen gelesen hätte – vor allem angesichts der Tatsache, dass er die wichtigsten Pariser Zeitungen, wie etwa das Journal des Débats, schon wegen der Meldungen aus der Opéra aus professionellem Interesse zur Kenntnis nehmen musste. Es ist darum davon auszugehen, dass Verdi sehr wohl in Paris Zeitungen las, vielleicht nicht 20, aber doch mehrere. Insofern kann man annehmen, dass Verdi (vgl. oben) durch das Journal des Débats vom 25. März zumindest in Grundzügen über die revolutionären Ereignisse in Mailand unterrichtet war.

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88 Es ist zudem schon 1902 die Frage aufgeworfen worden, ob der Brief in den revolutionären Wirren Mazzini überhaupt erreicht hatte: Vgl. Scritti edite e inedite di Goffredo Mameli. Ordinati e pubblicati con proemio, note e appendici, hrsg. von Anton Giulio Barrili, S. 462. Barrilis Argument, dass sich der Brief deswegen im RicordiArchiv befände, weil er Mazzini angesichts der Unruhen nicht erreicht hätte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, lässt aber unberücksichtigt, dass Mazzini ja im Besitz der Hymne gewesen sein muss, die offenbar dem Brief beigelegt war. Ungeklärt bleibt aber vorläufig, wie die unterschiedlichen Textfassungen der Hymne zustande gekommen sind (vgl. aber zur 1848 in Genua publizierten, zwei Strophen längeren Fassung Goffredo Mameli, Poesie. Con introduzione e note di Francesco Luigi Manucci, Torino u.a. 1927, S. 98). 89 Eine Veröffentlichung seiner Vertonung der Hymne, die Mazzini 1865 anstrebte, wollte Verdi verhindern, was ihm aber nicht gelang, vgl. Abbiati, Giuseppe Verdi, 3. Bd., S. 51f. 90 Raccolta per ordine cronologico di tutti gli atti, decreti, nomine ecc. del governo provvisorio di Venezia non che Scritti, Avvisi, Desiderj ecc. di Cittadini privati che si riferiscono all’epoca presente, Bd. 6, Venezia 1849, S. 17. 91 Vgl. G[iovanni] Prati, La Marsigliese degli Italiani, Torino 1860, ohne Seitenzählung (Vorwort). Zur Verweigerung von Hymnen-Kompositionen vgl. Pauls, Verdi und das Risorgimento, S. 262. 92 Vgl. die Zusammenfassung des Mythos bei Smart, Verdi, Italian Romanticism, and the Risorgimento, S. 33: „Details vary, but stories of the political uses of Verdi during the Risorgimento tend to concern choruses, and they usually center around spontaneous outpourings of emotion, moments when Verdi’s music enabled the populace to express patriotic sentiments forbidden in any guise except the relatively ‘safe,’ ‘meaningless’ medium of song.“ 93 „Aspra del militar / Bench’è la vita, / Al lampo dell’ acciar / Gioja l’invita. // Chi per la gloria muor / Vissuto è assai; / La fronda dell’allor / Non langue mai. // Piuttosto che languir / Per lunghi affanni, / È meglio di morir / Sul fior degli anni. // Chi muore e chi non dà / Di gloria un segno / Alla futura età, / Di fama è indegno.“ 94 Vgl. auch Giuseppe Fumagalli, Chi l’ha detto? Tesoro di citazioni italiane e straniere, di origine letteraria e storica, ordinate e annotate, Milano 1904, S. 299f. Hierbei handelt es sich um die vierte Auflage von Fumagallis Nachschlagewerk, die erste war 1895 erschienen. In der bis heute immer wieder nachgedruckten 10. Auflage wird die Geschichte um jene des 1852 zum Tode verurteilte Angelo Scarsellini ergänzt, der ebenfalls auf das Todesurteil mit einer Opernmelodie reagiert haben soll, nämlich mit der Cabaletta des (Verschwörers) Israele Bertucci aus Donizettis Marino Faliero (im dritten Akt) „Il palco è a noi trionfo“. – Die Aufnahme der Geschichte der Fratelli Bandiera in den Zitatenschatz von Fumagalli ist weniger ein Beleg für deren Popularität in der Zeit vor der Vereinigung Italiens als für die Zeit danach, die offenbar Sehnsucht nach heroischen Risorgimento-Mythen hatte. 95 Vgl. Cronistoria dei Teatri di Modena dal 1539 al 1871 del Maestro Alessandro Gandini. Arrichitta d’interessanti notizie e continuata sino al presente da Luigi Francesco Valdrighi e Giorgio Ferrari-Moreni, 1. Bd., Modena 1873, S. 315 (in Modena wurde im Teatro Comunale in Via Emilia hingegen ein Marsch aus D ­ onizettis Gli esiliati in Siberia als Ersatz für eine nichtexistierende italienische National-

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hymne gespielt).  – Eine weitere Textänderung erfolgte möglicherweise in der dritten Strophe, wo „Piuttosto che languir / Per lunghi affani“ zu „Piuttosto che languir / sotto i tiranni“ wurde. (Dieser Text z.B. bei Mauro Stramacci, La vera storia dei Fratelli Bandiera, Roma 1993, S. 122. Für diese Textänderung ließ sich kein zeitgenössischer Nachweis finden, auch Stramacci und andere Autoren geben keine Quelle an.)  96 Nach Atto Vannucci, I martiri della libertà italiana nel secolo decimonono. Memorie raccolte, Firenze 1848, S. 133, haben die Brüder und ihre Mitverurteilten nach Verkündigung des Todesurteils im Hof des Gefängnisses „Viva Italia!“ ausgerufen und einen („un inno pattriotico“) Chor angestimmt. Von Mercadantes Donna ­Caritea ist keine Rede. Der Chor aus Donna Caritea wird allerdings in Miscellanea del g­ iorno. Libro-giornale. 1847, 2. Bd., Paris 1847, S. 135 erwähnt sowie bei Cesare Vimercati, Constantinopoli e l’Egitto. Studj. Statistici – storici – politici – commerciali, 1. Bd., Prato 1849, S. 10 (Fußnote). Die Passage der Miscellanea del girono, nach der die Brüder und ihre Mitverschwörer auf dem Weg zur Hinrichtung patriotische Gesänge angestimmt haben, darunter auch den Chor aus Donna Caritea, wird wörtlich in Giuseppe Ricciardi/Francesco Lattari, Storia dei Fratelli Bandiera e consorti, ­Firenze 1863, S. 99 übernommen. Die Geschichte in der Version der Miscellanea del giorno findet sich – wenn auch wesentlich blumiger – zudem bei Giuseppe Montanelli, Memorie sull’Italia e specialmente sulla Toscana dal 1814 al 1850, Bd. 1, Torino 1853, S. 71. Das Buch erschien 1859 auch in französischer Übersetzung (Mémoirs sur l’Italie, 1. Bd., Paris 1859; die Episode dort auf S. 71 [sic!]).  97 Del periodo politico e della vita intima di Daniele Marin, hrsg. v. Federico Federigo, Venezia 1868, S. 157.   98 Wenn überhaupt wurden nur einzelne, immer noch populäre Arien u. a. in Benefizkonzerten für Sänger aufgeführt.   99 Vgl. Parker, “Arpa d’or dei fatidici vati”, S. 23f. 100 Vgl. Gerhard, Giuseppe Verdi, S. 28. 101 Vgl. Parker, “Arpa d’or dei fatidici vati”, S. 95. 102 In der Zeitung Il lume a gas vom 23. März 1848 („Teatri di ieri“, S. 451) wird berichtet: „Nabucco! per Dio! Pare impossibile, ma così è. Il pubblico smaniava per applaudire: non appena si preparava un pezzo, che in massa imponeva silenzio, col silenzio lo ascoltava, col silenzio ne coronava la fine. Il pubblico uscì dal teatro arrabbiato.“ 103 Vgl. z.B. den Bericht in Il lume a gas vom 3. April 1848, S. 492. 104 Michael Sawall, „Der gesungene Krieg kostet euch kein Blut“  – Verdi, Bellini und der Patriotismus in der Oper in der Epoche des Risorgimento aus Sicht der „Augsburger Allgemeine(n) Zeitung“, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 93 (2000), S. 148. 105 Vgl. Peter Stamatov, Interpretive Activism and The Political Uses of verdi’s Operas in the 1840s, in: American Sociological Review 67 (2002), S. 350. 106 Teatri di Sabato, in: Il lume a gas. Giornale della sera vom 17. April 1848, S. 535. 107 Il lume a gas. Giornale della sera vom 15. April 1848, S. 535 (sic!). 108 Hervorhebung vom Verf. 109 I popoli e i governi d’Italia. Nel principio del 1847. Considerazioni di un solitario; con addizioni di R.B. Sino al mese di Ottobre, 2. Aufl., Bastia 1847, S. 70f.

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110 Vgl. auch Sawall, „Der gesungene Krieg“, S. 148, der die Aufführung vom 26. Dezember 1847 erwähnt, sowie Stamatov, Interpretive Activism, S. 350f. 111 Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 7 [I. Semester. I. Band] (1848), S. 179f. („Aus Venedig“; der Artikel ist mit einem Symbol gezeichnet, das nicht auflösbar ist. Aber es ist kaum bestreitbar, dass es sich um einen Augenzeugen gehandelt haben muss. Die Übersetzung wurde aus dem Artikel übernommen.) – Dieser Bericht aus den Grenzboten war, wie sich aus den Formulierungen deutlich ersehen lässt, die Vorlage für die Schilderung in dem Roman Josef Meßners Zwei Brüder. Bilder aus dem Feldzuge in Italien 1848, 1. Bd., Tabor 1853 [= Album. Bibliothek deutscher Originalromane der beliebtesten Schriftsteller], S. 99–105. Meßner (1822–1862) war um 1850 ein beliebter böhmischer Belletrist, der allerdings nie in Italien gewesen war. 112 Carte segrete e atti ufficiali della polizia austriaca in Italia dal 4 giugno 1814 al 22 marzo 1848, Vol. III, Capolago 1852, S. 129 (der Bericht bezieht sich auf die Aufführung des Macbeth am 30. Dezember 1847): „Alla recita di jeri sera alla Fenice, quando si cantò il coro al 4.o atto, si volle, come al solito, la replica. Fra gli esaltati per ciò conseguire si distinsero: due figli della nobile Soranzo, al N.o 32, primo ordine; i consueti soggetti al N.o 7, idem, palco Gritti; l’intera societá del palcon [sic!], N.o 1, Peppiano (mit „Peppiano“ sind die Logen auf Parketthöhe gemeint). Così al N.o 30, Peppiano, lo sposo, credesi, della sig. contessa Valmarana, si distinse per replicati schiamazzi, e moltissimi altri tanto ne’ palchi, come nella platea; anzi in questa, certo Armani, sensale bi biade, andava cercando partito, e se l’aveva quais fatto, per una seconda replica.“ 113 Zit. nach Parker, “Arpa d’or dei fatidici vati”, S. 91. 114 Vgl. Sawall, „Der gesungene Krieg“, S. 156. Sawall weist zu Recht darauf hin, dass der Text des Duetts nicht die 1848 gesungenen Worte „Egrideremo da forti – Libertà“ enthält (sondern „bello è affrontar la morte – Libertà“). Möglicherweise war der Text in Palermo anlassbedingt angepasst worden, analog zur Textänderung im Falle des Ernani. 115 Zit. nach Douglas L. Ipson, „Attila“ takes Rome: the reception of Verdi’s opera on the eve of revolution, in: Cambridge Opera Journal 21 (2010), S. 253. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Aufsatz Ipsons, insbesondere seiner Fehleinschätzung der politischen Lage in Rom und der Attila-Rezeption in Neapel muss einem in Vorbereitung befindlichen Aufsatz überlassen bleiben. 116 Ipson, „Attila“ takes Rome, S. 254. 117 Vgl. Sawall, „Der gesungene Krieg“, S. 149. 118 Smart, Verdi, Italian Romanticism, and the Risorgimento, S. 33 (Smart fasst hier die Legende zusammen). 119 Es handelt sich um eine Notiz aus der Neuen Berliner Musikzeitung 1 (1847) in der Ausgabe vom 6. Oktober 1847, S. 336. 120 „Nella sera precedente de’26, già al teatro erano state accolte con fragorissimi applausi le parole del coro del Macbeth, colle quali s’invitavano i fratelli a sorgere ed a salvare la patri tradita; parole che cantarono gli spettatori, e ripeterono per varie sere seguenti, siccome alludenti alle circostanze di Venezia.“ (Gaetano Moroni Romano, Dizionario di erudizione storico-ecclesiastica da S. Pietro sino ai nostri giorni [...], Vol. XCIII, Venezia 1859, S. 65).

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121 Vgl. den Brief Cammaranos an Verdi vom 20. April 1848, in: Carteggio Verdi – Cammarano. (1843 – 1852), hrsg. v. C.M. Mossa, Parma 2001, S. 19–21. 122 Der Brief ist abgedruckt in Copialettere, S. 54–56. Vgl. auch Andreas Giger, Social Control and the Censorship of Giuseppe Verdi’s Operas in Rome (1844–1859), in: Cambridge Opera Journal 11 (1999), S. 246–251. 123 Vgl. Luke Jensen, Giuseppe Verdi & Giovanni Ricordi with notes on Francesco Lucca. From „Oberto“ to „La Traviata“, New York/London 1989, S. 115. 124 Vgl. Michael Walter, Die italienische Oper als Wirtschaftsunternehmen, in: VerdiHandbuch, hrsg. v. Anselm Gerhard u. Uwe Schweikert, 2. Aufl., Stuttgart/Kassel 2013, S. 68. 125 Vgl. John Black, The Italian Romantic Libretto. A Study of Savadore Cammarano, Edinburgh 1984, S. 121. 126 Carlo Matteo Mossa, A Monk and At Least Some New Things: Verdi, Cammarano, and „L’assedio di Firenze“, in: Verdi’s Middle Period. 1849–1859. Source Studies, Analysis, and Performance Practice, hrsg. v. Martin Chusid, Chicago/London 1997, S. 121. 127 „Non desidero altro che tentare almeno cose nuove.“ (Zit. nach Mossa, A Monk and At Least Some New Things, S. 109.) 128 „Cerchiamo di fare un dramma caldo, di passioni forti e patetiche e non v’inciampino le forme musicali purché vi sia da tentare.“ (Zit. nach Mossa, A Monk and At Least Some New Things, S. 109).

Jean-François Candoni

Verdi, Wagner und die französische Grand Opéra Verdi und Wagner: eine verfehlte Begegnung Verdi und Wagner sind einander bekanntlich nie begegnet. Wagner hat sich so gut wie nie über seinen Rivalen geäußert, man weiß nicht einmal, ob er je eine Verdi-Oper gehört hat, was jedoch nicht ganz auszuschließen ist. Eines steht fest: Anfang November 1875 hat Wagner gemeinsam mit seiner Ehefrau Cosima Verdis Requiem in Wien unter der Leitung von Hans Richter gehört. Cosimas lakonischer Kommentar ist alles andere als wohl­ wollend: „Abends das Requiem von Verdi, worüber nicht zu sprechen entschieden das Beste ist.“1 In Cosimas Tagebüchern (die, wie man weiß, unter Wagners Kon­trolle verfasst wurden) findet man ein paar ähnliche verachtungsvolle Bemerkungen.2 Ausführliche Kommentare, die in ihrem Umfang und ihrer Tragweite mit dem vergleichbar wären, was Wagner über ­Meyerbeer, Halévy oder gar Donizetti gesagt hat, gibt es nicht. Wenn man bedenkt, dass Wagner eine äußerst mitteilsame Natur war, die zu allen mög­lichen Themen Stellung genommen hat, mag dieses Schweigen wohl irritieren. Auf Verdis Seite liegen die Dinge anders. Er hat 1871 der italienischen Uraufführung des Lohengrin beigewohnt (Cosima berichtet ganz kurz darüber in ihrem Tagebuch3) und er besaß in seiner Bibliothek die wichtigsten Partituren von Wagners Opern. Ferner haben ihn die Debatten um Wagners Theorien und die Haltung der Presse zur Stellungnahme gedrängt – ihm wurde nämlich öfters vorgeworfen, die italienische Oper zu wagnerisieren. So Georges Bizets bissiger Kommentar bei der Uraufführung des Don Carlos 1867: „Verdi ist kein Italiener mehr, er will Wagner nachahmen.“4 Verdis Äußerungen zu Wagners Opern sind oft widersprüchlich, abwechselnd von Bewunderung und Unverständnis geprägt. Der italienische Komponist, der in seinen Opern die größtmögliche dramatische Bündigkeit und musikalische Wirksamkeit anstrebte, wirft Wagners Musikdramen ihre Länge und ihre übersteigerte Komplexität vor. Folgende Bemerkung Verdis seiner Freundin Clara Maffei gegenüber scheint seinen Standpunkt am präzisesten zum Ausdruck zu bringen: „Wagner ist kein wildes Tier, wie die Puristen behaupten, aber auch kein Prophet, wie seine Apostel behaupten. Er ist ein sehr talentierter Mensch, der sich auf verschlungenen Pfaden gefällt, weil er die einfachen und geraden nicht zu finden weiß.“5

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Verdi wird oft als Antipode Wagners betrachtet, was nur bedingt zutrifft. Es wäre z.B. ein Irrtum, den deutschen Intellektuellen, der der Philosophie Schopenhauers klangliche Gestalt gegeben habe, und den südländischen Künstler, der seine Meisterwerke instinktmäßig hervorgebracht habe, einander gegenüberstellen zu wollen. Verdi hatte – nicht anders als Wagner – intellektuelle und literarische Ansprüche, er begeisterte sich für die europäischen Literaturen und interessierte sich lebhaft für die Diskussionen um die Literatur: Davon zeugt z.B. die Tatsache, dass Interpretationsansätze aus August Wilhelm Schlegels Wiener Vorlesungen in die Konzeption des Macbeth eingegangen sind.6 Es gibt in der Tat mehrere Berührungspunkte zwischen den beiden Komponisten, darunter zunächst einmal ihr unfehlbares Gespür für dramatische Wirkung und ihren gemeinsamen Ansatz, die thematische und ästhetische Substanz großer literarischer Werke auf der Opernbühne musikdramaturgisch umzusetzen. Das haben sie auf recht unterschiedlichem Wege erreicht. Ein weiterer Berührungspunkt ist ihr biographisches Verhältnis zu Paris und die oft unterschätzte Bedeutung der französischen Oper, insbesondere der sogenannten Grand Opéra für ihre jeweilige künstlerische Entwicklung.

Die historische Grand Opéra als Gattung Der Begriff „Grand Opéra“ bezeichnet sowohl das Pariser Opernhaus, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts an der rue Le Peletier stand, als eine Gattung, die damals in ganz Europa Furore machte. Es handelt sich bei der Gattung Grand Opéra um fünfaktige historische Opern, die bedeutende Episoden der europäischen Geschichte mit eindrucksvoller Bildlichkeit und musikalischer Effizienz auf die Bühne bringen. Ihr Repertoire besteht aus einer begrenzten Anzahl von Werken, deren Uraufführung an der Pariser Opéra jeweils für großes Aufsehen sorgte. Aubers Stumme von Portici (La Muette de Portici, 1828) gilt gemeinhin als die erste große Oper, auf die Rossinis Wilhelm Tell (Guillaume Tell, 1829) bald folgte. Mit der Zusammenarbeit zwischen dem Librettisten Eugène Scribe und dem aus Berlin stammenden Komponisten Giacomo Meyerbeer beginnt die Glanzperiode der Gattung: Robert der Teufel (Robert le diable, 1831), Die Hugenotten (Les Huguenots, 1836) und Der Prophet (Le Prophète, 1849) setzen Maßstäbe für die europäische Ausstrahlung der französischen Oper. Halévys Jüdin (La Juive, 1835) und Donizettis Märtyrer (Les Martyrs, 1848) haben ebenfalls zu ihrer Entwicklung beigetragen, während Meyerbeers Afrikanerin (L’Africaine, 1865) und Verdis Don Carlos als Nachzügler betrachtet werden, die in einer Zeit entstanden sind, als das Genre seine Glanzzeit wohl hinter sich hatte.

Verdi, Wagner und die französische Grand Opéra  |

Alle Werke der Gattung zielen auf das Große, Demonstrative, Monumentale, ja Überdimensionale ab: Die Grand Opéra kennzeichnet sich durch eine breit angelegte Handlung, die mit einem Hang zu epischen Abschweifungen (in Anlehnung an die Ästhetik des Romans) einhergeht. Dazu gehören ein enormer szenischer Aufwand mit akribisch konzipierten historischen Bühnendekorationen und Kostümen, die große Bedeutung, die den Ensembles und Chorszenen zukommt, zahlreiche pomphafte Aufmärsche, feierliche Aufzüge, leidenschaftliche Schwurszenen und diverse zeremonielle Handlungen innerhalb einer Dramaturgie, die zum Tableauhaften neigt. Überhaupt liegt der Schwerpunkt auf dem Visuellen. Für die großen Opern werden beträchtliche finanzielle Mittel eingesetzt, die besten Sänger engagiert. Unter der Leitung des Direktors Louis Véron (1831–1835) avanciert die Pariser Grand Opéra mit ihrer bisher unbekannten szenischen Pracht zum „Versailles de la Bourgeoisie de Juillet“, was Heinrich Heine in einer ironischen Bemerkung zusammengefasst hat: „Der Name Véron wird ewig leben in den Annalen der Musik; er hat den Tempel der Göttin verschönert, aber sie selbst zur Tür hinausgeschmissen. Nichts übertrifft den Luxus, der in der Großen Oper überhandgenommen, und diese ist jetzt das Paradies der Harthörigen.“7 Louis Véron definiert seinerseits die Grand Opéra wie folgt: „Es handelt sich um eine fünfaktige Oper, die einer sehr dramatischen Handlung bedarf, und die große menschliche Leidenschaften und mächtige historische Interessen aufbietet; die Handlung soll aber dem Auge durchaus verständlich sein, der Handlung eines Balletts ähnlich; der Chor soll leidenschaftlich in die dramatischen Vorgänge eingreifen und sozusagen zu einer interessanten Hauptperson des Stückes werden. Jeder Akt soll vielfältige, kontrastreiche Dekorationen und Kostüme anbieten und geschickt vorbereitete Situationen.“8 Ein entscheidendes Moment der Dramaturgie der französischen Grand Opéra wird jedoch von Louis Véron übersehen: Über ihren Hang zur Theatralik hinaus setzt sie eine tiefsinnige Reflexion über politische und ideologische Problemstellungen in Gang. Es handelt sich nämlich dabei, um mit Sieghart Döhring zu sprechen, um ein Ideendrama.9 Die Grand Opéra enthält eine ideologische Botschaft, eine politische Stellungnahme, aber nicht innerhalb der Politik, sondern vielmehr gegen die Politik. Sie ist laut Carl Dahlhaus „eine politische Oper aus dem Geiste des Unpolitischen“10. Als Warnung vor der politischen oder religiösen Blindheit gilt der desillusionierende bzw. katastrophale Ausgang: so etwa der Meinungsumschwung des Volkes, das sich jäh von seinem Helden abwendet und ihn ermordet in Aubers Stummer von Portici, das Massaker der Bartholomäusnacht am Ende von Meyerbeers Hugenotten, die tragisch endende Hochstapelei des Jan van Leiden im Propheten, oder die verheerenden Folgen des religiösen Fanatismus in Halévys Jüdin. Als Wagner und Verdi ihr Glück in der französischen Hauptstadt versuchten, wollten sie sich vor allem mit diesen damals unbestrittenen Meisterwerken

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des Musiktheaters messen und auseinandersetzen. Hängt aus heutiger Sicht der Werdegang Verdis und derjenige Wagners eng mit dem Aufkommen des italienischen bzw. deutschen Nationalbewusstseins zusammen, so darf man jedoch nicht übersehen, dass ihre jeweilige ästhetische Entwicklung und ihr Schaffen ohne die langwierige Auseinandersetzung mit dem französischen Modell, das beide dann endgültig verdrängten, kaum verständlich sind. Aus dieser Konfrontation heraus haben sie sich von nationalen zu europäischen Künstlern profiliert. Die Gründe aber, aus denen Verdi und Wagner der Faszination der Grand Opéra erlagen, sind auf unterschiedliche künstlerische, soziale und ideologische Verhältnisse zurückzuführen, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen.

Die Grand Opéra und Deutschland: Gründe und Motive eines unvollendeten Kulturtransfers Als Wagner mit seiner Frau Minna und seinem Neufundländer Robbe 1839 die abenteuerliche Flucht aus Riga unternimmt, um sein Glück in Paris zu versuchen und dort den internationalen Erfolg zu erstreben, bringt er einen Opernentwurf mit sich, das Libretto zu Rienzi. Mit der Realisation dieser Oper, von der die Musik noch komponiert werden soll, beabsichtigt er, die Erfolge Aubers und Meyerbeers zu übertrumpfen. Nebenbei möchte er mit den als provinziell empfundenen Verhältnissen in den deutschen Theatern brechen. In den 1830er und 1840er Jahren musste sich ein ambitionierter deutscher Komponist zwangsläufig mit der Ästhetik der französischen Grand Opéra messen und eventuell auch auseinandersetzen. War Paris in diesem Jahrzehnt die Hauptstadt „der ganzen zivilisierten Welt“11 (Heine), so verkörperten die dort komponierten Opern eine Art dominierende Kultur, der sich keiner entgegenzusetzen vermochte. Im Jahre 1829, ein Jahr nach deren Uraufführung, feierte zum Beispiel Aubers Stumme von Portici Triumphe in ganz Deutschland (Berlin, Hamburg, Leipzig und Wien). Die französische Grand Opéra spielte für Wagner eine ähnliche Rolle wie die französische klassische Tragödie für Lessing im 18. Jahrhundert, als die Entstehung eines deutschen Nationaltheaters zur Debatte stand. 1834 stellt Wagner fest: „Eine deutsche Oper [...] haben wir nicht“12. Es geht für ihn eben darum, diese deutsche Oper zu erfinden. Daher sein komplexes, widerspruchsvolles Verhältnis zum französischen Modell, in dem man zwei Hauptphasen unterscheiden kann. Nach zahlreichen Versuchen der Aneignung eines bewunderten Modells kommt nämlich die Periode der Ablehnung und der Verunglimpfung, wobei die Werke Meyerbeers als bevorzugte Zielscheibe der polemischen Angriffe fungieren. Diese

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zweite Phase beginnt – und das ist sicherlich kein Zufall – nach der gescheiterten Dresdner Revolution. Wagner hatte, wie er selbst in seiner Autobiographie (Mein Leben, II. Teil) erzählt, an den revolutionären Unruhen in der sächsischen Hauptstadt 1849 aktiv teilgenommen. Die Revolution von 1848/1849 bildet übrigens eine einschneidende Zäsur nicht nur in Wagners Werk, sondern in der europäischen Musikgeschichte in ihrer Gesamtheit. In den Gefühlen, die Wagner der französischen Grand Opéra gegenüber hegt, mischen sich eine gewisse Faszination und eine immer heftiger werdende Ablehnung, die zwar zum Teil auf persönliche Erfahrungen zurückzuführen sind, in denen aber auch die Komplexität der deutsch-französischen kulturellen Beziehungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Vorschein kommt. Die Bedeutung der Grand Opéra für die deutschen Künstler ist wohl geopolitischer Art: Indem man sich auf ein ausländisches Modell bezieht bzw. es zu importieren versucht, zielt man zunächst darauf ab, eine Lücke in der eigenen künstlerischen Produktion zu füllen. In der Tat symbolisiert die Grand Opéra den Triumph einer bourgeoisen Kultur der universellen Kommunikation zu einer Zeit (dem Vormärz), wo das deutsche Bürgertum die Einschränkungen der sogenannten Kleinstaaterei zu überwinden versucht. Die Grand Opéra erscheint als das kulturelle Symbol der Verbürgerlichung der französischen Gesellschaft. Zu ihrem Erfolg in Deutschland haben wohl auch ästhetische Betrachtungen beigetragen: Die Entstehung einer deutschen großen Oper gehört in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den meist geäußerten Desiderata der deutschen Musikerzunft. Zahlreiche Komponisten (unter ihnen auch Richard Wagner) sind davon überzeugt, dass es keine echte deutsche Oper gibt, weil es keine deutsche große Oper gibt. Die damals als typisch deutsch empfundene Form des Musiktheaters war das Singspiel – das bezeichnender­weise meistens Operette (i.e. kleine Oper) genannt wurde. Die berühmtesten romantischen Opern (Webers Freischütz oder Marschners Hans Heiling) waren der Ästhetik des Singspiels noch weitgehend verpflichtet. Der jähe Übergang von den Musiknummern zu den gesprochenen Dialogen im Singspiel wurde dennoch meistens als trivial empfunden: „Das Nebeneinander [...] von prosaischem Gewäsch des Dialogs und der künstlerisch behandelten Gesangsstücke bleibt immer ein Miss­stand“ erklärte G.W.F. Hegel in seinen damals vielgelesenen Vorlesungen über die Ästhetik.13 Demgegenüber stand die große Oper, die man damals als „durchkomponierte Oper“, d.h. als eine Oper ohne gesprochene Dialoge definierte. Sie galt als eine höhere Gattung, als das Pendant zur Tragödie im Bereich des Musiktheaters. Die Werke des Typus „große Oper“ sollten laut Adolf Bernhard Marx „durchaus ernsten Inhalts und durchkomponiert“14 sein. Die erwünschte Entstehung einer deutschen großen Oper, die mit der italienischen opera seria und

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der französischen Grand Opéra wetteifern könnte, war in einer Zeit, in der man sich fragte, wie der Traum der deutschen Einheit zu verwirklichen sei, zu einer nationalen Frage geworden (eine Parallele mit der Vollendung des Kölner Doms drängt sich hier auf ). In einem 1823 veröffentlichten Aufruf an deutsche Komponisten schrieb der Opernkomponist Louis Spohr: „Eine andere Frage aber, ob wir Deutsche nicht auch endlich die Oper als Kunstwerk zu größerer Einheit dadurch erheben sollten, dass wir die Dialoge in Recitative verwandeln.“15 In einer kulturgeschichtlichen Perspektive fungiert die große Oper, wie man sie in Paris verstand (d.h. als Ideendrama mit politisch-historischem Sujet), als Instrument einer symbolischen Wiederaneignung der eigenen Geschichte. Richard Wagner war damals, wie zahlreiche zeitgenössische deutsche Intellektuelle, davon überzeugt, dass er einer Kulturnation angehörte, die an der großen Weltgeschichte kaum teilgenommen hätte und an ihrer historischen Bestimmung vorbeigegangen wäre. Schon 1791 hatte Friedrich Schiller in seinem Aufsatz Deutsche Größe geschrieben: „Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Werth gegründet, und wenn auch das deutsche Imperium untergegangen, so bliebe die deutsche Würde unangefochten“16. Eine vergleichbare Argumentation entfaltet Richard Wagner noch 1865 in seiner Schrift Was ist deutsch? In den 1830er und 1840er Jahren will man sich aber der Resignation nicht ergeben. In den liberalen und nationalen Kreisen will man glauben, dass das Erlangen eines politischen und historischen Bewusstseins mit der Entstehung einer politisch und historisch relevanten Kunstproduktion einhergeht. Der liberal gesinnte schwäbische Philosoph Friedrich Theodor Vischer, der in der Frankfurter Nationalversammlung in den Reihen der Linksdemokraten saß, erklärt zum Beispiel 1842, dass die Deutschen zugleich eine große Historienmalerei und eine große historische Oper haben sollten, wenn sie ein geschichtliches Volk werden wollten: „Wir wollen wieder Geschichte haben, und darum ist die Geschichte, die da war, unsere Nahrung. Für niemand mehr als für die Deutschen gilt es, dass ihr Grund­mangel und Erbfehler ihr ungeschichtlicher Charakter ist. Wir innerliches und transzendentes Volk haben es bisher noch nicht verstanden, Erfahrungen zu machen; wir waren überall und nirgends zu Hause, wir sahen nach den Vögeln, indem man uns den Stuhl unter dem Leibe wegzog. Endlich fangen uns die Augen an aufzugehen, wir studieren Geschichte.“17 Kurz darauf veröffentlicht Vischer, und zwar 1844 (vier Jahre vor Wagners ersten Entwürfen zur Ring-Tetralogie), seinen Vorschlag zu einer nationalen politischen Oper, nämlich den Entwurf einer Nibelungen-Oper, wobei er sich ausdrücklich auf Meyerbeers Hugenotten beruft.18 Die französische Grand Opéra bildet für Vischer ein taugliches Medium und liefert brauchbare Formmodelle für die angestrebte Politisierung der Oper. Die Nibelungen sollten für

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ihn als deutsches Pendant zum Scribeschen und Meyerbeerschen Ideendrama fungieren. Vischers Entwurf blieb jedoch unvollendet und Wagner  – der Vischers Fragment vermutlich kannte, obwohl er es nirgends erwähnt – schlug mit seiner Bearbeitung des Nibelungen-Stoffes einen ganz anderen Weg ein.

Wagners Auffassung der Grand Opéra: Rienzi, der letzte der Tribunen Richard Wagners Beitrag zur Entstehung einer deutschen Grand Opéra ist bekanntlich Rienzi, der 1842 in Dresden einen großen Erfolg feierte, der aber ursprünglich für die Pariser Oper bestimmt war. Hans von Bülows Bonmot, Rienzi sei „Meyerbeers beste Oper“, ist zwar abgeschmackt, besagt aber viel über Wagners Absichten, als er die Arbeit an dieser historischen großen Oper unternahm: Er wollte schlicht den Erfolg von Robert der Teufel und der Hugenotten übertreffen. Eines muss jedoch präzisiert werden: Obwohl Wagner die Opern Meyerbeers seit seinem Würzburger Aufenthalt im Jahre 1833 kannte, darf man annehmen, dass sein eigentliches Modell bei der Konzeption des Rienzi eher Aubers Stumme von Portici gewesen ist, die zu seinen Lieblingsopern zählte. Die Wahl dieses im vormärzlichen Deutschland beliebten Stoffs19 ist schon an sich von unleugbarer politischer Relevanz: Der Aufstieg des römischen Volkstribunen, der danach trachtet, die einstige Größe Roms und die Einheit Italiens wiederherzustellen und dabei die Herrschaft des italienischen Adels als zersplitternden und destabilisierenden Faktor zu bekämpfen hatte, bot für die zeitgenössischen deutschen Patrioten und Befürworter der deutschen Einheit im Rahmen eines wiederherzustellenden deutschen Reichs mehrere Identifikationsmöglichkeiten. In Rienzi hat sich Wagner unbestreitbar als fähig erwiesen, sich die Merkmale der französischen Grand Opéra zu eigen zu machen. Rienzi bietet alle operndramaturgischen Zutaten, denen die Gattung ihren Erfolg verdankt: ­fesselnde dramatische Tableaus, Massenszenen, Aufmärsche, Aufzüge und Schwurszenen, Durchkreuzung einer privaten und einer politischen Handlung, deren Ausbreitung ihre epische Herkunft verrät. Die Historie ist in Rienzi nicht bloß Staffage, sondern Träger der Handlung und Bestandteil des dramatischen Prozesses. Wagner als Librettist ist allerdings nicht so virtuos und technisch begabt wie Eugène Scribe, der wie keiner wusste, einer Opernhandlung den Schein der epischen Ausbreitung zu verleihen. In Wagners Libretto bleiben einige Ereignisse unvorbereitet bzw. unmotiviert, wie zum Beispiel die Szene, in der die römische Kirche, die bisher Rienzis sicherste Stütze war, den Tribunen mit dem Bann belegt. Diese entscheidende Szene, die einen

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radikalen Stimmungs­umschwung einführt und schließlich den Fall des Tribunen besiegelt, wird in Edward G. Bulwer-Lyttons Roman, Rienzi, the Last of the Roman Tribunes (1835), Wagners einziger Quelle, durch ausführliche Erklärungen vorbereitet. In einer Oper haben jedoch langwierige geheime Verhandlungen nicht ihren Platz, so dass sich der Librettist zu Kürzungen genötigt sieht, die zu Unklarheiten oder Inkohärenzen führen, welche die Theatralik des Werkes eher akzentuieren, als dass sie sie beinträchtigen würden.20

Die Masse in Wagners Rienzi In seinen Erinnerungen an Auber erklärt Wagner, dass das eigentlich Neue an der französischen Grand Opéra für ihn die Bedeutung des Chors war: „Rechnen wir zu [den] einflußreichen Neuerungen [...] des Meisters drastische Gruppirung des Chor-Ensemble‘s, welches er fast zum allerersten Male als wirklich handelnde, uns ernstlich interessirende Masse sich bewegen läßt [...]“21. Hier wird ein fundamentales Merkmal der französischen Grand Opéra hervorgehoben, nämlich das durch die Französische Revolution bestätigte Prinzip, nach welchem die entscheidenden Taten der Weltgeschichte nicht hauptsächlich heldenhaften Individuen, sondern vielmehr den handelnden Volksmassen zu verdanken seien. Also kommt dem Chor im Rienzi eine wesentliche Rolle zu. Manchmal hat sogar Wagner regelrechte Dialoge oder Rededuelle zwischen dem Chor und den Solisten der Oper (Rienzi oder dem Demagogen Baroncelli) komponiert. In einigen Szenen erlangt der Chor eine psychologische Charakterisierung, die ihm eine dramatische Autonomie verleiht und aus ihm einen wesentlichen Protagonisten der Handlung macht. In diesen Szenen hat sich Wagner am überzeugendsten die Dramaturgie der Grand Opéra angeeignet und der Idee einer „Psychologie der Massen“ (der Begriff wurde 1895 von Gustave Le Bon geprägt22) eine plastische, bühnenfähige Gestalt gegeben. Die Schlüsselszene der Wagnerschen Dramaturgie der Massen ist am Ende des vierten Aktes zu finden, unmittelbar nach der offiziellen Bekanntmachung des kirchlichen Bannfluchs, als sich das römische Volk von seinem Tribunen abwendet, sein Schicksal besiegelt und somit den tragischen Ausgang herbeiführt. Dem Modell der Grand Opéra gemäß legt diese Szene den Akzent hauptsächlich auf das Sichtbare und nicht so sehr auf die Diskurse der Personen: Die politische Vereinsamung Rienzis wird durch die Gebärden der Menge veranschaulicht – die Bühne leert sich plötzlich. Wie Masaniello in Aubers Stummer von Portici geht Rienzi samt seinem revolutionären Vorhaben zugrunde, von der Menge und seinen einstigen Anhängern unbarmherzig verlassen und zum Opfer der Rache des Volkes geworden. Das Ende des Rienzi wird sichtlich demjenigen der Stummen von Portici nachempfunden: Die poli-

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tische Revolution endet zwangsläufig mit dem Untergang seiner Befürworter und dem Triumph der Gegenrevolution. Hier drückt sich ein politischer Pessimismus aus, der Rienzi mit den großen Werken der Grand Opéra vereint wie La Muette de Portici, Les Huguenots oder Don Carlos.

Spuren der Grand Opéra in Wagners Musikdramen der späteren Perioden Wagners späteren Äußerungen (insbesondere in der Schrift Eine Mitteilung an meine Freunde) entgegen bildet die Hinwendung zum legendären Stoff des Fliegenden Holländers und des Tannhäuser keine endgültige Abkehr von der Ästhetik der französischen Grand Opéra. Es ist zwar schwer, präzise einzuschätzen, welche Komponenten oder Strukturelemente des Lohengrin, des Tannhäuser oder gar der Meistersinger der Dramaturgie der französischen großen Oper mittelbar oder unmittelbar verpflichtet sind. Man dürfte sich zum Beispiel fragen, wie sich die Schwurszene im zweiten Akt der Götterdämmerung zu den zahlreichen Schwurszenen verhält, die die Geschichte der großen Oper von Wilhelm Tell zu Rienzi über die Hugenotten leitmotivartig durchziehen. Auf diese komplexe Frage, die sowohl dramaturgisch als auch kompositionstechnisch untersucht werden müsste, kann leider im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. Es scheint aber durchaus legitim, im Lohengrin eine Art Synthese der Dramaturgie der romantischen Oper und derjenigen der historischen großen Oper zu sehen. Wie in der Grand Opéra ist hier der Chor als Verkörperung des Volkes allgegenwärtig – er greift zwar nicht so aktiv in den Gang der Handlung ein wie es im Rienzi der Fall ist, weist aber wie in der Grand Opéra die Kennzeichen einer manipulierbaren Masse auf. Und wie in der Grand Opéra markieren im Lohengrin feierliche Aufzüge und spektakuläre Tableaus die Höhepunkte der Handlung. Die Affinitäten zu der französischen Ästhetik kommen in der überwältigenden Schlussszene des zweiten Aktes wohl am deutlichsten zum Vorschein im Moment, wo die Rivalität zwischen Elsa von Brabant und Ortrud vor dem Portal des Münsters zu Antwerpen ihre dramatische Klimax erreicht. Die Stelle wird zwar einer berühmten Episode des Nibelungenlieds, nämlich dem Streit zwischen Brunhild und Kriemhild vor dem Münster zu Worms nachempfunden: Welche der beiden Frauen hat den sozialen Vorrang und wird das Münster als erste betreten? Wie dem auch sei, die Struktur der Szene ist unmissverständlich dem dramaturgischen Vokabular der Grand Opéra entnommen. Das eindrucksvolle Tableau der unterbrochenen Zeremonie (ein Topos der Opernästhetik des 19. Jahrhunderts und insbesondere der historischen Oper)

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erinnert in mehrfacher Hinsicht an die Krönungsszene im vierten Akt von Scribes und Meyerbeers Propheten. Zwischen den beiden Libretti bestehen unübersehbare Ähnlichkeiten: Der falsche Prophet Jan van Leiden soll im Dom zu Münster zum König der Wiedertäufer gekrönt werden. Die Krönungsfeier wird aber von Fidès unterbrochen: Sie hat im vermeintlichen Propheten ihren eigenen Sohn erkannt und legt ihn vor der Öffentlichkeit als Schwindler bloß. Lohengrin wird seinerseits von Ortrud und Telramund des Betrugs beschuldigt: Der künftige brabantische Herrscher sei in der Tat kein Gottgesandter, sondern ein Zauberkünstler, ein Schwindler, ein falscher Prophet. In beiden Opern wird die Feier durch die Infragestellung der eigentlichen Identität des charismatischen Herrschers unterbrochen. Sowohl Lohengrin als auch Jan van Leiden berufen sich auf die Kraft des Wunders, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Fidès wird als Schwachsinnige, Ortrud als Hexe hingestellt, so dass die unterbrochene Zeremonie fortgesetzt werden kann. Es wäre jedoch irrelevant, aus diesen verblüffenden Ähnlichkeiten zu ­folgern, dass Wagner Anleihen bei Scribe und Meyerbeer gemacht habe: Der Prophet wurde erst 1849 in Paris uraufgeführt (obwohl das Szenarium, das Wagner nicht kannte, schon 1836 vorlag)  – Wagners Lohengrin wurde im April 1848 beendet. Eines steht jedoch fest: Wagner hatte sich die Ästhetik der Grand Opéra so sehr zu eigen gemacht, dass er mit großem Geschick die Errungenschaften des französischen Modells auch in einem anderen Kontext zum Tragen kommen lassen konnte. In diesem Sinne ist die (nachher immer kritischer werdende) Auseinandersetzung Wagners mit der Grand Opéra äußerst produktiv gewesen.

Verdi und die Grand Opéra Verdis Verhältnis zu Paris und zur großen Oper ist ein anderes, spielt aber ebenfalls eine zentrale Rolle im künstlerischen Werdegang des Komponisten. Während Wagner vor allem Aubers Stumme von Portici vorbehaltlos bewunderte und zu Meyerbeer, nicht zuletzt aufgrund seines ab 1848 wachsenden Antisemitismus, ein widerspruchsvolles Verhältnis hatte, galt Verdis Bewunderung in erster Linie Scribe und Meyerbeer – Aubers und Halévys Opern wurden ja in Italien weniger rezipiert als diejenigen Meyerbeers. Verdi hat sogar die Musik zu einem Libretto von Eugène Scribe komponiert, namentlich Die Sizilianische Vesper (Les Vêpres siciliennes). Wagner hat seinerseits mehrmals versucht, Kontakt mit dem französischen Librettisten aufzunehmen, ohne jedoch dessen Anerkennung zu erhalten. Wie vor ihm Wagner, aber auch Rossini, Donizetti, Meyerbeer und Marschner hat Verdi versucht, die französische Hauptstadt zu erobern, um dort inter-

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nationalen Ruhm zu erlangen. Für Paris hat er zwei Opern eigens komponiert (Les Vêpres siciliennes [1855] und Don Carlos [1866]), eine Oper adaptiert (Jérusalem [1847], nach I Lombardi), und ein paar Opern leicht bearbeitet, wobei auch eine Balletteinlage hinzugefügt wurde, um den Erwartungen des französischen Publikums entgegenzukommen: Le Trouvère (1857), Macbeth (1865) und Otello (1894). Die biographischen Verhältnisse sind in Verdis Fall ganz anders als bei Wagner: Als sich Wagner 1839 in Paris niederlässt, hat er den Operndirektoren und Konzertveranstaltern nichts als unvollkommene Jugendwerke – wie z.B. die Columbus-Ouvertüre  – anzubieten (Rienzi ist, wie schon erwähnt wurde, noch nicht vollendet); es gelingt ihm deshalb nicht, das Vertrauen der musikalischen Welt zu gewinnen. Als Verdi die Zusammenarbeit mit der Pariser Oper 1847 aufnimmt, ist er in seiner Heimat ein anerkannter erfolgreicher Opernkomponist (Nabucco, Ernani und Macbeth haben seine berufliche Stellung gesichert). 1845 hat ihn bereits die Direktion der Académie Royale de Musique förmlich aufgefordert, eine Oper für Paris zu komponieren. Als er 1866 die Proben des Don Carlos betreut, steht er auf der Höhe seines Ruhms. Ein anekdotisches Detail zeugt von seiner Autorität: Als Wagner 1861 bei den Proben für die Pariser Premiere des französischen Tannhäuser von der Direktion verlangt, dass sie den als inkompetent eingestuften Dirigenten Louis Dietsch ersetzt, wird sein Gesuch abschlägig beschieden. Als Verdi zwei Jahre später bei einer Neueinstudierung der Sizilianischen Vesper seinen Missmut über denselben Louis Dietsch ausdrückt, wird der Dirigent sofort entlassen und durch Georges Hainl abgelöst. Generell war Verdis Verhalten in Bezug auf die Produktionsverhältnisse an der Pariser Oper weit realistischer und zeitgemäßer als Wagners unversöhnliche Haltung. Der italienische Komponist, der im Gegensatz zu seinem deutschen Rivalen nie eine offizielle Beamtenstelle innehatte, war daran gewöhnt, mit Impresari und Verlegern zu verhandeln und zu einem schlauen Geschäftsmann geworden. Seinerseits baute Wagner stets auf die Gunst des Herrschers (Friedrich August II. in Dresden, Kaiser Napoleon III., der die Aufführung des Pariser Tannhäuser verordnet hatte, und Ludwig II. in München), um seine künstlerischen Ansichten durchzusetzen, und blieb somit über alle idealistischen Betrachtungen hinaus den alten feudalen Kunstproduktionsmustern verhaftet. Davon zeugen auch seine Schriften zur Theaterreform und zur Reform des Adels,23 in denen er die Vorstellung einer Anpassung des Künstlers an die bürgerlichen Marktverhältnisse als demütigend und kunstwidrig verwirft. Auch die kulturpolitischen Hintergründe sind verschieden. Wagner vermisste in den 1830er Jahren das Vorhandensein einer deutschen Oper. Die Italiener haben umgekehrt eine lange und reiche Tradition hinter sich, eine Tradition mit fest etablierten Regeln und standardisierten Formen, die sämtli-

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chen Komponisten bekannt und von ihnen anerkannt sind – man denke hier z.B. an die sogenannte solita forma, die seit Rossini übliche vierteilige Form der italienischen Opernarie (Rezitativ, langsamer Teil, tempo di mezzo und stürmische Cabaletta). Während Wagner von vornherein eine große Oper nach dem französischen Muster komponiert, geht Verdi von der solide verankerten italienischen Tradition aus, um sie dann mittels der Konfrontation mit dem französischen Modell progressiv zu verändern und zu erweitern. Die ökonomischen Verhältnisse sind ebenfalls verschieden. Das rege italienische Opernleben in den 1840er Jahren weist in seinem Umfang und seiner Dynamik fast industrielle Züge auf: Etwa 200 Opernhäuser sind in Betrieb, 800 Neuinszenierungen werden jährlich herausgebracht, worunter man zwischen 50 und 60 neue Werke zählt.24 Von der Zusammenarbeit mit der Pariser Oper erhofft sich Verdi, der sich immer wieder über die unbefriedigenden Verhältnisse in den Theatern Italiens beklagt, der industriellen Opernproduktion zu entgehen und bessere Arbeitsbedingungen zu finden (längere Probeperioden, aufwendige Bühnen­ausstattung). Nicht zu unterschätzen sind ferner Verdis Interesse für das von Scribe und Meyerbeer geprägte Ideendrama und sein Ehrgeiz, Opern zu komponieren, deren Bedeutung über die reine Privatsphäre der individuellen Affekte hinausgeht. Der Erwartungshorizont der italienischen Intellektuellen ist, nicht anders als in Deutschland, an historisch und sozial relevanten Sujets orientiert. In seiner 1835 veröffentlichten Filosofia della musica ruft der Politiker und Denker Giuseppe Mazzini, eine zentrale Figur des Risorgimento, zur Schaffung einer europäischen Oper auf, die eine soziale und historische Dimension besitzen soll: „Das historische Element soll bestimmt die Grundlage zu jeder dramatischen Konstruktion und die stets erneute Quelle musikalischer Einfälle bilden. Soll das Musikdrama in Einklang mit der Entwicklung der Zivilisation gebracht werden, soll es letzterer folgen oder ihr neue Wege öffnen, soll es eine soziale Funktion erfüllen, so soll es ein Abbild der historischen Perioden vermitteln, die es darstellt, wenn es diesen seine Personen entnimmt.“25 Obwohl Verdi dem Politischen gegenüber skeptisch stand und im Grunde mehr an menschlichen denn als an sozial-politischen Problemstellungen interessiert war, hat er stets versucht, den Horizont der Oper in Richtung politisch-historischer Stoffe zu erweitern. Dafür seien zwei Beispiele herangezogen, die Verdis Rezeption der historischen großen Oper als Ideendrama dokumentieren: Attila und Don Carlos. Für das Teatro La Fenice in Venedig konzipiert, ist die dreiaktige Oper Attila keine große Oper wie Die Sizilianische Vesper oder Don Carlos, hat aber vieles von der Dramaturgie der französischen Oper übernommen, wie Verdi es in einem Brief an den französischen Verleger Léon Escudier vom 12. September 1845 zugibt: „Attila wäre so schön für die Pariser Grand Opéra! Man

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müsste nur einiges hinzufügen, und der Rest würde von sich gehen.“26 Typisch für die spektakulären Tableaus der Grand Opéra ist etwa der Sonnenaufgang im Prolog der Oper Attila. Es handelt sich hier um eine Verbindung von Musikmalerei und Maschineneffekt, wie man sie ebenfalls in Rossinis Wilhelm Tell (Schlussszene), im Propheten (am Ende des dritten Akts, als die Wiedertäufer im Begriffe sind, Münster zu erobern) oder im zweiten Akt des Lohengrin findet. Bei Verdi erhält die Szene eine eigentümliche politische Bedeutung, indem sie metaphorisch auf die ersehnte Wiedergeburt (das herbeigewünschte „Risorgimento“) Italiens verweist, was kurz darauf im Text der Cabaletta des Tenors bestätigt wird: „Ja, aus dem Seetang von diesen Wogen / wird ein neuer Phönix aufsteigen, / wirst du stolzer und schöner wiederaufleben, / als Wunder des Landes und des Meeres“27. Dabei ist die Anspielung auf das Teatro La Fenice (italienisch: „der Phönix“), den Auftraggeber der Oper Attila, nicht zu überhören.

Zur politischen Bedeutung der Opern Verdis Der politische Inhalt der Oper lässt sich als Machtkampf zwischen Attila, dem ausländischen Angreifer, und Ezio, dem römischen Feldherrn, zusammenfassen. Musikalisch erreicht der Antagonismus zwischen beiden Lagern seinen Höhepunkt im berühmten Duett des Prologs mit dem Satz Ezios „Du magst das Universum haben, / Doch überlasse mir Italien“28. Die nationalistische Interpretation des Duetts beruht eigentlich auf einem (bewussten oder unbewussten) Missverständnis, denn es handelt sich im Grunde genommen um ein arges Tauschgeschäft zwischen zwei Gaunern. Dass Opern wie Attila oder La battaglia di Legnano, die den Kampf des Lombardischen Bundes gegen den deutschen Kaiser Friedrich Barbarossa inszeniert, in einer risorgimentalen Perspektive verwertbar sind, liegt auf der Hand. Ob Verdi ein Chorführer des italienischen Risorgimento in den 1840er Jahren gewesen ist, wie oft behauptet wird, ist eine andere Frage. Paradigmatisch für diese Gleichsetzung von Verdi und Risorgimento ist Luchino Viscontis Senso (1954). Die Eröffnungsszene des Films zeigt eine Aufführung von Verdis Troubadour im Teatro la Fenice, als Venedig von den Österreichern besetzt war (1866). Am Ende des dritten Aktes, nach der berühmten Cabaletta „Di quella pira“ (die durchaus als verkappte politische Botschaft interpretierbar ist), drücken die italienischen Patrioten in der Galerie ihre nationale Begeisterung aus; sie lassen trikolore Blumensträuße auf die österreichischen Offiziere im Parterre fallen und verursachen somit einen Eklat. In Ernst Marischkas erfolgreichem Film Sissi, die junge Kaiserin (1956) wird ein ähnlicher Eklat inszeniert: Wir sind in der Mailänder Scala und der

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Regisseur hat diesmal den Chor der in Babylonien gefangenen Hebräer aus Nabucco, den berühmten „Va, pensiero“, gewählt. Die historische Realität sah aber anders aus. In den 1990er Jahren haben Roger Parker29 und Birgit Pauls30 nachweisen können, dass die Gleichsetzung Verdi – Risorgimento zum großen Teil auf einer nachträglichen ideologischen Konstruktion beruht. Es gibt auf jeden Fall in der zeitgenössischen italienischen Presse keinen Nachweis dafür, dass Verdis Opern in den 1840er und 1850er Jahren als Träger risorgimentalen Gedankenguts rezipiert worden seien. Die Vereinnahmung der Verdischen Oper zugunsten des italienischen Patriotismus hat hingegen, so haben Parker und Pauls nachweisen können, erst in den 1860er Jahren, in der Phase der Vollendung der italienischen Einheit, eingesetzt. Parker und Pauls weisen ferner darauf hin, dass das Publikum der Scala oder der Fenice hauptsächlich aus Aristokraten bestand, und dass die lombardische Aristokratie nicht unbedingt an einer republikanischen Lösung interessiert war (ein Teil des Adels hatte sich sogar mit der österreichischen Besatzung abgefunden). In Neapel wurde sogar im März 1848 bei der dortigen Premiere des Nabucco dem Komponisten vorgeworfen, sich ins Exotische zu flüchten, anstatt sich mit den italienischen Zuständen auseinanderzusetzen: „In Neapel wurde der Nabucco aufgeführt, und zwar mit recht mäßigem Erfolg, weil das Publikum von Verdi erwartet, dass er die Traditionen Italiens und nicht diejenigen des antiken Orientes inszeniert, und dass er sein musikalisches Talent, das zu den allerwenigen gehört, die fähig sind, den Mengen Stimme und Ausdruckskraft zu verleihen, einsetzt, um diesen lebendigen Hauch – eventuell auch von einem orchestralen Orkan begleitet – darzustellen, der das italienische Volk erfüllen und zu gigantischen Taten anregen möge.“31 Parkers und Pauls Thesen kranken jedoch an ihrer Radikalität: Zahlreiche literarische Dokumente aus den 1820er und 1830er Jahre belegen, dass die Musik der italienischen Oper (also nicht unbedingt der Verdischen Opern) als Ausdruck des Nationalbewusstseins rezipiert wurde, wie es Heinrich Heine in seiner Reise von München nach Genua 1828 feststellt: „Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kundgeben. All sein Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeistrung für die Freiheit, sein Wahnsinn über das Gefühl der Ohnmacht, seine Wehmut bei der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit, [...] alles dieses verkappt sich in jene Melodien [...].“32 Ist es vor einem solchen Hintergrund denkbar, dass das venezianische Publikum die kaum verschlüsselten patriotischen Anspielungen in Verdis Attila hätte überhören können? Verdi war kein Mensch aus dem Volk, obwohl er sich selbst gern als Bauern sah. Er war vielmehr ein reicher Großgrundbesitzer. Im Grunde war er Demokrat und empfand eindeutig Sympathie für das Risorgimento. Über seine poli-

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tischen Überzeugungen und sein politisches Engagement kann zwar debattiert werden; von einem politischen Engagement im Sinne Wagners darf meines Erachtens jedoch nicht gesprochen werden: Verdi war kein politischer Aktivist und kein Revolutionär. Das Interesse, das er dem Ideendrama der französischen Oper entgegenbrachte, erklärt sich also in erster Linie durch den Ehrgeiz, seiner Kunst eine übernationale Dimension zu geben: Er will kein bloß italienischer Komponist sein, sondern als ein durchaus europäischer Künstler anerkannt werden.

Don Carlos: ein Nachzügler in der Geschichte der Grand Opéra Als Verdi 1864 von der Pariser Opéra den Auftrag erhält, eine neue Oper zu komponieren, ist die Grand Opéra bereits in einem Untergangsprozess begriffen. Die Uraufführung von Gounods Faust 1859 markiert das Ende der uneingeschränkten Alleinherrschaft der Ästhetik der großen Oper. Scribe ist 1861 gestorben, Meyerbeer stirbt 1864 und die Erwartungen des Publikums haben sich inzwischen gewandelt: Es verlangt jetzt exotische oder phantastische Sujets und zeigt ein relatives Desinteresse an der Historie (Gounods Königin von Saba wird 1862 uraufgeführt, 1863 kommen Bizets Perlenfischer an die Reihe). Als sich Verdi für Don Carlos, dessen Libretto zum Teil auf Schillers Drama fußt, entscheidet, ist das Sujet schon ziemlich unzeitgemäß geworden. Paradoxerweise ist Don Carlos diejenige Oper Verdis, in welcher er den An­­ forderungen der Gattung Grand Opéra am überzeugendsten gerecht wird. Während in der Sizilianischen Vesper der Zusammenschluss der privaten und der politischen Handlung nicht restlos gelingt (der Aufstand des sizilianischen Volkes gegen den französischen Gouverneur ist nur die Folie, vor welcher private Konflikte entfaltet werden), weist die Handlung des Don Carlos eine perfekte Verschränkung der beiden Handlungsebenen auf. Davon zeugt zum Beispiel die Liebesszene zwischen Don Carlos und Elisabeth de Valois im ersten Akt der Pariser Fassung (die Fontainebleau-Handlung). Ein Kanonenschuss in der Ferne unterbricht das Duett: Er verkündigt den Frieden, den Frankreich und Spanien gerade unterzeichnet haben. Dadurch dringt die politische Welt in die Intimität der Liebenden ein. Sie freuen sich auf den Frieden, wissen aber noch nicht, dass ihre Hoffnungen auf einem für die Dramaturgie der französischen Grand Opéra typischen Missverständnis beruhen  – der Friede zwischen Frankreich und Spanien besiegelt nämlich ihr Unglück, statt ihre Ehe zu ermöglichen. In der darauffolgenden Szene erfolgt in der Tat eine Schicksalswende für die beiden Liebenden: Elisabeth muss jetzt König Philipp II., Carlos’ Vater, heiraten. Die Verschränkung des politischen und des privaten Dramas wird hier kunstvoll verwirklicht:

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Gerade im Moment, als Graf Lerma Elisabeth fragt, ob sie den Heiratsantrag des Königs annimmt, greift der Chor ein und fleht sie an, ihr Jawort zu geben, damit der Friede gerettet wird. Elisabeth muss ihre Liebe der Staatsraison aufopfern und verursacht somit ihr und Carlos’ Unglück. Ein weiteres und letztes Beispiel bietet das Autodafé vor der Kathedrale von Valladolid am Ende des dritten Aktes, dem, wie Verdi selber zugab, die bereits erwähnte Krönungsszene in Meyerbeers Propheten Pate gestanden hat. Als theatralischer und spektakulärer Höhepunkt der Oper konzipiert, besteht die Szene aus großen Chorblöcken, die den Tableaucharakter des Ganzen ausmachen. Wieder einmal begegnet der operndramaturgische Topos der unterbrochenen Zeremonie: Der Zug wird von flämischen Deputierten, die um die Freiheit für ihr Land flehen, unterbrochen. Carlos, der für die flämischen Gesandten Partei ergreift, wirft sich dem König zu Füßen und bittet ihn darum, ihm die Herrschaft über Flandern zu übertragen. Da Philipp es ablehnt, zieht Carlos seinen Degen gegen seinen Vater, wird schließlich von Posa entwaffnet. Die Prozession setzt ihren Gang fort. Hinter dem ideologischen Konflikt zwischen dem autoritären, von der Kirche gesteuerten Staat und den Anhängern der Freiheit (Posa und Carlos) zeichnet sich deutlich der private Konflikt ab, der sich aus der sentimentalen Rivalität zwischen Vater und Sohn herausbildet. Das Motiv des jungen Helden, der seinem Vaterland entfliehen will, um seine unglückliche Liebe zu vergessen, war übrigens ein Topos der romanhaften Literatur der Zeit. Ganz in der Tradition der Grand Opéra wird hier ein ideenpolitischer Konflikt sinnfällig optisch veranschaulicht. Verdis antiklerikale Gesinnung und seine Skepsis der Machtpolitik gegenüber kommen deutlich zum Vorschein. Zugleich werden die menschlichen Folgen politischer Konflikte hervorgehoben: Durch Elisabeths Reaktion, die unauffällig, aber unmissverständlich auf der Seite der Unterdrückten und ihres Schwiegersohns steht, wird das Motiv der tragischen Einsamkeit des Königs, das am Anfang des vierten Aktes fortgesponnen wird, durch die szenische Disposition und die Gebärden der Personen vorweggenommen. Die Verschränkung der Privat- und der politischen Handlung erlaubt es Verdi, ein schwieriges ästhetisches Problem zu lösen, das man wie folgt umreißen kann: Wie kann man ideologische und politische Problemstellungen oder Konflikte vertonen, die per definitionem dem Bereich der abstrakten Begriffe zugehören? Die Musik ist, mindestens in der damals gängigen Musikphilo­ sophie, in erster Linie Gefühlsausdruck, und also ist die Tonkunst unfähig, abstrakte Begriffe auszudrücken – wie kann man überhaupt Begriffe „ausdrücken“?33 Nicht die politischen Ideen, dessen Exponenten Philipp II., Posa oder Carlos sind, hat Verdi vertont, sondern die Gefühle, die diese Ideen bei den Personen der Handlung hervorrufen. Da private Implikationen immer dabei vorhanden sind, findet der Gefühlserguss der Protagonisten seine ästhetische

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Legitimation als Ausdruck privater Emotionen und erhält als Reaktion auf politische Ereignisse bzw. Taten die soziale oder gar universelle Dimension, die Mazzini von der Oper der Zukunft erwartete. In Verdis Schaffen nimmt Don Carlos eine bedeutende Stellung ein: Ist diese Oper diejenige, die sich vom dramaturgischen Standpunkt aus dem Idealtypus der französischen Grand Opéra am meisten nähert, so weist sie kompositionstechnisch gesehen, von der orchestralen Textur und von der melodischen Gestaltung her, recht viele Neuerungen auf, die in Verdis Spätwerk vollends zur Geltung kommen werden. Wie man sieht, hat die Konfrontation mit der französischen Grand Opéra und die kreative Aneignung ihrer Dramaturgie sowohl in Wagners als auch in Verdis Opernschaffen eine entscheidende Rolle gespielt, indem sie vieles herauskristallisiert hat, was die beiden Komponisten nachher überwinden sollten. Ohne diese produktive Auseinandersetzung mit der Grand Opéra wären die Opernästhetik und das Opernschaffen beider Komponisten zweifelsohne andere Wege gegangen.

Anmerkungen 1 Cosima Wagner, Die Tagebücher, München/Zürich 1976, Bd. 1, S. 946 (2. November 1875). 2 Ebd., Bd. 1, S. 356 (12. Februar 1871): „Abends bringt [Richter] das Gespräch auf Gounod, welches [uns] denn eine fürchterliche Musikliteratur durchwandern läßt, ‚Faust‘, ‚Prophet‘, ‚Hugenotten‘, Bellini, Donizetti, Rossini, Verdi, alles hintereinander, mir wird physisch übel, ich nehme einen Band Goethe (Paralipomena zu ‚Faust‘) und suche Rettung. Doch nichts hilft, ich leide und leide. R. wird es auch zu arg und bittet Richter aufzuhören, nachdem dieser ihm zu beweisen gesucht, daß Verdi nicht schlechter als Donizetti war.“ 3 Ebd., S. 465 (2. Dezember 1871): „Bericht aus Italien, Verdi der Aufführung von Lohengrin beigewohnt, vom Publikum deshalb bejubelt, jedoch nicht von dem Hintergrunde der Loge hervorgegangen, um nicht [von] dem Ernst der Aufführung abzulenken“. 4 Georges Bizet, Brief an Edmond Galabert vom 12. März 1867, in: Hugues Imbert, Portraits et études/Lettres inédites de Georges Bizet, Paris 1894, S. 168: „Verdi n’est plus italien. Il veut faire du Wagner ...“. 5 Giuseppe Verdi, Brief an Clara Maffei vom 31. Juli 1863, zitiert nach: Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, Milano 1959, Bd. 4, S. 209: „Wagner non è una bestia feroce come vogliono i puristi, né un profeta come lo vogliono i suoi apostoli. È un uomo di molto ingegno che si piace delle vie scabrose, perché non sa trovare le facili e le più diritte.“ 6 Siehe: Fabrizio della Seta, Non senza pazzia: prospettive sul teatro musicale, Roma 2008, S. 154. 7 Heinrich Heine, Über die französische Bühne, Zehnter Brief, in: Werke, hrsg. von E. Galley, Frankfurt a.M. 1994, Bd. 3, S. 297.

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 8 Louis Véron, Mémoires d’un bourgeois de Paris, Paris 1856, Bd. 3, S. 179: „[C’est] un opéra en cinq actes [qui] ne peut vivre qu’avec une action très-dramatique, mettant en jeu les grandes passions du cœur humain et de puissants intérêts historiques; cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet; il faut que les chœurs y jouent un rôle passionné, et soient pour ainsi dire un des personnages intéressants de la pièce. Chaque acte doit offrir des contrastes de décorations, de costumes, et surtout des situations habilement préparées.“   9 Siehe Sieghart Döhring, Meyerbeer. Grand Opéra als Ideendrama, in: Lendemains. Zeitschrift für Frankreichforschung und Französischstudium, Nr. 31/32, 1983, S. 11– 22. 10 Carl Dahlhaus, Musikalischer Realismus, München 1982, S. 107. 11 Heinrich Heine, Französische Zustände, in: Werke, op. cit., Bd. 3, S. 103: „Paris ist nicht bloß die Hauptstadt von Frankreich, sondern der ganzen zivilisierten Welt“. 12 Richard Wagner, Die deutsche Oper, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Leipzig 1914, Bd. 12, S. 1. 13 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 3, S. 213. 14 Adolf Bernhard Marx, „Uebersicht der verschiedenen wesentlichen Gattungen des musikalischen Dramas“, in: Berliner allgemeine musikalische Zeitung, 1828, Nr. 26, S. 205. 15 Louis Spohr, „Aufruf an deutsche Komponisten“, in: Allgemeine musikalische Zeitung, 1823, Nr. 29, S. 463. 16 Friedrich Schiller, Deutsche Größe, in: Sämtliche Werke, erster Theil, Stuttgart 1871, S. 414. Der letzte Monolog von Hans Sachs in der Schlussszene der Meistersinger von Nürnberg klingt bemerkenswert an diesen Satz Schillers an – in einem zwar anderen ideologischen und historischen Kontext: „Zerging in Dunst / das heil’ge röm’sche Reich, / uns bliebe gleich / die heil’ge deutsche Kunst!“ 17 Friedrich Theodor Vischer, Zustand der jetzigen Malerei, in: Kritische Gänge, hrsg. von Robert Vischer, zweite, vermehrte Ausgabe, München 1922, Bd. 5, S. 40. 18 Friedrich Theodor Vischer, Vorschlag zu einer Oper, in: Kritische Gänge, a.a.O., Bd. 2, S. 451–478. 19 Siehe z.B. Friedrich Engels Opernentwurf Cola di Rienzi (1840/1841), die Tragödien Julius Mosens (Cola Rienzi, der letzte Volkstribun der Römer, 1842), Rudolph Kirners (Cola di Rienzi, 1845) und Karl Gaillards (Cola Rienzi, 1846) sowie, drei Jahre nach der gescheiterten Märzrevolution, Julius Grosses Cola di Rienzi, Trauer­ spiel in fünf Aufzügen und einem Nachspiel (1851). 20 In Julius Mosens fünfaktiger Tragödie Cola Rienzi (1843) wird die Abkehr der Kirche von Rienzi zwar um der Kohärenz der Handlung willen sorgfältig vorbereitet, aber der Überraschungseffekt am Ende des dritten Aktes ist völlig verfehlt, hat keine dramatische Wirksamkeit. 21 Richard Wagner, Erinnerungen an Auber, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, a.a.O., Bd. 9, S. 48. 22 Siehe: Gustave Le Bon, Psychologie des foules, Paris 1895. 23 Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen (1848), Deutsche Kunst und deutsche Politik (1867–1868). 24 Siehe Anselm Gerhard, Giuseppe Verdi, München 2012, S. 18f. 25 Giuseppe Mazzini, Filosofia della musica, a cura di Luigi Salvatorelli, Napoli 2001, S. 61: „Certo, l’elemento storico, non che sorgente nuova e sempre varia d’ispirazioni

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musicali, dev’esser base essenziale ad ogni tentativo di ricostituzione drammatica; certo, se il dramma musicale deve armonizzarsi col moto della civiltà, e seguirne o aprirne le vie, ed esercitare una funzione sociale, deve anzi tutto riflettere in sé l’epoche storiche ch’ei s’assume descrivere, quando cerca in quelle i suoi personaggi.“ 26 Giuseppe Verdi, Brief an Léon Escudier vom 12. September 1845, in: I Copialettere di Giuseppe Verdi, pubblicati e illustrati da Gaetano Cesari e Alessandro Luzio, Milano 1913, S. 439: „Come sarebbe bello l’Attila pel Grand Opéra di Parigi! Vi sarebbero soltanto da aggiungere poche cose, e tutto il resto andrebbe bene“. 27 Giuseppe Verdi/Temistocle Solera, Attila, Prologo: „Dall’alghe di questi marosi, / Qual risorta fenice novella, / Rivivrai più superba, più bella / Della terra, dell’onde stupor!” 28 Ebd.: „Avrai tu l’Universo, / Resti l’Italia a me“. 29 Roger Parker, „Arpa d’or dei fatidici vati“. The Verdian Patriotic Chorus in the 1840s, Parma 1997. 30 Birgit Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung, Berlin 1996. 31 Teatri, arti e letteratura, Jahrgang 26, Bd. 49, Nr. 1265 (4. Mai 1848), S. 70, zitiert nach: Roger Parker, a.a.O., S. 95: „A Napoli si è cantato il Nabucco con mediocre successo, perché il pubblico chiede al Verdi le tradizioni d’Italia e non dell’antico Oriente, e vuole che la sua facoltà musicale si rara nel dar voce e potenza alle moltitudini rappresenti quel soffio di vita, fosse anche con un oragano d’orchestra, che investa e faccia giganteggiare il popolo italiano.” 32 Heine, Reisebilder, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 273. 33 Siehe z.B. Ferdinand Gotthelf Hands Ästhetik, die für die damals vorherrschende Meinung repräsentativ war: „Wir haben das Wesen der Musik bis jetzt als Darstellung des Gefühls bezeichnet und einen subjectiven Character ihr gerechtfertigt, indem wir die Begriffswelt von ihr abschieden“ (Ferdinand Gotthelf Hand, ­Aesthetik der Tonkunst [1837/1841], Leipzig 1847, Bd. 1, S. 81). Zu den musiktheoretischen Diskursen im 19. Jahrhundert und zur Frage, ob die Tonkunst fähig sei, abstrakte Begriffe auszudrücken, siehe auch: Jean-François Candoni, Penser la musique au siècle du romantisme. Discours esthétiques dans l’Allemagne et l’Autriche du XIXe siècle, Paris 2012.

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Heitere Spätblüte: Falstaff und Meistersinger ­gegenübergestellt In reifen Jahren erst und jeweils nur für ein einziges Werk betraten Giuseppe Verdi und Richard Wagner das ihnen ungewohnte Gebiet der komischen Oper.1 So konnte jene außergewöhnliche Melange aus Meisterschaft und Novizentum entstehen, die diesen beiden Opern ihr Gepräge gab und sie zugleich wohl zu zwei der stärksten Werke beider Komponisten überhaupt werden ließ. In ihrer Genrecharakteristik stellen Falstaff und Die Meistersinger von Nürnberg randständige Werke im Schaffen Verdis und Wagners dar, in ihren künstlerischen Ambitionen sind sie es keineswegs. Sein „vollendetstes Meisterwerk“ nannte Wagner 1862 die im Entstehen begriffenen Meistersinger,2 und auch Verdi sah seinen Falstaff als eine Art Opus summum an, mit dem er offenbar nicht nur seinen Abschied von der Opernbühne, sondern auch den von der Bühne des Lebens verband. In einer posthum aufgefundenen Notiz Verdis im Manuskript der Falstaff-Partitur heißt es: „Die letzten Noten des Falstaff Alles ist vorbei! Geh, geh, alter John ... Zieh hin auf deinem Weg, solange du kannst .... Ergötzlicher Typ des Schelms; Ewig wahr, hinter Verschiedenen Masken, zu jeder Zeit, an jedem Ort!! Geh .... Geh .... Lauf Lauf ... Addio!!!“3

Den Entstehungsprozess beider Opern bestimmte jahrzehntelanges Zögern und Abwägen: Wagner entwarf eine erste Prosafassung der Meistersinger bereits 1845, zur Zeit des Tannhäuser und als heiteres Gegenstück zu diesem;4 den Entschluss zur musikalischen Umsetzung des Projektes fasste er indes erst knapp zwei Jahrzehnte später.5 Ähnlich verhält es sich mit Verdis Falstaff, dessen „Inkubationszeit“ sich gar auf ein halbes Menschenalter bemisst; erst das brillante Libretto von Arrigo Boito ließ hier den Knoten platzen, wie der Komponist 1890 während der Arbeit am zweiten Akt des Falstaff bekannte:

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„Seit vierzig Jahren wünsche ich mir, eine komische Oper zu schreiben, und seit fünfzig kenne ich die ‚Lustigen Weiber von Windsor‘; indes – die üblichen Aber, wie sie überall vorhanden sind, stellten sich jedesmal einer Erfüllung des Wunsches entgegen. Nun hat Boito sämtliche Aber weggeräumt und ein heiteres Spiel gedichtet, das keinem früheren ähnlich sieht.“6

Lange Zeit hatte Verdi den im 73sten Lebensjahr vollendeten Otello als sein letztes Werk betrachtet.7 Hier hatte er die Summe seines Schaffens gezogen und gewissermaßen seinen Abschied von der Musik gemacht: Das berühmte Viertonmotiv, das ihm aus dem Finalthema von Mozarts letzter Symphonie, der Jupitersymphonie geläufig sein musste, erklingt im Finale des dritten Aktes des Otello – zunächst im Orchester zu den Gesängen Desdemonas, kurz bevor sie von der Hand des eifersüchtigen Otello sterben wird („A terra! ... si ... nel livido fango ...“, Bsp. 1b), und anschließend auch im Chor („Quel viso santo“, Bsp. 1c). Womöglich bedeutete dieses Verneigen vor dem Vermächtnis Mozarts Verdis Lebewohl von der musikalischen Bühne (siehe Beispiel 1).

Beispiel 1a: W.A. Mozart, Symphonie Nr. 41, Jupitersymphonie, Finale (1788)

Beispiel 1b: Verdi, Otello (1886), 3. Akt, S. 2718

Unter anderem der Überzeugungsarbeit Arrigo Boitos ist es zuzuschreiben, dass Verdi sich nach Jahren entschloss, dieser letzten Oper noch eine allerletzte folgen zu lassen: „Es gibt nur einen Weg, um noch besser als mit ‚Othello‘ zu endigen:“ schrieb Boito an Verdi, „der glorreiche Abschluß mit ,Falstaff‘. Nachdem wir Schreie und Klagen im menschlichen Herzen geweckt haben, nun mit berstendem Gelächter schließen! Das wird alle umwerfen!“9  – Betrachtet man die beiden letzten Opern Verdis als ungleiche „Schwesterwerke“ – hier das Eifersuchtsdrama Otello, dort die Farce um Untreue und

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Beispiel 1c: Verdi, Otello (1886), 3. Akt, S. 301

Eifersucht im Falstaff –, verwundert es nicht, auch dem besagten Mozart-Bezug in Verdis „allerletzter“ Oper noch einmal zu begegnen, und zwar fast noch unmittelbarer als im Otello. Denn fraglos lieferte Mozarts Synthese des Stils der Opera buffa mit der „gelehrten“ Schreibart der Fuge, wie sie sich exemplarisch im Finale der Jupitersymphonie darbot, für Verdi ein wichtiges Modell, als er die von ihm selbst so bezeichnete „Buffo-Fuge“10 entwarf, die den Schluss des Falstaff bilden sollte. Wie das Jupiter-Finale in C-Dur geschrieben, realisiert auch das Falstaff-Finale die Verschmelzung von Fugentechnik und Buffostil und assoziiert dazu auch thematisch noch einmal die Mozartsche Vorlage:11 Das Viertonmotiv Mozarts nämlich verwandelt sich quasi im Handumdrehen in das Verdische Fugenthema, indem man nur die erste Note oktaviert und die dritte um einen Ton nach oben „korrigiert“ (Beispiel 2).

Beispiel 2: 

W.A. Mozart, Symphonie Nr. 41, Jupitersymphonie, Finale (1788)  Verdi, Falstaff, Schlussfuge (1893), Thema

Nun hat sich Verdi gerne als musikalisch gänzlich ungebildet hingestellt und Spekulationen über einen etwaigen Einfluss fremder Musik auf sein Werk stets beiseite gewischt.12 Davon allerdings ist etwa so viel zu halten wie von seinem sorgsam gepflegten Image des einfachen Bauern und Mannes aus dem

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Volk  – der doch in Wahrheit seine Wintermonate im fürstlichen Palazzo Doria in Genua verbrachte.13 Zu viel wissen wir inzwischen über die durchaus weit reichende musikalische Bildung Verdis: Er lernte die Musik der Klassiker bereits in den Lehrjahren bei Vincenzo Lavigna kennen,14 dirigierte als 20-Jähriger in Mailand Haydns Schöpfung,15 studierte das Wohltemperierte Klavier,16 vertiefte sich bei einem Aufenthalt in Wien ehrfurchtsvoll in die Handschrift von Beethovens „Eroica“ 17 usw. Allein seine Bibliothek, in der, wie es heißt, „eine breite Auswahl alter und neuer Musik, von Palestrina bis Wagner“, vertreten war,18 passt nicht zur mehrfach beteuerten musikalischen „Ignoranz“ des Komponisten. Dass Verdi sich am Ende seines Opernschaffens also auf Mozart als seinen in der Opernwelt mit Abstand bedeutendsten Vorgänger bezogen haben könnte, ist ohne weiteres vorstellbar. Verdis Todestag sollte übrigens symbolträchtig auf Mozarts 145. Geburtstag fallen. Eine vergleichende Betrachtung „Meistersinger vs. Falstaff“ ist naheliegend, aber in mancher Hinsicht auch problematisch, etwa wenn es um den durchaus inkommensurablen „Humor“ der beiden Stücke geht.19 Die vorliegende kleine Studie übt sich vor diesem Hintergrund in Zurückhaltung. Was sie zur Anschauung bringen will, ist einzig die Musik der beiden Werke und das, was von ihr unmittelbar ausgeht bzw. zu ihr hinführt. Schlaglichtartig wird sie fünf Bereiche in den Blick nehmen, die sich wie folgt betiteln lassen: – Diatonik/C-Dur – Leitmotivik im Falstaff – Leitmotivik in den Meistersingern – Kontrapunkt/Polyphonie – Dramaturgie in der komischen Oper

Diesem Hauptteil vorangestellt ist eine kurze historische Ein- und Zuordnung der beiden Werke.

Historisches Das Italien des Jahres 1889 bildet den geschichtlichen Ort, an dem Wagners Meistersinger und Verdis Falstaff gewissermaßen durch ein unsichtbares Band verbunden sind: Während Verdi nämlich im Juli 1889 im Kurbad Montecatini die letztendliche Entscheidung zur Komposition des Falstaff traf,20 bereitete sich im nicht weit entfernten Mailand ein ganz anderes, spektakuläres Opern­ ereignis vor, die italienische Erstaufführung von Wagners Meistersingern; sie ging am 26. Dezember 1889 an der Mailänder Scala über die Bühne – in italienischer Sprache und mit einigen „erbarmungslosen Kürzungen“ von der

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Hand des jungen Giacomo Puccini.21 Bedeutsam war diese Meistersinger-­ Premiere in doppelter Hinsicht: erstens als endgültiger Durchbruch für Wagners Werke in Italien, denn die Meistersinger waren bis dato (neben dem immer noch für Bayreuth reservierten Parsifal) das einzige gedruckte Werk Wagners, das in Italien noch nicht gegeben worden war, zweitens als Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Fehde in der italienischen Verlagslandschaft. Protagonisten dieses Streites waren das traditionsreiche Verlagshaus Ricordi, das vor allem als Sachwalter der Werke Verdis in Erscheinung trat (und damit einer gewissen „Standardisierung des Opernangebots“ Vorschub leistete22) und ihm gegenüber der agile und äußerst professionell arbeitende Lucca-Verlag,23 welcher sich der verlegerischen Monokultur Ricordis mit der Verbreitung betont progressiver in- und ausländischer Komponisten entgegenstellte; unter anderem hatte Lucca seit 1868 die Gesamtaufführungsrechte der WagnerOpern für Italien inne.24 Das Jahr 1888 brachte eine entscheidende Wende, als nämlich Giovannina Lucca ihren Verlag aufgab und an den Erzkonkurrenten Ricordi verkaufte. Mit einem Mal war Verdis Verleger nun also auch für Wagner zuständig, eine unverhoffte Mesalliance, auf die der durchaus nicht wagnerfreundliche Ricordi mit untrüglichem Geschäftssinn reagierte und ohne Zögern die Italien-Premiere der Meistersinger auf die Agenda setzte. Inwieweit Verdi an diesen Ereignissen Anteil nahm, ist nicht erkennbar; wie so oft mangelt es hier an Selbstzeugnissen des Meisters. Es mag allerdings doch kein Zufall sein, dass er seinen Entschluss zur Komposition der komischen Oper Falstaff ausgerechnet in einem Moment fasste, da in Mailand alles von Wagners Maestri Cantores redete – umso mehr, als etliche enge Vertraute des Komponisten unmittelbar in dieses Meistersinger-Projekt involviert waren: neben der VerlegerFamilie Ricordi vor allem der Dirigent Franco Faccio, der, sonst eigentlich Verdis „Hausdirigent“, nun die Meistersinger aus der Taufe heben sollte. Ein Freund und Studienkollege Faccios war wiederum Arrigo Boito – nicht nur Librettist von Verdis späten Shakespeare-Opern, sondern auch ein ausgewiesener Wagnerkenner (er übersetzte u.a. den Tristan ins Italienische). Es ist also anzunehmen, dass auch Verdi in dieser Zeit wieder den ein oder anderen Blick in den Klavierauszug der Meistersinger warf, den er spätestens seit 1885 besaß,25 und dass er wohl auch, wie Julian Budden vermutet, der Premiere des Werkes an der Scala beiwohnte.26 Etwaige Gemeinsamkeiten zwischen Falstaff und Meistersingern sind fraglos im Lichte dieser geschichtlichen Konstellation zu betrachten.

Diatonik/C-Dur Tonales Paradigma der Meistersinger wie auch des Falstaff ist die C-Dur-Diatonik, eine Musik „auf weißen Tasten“ sozusagen. Beide Opern beginnen in

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C-Dur und enden auch dort, was an sich schon bei Wagner und Verdi keine Selbstverständlichkeit ist.27 Anfangs herrscht die Diatonik nahezu ungetrübt für eine ganze Reihe von Takten, bei Verdi nur erweitert durch das fis, welches die erste Ausweichung nach G-Dur einleitet, bei Wagner durch den ominösen Ton cis, über den noch zu sprechen sein wird. C-Dur als bestimmende Tonart für eine komische Oper ist zunächst nichts Außergewöhnliches und entspricht eigentlich einer Jahrhunderte alten Tonartencharakteristik. C-Dur habe, so Mattheson (1713), eine „ziemliche rude und freche Eigenschafft“, und werde insbesondere dort „nicht ungeschickt seyn, [...] wo man [...] der Freude ihren Lauff läst“.28 Auch Rameau nannte C-Dur (neben D- und A-Dur) „geeignet für Gesänge der Wonne und Belustigung“.29 Durch die Verwendung in Haydns Schöpfung kam 1798 die Konnotation von C-Dur als „Lichttonart“ hinzu, und auch diese fügt sich, zumindest im Falle Wagners, ins Konzept: Denn dem hochchromatischen „Nocturne“ des Tristan (1859) – hier spielt der gesamte zweite Akt in der Nacht – ließ Wagner in Gestalt der C-Dur-Meistersinger geradezu demonstrativ ein diatonisches „Tagstück“ folgen, terminiert ausdrücklich auf den Johannistag, den längsten Tag des Jahres.30 Dass Verdi wiederum die C-Dur-Schlussfuge des Falstaff ins Halbdunkel des nächtlichen Gartens von Windsor verlegt, ist vor diesem Hintergrund eine subtile Pointe und lässt sich womöglich als ironische Brechung des gleißenden Festwiesen-Finales der Meistersinger verstehen. Eine Parodie der Wagnerschen Vorgabe ist indes noch an anderer Stelle im Falstaff auszumachen, nämlich gleich zu Beginn. Fast wie kopiert wirkt die Eröffnung mit dem kräftigen C-Dur-Dreiklang in Oktavlage31 (s. Beispiel 3) – eine groteske Kopie freilich, denn wie aus Versehen ist der Akkord bei Verdi synkopisch auf die Zählzeit zwei „verrutscht“. Verändert ist natürlich auch die Tempocharakteristik, da das spritzige Allegro vivace, welches den Falstaff über weite Strecken dominiert, bereits hier zu Anfang den Ton angibt. Bei Wagner heißt es demgegenüber „sehr mäßig bewegt“, wobei freilich der behäbige Vortrag, der aus dieser Vorschrift oft abgeleitet wird, wohl kaum in seinem Sinne war. Wagners Wort vom Andante als dem „deutschen Tempo“ war jedenfalls nach verbürgter Quelle ironisch gemeint, und es ist bemerkenswert, dass der Komponist derselben Quelle zufolge einen Meistersinger-Dirigenten in Hamburg mit den Worten abkanzelte: „Sie haben ja den Andante-Arm, [...] So darf man doch die ‚Meistersinger‘ nicht dirigieren; das ist ja ein Lustspiel!“32 – Doch zurück zu den Eröffnungstakten der beiden Opern. Hier offenbaren sich mehr Übereinstimmungen als nur die des ersten Akkordes: Auch die Fortführung in Gestalt des Sextzuges g’ bis e’’ in Takt 1–4 des Meistersinger-Vorspiels lässt sich bei Verdi auffinden, nämlich in der Basslinie in Takt 1–3 des FalstaffBeginns (s. Pfeil). Es scheint fast, als habe Verdi, der spätestens seit seiner Aida darüber klagte, als „Nachahmer Wagners“ zu gelten,33 hier eine Volte gegen seine

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Kritiker schlagen wollen, denn in dieser Falstaff-Eröffnung ahmt er Wagner tatsächlich nach, und zwar wörtlicher, als man es zu vermuten gewagt hätte, doch diese „Nachahmung“ ist Parodie, ein intertextuelles Spiel mit Versatzstücken. –

Beispiel 3a: Meistersinger, Beginn34

Beispiel 3b: Falstaff, Beginn

Im Ozean der harmonischen Möglichkeiten der späten Romantik hat eine diatonische Musik in C-Dur allemal den Charakter eines Statements. Einschlägig ist hier die Äußerung des legendären Brahms- und Wagner-Diri­ genten Hans Richter, der nach einer Meistersinger-Aufführung erklärte, nun habe er „wieder einmal das gesundende Stahlbad in C-dur genommen.“35 Sie ruft eine Tonartencharakteristik auf, die bis in die Musik­ästhetik des späten 18. Jahrhunderts zurückreicht. In Schubarts Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (um 1780) lesen wir: „C dur, ist ganz rein. Sein Charakter heißt: Unschuld, Einfalt, Naivetät, Kindersprache.“36  – C-Dur im Kontext der sublimierten romantischen Harmonik wird damit eine Art Tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt, ein gleichsam überpersönlich reines, „weißes“ Tonmaterial, bewahrt vor aller subjektiven Prägung. Es dürfte eine solche Qualität der Tonart C-Dur sein, in welcher sich Falstaff und Meistersinger berühren und gleichzeitig voneinander abheben: Im Falstaff garantiert gerade diese kühle Sachlichkeit des C-Dur bzw. der Diatonik allgemein die Schärfe seiner Satirik; sie ist hier ein Mittel des „Nichtausdrucks“, welches uns fast wie in Brechts späterem epischen Theater in besonnen ironischer Distanz zur dargestellten Farce hält. Auch in den Meistersingern hält das diatonische C-Dur gleichsam Abstand zu aller schwelgerischen Ausdrucksmusik – allerdings ist der ästhetische Zweck ein anderer: Im Gegensatz zu Verdi sucht Wagner in den Meistersingern noch einmal eine Lanze für dieses schwelgerische Espressivo in der Musik zu bre-

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chen. Die pure Diatonik hingegen repräsentiert ihm eine Sphäre blutleerer Pedanterie, ist Sinnbild eines defizitären ästhetischen Begriffs, von dem sich die Welt „wahrer“ Kunst umso wirkungsvoller abheben kann, je unbedarfter eine solche Diatonik daherkommt. Hieraus erklären sich auch die auffälligen Besonderheiten in der Gestaltung der Partie des Beckmessers als des Protagonisten dieser verkümmerten diatonischen Sphäre: Während Stolzings schwellende Kantilenen sich in einer Aureole symphonischen Wohllautes entfalten dürfen, bleibt Beckmesser bei seinen entscheidenden Auftritten auf die dürftigen Akkorde seiner Laute angewiesen. Es mag überraschen, dass Beckmessers Gesänge dabei gerade nicht in C-Dur, sondern in der Oberquinttransposition G-Dur/e-Moll stehen. Im Lichte der oben genannten Tonartencharakteristik freilich scheint es plausibel, wenn am Ende dem Naturgenie Stolzing, nicht aber seinem kasuistischen Gegenspieler Beckmesser zusteht, seine Musik aus dem reinen Quell der „naiven Kindersprache“ C-Dur zu schöpfen.

Leitmotivik im Falstaff Das Komponieren mit Erinnerungs- und Leitmotiven hat durch das Werk Wagners eine nachhaltige Entfaltung erfahren. Gleichwohl dokumentiert das Auftreten derartiger Motive bei anderen Komponisten nicht zwingend eine Abhängigkeit von Wagner, denn weder war dieser der „Erfinder“ des Verfahrens,37 noch muss dessen Einbeziehung der eigenständigen Handschrift eines Komponisten Abbruch tun. Dass auch Giuseppe Verdi das Wagnersche Verfahren rezipiert hat, kann vorausgesetzt werden, und so ist hinsichtlich des Falstaff, dessen Komposition er sechs Jahre nach Wagners Tod in Angriff nahm, weniger von Interesse, einen etwaigen Wagner-Einfluss nachzuweisen, als vielmehr, die Partitur auch an diesem Punkt in ihren Eigenheiten wahrzunehmen. Allgemein lässt sich konstatieren, dass der Falstaff, obschon keineswegs durch und durch leitmotivisch, doch an zentralen Stellen von Leitmotiven Gebrauch macht und im Übrigen – darin Wagners reifen Werken verwandt – ein durchkomponiertes Werk darstellt, das praktisch keine Nummernstruktur erkennen lässt. Analog zur möglichen Meistersinger-Parodie in den ersten Takten des Fal­staff (vgl. Beispiel 3), wird man auch im Bereich der Leitmotive ein parodierendes Moment ausmachen können, nämlich in Gestalt des sogenannten „Reverenza“Motivs (Beispiel 4). Den gerne erhobenen Vorwurf, Wagners Leitmotive beförderten anstelle thematischer Arbeit vor allem ein Übermaß an monotonen Wiederholungen,38 scheint dieses Motiv Verdis mit größter Absicht auf sich zu ziehen, indem es ganz auf die zunehmende Penetranz der wörtlichen Wiederholung setzt. Inhaltlich handelt es sich bei dem „Reverenza“-Motiv um eine galante Grußformel. Insofern ist nicht verwunderlich, dass es verschiedentlich unverän-

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dert wieder auftaucht. Für den Zuhörer freilich und ebenso für Falstaff als Dramatis persona wird sie zusehends zum „Erinnerungsmotiv“, für Letzteren vor allem zur Trägerin unliebsamer Erinnerungen: Klang ihm Quicklys „Reverenza“Melodie im ersten Akt noch wie Balsam in den Ohren, wirkt der inzwischen arg ramponierte Kavalier zwei Akte später sichtlich enerviert, wenn ihm die Damen einmal mehr mit derselben schmeichelnden Phrase ihre Aufwartung machen.

Beispiel 4: Verdi, Falstaff, „Reverenza“-Motiv (S. 100)

Wagners Leitmotiv scheint hier von Verdi zum nichtigen „Running gag“ heruntergewirtschaftet, was umso mehr parodistische Qualität erlangt, als an anderen Stellen der Partitur eine überaus kunstvolle und auf diskrete Weise wirksame Motivarbeit waltet, die zwar genaue Kenntnis, aber durchaus keine blinde Gefolgschaft des Wagnerschen Verfahrens verrät. Als Beispiel kann hier der Eifersuchtsmonolog des Ford (2. Akt) dienen. Er bedient sich leitmotivisch einer musikalischen Gestalt, die in der vorangehenden Szene in dem Moment etabliert wird, da Falstaff sich genüsslich die Vision des gehörnten Ford ausmalt: „Te lo cornifico ...“ (Beispiel 5).

Beispiel 5: Verdi, Falstaff, Leitmotiv des Gehörnten39 (Klavierauszug S. 125f.)

Im Eifersuchtsmonolog Fords geschieht nun sozusagen die Durchführung dieses Gedankens, wie in Beispiel 6 ausschnittweise zu sehen ist. Die ersten drei Takte des Notenbeispiels 6a („E poi diranno ...“) sind freilich noch ein Abkömmling des „Reverenza“-Motivs, d.h., sie stellen eine stark erweiterte Form von

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dessen erster bzw. dritter Phrase dar („Buon giorno, buona donna.“). Ford sucht hier gewissermaßen noch nach dem „Motiv“ seiner aufkeimenden Eifersucht und bleibt in seinem Argwohn zunächst an der schmeichelnden „Reverenza“Phrase hängen, die musikalisch hier sozusagen „von einer Mücke zum Elefanten“ gemacht wird. Im vierten Takt des Beispiels findet die Musik dann zum „Motiv des Gehörnten“, an dem sie sich im Folgenden regelrecht festbeißt. Das Motiv erklingt nun hauptsächlich im Orchester, von wo es nur noch fallweise in der Singstimme „getriggert“ wird, und erfährt im weiteren Verlauf verschiedene Sequenzierungen, Varianten und Abspaltungen. Beherrschend wird mehr und mehr eine Durchführungstechnik, die an Wiener klassische Modelle erinnert.

Beispiel 6a: Verdi, Falstaff, Eifersuchtsmonolog des Ford (Ausschn.), S. 128f.

Beispiel 6b: Verdi, Falstaff, Eifersuchtsmonolog des Ford (Ausschn.), S. 131f.

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Wenn in der versöhnlichen Schlussszene des dritten Aktes Alice und Ford wieder zueinander finden, klingt im Orchester piano ein letztes Mal das Motiv des Gehörnten auf, nun in eine behagliche Walzer-Charakteristik transformiert (Beispiel 7). Die Eifersucht hat sich gleichsam in Wohlgefallen aufgelöst.

Beispiel 7: Verdi, Falstaff, 3. Akt, Schlussszene (Ausschnitt), S. 296

Die musikalische Anmutung solcher Passagen hat, obgleich Leitmotive eingesetzt werden, wenig mit Wagner gemein. Dabei entspricht der Vorgang des Etablierens und Semantisierens des Motivs des Gehörnten exakt einem gängigen Verfahren Wagners, das heißt: das Motiv wird zunächst textiert vorgestellt, erscheint in der Folge aber im Wesentlichen nur noch als instrumentales Erinnerungsmotiv im Orchestersatz – ganz so, wie es in Wolzogens Schlüsseltext zur Leitmotivik beschrieben ist: „So stammt denn auch gar manches Wagner’sche Leitmotiv direct aus der Gesangsphrase, darin zuerst in bedeutsamer Weise der Affect sich aussprach, dem als ‚Willensinhalte einer dramatischen Grundidee‘ es fortan zum gleichsam angeborenen Ausdrucke dient.“40

Die weiterführende Verwendung des Motivs besteht in unserem Beispiel allerdings weniger im allfälligen Wiederaufrufen dieses „angeborenen“ Ausdrucks als vielmehr in der Verarbeitung und Entwicklung des Motivs im Geiste des Wiener klassischen Instrumentalstils. So wird sozusagen eine Durchführungsarbeit „auf die Bühne gebracht“, die dort nach landläufiger Meinung eigentlich nicht hingehört. „Ein Opernmotiv“, so erklärte Dahlhaus, „darf nicht auf eine Durchführung angewiesen sein, damit sein Gehalt sinnfällig wird, sondern muß schon bei seiner Exposition zeigen, was in ihm steckt. Daß einzig das Präsente zählt, ist eines der Gesetze der Opernmusik.“41 In Verdis Falstaff relativiert sich dieses Gebot zumindest. Die gegensätzlichen Konzepte – hie die symphonische Motivarbeit klassischer Prägung, dort die eher „plakative“ präsentierende Eigenart des Opernmotivs – scheinen aufgehoben in einer Musik,

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die ein „klassisches“ Motivgeschehen auf Wagnersche Art „bedeutend“ macht. Psychologisch zwingend sind diese Vorgänge, gerade weil sie so dezent und gewissermaßen unterschwellig bleiben und dem identifizierenden Hören, das in Sachen Wagner oft mit wahrer Kennerschaft verwechselt wird, vergleichsweise wenig Nahrung geben. In dieser Hinsicht stellt die motivische Arbeit des Falstaff einen pointierten Gegenentwurf zur Tetralogie oder etwa auch zum Parsifal dar,42 weniger hingegen zum Tristan oder den Meistersingern, in denen es auch Wagner versteht, das Leitmotivverfahren ohne die geringste „Aufdringlichkeit“ einzusetzen.43

Exkurs: „Entsagung“ Die Meistersinger sind bekanntlich unmittelbar nach dem Tristan komponiert und mit diesem inhaltlich stark verwachsen. Als Wagner im Frühjahr 1862 die endgültige Ausformulierung des Meistersinger-Librettos vornahm, erhielt die Hans-Sachs-Figur eine Charakteristik, die zweifelsfrei Wagners eigener seinerzeitigen Lebenssituation nachgebildet ist. Es war die Zeit nach Wagners langjähriger Affäre mit Mathilde Wesendonck. Und so wie der Komponist seinerzeit aus dieser Liaison sozusagen den „Treibstoff“ zur Komposition des Tristan sog, wurde ihm nun in den Meistersingern das „Entsagen“ von dieser Liebe zum Thema. Sachs tritt jetzt als alternder Witwer auf, fest entschlossen, nur noch seiner Kunst zu leben und allen weiblichen Avancen zu widerstehen. In der Musik der Meistersinger verdichtet sich diese Haltung im sogenannten Entsagungsmotiv, laut Wagner eine „weiche, tief melancholische Passage [...] die den Charakter größter Resignation trägt.“44 Zu hören ist es erstmals im zweiten Akt als eine Art Kontrapunkt zur dritten Strophe des Schusterliedes. Im dritten Akt wird dieses Motiv dann geradezu zum Inbegriff der HansSachs-Figur und ersetzt dort das Schustermotiv, das im zweiten Akt dominierte. Wagners Briefe an Mathilde Wesendonck reden nicht nur von dieser „Entsagung“,45 sondern auch davon, dass ihm das Glück mit Mathilde überhaupt erst ermöglicht habe, die Figur des Sachs in aller Tiefe der Charakterisierung zu gestalten: Was werden sie für Augen machen zu meinen Meistersingern! Gegen S achs halten Sie Ihr Herz fest: in den werden sie sich verlieben! Es ist eine ganz wunderbare Arbeit. Der alte Entwurf bot wenig, oder gar nichts. Ja, dazu muss man im Paradies gewesen sein, um endlich zu wissen, was in so etwas steckt!“46

Gleich Richard Wagner und Mathilde Wesendonck, die 1858 zu der Überzeugung kamen, dass, so wörtlich, „an eine Vereinigung zwischen uns nie gedacht

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werden dürfe“,47 entsagt auch Sachs im dritten Akt der Meistersinger der ehelichen Verbindung mit Eva. Dem Entsagungsmotiv ist dieser Inhalt intertextuell eingeschrieben: Wenn es im Schlussteil des Vorspiels zum dritten Akt in homophoner Harmonisierung wiederkehrt, wirkt es wie eine melancholisch verdüsterte Paraphrase des berühmten Hochzeitsmarsches aus Mendelssohns Sommernachtstraum.48

Beispiel 8a: Felix Mendelssohn-Bartholdy, Hochzeitsmarsch aus Ein Sommernachtstraum op. 61 (1842), T. 10ff.

Beispiel 8b: Richard Wagner, Meistersinger, Vorspiel zum 3. Akt, 

T. 51ff. „Entsagungsmotiv“

Sachsens Entsagung hat viele Facetten; alles in ihr scheint Verdrängung, Verneinung und Abkehr zu sein. Davon zeugt nicht nur diese melancholische Mendelssohn-Reminiszenz, sondern auch die übrigen Leitmotive des Hans Sachs, welche ausnahmslos aus der melodischen Umkehrung solcher Motive erwachsen, die in der Oper für Liebe und Leidenschaft stehen: Das Schusterlied, sozusagen Sachs’ musikalische Visitenkarte, hebt an mit einer fast wört­ lichen Umkehrung des Liebesthemas – in Beispiel 9 wiedergegeben in der Version Stolzings im Abgesang seines Preisliedes. Sachs verneint die Liebe, könnte man sagen, kehrt sich buchstäblich von ihr ab.49 Der gleiche Vorgang ist beim sogenannten Schustermotiv zu beobachten, einer bärbeißig dreinfahrenden Gestalt auf Basis des übermäßigen Dreiklangs. Sie tritt zum Beispiel in der Introduktion des Schusterliedes auf oder auch im dritten Akt beim Aufmarsch der Schuster auf der Festwiese. Auch dieses Motiv stellt im Kern die

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Beispiel 9: Richard Wagner, Meistersinger Schusterlied (2. Akt) und  Liebesthema (hier 3. Akt)

Umkehrung eines anderen dar, nämlich des Leidenschaftsmotives, welches  – schon in der Ouvertüre exponiert – für die Liebe Stolzings zu Eva steht.

Beispiel 10: Richard Wagner, Meistersinger Schustermotiv (2. Akt,  S. 177) und Leidenschaftsmotiv (hier 2. Akt, S. 146)

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Es ist die differenzierte Charakterstudie des entsagenden Hans Sachs, die im dritten Akt der Meistersinger zum alles beherrschenden Thema wird und so der Oper erst zu ihrer psychologisierenden Tiefe verhilft. Dass die früheren, zum Teil Jahrzehnte alten Prosaentwürfe des Werkes dem Komponisten nunmehr „wenig, oder gar nichts“ bedeuteten, wird an dieser Stelle verständlich.

Leitmotivik in den Meistersingern oder: „Der Akkord als Motiv“ Das besondere Gepräge des Leitmotivverfahrens in den Meistersingern verdankt sich unter anderem zwei Charakteristika, welche die Motivarbeit des Werkes erheblich von jener etwa des Rings abheben. Zum einen ist es die teilweise enorm gewachsene Länge der Motive: Meistersingermotiv, Liebesmotiv, Zunftmotiv, um nur drei zu nennen, weisen jeweils eine ausführliche thematische Ausspinnung auf, die im Verbund mit den explizit liedhaft „gemeinten“ Stücken wie „Am stillen Herd“, Probelied, Preislied usw. sowie den großen ChorNummern das ganze Werk als einen breiten Strom großformatiger musikalischer Verläufe wirken lässt, aus welchem die wenigen Szenen, in denen noch das mehr mosaikartige Arbeiten mit schlagwortartig verknappten Motiv­ gestalten vorherrscht, wie Inseln von unerhörter Frische hervorragen (z.B. „Fliedermonolog“ oder Beckmessers Pantomime). Eine gegenläufige Tendenz der Motivarbeit in den Meistersingern verdient freilich die größere Beachtung: Ihr Konzept ist gerade nicht die Erweiterung und Ausspinnung der Motive zu langen musikalischen Strecken, sondern im Gegenteil deren Kontraktion auf einen einzigen Punkt, das heißt hier: den einzelnen Akkord. Der musikalische Eigenwert bestimmter Zusammenklänge wirkt tatsächlich in der Meistersinger-Partitur mitunter derart gesteigert, dass ihnen „motivischer“ Rang zugemessen werden kann. Der folgende Abschnitt widmet sich dieser Besonderheit.

„Der Akkord als Motiv“ Wagner war im Werk wie im Leben gewissermaßen besessen von der „Magie des Augenblicks“: Die ideale Form der Liebe etwa ist in seinen Plots stets die „Liebe auf den ersten Blick“ – zu erleben im Siegfried, in den Meistersingern und letztlich auch im Tristan, wo es die Wirkung des Liebestranks ist, die erst alles Vergangene auslöschen muss, um dem tragischen Paar zum „Coup de Foudre“ zu verhelfen. Die Magie des Augenblicks kultiviert der Komponist freilich auch übers Werk hinaus, wovon die sorgsam inszenierten Initialerleb-

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nisse Zeugnis ablegen, welche nach Wagners Bekunden die Entstehung einzelner Werke ausgelöst haben sollen.50 Folgerichtig ist da sein Bestreben, selbst die musikalische Gesamtwirkung der Werke demselben Prinzip zu unterwerfen: Quasi aus heiterem Himmel soll das Publikum ergriffen werden, indem – mit Ausnahme des Rheingold-Beginns, bei dem das „Werden“ ausdrücklich Programm ist – die Vorspiele der Wagnerschen Bühnenstücke meist augenblicklich zum Wesentlichen kommen, um damit die Prägekraft des ersten Eindrucks ohne Verlust dem Werk dienstbar zu machen. Der Lohengrin beispielsweise beginnt sogleich mit der Musik der Gralserzählung des dritten Aktes, und Parsifal hebt an mit dem Thema des Abendmahls, der Transsubstantiation, dem erhabensten religiösen Ereignis des ganzen „Bühnenweihfestspiels“. Im Tristan ereignet sich geradezu die Apotheose dieses Prinzips: Der TristanAkkord, der in der fünften Szene des ersten Aktes den überlangen ersten Blick der Liebenden in sich fassen wird, erklingt bereits in Takt 2 des Vorspiels und begründet damit eine geradezu unheimliche Identifikation des Publikums mit den Protagonisten der Handlung, indem deren erster liebender Blick in eins gesetzt erscheint mit dem ersten „Augenblick“ des ganzen Stücks. Dieses „Prinzip Tristan-Akkord“ bleibt in den Meistersingern nicht nur lebendig, sondern erfährt eine erstaunliche Ausweitung. Es lässt sich hier ein Set von insgesamt vier Akkord-Emblemen finden, die jeweils eine ganz eigene Ausdrucks- und Bedeutungssphäre ausprägen. Die folgende Skizze gibt eine Übersicht dieser vier „Leitklänge“, wobei sogleich auch die jeweilige semantische Adressierung im Werkganzen mitgeteilt wird.



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Blicken wir als Erstes also auf den Durdreiklang – wie gesehen das Charakteristikum der Meistersinger überhaupt. Er ist, zusammen mit der Diatonik des C-Dur, die musikalische Grundlage all jener Motive und Intonationen, die

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sich auf die Singekunst, die Komposition, ihre Regeln und ihre zunfthafte Ausübung beziehen (Beispiel 12a). Eine Erweiterung „nach unten“ erhält diese Sphäre bei Beckmesser, dessen Markenzeichen neben der Diatonik die Pentatonik ist – repräsentiert durch die leeren Saiten seiner Laute. Die Pentatonik wirkt dabei wie die „blutleere“ Variante der Diatonik und verkörpert so das limitierte und unfruchtbare Kunstempfinden Beckmessers (Beispiel 12b).

Beispiel 12a: Meistersinger, Vorspiel zum 1. Akt, T. 41, Zunftmotiv

Beispiel 12b: Meistersinger, 2. Akt, Klavierauszug S. 177

Als Klangchiffre der Schuster im Allgemeinen und Hans Sachsens im Speziellen dient der übermäßige Dreiklang – paradigmatisch natürlich im Schustermotiv, welches sowohl Sachsens Schusterlied im zweiten Akt (Beispiel 13) als auch den Chor der aufziehenden Schuster in der Festwiesenszene des dritten Aktes eröffnet („Sankt Krispin, ...“).

Beispiel 13: Meistersinger, 2. Akt, Klavierauszug S. 177, Schustermotiv

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Bemerkenswert ist die folgende Stelle aus dem zweiten Akt, an der es um einen unmittelbaren Schlagabtausch zwischen Beckmesser und Sachs geht: Beckmesser „zückt“ sozusagen den pentatonischen Klang seiner Laute, Sachs hält mit dem übermäßigen Dreiklang dagegen usw. – hin und her.

Beispiel 14: Meistersinger, 2. Akt, Klavierauszug S. 176f.

Eine vergleichbare Konfrontation verschiedener Akkordsphären findet sich direkt zu Beginn der ganzen Oper – bei Wagner wie gesehen meist der entscheidende „Augenblick“, in dem für die Wirkung alles Kommenden die Weichen gestellt werden. Im Meistersinger-Vorspiel sehen wir hier zunächst C-Dur, soweit das Auge reicht. Doch schon im zweiten Takt steckt eine empfindliche Störung der Diatonik durch den ominösen, gänzlich „unfunktional“ verwendeten Ton cis. Sein Zweck ist, gleich im ersten Moment des Werkes den übermäßigen Dreiklang als „Motiv“ zu verankern – gerade so, wie schon in Takt 2 des Tristan-Vorspiels der erste Tristanakkord erklingt. Hans Sachs erleben wir so gleichsam von Anbeginn als Stachel im Fleisch der Meistersingerzunft (Beispiel 15).

Beispiel 15: Meistersinger, Vorspiel zum 1. Akt (Beginn)

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Eine vergleichbar prominente Verwendung des übermäßigen Dreiklangs wie in Wagners Meistersingern findet sich zuvor vielleicht nur in Franz Liszts Faustsymphonie, die rund ein Jahrzehnt vor den Meistersingern entstand. Sie beginnt bekanntlich mit einer „Zwölftonreihe“51, die halbtonweise alle vier möglichen Transpositionen des übermäßigen Dreiklangs durchdekliniert (siehe die Nummerierung im folgenden Beispiel).

Beispiel 16: Franz Liszt, Faustsymphonie (1854), Beginn (Vcl. colla parte mit Vle.)

Wagner adaptiert diese „faustische“ Zwölftonstruktur originalgetreu in den Meistersingern und ordnet sie im zweiten und dritten Akt der Oper dem jeweils ersten Auftritt des Hans Sachs zu.52 Im zweiten Akt – beim ersten Auftreten des Schustermotives überhaupt – stimmt die Abfolge der Transpositionen des übermäßigen Dreiklangs sogar genau mit derjenigen bei Liszt überein (Beispiel 17).

Beispiel 17: Meistersinger, 2. Akt, Klavierauszug S. 135 (Auftritt Hans Sachs)

Im Vorspiel zum dritten Akt tritt Sachs gewissermaßen schon bei geschlossenem Vorhang auf, nämlich in Gestalt seiner persönlichsten musikalischen Motive, dies sind das Entsagungsmotiv, der „Wach’-auf“-Chor, mit dem das Volk seinen Helden später auf der Festwiese begrüßen wird, und das Schusterlied des zweiten Aktes. Alle drei Themen sind im Vorspiel zum dritten Akt zu einer symmetrischen fünfteiligen Bogenform gestaltet, die sich wie folgt darstellt:

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T. 1–16

Entsagungsmotiv (polyphon)

T. 16–25

„Wach’-auf“Chor (Teil 1)

T. 26–35

Schusterlied mit 12-Ton-Feld

T. 44–51

„Wach’-auf“Chor (Teil 2)

T. 51–65

Entsagungsmotiv (homophon)

Das Herzstück dieses formvollendeten Satzes, das in T. 26 mit dem Rückgriff auf die Motivik des Schusterliedes anhebt, gipfelt sich ab T. 34 zu einem ätherischen Streichersatz in höchster Diskantlage auf, der wie die Verklanglichung jenes Engelsrufs ins Paradies wirkt, von dem die dritte Strophe des Schusterliedes in der zuvor zitierten Phrase spricht (Beispiel 18). Zart beschwichtigt ertönt viermal der augmentierte Rhythmus des Schustermotives (T 35 ff.) – wie immer gebunden an den übermäßigen Dreiklang (siehe Pfeil) – nun allerdings in Halbtönen steigend, so dass sich in seinen vier Transpositionen erneut das charakteristische Zwölftonfeld ausprägt.

Beispiel 18: Meistersinger, Vorspiel zum 3. Akt, T. 34ff.

Eine dritte Sphäre – hier „Liebe, Lenz und Leidenschaft“ genannt – wird in den Meistersingern durch den sogenannten „Beta-Akkord“ repräsentiert. Die Bezeichnung „Beta-Akkord“ stammt aus den musiktheoretischen Schriften von Ernö Lendvai und soll hier nur als terminologischer Zugriff dienen, ohne ihre systematische Grundlage weiter zu referieren.53 Man stelle sich diesen Klang

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der Einfachheit halber vor als einen verminderten Septakkord mit einer großen Sekunde darüber.54 Zum ersten Mal tritt der Beta-Akkord im Vorspiel bei der Exposition des Leidenschaftsmotives auf und dort direkt in einer frappierenden Häufung (Beispiel 19a). Die Textierung dieses charakteristischen Akkordemblems wird nachgeliefert in Sachsens Fliedermonolog im zweiten Akt: Das LenzMotiv, eine freie Augmentation des Leidenschaftsmotivs, ­präsentiert hier den lang gehaltenen Beta-Akkord auf „sü - -ße Not“ (Beispiel 19b).

Beispiel 19a: Meistersinger, 1. Akt, Vorspiel T. 114ff.: Leidenschafts-Motiv

Beispiel 19b: Meistersinger, 2. Akt, „Fliedermonolog“: Lenz-Motiv55

Ein weiterer Motivstrang geht vom Beta-Akkord aus, und zwar von seinem Auftreten in T. 85 bzw. 214 des Vorspiels (Beispiel 20a und 20b). Auch dieser Abschnitt erfährt eine nachträgliche Textierung, die an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lässt. Sie erscheint in der Schlusszeile des „Wach’-auf“-Chores im dritten Akt, der nach kolossaler Steigerung im Beta-Akkord bei „brünstige“ schließlich seine Kulmination findet (Beispiel 20c).

Beispiel 20a: Meistersinger, 1. Akt, Vorspiel T. 85f.

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Beispiel 20b: 1. Akt, Vorspiel T. 214f.

Beispiel 20c: 3. Akt, „Wach’-auf“-Chor (Schlusszeile), Klavierauszug S. 343

Das vierte und letzte der „Akkordmotive“ in Wagners Meistersingern ist der halbverminderte Septakkord oder „Tristan-Akkord“. Dieser gehört eigentlich so selbstverständlich zur Tonsprache von Wagners reifen Werken, dass seine außerordentlich zurückhaltende Verwendung im ersten und auch noch im zweiten Akt der Meistersinger Erwähnung verdient. Im Sinne der hier vorgestellten Akkordemblematik trägt solch auffällige Bescheidung quasi strategische Züge, denn der Tristan-Akkord ist dazu bestimmt, zum „Leitklang“ des dritten Aktes zu werden, in welchem der entsagende Hans Sachs – in seiner Rolle als Alter Ego Wagners in der „nach-wesendonckschen“ Zeit  – in den Fokus gerückt wird. Die homophone Harmonisierung des Entsagungsmotivs, auf die schon eingegangen wurde (vgl. Beispiel 8), wirkt wie durchtränkt von der Klanglichkeit des TristanAkkords (siehe die gekennzeichneten Klänge in Beispiel 21a). Um den Entsagungsgedanken allerdings in vollkommen unmissverständlicher Weise mit dem Tristan-Akkord zu assoziieren, greift Wagner zu einer zusätzlichen intertextuellen Bekräftigung, nämlich dem berühmten Selbstzitat des Tristan-Beginns, welches ertönt, während Sachs den Avancen Evas endgültig entsagt (Beispiel 21b):

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SACHS Mein Kind, von Tristan und Isolde kenn’ ich ein traurig Stück: Hans Sachs war klug und wollte nichts von Herrn Markes Glück. ‚s war Zeit, dass ich den Rechten fand, wär‘ sonst am End‘ doch hineingerannt!

Beispiel 21a: Meistersinger, Vorspiel zum 3. Akt, T. 51f.

Beispiel 21b:56Meistersinger, 3. Akt, Klavierauszug S. 309

Theodor W. Adorno machte als einer der ersten darauf aufmerksam, wie in Wagners Spätstil mitunter einem einzelnen Akkord „leitmotivische Bedeutung“ zukommen kann. Konkret verwies er dabei auf den „verminderte[n] Septimakkord mit der darüber gelegten kleinen None“ in Wagners letzten beiden Opern, also Götterdämmerung und Parsifal.57 Den Höhepunkt des Komponierens mit derartigen „Akkordmotiven“ stellen indes wohl die Meistersinger dar. Alle relevanten Ideensphären ihres Sujets verkörpern sich hier in je einem charakteristischen Leitklang, welcher für sie unmittelbar musikalisch, also ohne alles zeichenhaft Indirekte tonangebend ist.

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Kontrapunkt/Polyphonie Ein Charakteristikum der Meistersinger-Partitur ist ihr historisierendes Spiel mit der Idiomatik des barocken Kontrapunktes, nicht selten verbunden mit Anklängen an entsprechende formale Muster wie Fuge und Choralvorspiel. Wagner selbst bezeichnete das Werk als „angewendeten Bach“,58 und Gustav Mahler als großer Kenner und Verehrer des Wagnerschen Schaffens vertrat die Überzeugung, „wirklich polyphon“ sei Wagner nur im Tristan und in den Meistersingern.59 Dass diesem Aspekt hier besondere Aufmerksamkeit gebührt, liegt auf der Hand, denn auch die Musik von Verdis Falstaff wartet bekanntlich mit auf­ fällig polyphonen Texturen auf, wobei vor allem an die hochkomplexen Ensemble-Szenen des Werkes zu denken ist, unter ihnen an die berühmte Schlussfuge, der hier ein besonderes Augenmerk gelten soll. Musikalischer Ausgangspunkt des Falstaff war tatsächlich die Fuge, genau gesagt der bereits erwähnte Topos einer „Buffo-Fuge“, den Verdi erstmals im Finalsatz seines e-Moll-Streichquartettes von 1873 verwirklicht hatte und nun in großer Besetzung wieder aufgriff. Im Sommer 1889, als Boito noch halb damit beschäftigt war, den Komponisten endgültig vom Falstaff-Projekt zu überzeugen, schrieb Verdi ihm aus St. Agata: „Ich amüsiere mich damit, Fugen zu machen! ... Jawohl, mein Herr: eine Fuge ... Und zwar eine komische Fuge [orig.: „fuga buffa“ 60].. Die gut im Falstaff stehen könnte! ... Aber wieso eine komische Fuge? Warum komisch, werdet ihr sagen? ... Ich weiß nicht wie noch warum, aber es ist eine komische Fuge! Wie ich auf die Idee kam, werde ich euch in einem anderen Brief erzählen! – Bis dahin Grüße und von Herzen addio. Herzlich G. Verdi“61

Höchstwahrscheinlich nahm also hier in den Anfängen der Komposition des Falstaff bereits die Schlussfuge Gestalt an, wobei Verdi bedauerlicherweise den angekündigten weiteren Brief schuldig blieb, in welchem er Boito verraten wollte, wie er auf die Idee einer solchen Buffo-Fuge gekommen sei. Vielleicht hätte man dort ja etwas zum Zusammenhang mit Mozarts Jupiter-Finale lesen können, von dem zu Beginn der vorliegenden Arbeit die Rede war. Doch das bleibt Spekulation. – Wo die äußeren Ähnlichkeiten zwischen Wagners Meistersingern und ­Verdis Falstaff auf der Hand liegen, treten Unterschiede mitunter besonders plastisch zu Tage. Dies galt für die Wirkung der Diatonik in beiden Werken, und es gilt auch für die von Kontrapunkt und Fuge, an der sich durchaus gegensätzliche ästhetische Prämissen der beiden Komponisten ablesen lassen.

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Pointiert ausgedrückt: Verdi hatte anders als Wagner ein durchaus ungebrochenes Verhältnis zu einem gewissen „Akademismus“ in der Musik: Zwar warnte auch er davor, „die Kunst zu einem System zu erniedrigen,“62 andererseits bestand er auf einer rigorosen Handwerksschule für junge Komponisten, wie aus einem Brief vom Januar 1871 an Francesco Florimo, den Archivar des Konservatoriums Neapel, hervorgeht. Dieser hatte ihm seinerzeit die Leitung des Konservatoriums angeboten. Verdi schlug die Offerte zwar aus, nutzte das Schreiben aber dazu, einige seiner pädagogischen Grundsätze klar zu machen: „[...] ich hätte den jungen Zöglingen gesagt: ‚Übt euch in der Fuge, andauernd und mit zähem Fleiß, bis daß ihr alles könnet und die Hand frei genug habt, ein Thema nach eurem Willen zu formen. Ihr lernt damit Sicherheit in der Komposition, die richtige Anlage, die ungesuchte Modulation. Studiert Palestrina und nur noch ein paar von seinen Zeitgenossen. [...] Höret nur wenige Aufführungen zeitgenössischer Opern und lasset euch da nicht einlullen, weder von den vielen harmonischen und instrumentalen Schönheiten, noch vom verminderten Septimenakkord, diesem Zufluchtsriff für uns alle, die wir nicht vier Takte komponieren können ohne ein halbes Dutzend solcher Septimen.‘ [...] Freiheiten und Fehler im Kontrapunkt mögen hingehen und sind manchmal ganz hübsch – am Theater. Im Konservatorium nicht. Kehren wir zu den Alten zurück: das gibt einen Fortschritt.“63

Betrachtet man Verdis künstlerischen Werdegang, wird man ein solches Plädoyer fürs altmeisterliche Handwerk in der Musik auch als Bekenntnis in eigener Sache werten, denn seine Ausbildung bei Lavigna, wo er nach eigener Aussage drei Jahre lang „nichts anderes als Kanons und Fugen, Fugen und Kanons in allen Spielarten“ habe schreiben müssen,64 folgte genau diesem Ideal. Dass ein solcher Unterricht beim jungen Verdi, der schon mit elf Jahren Organist in seinem Geburtsort Le Roncole war, auf besonders fruchtbaren Boden fiel, belegt eine viel zitierte Anekdote. Danach habe der 21-jährige Verdi einst den Leiter des Mailänder Konservatoriums Francesco Basily in Erstaunen versetzt, als er spontan jenes Thema zu einer brillanten Fuge entwickelte, an dem sich zuvor 28 Bewerber um das Organistenamt der Kathedrale in Monza vergeblich versucht hatten.65 Wenn der 80-jährige Verdi seine letzte Oper Falstaff in einer „magistralen Fuge“66 ausklingen lässt, ist dies also sicherlich auch Rückbesinnung auf die Anfänge des eigenen Weges und gewissermaßen seine letztgültige Bezeugung der schon früh erworbenen Meisterschaft im polyphonen Stil. Ganz anders Wagner, der im Gegensatz zu Verdi niemals eine solide und systematische musikalische Ausbildung erhielt, und dessen Kompositionen sich

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bis heute den Vorwurf gefallen lassen müssen, in musikalischer Hinsicht, das heißt losgelöst vom Theater, nicht wirklich valide zu sein. Das hässliche Wort „Dilettantismus“ steht hier im Raum, aufgebracht von Thomas Mann in seiner Wagner-Schrift von 1933. Mann wörtlich: „Tatsächlich und nicht nur oberflächlich, sondern mit Leidenschaft und Bewunderung hingeblickt, kann man sagen, [...] daß Wagners Kunst ein mit höchster Willenskraft und Intelligenz monumentalisierter und ins Geniehafte getriebener Dilettantismus ist. Die Vereinigungsidee der Künste selbst hat etwas Dilettantisches und wäre ohne die mit höchster Kraft vollzogene Unterwerfung ihrer aller unter sein ungeheures Ausdrucksgenie im Dilettantischen steckengeblieben.“67

Nun ist es sicherlich eine unzulässige Pauschalisierung, zu behaupten, die „Vereinigungsidee der Künste selbst“ habe etwas Dilettantisches, wäre so doch jede zusammengesetzte Kunstform, also Oper, Film etc. per se dilettantisch zu nennen. Umgekehrt aber ist durchaus denkbar, dass im Bereich solcher zusammengesetzter Kunstformen ein Komponist Größtes zu leisten vermag, den man andernorts geradewegs als Dilettanten abtun würde. Wagner jedenfalls drängte womöglich auch deshalb früh zur Oper, weil ihn insgeheim Zweifel am eigenen „Standing“ in Sachen Musik umtrieben: Nicht nur, dass er keine verlässliche kompositorische Ausbildung absolviert hatte, er brachte auch nicht wie andere Komponisten seiner Zeit die Voraussetzungen mit, um zunächst als reisender Virtuose die Konzertsäle für sich zu gewinnen. Wie „stümperhaft“ sei er sich vorgekommen, gestand er im Rückblick, „als junger Mann, nur vier Jahre jünger als Mendelssohn, der ich erst mühsam anfing Musik zu treiben, während jener schon ein ganz fertiger Musiker war und auch als gesellschaftlicher Mensch die anderen völlig in die Tasche steckte.“68 Wagner zog also zweifellos die richtigen Konsequenzen aus dem, was ihm in die Wiege gelegt war. Die Furcht vor dem besagten „Stümpertum“ sollte ihn indes im Zuge des wachsenden Anspruchs an die eigenen Werke wieder einholen. Franz Liszt gegenüber klagte er im Frühjahr 1859, kurz vor Vollendung der Tristan-Partitur: „[...] ich armer Teufel habe [...] ganz und gar keine Routine, und wenn’s nicht von selbst geht, kann ich eben nichts machen. [...] Alles verrannt und versperrt!“ Und weiter im selben Brief: „Wie jämmerlich ich mich als Musiker fühle, kann ich Dir gar nicht stark genug versichern; aus Herzensgrunde halte ich mich für einen absoluten Stümper. Du solltest mich jetzt nur manchmal so dasitzen sehen, wenn ich so denke, ‚es muß doch gehen‘ – und dann an’s Klavier gerathe, und einigen miserablen Dreck zusammengreife, um dann blödsinnig es aufzugeben. Wie mir da zu Muth ist – ! welch’ innige Überzeugung von meiner eigentlichen musikalischen Lumpenhaftigkeit!“69

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Zu diesen inneren Kämpfen kam eine andere für Wagner zunehmend bedrückende Tatsache, nämlich die, dass man in der Musikwelt zwar seine Verdienste um das sogenannte „Gesamtkunstwerk“ würdigte, sein musikalisches Genie aber unter Verweis auf eben diese Verdienste relativierte. Diese Verkennung des Musikers Wagner durchzog, sehr zum Verdruss des Komponisten, nicht zuletzt die Publikationen der eigentlich wagnerfreundlichen Presse, nachzulesen etwa in einem Aufsatz von Franz Brendel, dem Schrift- und Redeführer der Neudeutschen Schule, geschrieben im Gründungsjahr 1859: „Bereits vor Jahren wurde von uns wiederholt gesagt, daß Wagner als Musiker allein sich nicht messen könne mit jenen alten Größen ersten Ranges gerade in dem, was diese groß machte und ihre Eigenthümlichkeit bezeichnet [...]. Der Schwerpunct seines Wesens aber liegt gar nicht darin, sondern in der Vereinigung der sonst getrennten Fähigkeiten, und in dieser Totalität ist [er] Genius ersten Ranges, wie nur irgendeiner seiner Vorgänger.“70

Wagner hatte Franz Brendel im Grunde schon Jahre zuvor signalisiert, dass er auf eine solche Sonderstellung jenseits klassischer Maßstäbe keinen Wert legt. 1853 hatte die Brendelsche Zeitung einen Aufsatz von Liszts Assistent Joachim Raff abgedruckt, dessen Quintessenz lautet: „Sehe man vor Allem, was Wagner will! Er postuliert ein Kunstwerk, welches sich von Hause aus außer Concurrenz aller übrigen stellt.“71 Höchst verärgert hatte Wagner seinerzeit eine Replik an Brendel gesandt, in der es heißt: „Bester Freund, wenn man ... solches Zeug liest, wie es Raff bei Ihnen zum Besten gegeben hat, da laß’ ich einfach die Hände sinken und sage mir: ‚Des Herrn Wille geschehe!‘“72 Dieser in den 1850er Jahren aufflammende Konflikt mit den Ideologen der Programmmusik muss auf den ersten Blick verwundern, schließlich hatte Wagner selbst in seinen frühen Schriften die Abdankung der Musik als autonomer Kunstform gefordert und stattdessen ein Kunstwerk ausgerufen, das die Gattungen der Kunst „als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten“ habe.73 Was war also geschehen? – Im Herbst 1854 war dem Komponisten „wie ein Himmelsgeschenk“74 Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ zugefallen, und dessen Musikauffassung begann sich allen entstehenden Widersprüchen zum Trotz schon bald in Wagners Denken einzunisten: Während noch Kant und Hegel der Musik einen eigenständigen Kunstcharakter absprachen und so im Grunde die neudeutsche Ideologie nobilitierten, entwarf Schopenhauer eine Hierarchie der Künste, in welcher die Musik unanfechtbar die Spitze einnimmt. Sie sei „das Herz der Dinge,“75 das „Panakeion [Allheilmittel] aller unserer Leiden“76, erklärte er, und es sei insbesondere „ein großer Mißgriff und eine arge Verkehrtheit“, wenn in der Oper der Text seine untergeordnete Stellung verlassen würde, „um sich zur Hauptsache und die Musik zum bloßen Mittel ihres Ausdrucks zu machen.“ 77 Dass

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solche Lehre sein bisheriges „fortschrittliches“ Ideengebäude in den Grundfesten erschütterte, konnte Wagner nicht entgagen sein und doch sog er sie geradezu auf. Der junge Nietzsche etwa berichtete 1868, wie Wagner, den er soeben erst in Leipzig kennengelernt hatte, zu ihm „mit ganz unbeschreiblicher Wärme“ von Schopenhauer geredet habe  – darüber, „was er ihm verdanke, [und] wie er der einzige Philosoph sei, der das Wesen der Musik erkannt habe!“78 Während die Neudeutsche Schule auf ihrem Leipziger „Gründungsparteitag“ also noch über Wagners einstmals propagierte „Verschmelzung der Künste“ diskutierte, hatte der Meister selbst längst allen Grund, sich von seinen frühen Theorien zu distanzieren. Insbesondere verblasste die Utopie des „Gesamtkunstwerkes“ zusehends. Wo immer der Komponist sich mit dem Zusammenwirken der Künste beschäftigte, verschoben sich die Gewichte nun merklich zu Gunsten der Musik, und nicht selten lief seine Argumentation auf die heikle Gratwanderung hinaus, einerseits dem Primat des Musikalischen das Wort zu reden, andererseits aber dem Musikdrama als dem ureigenen Spross Wagnerscher Denkart doch sein Fortbestehen zu sichern. In seiner Schrift „Über die Benennung ‚Musikdrama‘“ von 1872 tritt dieses Dilemma deutlich zu Tage. Die Musik, so Wagner, fühle sich jetzt berufen, „ihre alte Würde als Mutterschooß auch des Drama’s wieder einzunehmen.“ Und weiter: „In dieser Würde hat sie sich aber weder vor, noch hinter das Drama zu stellen: sie ist nicht sein Nebenbuhler, sondern seine Mutter. [...] was sie ist, das könnt Ihr stets nur ahnen; und deßhalb eröffnet sie Euren Blicken sich durch das scenische Gleichniß, wie die Mutter den Kindern die Mysterien der Religion durch die Erzählung der Legende vorführt.“79

Affirmation des Musikdramas und innere Distanzierung von ihm liegen hier nahe beieinander, denn eine Bühnenhandlung, die nur mehr „scenische[s] Gleichniß“ der Musik ist, ist in letzter Konsequenz entbehrlich und diskreditiert damit die Gattung selbst. – Sucht man die musikalische Verfasstheit von Wagners Meistersingern angemessen wahrzunehmen, wollen derlei Zusammenhänge bedacht sein. Die Meistersinger sind ihrem Wesen nach eine Künstleroper, ihr inhaltliches Herzstück ist eine umfängliche Abhandlung über Fragen der Ästhetik und des musikalischen Handwerks, und ihr Schöpfer war ein Komponist, der darum rang, als Musiker und nicht bloß als Erfinder einer genial-absonderlichen Hybridkreation namens „Gesamtkunstwerk“ wahrgenommen zu werden. Viel lag Wagner daran, sich und die Welt glauben zu machen, dass die überlegene Abgeklärtheit und Souveränität des musikalischen Schaffens, die er Hans Sachs andichtete, seine eigene wäre. Doch die Realität sah anders aus: „Mendelssohn würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er mich komponieren sähe“, bekannte er noch in späten Jahren Cosima gegenüber80

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und spielte damit unmittelbar auf das offenbar nie ganz überwundene Trauma seiner Jugend an. So lassen sich die Meistersinger und insbesondere Sachsens Schlussansprache „Ehrt mir die deutschen Meister“ auch als demonstrative Selbstvergewisserung Wagners verstehen, zu diesen „deutschen Meistern“ im höchsten Sinne dazuzugehören. „Hans Sachs“, so formulierte es Dahlhaus, „ist Wagners Selbstportrait als Klassiker.“81 Aufschlussreich ist, wie es dieser Großmeister Sachs mit dem Akademismus in der Kunst hält. Im dritten Akt lässt Wagner ihn erklären: „Der Regel Güte daraus man erwägt, daß sie auch „mal ’ne Ausnahm’ verträgt.“ Und im ersten Akt findet sich folgender kleiner Disput zwischen Sachs und Beckmesser: SACHS: Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach eurer Regeln Lauf, der eignen Spur vergessen, sucht davon erst die Regeln auf ! BECKMESSER: Aha, schon recht! Nun hört ihr’s doch: den Stümpern öffnet Sachs ein Loch,

Dilettantismus und Genie, so lernt man hier, sehen sich mitunter zum Verwechseln ähnlich, das heißt: Der vermeintliche „Stümper“ kann ebenso gut ein unverstandenes Genie sein. Die „zweite Unmittelbarkeit“ als Qualität großer Kunst wird mit dieser Denkfigur ins Spiel gebracht, gleichzeitig ist sie natürlich auch Legitimierung von Wagners „unakademischem“ Weg zur Meisterschaft oder, um mit Thomas Mann zu sprechen, seines „geniehaften Dilettantismus“. Insofern heißt es nicht, Wagner gering zu schätzen, wenn man konzediert, dass in der Anwendung von Fuge und Kontrapunkt im Falstaff und in den Meistersingern auch etwas vom unterschiedlichen musikalischen Bildungshorizont Verdis und Wagners spürbar wird. Verdi zeigt sich in der Schlussfuge des Falstaff als geschliffener Akademiker, der das Fugenprinzip mit Schwindel erregender Leichtigkeit und Präzision einzusetzen weiß. Er liefert hier zweifellos einen Gattungsbeitrag von einer Brillanz, die in Wagners Werk kein Gegenstück findet. Zwar rezipierte auch Wagner vor allem in späten Jahren intensiv Bachsche Fugen; so sprach Wolzogen in seinen Wagner-Erinnerungen einmal von der „unvergeßlichen allabendlichen Durchnahme des vollständigen ‚Wohltemperierten Klaviers‘ von Bach.“ Um Kontrapunkt ging es dabei aber wohl höchstens am Rande; vielmehr erinnert sich der Chronist vor allem der „ungemein treffenden Worte, wie sie Wagner aus dem unmittelbaren Eindrucke heraus jedem Präludium und jeder Fuge als poetische Deutungen hinzufügte.“82

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Man ahnt es: Selbst ein eigentlich naheliegender Vergleich wie der der Falstaff-Schlussfuge mit dem Finale des zweiten Aktes der Meistersinger, der sogenannten „Prügelfuge“, muss in rein formalästhetischer Hinsicht gewissermaßen ins Leere laufen; weder wollte noch konnte Wagner in aufrichtiger Weise einen derart „gelehrten“ Satz schreiben, wie Verdi es hier tat. Im Gegenteil, er hätte derlei wohl eher als eine jener „Stilmasken“ abgetan, deren Gebrauch er vor allem bei Brahms gerne anprangerte.83 Im Übrigen ist ja im Falle der Prügelfuge nicht nur die szenische Situation eine völlig andere als bei Verdi, sondern auch das formale Konzept. Während Verdi einen groß angelegten Formaufbau aus Themenphasen und Zwischenspielen gestaltet, orientiert sich die Prügelfuge im Grunde weniger am Konzept der Fuge als am Choralvorspiel Pachelbelscher Prägung,84 das heißt, es läuft ein durchimitierender Satz ab, in den – hier in Gestalt der Melodie von Beckmessers Ständchen – eine Reihe von Cantus-firmus-Zeilen eingeflochten sind. Die musikalische Wirkung dieses Stückes ist ambivalent. Zweifellos erfüllt es seinen theatralischen Zweck, den prügelnden Mob adäquat in Szene zu setzen. Das polyphone Geschehen allerdings erzielt eine eher pauschale flächige Wirkung und bleibt für den Hörer weithin ohne Interesse. Kontrapunktisch ist der einzige veritable Fugensatz der Meistersinger damit wenig mehr als das, was er darstellen soll, eine tumulthafte Massenveranstaltung. Eine andere Passage in der Meistersinger-Partitur hat in Sachen Kontrapunkt Berühmtheit erlangt, nämlich jene Stelle im Vorspiel – später aufge­ griffen in der Schlussansprache des Hans Sachs –, die eine kontrapunktische Verknüpfung des Hauptthemas der Meistersinger mit dem sogenannten Liebesthema präsentiert (Beispiel 22), in den Mittelstimmen noch hinterlegt mit der Diminution des Zunftthemas (nicht abgebildet). „[...] das Liebeslied tönt zu den Meisterweisen: Pedanterie und Poesie sind versöhnt,“ so charakterisiert Wagner selbst diese Passage.85

Beispiel 22: Meistersinger-Vorspiel, T. 167ff. (Rahmensatz)

So berückend allerdings diese Stelle sein mag, sie wird kaum Eingang in einen akademischen Kontrapunktlehrgang finden: In den Zusammenklängen ist sie von Quinten und Oktaven bestimmt, in der Phrasierung zum Teil von deckungsgleichen Vier- und Achttaktern, und ihr Rhythmus lässt eine kom-

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plementäre Gestaltung wie im barocken Kontrapunkt weitgehend vermissen – all dies aus Sicht des „strengen Satzes“ gewichtige Kritikpunkte, selbst wenn diese Themenkombination nie als zweistimmiger Kontrapunkt, sondern stets durch harmonische Füllstimmen ergänzt auftritt. Fazit: Hier gibt sich eine Musik kontrapunktisch, ohne es im engeren Sinne zu sein, und gerade so erfüllt sie ihre Aufgabe brillant. In den Meistersingern, obschon gewissermaßen Wagners polyphonstes Werk, werden also keineswegs Fuge und Kontrapunkt in ihre alten Rechte eingesetzt. Wahre Meisterschaft, so zeigt das vorangegangene Notenbeispiel, setzt sich souverän über jede übertriebene Pflichterfüllung in Sachen Kontrapunkt hinweg und pflegt ihr eigenes höchst freizügiges Verständnis von Polyphonie. Weniger die „strenge“ Schreibart der Alten Meister als vielmehr ein geschmeidiges Konzept quodlibethafter Gleichzeitigkeit melodischer Verläufe gibt hier den Ton an. Der eigentliche klassische Kontrapunkt wird im gleichen Atemzug desavouiert und der Lächerlichkeit preisgegeben: Indem Wagner es so einrichtet, dass gerade die nörgelnde Meistersingergilde sich mit Vorliebe im „gelehrten“ fugierten Stil artikuliert, so etwa in den Fugati „Scheint mir nicht der rechte“ (3. Akt, S. 354) und „Man ward nicht klug“ (1. Akt, S. 101), werden entsprechende Texturen zum Signum für Pedanterie und Akademismus. Solches Ironisieren musikalischer Topoi ist im Übrigen ein typisches Verfahren des Werkes und findet nicht nur bezogen auf die kontrapunktische Schreibart Anwendung. So greift Wagner hier auch ganz unvermittelt zu den ihm in Wahrheit verhassten Koloraturen, etwa bei Kothners Verlesen der Tabulatur im ersten Akt (S. 91f., „Ein jedes Meistergesanges Bar ...“), in Beckmessers lächerlichem Ständchen (2. Akt) oder schließlich in seinem entstellten Probelied (3. Akt). In diesem Ironisieren musikalischer Muster durch Wagner liegt geradezu ein Hauptunterschied zum musikalischen Konzept Verdis im Falstaff. Verdi nämlich ironisiert nicht die Musik – es sei denn diejenige Wagners; bei ihm gehört die Ironie, und davon ist im Falstaff ein gerüttelt Maß vorhanden, in der Regel einzig dem Bühnengeschehen an. Die Musik liefert die notwendigen Zwischentöne, sie ist die schärfste Waffe beim Zeichnen der grotesken Situationen und Charaktere des Stücks, doch sie behält stets ihre Würde und Noblesse. Dies trifft – man muss es im Vergleich mit Wagner betonen – auch und vor allem auf die Schlussfuge zu. Diese Buffo-Fuge ist von einer „akademischen“ Strenge, wie sie Wagner an keiner Stelle der Meistersinger erreicht, und doch entsteht dabei nicht der Eindruck eines plötzlichen Einbrechens von Starrsinn und Konservatismus. Vielmehr wirkt die Fuge wie eine Art höheres Prinzip, wie der Inbegriff des unabänderlichen Weltenlaufs, in dessen Angesicht die kleinlichen menschlichen Affären zu Trivialitäten schwinden, und sich

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alle Akteure schlagartig der tragikomischen Bedeutungslosigkeit ihres irdischen Daseins bewusst werden. Dieses Stück sei, so schrieb Verdi-Biograph Adolf Weissmann 1922, „das höchste Bekenntnis zur Form und gegen die Schule.“86

Dramaturgie in der komischen Oper In Verdis Enthusiasmus über das wunderbare Falstaff-Libretto, das Boito ihm vorgelegt hatte, gab es einen Wermutstropfen: „Schade,“ schrieb er im Juli 1889 an Boito, „daß sich das Interesse (nicht durch Eure Schuld) nicht bis zum Ende steigert. Der Höhepunkt liegt im Finale des zweiten Aktes; [...] Ich fürchte auch, daß der letzte Akt trotz dem etwas Phantastischen [...] klein ausfallen wird.“87 Dieser berechtigte Einwand berührte ein grundsätzliches Problem der komischen Oper, wie Boito in seiner Antwort klarstellte: „Der dritte Akt einer Komödie ist zweifellos immer der kälteste, und das ist für die Bühne eigentlich ein Nachteil. Das allgemeine Gesetz des komischen Theaters ist unglücklicherweise aber so. Beim tragischen Theater ist es genau umgekehrt: Das Herannahen einer Katastrophe in der Tragödie steigert die Aufmerksamkeit beträchtlich, weil sich ein schreckliches Ende vorausahnen läßt. Darum sind die letzten Akte einer Tragödie immer die besten. Wenn sich dagegen in der Komödie die Fäden entwirren, schwindet das Interesse erheblich, weil ja mit einem glücklich-heiteren Ende zu rechnen ist. [...] Sogar Shakespeare hat sich in seinen ‚Lustigen Weibern‘ diesem allgemeinen Gesetz nicht entziehen können. Bei Molière, Beaumarchais und Rossini ist es genauso. Die letzte Szene aus dem ‚Barbier von Sevilla‘ schien mir immer am wenigsten fesselnd. [...] In der Komödie gibt es einen Moment, in dem man sich im Zuschauerraum zuflüstert: ‚Es geht gut aus‘, – auf der Bühne aber geht das Spiel noch weiter.“88

An diesem Punkt stellt sich eine weitere, geradezu zwangsläufige Gemeinsamkeit zwischen dem Falstaff und den Meistersingern ein, denn naturgemäß konnten weder Verdi noch Wagner sich diesem „allgemeinen Gesetz“ der komischen Oper entziehen. Auch im Falstaff sei, so gab Boito zu, der dritte Akt „zweifellos der kälteste“. Man müsse ihn deshalb „etwas wärmer und flüssiger gestalten“, wobei insbesondere das „phantastisch-märchenhafte Element, das im übrigen Teil der Oper nicht vorkommt“, hilfreich sei.89 Zweifellos stellt auch in dieser Hinsicht die finale Fuge des Falstaff einen veritablen Kunstgriff dar, denn sie ist nicht nur konventionelles EnsembleFinale, sondern ruft gleichzeitig die großartige Schlussfugentradition der klas-

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sisch-romantischen Instrumentalmusik auf, der Verdi ja bereits im Schlusssatz seines Streichquartetts gefolgt war. Auf diese Weise erst kommt im Falstaff jene finale Konzentration der Kräfte ins Spiel, die der komischen Oper ihrer Natur nach fehlt. Ein letzter vergleichender Blick auf die Meistersinger zeigt, dass offensichtlich auch Wagner die drohende „Kälte“ des dritten Aktes fürchtete und ihr mit allen Mitteln zu entgehen suchte. Zuerst fällt hier die in jeder Hinsicht enorme Monumentalisierung des dritten Aktes auf. Insbesondere die finale Szene auf der Festwiese weist eine erhebliche Überlänge auf und stellt allein mit ihrem opulenten Chortableau alles Vorangegangene in den Schatten. Die eigentliche Lösung des dramaturgischen Problems fand Wagner indes erst in der Inkorporation der Entsagungssphäre in den Plot der Meistersinger. Erst jetzt erkannte er, „was in so etwas steckt!“90 – er opferte ein Stück weit das Konzept der komischen Oper und gestaltete stattdessen einen dritten Akt, der vor allem anderen die seelischen Untiefen der Sachs-Figur auslotet. Auf diese Weise bleibt eine Spannung bis zum Schluss, ja eigentlich über das Ende der Oper hinaus bestehen, denn der innere Konflikt des Hans Sachs ist im C-Dur-Jubel des Schlusses nicht gelöst, sondern allenfalls übertönt.

Anmerkungen 1 Die beiden glücklosen Frühwerke Das Liebesverbot (1836) und Un giorno di regno (1840) seien hier ausgeklammert. 2 Brief an Mathilde Wesendonk vom 22. Mai 1862, in: Richard Wagner an Mathilde Wesendonk. Tagebuchblätter und Briefe 1853–1871, 30. durchges. Auflage, Berlin 1906, S. 303. 3 Vgl. Einleitung „Falstaff“, in: Verdi/Boito. Briefwechsel, hrsg. und übersetzt von Hans Busch, Frankfurt/Main 1986, S. 352. 4 Damals schrieb Wagner: „Wie bei den Athenern ein heiteres Satyrspiel auf die Tragödie folgte, erschien mir [...] plötzlich das Bild eines komischen Spieles, das in Wahrheit als beziehungsvolles Satyrspiel meinem ‚Sängerkriege auf Wartburg‘ sich anschließen konnte. Es waren dies ‚die Meistersinger von Nürnberg‘ mit Hans Sachs an der Spitze“ (vgl. Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Zweiter Band, Leipzig 1905, S. 97). 5 Uraufgeführt wurden die Meistersinger am 21. Juni 1868 in München. 6 Brief an Gino Monaldi vom 3. Dezember 1890, in: Giuseppe Verdi. Briefe, hrsg. und eingeleitet von Franz Werfel, übersetzt von Paul Stefan, Berlin u.a. 1926, S. 343. 7 Noch im April 1890, als er die Arbeit an Falstaff schon begonnen hatte, bezeichnete Verdi öffentlich seine Entscheidung als unwiderruflich, dass Otello sein letztes Werk sei (vgl. John Rosselli, The live of Verdi, Cambridge 2000, S. 5). 8 Wiedergegeben nach dem Klavierauszug von Michele Saladino, Mailand: Ricordi [1886].

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  9 Boito an Verdi am 9. Juli 1889, in: Aus Briefen von und an Verdi, in: Guiseppe Verdi: Falstaff, Texte, Materialien, Kommentare, hrsg. von Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek 1986, S. 164. 10 Vgl. das spätere Kapitel Kontrapunkt/Polyphonie. 11 Mozarts Jupiter-Thema basiert auf einem altklassischen Soggetto-Typus, der sich seit J. J. Fux (1725) durch zahlreiche Kontrapunktschulen des 18. und 19. Jahrhunderts (beispielsweise bei Cherubini) tradierte und Verdi auch aus diesem Zusammenhang geläufig gewesen sein dürfte. Leopold Mozart verwendete zur Unterweisung seines Sohnes Wolfgang Fux’ Gradus ad Parnassum (1725), in dem sich der Cantus firmus findet, der zum Vorbild für das Jupiter-Finale wurde (vgl. Johann Joseph Fux, Gradus ad Parnassum, aus dem Lat. ins Teutsche übers., mit Anm. versehen und hrsg. von Lorenz Christoph Mizler, Leipzig, 1742, Nachdruck Hildesheim 2004, Tab. VI, Fig. 14/15, ferner: Luigi Cherubini, A Treatise on Counterpoint & Fugue, London 1854, S. 124, Cantus firmus No. 16). 12 1869 äußerte Verdi: „In meinem Hause gibt es fast keine Musik, ich bin nie in eine Musikbücherei gegangen [...] bin der ungebildetste Musiker von allen“ (zit. nach: Manfred Hermann Schmidt, „Il orrendo ,sol bemolle‘“. Zum Streichquartett von Giuseppe Verdi, in: Archiv für Musikwissenschaft, 59. Jahrgang, Heft 3 [2002], S. 222–243, hier S. 234). 13 Hans Kühner, Giuseppe Verdi, Reinbek 1961, S. 127. 14 Kühner, Verdi, S. 16. 15 Blanche Roosevelt, Verdi: Milan and „Othello“, London 1887, S. 12ff. 16 Marie Wieck, Halbschwester Clara Schumanns, besuchte Verdi im Winter 1877/78 in Genua und fand Bachs Wohltemperiertes Klavier aufgeschlagen auf seinem Flügel (A Visit by Maria Wieck to Verdi, in: Marcello Conati, Encounters with Verdi, transl. by Richard Stokes, London 1984, S. 124–130, hier S. 129). 17 Th. Helm berichtet, wie Verdi 1875 „im Archiv des Musikvereines vor allem Reliquien von [...] Beethoven, zu sehen begehrte und mit allen Zeichen tiefer Ergriffenheit die berühmte Eroica-Partitur [...] – vor der er noch überdies ehrfurchtsvoll den Hut zog! – förmlich neu studierte“ (Theodor Helm, Fünfzig Jahre Wiener Musikleben (1866–1916), hrsg. v. Max Schönherr, Wien 1977, S. 111). 18 Vgl. John Rosselli, The live of Verdi, Cambridge 2000, S. 22 (Übersetzung J.S.). 19 Springer spricht vom den Meistersingern mit ihrem, so wörtlich, „teilweise groben Mainzer-Karnevals-Humor, mit denen Verdis opus magnum manchmal – völlig unzutreffend – verglichen“ werde (Christian Springer, Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten, Berlin 2012, Kap. XV). 20 Vgl. Briefe vom 6., 7. und 10. Juli 1889 an Arrigo Boito, in: Verdi/Boito. Briefwechsel, S. 355ff. 21 „Ricordi [...] sent Puccini and Hohenstein to Bayreuth to plan the Milan production [...]. Puccini’s job was to make the ,merciless cuts‘ in the Wagner score that Ricordi demanded“ (Mary Jane Phillips-Matz, Puccini: A Biography, Boston 2002, S. 62). 22 Vgl. Jutta Toelle, Bühne der Stadt. Mailand und das Teatro alla Scala zwischen Risorgimento und Fin de Siècle, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 89. 23 Verdis Verhältnis zu Ricordi war keineswegs nur harmonisch. Mitunter konfrontierte er ihn  – so nach einer misslungenen Maskenball-Aufführung in Venedig

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1866 – ganz unverhohlen mit der vorzüglichen Arbeit Luccas: „Since we are able, as you say, to talk as one friend to another, allow me to tell you that I should not be at all unhappy if my operas were in the hands of someone who better looked after them. [...] The fact is that the operas of which Lucca is proprietor are always well performed, and with his three operas he now has the principal theatres of Italy in his hands“ (vgl. Frank Walker, The Man Verdi, New York 1962, S. 372). 24 Jürgen J. Leukel, Studien zu Puccinis „Il Trittico“, Il Tabarro, Suor Angelica, Gianni Schicchi, München 1983, S. 12. 25 Vgl. Wolfgang Osthoff, Verdi e Wagner, in: Francesco Degrada (Hrsg.), Giuseppe Verdi, l ’uomo, l ’opera, il mito, Genf und Mailand 2000, S. 115–123, hier S. 117. 26 Julian Budden, Verdi, Oxford 2008, S. 138. 27 Das Werk Wagners kennt Stücke vergleichbarer tonartlicher Geschlossenheit, etwa Holländer (d-Moll) oder Parsifal (As-Dur), die Regel ist dies indes nicht. Dasselbe gilt für Verdi: Aida, Don Carlos, Macbeth, um einige Hauptwerke zu nennen, enden nicht in ihrer jeweiligen Ausgangstonart. 28 Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713, S. 240. 29 „Le Mode majeur pris dans l‘Octave des Nottes, Ut, Ré ou La, convient aux Chants d’allégresse & de réjouissance“ ( Jean-Philippe Rameau, Traité de l’Harmonie, Paris 1722, S. 157). 30 Beredt ist hier auch das gleißende C-Dur im 3. Akt, 3. Szene von Wagners Siegfried – bei Brünnhildes Erwachen aus todesähnlichem Schlaf („Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht! Heil dir, leuchtender Tag!“). Diese Musik entstand direkt im Anschluss an die Meistersinger. 31 Die Instrumentation der Streicher stimmt, mit Ausnahme der Celli, exakt überein. 32 Felix Weingartner, Lebenserinnerungen, Erster Band, zweite, umgearbeitete Auflage mit 24 Abbildungen, Zürich 1928, S. 306f. 33 Vgl. Brief an Giulio Ricordi 1872, in: Verdi. Briefe, 1926, S. 265. 34 Den Notenbeispielen aus Wagners Meistersingern liegt, wenn nicht anders angegeben, der bei Schott erschienene Klavierauszug von Karl Tausig (Vorspiel: Hans v. Bülow) zugrunde (o. J. [1868]). Beispiele aus Verdis Falstaff stammen aus dem Ricordi-Klavierauszug von Mario Parenti (1964). 35 Richard Henning, Das Problem des Charakters der Tonarten, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, hrsg. von Max Dessoir, 12. Band, Stuttgart 1917, S. 35–68, hier S. 54. 36 Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hrsg. v. Ludwig Schubart, Wien 1806, S. 377. 37 Zu Vorformen bei Carl Maria von Weber vgl. Friedrich Wilhelm Jähns, Carl Maria von Weber in seinen Werken, Berlin 1871, S. 2. 38 So heißt es oft, nicht Wagner, sondern Brahms habe „den durchbrochenen Satz, die motivisch-thematische Arbeit“, und damit das Erbe Beethovens fortentwickelt, während die „Leitmotivtechnik [...] im Vergleich zu dieser Art der Formentwicklung ein primitiveres Verfahren“ sei (vgl. Hans Mayer, Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, Diskussion über Recht, Unrecht und Alternativen, in: Richard Wagner: Wie antisemitisch darf ein Künstler sein? in: Musikkonzepte 5, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1978, S. 55). 39 Benennung vom Verfasser.

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40 Hans von Wolzogen, Die Motive in Wagner’s „Götterdämmerung“, in: Musikalisches Wochenblatt VIII. Jahrg. No. 9. Leipzig, am 23. Februar 1877, S. 126. 41 Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 1967, 3. Aufl. 1976, S. 102. 42 Zum Zusammenhang zwischen Leitmotivik und Tonalität im Parsifal vgl. Johannes Schild, „‚...zum Raum wird hier die Zeit. ‘ Tonfelder in Wagners Parsifal“, in: Funktionale Analyse. Musik – Malerei – Antike Literatur. Kolloquium Paris, Stuttgart 2007, hrsg. von Bernhard Haas und Bruno Haas, Hildesheim u.a. 2010, S. 313–373. 43 Zur Kritik des Leitmotivverfahrens vgl. die bereits 1887 erschienene Arbeit von Heinrich Bulthaupt. Hier heißt es mit Blick auf Wagners Lohengrin: „Auch [...] das Mittel der sogenannten Leitmotive tritt hier ohne alle Aufdringlichkeit, [...] die dramatische Situation erhellend und verschärfend, aber niemals mechanisch auf“ (Heinrich Bulthaupt, Dramaturgie der Oper, Band 2, Leipzig 1887, S. 142). 44 Brief an Mathilde vom 22. Mai 1862, in: Wagner an Mathilde Wesendonk, 1906, S. 303. 45 „Als ich vor einem Monate Deinem Manne meinen Entschluss kundgab, den persönlichen Umgang mit euch abzubrechen, hatte ich dir – entsagt.“ (Brief an Mathilde vom 6. Juli 1858, in: Wagner an Mathilde Wesendonk, 1906, S. 26f.). 46 Brief an Mathilde vom Dezember 1861, in: Wagner an Mathilde Wesendonk, S. 293. 47 Brief an seine Schwester Kläre vom 20. August 1858, in: Wagner an Mathilde Wesendonk, Einleitung S. XXVI. 48 Vgl. Nors Sigurd Josephson, Zu Wagners stilistischen Nachahmungen, in: Musicologica Olomucensia 15, Olmütz Juni 2012, S. 53–78, hier S. 58. 49 Bemerkenswerterweise lautete der dritte Ton des Schusterliedes in der ersten Kompositionsskizze noch „g“, so dass die Ableitung des Schusterliedes aus dem umgekehrten Liebesthema sich womöglich noch unmittelbarer vollzog, als es die endgültige Gestalt der beiden Motive erkennen lässt. Zur frühen Skizze des Schusterliedes vgl. Jörg Linnenbrügger, Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“, Studien und Materialien zur Entstehungsgeschichte des ersten Aufzugs (1861–1866) (= Abhandlungen zur Musikgeschichte 8), Band II: Skizzenkataloge und Dokumente, Göttingen 2001, S. 74. 50 Zur Ausführung der Meistersinger zum Beispiel habe ihn, so Wagner, der Anblick der „Assunta“ von Tizian in Venedig inspiriert (November 1861). Schon auf der Rückreise habe er daraufhin „mit größter Deutlichkeit“ die Ouvertüre entworfen (vgl. Curt von Westernhagen, Richard Wagner: sein Werk, sein Wesen, seine Welt, Zürich 1956, S. 240). 51 Anstatt von einer Reihe wäre bei diesem und den beiden folgenden Beispielen präziser von einem Zwölfton-Feld zu sprechen. Dessen Binnenstruktur wird hier von zwei sechstönigen „Konstrukten“ (Albert Simon) gebildet, so wie es z.B. auch in Wagners Parsifal an mehreren Stellen geschieht (vgl. Bernhard Haas, Die neue Tonalität von Schubert bis Webern. Hören und Analysieren nach Albert Simon, Wilhelmshaven 2004; ferner: Johannes Schild, ‚...zum Raum wird hier die Zeit‘, hier S. 339, 353, 362f.). 52 Zur Wagners Rezeption der Faustsymphonie vgl. Wilhelm Kienzl, Aus Kunst und Leben. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1904, S. 275ff. 53 Vgl. Ernö Lendvai, Einführung in die Formen- und Harmoniewelt Bartóks [1953], in: Bence Szabolcsi (Hrsg.), Béla Bartók, Weg und Werk, Budapest 1957, S. 91–137, hier S. 114ff.

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54 Der Spitzenton des Akkordes (in Beispiel 11: d) ist ursprünglich Vorhalt. Später wächst ihm Grundtonqualität zu. Harmoniegeschichtlich lässt sich die Entstehung des Beta-Akkords bis in die Generation der Bach-Söhne zurückverfolgen. Einige Beispiele in chronologischer Folge: C. Ph. E. Bach, Sonate A-Dur Wq. 65/32, 2. Satz, T. 20; F. Schubert, Klaviersonate Es-Dur D 568, 2. Satz, T. 17; J. Brahms, Intermezzo op.118/6, T. 3; G. Mahler, Kindertotenlieder Nr. 1, T. 16; B. Bartók, Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug, 1. Satz, T. 26ff. 55 Notenbeispiel hier aus: Lothar Windsperger (Hrsg.), Richard Wagner. Das Buch der Motive, Mainz: Schott, ED 300/301. 56 Das Zitat erklingt einen Halbton tiefer als im Original und erscheint im Übrigen enharmonisch vereinfacht, das heißt, es ist – anders als in T. 2 des Tristan-Vorspiels – tatsächlich als ‚Halbverminderter Septakkord‘ notiert. 57 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, Frankfurt/M. 1952, Suhrkamp Taschenbuch 177, 1. Aufl. 1974, S. 59; s. auch: Johannes Schild, ‚...zum Raum wird hier die Zeit‘, hier S. 332f. 58 Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band II: 1878–1883 hrsg. von Martin GregorDellin und Dietrich Mack, München 1977, S. 264. 59 Vgl. Constantin Floros, Neue Thesen über Mahlers Zehnte Symphonie, in: Österreichische Musikzeitschrift Jg. 48/2, Februar 1993, S. 73–80, hier S. 75. 60 Orig. Wortlaut vgl. Piero Gelli (Hrsg.), Dizionario dell‘opera 2008, Mailand 2007, S. 438. 61 Brief an Arrigo Boito vom 18. August 1889, in: Verdi/Boito. Briefwechsel, S. 365. 62 Verdi am 20. Februar 1871 an Giuseppe Piroli, in: Verdi-Briefe, hrsg. und übersetzt von Hans Busch, Frankfurt a.M. 1979, S. 100f. 63 Verdi am 4. Januar 1871 an Francesco Florimo, in: Verdi. Briefe, 1926, S. 240f. 64 „[...] e nei tre anni passati con lui non ho fatto altro che canoni e fughe, fughe e canoni in tutte le salse.“ (Giuseppe Verdi/Aldo Oberdorfer, Giuseppe Verdi: autobiografia epistolare, Band 1, Pagano, 2001, S. 15, Übersetzung J.S.). 65 Vgl. Arthur Pougin, Verdi. Sein Leben und seine Werke, deutsch von Adolph Schulze, Leipzig 1887, S. 30f. 66 Adolf Weissmann, Verdi, in: Die Musik XIII. 1: 1. Oktoberheft 1913, S. 3–26, hier S. 22. 67 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners (1933), in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1974, S. 262–426, hier S. 375f. 68 Vgl. Hans von Wolzogen, Erinnerungen an Richard Wagner. Neue, um das Doppelte vergrößerte Ausgabe, Leipzig o.J., S. 32. 69 Brief an Franz Liszt, Luzern, 8. Mai 1859, in: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt, 2. Band (1854–1861), Leipzig 1887, S. 248f. 70 Franz Brendel, Franz Liszt als Symphoniker, Leipzig 1859, S. 46f. 71 Joachim Raff, An die Redaction der Neuen Zeitschrift für Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 38, Nr. 7, Leipzig 1853, S. 65–69, hier: S. 66. 72 Vgl. Peter Ramroth, Robert Schumann und Richard Wagner im geschichtsphilosophischen Urteil von Franz Brendel, Frankfurt 1991, S. 157. 73 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850, S. 46f. 74 Briefwechsel Wagner-Liszt, S. 45.

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75 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, zit. nach: Felix M. Gatz, Musik-Ästhetik in ihren Hauptrichtungen. Ein Quellenbuch der deutschen Musik-Ästhetik von Kant und der Frühromantik bis zur Gegenwart, Stuttgart 1929, S. 276. 76 Arthur Schopenhauer, Die Welt, S. 275. 77 Arthur Schopenhauer, Die Welt, S. 274. 78 Brief Friedrich Nietzsches an Erwin Rohde [Leipzig, 9. November 1868], in: Elisabeth Förster-Nietzsche und Fritz Schöll (Hrsg.), Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe, 2. Band, Berlin und Leipzig 1902, S. 83–92, hier S. 89f. 79 Richard Wagner, Über die Benennung „Musikdrama“ (1872), in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Dritte Auflage, Neunter Band, Leipzig 1898, S. 302– 308, hier: 305. 80 Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band I: 1869–1877 hrsg. von Martin Gregor-­ Dellin und Dietrich Mack, München 1976, S. 404. 81 Carl Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, Zürich und Schwäbisch Hall 1971, S. 70. 82 Vgl. Wolzogen, Erinnerungen an Wagner, S. 27. 83 „Ich kenne berühmte Komponisten, die ihr bei Konzert-Maskeraden heute in der Larve des Bänkelsängers [...], morgen mit der Halleluja-Perücke Händel’s, [...] und dann wieder als grundgediegenen Symphonisten in eine Numero Zehn verkleidet antreffen könnt“ (Richard Wagner, Über das Dichten und Komponieren (1872), in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Zehnter Band, Leipzig 1879, S. 181– 200, hier: 196). 84 Beschrieben etwa bei Hubert Parry als „[...] the type known as the Pachelbel Choralvorspiel“ (vgl. C. Hubert H. Parry, Johann Sebastian Bach: The Story of the Development of a great Personality, New York und London 1909, S. 380. 85 Richard Wagner, Erläuterung des Meistersinger-Vorspiels anlässlich der Aufführung in Löwenburg am 2. Dezember 1863 (vgl. Attila Csampai und Dietmar Holland [Hrsg.], Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek 1981, S. 153). 86 Adolf Weissmann, Verdi, Hamburg 2012 [Nachdruck der Originalausgabe von 1922], S. 203. 87 Brief an Arrigo Boito vom 6. Juli 1889, in: Verdi/Boito. Briefwechsel, S. 354. 88 Boito an Verdi am 7. Juli 1889, in: Aus Briefen von und an Verdi, S. 162f. 89 Ebd. 90 Vgl. Anm. 46.

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Zeitabläufe und „musikalische Zeit“ bei Verdi und Wagner1 „Die spezifisch musikalische Zeit ist die Zeit, die die Musik ganz für sich allein hat, die Zeit, die mit dem Erklingen der Musik entsteht und vergeht und die es sonst nirgends gibt.“2 Gleichermaßen bündig und leichtverständlich beschreibt Hans Heinrich Eggebrecht das faszinierende Phänomen der Zeit, das seit Menschengedenken alle Künste und Wissenschaften beschäftigt und das gerade in der Musik eine so zentrale Rolle spielt. Beim Hören von Musik sind wir innerhalb des realen Zeitablaufs (Eggebrecht nennt diese Zeit die „Uhrzeit“3) mehr oder weniger hilflos auch der „Zeit, die die Musik ganz für sich allein hat“ ausgeliefert, und so manche Kostbarkeit des musikalischen Ablaufs bleibt dem Ohr weitgehend vorbehalten, ja sogar verschlossen.4 Vergleichen wir beispielsweise zwei Modulationsabläufe miteinander  – beide ebenso komplex wie genial –, so empfinden wir diese Zeit, „die die Musik ganz für sich hat“ in ganz unterschiedlicher Weise: Antonín Dvořáks langsame Einleitung des zweiten Satzes (Largo) seiner 9. Symphonie e-Moll op. 95, beginnend mit einer faszinierenden Modulation von E-Dur nach Des-Dur, können wir bei entsprechender Kenntnis der Dur-Moll-tonalen Modulationslehre trotz ihrer Einmaligkeit relativ unproblematisch nachvollziehen, während jene atemberaubende Modulation in Wolfgang Amadeus Mozarts viertem Satz der Jupiter-Symphonie von H-Dur nach C-Dur allein wegen des schnellen Tempos zumindest beim ersten Hören nur sehr schwer nachvollziehbar ist. Wenn nun die „musikalische Zeit“, wie Eggebrecht sie definiert, mit einer Musik konfrontiert wird, die „zusätzlich“ Zeitabläufe innerhalb eines dramatischen Geschehens darstellen will, stellen sich uns zwei zentrale Fragen: 1. Welche unterschiedlichen musikalischen Zeiten gibt es in der Theatermusik, d.h. bei der musikalischen Darstellung des (bühnen-)dramatischen Geschehens? 2. Mit welchen Kompositionstechniken setzen Komponisten diese unterschiedlichen Zeiten in Musik um? Diese beiden Fragen an ausgewählten Beispielen im musikdramatischen Werk Giuseppe Verdis und Richard Wagners ansatzweise zu erörtern, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Zum Einstieg in das Thema hilft uns Richard Wagner, wenn er zunächst seinen dramatischen Stil in der Musik als konsequente Fortsetzung des Beethovenschen Stils beschreibt. In seinem 1879

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erschienenen Aufsatz Über die Anwendung des Dramas auf die Musik lesen wir: „Nur sei hier nochmals auf den Charakter hingewiesen, welcher durch die bezeichnete Grundlage ein für alle Male der Haydnschen wie der Beethovenschen Symphonie eingeprägt ist. Diesem gemäß ist das dramatische Pathos hier gänzlich ausgeschlossen, so dass die verzweigtesten Komplikationen der thematischen Motive eines Symphoniesatzes sich nie im Sinne einer dramatischen Handlung, sondern einzig möglich aus einer Verschlingung idealer Tanzfiguren, ohne jede etwa hinzugedachte rhetorische Dialektik, analogisch erklären lassen können.“5 Und wenig später fährt er fort: „Nun hat sich aber auch die tragische Muse wirklich der Oper bemächtigt. Mozart kannte sie nur noch unter der Maske der Metastasioschen ‚Opera seria‘: steif und trocken, – ‚Clemenza di Tito‘. Ihr wahres Antlitz scheint sie uns erst allmählich enthüllt zu haben: Beethoven ersah es noch nicht, und blieb ‚für seine Weise‘. Ich glaube erklären zu dürfen, dass mit dem vollen Ernste in der Erfassung der Tragödie und der Verwirklichung des Dramas durchaus neue Notwendigkeiten für die Musik hervorgetreten sind, über deren Anforderungen, gegenüber den dem Symphonisten für die Aufrechterhaltung der Reinheit seines Kunststiles gestellten, wir uns genaue Rechenschaft zu geben haben.“6 Die Weiterentwicklung des symphonischen Stils, wie ihn die von Wagner nahezu vergötterte Wiener Trias Haydn – Mozart – Beethoven vorbildlich geprägt hat, könne also nur in der von Wagner so entwickelten, programmatischen Instrumental-Musik stattfinden. Und diese findet ihre Vollendung auf der Bühne des Musikdramas: „Und hier, im so zu nennenden ‚musikalischen‘ Drama ist es nun, wo wir mit Besonnenheit klar und sicher über die Anwendung neugewonnener Fähigkeiten der Musik zur Ausbildung edler, unerschöpflich reicher Kunstformen uns Rechenschaft geben können.“7 Trotz aller Fortschrittlichkeit, derer sich Wagner schwelgerisch rühmt – nicht ohne spitze Bemerkungen gegenüber den „Symphonisten“ (s.o.)8 der Hochromantik, die seiner Meinung nach auf dem falschen Weg waren  – mahnt er mit Blick auf die musikalische Form gerne und immer wieder an die Vorbildfunktion der Wiener Klassik: „Dennoch muss die neue Form der dramatischen Musik, um wiederum als Musik ein Kunstwerk zu bilden, die Einheit des Symphoniesatzes aufweisen, und dies erreicht sie, wenn sie, im innigsten Zusammenhange mit demselben, über das ganze Drama sich erstreckt, nicht nur über einzelne kleinere, willkürlich herausgehobene Teile desselben. Diese Einheit gibt sich dann in einem das ganze Kunstwerk durchziehenden Gewebe von Grundthemen, welche sich, ähnlich wie im Symphoniesatze, gegenüberstehen, ergänzen, neu gestalten, trennen und verbinden; nur dass hier die ausgeführte und aufgeführte dramatische Handlung die Gesetze der Scheidungen und Verbindungen gibt, welche dort allerursprünglichst den Bewegungen des Tanzes entnommen waren.“9

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Soweit Auszüge aus Wagners Aufsatz, in dem mit Blick auf das anstehende Thema von der Gestaltung der „musikalischen Zeit“ nirgendwo ausdrücklich die Rede ist. Die kompositorische Umsetzung der „musikalischen Zeit“ war für ihn offensichtlich eine selbstverständliche Einbeziehung in jenes „musika­ lische Drama“, auf das im weiteren Verlauf näher eingegangen wird. Mit Götz Friedrich (1930–2000), dem Schüler von Walter Felsenstein, langjährigen Intendanten der Deutschen Oper Berlin und einem der intelligentesten und scharfsinnigsten Regisseure des Musiktheaters, betreten wir nun die Bühne der Musikdramen von Giuseppe Verdi und Richard Wagner – und begeben uns auf die Suche nach unterschiedlichen Zeiten innerhalb des musikalischen Dramas: „Die Oper erzählt aufregende, abenteuerliche Geschichten über Menschen. Durch die Musik und durch die dramatische Handlung werden menschliche Grundsituationen aufgedeckt und unmittelbar mitgeteilt.“10

„Hymnische“ Zeit: Musikalische Zeit der Lieder, Chöre und Hymnen Vergleichen wir Giuseppe Verdis Chorstelle aus dem ersten Akt der Aida (Chor der Minister und Hauptleute „Su, del Nilo al sacro lido accorrete, Egizii eroi“) mit dem Choreinsatz aus dem zweiten Aufzug von Richard Wagners („Freudig begrüßen wir die edle Halle“), so gibt es bei allen inhaltlichen Unterschieden – bei Aida handelt es sich eher um eine propagandistische Kriegshymne, während bei Tannhäuser ein (einstudierter) Jubelchor anlässlich des bevorstehenden Sängerfestes angestimmt wird – doch Übereinstimmungen in der musikalischen Zeit. Beide Chöre bewegen sich im fließenden 4/4-Takt (bei Wagner ist alla-breve-Takt vorgeschrieben), und zwar in der traditionellen Art, wie Hymnen und Oden bei außergewöhnlichen bzw. festlichen Anlässen angestimmt werden. (Dass dabei das jeweilige Tempo mit einem sehr breiten Gestaltungsspektrum aufwartet, wird beispielsweise deutlich bei einem Vergleich der englischen mit der französischen Nationalhymne.) Bei aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich der musikalischen Anlage sind beide erwähnten Hymnen „problemlos“ singbar, wobei Text und Inhalt verständlicherweise jeweils richtungsweisend für die Tempofrage sind. Im Eingangschor von Wagners Meistersingern wird nun diese zeitlich traditionell gestaltete Festlichkeit des Chorgesangs („Da zu dir der Heiland kam, willig deine Taufe nahm“) mit einer zweiten Zeitebene verbunden – und dies in einer außergewöhnlich wundersamen Art und Weise: Im 19. Jahrhundert wurden Choräle, bei denen die Gemeinde mitsang, außerordentlich langsam – und ebenso außerordentlich lautstark musiziert. Dies hatte zur Folge, dass die Organisten nach den einzelnen Choralfermaten kurze Orgelzwischenspiele

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einbauten, um der Gemeinde Gelegenheit zu geben, tief durchzuatmen und die nächste Choralzeile entsprechend innerlich „vorzubereiten“. Das Choralbuch der evangelischen Brüdergemeinde, 1841 in Nieskij (nahe Görlitz) erschienen, gibt beeindruckend Zeugnis von jenen kurzen Zwischenspielen, die den Organisten zur musikalischen (Aus-)Gestaltung dieser „Singpausen“ vorgeschlagen wurden und die je nach Bedarf beliebig erweitert werden konnten. Der bekennende Protestant Richard Wagner wird diese Praxis sicherlich gekannt haben; allerdings werden die Zwischenspiele im Eingangschor der Meistersinger von Wagner „umgewidmet“ und umfunktioniert zu einer Begleitmusik zu Walther von Stolzings und Evas Gebärdenspiel, in dem beide, die sich am Vorabend kennen gelernt und offensichtlich heftig ineinander verliebt haben, ihrer jungen Begeisterung füreinander Ausdruck verleihen. Verläuft der Choral, den die Gemeinde mit Begleitung der Orgel singt, also in der traditionellen Zeitempfindung des Choralgesangs (wobei Wagner Wert darauf legt, dass der Choral „Im Zeitmaß des Vorspiels“ also „Sehr mäßig bewegt“ gesungen wird), so schaltet die Zeitgestaltung bei den Zwischenspielen sofort in eine handlungsbezogene Funktion um und begleitet in bezaubernder Anmut das bereits erwähnte Gebärdenspiel von Eva und Stolzing (vgl. Beispiele 1 und 2). Bezeichnend für diese doppelte Zeitgestaltung ist obendrein die von Wagner vorgeschriebene, sich bei jedem Zwischenspiel ändernde Spielanweisung: dolce; Belebend – nachlassend; sehr ausdrucksvoll).11 Zur Veranschaulichung der Kunst, gleich mehrere „hymnische Zeiten“ einander anzureihen, sei – stellvertretend für viele andere Stellen bei Verdi und Wagner – das Duett zwischen Carlos und Rodrigue (Posa) aus Verdis Don Carlos angeführt: Seit langer Zeit ein unzertrennliches Freundespaar, geloben sich beide ewige Treue und ebensolche Solidarität bei dem heraufziehenden politischen Konflikt der angestrebten Unabhängigkeit Flanderns. Dazu komponiert Verdi ein patriotisches Volkslied, melodisch, rhythmisch, formal und harmonisch äußerst einfach konzipiert und von den beiden Sängern im kon­ sequent beibehaltenen Terzabstand gesungen. Nach der zweiten Strophe wird beider Gesang unterbrochen von einem wuchtigen Zwischenspiel, musiziert vom gesamten Orchester mit besonderer Hervorhebung der Blechbläser: Wir sehen König Philipp II. auf der Hinterbühne mit Elisabeth von Valois nebst prächtigem Gefolge zum Morgengottesdienst schreiten. Dabei ändert und öffnet sich das empfundene Zeitmaß von volksliedtypischer Gestaltung (Allegro assai moderato) ohne großen Tempowechsel zur majestätischen Begleitmusik einer Zeremonie. Diese Musik funktioniert wie ein höfisches Ritual und teilt unverhohlen absolutistische Macht mit, nicht zuletzt durch das sequenzartige Fortspinnen der musikalischen Thematik, die lediglich dimuendo ausgeblendet wird und somit nur an Lautstärke, nicht aber an Wucht und Mächtigkeit verliert. Nachdem das Königspaar die Bühne in Richtung der

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Beispiel 1: Aus dem Choralbuch

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Beispiel 2: Die Meistersinger von Nürnberg

Schlosskapelle verlassen hat, erklingt aus der Tiefe des Klostergewölbes jener düstere, vergleichsweise statische Chorgesang der Mönche herauf, der im Vergleich zu den vorangegangenen Tönen bedrohlichen Handlungsstillstand und geheimnisvolle Mystik kundtut. Und in den unerschütterlichen Gesang der Mönche entlädt sich unvermittelt eine „neue“ Zeit: In plötzlich hereinbre-

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chendem Allegro vivo und eingebunden in eine heftigst eintretende Stretta besiegeln Don Carlos und Rodrigue erneut, diesmal mit noch größerer Leidenschaft, ihre gemeinsame Sache.

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Beispiel 3: Don Carlo

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„Musikalischer Sekundenstil“ Der Begriff „Sekundenstil“ stammt aus der Literaturwissenschaft und beschreibt den möglichst realitätsgetreuen Ablauf der dramatischen Handlung. Arno Holz (1863–1929) und Johannes Schlaf (1862–1941) gehören zu den wichtigsten Vertretern dieser Darstellungsform des gesprochenen Dramas. Im Drama des Naturalismus steht neben dem möglichst realistisch gestalteten Milieu des jeweiligen Schauplatzes vor allem die zeitlich minutiöse Gestaltung des Handlungsablaufs im Mittelpunkt. In der Oper und im Musikdrama gibt es – verständlicherweise – unendlich viele Momente des besagten Sekundenstils. Und trotzdem fallen eben jene minutiösen musikalischen Beschreibungen besonders dann auf, wenn sie nahezu plakativ, oft auch unerwartet auftreten und wenn akustische Effekte wie etwa Glockengeläut (Don Carlos, Otello, Tannhäuser, Lohengrin, Parsifal u.a.), Donner und Blitz, berstende Segel (Otello), Hammerschläge auf Schusters Leisten (Meistersinger), schmelzende und neu geschmiedete Schwertstücke (Siegfried), Waffengeklirr oder zusammenbrechende Hallen (Götterdämmerung) in eindrucksvoller Weise mit entsprechenden akustischen Instrumenten erzeugt und in den Orchesterklang integriert werden. Musikalischer Sekundenstil wird allerdings besonders deutlich erlebbar, wenn er unmittelbar anderen Zeitmaßen gegenübergestellt wird. Als Beispiel für eine ganz besondere (und vielleicht einmalige) Verwendung dieser Zeitgestaltung gilt sicherlich die Briefszene aus Giuseppe Verdis La traviata (IV/4): Hier lässt Verdi die Hauptdarstellerin Violetta Valery den von Vater Giorgio Germont erhaltenen Brief gesprochen vortragen – und zwar in eben demselben Zeitmaß, wie Menschen in tiefster Verzweiflung einen Brief mit außergewöhnlichem Inhalt lesen.12 Besondere Tragik erfährt diese Stelle zusätzlich durch das begleitende Orchester: Das uns längst vertraute traumhafte Sehnsuchtsmotiv wird – in einer ganz anders empfundenen Zeit – von der Solovioline gespielt und dabei vom dreifach piano begleitenden Orchester getragen (vgl. Beispiel 4). In Wagners Rheingold erfahren und erleben kurz vor Ende des „Vorabends“ alle Götter die verheerende Wirkung von Alberichs Fluch, wenn der Riese Fafner seinen Bruder Fasold im Streit um Ring und Hort nach kurzem Wortgefecht mit einem seiner Pfähle erschlägt. Buchstäblich im Sekundenstil hören wir die furchtbaren Schläge, mit denen Fafner den Bruderzwist klärt –, und einzig der Pauke hat Wagner die Erledigung dieses unappetitlichen Moments anvertraut. Danach lesen wir in der Partitur bzw. im Klavierauszug: „Alle Götter stehen entsetzt: feierliches Schweigen“. Und mit aller gebotenen Deutlichkeit erklingt dann in diese lähmende Stille, von den Posaunen machtvoll unisono vorgetragen, das Fluchmotiv, gleichermaßen Klang gewordene logische Schlussfolgerung und unmissverständliche und furchtbare Verkündung einer wenig frohen Zukunft der Ring-Geschichte. Aus der äußeren Handlung wech-

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Beispiel 4: La traviata

selt die Szene und mit ihr die Musik unvermittelt in die innere über: Wir – die Zuschauer  – blicken entsetzt in das Innenleben der Götter und halten den Atem an mit Blick auf das, was gerade an Furchtbarem passiert ist – und es entsteht für ganz kurze Zeit ein lähmender „Stillstand“, eine ganz besondere musikalische Zeit, von der später noch ausführlicher die Rede sein wird. Musikalischer Sekundenstil hat Giuseppe Verdis und Richard Wagners schier unversiegbare Phantasie bezüglich der musikalischen Umsetzung in besonderem Maße und zu außergewöhnlichen „Ergebnissen“ beflügelt. Aus der Fülle dieser jeweils einzigartigen Momente im musikdramatischen Schaffen beider seien – als Anregung zu weiterer Auseinandersetzung – kurz zwei weitere Momente vorgestellt:

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Im vierten Akt des Otello, nach dem ergreifenden „Lied von der Weide“, auf das später noch eingegangen wird, und dem sich anschließenden Abendgebet bettet sich Desdemona – in banger Erwartung schrecklichster Dinge, die sie ahnt, aber noch nicht weiß – zur Nachtruhe. Durch das Fenster weht der laue Abendwind und lässt die Vorhänge sanft im Winde sich bewegen. Dann tritt Otello auf – mit der festen Absicht, Desdemona zu töten, obwohl er sie dennoch und immer noch innigst liebt. Giuseppe Verdi gestaltet diesen Auftritt Otellos, der in der Katastrophe enden wird, in düsteren Kontrabass-Passagen, die immer wieder unterbrochen werden von unheilvollen Schlägen der großen Trommel. Die Regieanweisung findet in reinstem Sekundenstil statt – die hier des besseren Verständnisses wegen in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird: „Bei der ersten Note tritt Otello durch die geheime Tür ein. – Er kommt näher, – legt einen Säbel auf den Tisch, – verweilt vor dem Licht, unschlüssig, ob er es auslöschen soll oder nicht, – betrachtet Desdemona, – bläst das Licht aus, – macht eine wütende Gebärde, – nähert sich dem Bette, – bleibt stehen, – hebt den Vorhang auf und betrachtet lange die schlafende Desdemona, – küsst Desdemona, küsst sie wieder, – zum dritten Male.“ Noch erwähnt sei an dieser Stelle der ständige Wechsel der Musik von äußerer zu innerer Handlung: Die einzelnen Körperbewegungen Otellos verlaufen unmittelbar parallel zu der musikalischen Beschreibung der inneren Befindlichkeit Otellos, bei dem sich „wütende Gebärde“ mit langer Betrachtung der schlafenden Desdemona abwechseln. Ein anderes Beispiel bietet der dritte Aufzug des Parsifal: Nachdem Gurnemanz die in Winterstarre und tiefen Schlaf verfallene Kundry zu neuem Leben erweckt hat, erhebt sich diese und tut nach langer Schlafenszeit mühevoll ihre ersten Schritte. Wagner setzt diese noch unbeholfenen Bewegungen Kundrys unmittelbar in Töne um – und mehr noch: In der Partitur (bzw. im Klavierauszug) sind mit zwei kleinen Kreuzchen die ersten Schritte Kundrys im Sekundenstil vorgeschrieben, zu denen Wagner nach Aussage von Felix Mottl13 folgende Regieanweisung gegeben hat: „Erster Schritt – stupid gehend, wie eine verschlafene Magd. – Zweiter Schritt. – Kundry, wie sich besinnend. Sie sieht Gurnemanz gar nicht an.“ Und vier Takte später hören wir sogar, wenn Kundry zum ersten Mal Blickkontakt mit Gurnemanz aufnimmt: „Hier wendet sich Kundry und blickt Gurnemanz teilnahmslos an. Sie hat keine Erinnerung an das Vergangene“, schreibt Wagner für diesen Moment als Regieanweisung vor.

„Geraffte“ Zeit In den Bereich der gerafften Zeitgestaltung fallen zunächst alle Erzählungen, Schilderungen und Zusammenfassungen, die im Ablauf einer Oper oder eines Musikdramas den am Geschehen beteiligten Personen der Handlung und

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obendrein dem Zuschauer und Zuhörer vermittelt werden. Vor der Analyse ausgewählter Beispiele für diese Art der Zeitgestaltung sei darauf hingewiesen, dass wir bei allen Bühnenwerken die jeweilige Gesamtzeit der Handlung berücksichtigen müssen. Und da gibt es bei der nüchtern, nahezu tabellarisch aufgelisteten Zeitbemessung einiger Bühnenwerke erstaunliche und kuriose Phänomene – und größte Unterschiede. Der gebotenen Kürze wegen werden hier nur einige Zeitbestimmungen unternommen: Alle drei Akte in La traviata sind zeitlich genau vorgeschrieben und spielen sich innerhalb einer Zeitspanne von insgesamt ca. vier Monaten ab – vom Oktober bis zum Februar des folgenden Jahres. Hinzu kommt das singuläre Phänomen, dass der Krankheitsverlauf von Violetta, ein hoffnungsloser Kampf gegen die Zeit, eine Art „Innere Uhr“ bedeutet. Bereits im ersten Akt kündigt sich ihre Schwindsucht an, und fortan wird die tückische Krankheit sie begleiten – und besiegen. Der erste Aufzug des Tannhäuser spielt im Frühling, wie dem Gesang des Jungen Hirten zu entnehmen ist („Frau Holda kam aus dem Berg hervor ...“), der zweite Aufzug (Sängerkrieg) spielt unmittelbar im Anschluss an den ersten Aufzug, denn der Landgraf verweist im Finale des zweiten Aufzuges auf die Pilger, die gerade ihre Wallfahrt nach Rom begonnen haben – und deren frommen Pilgerchor haben wir im ersten Aufzug vernommen. Der dritte Aufzug spielt im folgenden Herbst: „... schon fällt das Laub, die Heimkehr (der Pilger) steht bevor“, singt Wolfram von Eschenbach kurz nach Öffnen des Vorhangs. Zwischen Prolog und Finale des Schlussaktes von Verdis Simone Boccanegra liegen 25 Jahre. Besonders interessant erscheint hier die Tatsache, dass die Handlung nicht kontinuierlich 25 Jahre rafft, sondern dass nur zwischen dem Prolog und der eigentlichen Handlung, die ab dem ersten Akt beginnt, 25 Jahre verstrichen sind. Die Haupthandlung verläuft dann vergleichsweise in nur wenigen Stunden. Selten begegnet uns ein so komplexes Werk von so kurzer Handlungszeit, und selten werden wir mit so genauen Uhrzeiten, wie sie in den Meistersingern buchstäblich „durchgesagt“ werden, konfrontiert. Der erste Aufzug spielt mit ziemlicher Sicherheit in den späten Nachmittagsstunden des 23. Juni, dem Vorabend des Johannisfestes (24. Juni). Der zweite Aufzug beginnt am Abend desselben Tages, und gleich zweimal wird die Uhrzeit im Sekundenstil vom Nachtwächter punktgenau verkündet: „Hört, ihr Leut’ und lasst euch sagen, die Glock’ hat zehn (bzw. eilfe) geschlagen ...“ Der dritte Aufzug beginnt in der von der Morgensonne des 24. Juni erfüllten Schusterstube des Hans Sachs, und die Ereignisse auf der Festwiese spielen am Mittag oder am frühen Nachmittag desselben Tages vor den Toren der Stadt Nürnberg. Verwundert und fasziniert stellen wir fest, dass eine so lange Oper – mit der reinen Spielzeit von ca. 4 ½ Stunden – so wenig Handlungszeit hat.

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Mit besonderem Fokus auf das eigentliche Drama zwischen Radames und Aida – und der dazu parallel verlaufenden dramatischen Handlung zwischen Radames, Aida und Amneris – verzichtet Verdi auf eine genaue Zeitbemessung in seiner drittletzten Oper. Der Krieg zwischen Ägypten und Äthiopien, der zwischen dem ersten und zweiten Akt stattfindet, wird zeitlich nicht näher eingegrenzt. Somit verzichtet Verdi zu Beginn des zweiten Aktes auf ein ­längeres Orchestervorspiel, welches den Kriegsverlauf und die bis dahin verstrichene Zeit hätte raffen können. Liebesdrama und Gewissenskonflikt, Eifersucht und Seelenzwiespalt sind die zentralen Themen in Verdis Meisterwerk – und offensichtlich wollten Dichter und Komponist diese ergreifende Geschichte so „zeitlos“ (!) wie möglich erzählen ... Auch in Tristan und Isolde gibt es seitens der Regieanweisung nur ganz vage – und erst recht keinerlei genaue – Zeitbestimmungen. Zwischen dem ersten und zweiten Aufzug liegen vermutlich wenige Tage oder Wochen, die aus der Sicht der Liebenden allerdings Ewigkeiten bedeuten: Isolde singt nach der stürmischen Begrüßung Tristans die Worte: „O Freundesfeindin, böse Ferne! Träger Zeiten zögernde Länge!“ Detaillierter beschriebene Zeitintervalle suchen wir indes vergeblich. Wie noch zu zeigen sein wird, sind in dem gesamten Bühnenwerk (von Wagner einmalig als „Handlung in drei Aufzügen“ genannt) sämtliche Zeitangaben äußerst zurückhaltend verwendet. Zwischen dem zweiten und dritten Aufzug ist sicherlich viel Zeit vergangen, gleichwohl suchen wir auch hier vergeblich nach genauen Zeitangaben. Wie Verdi in Aida verzichtet Wagner unter Berücksichtigung der eigentlichen Handlung zwischen Tristan und Isolde auch hier offensichtlich auf eine zeitlich genauere Eingrenzung, die mit Blick auf das Nachtstück Tristan und Isolde vielleicht sogar überflüssig ist, ja nahezu profan anmuten würde. Die Kurzbeschreibung der Handlungszeitläufe einzelner Bühnenwerke ließe sich beliebig fortsetzen. Wenden wir den Blick und das musikalische Gehör nun aber auf detaillierte Zeitraffungen und versuchen, entsprechend verarbeitete Kompositionstechniken zumindest ansatzweise zu analysieren. In der ersten Szene des ersten Aufzugs der Walküre begegnet uns in besonders ergreifender Weise jener schon besprochene Sekundenstil: Wenn sich Siegmund gegen Ende dieser Szene, nachdem er die gleichermaßen bedrückende und bedrohliche Atmosphäre im Hause Hundings erfahren und erkannt hat, entscheidet, auf des Hauses Hüter zu warten, verbindet Wagner in einem der zartesten Kontrapunkte des gesamten ersten Aufzuges alle Motive, die das Orchester bis dahin zur musikalischen Beschreibung des Geschwisterpaares Siegmund und Sieglinde entwickelt hat. Wir wissen nicht, wie lange das Wälsungenpaar, das allerdings noch nichts voneinander weiß, auf Hunding wartet, die Regieanweisung konzentriert sich lediglich auf das Gebärdenspiel von Siegmund und Sieglinde: „Er (Siegmund) lehnt sich an den Herd; sein

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Blick haftet mit ruhiger und entschlossener Teilnahme an Sieglinde: diese hebt langsam das Auge wieder zu ihm auf. Beide blicken sich in tiefem Schweigen mit dem Ausdruck höchster Ergriffenheit in die Augen.“ Musikalisch verwendet Wagner an dieser Stelle von den Leitmotiven abgeleitete Sequenzen, die dem Hörer jene angenehme Hörweise des Wissens, wie es musikalisch (vermutlich) weitergeht, vermittelt. Bezüglich der musikalischen Zeitgestaltung tritt somit jene wundersame Wirkung der Gleichzeitigkeit von Stillstand und Zeitablauf ein. Und am Ende dieser Passage schlägt die Zeitgestaltung plötzlich von geraffter Zeit zu unmittelbarem Sekundenstil um: „Sieglinde fährt plötzlich auf, lauscht und hört Hunding, der sein Ross außen zum Stall führt. Sie geht hastig zur Tür und öffnet. – (...)“ heißt es in der Regieanweisung, und alle diese Ahnungen und Bewegungen – bis zum Aufreißen der Wohnungstüre – werden unmittelbar vom Orchester geschildert. Bei der Frage, mit welchen kompositorischen Mitteln Wagner die Wartezeit in Töne umsetzt, spielt die jeweilige Instrumentation eine entscheidende Rolle. In den wenigen Takten, um die es hier geht, musizieren durchgehend mit Ausnahme der Bratschen alle Streicher und vier Hörner. Die einzelnen Motive werden allerdings abwechselnd von Solo-Oboe, Englisch Horn, zwei Klarinetten und Solofagott intoniert, zunächst lediglich in kurzen, zwei bis vier Takte dauernden Phrasen, dann aber im gemeinsamen Spiel in einer achttaktigen Phrase, aus der sich die vier Hörner nach und nach ausblenden. Diese meisterhaft instrumentierte Stelle kann als ein besonders anschauliches Beispiel für geraffte, musikalische Zeit gelten (vgl. Beispiel 5). Interessant erscheint mit Blick auf diese so außergewöhnlich sensibel instrumentierte Stelle ein Ausspruch Wagners, den Cosima Wagner in ihr Tagebuch aufgenommen hat. Sie schreibt über den 31. Mai 1874, als Wagner in der Villa Wahnfried an der Instrumentation der Götterdämmerung arbeitete: „(...) Richard arbeitete, sagt mir aber, er gebrauchte völlig ein zweites Orchester, um seine Gedanken ganz wie er es möchte auszudrücken. Er spricht von dem Thema, welches Brünnhilde’s Seelenstimmung darstellt, während Siegfried im ungestümen Jubel im zweiten Akt davoneilt. ‚Es ist bei mir nicht die Sucht Effekte hervorzubringen, sondern immer andere Instrumente hinzutreten zu lassen, um mit den anderen abzuwechseln; keine Virtuosenspiele treiben.‘“14 Vielleicht hätte Wagner mit jenem „zweiten Orchester“ die eine oder andere Stelle ganz anders bzw. noch farbiger instrumentiert. Einen der vielleicht ergreifendsten Momente der gesamten Opernliteratur, in der musikalischer Sekundenstil und „geraffte“ Zeit zusammengeführt werden, erleben wir in der ersten Szene des vierten Aufzuges von Verdis Otello. Desdemona, von bösen Vorahnungen erfüllt und gequält, bittet Emilia, Brautkleid und -schleier bereitzulegen. Dann schweift sie aus der Gegenwart in die Vergangenheit ab und erzählt die traurige Geschichte von der Magt ihrer

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Beispiel 5: Die Walküre

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Mutter, das sogenannte „Lied von der Weide“: „Piangea cantando nell’erma landa, piangea la me sta O Salce! Salce! Salce!“ („Es sang ein Mäg­delein auf öder Heide, verging in Tränen. O Weide! Weide! Weide!“). Der Moment dieser Rückbesinnung auf vergangene Zeiten, in denen Desdemona die Geschichte von ihrer Mutter erfuhr, wird musikalisch durch ein kleines, zartes Andante mosso umgesetzt, das brillant und höchstsensibel für die Holzbläser instrumentiert ist und fortan die ganze Szene hindurch immer wieder als Mittel der Zeitversetzung von der Gegenwart in die Vergangenheit verwendet wird. Und am Ende des „Liedes von der Weide“ hat die Gegenwart Desdemona eingeholt: Überwältigt von ihrer Traurigkeit gerät Desdemona unvermittelt in Angst und Schrecken und glaubt, unheilvolle Geräusche zu hören. Dann beruhigt sie sich wieder, verabschiedet sich zu den Nachklängen des alten Liedes von Emilia und wendet sich dem Abendgebet zu. Die Aufführung dieser Stelle verdeutlichte neben den „unterschiedlichen“ Zeitgestaltungen, wie sehr das Englischhorn an dieser Stelle zum entscheidenden Vermittler zwischen Orchestergraben und Bühne  – und „Schalthebel“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart – wird. Hierzu schreibt Klaus Angermann: „Neu am Otello ist vielmehr die Flexibilität, die das Orchester im Verhältnis zur Szene gewinnt, und die im Falstaff noch einmal gesteigert wird. Die endgültige Emanzipation vom Kanon traditioneller Opernformen eröffnete Verdi neue Möglichkeiten musikalisch-dramatischer Gestaltung, indem nun jede kleinste Nuance des dramatischen Geschehens kompositorisch nachvollzogen werden konnte. Musikalische Typen, die Register des Gesangs sind damit jederzeit bruchlos ineinander überführbar; prinzipiell sind rezitativische und ariose Teile nicht mehr voneinander geschieden. Bei aller dadurch errungenen Freiheit hält aber Verdi auch und gerade in den Spätwerken am Konzept einer dramatisch motivierten Musik fest; es gibt keinerlei Tendenzen einer symphonischen Verselbständigung. Im Grunde ist diese Entwicklung eine logische Konsequenz aus Verdis räumlich-gestischem Orchester der früheren Jahre. Die Geschmeidigkeit, mit der das Orchester die Szene mit teils sehr ungewöhnlichen und drastischen Effekten begleitet, macht fast jede Regieanweisung überflüssig.“15 „Geraffte“ Zeit erleben wir bei Wagner, wie schon angedeutet, besonders ausdrucksstark bei Erzählungen, die durchaus lange Zeitphasen zusammenfassen. Die Romerzählung aus Tannhäuser schildert viele Wochen von Tannhäusers tragischer und gescheiterter Pilgerfahrt und wird zum dramatischen Höhepunkt des dritten Aufzugs; Kundrys Erzählung aus dem zweiten Aufzug des Parsifal beschreibt und rafft Parsifals Leben von der Geburt mindestens bis zum 16. oder gar 18. Lebensjahr; Waltrautes Erzählung aus dem ersten Aufzug der Götterdämmerung fasst einen sehr langen Zeitraum zusammen: „So sitzt er, sagt kein Wort, auf hehrem Sitze stumm und ernst; des Speeres Splitter fest in

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der Faust“, erzählt Waltraute über ihren Vater Wotan – und allein dieser Ausspruch lässt vermuten, dass zwischenzeitlich viel Zeit vergangen ist. Nicht unerwähnt bleiben soll eine der kürzesten gerafften Zeitbeschreibungen: In der ersten Szene des dritten Aufzugs der Walküre erzählt Brünnhilde in buchstäblich höchster Eile ihren Schwestern die Geschehnisse um Siegmunds Tod und von der Flucht vor ihrem Vater Wotan. Streng im Zeitmaß, jedoch lebhaft im Tempo und innerhalb weniger Sekunden erfahren die Walküren, was die Zuschauer am Ende des zweiten Aufzuges (im Sekundenstil!) erlebt haben. Dabei begleitet das Orchester lediglich und unerbittlich genau mit überwiegend heftigen Akkordeinwürfen diese an Dramatik kaum zu überbietende Szene.

„Gedehnte“ Zeit Gedehnte Zeit ist eine besondere Form der gerafften Zeit: Sie will Ewigkeiten der Gegenwart oder der Vergangenheit beschreiben – und dieser Ewigkeiten gibt es in ganz unterschiedlicher Art und Weise mannigfaltig viele in den Bühnenwerken von Giuseppe Verdi und Richard Wagner. Ein erstes Beispiel dafür finden wir wiederum in Don Carlos: Der Titelheld ist nach den dramatischen Ereignissen während der Autodafé-Szene von seinem Vater Phillip II. verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden. Dort harrt er mutlos und verzweifelt aus, und dort besucht ihn sein Freund Rodrigue, um sich von ihm zu verabschieden – nicht wissend, dass er in Kürze heimtückisch Opfer der Inquisition wird. Das Orchestervorspiel zu dieser bedrückenden und ergreifenden Szene beschreibt uns die nicht näher beschriebene Zeit, die Don Carlos im Gefängnis bereits verbracht hat. Die Musik rafft hier in gleichermaßen einfacher und deswegen umso faszinierenderer Art und Weise diese lange Zeit: Die Tonika C-Dur pendelt drei Takte lang im wiegenden 3/4-Takt (pesante) zwischen C-Dur (Grundstellung, Terzlage) und a-Moll (Sextakkord, Quintlage). Es gibt keinerlei Melodie, und die Oberstimme verleiht dieser Szeneneinleitung mit dem unveränderten zentralen Ton e durch Betonung der ungeraden Zählzeiten „2 und“ und „3 und“ eine eindringliche, nahezu quälende Klangkulisse. Nach drei Takten wird dieselbe Satztechnik auf die dritte Stufe transponiert: Nunmehr wechseln e-Moll und C-Dur in derselben Unerbittlichkeit, allerdings lediglich zwei Takte lang, bevor im sechsten Takt der Orchestereinleitung G-Dur, die Dominante von C-Dur, erreicht wird, die nun allerdings mit der zweiten Stufe d-Moll wechselt. Diese Harmonik, obwohl sie innerhalb der Tonart C-Dur „streng“ der Stufentheorie folgt, erreicht mit einfachsten Mitteln eine Stimmung von Perspektivlosigkeit, Traurigkeit und buchstäblicher Langeweile, die zudem geprägt ist von Angst und Ungewissheit. Wie so oft bei

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Verdi, erfahren wir auch hier keine genauen Zeitangaben. Bemerkenswert ist, wie Verdi die traditionelle achttaktige Phrase bei dieser Einleitung nicht in die üblichen „2 mal 4 Takte“, sondern mit Blick auf gedehnte und gleichzeitig geraffte Zeit zu der Phraseneinteilung „3 plus 2 plus 1 plus 1 plus 1 Takt(e)“ verändert. Und noch ein weiteres kompositorisches Wunder finden wir an dieser Stelle: Es folgt nun tatsächlich eine viertaktige Phrase, espressivo spielt die Solo-Oboe eine unendlich zarte, schwärmerische Melodie – die dann im vierten Takt, dem eigentlich der (viertaktige) Nachsatz der Phrase folgen müsste, verharrt, um nicht mehr weitergeführt zu werden. Stattdessen fällt das Orchestervorspiel wieder resigniert in die anfängliche Satztechnik und somit in eine neue Ewigkeit zurück. Die Takte 1 bis 8 dieser Szene sind nun reduziert auf fünf Takte, also gerafft auf fast die Hälfte. Sodann beginnt das unendlich traurige Abschiedsgespräch zwischen Don Carlos und Posa (vgl. Beispiel 6). Ein weiteres faszinierendes Beispiel für „gedehnte“ Zeit finden wir am Beginn von Simone Boccanegra: Im dreifachen Piano erklingt im 4/4-Takt ein wunderschöner achttaktiger Streichersatz in E-Dur, melodisch, harmonisch und rhythmisch von höchster Vollkommenheit (der ansatzweise an Edward Elgar, Jean Sibelius oder Johannes Brahms erinnert). Dieser wundervollen Phrase folgt eine weitere, nunmehr allerdings nur sechs Takte umfassende Passage, die düster von Fagotten und Posaunen intoniert wird und in den ersten beiden Takten geheimnisvoll die leichten Zählzeiten 2 und 4 betont. Innerhalb dieser Phrase wird mit erweiterter Harmonik letztendlich die Dominante H-Dur als Halbschluss erreicht, der sich nun wiederum unverändert die anfängliche Phrase anzuschließen scheint. Dann aber verharrt dieser Satz im vierten Takt – und dehnt den ursprünglich achten Takt des Anfangs über eine Zwischendominante zur sechsten Stufe cis-Moll. Und diese kleine Dehnung hat zur Folge, dass die gesamte weitere Entwicklung formal „aus den Fugen“ fällt. Es folgen buchstäblich Zeitstillstände durch Verweilen auf nahverwandten Harmonien bzw. deren Zwischendominanten, als wäre die Musik auf der Suche nach ihrer verloren gegangenen Tonika. Am Schluss bleibt der musikalische Ablauf auf der Doppeldominante Fis-Dur stehen – dann erhebt Paolo die Stimme und beginnt ein folgenschweres „Gespräch“ mit Pietro. Wir erleben also „gedehnte Zeit“ in Miniaturform, gleichsam als klangliche Fokussierung auf die und als Hinführung zu der für das Verständnis der Handlung wichtigen Unterredung zwischen dem Goldwirker Paolo und dem „Mann aus dem Volke“ Pietro. Ganz anders verfährt Richard Wagner mit dem Phänomen der „gedehnten Zeit“ im Finale des zweiten Aufzugs des Lohengrin: Der Brautzug zum Münster ist zweimal heftigst und nachhaltig durch Ortruds und Telramunds Proteste gestört worden  – und Lohengrin kann nur mit Mühe und mit der Rückendeckung des Königs die festliche Hochzeitsstimmung wiederherstellen.

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Beispiel 6: Don Carlo

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Die Musik des Zugs zum Münster, den Hörern bereits durch den Chor „Gesegnet soll sie schreiten, die lang in Demut litt“ vom Anfang der vierten Szene des zweiten Aufzuges bekannt, beschließt nun die bereits von Tragik und Unheil überschattete Szene und nimmt das Zeitmaß ihres ersten Erklingens wieder auf. Dieses Zeitmaß entspricht allerdings in keins­ter Weise einem festlich daherschreitenden Hochzeitszug (wie beispielsweise dem Hochzeitschor im zweiten Aufzug der Götterdämmerung), denn es ist viel zu langsam – und beschert vielen Regisseuren schier unlösbare Probleme bei der Choreographie dieser Szene. Schreibt Wagner zu Beginn der vierten Szene, in der diese Musik zum ersten Mal erklingt, die Spielanweisung „Langsam und feierlich“ vor, so beschränkt er sich nunmehr, nachdem die Orgel aus dem Münster die bevorstehende Hochzeitszeremonie ankündigt, auf die Anweisung „Langsam“. Herbert von Karajan, einer der besten Wagner- und Verdi-Drigenten des 20. Jahrhunderts, nimmt in seiner Gesamtaufnahme diese Anweisung sehr wörtlich  – und gestaltet diesen ohnehin eher (zu) langsamen Chor- und Orchestersatz zu einer wahrhaften Apotheose, an deren Ende – und das ist die eigentliche Absicht Wagners – in vollem Blechbläsersatz jenes Frageverbot erklingt, zu dem Ortrud auf der Bühne siegesgewiss den Arm gegen Elsa erhebt. Bleibt noch zu erwähnen, dass das buchstäblich gewaltige Orchestercrescendo in C-Dur als Zielpunkt eben dieses Frageverbot hat, welches dann in der Tonart der vermollten Subdominante (f-Moll) erklingt. Wuchtig und ebenso fortissimo wird dieses Frageverbot sodann mittels der Rameau’schen „sixte ajoutée“ wieder nach C-Dur „zurückgebogen“ und trotz brausender Orgel wissen bereits jetzt, am Ende des zweiten Aufzuges, alle, dass das Stück entsetzlich tragisch enden wird ... Ein weiteres erschütterndes Tondokument gedehnter Zeit finden wir im Vorspiel zum dritten Aufzug von Tristan und Isolde. Wir wissen nicht, wie viel Handlungszeit zwischen dem zweiten und dritten Aufzug vergangen ist (siehe weiter oben im Kapitel „Geraffte Zeit“). Die Musik indes beschreibt eine Ewigkeit  – und dies mit erstaunlich einfachen kompositorischen Mitteln: Unvorbereitet bricht der Streicherklang der Celli und Kontrabässe mit einer leeren Quinte in das musikalische Geschehen ein, dem unmittelbar die „restlichen“ Töne eines – wie wir allerdings erst später erkennen können – MollSubdominantquintsext-Akkordes folgen. Die Musik des Vorspiels zum dritten Aufzug hat also im Sinne der traditionellen Harmonik keinen eigentlichen Anfang, beispielsweise mit der Tonika oder einem als harmonischen Auftakt zu hörenden Dominantenakkord  – wobei bemerkt sei, dass Anfänge mit „unvorbereiteten“ Subdominant-Quintsext-Akkorden keine Erfindung von Richard Wagner sind.16 Nach dem unerwarteten Anfang geht das Vorspiel zum dritten Tristan-Aufzug formal vordergründig vertraute Wege: Man glaubt, nach den anfänglichen Zweitakt-Gruppen einen geschlossenen acht-

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taktigen musikalischen Satz zu vernehmen, der allerdings bei genauem Hinhören um zwei auf insgesamt zehn Takte erweitert worden ist: In „gedehnter Zeit“ steigt die Melodik auf, gestützt von zerbrechlicher Terzbegleitung im düsterem f-Moll der Grundtonart, und erreicht am Anfang des zehnten Taktes die dreigestrichene Oktave, wo sie fermatenähnlich verharrt. Allein dieser Anfang ist aus Sicht Wagners ein Musterbeispiel für die Übertragung des symphonischen Stils der Klassiker auf die programmatische Musik des Dramatikers Richard Wagner. Und wenn man die gesamte Form dieses Orchestervorspiels bis zum Einsatz des Englisch Horns betrachtet, begleitet uns die traditionelle Formgebung noch eine ganze Weile, bis die musikalische Zeit

Beispiel 7: Tristan und Isolde

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„zerbricht“, indem die Taktgruppen nach zwischenzeitlicher Fünftaktigkeit nun wieder auf zwei Takte reduziert werden, bevor die Celli und Kontrabässe letztlich auf dem Ton „e“, dem Leitton zu f-Moll, verharren. Dann wird der Vorhang aufgezogen und in den unendlich traurigen und langgezogenen Terzenauf- und abstieg beginnt das Englisch Horn mit seiner schier endlosen Hirtenweise, die, vom Orchester unbegleitet, buchstäblich eine Ewigkeit dauert. Ob Richard Wagner bei bzw. nach der Komposition dieser Stelle bewusst war, dass er mit dieser „Alten Weise“ eines der schwersten Englischhorn-Soli des 19. Jahrhunderts komponiert hat, wissen wir nicht.

„Zeitstillstand“ Stillstand der musikalischen Zeit geht immer einher mit unterschiedlich langem Innehalten der dramatischen Handlung. Auch hier erleben wir in den Opern und Musikdramen von Giuseppe Verdi und Richard Wagner unendlich viele spannende Momente, deren Umsetzung in Musik einmal mehr beider unversiegbare Phantasie  – und entsprechende musikalische Sensibilität  – beleuchtet. Betrachten wir zunächst Momente des Stillstands, die von extremer Kürze sind, also auch wieder an den musikalischen Sekundenstil erinnern: Im Finale der Autodafé-Szene versteigt sich Don Carlos in Verdis gleichnamiger Oper zu einer extremen und folgenschweren Majestätsbeleidigung, indem er, als Anführer der flandrischen Deputierten, von seinem Vater Philipp II. die Befehlsgewalt in Flandern fordert. Philipp verweigert jedoch jegliche Verhandlungen und befiehlt, die Bittsteller aus dem Weg zu schaffen. Da tritt ihm sein eigener Sohn entgegen und zieht, nachdem der Vater keinerlei Verständnis für dessen politische Mission zeigt, den Degen. Die Situation eskaliert – da fordert Rodrigue, die brisante Situation erkennend, für alle überraschend seinen Freund Don Carlos auf, ihm seinen Degen zu geben. Das bedeutet höchste Erniedrigung vor aller Augen und gleichzeitig tiefste Schmach für Don Carlos. Im Moment von Rodrigos Ausruf „A me il ferro!“ („Mir den Degen!“) erleben wir für wenige Sekunden einen solchen Handlungsstillstand. Die Musik steigt an dieser Stelle buchstäblich aus dem Geschehen aus und beschert eine lähmende Pause, bevor im piano jene terzbegleitete Melodie aus dem Duett von Carlos’ und Rodrigos Freiheitslied erklingt  – als zutiefst schmerzende Rückbesinnung auf den Treueschwur, den sich beide seinerzeit gegeben hatten. Ähnlich kurz und ebenso dramatisch erleben wir einen Handlungsstillstand und eine entsprechende Pause im musikalischen Ablauf in Wagners Walküre, wenn im zweiten Aufzug Fricka im Streitgespräch mit Wotan den Tod von Siegmund fordert. Nachdem Wotan von Frickas Argumenten „geschla-

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gen“ scheint, fragt er in wenig froher Erwartung: „Was verlangst du?“, um dann, nach einer kurzen, aber unsäglich qualvollen Pause von Fricka zu erfahren: „Lass’ von dem Wälsung!“ Damit ist Siegmunds Schicksal besiegelt.17

Beispiel 8: Die Walküre

Reagierte Verdi auf Rodrigues Eingreifen musikalisch mit den sanften Terzen jener vertrauten Melodie, erklingt in der Walküre nunmehr entfesselt und in heftigstem Fortissimo aller Holzbläser (ohne Flöten und Bass-Klarinette) einschließlich vier Hörnern ein Moll-Subdominantquintsext-Akkord, dessen harmonische Funktion allerdings durch die Pausen des Orchesters und durch die vorherigen und nun wieder folgenden, düster gedehnten Streicher-Unisoni innerhalb der notierten Tonart c-Moll schwer verständlich wird. Nach kurzem lähmenden Schweigen setzt Wotan sodann „mit gedämpfter Stimme“ das Streitgespräch fort – und weiß ab nun definitiv, dass er in dem Streit zwischen ihm und Fricka endgültig unterliegen wird. Es gibt aber auch andere, viel längere Momente des dramatischen und somit musikalischen Zeitstillstandes. Um bei der Partitur des Don Carlos zu bleiben, sei das wunderbare Orchestervorspiel zum dritten Akt der Fassung von 1886 erwähnt. Wir haben zu diesem Zeitpunkt längst alle Personen der Handlung kennen gelernt und erwarten mit Spannung den weiteren Handlungsablauf. Da lässt Verdi die Handlung für einige Minuten stillstehen, indem er die Melodie aufgreift, zu der Don Carlos

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im ersten Akt der Urfassung jene schöne, sehnsuchtsvolle Kantilene singt:­ „Io la vidi e il suo sorriso nuovo un ciel abriva a me.“ („Ich sah sie und ihr Lächeln öffnete einen neuen Himmel für mich.“) Aus ihr entwickelt er nun eine höchst stimmungsvolle Orchesterimprovisation. Bezeichnenderweise wird auch die Bühnenhandlung vorgeschrieben: Über dem Orchestervorspiel lesen wir: „Die Szene bleibt eine Zeitlang leer; dann erscheint Don Carlos oben im Hintergrund und kommt langsam die Terrassen herab.“ Bei Richard Wagner kann musikalischer Stillstand extrem lange dauern. Angesprochen sei das erhabene Quintett aus dem dritten Aufzug der Meistersinger („Selig wie die Sonne“) oder der erschütternde Trauermarsch nach Siegfrieds Tod im dritten Aufzug der Götterdämmerung. Beide erwähnten Beispiele haben jeweils eine bewegende Vorgeschichte, in der Handlungszeit und musikalische Zeiten überaus komplex miteinander verknüpft wurden. Das Quintett aus den Meistersingern ist ein Innehalten der Handlung, nachdem der dritte Aufzug bis dahin wahrhaft Turbulenzen beschert hat, die Hans Mayer so ­treffend beschrieben hat: „Im dritten Akt dann ein quälender Frühsommermorgen, wo lauter tief Verstörte miteinander einig werden müssen: Sachs und Stolzing und Eva und Beckmesser, und auch der junge David. Verwirrung der Gefühle allenthalben. Auch der Hinweis auf König Marke darf nicht fehlen, ebenso wenig das musikalische Tristanzitat. Barockes und Romantisches im heiklen Gleichgewicht, Tag und Nacht, Ich und Es, Tragödie und Komödie.“18 Darüber hinaus versteht es Wagner auf einzigartige Art und Weise, die meisten Orchestervorspiele seiner Opern und Musikdramen, vorzugsweise die der zweiten und dritten Aufzüge, als Moment des Verweilens zu gestalten. Dabei beschreibt die Musik oft das Warten einzelner Personen auf irgendetwas: Im Vorspiel zum zweiten Aufzug des Lohengrin wachen Ortrud und Telramund im Schutz der Dunkelheit vor der hell erleuchteten Burg zu Antwerpen, in der am Vorabend von Elsas und Lohengrins Hochzeitsfest bereits gefeiert wird, und warten auf den Beginn ihres Rachefeldzugs. Zu Beginn des zweiten Aufzuges des Siegfried warten Alberich und Wotan vor der Höhle Fafners und liefern sich nach Öffnen des Vorhangs ein dramatisches Wortgefecht. Und das gesamte Vorspiel zum dritten Aufzug der Meistersinger ist eine grandiose musikalische Momentaufnahme der inneren Befindlichkeit von Hans Sachs, der kurze Zeit später – nach der Begegnung mit David – in seinem großen Wahnmonolog resigniert über alles, was ihn bewegt, nachdenkt und dabei immer wieder stumm in seinen Gedanken verweilt. Gerade in solchen Momenten übernimmt das Orchester die weitere Fortspinnung von Sachs’ Gedanken – und wir erleben einen der ergreifendsten Monologe im gesamten Wagnerschen Schaffen.

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Eine andere außergewöhnliche Stelle des Zeitstillstands findet sich zu Beginn des dritten Aufzugs des Tannhäuser: Nach dem Orchestervorspiel, das uns die Rom-Wallfahrt Tannhäusers (und deren Scheitern) eindrucksvoll in zeitlich geraffter Form schildert, betritt Wolfram von Eschenbach die Bühne. Traurig und nachdenklich betrachtet er die inbrünstig betende Elisabeth und wird uns später – im „Lied an den Abendstern“ – sein ganzes Leid kundtun. Die Zeit bis zum ersten Vernehmen des Pilgerchores scheint auf der Stelle zu verweilen. In das vom Orchester behutsam begleitete Rezitativ werden immer wieder von einzelnen Instrumentengruppen kurze Motive der Vergangenheit „eingeblendet“. Sie erinnern uns in heftigem Kontrast an vorangegangene Momente bewegter und bewegender Szenerien: an den Sängerkrieg des zweiten Aufzuges oder an den Chor der älteren Pilger aus dem ersten Aufzug. Umso deutlicher empfinden wir das Verweilen der Musik bei den Momenten, in denen Wolfram ganz anders agiert als in den ersten beiden Aufzügen: „Er schreitet in die Nacht hinein, in Trauer, wie ein Orpheus, registriert alles mit der seismographischen Genauigkeit eines Mannes, der hinterher dichten will. Bisher hat er nur Ästhetisches gedichtet, jetzt sammelt er wirklich Erfahrungen“19, deutet Götz Friedrich diese ergreifende Stelle. Im zweiten Aufzug des Parsifal entfaltet sich im wahrsten Sinne des Wortes das ganze Zauberreich Klingsors vor dem völlig ahnungslosen und ebenso überforderten Parsifal, den Klingsor als gefährlichsten Feind erkannt hat „Den gefährlichsten gilt’s nun heut’ zu bestehn’: ihn schirmt der Torheit Schild!“ Nachdem die Verführungskunst der Blumenmädchen auf Parsifal keinerlei folgenschwere Eindrücke ausüben konnte, wendet sich dieser übermütig von ihnen ab mit den Worten: „Lasst ab! Ihr fangt mich nicht!“ – und hört plötzlich aus der Tiefe der Bühne eine ihm bereits vertraute Stimme: „Parsifal“, ertönt es „sehr zurückhaltend“ aus dem Munde von Kundry, die noch nicht sichtbar ist. „Parsifal will fliehen, als er aus dem Blumenhage Kundrys Stimme vernimmt und betroffen still steht“, heißt es in Wagners Regieanweisung, und Parsifal wiederholt diesen seinen Namen, an den er sich plötzlich erinnern kann  – im Tonsatz um einige Töne nach unten transponiert: „Parsifal! So nannte mich träumend einst die Mutter.“ Diese Stelle markiert einen der entscheidenden Wendepunkte im gesamten Ablauf des Werkes, und Wagner lässt sich für diese Stelle unendlich viel Zeit – so viel Zeit, dass wir auch hier zu hören glauben, die Zeit stünde still. Das Empfinden für diesen Zeitstillstand wird zusätzlich noch verstärkt, indem Wagner sowohl vor dem „Parsifal“-Ruf, als auch unmittelbar danach eine höchst raffinierte Instrumentation entwickelt und obendrein eine äußerst komplexe Harmonik verwendet, in der der (notierte), sehr, sehr lang gehaltene Dominantseptakkord auf dem Ton „Des“ mit Quartvorhalt (auf dem Kundry ihren Ruf beginnt!) vergleichsweise einfach erscheint.

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Beispiel 9: Parsifal

Zum Abschluss dieses Kapitels sei noch auf eine erschütternde Stelle aus Verdis Otello hingewiesen. Das verheerende Intrigenspiel, das Jago aus Rache an seinem Dienstherrn Otello inszeniert hat, „funktioniert“ perfekt. Wir sind in

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der siebten Szene des dritten Aktes und erleben einen Otello, der den klaren Blick auf die Fakten längst verloren hat und sich, blind vor Eifersucht, dazu versteigt, vor allen Anwesenden seine Gattin Desdemona in schamloser Art

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Beispiel 10: Otello

und Weise zu demütigen: Jähzorn und Panik entladen sich presto in einer stürmischen, extrem schwer zu spielenden Streicherstelle, und die Regie schreibt vor: „afferra Desdemona furiosamente – Desdemona cade“ („Er packt Desdemona wütend an – Desdemona fällt nieder“). Dann folgt unmittelbar im Sog der Tätlichkeit die verbale Entgleisung und Verletzung: Otello schleudert der Gefallenen hinterher: „A terra! – – e piangi!“ („Da liege – – und heule!“). Fassungslosigkeit und lähmendes Entsetzen sind die Reaktion aller Anwesenden – und die Musik beschreibt diese Sprachlosigkeit als Zeitstillstand: Mit äußerster Heftigkeit spielt das Orchester Akkordverbindungen der traditionellen Harmonielehre, die dem guten musikalischen Gehör durchaus bekannt vorkommen, hier allerdings in höchster Dramatik zusammenhanglos aneinandergereiht werden. Es handelt sich um die (eigentlich weit verbreitete)

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Akkordkombination von Doppeldominant-Septakkord mit tiefalterierter Quinte im Bass, dem die Dominante folgt und die letztendlich ihre Entspannung in der folgenden Tonika erfährt. Genauso verfährt auch Verdi, allerdings bleibt uns die abschließende Tonika vorenthalten: Die Tonarten an dieser Stelle sind: Fis-Dur mit tiefer Quinte im Bass (DD), sodann (direkt) H-Dur (D), dem eigentlich E-Dur oder e-Moll als Ziel folgen müsste, was aber eben nicht eintritt. Erst nach einer Sequenzierung und einer weiteren Transposition wird diese Figur ihr Ziel erreichen: Das Ziel As-Dur anstrebend, hören wir dieselbe Figur nun in der Tonartenfolge B-Dur (DD) – Es-Dur (D) – As-Dur (T).20 Den zu vertonenden Zeitstillstand erreicht Verdi also im Grunde mit ganz einfachen harmonischen „Bausteinen“ und deren Kombinationen, indem er traditionelle Hörgewohnheiten  – bei kaum nachvollziehbarem Metrum (diese Stelle wird vom Dirigenten in der Regel sehr frei gestaltet!) – bis zum äußersten anspannt – um sie dann zunächst nicht „wie gewohnt“ aufzulösen, sondern eben auf diesem Moment höchsten Auflösungsstrebens dramatisch zu verweilen (vgl. oben, Beispiel 10).

„Zeitbeschleunigung“ und „Zeitverlangsamung“ Accelerando und ritardando sind musikalische Begriffe und Phänomene, ohne die ein Musikstück der abendländischen Musikgeschichte (mit Ausnahme der Moderne) kaum auskommt. Selbst der konsequent durchgehaltene Rhythmus einer auf metrische Perfektion ausgerichteten Toccata wird spätestens am Schluss des Stückes eine kleine Zäsur erleben, mit der uns das Ende des Stückes vermittelt wird. Im romantischen Musikdrama können Zeitbeschleunigung und Zeitverlangsamung allerdings (wiederum) sehr viele Gründe und Notwendigkeiten mehr haben – und entsprechend vielschichtig sind (wiederum) die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten. In aller Kürze werden einige besonders markante Stellen aus Bühnenwerken von Giuseppe Verdi und Richard Wagner aufgelistet: Musikalische Beschleunigung der Handlungszeit beginnt oft schon mit dem Auftreten einzelner Bühnenfiguren, und die einleitende Musik verrät oft lange, bevor wir die Stimmen der Personen hören, deren innere Befindlichkeit. Nachdem Brünnhilde am Übergang der zweiten zur dritten Szene der Walküre die Bühne verlassen hat und sich in schwerer Traurigkeit auf die Todesverkündigung einstimmt, hasten Sieglinde und Siegmund auf die Bühne. Sie sind vor Hunding auf der Flucht und müssen ungewollt einen Moment verweilen, weil Sieglinde – wie wir in Kürze erleben – am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte angelangt ist. Die musikalische Beschreibung

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dieser Flucht, die bereits sehr lange verlaufen ist und von der wir in dieser Szene ja nur das Ende erleben, beginnt nach dem „sehr langsam“ zu musizierenden Nachspiel nach Brünnhildes Szene mit einer „bewegter“ überschriebenen Passage im später sehr raschen 9/8-Takt. Den Vorgaben Wagners, die Felix Mottl in den Klavierauszug übertragen hat, können wir uneingeschränkt glauben. Wagner schreibt bzw. verlangt in regelmäßigen Abschnitten eine Steigerung des Tempos und der Intensität: „Ruhig anfangen und in das bewegte Tempo überleiten – Immer leidenschaftlicher – Sehr heftig bewegt“ Nicht nur die Flucht, sondern auch die kaum erträgliche Stress-Situation des Wälsungenpaares werden auf diese Weise höchstdramatisch in Musik umgesetzt: Das Zeitempfinden des Hörers (und Zuschauers) wird von einem von Takt zu Takt schneller werdenden Grundtempo umgestellt von unendlicher Ruhe und Langsamkeit der Todesverkündigung (Dritte Szene) zu hastigster Zeitempfindung der gerade begonnenen vierten Szene. Am Übergang der ersten zur zweiten Szene im zweiten Aufzug des Tristan hat Isolde soeben gegen den ausdrücklichen Willen Brangänes die Fackel gelöscht und somit das vereinbarte Zeichen für das verbotene Treffen mit Tristan gegeben. In kaum erträglicher Ungeduld späht sie nun in die Nacht und wartet auf ihren Geliebten. Neben Wagners für die gesamte Stelle geltender Spielanweisung „Immer belebter“ verrät uns vor allem die Regie die bis zur Raserei verlangte Beschleunigung der musikalischen Zeit und des damit einhergehenden Metrums: „Von wachsendem Verlangen bewegt schreitet sie dem Baumgang näher und späht zuversichtlicher – Sie winkt mit einem Tuche, erst seltener, dann häufiger, und, endlich, in leidenschaftlicher Ungeduld, immer schneller  – (...)“ Das Orchester begleitet Isoldes fast unerträgliches Warten und Erwarten und steigert sich furios in einem immer rascher und atemloser werdenden Crescendo über mehr als 60 (!) Takte, bis sich Tristan und Isolde endlich in die Arme fallen: „Stürmische Umarmungen beider, unter denen sie in Vordergrund gelangen“, lesen wir in der Regieanweisung ... Genauso meisterhaft wie die musikalische Zeitbeschleunigung beherrscht Wagner auch die entsprechende Zeitverlangsamung, und wir müssen nur einige Minuten der rauschhaften Musik zu Tristans und Isoldes Wiedersehen zuhören, um zu Beginn des Liebesduetts einen der beeindruckendsten Übergänge in eine dann nicht enden wollende Langsamkeit zu erleben. In der fünften Szene des zweiten Aktes von Verdis Otello ist Jagos grausames Rachespiel bereits in vollem Gange, alles „funktioniert“ so, wie der Bösewicht geplant hat. Immer und immer wieder schürt er die Eifersucht des völlig überforderten Otello, der längst den klaren Blick für Jagos unsägliches Intrigenspiel verloren hat. „Atroce!!! Atroce!!!“ („Entsetzlich!!! Entsetzlich!!!“) lesen wir in der Partitur und können erahnen, mit welch ungeheurer Energie und

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Wucht Jago sein Opfer quält, bis – nach wenigen Takten – Otello ausruft: „Della gloria d’Otello è questo il fin, e questo il fin, e questo il fin.“ („Mit dem Ruhme Otellos ist es aus! Es ist vorbei, mein Ruhm dahin“). Hat die Musik bis dahin ohnehin schon ein immer schneller werdendes Tempo erfahren, so droht sie jetzt, wenn Otello, rasend vor Eifersucht (was Jago genüsslich beobachtet!), nun sichere Beweise für die angebliche Untreue Desdemonas verlangt, buchstäblich zu entgleisen: Beginnend im dreifachen piano (wie so oft bei Verdi!) steigert sich die dahinbrausende Musik dank einer genialen Instrumentation in atemberaubender Harmonik zu einem im gesamten Orchester fortissimo zu spielenden Gis-Dur-Akkord, von dem aus in halsbrecherischer Akrobatik innerhalb von zwei Takten die leere Oktave über C erreicht wird – in die Jago scheinheilig hineinruft: „Divina grazia difendimi!“ („Die Gnade Gottes beschütze mich!“) Und damit nicht genug: Wenn sich die Musik von dieser gewaltigen Eruption erholt hat, folgt wenig später die nächste Walze verheerender Rachemusik – und nach mehreren ähnlichen Ausbrüchen hat Jago ein weiteres wichtiges Streckenziel erreicht: Otello, kaum mehr seiner mächtig, hebt die Hand zum Schwur: „D’ira e d’impeto tremendo presto fiache sfolgori questa man ch’io levo e stendo!“ („Mit der Wut, in der ich bebe, sei die Rache bald von der Hand getan, die jetzt ich hebe.“) Jago singt diese fürchterliche Passage in freier Kanontechnik in eintaktigem Abstand siegesgewiss und mit demselben Text (!) mit: Der Verbrecher jagt sein Opfer genüsslich vor sich her.

„Keine“ Zeit Es mag paradox und nahezu absurd klingen, aber es gibt sie in der Musik, die Zeit, die keine oder noch keine ist. Um die „Vorstellung des Chaos“, als aus biblischer Sicht noch „nichts da war“, entsprechend eindrucksvoll in Musik umzusetzen, beginnt Joseph Haydn sein Oratorium Die Schöpfung mit einem lang angehaltenen, durch das ganze Orchester oktavierten „C“: Keine Melodie, keine Harmonik – und keine Zeit. Erst ganz allmählich wird uns im weiteren Verlauf ein „gerader“ Takt bewusst, aber es dauert eine ganze Weile, bis wir, bedingt durch das sehr langsame Tempo und die in der Regel sehr freie metrische Führung, endgültige Klarheit über die Taktart und das Metrum haben. Ähnliches gilt für die Anfänge fast aller Symphonien von Ludwig van Beethoven: Mit Ausnahme der sechsten und achten Symphonie steht am Anfang stets ein rhythmischer Konflikt, der uns, zumindest beim ersten Hören, große Hör- und Verständnisschwierigkeiten bereitet, weil wir noch keine musikalische Zeit oder im Falle der fünften Symphonie noch keine „geordnete musikalische Zeit“ erfahren.

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Es liegt nahe, dass Musikdramatiker wie Verdi und Wagner dieses Phänomen oft und gerne auf ihre jeweilige dramatische Situation übertragen haben, und gerade bei Richard Wagner bestätigen sich einmal mehr seine eingangs zitierten Forderungen, die Musik des klassischen Erbes nun zum Verkünder des Musikdramas zu erheben. Für eben dieses „Keine“-Zeit-Phänomen gibt es bei Verdi und Wagner unzählig viele Beispiele, aus denen einige wenige kurz betrachtet werden sollen. Dem Vorbild Haydns und Beethovens folgend, beginnen viele Opern bzw. Opernakte und Szenen Verdis mit eben diesen lang angehaltenen Tönen, meistens auch oktaviert wie in Haydn Schöpfung oder beispielsweise in Beet­ hovens vierter Symphonie: La forza del destino fängt mit einem rhythmischmetrisch zunächst nicht zeitlich nachzuvollziehenden „Oktavenklang“ an, und die Partitur des Trovatore schickt dem wuchtigen Blechbläsereinsatz einige düstere Paukenwirbel voraus, die erst rückblickend (eigentlich müsste es heißen: „rückhörend“!) rhythmisch und metrisch eingeordnet werden können. Auch der einleitende Fortissimo-Akkord des Otello, mit Donnermaschine und Orgel verstärkt, hat zumindest in den ersten Sekunden „keine“ Zeit, und genau das ist auch beabsichtigt: „Lampi, tuoni, uragano“ („Heftiger Orkan und Gewitter“) lesen wir in den szenischen Anweisungen, und das entfesselte Unwetter lässt zu Beginn keine Zeitempfindung zu. Blitz und Donner beschreiben im Sekundenstil die Unberechenbarkeit eines Unwetters, und der völlig überraschende Kanonenschuss entbindet uns endgültig von jeglicher Zeitempfindung. Es dauert eine ganze Weile, bis wir erkennen, dass das Werk im 4/4-Takt begonnen hat. Bei Wagner gibt es ein Werk, in dessen Verlauf sich Raum und Zeit mit Blick auf das Wunderreich der Weltennacht auflösen und in dem alle Wünsche, Sehnsüchte und Begehren in Tod und Sterben münden, um daselbst erfüllt zu sein. In einer Beilage zu einem Brief, den Wagner am 19. Dezember 1859 an Mathilde Wesendonck schickte, werden uns die Grundproblematik und das Fazit der Handlung in drei Aufzügen Tristan und Isolde in groben Zügen zusammengefasst: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, ­Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nichtmehrerwachen!“21 Götz Friedrich, von dem schon die Rede war, überschreibt die Handlung mit dem Untertitel „Unterwegs in den Tod“22 und stellt sich besonders zu jener berühmten Stelle aus dem zweiten Aufzug, wenn sich Tristan und Isolde verbotenerweise treffen, schwierige Fragen, die aber beim Hören der Musik beantwortet werden können: „Der Regie stellt sich die scheinbar banale Frage: Lieben sich beide physisch, und begleitet die

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Musik den Liebesakt? Oder singen sie, anstatt sich zu lieben  – ‚halten sie Händchen‘, singend? Was Wagner entwirft, ist in Wirklichkeit die Aufhebung solcher Fragestellung. Eros erfühlt und erfüllt sich in Musik. Die Musik ist selbst Eros. Und das bleibt bei Wagner so, wie es bei Mozart und Monteverdi war. Hier, in diesem großen Liebesduett, offenbart aber die Eros-Musik die Todesnähe. Und mehr. Den Tod zu besiegen durch die Liebe, die nicht enden wird, sondern unendlich dauern möchte. Dies schließlich verlangt einen aktiven, protestierenden Gestus  – duldet nicht pessimistischen Nihilismus. (...)“23 Und während Tristan und Isolde dieses Duett singen und dabei Raum und Zeit hinter sich lassen, um, wie Tristan im dritten Aufzug erzählt, „im weiten Reich der Weltennacht“ Zuflucht und Bleibe zu finden, warnt Brangäne, Isoldes Vertraute, von der Wachte aus die Liebenden vor dem anbrechenden Tag. Dabei steht die Zeit still. Trotz eindeutiger Einbindung in einen höchstkompliziert mehrfach geteilten Dreivierteltakt löst sich die Musik hier von allen metrischen und rhythmischen Schranken. Curt von Westernhagen findet für diese überströmende Stelle schöne Worte, und auch ohne besondere Erwähnung der musikalischen Zeit spüren wir beim Lesen seines Textes, wie uns die Zeit entgleitet: „Wenn Wagner sagt, der Tristan sei einem Verlangen nach Instrumentalmusik entsprungen, so ist der eigentliche sinfonische Satz der Liebesszene Brangänes erstes Taglied (gemeint sind die Wach- und Mahnrufe, d.V.), denn auch die menschliche Stimme mit ihren langgehaltenen Tönen ist hier nur noch als ein kostbares Instrument des Orchesters behandelt. Es sind die Träume-Akkorde, die einleitenden Akkorde der Wesendonck-Lieder, die ihm zugrunde liegen. Aber wie hat Wagner sie gebracht! ppp in Holzbläsern und Hörnern in weiter Lage, begleitet von Harfen-Arpeggien und Synkopen der Streicher, aber nur von der einen Hälfte der Violinen, Bratschen und Celli. Und da, im elften Takt, ereignet es sich, dass von der anderen Hälfte zwei erste, dann zwei zweite Violinen mit selbständigen melodischen Linien p ausdrucksvoll hereinklingen; dazu treten wiederum zwei und zwei Violinen, dann nach und nach eine Solo-Bratsche, ein Solo-Cello und über allem schwebend und sich aus der Höhe herabschwingend eine Solo-Violine, bis diese vielen gelösten Stimmen der Nacht zum Schluss in einem himmlischen Unisono verschmelzen: ,Habet acht! Habet acht! Bald entweicht die Nacht.‘“24 Und Peter Wapnewski deutet diesen Zeitstillstand als Grenzaufhebung alles Irdischen und schaltet somit die Zeit als ständigen Lebensbegleiter aus dem Bewusstsein aus: „Hier nun, in der inbrünstigen Verschwisterung mit dem Dunkel, in der Grenzaufhebung der Elemente Nacht und Liebe und Tod, die sich zu neuer ewigkeitsgewährender Einheit vermischen, vollendet sich der höchste und letzte Ausdruck ihrer Liebe.“25

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„Vergangenheit“ und „Zukunft“ Es wurde bereits erwähnt, dass es schon bei der Degenübergabe in der Autodafé-Szene aus Don Carlos eine musikalische Zeit der Vergangenheit gibt: Die Terzen des patriotischen Liedes aus dem ersten Aktes erinnerten uns an den Anfang des Stückes. Verdi verfährt an dieser Stelle fast wie Wagner, der ja Vergangenes oft und gerne mittels seiner Leitmotivtechnik aus dem Orchestergraben zu erzählen weiß.26 Wann immer die Musik bei Verdi und Wagner bereits bekannte Motive aufgreift, ist in der Handlung der Blick meistens in die Vergangenheit gerichtet. Besonders bei den weiter oben erwähnten Erzählungen einzelner Bühnenfiguren wenden Verdi und Wagner diese Kompositionstechnik an. Es gibt aber auch – und das soll am Ende des vorliegenden Beitrags zum Ausdruck kommen – musikalische Blicke in die Zukunft, prophetische Ansagen, Weissagungen und nicht zuletzt Wünsche und Visionen. Ein besonders ausdrucksstarkes Beispiel für dieses Phänomen stammt aus der Walküre: Die Weissagung Brünnhildes an Sieglinde, dass sie „den hehrsten Helden der Welt“ in ihrem Schoße hegt, singt Brünnhilde auf die Melodie des zum ersten Mal erklingenden Siegfried-Motivs: Beginnend in C-Dur, schwingt sich die Musik in kürzester Zeit über Es-Dur – hier endet Brünn­ hildes Weissagung  – hymnisch in die (notierte) Tonart H-Dur. Mit dieser atemberaubenden Harmonik, die in kürzester Zeit den Quintenzirkel von ­Es-Dur bis hinauf nach H-Dur zurücklegt, wird also des neuen Helden Bedeutung harmonisch charakterisiert. Nur er wird, wie wir wissen, einst die Chance haben, die furchtbare Geschichte des Ring zu einem guten Ende zu bringen. Brünnhildes Weissagung ist aber nicht nur dramatische Gegenwart der Szene, sie öffnet diese Gegenwart des dritten Aufzuges der Walküre in Richtung des zweiten Tages der Ring-Tetralogie und letztlich darüber hinaus auch bis zum dritten Tag, der Götterdämmerung. Und am Ende der Walküre, nachdem Wotan schmerzvoll Abschied von seiner geliebten Tochter genommen hat, beginnt das Siegfried-Thema mit Wotans Worten „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“ innerhalb der erklingenden Tonart E-Dur, die zunächst Zwischendominante zu A-Dur (Subdominante) wird, um sich dann anzuschicken, sich entsprechend der in Brünnhildes Prophezeiung bereits erfolgten Art und Weise im Quintenzirkel aufzuschwingen. Diese erwartete harmonische Entwicklung erfolgt allerdings nicht: Erreicht wird „nur“ die erste Quinte (E-Dur) – und hier verharrt die harmonische Entwicklung, die nun nach kurzem Verweilen in einer sequenzreichen, alle musikalischen Motive von Wotans Abschied wundervoll zusammenfassenden Phrase – diese eingebettet in einen weit gespannten harmonischen „Umweg“ – letztlich wieder E-Dur erreicht, die Tonart, in der Wotans Abschiedswort begann und

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in der die Walküre auch enden wird. War Brünnhildes Prophezeiung also mit Blick auf die weit in den Quintenzirkel vordringende Tonartenarchitektur eher der Blick in die Zukunft (Siegfried und Götterdämmerung), so verweilt Wotans „Tonartenkarussell“ in der Gegenwart. Der Gott Wotan wird fortan am Schicksal der Menschen des Ring keinen Anteil mehr haben und nur noch als Wanderer auftreten – bevor er im dritten Aufzug des Siegfried endgültig die Bühne verlässt. Peter Wapnewski deutet noch einmal den Moment des musikalischen Sekundenstils an (ohne den Begriff zu erwähnen), wenn er die Ereignisse der letzten Minuten der Walküre zusammenfasst: „Der Gott wendet sich ab von Brünnhilde, ‚küsst ... die Gottheit von ihr‘, bettet sein Kind ‚auf einem niedrigen Mooshügel.‘ Deckt sie mit ihrem Schild, betrachtet ‚mit einem schmerzlichen Blicke‘ die Schlafende (wie er einst das andere Opfer seiner rigiden Rechtsherrschaft, den toten Siegmund, betrachtete). Dann befiehlt er (nach dem Schicksals-Motiv) mit dem Vertrags-Motiv den Feuergott Loge heran, aus dessen zuckendem, funkelnden Motive, vom Speer heranbefohlen, nun die Flammen hervorbrechen. Lodernde Feuerwogen füllen die Bühne, bewegt vom Motiv des Feuerzaubers, das auch klingt wie ein Wiegenlied. Dann versiegelt der Gott herrisch die Stätte: ‚Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!‘

Die musikalische Faktur aber dieser pathetischen Bedingung beschwört den Erwecker, den Wotan kaum, den Brünnhilde ahnend, den das Orchester (und wir mit ihm) mit Gewissheit erkennen. Wotan und Posaunen und Tuben singen mit grandioser Intensität das Siegfried-Motiv.“ Die anschließende Regieanweisung Wagners folgt der Musik, die mit Blick auf Wotans Schicksal nicht mehr in die Zukunft blickt oder keine Kraft mehr für diesen Zukunftsblick hat, sondern folgerichtig und tragisch eine furchtbare Geschichte abschließt: „Er (Wotan) streckt den Speer wie zum Banne aus – Er blickt schmerzlich auf Brünnhilde zurück – Er wendet sich langsam zum Gehen – Er wendet sich nochmals mit dem Haupt und blickt zurück  – Er verschwindet durch das Feuer – Vorhang fällt.“

Anmerkungen   1 Dieser Essay fasst meinen gleichnamigen, am 26. Juni 2013 gehaltenen Vortrag zusammen, in dessen Verlauf zahlreiche Ausschnitte aus Bühnenwerken von Giuseppe Verdi und Richard Wagner live aufgeführt wurden. Hierbei wirkten Studie-

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rende der Hochschule für Musik und Tanz Köln mit, denen ich an dieser Stelle herzlich für ihr Engagement und ihr wundervolles Musizieren danke: Benjamin Schlie, Klavier; Jessica Meffert, Sopran; Tae-jun Sun, Tenor; Sebastian Seitz, Bariton; Wei-Ching Tseng, Harfe; Christopher Koppitz, Oboe/Englisch Horn.   2 Hans Heinrich Eggebrecht, Die Musik und das Schöne, München 1997, S. 177.   3 Ebd., S. 172.   4 Carl Dahlhaus beschreibt dieses Phänomen ähnlich wie Eggebrecht: „Die begrenzte wiederholbare Zeitdauer eines musikalischen Werkes, die man sich einerseits als Bahn oder Wegstrecke vorstellen kann, erscheint demnach andererseits als Entwicklungsprozess, der nicht allein die Bahn für eine Bewegung der subjektiven Zeiterfahrung, sondern selbst eine Bewegung im Sinne einer qualitativen Veränderung ist, die es nachzuvollziehen gilt.“ Vgl. Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Musik Wagners und Schönbergs, in: Musiktheorie, 1/1 (1986), S. 31–40, hier S. 31.   5 Richard Wagner, Über die Anwendung der Musik auf das Drama (1879) in: Richard Wagner, Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper, Stuttgart 1996, S. 193.   6 Ebd., S. 195.   7 Ebd., S. 201.   8 Ohne Nennen des Namens ist hier wohl u.a. Johannes Brahms gemeint.   9 Ebd., S. 202. 10 Paul Barz, Götz Friedrich – Abenteuer Musiktheater, Bonn 1978, Vorwort o.S. 11 Auch Paul Hindemith wendet diese Praxis der doppelten Zeitebene innerhalb eines Choralsatzes an. In seiner 1936 komponierten Trauermusik wird im vierten und letzten Satz („Sehr langsam“ Largo) der Choral „Für deinen Thron tret’ ich hiermit“ musiziert, und nach den ersten drei Choralfermaten stimmt die Solobratsche jeweils ein stimmungsvolles Intermezzo an. Es gibt allerdings in diesem Choral keinen gesungenen Text und auch keinerlei Gebärdenspiel. 12 „Teneste la promessa ... La disfida ebbe luogo. Il Barone fu ferito, però migliora ... Alfredo è in stranio suolo.“ – „Ihr hieltet das Versprechen ... Das Duell wurde ausgetragen. Der Baron wurde verwundet, doch er genas alsbald ... Alfred ist auf fremdem Boden.“ 13 Felix Mottl (1856–1911), österreichischer Dirigent, Schüler von Anton Bruckner und 1876 Assistent von Hans Richter, dem Dirigenten der Bayreuther Uraufführung des Ring bei den ersten Bayreuther Festspielen. Mottl dirigierte ab 1886 jahrelang in Bayreuth. Er starb an den Folgen eines Zusammenbruchs, den er als Generalmusikdirektor der Hofoper München während des Dirigats seiner 100. Tristan-Vorstellung (!) erlitten hatte. 14 Cosima Wagner, Die Tagebücher, hrsg. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München 1976, S. 824. 15 Klaus Angermann, Verdis szenisches Orchester, in: Udo Bermbach (Hrsg.), Verdi-­ Theater, Stuttgart/Weimar 1997, S. 114f. 16 Vgl. Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 18 op. 31 Nr. 3 Es-Dur, Anfang 1. Satz. 17 Dazu bemerkt Peter Wapnewsi treffend: „Der Disput wird von Fricka geführt mit Empörung erst, mit zunehmender und endlich triumphierender Kälte dann. Wotan entspricht in einer Gegenbewegung, anfangs respondiert er mit jovialer Überlegenheit, dann leise resignierend, schließlich kapitulierend in ohnmächtigem Zorn.

Zeitabläufe und „musikalische Zeit“  |

Denn Frickas Position ist die des positiven Rechtes, und sie ist wie dieses unantastbar. Und zuallerletzt darf es angetastet werden durch den, dessen Speer seine Integrität verbürgt. Fricka ist als die Wahrerin von Herd und Ehe die Wahrerin einer auf der Ordnung der kleinsten Bindung beruhenden großen Ordnung, eben der Weltordnung. Die Musik stützt diese Position insofern, als Frickas Worte getragen sind von musikalischen Figuren traditionell-konservativer Machart.“ Vgl. Peter Wapnewski, Weißt du, wie das wird...? Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Erzählt, erläutert und kommentiert, München 1995, S. 121. 18 Hans Mayer, Richard Wagner, Frankfurt 1989, S. 137. 19 Götz Friedrich, Wagner-Regie, hrsg. von Stefan Jaeger, Zürich 1983, S. 55. 20 Die vollständige harmonische Analyse dieser Stelle gestaltet sich indes weitaus komplizierter als hier aus Zeit- bzw. Platzgründen vorgenommen. 21 Beilage zum Brief an Mathilde Wesendonck Brief vom 18. Dezember 1859. Vgl. Richard Wagners Gesammelte Schriften, hrsg. von Julius Kapp, Bd. 9, Leipzig o.J., S. 62. 22 Götz Friedrich, Mein Opernführer, Berlin 2002, S. 109ff. 23 Ebd. 24 Curt von Westernhagen, Vom Holländer zum Parsifal, Zürich 1962, S. 124f. 25 Peter Wapnewski, Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden, München 1978, S. 78. 26 Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum Georges Bizet Giuseppe Verdi nach der Uraufführung des Don Carlos bezichtigte, den Kompositionsstil Wagners zu kopieren bzw. kopiert zu haben. In einem Brief an seinen Schüler Edmond Galabert schreibt er 1866: „Verdis Don Carlos ist sehr schlecht. Sie wissen, ich bin ein Ekklektiker. Ich verehre Traviata und Rigoletto. Don Carlos ist eine Art Kompromiss. Keine Melodie, kein Ausdruck. Er zielt auf Stil, aber er zielt bloß. Er hat einen katastrophalen Eindruck gemacht. Es war ein vollkommener Flop. (...) Verdi ist nicht mehr Italiener; er möchte schreiben wie Wagner. Das hat weder Hand noch Fuß. Er hat seine Fehler ausgemerzt, aber seine Vorzüge sind mit ihnen geschwunden. Er zielt auf Stil und erreicht nur Anmaßung.“ Dt. Übs. zitiert nach Günter Engler (Hrsg.), Über Verdi, Stuttgart 2000, S. 81.

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Konstanten und Konjunkturen Verdi, Wagner und die Deutschen Im deutschsprachigen Musikschrifttum stand Verdi stets im Schatten Wagners. Während dieser bereits zu Lebzeiten und in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod zum Gegenstand einer kaum überschaubaren biographischen, musikalischen und weltanschaulichen Sekundärliteratur wurde, konnte von einem deutschen Verdi-Schrifttum im eigentlichen Sinne bis in die 1920er Jahre hinein nicht die Rede sein. Dieses eklatante Rezeptionsgefälle trug zusammen mit dem Zufall des beiden Komponisten gemeinsamen Geburtsjahres wesentlich dazu bei, dass Verdi „bis heute fast zwanghaft in einen direkten Zusammenhang mit seinem Zeitgenossen Wagner gebracht“1 und zugleich in Abhängigkeit der etablierten Deutungstraditionen seines vermeintlichen „Antipoden“ wahrgenommen wurde. Im vorliegenden Beitrag stehen drei Aspekte der deutschen Verdi- und Wagner-Rezeption im Vordergrund: Zunächst soll die verbreitete Gewohnheit, Verdis spätere Werke gewissermaßen durch die Brille Wagners zu sehen, einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Sodann wird die Entwicklung der Aufführungszahlen der Opern beider Komponisten in Deutschland vom späten 19. bis ins 21. Jahrhundert untersucht, ehe abschließend Traditionen der Verdi- und Wagner-Inszenierung seit dem Zweiten Weltkrieg zusammenfassend in den Blick genommen werden.

Verdis Wagner: ein (deutsches) Missverständnis „Traurig, traurig, traurig! Wagner ist tot! [...] Es entschwindet uns eine große Persönlichkeit. Ein Name, dessen Spur in der Geschichte der Kunst nicht untergehen wird.“2 Diese Zeilen schrieb Giuseppe Verdi an seinen Verleger Giulio Ricordi unmittelbar nach dem Tode Richard Wagners. Sie scheinen die aufrichtige Anteilnahme Verdis am Tod seines Komponistenkollegen zu belegen. Was Verdi aber tatsächlich über Wagner dachte, verraten diese Äußerungen ebenso wenig wie umgekehrt die seltenen Erwähnungen des Namens Verdi in der uferlosen Korrespondenz und Publizistik Richard Wagners. Umso größer war daher das Ausmaß an Spekulationen, das sich um die Frage ihrer gegenseitigen Rezeption entwickelte. Franz Werfels Verdi – Roman der Oper aus dem Jahre 1923 liefert in dieser Hinsicht ein besonders eindrucksvolles

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Exempel.3 Am Beginn dieses Romans steht die (fiktive) Begegnung beider Komponisten in Venedig wenige Wochen vor Wagners Tod. Bereits dieses Zusammentreffen ist einseitig: Zufällig besucht Verdi inkognito und nichtsahnend das Teatro La Fenice, als der Bayreuther Meister dort gerade ein Privatkonzert dirigiert.4 Nach dem Konzert treffen sich im Foyer kurz ihre Blicke. Während Wagner aber den ungebetenen Gast gar nicht erkennt und ihm daher auch keinerlei Beachtung schenkt, erfährt Verdi hierdurch eine entscheidende Schicksalswendung. Noch am selben Abend kreuzen sich auf dem Canal Grande zufällig die Gondeln beider Komponisten, und Verdi betrachtet „die schöne, reine Erscheinung des hilflos dahingleitenden Wagner. Wie es dem Starken geziemt, schon war der Feind, der Gegensatz, der Widerpart jenes Kampfes, den er in hundert schlaflosen Nächten führte, ihm das Werteste auf der Welt.“5 Einige Wochen später, so der Roman, nach einer weiteren schicksalhaften Nacht, in der Verdi selbst dem Tode nahe ist, die bereits fast fertig gestellten Kompositionen zu seiner Shakespeare-Oper Lear verbrennt und sich schließlich in die Lektüre des Klavierauszugs von Tristan und Isolde vertieft, beschließt er, Wagner am nächsten Tag persönlich aufzusuchen. Ermutigt zu diesem Schritt hatte ihn sein Tristan-Studium, das ihm eine Musik offenbarte, die „durch Neuheit seine Augen nicht blendete, Formen, die er selbst, soweit das bloße Notenbild sie vermittelte, in den Werken nach dem Maskenball selbstständig entwickelt hatte. Nur die Geschlossenheit der Nummer zeigte sich nirgends.“6 Und weiter heißt es über Verdis Tristan-Lektüre: „Mehr als eine reale Polyphonie fiel eine ungemein reiche Figuration der Mittelstimmen auf, die nicht eigentlich aus Themen, sondern aus melodiösen Passagen und zerlegten Akkorden bestanden. Der Maestro erkannte in dieser Technik etwas vielleicht überaus Verfeinert-Nervöses, aber zugleich eine durcheinanderwogende Unterschiedenheit im Rhythmus, die seiner konzisen Natur so sehr widersprach, dass er es nicht fassen konnte, wie man ihn hatte zum Epigonen dieser Manier ausrufen können. (...) Er fühlte jetzt, dass er vor diesem Wagner als Musiker wenigstens nicht hätte erröten müssen.“7 Am nächsten Morgen erwacht er in Vorfreude auf das ersehnte Treffen mit Wagner, und „auf dem Grunde der Feierlichkeit, die jetzt der Maestro empfand, beruhte das wieder gewonnene herrliche Selbstgefühl seiner besten Stunden. Mit einer neuen wunderbaren Objektivität wusste er sich selbst. Er maß sich nicht mehr an einem anderen Menschen“, und seine plötzlich für den Deutschen aufkeimende „Sympathie wuchs zur Freundschaft, zu einer sonderbaren Zärtlichkeit, der ein fast väterliches Bedürfnis beigemischt wird, diesen wild sich verschwendenden Menschen zu beschützen. Ohne irgendwelche Beklemmung mehr, freute sich der Maestro, in einer Stunde vor diesem einzigen Menschen stehen zu können. Er phantasierte nicht, er wusste es bestimmt: Wagner wird ihm die halbe Freitreppe des Palazzo entgegeneilen, seine Hände

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fassen, glücklich über den ehrenvollen Besuch ihn in den Saal ziehen. Halb französisch, halb italienisch wird er ihn begrüßen, seinem Entzücken Worte verleihen, den vergötterten Künstler der lateinischen Stämme bei sich empfangen zu dürfen.“8 Endlich macht sich Verdi auf den Weg zum Palazzo Vendramin, in welchem Wagner in jenem Winter residierte. In dem Moment, als Verdi das Tor des Palastes erreicht, stürzt ihm ein Pförtner entgegen, der voller Entsetzen Wagners Tod verkündet. Werfels Roman gilt bis heute als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Künstlerromane des frühen 20. Jahrhunderts. Der Einfluss dieses Buches auf das Verdi-Bild hierzulande war beträchtlich, zumal sein Autor zu Recht als einer der besten deutschen Verdi-Kenner seiner Zeit anerkannt war. In der historischen Realität hingegen sind Verdi und Wagner einander bekanntlich nie begegnet, und nach allem, was wir wissen, verspürte keiner von beiden jemals auch nur das geringste Interesse an einer solchen Begegnung. Zweifellos ist der frühe Wagner noch stark von italienischen Opern beeinflusst worden, vor allem im Liebesverbot, aber auch in Rienzi und im Fliegenden Holländer.9 Auch in seinen Schriften setzt er sich intensiv mit der italienischen Oper auseinander, insbesondere mit derjenigen Gioachino Rossinis, die Wagner bei aller Kritik an ihren Erscheinungsweise nicht zu Unrecht als Höheund Endpunkt einer ganzen Epoche der Operngeschichte ansieht. Diese Epoche aber, so Wagner, gehöre der Vergangenheit an, und sie wird nur deshalb in seinem literarischen Hauptwerk Oper und Drama so ausführlich thematisiert, um vor diesem Hintergrund Wagners eigenen opernästhetischen Standpunkt umso klarer herausarbeiten zu können. Anders als Rossini spielt Verdi jedoch in Wagners Schriften überhaupt keine Rolle. Zwar lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Oper und Drama bereits 17 zum Teil sehr erfolgreiche Verdi-Opern vor, deren Existenz Wagner schlechterdings nicht entgangen sein konnte. Gleichwohl repräsentierten sie in seinen Augen wohl nur den Verfall der damals aktuellen italienischen Oper und waren ihm daher keiner weiteren Erwähnung wert. Daran sollte sich zumindest nach Ausweis der schriftlichen Quellen bis an sein Lebensende nichts Wesentliches ändern. Seit den 1860er Jahren, in denen Wagner zur europäischen Berühmtheit wurde, erhoben Verdis Kritiker – sehr zum Verdruss des Letzteren – in der Presse nunmehr ihrerseits den Vorwurf, Verdi sei in seiner stilistischen Weiterentwicklung stark von Wagner beeinflusst gewesen. Diese Vorwürfe hat die jüngere Verdi-Forschung nachdrücklich widerlegt.10 Obwohl Verdi in späteren Jahren einige Wagner-Opern gründlich studiert hat, haben diese in seinen Werken außer einigen ironischen Anspielungen in Falstaff keine Spuren hinterlassen.11 Welche Ähnlichkeiten im musikalischen Satz könnten überhaupt als kompositorische Einflüsse Wagners auf Verdi missverstanden werden? Vor allem vier Aspekte treten hierbei ins Blickfeld: die Instrumentation, die soge-

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nannten „unendlichen Melodien“, die Durchkomposition bzw. Auflösung der traditionellen Nummernstruktur und natürlich die Leitmotive. Zur Veranschaulichung von Ähnlichkeiten und Unterschieden sei zunächst ein Vergleichsbeispiel gewählt, bei dem jeglicher Verdacht einer Beeinflussung von vorneherein ausgeschlossen ist. Konfrontiert man etwa den Beginn des 1848 komponierten Lohengrin-Vorspiels mit demjenigen des 1853 entstandenen Preludio zu La traviata, so treten einige offensichtliche Übereinstimmungen zu Tage. In beiden Fällen zeichnet sich die Instrumentation durch die exponierte Verwendung vierfach geteilter Violinen in sehr hoher Lage und sehr langsamem Tempo unter vollständigem Verzicht auf die Beteiligung tieferer Instrumente aus (letztere treten bei Wagner ab Takt 18, bei Verdi ab Takt 9 hinzu). Wagner gibt zusätzlich zu den vierfach geteilten Geigen vier Soloviolinen an, die im Wechsel mit den übrigen noch eine Oktave höher spielen, wobei ihre Töne durch Flageolett hervorzubringen sind. In der Dynamik schreibt Wagner pp, Verdi sogar ppp vor. Es wäre natürlich völlig abwegig anzunehmen, Verdi habe hier Wagner imitiert, nicht nur, weil die italienische Erstaufführung des Lohengrin erst 1871 in Bologna stattfand und Verdi zur Zeit der Komposition von La traviata von seinem in Italien damals noch unbekannten Kollegen überhaupt keine Notiz genommen haben konnte. Tatsächlich sollte Verdi den Lohengrin 1871 in Bologna kennenlernen, und sein in zahlreichen Notizen in seinem persönlichen Klavierauszug festgehaltenes Urteil fiel differenziert, aber durchaus ambivalent aus.12 Alles in allem langeweilte ihn Wagners Musik, und zumal die „ständigen hohen Noten der Violinen“ fand er „schwer erträglich“.13 Im Traviata-Vorspiel dagegen liefern die hohen Geigenklänge in Moll zu Beginn eine Vorahnung des tragischen Endes. Will man nach konkreten Modellen suchen – und zwar für beide Komponisten gemeinsam –, so wird man vor allem im Bereich der französischen Oper fündig, die sowohl für Wagner als auch für Verdi einen zentralen Bezugspunkt des musikdramatischen Schaffens bildete. 14 Orchestereinleitungen mit ge­teilten Streichern in hoher Lage sind in diesem Repertoire keineswegs eine Seltenheit: Man denke zum Beispiel an die Einleitung von Rossinis Ouvertüre zu Guillaume Tell aus dem Jahre 1829 mit fünf Solocelli in hoher Lage. Die Verwendung des Flageolett innerhalb eines vielfach geteilten Streichersatzes wiederum dürfte Wagner nicht zuletzt aus der Lektüre des Grand Traité d’instrumentation et d’orchestration modernes von Hector Berlioz aus dem Jahre 1844 vertraut gewesen sein. Ber­lioz exemplifiziert diese Technik an seiner Symphonie Roméo et Juliette, die Wagner ebenfalls bestens bekannt war.15 Die viel zitierte Bezeichnung „unendliche Melodie“ hat Wagner ausdrücklich nur in seiner 1860 verfassten Schrift über die Zukunftsmusik gebraucht. Er assoziiert sie vor allem mit dem Orchester, „um uns das Unaussprechliche selbst schweigend uns sagen zu lassen“, und stellt sie der italienischen Melodik

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entgegen: „Nothwendig wird der Symphoniker nicht ohne sein eigenthümlichstes Werkzeug diese Melodie gestalten können; dieses Werkzeug ist das Orchester. Daß er dieses hierzu in einem ganz anderen Sinne verwenden wird, als der italienische Opernkomponist, in dessen Händen das Orchester nichts Anderes als eine monströse Guitarre zum Akkompagnement der Arie war, brauche ich Ihnen nicht näher hervorzuheben.“16 Die klare Abgrenzung Wagners gegenüber der italienischen Oper bezieht sich primär auf die festgefügte Periodik der italienischen Versmetrik und die hierauf basierende Korrespondenzmelodik, wie sie auch für den frühen und mittleren Verdi typisch ist. Tatsächlich hat sich Verdi erst relativ spät von diesen Stereotypen emanzipiert. Die Gelegenheit hierfür bot sich ihm zunächst in seinen französischen Opern, vor allem weil die dort verwendeten Versformen überwiegend heterometrisch und somit wesentlich flexibler gestaltet sind als die italienischen und zudem durch die häufige Verwendung von Langversen wie dem Alexandriner sehr weiträumig disponierte melodische Bögen ermöglichen. Hierauf – und nicht etwa auf eine angebliche Wagner-Rezeption – lassen sich auch die grundsätzlichen Unterschiede in der melodischen Gestaltung etwa des Don Carlos gegenüber den früheren italienischen Werken zurückführen. Don Carlos enthält tatsächlich in überaus reicher Zahl jene gleichsam unendlichen Vokalmelodien, die aufgrund ihrer irregulären metrischen Strukturen den freien Melodiebildungen Wagners in gewisser Weise vergleichbar, wenngleich nicht wirklich ähnlich sind.17 Hinter den Stand des Don Carlos brauchte Verdi auch in seinen späteren italienischen Opern nicht mehr zurückzugehen, da inzwischen auch der italienischen Librettistik eine wesentlich größere metrische Vielfalt und Komplexität zu Gebote stand, wie vor allem bei Arrigo Boito, dem Dichter von Otello und Falstaff, zu beobachten ist, aber auch bereits beim Librettisten der Aida, Alberto Ghislanzoni. Angesichts dieser Entwicklungen wäre es abwegig, die Weiterentwicklung der melodischen Gestaltung beim späten Verdi auf eine angebliche Wagner-Rezeption zurückführen zu wollen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem dritten der hier zur Diskussion ­stehenden Phänomene, der Durchkomposition. Denn auch die Abgrenzung von Rezitativ und Arie bzw. geschlossener Nummer ist in der italienischen Oper primär literarisch und erst in zweiter Linie musikalisch begründet: Reimlosen, heterometrischen und prosaähnlichen Rezitativversen (versi sciolti) stehen metrisch festgefügte und gereimte versi lirici gegenüber, die allein zur Vertonung geschlossener Musiknummern Verwendung fanden.18 Auch diese scharfe Trennung ist in der französischen Librettistik nicht existent, und die Flexibilität, die Verdis Dialogvertonung etwa im Don Carlos auszeichnet, ­profitiert von diesem Unterschied. Und auch bei den sogenannten „Leitmotiven“, dem am stärksten mit Wagner assoziierten Charakteristikum, gibt es keine direkte Verbindung zwischen

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beiden Komponisten, sondern lediglich gemeinsame Wurzeln. Die Verwendung charakteristischer wiederkehrender melodischer und harmonischer Strukturen, die einzelnen Personen, Sachen oder Ideen zugeordnet sind, war ein vor allem in der französischen Oper so selbstverständlicher Vorgang, dass eine nähere Erörterung an dieser Stelle unnötig erscheint. Spätestens seit Grétrys Oper Richard Coeur-de-lion aus dem Jahre 1784, in der eine Erkennungsmelodie insgesamt neunmal im Verlaufe der Oper erklingt und eine entscheidende musikdramaturgische Funktion besitzt, ist das Verfahren bekannt, oft geradezu essenziell. Dass Verdi an diese Praxis schon frühzeitig anknüpfte, versteht sich angesichts seiner zahlreichen und langanhaltenden Paris-Aufenthalte, die im Zusammenhang mit seinen diversen Verpflichtungen für die Grand Opéra stehen und nicht zuletzt dem Studium französischer Bühnenwerke dienten, beinahe von selbst.

Aufführungszahlen gestern und heute Die verbreitete Neigung, musikalische Analogien im Werk beider Komponisten als vermeintliche Einflüsse Wagners auf Verdi zu deuten, hat zumal in Deutschland ihre Ursache in der sehr unterschiedlichen Rezeption ihrer Werke am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Vergleich der deutschsprachigen Wagner- und Verdi-Literatur dieser Zeit verdeutlicht diese Unterschiede.19 Weniger eklatant, wenngleich ebenfalls beträchtlich, war der Abstand zwischen Wagner und Verdi in der Spielplanstatistik um 1900. Aus Franz-Heinz Köhlers Untersuchung über Die Struktur der Spielpläne deutschsprachiger Opernbühnen von 1896–196620 geht deutlich hervor, wie sich die Aufführungszahlen Verdis und Wagners in Deutschland entwickelten, und zwar von einem Zeitpunkt an, als Verdi noch lebte und Wagner erst 13 Jahre tot war. Es zeigt sich, dass Wagner zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar noch unangefochten die Spielpläne dominierte, aber ab diesem Zeitpunkt kontinuierlich Aufführungen verlor, und zwar überwiegend zu Gunsten von Verdi, später auch von Mozart und Puccini. Besonders dramatisch spitzt sich diese für Wagner negative Tendenz ausgerechnet in der Zeit des Nationalsozialismus zu: Nie zuvor hat Wagner in der Spielplanstatistik einen stärkeren Einbruch erlebt als im Laufe der dreißiger und vierziger Jahre. Und es entbehrt nicht der histo­ rischen Ironie, dass die Verdi-Renaissance, die sich nicht zuletzt mit Franz Werfels eingangs zitiertem Roman verbindet, just in jener Epoche ihren Höhepunkt erlebte, die man in Deutschland musikalisch in der Regel vor allem mit Wagner in Verbindung bringt, nämlich im sogenannten „Dritten Reich“.21 Im Zentrum der Diskussionen um Wagner und den Nationalsozialismus stehen drei Tatsachen, an denen nicht zu zweifeln ist: Erstens war Wagner ein

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sehr dezidierter Antisemit, zweitens war Adolf Hitler ein fanatischer WagnerVerehrer, und drittens waren die in den 1920er bis 1940er Jahren in Bayreuth tonangebenden Mitglieder der Wagner-Familie sowie deren Entourage in der Mehrzahl überzeugte Nationalsozialisten. Das Unternehmen Bayreuth stellte sich vollends in den Dienst der nationalsozialistischen Herrschaft und wurde so zum kulturpolitischen Aushängeschild des Dritten Reiches. Was aber haben diese Tatsachen mit dem Werk Richard Wagners zu tun? Die Literatur zu dieser Frage ist so umfangreich und vielfältig, dass an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise die wichtigsten Positionen referiert werden können. Die pauschale Behauptung indes, dass die Opern Wagners eine ideologische Vorreiterrolle für den Nationalsozialismus gespielt hätten, wäre in dieser Verkürzung sicherlich unhaltbar. Wagners anarchische, revolutionäre und zugleich pessimistische Weltsicht sowie der von ihm selbst wie auch in nahezu allen seinen Opernfiguren repräsentierte extreme Individualismus waren kaum kompatibel mit den Grundlagen nationalsozialistischer Ideologie. Und die gebrochene und am Ende vernichtete Gestalt des Weltenherrschers Wotan in Wagners Ring des Nibelungen beispielsweise entsprach keineswegs dem, was sich nationalsozialistische Vordenker wie Alfred Rosenberg unter der Wiederbelebung der germanischen Mythologie konkret vorstellten. Und auch wenn der „Mythos Wagner“22 während des Nationalsozialismus auf unterschiedlichen Ebenen neue Nahrung erhielt, war der Rückgang seiner musikalischen Präsenz im deutschen Opernleben spätestens seit dieser Zeit unumkehrbar. Man darf also nicht den Fehler begehen, den persönlichen Musikgeschmack Adolf Hitlers (der keineswegs repräsentativ für die Führungsriege der Nationalsozialisten war) und die besondere Rolle Bayreuths mit der Kulturpolitik oder dem Musikleben dieser gesamten Epoche gleichzusetzen. Hierfür ist symptomatisch, dass sich Verdi genau in jener Zeit an die Spitze des Repertoires setzte, eine Position, die er bis in die Gegenwart weltweit behauptet. Während Verdi sowohl in den 1940er wie auch in den 1950er Jahren in Deutschland bei durchschnittlich rund 1.800 Aufführungen rangierte, ging Wagners Anteil kontinuierlich zurück: rund 1.600 im Jahre 1934, sodann etwa 1.400 im Jahre 1937, nur noch 1.200 im Jahr 1940, zwei Jahre später nur noch rund 1.000, schließlich 800 in den 1950er Jahren und ungefähr 500 Aufführungen jährlich seit etwa 1970 bis heute. Köhlers Spielplanstatistik endet mit dem Jahr 1966. Will man die Entwicklung in den letzten rund 50 Jahren verfolgen, so ist die seit der Spielzeit 1958/59 jährlich erscheinende Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins auszuwerten, was im Folgenden einmal ansatzweise unternommen sei.23 Sie enthält alle Theateraufführungen in Deutschland, Österreich und den deutschsprachigen Teilen der Schweiz, unterteilt nach Theatergattung, Autor, Werk, Ort und Anzahl der Aufführungen.

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Abbildung: Spielplananteile ausgewählter Komponisten an deutschen Bühnen 1896–1966.

Die Grafik enthält lediglich die Repertoireanteile der meistgespielten Komponisten, d.h. jener,

die einen Marktanteil von mindestens 4 % im jeweiligen Zeitabschnitt erreicht haben. Um die

Jahrhundertwende sind das Wagner, Mozart, Lortzing, Verdi, Goldmark, Meyerbeer und Weber. Erstaunlich ist nebenbei, wie lange sich Albert Lortzing unter den meistgespielten Komponisten behaupten kann.

Quelle: Franz-Heinz Köhler, Die Struktur der Spielpläne deutschsprachiger Opernbühnen von 1896–1966. Eine statistische Analyse, Koblenz 1968, S. 36.

1960/1961–1969/1970 1970/1971–1979/1980 1980/1981–1989/1990 1990/1991–1999/2000 2000/2001–2009/2010 Gesamt 1960–2010

Verdi

Wagner

18.766 10.625 9.107 12.280 10.731 66.778

6.819 4.815 4.382 5.176 5.084 28.152

Tabelle 1: Aufführungen der Opern von Verdi und Wagner in Deutschland, Österreich und der Schweiz pro Jahrzehnt (1960–2010)

Seit den sechziger Jahren bis heute sind die Marktanteile von Verdi und Wagner mehr oder weniger konstant. Jahr für Jahr werden rund tausend Verdi- und etwa fünfhundert Wagner-Aufführungen gezählt. Verdi ist also unverändert seit vielen Jahrzehnten mindestens doppelt so stark auf den Spielplänen der deutschen Bühnen vertreten wie Wagner.24 Zugleich lässt sich deutlich erkennen, wie diese Tendenzen an die bei Köhler dokumentierten Entwicklungen nahtlos anschließen. Der gewaltige Abstand zwischen Verdi und Wagner reduziert sich jedoch beträchtlich, wenn man die Anzahl der pro Jahr gezeigten Inszenierungen vergleicht, und nicht jener der Aufführungen. Ganz offen-

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sichtlich bringt eine Verdi-Produktion eine wesentlich höhere Aufführungszahl pro Spielzeit hervor. Umgekehrt verbleiben die Wagner-Inszenierungen in der Regel länger im Spielplan, ein Unterschied, auf den noch zurückzukommen sein wird. Durchschnittlich wird jede Verdi-Produktion neunmal pro Spielzeit gezeigt, während Wagner-Inszenierungen in der Regel nur vier oder fünf Aufführungen erreichen. Hierbei müssen freilich auch ökonomische Faktoren und logistische Engpässe berücksichtigt werden: Wagners Opern erfordern zumeist nicht nur ein größeres Orchester, sondern vor allem eine längere Aufführungsdauer. Da sie mit Ausnahme des Fliegenden Holländers und Rheingold mehr als drei Stunden Spielzeit erfordern, wird hierbei jeweils ein Doppeldienst des Orchesters fällig, was für die künstlerischen Betriebsbüros die Disposition einer größeren Anzahl von Wagner-Aufführungen nahezu unmöglich macht, jedenfalls an kleineren und mittleren Bühnen. Unter den dreißig meistgespielten Opern der Spielzeit 2010/11 (d.h. der zweitjüngsten statistisch vollständig dokumentierten) finden sich sieben Werke von Verdi (La traviata, Aida, Rigoletto, Macbeth, Il trovatore, Otello und Nabucco), aber nur eine Oper von Wagner (Rheingold). Auch wenn diese Spiel 1.  2.  3.  4.  5.  6.  7.  8.  9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.

La traviata Rigoletto Der fliegende Holländer Il trovatore Un ballo in maschera Aida Otello Don Carlos Nabucco Tannhäuser La forza del destino Lohengrin Falstaff Die Meistersinger Macbeth Das Rheingold Tristan und Isolde Die Walküre Parsifal Simone Boccanegra Siegfried Götterdämmerung

Tabelle 2: Die meistgespielten Opern Verdis und Wagners (1960–2010)

Gesamt 11.081 9.327 6.930 6.596 5.917 5.654 5.094 4.987 4.788 3.930 3.566 3.421 3.378 2.883 2.205 2.069 2.028 2.011 1.972 1.558 1.287 1.117

Pro Jahr 209 176 131 124 114 107 96 94 90 74 69 65 64 55 43 40 39 39 38 30 25 21

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Spielzeit atypisch und für Wagner besonders ungünstig ausgefallen sein mag, da man bereits im Hinblick auf das Jubiläum plante und Neuproduktionen noch zurückhielt, zeigen sich doch hier gleichwohl sehr bezeichnende Rela­tionen. Wenn man alle Aufführungszahlen der Verdi- und Wagner-Opern seit 1958 addiert, erhält man ein bemerkenswertes Ranking, in dem nur zwei WagnerTitel unter den ersten zehn Plätzen auftauchen. Die rund 11.000 dokumentierten Aufführungen von La traviata im Verlauf von 52 Spielzeiten ergeben einen Durchschnittswert von 209 Vorstellungen pro Jahr und damit einen etwa zehnmal höheren Marktanteil als den der Götterdämmerung. Annä­herungsweise ließe sich davon sprechen, dass Opern mit durchschnittlich ­mindestens 100 Aufführungen pro Jahr zum Kernrepertoire der Bühnen des deutschen Sprachraums zählen, jene mit mehr als 50 Aufführungen zum S ­ tandardrepertoire. Unterhalb dieses Wertes könnte man ein erweitertes Repertoire ansetzen. Auffallend sind auch die Schwankungsbreiten in der Popularität einzelner Werke. Unter den fünf meistgespielten Verdi-Opern – La traviata, Rigoletto, Il trovatore, Un ballo in maschera und Aida – fällt vor allem der kontinuierliche Popularitätsabsturz des Trovatore vom zweiten auf den fünften Rang auf.

La traviata Rigoletto

Il trovatore Un ballo in maschera Aida

Otello Don Carlos Nabucco

La forza del destino Falstaff

Macbeth

Simone Boccanegra

Luisa Miller Attila Ernani

1960– 1965– 1970– 1975– 1980– 1985– 1990– 1995– 2000– 2005– 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 1.342 1.192 1.699 889

670 788

941 631

510 706

754 1.415 1.142 683 945 839

942 1.172 748 755

1.478

899

559

582

543

440

482

464

432

266

1.211

519

377

585

340

474

374

504

392

431

995

706

608

241

324

379

422

558

460

445

995

522

524

357

382

307

366

503

263

418

708

585

648

399

402

355

415

276

546

362

1.121

714

404

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335

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354

509

358

321

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Tabelle 3: Die 15 in Deutschland, Österreich und der Schweiz meistgespielten Opern Verdis (Anzahl der Aufführungen je Fünfjahreszeitraum)

Konstanten und Konjunkturen  |

Umgekehrt setzte der Aufstieg von La traviata – die sich zu Beginn der sechziger Jahre noch auf dem dritten Rang hinter Rigoletto und Il trovatore be­fand – erst in den neunziger Jahren ein. Bemerkenswert ist auch, dass Aida, nach einem historischen Tiefpunkt in den siebziger Jahren, seit den achtziger Jahren wieder kontinuierlich im Aufstieg begriffen ist. Ä ­ hnliche Beobachtungen kann man auch bei den nachfolgenden Werken machen. Während der Niedergang von Nabucco zunächst noch dramatischer ausfiel als jener des Trovatore, so zeichnet sich hier seit den achtziger Jahren eine Wiederbelebung ab. Typisch für das deutsche gegenüber dem internationalen Repertoire ist die traditionell starke Position von Don Carlos, ein Werk das auch in der Entwicklung des sogenannten „Regietheaters“ eine wichtige Rolle spielt. Macbeth, der in den neunziger Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebte, und Simone Boccanegra komplettieren den Kanon der zwölf Repertoireopern Verdis. Unterhalb dieser zwölf Werke rangieren drei weitere Opern, die seit den sechziger Jahren allmählich auf die Spielpläne zurückgekehrt sind: Ernani, Attila und Luisa Miller. Doch während die beiden Ersteren zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder völlig eingebrochen sind, hält der kontinuierliche Aufstieg von Luisa Miller unvermindert an, und man kann diese Oper heute zum erweiterten Repertoire rechnen, im selben Maße wie etwa Macbeth oder auch Wagners Siegfried.

Der fliegende Holländer

1960– 1965– 1970– 1975– 1980– 1985– 1990– 1995– 2000– 2005– 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 974

809

685

551

519

586

758

649

543

555

Tannhäuser

774

395

423

303

273

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260

347

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359

Lohengrin

565

488

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325

251

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615

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Die Meister­ singer Das Rheingold Tristan und Isolde

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Die Walküre

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Parsifal

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Siegfried

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87

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135

104

Götterdämmerung

Tabelle 4: Die 10 in Deutschland, Österreich und der Schweiz meistgespielten Opern Wagners (Anzahl der Aufführungen je Fünfjahreszeitraum)

Bei Wagner zeigt sich eine insgesamt konstantere Lage. Die Verhältnisse zwischen den fünf meistgespielten Opern haben sich nur wenig verändert. Aller-

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dings hat Lohengrin die größten Verluste erlitten, während Rheingold immer häufiger unabhängig von der Tetralogie aufgeführt wird und derzeit den dritten Platz hinter dem Fliegenden Holländer und Tannhäuser einnimmt. Bemerkenswert ist ebenfalls der deutliche Anstieg des Parsifal vom zehnten auf den sechsten Rang im Verlaufe der letzten fünfzig Jahre. Generell lässt sich eine Angleichung feststellen: Die Aufführungszahlen der traditionell populärsten Opern  – Holländer, Tannhäuser und Lohengrin  – gehen etwas zurück, Die Meistersinger halten sich in etwa auf demselben Niveau, und die übrigen Werke verzeichnen einen leichten, aber kontinuierlichen Anstieg.

Inszenierungstraditionen und Regietheater Vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklung der Aufführungszahlen seien abschließend einige Tendenzen der Wagner- und Verdi-Inszenierungen während der letzten Jahrzehnte betrachtet. In den fünfziger und sechziger Jahren standen sich in der deutschen Opernregie vor allem zwei Modelle einander gegenüber: das „Neu-Bayreuth“ Wieland Wagners in der Bundesrepublik und das „realistische Musiktheater“ Walter Felsensteins in der DDR. Der stilistische Gegensatz beider Konzeptionen geht zugleich mit unterschiedlichen Repertoireschwerpunkten einher. Während Wieland Wagner zwangsläufig vom Werk seines Großvaters ausging, konzentrierte sich Felsenstein vor allem auf Verdi, Mozart und Offenbach.25 Die Regiearbeiten Wieland Wagners, der nach Ausbildung und Selbstverständnis ein bildender Künstler war, sind in erster Linie aus einer visuellen Konzeption des theatralen Raumes heraus entwickelt und zeichnen sich durch einen symbolistischen Minimalismus aus.26 Der Ansatz Felsensteins hingegen ist ein primär dramaturgischer, der nicht nur eine sehr umfassende Analyse des Librettos und der als Regiebuch verstandenen Partitur voraussetzt, sondern die Subtexte und Kontexte des Werkes, seiner Entstehungsgeschichte und seiner Rezeption in multiperspektivischer Weise erschließt.27 Grundlegend für Felsenstein wie für die Tradition der von ihm 1947 begründeten Komischen Oper Berlin ist die ausschließliche Verwendung des Deutschen als Aufführungssprache. Felsenstein selbst hat zahlreiche Operntexte ins Deutsche übersetzt, darunter nicht zuletzt auch Rigoletto, La traviata und Otello. Geradezu sprichwörtlich war Felsensteins Perfektionismus in der Probenarbeit, der sich nicht zuletzt darin zeigte, dass auch jeder einzelne Chorist wie ein Solist („Chorsolist“) behandelt wurde. Freilich würde sich ein Zerrbild ergeben, wollte man den Kontrast zwischen dem Stil „Neu-Bayreuths“ und dem „realistischen Musiktheater“ auf die Opposition Wagner – Verdi herunterbrechen. Das zeigt sich besonders deutlich auch bei Felsensteins Weggefährten, Schülern und Nachfolgern wie Joachim Herz,28 Ruth Berghaus,29 Götz

Konstanten und Konjunkturen  |

Friedrich30 und Harry Kupfer,31 in deren Schaffen Wagner eine mindestens ebenso große Rolle spielt wie Verdi. Kennzeichnend für die Felsenstein-Schule des realistischen Musiktheaters war zudem eine bis in die Gegenwart hinein Maßstäbe setzende musikdramaturgische Professionalität und handwerkliche Perfektion der Operninszenierung.32 Seit den 1970er Jahren gastierten alle vier regelmäßig an bedeutenden Opernhäusern westlich des „Eisernen Vorhangs“, Friedrich und Kupfer auch in Bayreuth. Joachim Herz, Felsensteins unmittelbarer Nachfolger an der Komischen Oper, ist heute nicht zuletzt durch seinen Leipziger Ring (1973–76) im Gedächtnis, der jenem von Patrice Chéreau nicht nur chronologisch, sondern auch konzeptionell zuvorkam, indem er die Tetralogie erstmals als antikapitalistische Parabel des bürgerlichen Zeitalters interpretierte. Ähnliches deutete sich unmittelbar zuvor bereits bei Götz Friedrich an, in dessen Bayreuther Tannhäuser von 1972, wenige Monate bevor sich Friedrich in den Westen absetzte. Ebenso nachhaltig wirkte der Bayreuther Fliegende Holländer von Harry Kupfer (1978), der als psychologisches Drama die Geschichte als Traum Sentas erzählte. Kupfers Einfluss im Westen war ebenfalls immens, doch blieb er seiner Position als Chefregisseur der Komischen Oper bis zum Jahre 2002 treu. Wie sehr sich die Traditionslinien zwischen Ost und West wie auch jene zwischen Verdi und Wagner kreuzen, lässt sich am Repertoire der führenden deutschen Opern-Regisseure in dieser Zeit ablesen.33 Dabei werden klare Vorlieben deutlich; neben den für beide gleichermaßen zuständigen „Generalisten“ zeichnen sich bei einigen Regisseuren deutliche Spezialisierungen entweder für Verdi oder für Wagner ab.34 Wenn Hans Neuenfels, Peter Konwitschny und Andreas Homoki zunächst als Verdi-Spezialisten gelten können, so lassen sich Hans Hollmann, Nikolaus Lehnhoff und Herbert Wernicke unter den dezidierten Wagner-Regisseuren dieser Zeit nennen. Lehnhoff war Assistent Wieland Wagners bis zu dessen Tod, und die Karriere von Wernicke kommt ebenso wie jene von Achim Freyer aus der Bildenden Kunst und der Bühnendekoration her.35 In den deutschen Verdi-Inszenierungen dieser Zeit scheint dagegen die visuelle Gesamtkonzeption eine geringere Rolle zu spielen als die dramaturgische; lediglich Aida – deren bereits erwähnter Wiederaufstieg in der Spielplanstatistik nicht zuletzt durch politische Deutungen beflügelt wurde – bildet hier bisweilen eine Ausnahme, so etwa in den kunstvoll dekorierten Museumsinstallationen von Pet Halmen (Düsseldorf 1987 und Staatsoper Berlin 1995) oder der statuarischen Ästhetik der Langsamkeit eines Robert Wilson (Baden-Baden 2006). Sowohl bei Neuenfels als auch bei Konwitschny ist die Dimension des vordergründig Dekorativen dagegen eher zu vernachlässigen. Die Karrieren beider Regisseure nahmen im Sprechtheater ihren Ausgang. Neuenfels war zeitwielig der umstrittenste Theaterregisseur in Deutschland sowohl im Schauspiel als auch in der Oper.36 Seine Aida als

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Putzfrau (Frankfurt 1981) schockierte das Publikum ebenso wie die Priester auf Panzerfahrzeugen in La forza del destino (Berlin 1982) oder Azucena als Asylanwärterin auf einem Campingplatz (Berlin 1996). Nach seinem Operndebüt im Jahre 1974 mit Il trovatore sollten immerhin zwei Jahrzehnte vergehen, bis Neuenfels erstmals auch eine Wagner-Oper inszenierte (Die Meistersinger von Nürnberg in Stuttgart 1994), und sogar 36 Jahre bis zu seiner bisher einzigen Einladung nach Bayreuth (Lohengrin im Jahre 2010). Peter Konwitschny, der ehemalige Assistent von Ruth Berghaus an dem von Bertolt Brecht begründeten Berliner Ensemble, begann in der Oper ebenfalls mit Verdi, ehe er sich – erst lange nach der Wende von 1989/90 – zunehmend auch mit Wagner auseinandersetzte.37 Womöglich war Konwitschny der erste, der auch bei Wagner ähnlich radikale „diegetische Transpositionen“38 ins Werk setzte, wie sie inzwischen auch international als Kennzeichen des deutschen Regietheaters gelten. Wegweisend war hier Konwitschnys in einer Schulklasse angesiedelter Lohengrin (Hamburg 1998), in welchem Elsa, Ortrud und Telramund als Pennäler von dem gestrengen Schulmeister Heinrich unterwiesen wurden. Auch Andreas Homoki hatte zunächst u.a. mit fünf Verdi-Inszenierungen für Furore gesorgt: Aida (Hannover), Rigoletto (Hamburg), La traviata und Macbeth (beide Leipzig) sowie Falstaff (Berlin). Seine Erfolge als Verdi-Regisseur waren eine wesentliche Grundlage für seine Ernennung zum Nachfolger Harry Kupfers als Chefregisseur (2002) und sodann Intendant der Komischen Oper Berlin (2003–2012). Bei den Enfants terribles der heutigen jüngeren Generation lassen sich ähnliche Laufbahnen verfolgen. Insbesondere der vornehmlich in Deutschland tätige Katalane Calixto Bieito machte sich zunächst unter anderem durch fünf Verdi-Produktionen einen Namen, ehe er den Fliegenden Holländer und Parsifal in Stuttgart realisierte.39 Dass zahlreiche Vertreter des modernen Regietheaters vom Sprechtheater kommend in der Oper zunächst mit Verdi debütierten, um sich erst in späteren Jahren auch Wagner zuzuwenden, ist nicht unbedingt überraschend: Der Auftrag für eine Verdi-Inszenierung bedeutet für Theaterintendanten ein geringeres Risiko, und zumal den Ring des Nibelungen wird man kaum einem Anfänger übertragen. Gleichzeitig führen die geschilderten Produktionsengpässe gewöhnlich zu einer längeren Verweildauer von Wagner-Inszenierungen im Repertoire. Die Wagner-Regie ist aber nicht allein im materiellen Sinne tendenziell konservativ. Gerade in Bayreuth, wo Chéreau, Friedrich und Kupfer in den siebziger Jahren so grundlegende Innovationen bewirkt hatten, schirmte man sich in den achtziger und neunziger Jahren weitgehend gegen die Versuchungen des Regietheaters ab. Erst seit 2004 brachen auch hier die Dämme, und eine ganze Lawine experimenteller Regiearbeiten wurde am Grünen Hügel ausgelöst: Auf den Parsifal Christoph Schlingensiefs folgten Tristan und

Konstanten und Konjunkturen  |

Isolde von Christoph Marthaler, Parsifal von Stefan Herheim, Lohengrin von Hans Neuenfels, Tannhäuser von Sebastian Baumgarten und im Jubiläumsjahr 2013 der neue Ring von Frank Castorf. Somit präsentiert sich das gegenwärtige Bayreuth in einem dialektischen Sinne retrospektiv: nicht nur als weltweit gefeierter Wagner-Tempel, sondern zugleich als ein ziemlich grelles Museum des Regietheaters. Im internationalen Maßstab wird das Regietheater zumeist als eine besonders „deutsche“ Inszenierungstradition wahrgenommen. Gerade Wagner und Verdi zählten indes bekanntlich zu den ersten Opernkomponisten, bei denen die Inszenierung zu einem unter der vollständigen Kontrolle der Autoren schriftlich fixierten Werkbestandteil wurde. Vergleichbar dem Stellenwert der Inszenierung in Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks forderte auch Verdi die verbindliche Festschreibung aller szenischen, visuellen und bühnentechnischen Vorgänge. Als erster italienischer Komponist setzte er ab den 1850er Jahren durch, dass die Regiebücher seiner Opern von seinem Verleger Ricordi gedruckt und gemeinsam mit Partitur und Libretto als verbindliche Aufführungsgrundlage vertrieben wurden.40 Und ebenso wie Wagner kannte er diese Praxis aus Paris und der dortigen Grand Opéra, jener Form des musikalischen Dramas, die im 19. Jahrhundert die höchste Perfektion in der Vereinigung aller künstlerischen Dimensionen erreicht hatte und die zugleich auch über die besten finanziellen, personellen und bühnentechnischen Voraussetzungen hierfür verfügte. Seit Ende der 1820er Jahre wurden Pariser Regiebücher erfolgreicher Opernproduktionen publiziert, um den Theatern in der Provinz und im Ausland eine möglichst originalgetreue Wiedergabe zu ermöglichen.41 Verdi wurde mit dieser Praxis erstmals 1855 konfrontiert, als er anlässlich der Pariser Weltausstellung Les Vêpres siciliennes an der Opéra herausbrachte. Er war von diesen neuen Möglichkeiten der minutiösen Festlegung aller szenischen Vorgänge so beeindruckt, dass er seinen Verleger Ricordi anwies, von nun an auch in Italien für jede seiner neuen Opern eine so genannte disposizione scenica zu veröffentlichen.42 Die umfassende Überlieferung der von Verdi und Wagner autorisierten originalen Inszenierungen könnte nicht allein für die Opernforschung, sondern auch für die Bühnenpraxis ein wertvolles Studienobjekt darstellen. Doch während die Historisierung der musikalischen Aufführungspraxis allmählich die Werke Wagners und Verdis zu erreichen beginnt, hat sich die heutige Inszenierungspraxis zumal in Deutschland denkbar weit von der historisch überlieferten Darstellungsweise entfernt. Dies freilich aus gutem Grund, denn generell ist jedes Theater eine Kunstform in der Gegenwart und für ein gegenwärtiges Publikum. Die Forderung nach vollständiger „Werktreue“ auch im szenischen Bereich wäre daher ein fundamentalistischer Anspruch, der dem Inbegriff des Theaters als einer Gegenwartskunst zuwiderliefe. Vielmehr

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scheint es zum Wesen des Gesamtkunstwerks Oper zu gehören, dass diese sich permanent verändern muss. Gerade in Deutschland, dem Land mit der weltweit größten Zahl von Opernbühnen, lässt sich das am Beispiel Wagners und Verdis besonders anschaulich studieren.

Anmerkungen 1 Vgl. Anselm Gerhard, Verdi-Bilder, in: Verdi-Handbuch, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Stuttgart/Weimar 22013, S. 2–27, hier S. 14. 2 „Triste, triste, triste! Wagner è morto! [...] E’ una grande individualità che sparisce! Un nome che lascia un‘impronta potentissima nella storia dell’arte.“ Brief an Giulio Ricordi aus Genua vom 14. Februar 1883. Vgl. Giuseppe Verdi, Briefe, hrsg. und eingeleitet von Franz Werfel, übersetzt von Paul Stefan, Berlin/Wien/Leipzig 1926, S. 310f. 3 Zu Werfels Roman und seiner Rolle für die „Verdi-Renaissance“ vgl. Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst. Zur Bedeutung Franz Werfels für die deutsche „VerdiRenaissance“, Schliengen 2000; dies., „... der erstarrten Opernproduktion neue, ja neue Wege gewiesen werden“: Franz Werfels Beitrag zur Neubewertung Giuseppe Verdis in der deutschen „Verdi-Renaissance“, in: Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft. Bericht über den Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Halle (Saale) 1998, Bd. 2, Kassel 2000, S. 654–660; dies., Franz Werfel und Giuseppe Verdi: Umdeutungen und Neudeutungen in erinnerungskulturellem Kontext, in: Österreichische Musikzeitschrift, 68/1 (2013), S. 14–22; Gundula Kreuzer, Deception on stage: Don Carlo di Vargas and Franz Werfel’s politics of operatic translation, in: Music, theatre and politics in Germany. 1848 to the Third Reich, hrsg. von Nikolaus Bacht, Aldershot 2006, S. 137–157. 4 Dieses Konzert hat tatsächlich stattgefunden: Wagner brachte am 25. Dezember 1882 in Venedig seine bereits 1832 komponierte C-Dur-Symphonie zur Aufführung. Verdi hingegen verbrachte die Weihnachtszeit 1882 im Palazzo Doria in Genua. Vgl. Mary Jane Philipps-Matz, Verdi. A Biography, Oxford – New York 1983, S. 667f. 5 Franz Werfel, Verdi – Roman der Oper, ungekürzte Neuausgabe, Frankfurt 1979, S. 22. 6 Ebd., S. 306. 7 Ebd., S. 307. 8 Ebd., S. 315. 9 Zu Wagners Rezeption italienischer Opern vgl. u.a. Egon Voss, Einflüsse Rossinis und Bellinis auf das Werk Wagners, in: Richard Wagner und seine Lehrmeister, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling und Kristina Pfarr, Mainz 1999, S. 95–118; ders., Wagner und Rossini oder „Un nouvel Orphée“ und „Der ungemein geschickte Verfertiger künstlicher Blumen“, in: ders., „Wagner und kein Ende“. Betrachtungen und Studien, Zürich 1996, S. 377–391; Luca Zoppelli, Richard Wagners Bellini-Bild, in: Das Bild der italienischen Oper in Deutschland, hrsg. von Sebastian Werr und Daniel Brandenburg, Münster 2004, S. 170–176.

Konstanten und Konjunkturen  |

10 Vgl. hierzu u.a. Marcello Conati, Verdi vs. Wagner, in: Verdi Forum 26–27 (1999/2000), New York 2000, S. 4–16; Fabrizio Della Seta, Verdi, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 16, Kassel u.a. 2006, Sp. 1437–1483, insb. 1471f.; Uwe Schweikert, „Auch ich will die Zukunftsmusik“. Verdi und Wagner – Bilanz einer einseitigen Beziehung, in: wagnerspectrum 6 (2010), S. 99–129. 11 Vgl. ebd., insb. S. 123–129, sowie den Beitrag von Johannes Schild im vorliegenden Band. 12 In Verdis Bibliothek in Sant’Agata befinden sich Klavierauszüge von fünf weiteren Wagner-Opern: Tannhäuser, Die Walküre, Die Meistersinger von Nürnberg, Tristan und Isolde und Parsifal. Vgl. Eduardo Rescigno, Dizionario verdiano, Milano 2001, S. 506. 13 Vgl. Franco Abbiati, Giuseppe Verdi, Milano 1959, Bd. 3, S. 511. 14 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Jean-François Candoni im vorliegenden Band. 15 Zu Wagners Berlioz-Rezeption vgl. u.a. Frank Piontek, „Auch bin ich wahrlich nicht gleichgültig gegen ihn!“ Wagner und Berlioz, in: Berlioz, Wagner und die Deutschen, hrsg. von Sieghart Döhring, Arnold Jacobshagen und Gunther Braam, Köln 2003, S. 25–52; Herbert Schneider, Wagner, Berlioz und die Zukunftsmusik, in: Liszt und die Neudeutsche Schule, hrsg. von Detlef Altenburg, Laaber 2006, S. 77–96. 16 „In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend uns sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie. Nothwendig wird der Symphoniker nicht ohne sein eigenthümlichstes Werkzeug diese Melodie gestalten können; dieses Werkzeug ist das Orchester. Daß er dieses hierzu in einem ganz anderen Sinne verwenden wird, als der italienische Opernkomponist, in dessen Händen das Orchester nichts Anderes als eine monströse Guitarre zum Akkompagnement der Arie war, brauche ich Ihnen nicht näher hervorzuheben.“ Richard Wagner, Zukunftsmusik. An einen französischen Freund als Vorwort zu einer Prosa-Übersetzung meiner Operndichtungen, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 7, S. 203. 17 Hierzu vgl. Anselm Gerhard, Il primato della melodia. Riflessioni sull’analisi del dettaglio musicale nelle opere di Verdi, in: Studi Verdiani 18 (2004), S. 313–331; ders., Der Primat der Melodie. Überlegungen zur Analyse des musikalischen Details in Verdis Opern, in: Die Musikforschung, 59/4 (2006), S. 311–327; Andreas Giger, Verdi and the French aesthetic. Verse, stanza, and melody in nineteenth-century opera, New York/ Cambridge 2008. 18 Zur Versgestaltung bei Verdi vgl. Anselm Gerhard, Der Vers als Voraussetzung der Vertonung, in: Verdi-Handbuch, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Stuttgart/Weimar 22013, S. 201–222. 19 Erst im Zuge der sogenannten „Verdi-Renaissance“ wurden ab den 1920er Jahren grundlegende deutschsprachige Verdi-Monographien vorgelegt: Adolf Weißmann, Verdi, Stuttgart 1922; Herbert Gerigk, Giuseppe Verdi, Potsdam 1932. Vgl. hierzu auch oben, Anm. 3. 20 Franz-Heinz Köhler, Die Struktur der Spielpläne deutschsprachiger Opernbühnen von 1896–1966. Eine statistische Analyse, Koblenz 1968.

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21 Eine vergleichende Betrachtung der Spielplananteile Verdis und Wagners in diesem Zeitraum bietet Gundula Kreuzer, Verdi and the Germans. From Unification to the Third Reich, Cambridge 2009, S. 202–206. 22 Vgl. u.a. Udo Bermbach, Mythos Wagner, Berlin 2013, S. 255–285; Jens Malte Fischer, Richard Wagner und seine Wirkung, Zürich 2013. 23 Wer spielte was ? Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins, zuletzt erschienen: 2011/2012, Köln 2013. Die Werkstatistik erscheint jährlich seit der Spielzeit 1958/1958. 24 Hinsichtlich der Aussagekraft der statistischen Daten müssen einige Einschränkungen genannt werden, da nicht nur die Präsentation der Werkstatistik im Laufe der Jahrzehnte mehrfach geändert und die analysierten Kategorien erweitert wurden, sondern auch die Reichweite der Erfassung variiert. Während man in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren nur die Gesamtzahl der Aufführungen dokumentierte, so werden erst seit der Spielzeit 1980/81 die Zahlen für die drei Staaten Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Schweiz separat ausgewiesen. Die DDR fand nur in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre Berücksichtigung, ab der Spielzeit 1966/67 taucht sie in der Statistik nicht mehr auf, woraus sich teilweise der bedeutende Rückgang der Aufführungszahlen in dieser Periode erklären lässt. Erst seit der Wiedervereinigung, also ab der Spielzeit 1990/91, werden nicht nur die Gesamtzahlen, sondern auch die einzelnen Theater individuell erfasst. Angesichts der Nichtberücksichtigung der DDR in den Jahren 1966 bis 1990 könnte man einen starken Anstieg ab 1990 erwarten, doch zeigt sich gerade bei den Wagner-Aufführungen eine Stagnation. Dieser Unterschied lässt sich teilweise darauf zurückführen, dass sich Wagner-Aufführungen in der DDR zumal gegen Ende ihrer Existenz fast ausschließlich auf Berlin, Leipzig und Dresden beschränkten, während Verdi auch sehr regelmäßig in den Theatern der Provinz gespielt wurde. Gleichwohl scheint es offensichtlich, dass der starke Rückgang in den sechziger Jahren nicht nur auf die statistische Ungenauigkeiten zurückgeht, sondern zum Teil auch auf einen generellen Akzeptanzverlust der Gattung Oper insgesamt. 25 Nicht zu vergessen ist freilich, dass auch Wieland Wagner mit seiner Aida (Deutsche Oper Berlin, 1961) einen wesentlichen Beitrag zur Verdi-Inszenierung nach dem Zweiten Weltkrieg leistete. Vgl. René Michaelsen/Nils Szczepanski, Verdi und das Regietheater. Verdi-Inszenierungen im 20. und 21. Jahrhundert, in: Verdi Handbuch, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Stuttgart/Weimar 22013, S. 652–676, insb. S. 666f. 26 Vgl. Walter Panofsky, Wieland Wagner, Bremen 1964; Antoine Goléa, Entretiens avec Wieland Wagner, Paris 1968; Claude Lust, Wieland Wagner et la survie du théâtre lyrique, Lausanne 1969; Geoffrey Skelton, Wieland Wagner. The Positiv Sceptic, London 1971; Christian Cheyrezy, Wieland Wagner et la mise en scène des drames wagnériens, in: Musique en jeu 22 (1976), S. 12–17; Berndt W. Wessling, Wieland Wagner. Der Enkel, Köln 1997; Irmgard Kapsamer, Wieland Wagner. Wegbereiter und Weltgeltung, Wien 2010. 27 Vgl. Clemens Pohl/Ernst Krause (Hrsg.), Felsenstein auf der Probe, Berlin 1971; Rainer Homann, Die Partitur als Regiebuch. Walter Felsensteins Musiktheater, Osnabrück 2005; Werner Hintze, Clemens Risi und Robert Sollich (Hrsg.), Realistisches Musiktheater. Walter Felsenstein: Geschichte, Erben, Gegenpositionen, Bielefeld 2008.

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28 Unter den Schriften zum Musiktheater von Joachim Herz vgl. Und Figaro läßt sich scheiden. Oper als Idee und Interpretation, München/Zürich 1985, sowie die dreibändige Edition Oper mit Herz: Das Musiktheater des Joachim Herz, hrsg. von Michael Heinemann, Köln 2010–2012. 29 Vgl. Friederike Nöhring, Bewegungsbiographie. Choreographische Chorarbeit bei Ruth Berghaus und ihre Inszenierungen von Musik, Berlin 2011. 30 Marianne Reißinger (Hrsg.), Götz Friedrich – Künstler wider Willen, Berlin 2000; Johanna Eggert (Hrsg.), Anfang heißt Ende und Ende ist Neubeginn. Götz Friedrich – Musiktheater, Berlin 2001. 31 Hans-Jochen Genzel/Eberhard Schmidt (Hrsg.), Harry Kupfer: Musiktheater, Berlin 1997; Dieter Kranz, Der Gegenwart auf der Spur. Der Opernregisseur Harry Kupfer, Berlin 2005. 32 Vgl. hierzu den gemeinsam von Walter Felsenstein, Joachim Herz und Götz Friedrich herausgegebenen Band Musiktheater. Beiträge zur Methodik und zu Inszenierungs-Konzeptionen, Leipzig 1970. 33 Nora Eckert bietet ein Verzeichnis der Regiearbeiten der führenden deutschen Opernregisseure bis 1995 in ihrem Buch Von der Oper zum Musiktheater: Wegbereiter und Regisseure, Berlin 1995, S. 228–254. 34 Unter diesen „Generalisten“ aus der alten Bundesrepublik, die sowohl Verdi als auch Wagner regelmäßig inszenierten, lassen sich etwa John Dew, Willy Decker, Günter Krämer, Michael Hampe oder Alfred Kirchner benennen. 35 Eine Übersicht über die Karrieren und Inszenierungen der wichtigsten Regisseure in Deutschland bietet das Buch von Manuel Brug, Opernregisseure heute, Berlin 2006. 36 Verdi- und Wagner-Erstinszenierungen von Neuenfels: Il trovatore (Nürnberg 1974), Macbeth (Frankfurt 1976), Aida (Frankfurt 1981), La forza del destino (Berlin 1982), Rigoletto (Berlin 1986), Meistersinger (Stuttgart 1994), Nabucco (Berlin 2000), La traviata (Berlin 2008), Tannhäuser (Essen 2008), Lohengrin (Bayreuth 2010). Ein vollständiges Inszenierungsverzeichnis findet sich in dem Band von Neuenfels, Das Bastardbuch – Autobiographische Stationen, München 2011, S. 459– 497. 37 Verdi- und Wagner-Erstinszenierungen von Konwitschny: Rigoletto (Halle 1988), Un ballo in maschera (Dresden 1994), Aida (Graz 1994), Parsifal (München 1995), Nabucco (Dresden 1996), Tannhäuser (Dresden 1997), Lohengrin (Hamburg 1998), Tristan und Isolde (München 1998), Macbeth (Graz 1999), Götterdämmerung (Stuttgart 2000), Falstaff (Graz 2001), Don Carlos (Hamburg 2001), Meistersinger (Hamburg 2002), Der fliegende Holländer (Moskau 2004), Aida (Leipzig 2008). Ein Verzeichnis aller Inszenierungen, Projekte und pädagogischen Arbeiten Konwitschnys bis 2010 findet sich unter www.adk.de/de/archiv/archivbestand/darstellende-kunst/ kuenstler/Peter_Konwitschny_2.htm (zuletzt abgerufen am 2. August 2013). 38 Zur Terminologie und Inszenierungsanalyse von „Regietheater“ in der Oper vgl. Jürgen Kühnel, Regietheater. Konzeption und Praxis am Beispiel Mozarts. Versuch einer Typologie, in: „Regietheater“. Konzeption und Praxis am Beispiel der Bühnenwerke Mozarts. Salzburger Symposion 2005, hrsg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller und Oswald Panagl, Salzburg 2007, S. 13–30. 39 Verdi- und Wagner-Erstinszenierungen von Bieito: Un ballo in maschera (Barcelona 2000), La traviata (Hannover 2003), Il trovatore (Hannover 2003), Macbeth

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(Frankfurt 2005), Don Carlos (Basel 2006), Der fliegende Holländer (Stuttgart 2008), Aida (Basel 2010), Parsifal (Stuttgart 2010). Quelle: www.calixtobieito.com (zuletzt abgerufen am 2. August 2013). 40 Vgl. u.a. La realizzazione scenica dello spettacolo verdiano. Atti del congresso internazionale di studi, hrsg. von Pierluigi Petrobelli und Fabrizio Della Seta Parma, Parma 1996; James A. Hepokoski/Mercedes Viale Ferrero, Otello di Giuseppe Verdi, Milano 1990; Olga Jesurum, L’aspetto visivo delle opere di Verdi: le interpretazioni scenografiche della prima metà del Novecento in Italia, in: Verdi 2001. Atti del convegno internazionale, Parma/New York/New Haven, hrsg. von Fabrizio Della Seta, Firenze 2003, S. 339–349. 41 Vgl. H. Robert Cohen/Marie-Odile Gigou (Hrsg.), The Original Staging Manuals for twelve Parisian Operatic Premières, Stuyvesant/NY 1990; Arne Langer, Der Regisseur und die Aufzeichnungspraxis in der Opernregie im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1997; Arnold Jacobshagen, Analyzing mise-en-scène. Halévy’s La Juive at the Salle Le Pelletier, in: Theater, Music and Cultural Transfer (Paris 1830–1914), hrsg. von Annegret Fauser und Mark Everist, Chicago 2009, S. 176–194; ders., Oper als szenischer Text. Louis Paliantis Inszenierungsanweisungen zu Meyerbeers Le Prophète, in: Giacomo Meyerbeer, Le Prophète. Edition, Konzeption, Rezeption, hrsg. von Matthias Brzoska, Andreas Jacob und Nicole K. Strohmann, Hildesheim/Zürich/New York 2009, S. 181–212. 42 Un ballo in maschera sollte als erste italienische Oper 1859 in dieser Weise ausgestattet werden. Vgl. Un ballo in maschera di Giuseppe Verdi, hrsg. von David Rosen und Marinella Pigozzi, Milano 2002.

Rainer Nonnenmann

Tabu und Faszinosum Wagner und Verdi in der neuen Musik Verdi ist der Mozart Wagners.1

Mit der Musik von Richard Wagner und Giuseppe Verdi verhält es sich im Hinblick auf die neue Musik kaum anders als mit der des fast 100 Jahre jüngeren John Cage (1912–1992). Dieser markiert zwar in vielerlei Hinsicht den größten Gegensatz zu beiden Jubilaren des Jahres 2013, doch erscheinen Cages Ideen und Werke heute ebenso universal wie diejenigen von Wagner und Verdi, mit der Folge, dass selbst Ansätze in deren direkter Nachfolge oft gar nicht mehr auf Wagner, Verdi und Cage bezogen werden, weil sie längst als allgemeine Errungenschaften der historischen Avantgarde kollektiviert wurden. Viele Errungenschaften Verdis und Wagners sind heute eher insgeheim als entpersonalisiertes Allgemeingut in der neuen Musik wirksam, weshalb sie zumeist kaum mehr mit den beiden Großmeistern der dramatischen Musik des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Das ist erstaunlich und verwundert noch mehr angesichts des Umstands, dass verschiedene Richtungen der neuen Musik zu unterschiedlichen historischen Phasen immer wieder versucht haben, sich von bisherigen Traditionen möglichst rigoros abzugrenzen. Folglich müssten auch und gerade die beiden überragenden Größen Wagner und Verdi als Tabus gelten. Doch deren bis ins 20. und 21. Jahrhundert anhaltender Faszination konnten und wollten sich viele Vertreter der neuen Musik nicht entziehen. Die Rezeption von Wagner und Verdi in der neuen Musik bewegt sich daher bis heute zwischen den Spannungspolen Tabu und Faszinosum. Diese Ambivalenz verdankt sich nicht zuletzt der teils regelrecht antipodisch verlaufenen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Wagners und Verdis Musiktheaterkonzepten. Während Wagner seine Musikdramen als Fortsetzung von Beethovens Symphonik mit anderen Mitteln zu anderen Zwecken ausdrücklich als „Zukunftsmusik“ verstand, womit er tatsächlich richtungsweisende Innovationsschübe auslöste, die auch als solche wahrgenommen und europaweit aufgegriffen und fortgeschrieben wurden, zeigen dagegen Verdis Opern bei all ihrer musikdramatischen Brillanz und Ausdruckskraft auch konservative und akademische Züge im Sinne einer Fortschreibung bekannter Modelle, die sich seit dem 18. Jahrhundert in der italienischen und französischen Operntradition

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herausgebildet und bewährt hatten.2 Während Wagner eine neue Kunstform und dafür schließlich mit den Bayreuther Festspielen auch eine eigene Institution begründete, agierte Verdi als ein Glied der insgesamt eher konservativen italienische Musikkultur des 19. Jahrhunderts, die seit dem Barock fast ausschließlich eine Opernkultur war und daher primär von institutionellen, weniger von ästhetischen Gründen bestimmt wurde, weil das Musikleben von Opernhäusern dominiert wurde, die überwiegend auf traditionelle dramaturgische Rezepte setzten, um ohne größeres Risiko guten Publikumszuspruch und damit die wirtschaftliche Deckung der immensen Kosten dieser höchst aufwändigen Kunstform zu erzielen. Folglich fällt die kompositorische Verdi-Rezeption in der auf Veränderung und Innovation bedachten Musik des 20. und 21. Jahrhunderts sehr viel geringer aus als die nahezu uferlose und in ihrer Diversität kaum zu überblickende Rezeption Wagners. Nicht umsonst spricht man von „Wagnerismus“, „Wagnerianern“ und gar dem „Wagnern“ in der Musik, während ähnliche Formulierungen in Bezug auf Verdi kaum verbreitet sind. Zudem gibt es keinen Antiverdianismus, sehr wohl aber einen – teils konservativ, teils avantgardistisch motivierten – verbreiteten Antiwagnerismus.3 Nachdem Wagners Werk und Person während der Hochphase der Wagnermanie zwischen 1880 und 1910 in Deutschland, Frankreich und halb Europa nahezu krankhaft übersteigerte Verehrung erfahren hatten, begannen in den 1920er und folgenden Jahren die in Italien längst gefeierten Opern Verdis mit zunehmender Tendenz auch die Spielpläne deutscher und europäischer Opernhäuser zu bestimmen. Gleichzeitig mit Verdis wachsender Popularität grenzten sich nach dem Ersten Weltkrieg Vertreter der damals jüngsten Komponistengeneration – etwa Paul Hindemith, Ernst Krenek, Kurt Weill, Hanns Eisler oder George Antheil sowie in Frankreich Igor Strawinsky, Darius Milhaud und die Vertreter der Pariser Groupe des Six unter den Vorzeichen von Anti-Romantik, Anti-Expressivität, Neuer Sachlichkeit und Neoklassizismus bewusst von Wagners „krankhaft“ übersteigerter „Pathetik“, „Fiebrigkeit“ „Hysterie“, „Schwelgerei“, „Schwülstigkeit“ und „Dekadenz“ ab. Der wachsenden Abneigung gegen das auf Überwältigung, Erschütterung, Bombast, Illusion und Identifikation zielende Musikdrama entsprach im Gegenzug ein zunehmendes Interesse an eher spielerisch-artifiziellen Formen, die ihre eigene Opernhaftigkeit mit einer gewissen epischen Distanz nach außen kehren. Verdis Opern boten sich hier als Vorbild an. Verdi wurde als Vollender des italienischen melodramma bzw. der durch klare Nummern gegliederten Gesangsoper mit eindeutigem Primat der Gesangsstimmen und der Melodik rezipiert, wobei Verdis Werke – hierin noch unbestimmter als bei der kompositorischen Wagner-Rezeption – für nachfolgende Komponisten weniger direkten Referenzcharakter besaßen als „eine zuweilen bloß proklamierte Modellfunktion“.4

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Tatsächlich handelt es sich bei den sogenannten „Zeitopern“ der 1920er Jahre nicht um ausgedehnte Musikdramen mit vier oder fünf Stunden Dauer, sondern um kleinteilig organisierte Nummernopern mit Rezitativen, Duetten, Terzetten und Ensembles. Anstelle endloser Wagner-Monologe gibt es hier Libretti mit handlungstragender Figurenkonstellation, szenischer Prägnanz und schnellen Dialogen in leichtem Parlando bzw. Konversationston.5 Und so wie es in den Opern Verdis zahlreiche Lieder, Kavatinen, Märsche, Walzer und andere Tänze gibt, integrierten die jungen Komponisten der „roaring twenties“ mit bewusstem Wunsch nach Popularität und Zeitgenossenschaft auch damals aufkommende „moderne“ Tanz- und Unterhaltungsmusik, Ragtime, Foxtrott, Quick Step, One Step, Slow Fox und Jazz-Anklänge. Musiktheater sollte nicht mehr länger als moralische Erziehungsanstalt, kosmologischer Welterklärungsversuch und Religionsersatz dienen, sondern in bester italienischer Tradition nicht zuletzt guter Unterhaltung.

I. Richard Wagner Bestimmend für die kompositorische Wagner-Rezeption nach 1945 wurde die vorherige Vereinnahmung des erklärten Antisemiten durch Adolf Hitler und den Nationalsozialismus, so dass der Bayreuther Meister vielfach zur Unperson erklärt wurde. Wagners politisch-ideologische Verblendungen wurden ebenso kritisiert wie seine Charakterschwächen und seine unmoralische Lebensführung mit Verschwendungssucht, Untreue, Verrat, Opportunismus, Zechprellerei ... Als Folge dieser durch biographische und geistesgeschichtliche Zugänge dominierten Rezeption kam es zu einer weitgehenden Abspaltung der missliebigen Person Wagners und seines problematischen schriftstellerischen Werks (einschließlich dessen epigonaler Exegese in den Bayreuther Blättern) von seinem nach wie vor faszinierenden und aktuellen kompositorischen Werk, das bis heute Vertreter der neuen Musik teils bewusst, teils unreflektiert beeinflusst. So entstand auch und gerade im Jubiläumsjahr 2013 der Eindruck, Richard Wagner wandle präsenter denn je als höchst lebendiges Gespenst durch die neue Musik. Die kompositorische Wagner-Rezeption in der neuen Musik analytisch nachzuweisen ist jedoch schwierig. Das liegt an der Fülle und Verschiedenheit des zu untersuchenden Bereichs „neue Musik“ sowie am methodologischen Problem einer zirkulären Rückkopplung von Frage und Gegenstand: Denn wie soll sich als signifikant nachweisen lassen, was der Eingangsthese zufolge gerade jene Signifikanz vermissen lässt, weil Wagners Ansätze inzwischen weitgehend zum unreflektierten Allgemeingut geworden sind? Die Untersuchung der größtenteils unterschwelligen Aktualität Wagners in der neuen

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Musik stößt – zumal im Rahmen dieses Beitrags – an ihre Grenzen. Zwar hat die Musikwissenschaft die eminente Bedeutung Wagners als einer Schlüsselfigur der deutschen und europäischen Musik-, Kultur- und Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend aufgearbeitet. Auch Wagners Einfluss auf die Moderne um 1900 und die Frühphase der neuen Musik wurde bereits ansatzweise beschrieben, etwa an den Beispielen von Richard Strauss, Debussy, Pfitzner, Skrjabin, Schreker, Schönberg und Berg, sowie später bei Frank Martin, Olivier Messiaen und schließlich Benjamin Britten, der sich zugleich in Peter Grimes (1945) ausdrücklich gegen Wagners Musikdrama und für Verdis Modell der Nummernoper entschied.6 Für die komplexe Rezeptionsgeschichte nach 1950 steht jedoch eine umfassende musik- und kulturgeschichtliche Studie zu Wagners Wirkung noch aus.7 Zu untersuchen wären dabei vor allem die folgenden zehn Aspekte, mit denen Wagners Werk – selbst noch in thesenartiger Verknappung – sein Zukunftspotential im Hinblick auf die neue Musik erkennen lässt, wie umgekehrt auch die neue Musik zum Teil erst rückwirkend zur Erkenntnis eben dieses Zukunftspotentials beigetragen hat:8 1. Die Idee des Gesamtkunstwerks, wie sie sich in je eigener Weise auch in Musiktheaterwerken von Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, Henri Pousseur, Emmanuel Nunes, Wolfgang Rihm und Manos Tsangaris finden sowie seit den 1990er Jahren auch in Computer gestützten multi- oder intermedialen Projekten;9 2. die Loslösung von den als überkommen empfundenen Gattungs- und Formmodellen der Symphonie und Nummernoper (Arie, Rezitativ, Ensemble, Chöre) zugunsten individuell durchkomponierter Verläufe; 3. die mit der Leitmotivtechnik verbundene Idee des symphonisch selbständig redenden Orchesters, das auch unabhängig vom gerade aktuellen Bühnengeschehen zentrale Motive des Dramas kommentiert; 4. damit zusammenhängend die Vorstellung einer „unendlichen Melodie“, die als prosodisch offener Verlauf im Tonfall gesprochener Sprache durch frei deklamatorische Phrasen- und Formbildung die konventionelle „Quadratur des Tonsatzes“ überwindet; 5. das Erreichen eines Grades an Dissonanz, Enharmonik und Chromatik, v.a. in Tristan und Isolde und Götterdämmerung, der wenig später bei Mahler, Strauss, Debussy, Skrjabin, Janáček, Schönberg, Berg und Webern an die Schwelle der Atonalität bzw. darüber hinaus führte; 6. die Emanzipation der Klangfarbe als zentralem tektonischen Faktor, etwa die als reine Klangfarbenkomposition umspielte Es-Dur-Naturtonreihe im Rheingold-Vorspiel oder die Gestaltungen exemplarischer Naturereignisse wie „Feuerzauber“ und „Waldweben“ in Walküre und Siegfried, die als Vor-

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läufer des Spektralismus und György Ligetis mikropolyphonem Klangflächenkomponieren gesehen werden können;10   7. die ebenso junghegelianische wie avantgardistische Utopie, mittels Kunst die Gesellschaft verändern zu können bzw. durch Kunst als neue Mythologie und Erkenntnismittel zum kosmologischen Verständnis der Welt beitragen zu können;   8. mit diesem Wirkungsanspruch verbunden auch eine bis ins Religiöse übersteigerte Bewunderung des Genies, das Wagner während des langen 19. Jahrhunderts wie kaum ein zweiter Künstler stilisierte und verkörperte;  9. in bewusster Abgrenzung von bereits bestehenden Einrichtungen des Musiklebens die Schaffung der Bayreuther Festspiele als Vorbild für den Aufbau eigener Institutionen und Festivals der neuen Musik wie etwa den Donaueschinger Kammermusiktagen 1921 und der Gründung der IGNM 1922; sowie damit verbunden schließlich 10. gemäß Wagners Idee einer nationalen „Hochschule für dramatisch-musikalische Darstellung“11 auch die Gründung spezieller Ausbildungsstätten für neue Musik – etwa der 1946 begründeten Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt – sowie ähnlich den Bayreuther Blättern die Herausgabe spezieller Publikationen und Zeitschriften für neue Musik wie Anbruch, Melos usw. Jenseits der engeren Entwicklungsbahnen der neuen Musik erwies sich Wagners Konzept des erzählenden Orchesters – das darf hier nicht vergessen werden – vor allem als ungeheuer wichtig für die Entwicklung der Filmmusik des 20. Jahrhunderts. Ohne Wagner ist auch das Schaffen zahlreicher zeitgenössischer Filmmusikkomponisten schlichtweg undenkbar. Das gilt auch für John Williams (*1932) – einen der einflussreichsten amerikanischen Filmkomponisten –, dessen Musik zur großen Familien- und Weltraumsaga Star Wars (Krieg der Sterne) die Wagnersche Leitmotiv- und Transformationstechnik exemplarisch fortsetzt. Wie Wagner seinen ersten Entwurf Siegfrieds Tod nach und nach zur Tetralogie Der Ring des Nibelungen erweiterte, drehte Regisseur George Lucas zunächst nur drei Episoden seines Star Wars (1977, 1980, 1983), deren Vorgeschichte er dann nachträglich mittels dreier weiterer Episoden (1999, 2002, 2005) zu einer Hexalogie über den interstellaren Kampf zwischen den „Jedi-Rittern“ und der „Dunklen Seite der Macht“ um die Weltherrschaft erweiterte. Die Handlung ähnelt dabei ebenso Wagners Ring-Tetralogie wie der Stoff der zwischen 2001 und 2003 von Regisseur Peter Jackson weltweit in die Kinos gebrachten Trilogie The Lord of The Rings (Der Herr der Ringe) nach John R. R. Tolkiens 1954/55 in drei Bänden erschienenem Roman mit der Musik des kanadischen Komponisten Howard Leslie Shore (*1946).

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Um das im Fall Wagners nach allen Seiten uferlos erscheinende Thema einzugrenzen, werden im Folgenden ausschließlich Werke der neuen Musik mit direktem kompositorischen Bezug auf Wagner erörtert. Doch selbst von diesen gibt es zu viele, als dass sie sich alle gleichermaßen eingehend besprechen ließen, so dass manche nur erwähnt werden können. Als Spitzen des unter der Oberfläche wahrhaft gigantische Ausmaße annehmenden WagnerEisbergs mögen diese ausgewählten Werke symptomatisch einstehen für das vielfach uneingestandene Einverständnis der neuen Musik mit zentralen Ideen und Ansätzen dieses „Konstrukteurs der Moderne.“12

Polemik: Paul Hindemith Als hochgradig ideologisch aufgeladene Zentralfigur der bürgerlichen Musikpflege war Wagner schon für die um 1900 geborene Komponistengeneration ein besonderer Stein des Anstoßes. Mit dem verheerenden Krieg, dem Zusammenbruch der Kaiserreiche und den in Deutschland und Österreich durch Reparationszahlungen und Inflation verlorenen wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten gelangte Wagners monumentales Konzept des „Gesamtkunstwerks“ vorübergehend an ein Ende, nachdem es kurz zuvor noch von Skrjabin und Schönberg zu überbieten versucht worden war. In bewusster Ablehnung der als überkommen empfundenen Gigantomanie und expressiven Musiksprache schrieben junge Komponisten wie Hindemith, Weill, Krenek und andere stattdessen unter dem Schlagwort „Neue Sachlichkeit“ eine betont antipathetische Musik. Die Revolte der „jungen Wilden“ richtete sich gegen die klassisch-romantische Kunstperiode des langen 19. Jahrhunderts insgesamt und im Besonderen gegen Wagner und die damalige Wagner-Hysterie. Ein prominentes Beispiel für die damalige Wagner-Polemik ist Paul Hindemiths (1895–1963) Operneinakter Das Nusch-Nuschi op. 20 (1920). In diesem „Spiel für burmanische Marionetten in einem Akt“ auf einen Text des österreichischen Essayisten Franz Blei stimmt der burmanische Marionetten-Kaiser in der Mitte des zweiten Bilds eine erschütternde Klage über seinen Feldgeneral Kyce Waing an, der vier seiner Haremsdamen verführt haben soll, und er tut dies textlich wie musikalisch in der Manier des König Marke vom Ende des zweiten Akts aus Wagners Tristan und Isolde, wo sich der betrogene König über die Untreue seines Ritters Tristan beklagt. Bei Blei/Hindemith steht dann auch gleich der Henker bereit, der lustvoll seine scharfen Messer besingt, doch beim unschuldig zur Kastration verurteilten Feldherrn traurig feststellen muss, dass es bei diesem – infolge eines nächtlichen Bisses des von niemandem recht gesehenen, ebenso alligatorenhaften wie pelzigen Nusch-Nuschi – gar nichts mehr zu entfernen gibt. Hindemiths Tristan-Zitat ist so grotesk wie alles in dieser iro-

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nisch-heiteren, zotig-schlüpfrigen, erotisch-schwülen Burleske. Die virtuose und stellenweise gewollt geschmacklose Parodie aus asiatischem Exotismus, barocker Fugentechnik und Anklängen an die Unterhaltungsmusik der Zeit findet in Wagner gleichsam einen Antipoden, gegen dessen unumschränkte damalige Autorität und Verehrung sich das Werk auflehnt. Vom damaligen Publikum und der Presse wurde diese Provokation auch genau so verstanden. Wagnerianer und Opernfreunde entrüsteten sich über den Einakter, den sie als perverse, unsittliche Entgleisung brandmarkten, die es nur darauf abgesehen habe, die „heilige Tonkunst“ und den „deutschen Geist“ in den Dreck zu ziehen. Dabei hätte gerade das Tristan-Zitat auch als Hinweis darauf verstanden werden können, dass Hindemith sich nicht nur polemisch, sondern auch positiv auf Wagner beruft, dessen ungeschminkte Darstellungen von Erotik, Sexualität und Untreue im Tristan ebenso wie im „Venusberg“ des Tannhäuser oder im „Zaubergarten“ des Parsifal der Freizügigkeit von Blei/ Hindemiths Sujet in nichts nachstehen.13 In Nusch-Nuschi ereignet sich eben das, was wenig später Ernst Bloch in seinem Essay Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage (1929) für den zeitgenössischen inszenatorischen und kompositorischen Umgang mit Wagners Musikdramen insgesamt forderte: „Die Keif- und leeren Pathosszenen müssen so hoch hinausgetrieben werden, dass sie von selber herunterfallen.“14

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Notenbeispiel 1: Paul Hindemith, Das Nusch-Nuschi op. 20 (1920), in: Ders., Sämtliche Werke Bd. I,2, hrsg. von Annegrit Laubenthal, Mainz 2002 (Schott), S. 219, Takte 187–204.

Durch Übersteigerung, Karikatur und Bezugnahme auf die Schaubudenkunst der Jahrmärkte sowie auf Karl Mays Abenteuerromane und Jacques Offenbachs Operetten gälte es – so Bloch –, Wagners Musik von der Routine und Falschheit ihrer Idealistik, Pathetik, Metaphorik, Märchenhaftigkeit und Mythologie zu befreien, um ihr ursprünglich revolutionäres Potential wieder freizulegen. Wagners „gewordener Fettmusik“ müsse geholfen werden, die „Dynamik zu werden, das sakrale, das sie zuweilen zu sein verdient.“15 Später ironisierte Hindemith noch zwei weitere Male Wagners Musik bzw. deren mehr oder weniger gelungene Aufführungspraxis: Zum einen in seiner um 1925 entstandenen parodistischen Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt für Streichquartett mit eigens auskomponierten falschen Tönen, Intonationsschwierigkeiten, verspäteten Einsätzen und unvermuteten Abschweifungen der Musiker zu ihnen offenkundig eher vertrauten Walzern; zum anderen in seiner „lustigen“ Zeitoper Neues vom Tage (Erstfassung 1928/29), wo das 4. Bild mit dem bezeichnenden Titel Duett-Kitsch im Stile des Liebesduetts von Brünhilde und Siegfried am Ende des Siegfried „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ als Wagner-Parodie erscheint, jedoch ohne Wagner direkt zu zitieren. Liebevoll ironisch hatte zuvor auch schon Claude Debussy den TristanAkkord in Childrens Corner (1908) im Schlussstück „Golliwogg’s Cake Walk“ zitiert, wo die schmachtend aufsteigende Sexte des „Sehnsuchtsmotivs“ samt abfallender Chromatik nicht in einen schmerzvoll weiter drängenden, sondern in einen neckisch auf der Stelle tändelnden Tristan-Akkord mündet. Bereits zu Lebzeiten war Wagners Werk und Exzentrik immer wieder Gegenstand von teils bissiger, teils liebevoller Karikatur, Parodie und Satire

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gewesen, in Zeitungen, Zeitschriften, Magazinen und Büchern ebenso wie in Theater, Operette und Travestie.16 Nach den Parodien von Johann Nestroy, Daniel Spitzer, Oscar Straus und Friedrich Huch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab in jüngerer Zeit Viktor von Bülow – alias Loriot und Urenkel des von Wagner „gehörnten“ Dirigenten Hans von Bülow  – mit seiner Erzählung Wagners Ring an einem Abend (Premiere am Nationaltheater Mannheim in der Spielzeit 1992/93) eine ebenso ernsthafte wie parodistische Einführung in die Tetralogie. Loriot wollte dem Publikum die komplexe Handlung, Figuren- und Leitmotivfülle dieses Riesenwerks möglichst klar und einfach erzählen, stellte dabei allerdings durch die Komprimierung und Zuspitzung auf all das Menschliche, allzu Menschliche der hier verhandelten Ehesorgen, Familienkonflikte und Hauswirtschaftsnöte des Götter- und Heldenpersonals zugleich die komischen Seiten dieser Kunstmythologie heraus. Regelrecht zum Slapstick verkürzt findet sich Wagners Tristan und Isolde schließlich in Enjott (Norbert J.) Schneiders (*1950) kaum sechsminütiger Paraphrase Der Minuten-Tristan (nach Richard Wagner) für zwölf Pianisten (1996) – zweite Fassung für zwei Klaviere (2011). Nach kurzer Eröffnung mit dem „Walküren-Ritt“ verarbeitete der vor allem mit Filmmusik bekannt gewordene Komponist darin das Tristan-Vorspiel zu einem Tango und Zirkusmarsch sowie „Isoldes Verklärung“ zu einem sentimentalen Salonwalzer, um gerade nicht – wie sonst üblich – das Innovations- und Zukunftspotential der erweiterten Tristan-Harmonik zu betonen, sondern die problemlose Anverwandlung selbst dieser in hohem Maße auf Transzendenz zielenden Musik für die leichte Muse. Man kann darin auch eine hintersinnige Anamorphose Wagners an den Melodiker Verdi heraushören. In jedem Fall wird aus Isoldes finaler Grenzüberschreitung „In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Weltatems wehendem All, ertrinken, versinken, unbewusst, höchste Lust!“ ganz irdisch-reale Unterhaltungsmusik mit Ohrwurm-Qualität. Kaum anders erging es seinerzeit anderen Stücken und Melodien Wagners, die genauso wie beliebte Melodien aus Arien und Chören Verdis für Jahrmarktsorgeln, Leierkästen, Blaskapellen, Salon- und Kurorchester adaptiert wurden. Auch das ist eine kompositorische Auseinandersetzung mit Richard Wagner: Tristan und Isolde als Schnulze.

Sterbensmüde: Hans Werner Henze In den 1950er Jahren wollte die junge Avantgarde zunächst radikal mit der tonalen, musiksprachlichen Tradition brechen. Nach den Katastrophen von Diktatur, Holocaust und Zweitem Weltkrieg erschien die von den Nationalsozialisten vereinnahmte Kunst Wagners zwangsläufig als ideologisch hochgra-

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dig kontaminierte und fernerhin nicht mehr betretbare Tabuzone. Doch der Musikdramatiker entfaltete weiterhin Faszinationskraft, selbst für Vertreter des seriellen Komponierens wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, die zunächst am entschiedensten für einen Neuanfang plädiert hatten: Boulez machte als Dirigent in Bayreuth Karriere mit den Neuproduktionen des Parsifal 1966 und „Jahrhundert-Ring“1976; und Stockhausen suchte Wagners Tetralogie mit seiner fast 30 Stunden Musik umfassenden Heptalogie Licht (1978–2003) noch zu übertreffen, einem teils christlichen Motiven, teils der sektenhaften Kosmogonie des Book of Urantia (1955) folgenden Riesenzyklus über die sieben Wochen- und Schöpfungstage. Im Zuge der Krise des Fortschritts- und Materialdenkens der seriellen Nachkriegsavantgarde suchten seit den 1970er Jahren auch zunehmend jüngere Komponisten – schnell mit den Schlagworten „Postmoderne“ und „Neue Einfachheit“ etikettiert – neue Annäherungen an Wagner, was durch das 100-jährige Jubiläum der Bayreuther Festspiele 1976 und Wagners 100. Todestag 1983 befördert wurde.17 Schließlich wurden auch soziopolitische Parallelen gezogen zwischen dem Scheitern der von Wagner mitgetragenen bürgerlichen Revolution von 1848 und dem Scheitern der Studentenrevolte von 1968.18 Nachdem der Tristan-Akkord immer wieder als Emblem für Liebe, Lust und Leidenschaft bemüht worden war – auch in Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter (1967–69) gibt es eine per Tonband zugespielte Aufnahme von „Isoldes Verklärung“ –, setzte in den 1970er Jahren eine erneute substantielle Auseinandersetzung mit Wagners Erbe ein. Indem vor allem jüngere Komponisten den ästhetischen Kern von Wagners Musik musikalisch neu zu beleuchten suchten, trachteten sie zumindest teilweise auch nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten fatalen Rezeption dieser Zentralfigur der deutschen Ideologiegeschichte. Zugleich ist bei aller wieder erwachten Faszination für Wagner festzustellen, dass seit den 70er Jahren ungleich öfter auf Musik von Beethoven, Schubert, Schumann und Mahler zurückgegriffen wurde, vermutlich nicht zuletzt weil diese im Gegensatz zu Wagner als „politisch korrekt“ gelten konnten und mit ihrem teils zerrissenen, fragmenthaften Charakter und Werk dem damaligen Zeitgeist näher standen. Gleichwohl „wagnert“ es seitdem wieder in der neuen Musik, und nicht zu knapp. Als einer der ersten nach 1950 bezog sich Hans Werner Henze (1926– 2012) unüberhörbar auf Wagner. Dabei folgte der junge Opernkomponist zunächst jedoch dem von Verdi geprägten Modell der italienischen Gesangsund Nummernoper. König Hirsch (1953–56) und Elegie für junge Liebende (1959–61) entstanden als dreiaktige Nummernoper, einmal nach dem gleichnamigen Drama von Carlo Gozzi, das andere Mal nach einem Libretto von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman. Eigens Verdis Falstaff als Vorbild

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reklamierte Henze für seine zweiaktige „Komische Oper“ Der junge Lord (1964) auf ein Libretto von Ingeborg Bachmann. Spätestens nach der sensationellen Premiere des „Musikdramas“ Die Bassariden (1965) nach Euripides auf ein Libretto von Wyston Hugh Auden und Chester Kalman bei den Salzburger Festspielen galt Henze international als der führende zeitgenössische Musikdramatiker und viel beschworene Erbe von Richard Strauss und damit indirekt als Enkelschüler Richard Wagners. Henze selbst vertrat damals die Ansicht, „dass der Weg von Wagners Tristan zu Mahler und Schönberg noch lange nicht ausgeschritten ist, und mit den Bassariden habe ich versucht, ihn weiterzugehen.“19 Während Henze zuvor in der Elegie für junge Liebende noch die ästhetizistische Auffassung vertreten hatte, ein Künstler müsse seine Umwelt ausbeuten und notfalls sogar opfern, wenn sie seinem Werk im Wege steht, vollzog er mit den Emanzipations- und Studentenbewegungen der späten 1960er Jahre eine politische Wende: Seit 1953 in Italien lebend, trat er der Kommunistischen Partei Italiens bei und plädierte nach dem Vorbild von Pablo Nerudas „Poesia impura“ für eine durch die Umwelt beeinflusste und auf diese aktiv zurückwirkende „musica impura“, deren Gehalt und Aussage er mit Fremdzitaten und Stilanleihen konkretisierte. Fortan entstanden dezidiert engagierte Werke wie das Rezital El Cimaron (1969/70) auf den Lebensbericht des geflohenen kubanischen Sklaven Estéban Barnet nach der Texteinrichtung von Hans Magnus Enzensberger sowie die Fernsehoper La Cubana (1973), die sich gleichermaßen polemisch gegen den Elfenbeinturm der Avantgarde wie gegen den längst desillusionierten kubanischen Kommunismus richtete. Im selben Jahr 1973 entstand auch das dreiviertelstündige Konzert Tristan – Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester, das 1975 vom London Symphony Orchestra – Auftraggeber des Werks – und dem Pianisten Homero Francesch unter Leitung von Colin Davis uraufgeführt wurde. Obwohl sich Henze bis dato eher skeptisch bis ablehnend zu Wagner geäußert hatte, bezeichnete er dessen Tristan, den er genau studiert habe, als „eine Art Evangelium für mich“.20 In freier Anlehnung an Wagners „Handlung“ überschrieb er die sechs Sätze seiner Tristan-Hommage mit: 1. „Prologue“, 2. „Lament“, 3. „Prelude and Variations“, 4. „Tristan’s Folly“, 5. [eine groteske Tanzsuite, bestehend aus:] „Adagio“, „Burla I (Valse)“, „Burla II (alla turca)“, „Ricercare I“, „Burla III (Marcia)“, „Ricercare II“ und „Largo“, sowie 6. „Epilogue“. Vor und zwischen den teils resignativ zurückgenommenen, teils zu ekstatischer Dichte kulminierenden Sätzen spielt das Klavier als einsames romantisches Subjekt solistische „Preludes“. Obwohl zwölftönig komponiert, sind diese zumeist senza misura ohne Rhythmisierung notiert und vom Pianisten lediglich anhand der Dichte der Space Notation sowie zahlreicher Dynamik-, Charakter-, Tempo-, Agogik- und Artikulationsangaben zu gestalten. Die improvisatorisch frei wir-

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kende, rhapsodisch-traumtänzerhafte Solopartie charakterisierte Henze selbst als „elegisch“ und „narzisstisch“, während er die darin dominierenden Halbtonund Sextschritte, Quarten-Akkorde und verminderten Quinten ausdrücklich mit Wagners Tristan in Verbindung brachte.21 Als zweite Schicht kommen Tonbandzuspielungen hinzu, die Henze mit Peter Zinovieff – dem das Stück gewidmet ist – in dessen elektronischem Privatstudio in London realisierte. Verwendet wurden besonders auratische und semantisch besetzte Klänge, deren Erkennbarkeit jedoch durch die elektronische Verarbeitung erschwert wird: Renaissance-Instrumente samt eines altflorentiner „Lamento di Tristano“, Schlagzeug-Instrumente, perkussive Aktionen im Innenklavier, eine mittels Synthesizer verfremdete Pianola-Rolle mit Frédéric Chopins Trauermarsch, Ausschnitte einer Aufnahme der Gesangspartie der Isolde, sowie Melodien und Akkorde aus dem Vorspiel zum dritten Akt Tristan, die per Computer analysiert und neu kombiniert wurden. Zu diesen Tonbändern komponierte Henze dann eine Orchestermusik, die in allen instrumentalen, rhythmischen und dynamischen Einzelheiten „antiphonale Beziehungen“ zu den Zuspielungen herstellen sollte. Auch hier griff Henze auf hochgradig besetztes Material zurück. Als markantes Zitat ragt gegen Ende des dritten Satzes ein Zitat des Anfangs der 1. Symphonie von Johannes Brahms heraus (T. 164ff.), deren pulsierender Orgelpunkt auf C den gesamten Satzschluss verstört. Henze kommentierte diese Brahms-Einblendung mit dem Hinweis, sie bezeichne im Kontext seines Tristan „den Feind“, wobei er allerdings offen ließ, ob er damit konkret biographisch Wagners Gegenspieler Brahms meinte oder eher symbolisch den von Tristan verfluchten „öden Tag“.22 Analog zum „Prologue“ beginnt der „Epilogue“ als großes Klaviersolo, das nach massiven Akkord-Anschlägen endlich mit einem zarten D-Dur-Akkord verklingt. Im nächsten Moment fällt das Schlagwerk mit einer kurzen und heftig crescendieren Impulskette ein, die den Anfang der Lautsprecherzuspielung eines schlagenden menschlichen Herzens verdeckt. Tendierte die Rollenverteilung zwischen Soloklavier und Orchester ohnehin schon zu imaginärem Theater, verdichtet sich Henzes Partitur nun ganz real zu einer Erzählung. Denn parallel zu den Herzschlägen wird auch eine Kinderstimme – des Sohnes von Peter Zinovieff – zugespielt, die zwei eindringliche Sätze aus Hilaire Bellocs englischer Übersetzung von Joseph Bédiers Le roman de Tristan et Iseut (1900) liest: „She takes him in her arms and then, lying out full lenght, she kisses his face and lips and clasps him tightly to her. Then straining body to body, mouth to mouth, she at once gives up her spirit and of sorrow for her lover dies thus at his side.“23 Darunter spielen die tiefen Streicher den „tristen“ b-Moll-Akkord vom Anfang des dritten Akts Tristan und Isolde, zu dem die Violinen wie beim „Motiv der Öde“ – allerdings stark gedehnt – mit der Sexte g hinzutreten, von der aus sie schrittweise über die Septime as und die Oktave b bis zur None c

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aufsteigen. Hörbar werden später außerdem noch chaconneartige Verwandlungen dieser Tristan-Szene (vom Tonband) und Glockenklänge (live). Für Henze flossen in diesen todtraurigen Klängen all diejenigen Erschütterungen, Enttäuschungen und Lähmungen zusammen, die seine Arbeit an Tristan 1973 begleitet hatten: die Zerstörung der chilenischen Demokratie und die Ermordung des Präsidenten Salvador Allende durch die faschistische Militärdiktatur des Generals Augusto Pinochet, die Ermordung des populären chilenischen Sängers Víctor Jara, der plötzliche Tod des chilenischen Dichters und Kommunisten Pablo Neruda  – dessen „Poesia impura“ Henze damals gerade auf Musik zu übertragen versuchte – sowie der Tod seines Dichter-

Notenbeispiel 2: Hans Werner Henze, Tristan – Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester (1973), Mainz (Schott), S. 153 vierte Akkolade und S. 154 erste Akkolade.

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freundes Wyston Hugh Auden und seiner langjährigen, schwesterlichen Dichterfreundin Ingeborg Bachmann.24 In Tristan – Préludes steht das Tristan-Zitat folglich unverkennbar für Trauer und Öde. Doch ohne Henzes ausdrücklicheHinweise auf die für ihn persönlich darin mitschwingenden politischen und privaten Katastrophen der Zeit bleiben diese dem Hörer unbemerkt, weil sich diese Aussagen nicht aus dem Wagner-Zitat selbst heraus mitteilen, sondern von Henze lediglich in dieses hineinprojiziert wurden. Semantische Funktion im Sinne einer historischen Topographie des Ber­ liner Schlachtensees hat auch das Zitat des Triumphmarsches aus Verdis Aida in Henzes Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer – Show mit 17, Gedicht von Gastón Salvatore (1971).25 Später bearbeitete Henze auch Wagners Wesendonck-Lieder für Altstimme und Kammerorchester (1976), von denen Wagner selber zwei Lieder (Nr. 2. Träume und Nr. 5. Im Treibhaus) als Vorstudien zu Tristan und Isolde bezeichnet hatte. Neben aufführungspraktischen Gründen verfolgte Henze damit die Absicht, einerseits den „Vorübungscharakter“ der Lieder zu erhalten und andererseits „durch harmonische Aufbrechungen den schon der Klavierfassung inhärenten tristanesken Klang zu entfalten“.26 Schließlich bearbeitete Henze weitere Richard Wagnersche Klavierlieder für zwei Soli (Mezzosopran und Bariton), Chor und Orchester (1998/99), wobei es ihm auch hier nicht bloß um eine mühelose Übertragung auf das klassisch-romantische Instrumentarium ging. Stattdessen ließ er sich aus „artisitischer Neugierde“ zu verschiedenen Änderungen verleiten, indem er Taktwechsel einführte, Tonart und Lage transformierte, Nebenstimmen hinzukomponierte und die beiden Fragmente Extase und La tombe dit à la rose „fertigstellte“.27 Endlich löste Henze auch die „Preludes“ aus dem Werkzusammenhang seines Tristan-Klavierkonzerts, um sie als eigenständige Stücke bei den Salzburger Festspielen 2003 als Präludien für „Tristan“ für Klavier (2003) von Siegfried Mauser uraufführen zu lassen.

Verblendung: Volker David Kirchner Volker David Kirchner (*1942) begann sich seit Ende der 1970er Jahre gezielt mit herausragenden Werken der deutsch-österreichischen Tradition auseinanderzusetzen. Nachdem er in seiner Heimatstadt Mainz zunächst als Jung­ student Violine sowie Komposition bei Günther Raphael studiert hatte, nahm er an Kompositionskursen von Bernd Alois Zimmermann teil und pflegte Kontakt zur seriellen Avantgarde um Karlheinz Stockhausen in Köln, wo er als Solobratschist im Rheinischen Kammerorchester wirkte, bevor er 1966 Mitglied des Radio-Sinfonieorchesters Frankfurt wurde und sich 1988 schließlich als freischaffender Komponist selbständig machte. Sein Klaviertrio (1979) ent-

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hält beispielsweise Hommagen auf Robert Schumann und Béla Bartók, seine Bildnisse I für Orchester (1981/82) bestehen aus Hommagen à Franz Schubert, E.T.A. Hoffmann und Claude Debussy und seine Bildnisse II (1983/84) aus Hommagen à Giacomo Puccini, Charles Baudelaire und Edgar Allan Poe. Passend zum damaligen Mozart-Jahr entstanden seine Bildnisse III (1989– 1991) schließlich als Hommage à W. A. Mozart. In mehreren Werken setzte sich Kirchner mit Wagners Musik und deren ideologischem Ballast auseinander. Die 1982 im Vorfeld von Wagners 100. Todestag in Hannover uraufgeführte 1. Sinfonie „Totentanz“ für großes Orchester (1980) beleuchtet in fünf Sätzen unter jeweils anderen analytischen Perspektiven personalstilistische Eigenheiten von fünf Komponisten: 1. Reliquien – Vom Erinnern, von der Wehmut und vom Schmerz (Annäherung an eine Schumannsche Modulation), 2. Dybuk – Zum Gedenken Gustav Mahlers (Epitaph in Form eines Scherzos), 3. Kondukt – Der Tod ist ein Meister aus Deutschland (Fantasien über eine Wagnersche Akkordverbindung); 4. Golem (Burleske über eine Brahms’sche Manier); und 5. Katakomben – Die Furcht vor dem Ende ist die Quelle allen Tuns (Veränderungen über eine Schubertsche Ostinatobegleitung). Der dritte Satz Kondukt bildet das Zentrum der Sinfonie. Er ist Wagner gewidmet und mit dem Vers „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ aus Paul Celans berühmtem Gedicht Todesfuge (1952) überschrieben. Der jüdische Dichter versuchte darin, wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Schrecken des Holocausts poetisch zu verarbeiten. Indem nun Kirchners Totentanz-Sinfonie Celans Gedicht mit Wagners Musik in ein und demselben Satz verbindet, thematisiert sie indirekt auch Wagners Antisemitismus und Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Dieser Mittelsatz beginnt als Trauermarsch mit Pulsationen der tiefen Streicher samt Paukenwirbel und Liegetönen von Bassklarinette und Kontrafagott unisono auf Fis. Vervollständigt wird der düstere Tonfall durch die Sekundspannung G der Posaunen sowie einen as-Moll-Dreiklang mit Sixt-Ajoutée der Hörner (in F), dessen Quinte es nach d tiefalteriert wird, so dass über der liegenden Tritonusspannung Fis-c zwischen Streichern und Holzbläsern der verminderte Akkord as-ces(h)-d resultiert. Dieselbe Akkordverbindung findet sich bei Wagner in der kurzen Orchestereinleitung zur ersten Szene des zweiten Aufzugs Tristan, wo von fern klingende Hornfanfaren in eben diese harmonische Wendung münden, die klangsymbolisch für zweierlei steht: einerseits für die bedrohliche Tageswelt, in der Tristans ehemaliger Freund Melot bereits zur Jagd auf das Liebespaar Tristan und Isolde bläst, und andererseits für die Wunsch- und Traumwelt der Liebenden selbst, die diese Akkordverbindung zu Beginn ihres großen Duetts „O sink’ hernieder, Nacht der Liebe“ zur Melodie aufgelöst als Beschwörung ihrer Liebe anstimmen. Verderben und Liebeserfüllung fallen in dieser fatalen Akkordverbindung zusammen.

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Notenbeispiel 3: Volker David Kirchner, 1. Sinfonie „Totentanz“ für großes Orchester (1980), 3. Satz Kondukt – Der Tod ist ein Meister aus Deutschland (Fantasien über eine Wagnersche Akkordverbindung), Mainz 1981 (Schott), S. 36 zweite Akkolade.

Darüber hinaus erhält die ebenso sehnsuchtsvolle wie todestrunkene Wirklichkeitsflucht der Liebenden eine politische Dimension durch die Konfrontation mit dem Vers aus Celans Todesfuge. Denn so wie Wagners Liebespaar für den lichten Tag mit all seinen Regeln und Verpflichtungen nur noch Verachtung übrig hat, ermöglichte während des Dritten Reichs eben solches kollektive Wegsehen und Nicht-Wissen-Wollen überhaupt erst die Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden. Und wirklich entfaltet sich der weitere Verlauf von Kirchners Kondukt nicht als zartes Liebesduett, sondern als regelrechter Totentanz mit durchaus spukhaften Zügen: chromatischen Linien, eruptiv aufschreienden Crescendi, psychotisch in vielfachem divisi sffz mit grellen Clustern aufkreischenden Violinen, marschartig akzentuierten Bläserund Trommelvorschlägen sowie chromatischen Seufzern, die gegen Ende ins Nichts verklingen und vom g zu eben dem fis abfallen, mit dem der gerade einmal vier Minuten dauernde Satz begann. Doch bei aller Ideologiekritik, die

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Kirchner mit der Verbindung Wagner-Celan intendiert, steht sein SinfonieSatz hörbar viel zu sehr unter dem Bann von Wagners Musik, so dass der Kritik letztlich das konkret kompositions- und materialkritische Pendant fehlt. Die in seiner 1. Sinfonie „Totentanz“ begonnene Auseinandersetzung mit Wagner setzte Kirchner in Nachtstück – Varianten über eine Wagnersche Akkordverbindung für Viola und kleines Orchester (1980/81–1983) fort. Wie beim „Liebes-Leidens-Sehnsuchtsmotiv“ zu Beginn des Tristan-Vorspiels „langsam und schmachtend“ lässt Kirchner gleich zu Anfang die solistischen Violoncelli mit demselben espressivo-Tonfall vom Pianissimo zum Legato erreichten Spitzenton crescendieren. Doch statt zur originalen großen Sexte springen die Celli zur großen Septime, und erfolgt anstelle der bei Wagner sich anschließenden zwei fallenden chromatischen Sekunden ein Kleinterz-Schritt abwärts, dem nicht wie im Original der Tristan-Akkord folgt, sondern zunächst nur eine Generalpause, bevor dann nach abfallendem Tritonus ein erneuter Septim-Aufschwung der Celli zu einem verwandten Vorhalts-Alterationsakkord führt. Ton und Duktus der Tristan-Welt sind allgegenwärtig, und auch die Besetzung mit den anhebenden Violoncelli und dem nachfolgenden Akkordeinsatz von Flöte (statt originaler Oboe), Englisch-Horn, Klarinette und Fagott ist mit Wagners Vorspiel weitgehend identisch. Die originalen Motiv- und Akkordverbindungen werden von Kirchner permanent in „Varianten“ umspielt, so dass sich auch der Verlauf des Nachtstücks in Anlehnung an Wagner entfaltet. Wie im Original setzt auch bei Kirchner nach erneuter Generalpause ein weiterer Aufschwung ein, diesmal jedoch nicht in den Celli, sondern in den Bratschen, die zunächst eine große Terz abfallen, um schließlich zur großen Septime zu crescendieren, zu der dann die Holzbläser verfrüht mit einer Sequenzierung des Vorhalts-Alterationsakkords einsetzen, währenddessen die Bratschen dann anstelle der originalen zwei kleinen Sekunden nur eine Sekunde absinken. Zwar nie wirklich eins zu eins zitiert, sind das berühmte Sehnsuchts-Motiv und der sich anschließende Tristan-Akkord dennoch auf allen Ebenen präsent: melodisch, gestisch, agogisch, harmonisch, instrumentatorisch und syntaktisch. Auf der Grundlage des orchestral exponierten Materials schwingt sich ab Ziffer 2 (Seite 7) schließlich die Solo-Bratsche zu einem expressiven Monolog auf, der sich zunehmend zum dramatischen Dialog mit dem Orchester entwickelt. Das Soloinstrument steigert die Septimaufschwünge und chromatischen Seufzer zu weiten Kantilenen, virtuosen Läufen und Doppelgriffen. Zudem greift die Viola aus der sonoren Mittellage immer wieder in Extremlagen und zu geräuschhaften Spieltechniken. Die Musik erhält dadurch einen nervösfiebrigen und ekstatischen Charakter, der sich zweifellos ebenso Wagners Tristan verdankt wie weitere im Orchester auftretende Leitmotive. Zum Beispiel

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Notenbeispiel 4: Volker David Kirchner, Nachtstück – Varianten über eine Wagnersche Akkordverbindung für Viola und kleines Orchester (1980/81–1983), Mainz 1983 (Schott), S. 1.

setzen die Tutti-Bratschen vor Ziffer 3 und die Hörner ab Ziffer 4 mit einer zu 16tel-Triolen rhythmisch diminuierten Abwandlung der synkopisch repetierten „Liebestraumharmonien“ ein, die im zweiten Aufzug Tristan den Anfang des Liebesduetts „O sink’ hernieder Nacht der Liebe“ begleiten. Eben dieser „Nachtschwärmerei“ verdanken sich auch der Titel und die dunkle Besetzung (ohne Violinen) von Kirchners Nachtstück. Ebenso erinnern die ff akzentuierten Repetitionen der Blechbläser vor und nach Ziffer 7 an die Triolen-Repetitionen des Vorspiels zum zweiten Tristan-Aufzug. Zugleich steigert sich hier das Tempo von Achtel 52–56 MM auf 72–80 MM und wird der Klang ins Geräuschhafte forciert, mit gestopften und gedämpften Blechbläsern sowie Bartók-Pizziccati, legno battuti und sul ponticello der Streicher. Endlich verklingt das Stück, wie es begann, mit al niente verdämmerndem Orchester und

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einem letzten Sehnsuchtsaufschwung der Solo-Bratsche in die große Septime mit anschließend abfallender chromatischer Sekunde. Die kritische Distanz zum politisch tabuisierten Wagner, die Kirchner in seiner 1. Sinfonie „Totentanz“ zu wahren suchte, schlägt hier augen- und ohrenscheinlich in erdrückende Nähe um.

Notenbeispiel 5: Volker David Kirchner, Nachtstück – Varianten über eine Wagnersche Akkordverbindung für Viola und kleines Orchester (1980/81–1983), Mainz 1983 (Schott), S. 8.

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Surrealistische Kolportage: Dieter Schnebel Der Komponist und Musikwissenschaftler Dieter Schnebel (*1930) trat bereits Anfang der 1970er Jahre theoretisch wie praktisch für eine Aktualisierung der „zu Tode“ gespielten „Klassiker“ ein. Um die Kluft zwischen dem zeitgenössischen Komponieren und dem Hören alter Musik zu überbrücken, plädierte er für eine neue Einheit von Interpretation und Komposition. Er wollte die Musiktradition nicht länger als museales Inventar behandelt und aus konservatorischen Gründen unter „Denkmalschutz“ gestellt wissen, sondern gemäß Ernst Blochs Diktum vom „Unabgegoltenen der Vergangenheit“ deren bislang ungenutzte oder durch Routine verschüttete Potentiale für die Gegenwart retten und auf die Zukunft hin entfalten.28 Alte Werke sollten bewusst aus der Perspektive des aktuellen Stands des zeitgenössischen Komponierens neu beleuchtet und auf ihre Intention und Wirkung befragt werden, denn: „Wirkliche Vergegenwärtigung aber entdeckt von der Gegenwart her den Reichtum der Möglichkeiten in der alten Musik.“29 Den wahren Interpreten klassischer Werke erkannte Schnebel daher im bearbeitenden Komponisten, dessen wichtigstes Instrument die genaue Analyse der alten Werke sei. In seinen eigenen Werkreihen Re-Visionen I (1972–85, vormals Bearbeitungen) und Re-Visionen II (1985–89) unternahm Schnebel den Versuch, das „innere Leben“ einiger exemplarischer Werke der klassisch-romantischen Tradition von Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Wagner, Verdi, Mahler, Janáček und Webern durch Veränderungen der klanglichen Erscheinungsform vor abstumpfender Gewöhnung zu befreien und einem veränderten „Wieder-Sehen“ bzw. „Wieder-Erleben“ zugänglich zu machen.30 Das vierte Stück der Werkreihe Re-Visionen I ist Wagner-Idyll für Kammerensemble und Singstimme ad lib. (1980), dessen Titel Wagners „SiegfriedIdyll“ auf diesen selbst zurückspielt, sich ansonsten aber auf den „Karfreitagszauber“ aus dem dritten Akt des Parsifal bezieht. Schnebels Ziel war eine „strukturelle Neukomposition“31 für ein solistisch besetztes Kammerensemble in der Art von Schönbergs Herzgewächsen für hohen Sopran, Harmonium, Celesta und Harfe op. 20 und Pierre Boulez’ an Schönbergs Pierrot Lunaire op. 21 anknüpfendem Marteau sans Maître für Altstimme und sechs Instrumente (1953–55). Als Summe beider Bezugswerke wählte Schnebel für sein eigenes Stück ein neunköpfiges Ensemble, bei dem er Schönbergs Celesta und Boulez’ dritten Schlagzeuger durch Saxophon, Trompete und Violoncello ersetzte. Laut Hinweisen zur Partitur sollte Wagner-Idyll idealerweise zweimal aufgeführt werden, nämlich zunächst nur von Harfe (oder wahlweise zwei Gitarren), Harmonium und Schlagzeug, und erst beim zweiten Durchgang von allen Instrumenten. Tatsächlich nutzt Schnebel die reduzierte Besetzung als ein Analyse-Instrument, indem er den Partien strenge Arbeitsteilung auferlegt: die

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Bläser und Streicher spielen die Melodiestimmen, die Harfe die durchgehende Pulsation, das Harmonium die Harmonik, und die beiden Schlagzeuger liefern die „offenkundige oder imaginäre Grundtönigkeit (auch Geräuschhaftigkeit) der Wagnerschen Musik“.32

Notenbeispiel 6: Dieter Schnebel, Wagner-Idyll für Kammerensemble und Singstimme ad lib. (1980), Mainz 1980 (Schott), S. 2.

Obwohl die Melodik, Harmonik, Rhythmik und Metrik von Wagners Partitur unangetastet bleibt und also von einer kompositionstechnischen oder klanglichen Aktualisierung keine Rede sein kann, zeigt Schnebels vordergründig als bloße Uminstrumentation erscheinendes Wagner-Idyll dennoch eigenwillige epische Brechungen. Denn die Singstimme spricht Wagners originale Szenen-

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anweisungen mit und changiert ständig zwischen Gesang und Sprechgesang in der Art von Schönbergs Pierrot Lunaire. In bewusst a-historischer Manier werden damit spätere Entwicklungen der Musikgeschichte auf Wagners „Karfreitagszauber“ zurückprojiziert, um diesen im Hinblick auf die Musik der Zweiten Wiener Schule zu aktualisieren. Zudem verschmilzt Schnebel die Vokalpartien von Parsifal und Gurnemanz unterschiedslos zu einer einzigen weiblichen Gesangsstimme, die durch zahlreiche neu hinzugefügte Tempoangaben und psychologisierende Ausdrucksanweisungen den Charakter eines Monodrams erhält: „geheimnisvoll“, „seufzend“, „zart“, „scharf“, „zerquält“, „wie psalmodierend“, „wie gestammelt“ ... Gemäß dem bereits erwähnten Ansatz von Ernst Blochs Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage (1929) seziert Schnebel durch die Ostentation von Wagners Pathetik bei gleichzeitig bloßgelegten Regieanweisungen die Inszeniertheit und Gemachtheit dieser Musik.

Implosion: Jens-Peter Ostendorf Wie zuvor Hindemith und Schnebel zielt auch Jens-Peter Ostendorf (1944– 2006) auf surrealistische Kolportage Wagners, die sich bei ihm besonders gelungen umgesetzt findet. Ostendorf leitete von 1969 bis 1978 die Bühnenmusik am Thalia Theater seiner Heimatstadt Hamburg und wirkte seitdem als freischaffender Komponist vor allem von Filmmusik und Opern. Zu Beginn seines zum 100. Todestag Wagners 1983 entstandenen Orchesterwerks mit dem ebenso bescheidenen wie egomanisch auftrumpfenden Titel Mein Wagner stampft eine Abwandlung des „Riesen-Motivs“ aus Wagners Rheingold mittels Pauken, zusätzlichem Schlagwerk, Tutti-Streichern sowie vollem Posaunen- und Holzbläsersatz viel mächtiger und plumper als im Original daher. Der auftaktige Trippelvorschlag zur oberen Quarte und deren punktierte Wiederholung werden dabei zu einem bloßen auftaktigen Quartsprung kondensiert. Dessen permanente Wiederholung verrät im Verbund mit der charakteristischen Instrumentation dennoch sofort das dahinter liegende Original. So demonstriert Ostendorf an scheinbar unprofiliertem Allerweltsmaterial die außergewöhnliche Prägnanz von Wagners gestisch sprechenden Elementarmotiven. Zugleich ironisiert er diese, denn er lässt die tumben Gesellen durch ständige Wiederholung desselben Quartsprungs sinnlos auf der Stelle treten und infolge wechselnder Zweier- und Dreiertakte sowie gegeneinander verschobener Einsätze von Posaunen, Schlagzeug, Holzbläsern und Streichern permanent aus dem Tritt stolpern. Ab Takt 16 treten die vier Hörner mit dem punktierten Kopf des „Schmiedemotivs“ – ebenfalls aus Rheingold – hinzu, das sich ab Takt 34 zu den ebenso punktierten Dreiklangsbrechungen des „Walküren-Ritts“ verwandelt.

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Dieser Marschgestus wirkt schon bei Wagner martialisch. Doch Ostendorf steigert ihn mittels Tutti-Fortissimo weiter ins Infernalische. Zugleich lässt er diesen wilden Ritt so lange auf der Stelle treten, bis das Orchester al niente diminuiert und das zunächst noch „ff possibile“ weiter pochende Schlagwerk subito ins Piano absackt. Es folgt eine dunkle Fläche aus liegenden Bassinstrumenten, Tamtam-Schlägen und Kontrabass-Tomtom-Wirbeln, zu der die Violinen mechanisch vielmals ppp flautato sul ponticello den Terzgang cis-h-a wiederholen, als seien es letzte Zuckungen auf einem verheerten Schlachtfeld. Ähnlich dem Zerfallsfeld einer Mahler-Symphonie zeigt der sich anschließende Mittelteil nur zersprengte Ansätze und irrlichternde Motivkerne, die sich zu keinem einheitlichen Ganzen mehr fügen. Es sind Reminiszenzen der tapsigen Riesen, fragmentierte Punktierungen, dunkle Akkorde, unvermutet einfallende TuttiAkzente und in Takt 197 plötzlich das „Todestrauer-Motiv“ vom Beginn der „Trauermusik beim Tode Siegfrieds“ aus dem dritten Aufzug der Götterdämmerung. Inmitten des sonst anonymen Materials ist es das einzige erkennbare Wagner-Zitat, als wollte Ostendorf damit „seinen Wagner“ zu Grabe tragen. In Takt 259 folgt als exponiertes Englischhorn-Solo eine Abspaltung des „LeidensMotivs“ aus Parsifal und in Takt 262 eine erneute Variante des „SchmiedeMotivs“. Anschließend findet sich kein eindeutiges Wagner-Material mehr. Stattdessen verdichtet sich eine 16tel-Pulsation der Streicher zu massigen und mehrmals abbrechenden Akkordballungen, aus denen sich ohne erkennbare Ursache in Takt 316 eine Triumph-Fanfare erhebt, die zunächst pp anhebt und während zweier Durchgänge ins ff anschwillt, um fortan mit unmotivierten Dynamikwechseln vor sich hin zu jubilieren und in Takt 351 endlich ebenso abrupt wieder auszusetzen, wie sie zuvor begann. Ostendorf integriert in Mein Wagner – wie auch in einigen anderen Werken mit gesellschaftspolitischer Intention – nach dem Vorbild von Hanns Eisler allgemein bekannte Gesten und Versatzstücke aus Wagners Musikdramen, um diese auf ihre Substanz abzuklopfen bzw. in ihrer Substanzlosigkeit zu entlarven. Ohne erkennbare musikalische Ursache bläht er Wagners Naturmotive derart ins Gigantische auf, bis sie gleichsam wie Ballons von innen heraus durch Überdehnung zerplatzen. Gleichzeitig damit bringt Ostendorf auch Wagners Überwältigungs-Ästhetik zur Implosion. Bezeichnenderweise endet sein Stück „morendo“ mit sordinierten, asthmatisch pfeifenden Streicher-Flageoletts. Von der platten Wucht des Anfangs und den aufgedonnerten Fanfaren ist nichts mehr übrig. Doch als wäre diese extreme Zurücknahme nicht schon deutlich genug, stellt Ostendorf den Interpreten die Möglichkeit anheim, in den Schlusstakten zwischen Flageoletts und nachklappernden Woodblocks einen Sprecher den kurzen ebenso alltäglichen wie kryptischen Dialog in „freiem Sprechtempo“ vortragen zu lassen: „Hast Du Zeit? – Nein, antworte ich bedauernd – Kannst Du auch gar nicht! lächelt er verschmitzt.“

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Abglanz: Gavin Bryars und Valentin Silvestrov Der englische Komponist und Kontrabassist Gavin Bryars (*1943) stützt sich in The Porazzi Fragment on a theme by Richard Wagner for 21 solo strings (1999) – 2006 auch für Kontrabass-Chor arrangiert – auf ein unveröffentlicht gebliebenes dreizehntaktiges Fragment Wagners, das dieser nach Vollendung des Parsifal 1882 in Palermo in der Piazza di Porazzi notiert haben soll. Tatsächlich entstand dieses Thema in As-Dur (WWV 93, SW 21) jedoch vermutlich bereits 1858 im Umfeld der Arbeit an der zweiten Szene des zweiten Akts von Tristan und Isolde, dem großen Liebesduett. Während dort das Thema nur acht Takte umfasst, nahm es Wagner in einer auf dreizehn Takte erweiterten Form später in das Konvolut „Themen und Melodien“ der Jahre 1876 bis 1882 (WWV 107) auf. Bryars nimmt dieses Fragment – von dem er vermutet, Wagner habe es noch in der Nacht seines Todes im Palazzo Vendramin in Venedig gespielt – zum Ausgangspunkt, um die darin angewandte Alterations-Harmonik im Sinne einer Stilkopie frei variierend fortzuspinnen, ohne dabei allerdings besondere interpretatorische Absichten oder neuartige Perspektiven erkennen zu lassen. Dasselbe dreizehntaktige Thema in As-Dur griff auch Valentin Silvestrov (*1937) auf, der seine eigene Musik wegen deren fast allgegenwärtigen historischen Reminiszenzen und Anklängen an bekannte Personal- und Epochenstile selber als „metaphorischen Stil“ charakterisiert. In seinen Zwei Dialogen mit Nachwort für Streichorchester und Klavier (2001/02) bezieht sich der ukrainische Komponist dagegen ausnahmsweise auf zwei reale Vorlagen. Der erste Satz Hochzeitswalzer (Fr. Schubert ... V. Silvestrov) (1826 ... 2002) basiert auf dem als Kupelwieser-Walzer (DWV 893 A, Anh. I, 14) bekannten Walzer, den Franz Schubert 1826 auf der Hochzeit seines Freundes, des Malers Leopold Kupelwieser gespielt haben soll. In der Familie von dessen Nachkommen wurde dieser Walzer so lange nur mündlich tradiert, bis ihn Maria MautnerMarkhof im Januar 1943 Richard Strauss vorspielte und dieser den Walzer schließlich in Ges-Dur notierte. Silvestrov übernahm die Melodik und Harmonik dieser Transkription unverändert, um sie lediglich mit einer zarten Streicher-Gloriole zu umgeben, die er spiel- und klangtechnisch sowie mittels durchbrochener Arbeit höchst differenziert und variativ gestaltete. Als Übergang zum zweiten Satz – der auf dem Wagner-Thema basiert – schwingt der Walzer in einem sanften Ges-Dur-Akkord der Streicher „dolce, leggiero, lontano“ aus. Es folgen drei Fermaten-Generalpausen, die „wie eine Fortsetzung der Musik empfunden werden und den Zeitraum zwischen Schubert und Wagner quasi symbolisieren“33 sollen. Als seien beide Sätze unterschwellig verbunden, setzen zu Beginn des lediglich 29 Takte umfassenden zweiten Satzes Postludium (R. Wagner ... V. Silvestrov) (1882 ... 2001) die Streicher im gleichen Tonfall „Misterioso, dolce,

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Notenbeispiel 7: Valentin Silvestrov, Zwei Dialoge mit Nachwort für Streichorchester und Klavier (2001/02), 2. Satz Postludium (R. Wagner ... V. Silvestrov) (1882 ... 2001), Frankfurt am Main 2003 (Belaieff), S. 7. T. 1–7.

in sich hineinhörend“ ein. In einer theoretisch unendlichen Kadenzkette wird das Wagner-Thema so lange fortgeschrieben, bis es am Schluss verdämmert und sich auch der zweite Satz im Nichts von Generalpausen verliert, die ihrerseits wieder als Fortsetzung in „musikalische Stille“ dienen sollen, aus der sich dann der dritte und letzte Satz Morgenserenade (V. Silvestrov) (2002) erhebt. Den beiden „Dialogen“ mit Musik von Schubert und Wagner folgt damit eine genuine Eigenkomposition Silvestrovs quasi als „ein Nachwort des Autors“. Es ist ein melancholisch-süßliches „Larghetto dolcissimo, leggiero, lontano“, das sich an die Musik der beiden Vorgänger charakterlich anlehnt und das dreisätzige – Arvo Pärt gewidmete – Werk sowohl formal als auch historisch mit der Ankunft in der Gegenwart des Jahres 2002 beschließt. Endlich verliert sich auch dieser letzte Satz „wie das Wehen eines Lufthauchs“, um ganz am Schluss mit zwei weiteren Generalpausen Raum für erneute Ahnungen auf eine Zukunft zu geben, in welcher diese musikhistorische Verbindungslinie 1826 ... 1882 ... 2002 dereinst vielleicht einmal 2058 oder wann immer aufgegriffen und von wem und wie auch immer fortgeschrieben werden wird.

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Mythos: York Höller und andere Seit den 1980er Jahre ließ sich York Höller (*1944) beim Komponieren verstärkt von außermusikalischen Vorstellungen aus Literatur, Bildender Kunst und Philosophie leiten. Über die syntaktisch-strukturellen Dimensionen hinaus erhielt seine Musik dadurch auch zunehmend semantische Bedeutung. Schon Ende der 1970er Jahre beschäftigte sich der einstige Schüler von Bernd Alois Zimmermann mit Phänomenen des Mythos. Er studierte Wagners Musikdramen, las die psychoanalytischen Schriften von Carl Gustav Jung sowie Max Horkheimers/Theodor W. Adornos Gemeinschaftswerk Dialektik der Aufklärung (1947) und den von Karl Heinz Bohrer herausgegebenen Band Mythos und Moderne (1983). Entscheidend für Höller wurde die Einsicht, dass Kunst sowohl Kritik als auch Rettung des Mythos ist, und jeder Mythos bereits den Kern von Aufklärung in sich trägt, während verabsolutierte Aufklärung in Mythos umschlagen kann. Horkheimers und Adornos Deutung der Homerischen Odyssee als Urgeschichte des bürgerlichen Subjekts vermittelte ihm die Einsicht in die mimetische Kraft der Musik und des Eingedenkens der Natur im Subjekt.34 Das weltweit am meisten gespielte und von Höller am häufigsten überarbeitete Werk ist Mythos, Klanggedicht für 13 Instrumente, Schlagzeug und elektronische Klänge (4-Kanal-Tonband) (1979/80, rev. 1989, 1995, 2003). Der Titel meint keine bestimmte mythologische Überlieferung, sondern die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs allgemein als Rede oder Erzählung. Der Untertitel Klanggedicht präzisiert den Doppelcharakter des Werks zum einen als rational konstruiertes Gebilde mit Metrik, Verszeile, Strophen und zum anderen als suggestive Form der Vermittlung außermusikalischer Assoziationen. Für Höllers Schaffen der 1980er Jahre wurde Mythos insofern wegweisend, als der spätere Kompositionslehrer an der Kölner Musikhochschule hier erstmals bestimmte archetypische Erfahrungen und Urerlebnisse bewusst anhand profilierter Gestaltcharaktere einsetzte, um diese auf die Hörer auch in dieser Weise wirken zu lassen, statt sie wie Ostendorf kritisch zu demontieren: „Dem Werk liegen teilweise vertraute poetische Bilder und Ausdruckscharaktere zugrunde, wie z.B.: Von Wind, Wasser und der Nymphe Syrinx, Hornruf und Echo, bedrohliche Gesten, in eine Art Marche Funèbre mündend, Silberfarbenes Nocturne, Dionysischer Rundtanz, Nachtschwarzer Hymnus usw.“35 Die elementaren Gesten und Instrumentationstopoi stammen aus der musiksprachlichen Tradition von Beethoven über Chopin und Wagner bis zu Mahler und der Zweiten Wiener Schule und berühren allesamt magisch-affektive Reaktionsformen des Musikhörens. Manches an dieser „Hommage à Richard Wagner“36 gemahnt an den Neo-Archaismus von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps (1911–13), anderes soll – wie in Abschnitt 10b – über Tonbandzuspielungen „im Stile Richard Wagners [...] wie von einem Fernorchester ge-

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spielt aus den Lautsprechern ertönen“. Schließlich war Höller davon überzeugt, „dass – würde Wagner heute komponieren – er von den außerordentlichen Möglichkeiten der Elektronik reichen Gebrauch machen würde.“37 Wie alle Werke Höllers seit Mitte der 1970er Jahre basiert Mythos auf einer sogenannten „Klanggestalt“. In diesem Fall handelt es sich um eine 34-tönige Melodie, die alle zwölf chromatischen Töne enthält, auf es1 beginnt und schließt, sich bis zum psalmodierend umspielten tenor c2 und zum Spitzenton d2 entfernt und in zwei gleich große 17-tönige Hälften mit Phrasen von je 2+4+6+5 bzw. 7+10 Takten gliedert. Dieselbe Klanggestalt verwendete Höller auch in seinen vier unmittelbar anschließend entstandenen Werken Moments Musicaux (1979), Umbra (1979/80), Resonance (1981) und Pas de trois (1982). Aus dem Material dieser Tonsegmente bildete er jeweils zwei-, vier-, sechs-, fünf-, sieben- und zehntönige Akkorde. Die zehn chromatischen Schritte, vier offenen und vier verdeckten Tritonus-Intervalle sowie fünf offenen und verdeckten verminderten Dreiklänge dieser „Klanggestalt“ führen zu dichten, chromatisch gefärbten Akkordkomplexen, die an Wagners Alterationsharmonik erinnern und zugleich in Bereiche jenseits tonaler Gebilde bis zu Clustern führen.

Notenbeispiel 8: York Höller, Klanggestalt u.a. von Mythos, Klanggedicht für 13 Instrumente,

Schlagzeug und elektronische Klänge (4-Kanal-Tonband) (1979/80, rev. 1989, 1995, 2003), vgl. Höller, Klanggestalt – Zeitgestalt: Ein neues Formdenken (1998/2003), in: Ders., Klanggestalt, a.a.O., S. 120.

Direkt Wagner zitierte Höller – neben Werken von Bach und Alban Berg – auch in Pensées. Requiem für Klavier, großes Orchester und Live-Elektronik (2. Klavierkonzert) (1990/93). Höller widmete das Stück der Erinnerung an seine langjährige Lebensgefährtin Gisela Sewing, die 1987 einem AsthmaAnfall erlag. Dazu zitiert er zwei Takte vor Ziffer 39 das berühmte „Sehnsuchts-Motiv“ aus Wagners Tristan und Isolde, und zwar in der Art, wie es im Largo desolate von Bergs Lyrischer Suite (1926) begegnet, aus dem Höller auch die nachfolgenden Cello- und Oboenfiguren ableitete, so dass dieses Zitat als das Zitat eines Zitats erscheint und damit eine sowohl historische wie autobiographische Tiefenschärfe eröffnet. Schließlich verdichtete Höller auch die Reprise des Hauptthemas bei Ziffer 50 akkordisch und instrumentatorisch zu einer Allusion der Verwandlungsmusik aus dem ersten Akt des Parsifal.

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In weitgehender Unkenntnis von Wagners Musikdramen verwendete dagegen Markus Hechtle (*1967) an zentraler Stelle seines Orchesterwerks Szene mit Dunkel (2009) einen für Wagners Musik charakteristischen Melodie- und Instrumentationstopos. Neben der basslastigen Instrumentation, die auf Violinen gänzlich verzichtet und A-Klarinetten und Oboen überwiegend in tiefer Lage führt, wirkt das Stück  – seinem Titel entsprechend  – auch dadurch besonders dunkel, dass gegen Ende ein aufsteigender verminderter Dreiklang chromatisch umspielt und rhythmisch abgewandelt wird. Die Stelle erinnert stark an den sogenannten „Klageruf“ der durch Alberich geknechteten Nibelungen vom Anfang der dritten Szene Rheingold. Das Motiv bildet Hechtle sukzessive heraus, indem er vereinzelte chromatische Seufzer (Takt 16 und 26) später in Abschnitt B (ab Takt 75) zu melodischen Linien in Fagott und Englisch Horn verdichtet.38 Zwischenzeitlich verschwunden, kehrt dieses Klagemotiv im Schlussabschnitt E (ab Takt 171) plötzlich umso massiver im vieloktavigen Tutti-Unisono wieder. Im Verbund mit Paukenwirbeln und Rasgueado-Tremoli der Zupfinstrumente schraubt es sich als düsterer Gedanke in vier zunehmend länger und bedrohlicher werdenden Anläufen immer höher, bis es endlich im fff „Mit größter Kraft, nicht nachlassen!“ abbricht (Takt 195ff.). So entfaltet sich ein apokalyptischer Orchestertopos, der einerseits unmittelbar affektiv wirkt, andererseits aber auch historische Distanz schafft. Denn der geschichtsbewusste Hörer wird hier auf eine Gratwanderung zwischen sprechendem Ausdruck und uneigentlicher Musik über vergleichbare Stellen bei Wagner, Anton Bruckner oder Wolfgang Rihm geführt, bei dem Hechtle in Karlsruhe studierte. Die Steigerung des bedrohlich anrollenden Orchester-Unisonos führt nicht zum siegreichen Dur- oder tragischen MollDurchbruch, sondern zu nachzitternden Seufzersekunden und GitarrenArpeggien. Erst im letzten Takt schließt das Stück als dunkles Endzeitszenario in c-Moll. Wie Hechtle ging es auch dem aus Ecuador stammenden ehemaligen Schüler von Johannes Schöllhorn an der Kölner Musikhochschule Julián Quintero Silva (*1983) weniger um Wagner selbst, als vielmehr um Lars von Triers Film Melancholia (2010/11) über eine depressive junge Frau, die das Ende der Welt durch die Kollision mit dem fremden Planeten „Melancholia“ vorhersieht, wozu das Tristan-Vorspiel als nahezu allgegenwärtige „Filmmusik“ dient. In seinem Eres el mar inasible für Orchester (2011–12) verdichtet Quintero Silva den in vielen Generalpausen, Fermaten und wiederkehrenden Wechselnoten ständig stockenden Verlauf ganz am Schluss zu einem TristanZitat. Erstmals in Takt 127 spielen die Streicher einen h-Moll-Akkord mit Sixt ajoutée, der in Takt 146 transponiert als f-Moll-Akkord mit Sexte d wiederkehrt und ins Fortissimo crescendiert. Parallel dazu spielt die Klarinette den Terzgang es-f-fis, dessen Zielton a im Folgetakt 147 mit der Auflösung

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des Streicherakkords nach Es-Dur zunächst als übermäßiger Quartvorhalt liegen bleibt, bevor sich dieser zur Dur-Terz g auflöst. Am Ende des Werks mit dem spanischen Titel (Du bist das ungreifbare Meer) taucht Wagners Musik nur kurz als winziges Spurenelement auf und ist doch augenblicklich mit einer ungeheuren Intensität präsent, welche rückwirkend die Vermutung aufkommen lässt, das gesamte Werk sei schon von Anfang an tristanesk durchdrungen

Notenbeispiel 9: Julián Quintero Silva, Eres el mar inasible für Orchester (2011–12), Selbstverlag, S. 24.

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und gäbe am Schluss nur seinen „inasiblen“ Bezugspunkt zu erkennen. Immerhin behält diese Referenz im vorletzten Takt auch das letzte Wort als enharmonisch verwechselter cis-Moll-Akkord mit Sixt ajoutée im Klavier.

Persiflage-Ritual: Wagner 2013 Der österreichische Klangkünstler und Komponist Georg Nussbaumer (*1964) verarbeitet schon seit Jahren immer wieder Motive aus Wagners Musikdramen, obwohl er weit von sich weist, ein „Wagnerianer“ zu sein, und sogar kokett gesteht, sich nie eine von dessen Opern angesehen zu haben. 39 Den Anfang machte 1999 seine „Opernaktion“ Tristan: Schwimmen und Schweigen! für badendes Publikum, Mezzosopran, Klavier, Percussion, Tuba, 3 Violen, Violoncello, Englischhorn, Synchronschwimmerinnen, Video und Installationen. Realisiert wurde das Spektakel zunächst im Parkbad Linz und erneut 2006 im Herschelbad Mannheim in Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater Mannheim. 2002 folgte im „Offenen Kulturhaus – Centrum für Gegenwartskunst“ der Oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz – Nussbaumers Heimatstadt – auf mehrere Räume verteilt parsifalsurvivaltrail – Eine Operninstallation mit verschiedenen auf Wolfgang von Eschenbachs Versepos und Wagners Bühnenweihfestspiel bezogenen Stationen. Durch Kombination verschiedener Gegenstände, Bilder, Instrumente, Klänge, Text- und Musik-Zitate schuf Nussbaumer eine Art vieldeutiges Zeichenfeld, das permanent Erinnerungen, Assoziationen und Konnotationen weckt und den Hörer-Beobachter letztlich provozieren möchte, sich bei seinen Orientierungs- und Entzifferungsversuchen in diesen zu durchwandernden Räumen und Objektanordnungen selbst zu beobachten.40 Beim Festival „hörgänge“ 2002 realisierte Nussbaumer im Konzerthaus Wien the big kuss of Trustan with Usolde – Sedimente und Fundamente einer Oper. 2010 kreierte er im Auftrag des Künstlerhauses Villa Aurora in zeitlicher Nachbarschaft zu einem „Ring Festival“ der Los Angeles Opera die „PassagenOper“ Invisible Siegfrieds Marching Sunset Boulevard, bei der mit Tarnhelmen (in Gestalt umfunktionierter Zinkgießkannen) verhüllte „Siegfriede“ vier Tage lang auf einer Bahre eine in Tücher gehüllte „Brünhilde“ den über 32 Kilometer sich erstreckenden berühmten Sunset Boulevard entlang trugen, bis am Ende die als Freiheitsstatue sich zu erkennen gebende Frauenfigur in den Pazifik geworfen wurde. Im selben Jahr 2012 platzierte Nussbaumer zur Tagung „Macht, Ohnmacht, Zufall“ in der Akademie der Künste Berlin die Installation Walküren, Wölfe, Waldvöglein. Bei all diesen Arbeiten übernimmt Nussbaumer bestimmte Requisiten von einem Projekt zum anderen. Besonders auffällig und unappetitlich sind dabei Rinderzungen, die stellvertretend

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für Singen und Sprechen stehen, und Fleischwölfe, die das Gesungene und Gesagte wie Ohren aufnehmen und in Gestalt der Rinderzungen zu Hackfleisch verarbeiten. Im Wagner-Jahr 2013 brachte Nussbaumer RING! als akustisches Porträt des Rundfunk-Sinfonieorchesters des ORF Wien zur Uraufführung. Die Orchestermusiker hatten dabei ihre Handys, Smartphones und iPads ausnahmsweise nicht in der Garderobe zu lassen, sondern mit auf die Bühne zu nehmen, um sich damit – einfachen Handlungsanweisungen folgend – gegenseitig anzurufen. Die Vielzahl der unterschiedlichen Klingeltöne verbreitete sich dabei scharenweise über die Bühne von links nach rechts und zurück. Den englischen Titel versteht Nussbaumer zwar primär als Aufforderung, es klingeln zu lassen („to ring“), bemüht aber auch den Bezug zu Wagners Tetralogie, gegenüber der er seinen RING! „auch als Verlängerung des Wagnerschen Rings um 40 Sekunden“ versteht: „Das Nicht-Abheben, das Nichtkommunizieren dem Redeschwall  – der die Übel erst erzeugt  – entgegensetzend. Kurzes Schweigen gegen ewiges Reden. Eine verhalten klingende beziehungsweise klingelnde Schweigeminute.“41 Beim Kunstfest Weimar „Pèlerinages“, das im Sommer 2013 unter dem Motto „Wagner-Idyll“ stand, präsentierte Nussbauer im Weimarer Schießhaus seine für das Publikum interaktiv angelegte Installation Milchstrom, Fragebett, Gralsmaschinen – Ein Lohengrin-Gelände als Kontrapunkt zur Neuinszenierung von Wagners Lohengrin am dortigen Deutschen Nationaltheater. Und bei den Donaueschinger Musiktagen 2013 präsentierte Nussbaumer in den Räumlichkeiten der dortigen F.F. Brauerei Ringlandschaft mit Bierstrom – ein Wagner Areal, eine 15-stündige Tour de Force durch Wagners Ring des Nibelungen. Insgesamt schwanken Nussbaumers Wagner-Ak­ tionen zwischen Ulk und Ernst. Mal wirken sie wie Klamauk und heitere ­Persiflagen, mal streng, feierlich und zeremoniell wie fremdartige schamanis­ tische Rituale. Möglich und tragfähig sind sie in jedem Fall nur durch die Prägnanz von Wagners Musik und Dichtung, die selbst dann noch zu wirken vermögen, wenn sie extrem verfremdet erscheinen, zerstückelt, remontiert, ­travestiert. Dem Wagner-Jahr 2013 geschuldet ist auch Helmut Oehrings (*1961) SehnSuchtMEER oder Vom Fliegenden Holländer, uraufgeführt an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Der Berliner Komponist hatte sich bis dato nicht für Wagner interessiert und erst im Zuge dieses Kompositionsauftrags begonnen, sich mit dem Holländer auseinanderzusetzen. Wie zuvor seine „musiktheatralische Ortsbestimmung“ BlauWaldDorf (2002) mit Musik von Claudio Monteverdi und der Rockband Radioheads sowie Die Wunde Heine (2010) unter Verwendung von Bertolt Brechts und Kurt Weills MahagonnySongspiel versteht Oehring auch sein nunmehr 23. Bühnenprojekt als „Antwort“, in diesem Fall auf Wagners romantische Oper und Heinrich Heines

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Memoiren des Herrn Schnabelewopski, die Wagner seinerzeit den Stoff vom Fliegenden Holländer vermittelten. Ferner einbezogen wurden in Stefanie Wördemanns Libretto Hans Christian Andersens Kunstmärchen Die kleine Meerjungfrau und die von Wagner vertonten Gedichte der in Elberfeld geborenen und in Düsseldorf aufgewachsenen Unternehmergattin Mathilde Wesendonck. Beide Frauengestalten sollten als Schwestern Sentas erscheinen, verbunden durch dasselbe Sehnen und Auf-sich-Ziehen von Männerphantasien. Wie in anderen Bühnen- und Konzertwerken integrierte Oehring auch hier Einlagen einiger seiner langjährigen künstlerischen Partner: der Gebärdensprachensolistin Christina Schönfeld, des Vokalperformers David Moss und des E-Gitarristen Jörg Wilkendorf. Und wie andere Arbeiten Oehrings bezog auch diese ihre stärkste Ausstrahlung durch das verwendete Fremdmaterial, in diesem Fall Wagners Musik, statt von sich aus eigene Energien freizusetzen und etwas zur Neubeleuchtung Wagners beizutragen. Verschiedene Wagner-Stellen verwendeten auch Bernhard Lang (*1957) in seinem Musiktheaterwerk Montezuma – Fallender Adler (2009/10) auf ein Libretto von Christian Loidl sowie Liza Lim (*1966) in ihrer Kammeroper The Navigator opera for 5 singers, 16 instruments and electronics (2007) auf ein Libretto von Patricia Sykes, ein Werk, das sich als „a study of Eros or structures of desire“ ausdrücklich auf Tristan und Isolde bezieht.42 Eigens zum WagnerJubiläum 2013 entstand The Tragedy of a Friendship – Hommage to Richard Wagner (2013) nach einem Konzept des belgischen Regisseurs Jan Fabre auf ein Libretto von Stefan Hertmans mit Musik von Moritz Eggert (*1965). Thema des an der Flams Opera in Antwerpen uraufgeführten Projekts ist die fatale Freund- und Feindschaft von Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, die hier als Bühnenpersonen auftreten. Text, Handlung und Musik orientieren sich dabei chronologisch an Wagners Bühnenwerken von der frühen romanischen Oper Die Feen bis zum Parsifal. Jeweils mit neuen Untertiteln versehen wird dabei zum Beispiel aus Rienzi der „Held und Terrorist“ sowie aus Parsifal der „Tod der Musik“. Benutzt wurden zumeist populäre Wagner-Arien und -Chöre, die allerdings nur a cappella erklingen und mal weniger, mal ­stärker verarbeitet werden. So erscheint etwa die Musik der Meistersinger als beschwingte Jazzversion. Ebenfalls zum Wagner-Jahr 2013 arrangierte der Musikwissenschaftler und Dramaturg Peter Larsen (*1962) im Auftrag des Richard-Wagner-Verbands Trier-Luxemburg Originalpartien aus dem Ring für die Kinderoper Siegfried oder Wer wird Herr des Ringes – Ein musikalisches Fantasy-Abenteuer mit Richard Wagner (2013). Für den Hessischen Rundfunk realisierte der Kölner Komponist, Klangkünstler und Saxophonist Andreas Wagner das radiophone Hörstück Wagner on Wagner (2013) unter Verwendung von elektronischen Klängen und Passagen aus dem Vorspiel zur großen tragischen Oper

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Rienzi, der letzte der Tribunen. Dazu sprechen Computerstimmen hochpathetische Texte Wagners aus dem Jahr der bürgerlichen Revolution 1848, so dass sich deren revolutionäre Inbrunst zu hölzerner Ausdruckslosigkeit verkehrt. Beim Beethovenfest Bonn 2013 ließ die Komponistin, Bandleaderin und Saxophonistin Angelika Niescier die Gesangspartie der Kundry aus Parsifal nahezu unverändert singen, umgeben vom auf Wagners Musik basierenden Big-Band-Sound des von ihr geleiteten „German Women’s Jazz Orchestra“. Dagegen tourt der Trompeter Otto Sauter im Wagner-Jahr mit der Band „Ten of the Best & Friends“ unter dem Titel The Richard Wagner Project mit einem Programm, bei dem „Wagner-Standards“ auf Soul, Blues, Mambo, Salsa, Bossa Nova und Samba-Funk treffen. Die Liste der neuen Wagneriana verlängerten 2013 ferner das vom Richard-Wagner-Verband Dortmund in Auftrag gegebene „Die alte Weise sehnsuchtsbang“ – Sinfonische Variationen über die Hirtenweise aus „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner für großes Orchester op. 68 (2012) von Stefan Heucke (*1959), des weiteren Milko Kelemens (*1924) Erinnerungen an Tristan für Klaviertrio (2012) – zum 130. Todestag des Meisters am 13. Februar vom Trio Parnassus in Bayreuth zur Uraufführung gebracht  – sowie Peter Ruzickas (*1948) Auftragswerk der Hamburger Philharmoniker mit den untrüglichen Initialen R. W. – Übermalung für großes Orchester (2012). Hinzu kommen das von der Festspielstadt Bayreuth zusammen mit der dortigen Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne bei Fazil Say in Auftrag gegebene und von diesem in der dortigen Stadthalle selber uraufgeführte Werk Wagner und Nietzsche für Klavier (2013) sowie das am Theater Basel neu herausgebrachte Musiktheaterwerk Isolde (2013) von Richard Maxwell und Daniel Ott. Von Wagner als einem Tabu der neuen Musik ist in all diesen Projekten nichts mehr zu spüren. Stattdessen dominiert auf breiter Front das Faszinosum Wagner. Und dieses wird neben dem üblichen Konzert- und Opernpublikum jetzt auch für Jazzliebhaber, Kinder und Jugendliche aufbereitet.

Pragmatik: Wagner-Bearbeitungen Neben künstlerisch ambitionierten Auseinandersetzungen mit Wagner gibt es zahlreiche Bearbeitungen, die rein pragmatisch Abhilfe schaffen wollen hinsichtlich der teils extremen Anforderungen, Besetzungsgrößen und Dauern von Wagners Werken. Eine zeitlich-inhaltliche Komprimierung bei gleichzeitig besetzungstechnischer Reduktion des kompletten Ring des Nibelungen für Soli und mittelgroßes Orchester unternimmt gegenwärtig Eberhard Kloke (*1948). Der Dirigent und Komponist hatte bereits Werke von Tallis, Bach, Offenbach, Mahler, Schönberg, Weill sowie einzelne Teile von Wagners Tris-

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tan und Parsifal bearbeitet, zumeist für Kammerorchester. Gegenwärtig erstellt er eine auch für kleinere Ensembles und Bühnen geeignete aufführungspraktische Alternative des Ring. Kloke greift dabei auch in das Klangbild ein, indem er mit deutlich verkleinertem Orchester neue Balancen zwischen Solisten und Orchester schafft und idealerweise die kompositorische Substanz klarer heraustreten lässt. Seine Bearbeitungen von Das Rheingold und Die Walküre sind 2011 bereits bei der Universal-Edition Wien erschienen. Bis 2015 sollen die Partituren und Aufführungsmaterialien der Bearbeitungen von Siegfried und Götterdämmerung fertig sein. Zuvor hatte schon der Dirigent Leopold Stokowski den 15-stündigen Ring auf eine rein instrumentale Fassung ohne Gesang von der Länge einer Bruckner-Symphonie zusammengedrängt. Denselben Ansatz eines „Ring ohne Worte“ verfolgten später etliche weitere Komponisten und Interpreten, so auch der amerikanische Dirigent Lorin Maazel (*1930), dessen 1987/88 entstandene „Zusammenstellung“ sich bis heute im Repertoire der Konzerthäuser hält. Die Gesangspartien werden hier – sofern im Original nicht ohnehin Instrumentalstimmen parallel laufen  – durch zusätzliche Instrumente übernommen, die zugleich bestimmten Personen zugeordnet sind: Flöte = Sieglinde, Posaune = Siegmund und Siegfried, Bassklarinette = Fafner. Indem Maazel der Chronologie der Tetralogie folgt, ohne seine Auslassungen durch neu hinzukomponierte Überleitungen zu überbrücken, betont seine Reduktion ehrlicherweise ihren Montage-Charakter mit allen Sprüngen und Brüchen. Wie schon Franz Liszt zum eigenen Konzertgebrauch erstellte 100 Jahre später auch der kanadische Pianist Glenn Gould (1932–1982) Klaviertranskriptionen des Siegfried-Idyll (1973), Meistersinger-Vorspiels (1973) und der Morgendämmerung und Sieg­f rieds Rheinfahrt aus dem ersten Akt der Götterdämmerung (1973). Mehrere einstündige Orchesterarrangements bzw. „Symphonic Compilations“ stammen vom niederländischen Schlagzeuger und Arrangeur Henk de Vlieger (*1953), der Wagners Musikdramen zu textlosen Symphonischen Dichtungen verwandelte: The Ring – an Orchestral Adventure based on Richard Wagner (1991), Parsifal – an Orchestral Quest based on Richard Wagner (1993), Tristan und Isolde – an Orchestral Passion based on Richard Wagner (1994) und Meistersinger – an Orchestral Tribute based on Richard Wagner (2005). Nach wie vor werden beliebte Stellen, Vorspiele und Arien Wagners auch zu Potpourris verbunden, so etwa in der Konzertfantasie Wagneriana für Klavier von Alexander Rosenblatt (*1956), die „Greatest-Hits“ verarbeitet: Themen aus den Ouvertüren zu Tannhäuser und Holländer, Hochzeitsmarsch und Marsch aus Lohengrin sowie „Walküren-Ritt“ und „Isoldes Verklärung“, wobei die Wiederkehr mancher Themen einen übergeordneten Formverlauf herstellen soll. In ähnlicher Weise verarbeitete der russische Komponist in seiner symphonischen Suite Music Alice Land (1994) für eine Moskauer Eistanz-

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revue Themen von Chopin, Paganini und Bizet sowie in seiner Große SuiteFantasie für Klavier (2009) Themen aus Peter Tschaikowskys Ballettmusik Schwanensee.

II. Giuseppe Verdi Vor dem Hintergrund der Abwertung Wagners nach dem Ersten Weltkrieg bot sich Verdi als Gegenmodell an. Der nordisch umwölkten Mythologie des Sachsen stellte man Verdi als das lichte, heitere Genie des Südens entgegen. Auch die integre Persönlichkeit des Gutsbesitzers von Sant’Agata mit seinem ehrlichen, rechtschaffenen und volksnahen Charakter wurde dabei antipodisch zur Egomanie des genusssüchtigen Tyrannen im Hause Wahnfried begriffen.43 Doch eine solche Polarisierung beider Charaktere ist eine zu schematische Stilisierung, als dass sich daraus belegbare kompositorische Einflussnahmen auf konkrete Werke ableiten ließen. Das gilt auch für die unterschiedlichen Konzepte von Oper und Musikdrama. Das klare Primat von Gesang und Melodie sowie die Verwendung von Nummern, Ensembles, Parlando, Rezitativ und Belcanto in den neusachlichen und neoklassizistischen Richtungen der neuen Musik der 1920er und 30er Jahre bleibt zu allgemein und unspezifisch, als dass sie sich direkt auf Verdi zurückbeziehen ließen, selbst wenn dieser gerade damals auch außerhalb Italiens zum meistgespielten Opernkomponisten in Europa aufstieg und sich deswegen als Gegenmodell zu Wagners Musikdrama anbot. Namentlich Igor Strawinsky „funktionalisierte Verdi im Kontext seiner Überlegungen zum Neoklassizismus, indem er seine Ästhetik mit Verdi und gegen Wagner konkretisierte“,44 also beispielsweise die formal logische Folge von Arien und Ensembles bei Verdi gegen das als formlos und letztlich chaotisch empfundene Konzept von Wagners unendlicher Melodie ins Feld führte. Hinzu kommt, dass der traditionsbewusste Verdi – nicht anders als Wagner posthum durch den Bayreuther Kreis – vor allem während des italienischen Faschismus sowie während der Jahre vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien nationalistisch vereinnahmt und gegen internationale Einflüsse – vor allem gegen die nordische „Dekadenz“ von Wagner, Debussy, Strawinksy, der Wiener Schule und des Futurismus  – in Stellung gebracht wurde: „Das 19. Jahrhundert, und im Besonderen die italienische Oper zwischen Rossini und Verdi, wurde in den späten zwanziger und den dreißiger Jahren unter nationalistischen Gesichtspunkten zu einer eigentlichen Festung gegen die Neue Musik ausgebaut. Die Rossini-, Bellini- und Verdi-Renaissancen – oder wenigstens die Bemühungen um solche – dienten gleichzeitig der Konkretisierung eines populistisch-faschistischen Musikverständnisses. [...] Verdi wird – mit Ausnahme des Falstaff, jenem Werk, dem die Vertreter der

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Neuen Musik stets zugetan waren  – zum Komponisten in erster Linie des Trovatore. Hier findet sich das feurige Temperament und jene virile Mediterraneität, mit welchen gegen den dekadenten nordischen Wagner und die Maschinenkultur der Moderne ein heroischer Sieg zu erringen war.“45 Man sollte meinen, ähnlich der nationalsozialistischen Vereinnahmung Wagners in Deutschland habe auch in Italien die nationalistische bzw. faschistische und genuin antimoderne Vereinnahmung Verdis der direkten kompositorischen Anknüpfung an dessen Musik nach 1945 im Wege gestanden. Doch erstaunlicherweise erscheint Verdi dort statt als Tabu weitgehend ungebrochen als Faszinosum.

Gesungenes Bekenntnis: Luigi Dallapiccola und Luigi Nono Als Inbegriff der „italianità“ okkupiert, war der Melodiker Verdi für die um 1900 geborenen italienischen Komponisten je nach ästhetischer Ausrichtung entweder positiver Bezugspunkt oder aber als Ausfluss musikalischen Konservatismus schlicht uninteressant. Beispielsweise machte Luigi Dallapiccola (1904–1975) als Jugendlicher während der Internierung seiner Familie in Graz 1917/18 am dortigen Opernhaus seine eindrücklichsten Erfahrungen bezeichnenderweise mit Wagners Ring und Holländer, dessen Aufführung ihn den Entschluss fassen ließ, sich fortan ganz der Musik zu widmen. Auf Verdi stieß Dallapiccola dagegen erst 1930 durch eine Aufführung des Simon Boccanegra in Berlin, die ihn begeisterte. Vor allem aber beschäftigte sich Dallapiccola in den 1960er und 70er Jahren mit Verdis Opern, die er im Unterricht behandelte, deren Autographe er im Archiv des Ricordi-Verlags in Mailand studierte, über die er Vorträge hielt und Aufsätze verfasste, darunter Essays über Falstaff (1964), Simon Boccanegra (1969), Rigoletto (1970) und Worte und Musik im Melodramma (1962/63), in denen er Verdis Fortschrittlichkeit und geradezu logische Ausarbeitung kompositorischer Mikro- und Makrostrukturen herausstellte. Doch in Dallapiccolas eigener Musik, zumal in seinen Vokalwerken und Opern, lassen sich viel eher Techniken der Vokalpolyphonie der Renaissance und Wagners Leitmotiv- und Leitakkordtechnik nachweisen, als dass ein kompositorischer Einfluss Verdis analytisch dingfest zu machen wäre.46 Ebenfalls kaum konkret in Partituren zu ermitteln, ideell aber immens wichtig ist der Einfluss, den Verdi als politischer Komponist ausübte. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein galt Verdi in Italien – und tut dies immer noch – als führende Künstlerpersönlichkeit des Risorgimento, der nationalen Befreiung und Einigung des Landes. Schließlich finden sich in etlichen seiner Opern Gefangenenchöre und Freiheitsgesänge. Mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Relevanz der Libretti und deren sprachmächtiger Ver-

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tonung wirkte Verdi vor allem auf Dallapiccola und Luigi Nono (1924–1990), später auch für Rolf Liebermann und Dimitrij Schostakowitsch als leuchtendes Vorbild.47 Während Dallapiccola seit seinen Canti di Prigionia (1938–41) mehrere humanistische Bekenntniswerke und Appelle für die Freiheit und Unversehrtheit des Menschen komponierte, bezog Nono seit den 1950er Jahren als bekennender Kommunist und Mitglied der PCI in Werken und Texten dezidiert politisch Stellung. In Zusammenhang mit La fabbrica illuminata für Tonband und Gesangsstimme (1964) schrieb er: „Ich sehe nicht ein, weshalb die Musik heute nicht mehr teilnehmen sollte an der Entdeckung, an der Gestaltung der neuen menschlichen, technischen, ideellen und realen Dimensionen, die die grundlegende historische Bewegung unserer Epoche, der Kampf der internationalen Arbeiterklasse für die sozialistische Freiheit, sichtbar werden lässt und erschließt [...]. Gab es in anderen Epochen etwa keine Beziehung zwischen historischer Vernunft und schöpferischer Phantasie [...], zwischen der leidenschaftlichen nationalen Bewegung des Risorgimento und Verdi [...]?“48 Auch bei anderen Gelegenheiten betonte Nono, dass ihm Verdi vor allem „teuer“ sei, weil sich dieser in das gesellschaftspolitische Geschehen seiner Zeit eingemischt und „nicht über dem Handgemenge“ gestanden habe.49 Demgegenüber ist jedoch einzuschränken, dass es sich bei dieser Lesart um eine Rezeption zweiten Grades handelt, die zur Mythenbildung neigt. Denn Nono rezipiert mit dieser Sichtweise die gängige italienische Verdi-Rezeption, bei der es sich – wie Michael Walter in seinem Beitrag Verdi, Wagner und die Politik zeigen konnte50 – vornehmlich um rückwirkende Verklärungen handelt, die wenig zu tun haben mit den tatsächlichen politischen Intentionen Verdis, den von ihm vertonten Libretti und der Wirkung seiner Opern auf das zeitgenössische Publikum. Nonos einziger bisher nachgewiesener direkt kompositorischer Bezug auf Verdi findet sich in Fragmente – Stille, An Diotima für Streichquartett (1979/80), der ausgerechnet in diesem Fall jedoch eher unpolitischer Natur ist. Neben Anspielungen auf Johannes Ockeghem und Ludwig van Beethoven verwendet Nono dort die sogenannte „Scala enigmatica“, mit der Verdi in seinen Quattro Pezzi Sacri (1889) das Ave Maria als Verbindung der Jungfrau Maria mit dem Chorklang Palestrinas und moderner Expressivität komponiert hatte. Dennoch setzt sich etwas von der Emphase des Verdischen Solo- und Chorgesangs in den Vokalwerken Dallapiccolas und Nonos fort. Beide schrieben überwiegend Musik für Singstimmen und mehrere Opern. Insbesondere bei Letzterem steht der menschliche Gesang stellvertretend für Humanität. Die menschliche Stimme ist für Nono „frei oder befreit von jeder ,a priori‘oder künstlichen Tonleiter, außerordentlich in ihrem großen technischen, phonetischen und semantischen Reichtum“.51 Während Nono in früheren Wer-

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ken  – etwa den Cori di Didone für Chor und Schlagzeug (1958)  – die Vokalpartien konsequent in einzelne Töne und Silben aufsplitterte, lässt er in den Canti di vita e d’amore – Sul Ponte di Hiroshima für Sopran- und Tenorsolo und Orchester (1962) zwischen schroffen Blechbläser-Dissonanzen, klirrenden Streichern und brutalen Schlagzeugattacken die Singstimmen immer wieder mit weit gestreckten Bögen in zumeist hoher und höchster Lage umso klarer und weicher hervortreten als ein „Symbol für uns alle eines Lebens der Liebe, der Freiheit, gegen jegliche neue Form der Unterdrückung und der neonazistischen Tortur“.52 Der Mittelsatz dieser insgesamt drei „Gesänge des Lebens und der Liebe“ basiert auf einem Text der algerischen Studentin Djamila Boupachà, die sich am damaligen Kampf gegen die französische Kolonialmacht beteiligte und gefoltert wurde. Der Satz besteht komplett aus einem unbegleiteten Sopran-Solo, bei dem sich zum Zeichen der Stimme der Freiheit – die sich trotz Knebelung Gehör verschafft – die Vokalistin mehrmals von gesummten Tönen „bocca chiusa“ zu großen Kantilenen in Höchstlagen (Spitzenton c3) erhebt.

Notenbeispiel 10: Luigi Nono, Canti di vita e d’amore – Sul Ponte di Hiroshima für Sopran- und Tenorsolo und Orchester (1962), Mainz 1963 (Ars Viva, später Schott), S. 28 (Ausschnitt).

Wie in den Canti di vita e d’amore lässt Nono auch in Intolleranza 1960 (1960/61) Chor und Solisten in einer Weise singen, die zumindest passagen-

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weise dem Ideal des italienischen Belcanto nahe kommt. Jedenfalls notierte die Mezzosopranistin Carla Henius in ihren Tagebuchaufzeichnungen zur Uraufführung dieser „Azione scenica“ im Teatro La Fenice in Venedig April 1961, an der sie selbst mitwirkte: „Es singt sich schön wie Verdi!!“53 Und im Hinblick auf sein zweites Opernwerk Al gran sole carico d’amore (1972–74/77) gab Nono den Hinweis, dass insbesondere für die zentrale Rolle des Chors „ein Einfluss mancher Choropern Mussorgskys (Chowanschtschina und Boris in der Originalversion), Verdis (Nabucco und andere), Schönbergs (Moses und Aron)“ eindeutig auszumachen sei.54

Aus der Ferne: Luciano Berio Zeit seines Lebens nach allen Seiten offen und neugierig zeigte sich Luciano Berio (1925–2003), der Musik für alle Besetzungen und Gattungen komponierte, vom Solostück bis zum großen Orchester-, Chor- und Musiktheaterwerk mit oder ohne Elektronik. Zudem wirkte Berio als Dirigent, Studioleiter, Ensemblegründer, Konzertveranstalter, Zeitschriftenherausgeber und Lehrer. Stärker als die Musik Nonos ist seine von typisch italienischer Virtuosität, Theatralität, Spiel- und Improvisationsfreude durchdrungen. Mit profundem Handwerk beherrschte Berio unterschiedlichste Stile und Techniken. Wiederholt verband er auch Altes mit Neuem sowie Kunst- mit Volks-, Pop- und Laienmusik. Seine zehn Bühnenwerke zeugen von der typisch italienischen Vorliebe für die Oper und sind doch weder Musikdramen, Zeit- oder Literaturopern im herkömmlichen Sinne, sondern „postdramatische“ Meta-Opern, die ihre eigenen medialen, historischen und gattungstypischen Bedingungen reflektieren, indem sie Bühnenkonventionen ironisieren, mit dem Verfließen der Grenzen von Schein und Sein spielen oder wie in Bertolt Brechts epischem Theater Text, Musik und Handlung jeweils für sich und wechselseitig aneinander brechen. Eine Art Oper hinter der Oper ist Berios La vera storia (1977/78) nach der gleichnamigen Erzählung des befreundeten und – wie Berio – aus Ligurien stammenden Dichters Italo Calvino (1923–1985). Analog zur Schachtel-Konstruktion von Calvinos Textvorlage, bei der sich hinter jeder Geschichte unzählige weitere Geschichten verbergen, so dass sich im Wust der Erzählungen der Anspruch auf „Die wahre Geschichte“ verliert, parallelisiert Berio die Handlung der Oper mit Motiven aus Verdis Il trovatore.55 Statt um die Verkündung von Wahrheiten geht es um die Darstellung der Komplexität und Vielschichtigkeit der Lebenswelt und abendländischen Musik- und Geistesgeschichte. Eine parodistische Meta-Oper über das Wesen der Oper ist auch Un re in ascolto (Ein König horcht) (1979–84) erneut nach einer gleichnamigen

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Erzählung von Calvino, wo ein König in seinem Palast dem Zerfall seines Reiches nachhorcht. Auf ähnliche Weise lässt Berio den alternden Operndirektor Prospero allein in seinem Büro von einem anderen Theater träumen, während gleichzeitig auf der Bühne seines Theaters eine Neubearbeitung von Shakespeares The Tempest (Der Sturm) geprobt wird, in dem Shakespeares Bühnenfigur Kapitän Prospero mit seiner Mannschaft auf einer einsamen Insel strandet. Sowohl textlich als auch musikalisch thematisiert dieses Theater im Theater die Rezeptionsgeschichte dieses Dramas vom Mozart-Zeitgenossen Friedrich Wilhelm Glotter über Wystan Hugh Auden bis zu Calvino und Berio selbst. Ein prägnanter Zug von Berios Schaffen ist es, die musikalische Vergangenheit in Transkriptionen und Re-Lektüren neu zu reflektieren. Dabei wurde Berio auch von seinem Freund, dem Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco beeinflusst, der in seinem Buch Opera aperta (1962, dt. Das offene Kunstwerk 1973) prinzipielle Einsichten in die interpretatorische Offenheit und Unabschließbarkeit von Kunstwerken formulierte. Die Bandbreite der von Berio bearbeiteten bzw. transkribierten Werke bezeugt die Vielfalt seiner Vorlieben für Barock, Klassik, Romantik, Moderne bis zu Pop- und Volksmusik, namentlich für Monteverdi, Purcell, Bach, Boccherini, Schubert, Brahms, Verdi, Mahler, de Falla, Hindemith und Weill sowie Beatles-Songs von Paul McCartney und John Lennon. Zudem rekonstruierte und komplettierte Berio bereits bestehende Musik. Auf Fragmente zu Schuberts unvollendeter Sinfonie in D-Dur (D 936A) komponierte er Rendering für Chor und kleines Orchester (1989). Und Puccinis Fragment gebliebene Oper Turandot ergänzte er auf der Grundlage von Skizzen um ein neues Finale, das sich gegenüber Franco Alfanos sonst gespielter pompöser Schlussergänzung durch Nachdenklichkeit auszeichnet. Eine Auseinandersetzung mit Verdi sind Berios gerade auch im Verdi-Jahr 2013 wieder international viel gespielte 8 romanze per tenore e orchestra (1991). Offenbar in Unkenntnis über die Entstehungszeit dieser Stücke, die Verdi auf verschiedene Textvorlagen für Singstimme und Klavier komponierte, sah Berio in diesen Romanzen „regelrechte Vorstudien zu Szenen, Arien und Cabalette späterer Verdi-Opern“.56 Namentlich Vorklänge auf Nabucco, La forza del destino, Don Carlos und Il trovatore meinte er ausmachen zu können. Tatsächlich stammen drei der 8 romanze aus Verdis früher Sammlung Sei romanze (1838) und vier Stücke aus der etwas späteren Sei romanze (1845), während die Nummer 2 Il poveretto (1847) als Einzelwerk entstand. Obwohl der Klavierpart aller acht Romanzen teilweise genaue Instrumentationstopoi erkennen lässt, wollte Berio die Gesänge nicht einfach à la maniera des frühen Verdi orchestrieren, sondern durch teils neue kurze Vor-, Zwischen- und Nachspiele kommentieren und so in musikalische Klammern setzen, dass die

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Notenbeispiel 11: Giuseppe Verdi/Luciano Berio, 8 romanze per tenore e orchestra (1991), Wien 1991 (Universal Edition), Nummer 4 L’esule, S. 27.

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historischen Stücke wie aus der Ferne zu kommen scheinen. Die diversen kompositorischen Eingriffe sollten bei aller intendierten Organiziät auch „einen Verfremdungseffekt hervorrufen, der, wie ich meine, sowohl bei Verdi als auch bei Brecht auf Interesse gestoßen wäre“.57 Berio greift in die Harmonik ein und fügt zusätzliche Melodie- und Nebenstimmen hinzu. Zugleich geht er philologisch korrekt vor, indem er der Partitur seiner Orchestrierung in der untersten Akkolade die Originalversion für Klavier und Singstimme hinzufügt, so dass jederzeit ersichtlich ist, was Verdis Original und Berios Abweichungen davon sind. In Nummer 4 L’esule (1838) (Der Verbannte) auf einen Text von Temistocle Solera – Librettist von gleich fünf frühen Verdi-Opern: Oberto, Conte di San Bonifacio (1839), Nabucco (1842), I Lombardi alla prima crociata (1843), Giovanna d’Arco (1845) und Attila (1846) – blendet Berio im Vorspiel dreimal zweitaktige Akkordpassagen geteilter Violinen in hoher Lage ein, die beim ersten und dritten Mal Verdis La traviata (uraufgeführt 1853) und beim zweiten Mal Wagners Lohengrin (uraufgeführt 1850) anklingen lassen, um auf diese Weise beide Werke in eine historisch-stilistische Parallele zu bringen. Das bereits für Verdis originale romanze mit 14 Takten ungewöhnlich lange Klaviervorspiel wächst dadurch auf zwanzig Takte an. In Nummer 2 Il poveretto (1847) komponierte Berio ein neues Vorspiel zum originalen Klaviervorspiel mit charakteristischen Klängen der neuen Musik des 20. Jahrhunderts. Über einem flirrenden chromatischen Cluster gegeneinander versetzter Quartflageoletts erhebt sich eine stammelnde Flötenmelodie in der Art der Musik von Salvatore Sciarrino, die rhythmisch äußerst variabel und metrisch kaum gebunden ist. Berio nimmt auf diese Weise die in Verdis originalem dreitaktigen Vorspiel in chromatischen Sequenzen abfallende Triolenbegleitung verfremdet vorweg, so dass innerhalb weniger Takte eine Rückleitung von einem charakteristischen Gestus der neuen Musik zu Verdis Stück entsteht. Gegen Ende von Nummer 3 Il mistero verstärkt Berio die metrische Ambivalenz zwischen dem Viertel-Achtel-Rhythmus der Melodiestimme und den durchgehenden Triolen der Begleitung, wie sie auch sonst mehrfach in Verdis romanze vorkommt.

Ins Innere: Salvatore Sciarrino Wie die bisher genannten italienischen Komponisten sieht auch Salvatore Sciarrino (*1947) in Giuseppe Verdi einen seiner „Väter“, von dem er sich beeinflusst weiß und daher stets aufs Neue abzugrenzen sucht: „Ich zum Beispiel töte Mozart und Verdi jeden Tag!“58 Dasselbe hätte Sciarrino von Wagner sagen können. Denn wie dieser schrieb er  – man höre und staune  – einen Lohengrin (1982, rev. 1984). Dieses durch Wagner besetzte Sujet zu wählen,

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mutet geradezu tolldreist an, erklärt sich bei diesem traditionsbewussten Komponisten jedoch möglicherweise durch den Umstand, dass Wagners Lohengrin 1871 als erste Oper des deutschen Musikdramatikers in Italien aufgeführt wurde und bis heute als dessen italienischste Oper gilt. Distanz zum scheinbar übermächtigen Vorgänger schafft Sciarrino in seiner  – so der Untertitel  – ­Azione invisibile per solista, strumenti e voci zunächst einmal mit dem von ihm verfassten Libretto, das sich weniger auf Wagner denn auf eine Erzählung aus Jules Laforgues Moralités Légendaires (1887) stützt. Zudem handelt es sich bei diesem Lohengrin nicht um eine Oper oder ein Musikdrama, sondern um ein dreiviertelstündiges Monodram, bei dem eine einzige solistische Frauenstimme neben der Partie der Elsa auch die des Lohengrin übernimmt. An die Stelle der theatralischen Interaktion mehrerer Bühnenfiguren tritt so eine Azione invisibile, die unsichtbare Handlung eines inneren Monologs, der die bekannte Sage in ungewohnter Weise allein aus dem Blickwinkel der nonnengleichen Jungfrau Elsa erzählt. Diese wird – des außerehelichen Geschlechtsverkehrs angeklagt – von Lohengrin geheiratet, der sich jedoch trotz all ihrer Verführungsversuche weigert, in der Hochzeitsnacht die Ehe zu vollziehen. Als sich daraufhin das weiße Bettlaken in einen Schwan verwandelt, auf dem Lohengrin entschwindet, bleibt Elsa schließlich als das zurück, was sie die ganze Zeit über schon gewesen zu sein scheint: Patientin einer geschlossenen Psychiatrischen Klinik. Im Gegensatz zu Verdis Opern oder der Expressivität des romantischen Monodrams bis zu Schönbergs (inhaltlich verwandter) expressionistischer Erwartung op. 17 (1909) kennt Sciarrinos Musik bei aller Dramatik keine großen Ausbrüche und pathetischen Gesten. Alle seine bisherigen 13 Musiktheaterwerke sind fast durchweg leise und zurückgenommen. Obwohl in den einzelnen Partien durchaus virtuos, werden die Instrumente im vierten Musiktheaterwerk Lohengrin nur kammermusikalisch eingesetzt, um mittels huschender, flüsternder, klagender Töne die einzige Sprech- und Singstimme in entsprechend traumhafte Beleuchtungen und somnambule Atmosphären zu hüllen. Das Ensemble generiert Klänge der Nacht, von Glocken, Hunden, Vögeln, Möwen, Wind und Wellen, von denen nicht auszumachen ist, ob sie real sind oder nur psychotische Halluzinationen. In der Partie der Sängerin/ Schauspielerin lebt dagegen sehr wohl das Ideal des italienischen Belcanto fort, auch wenn dessen sonstige Varianz vom äußersten Piano über mezza voce und Mischungen von Kopf- und Bruststimme bis zum strahlenden Fortissimo gleichsam miniaturisiert erscheint. Bei äußerlicher Reduziertheit ist die Stimme zugleich im Detail umso sprechender und expressiver gestaltet. Die Vokalpartie besteht aus einem extrem virtuosen Parlando, das sich einerseits unmittelbar mitteilt, teils deutliche menschliche Affekte erkennen lässt, teils an Baby- und Tierlaute erinnert und ariose Ausweitungen erfährt. Anderer-

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seits wirkt die Vokalpartie in ihrer artifiziellen Manieriertheit auch kühl und fremdartig. Dank höchst flexibler Rhythmik, Dynamik, Agogik, Intonation, Artikulation und Intervallik wirkt jede Artikulation als semantisch, emotional und körperlich beredte Geste. Hinzu kommen Geräuschanteile der verschiedenen instrumentalen und vokalen Tonerzeugung sowie Momente der Stille, die das Bisherige nachklingen lassen und die Erwartung ahnungsvoll auf Künftiges spannen.59 Die Chuzpe, einen eigenen Lohengrin zu komponieren, überbot Sciarrino später mit Macbeth – Tre atti senza nome (2002) auf ein eigenes, komprimiertes Libretto nach demselben Drama von William Shakespeare, auf das schon Verdi in der Einrichtung durch seinen Librettisten Francesco Maria Piave seine Oper Macbeth (1847) komponiert hatte. Wie Verdi zeichnete gut 150 Jahre später Sciarrino in seinen „drei namenlosen Akten“ ein Doppel­ porträt des über Leichen gehenden schottischen Usurpators samt dessen von Ehrgeiz zerfressener Lady Macbeth. Doch im Gegensatz zur dramatischen Exklamation und orchestralen Wucht von Verdis Oper verlegt Sciarrino – wie in Lohengrin – den Schauplatz von den äußeren Tatorten und Schlachtfeldern ins Innere der Personen, wo sich Phantasien, Visionen, Wahnvorstellungen, Gedanken, Triebe, Lüste, Schmerzen und Gewissensbisse nicht minder erbitterte Kämpfe liefern: „Der Text wird stenogrammartig verkürzt, die Handlung konzentriert sich auf die Vorgänge in der Innenwelt, und einzelne Handlungsmomente werden manchmal sogar ineinandergeschoben, was den von Sciarrino imaginierten Charakter eines wahnhaften, irrealen Geschehens unterstreicht.“60 Doch die angestrebte Verlegung der Gräuel-, Gewalt- und Mordtaten ins Seelenleben des skrupellosen Verbrecherpaars gelingt mit der Verteilung auf insgesamt zwölf Bühnenfiguren, die von fünf Gesangssolisten übernommen werden können, weniger gut als im auf eine einzige Frauenstimme fokussierten Lohengrin, obwohl Sciarrino durch Aufstellung der ­Musiker im Orchestergraben und Hintergrund der Bühne den Theaterraum zu einem psychotischen Klangraum umzuformen versucht. Wenn in der zweiten Szene des zweiten Akts während des Banketts den Königsmörder Macbeth Gewissensbisse heimsuchen, erscheinen unvermutet auch zwei Erin­ nerungsfetzen der Musikgeschichte als zwei Geister oder Untote: die d-Moll-Klangwelt des Komtur aus Mozarts Don Giovanni – schon dort Symbol des schlechten Gewissens – sowie versprengte Fetzen von Arien aus Verdis Un ballo in maschera und Macbeth. Parallel zur auf sich und seine Qualen zurückgeworfenen Hauptfigur Macbeth kommt es so auch zu einer schockhaften Selbstbegegnung von Sciarrinos Oper mit ihrer gleichnamigen Vorgängerin.

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Distanz und Nähe: Dieter Schnebel und Giselher Klebe Im Gegensatz zum relativ ausladenden Wagner-Idyll fasste sich Schnebel bei seinem lediglich 18 Takte umfassenden Verdi-Moment für Orchester (1989) auffallend kurz. Es ist das mit Abstand kürzeste Stück seiner Re-Visionen, das dafür aber den zweiten Teil dieser Werkreihe eröffnet. Der Verlauf dieses „Moments“ lässt sich als musikalisch wie räumlich auskomponierte Verdichtung und Hinleitung beschreiben. Am Anfang steht ein Trommel-Wirbel, den ab Takt 5 ein hinzutretender Becken-Wirbel neu einfärbt. Während diese Grundfolie bis zum Stückende langsam aus dem dreifachen Piano ins dreifache Forte crescendiert, setzen nach und nach verschiedene Instrumente und Orchestergruppen mit versprengten Einzeltönen und Intervallen ein. Diese erscheinen zunächst als völlig anonymes Material, das durch sukzessive Erweiterung der musikalischen Dimensionen jedoch zunehmend an Kontur gewinnt. Der erste Einsatz ist ein crescendierender Liegeton des Kontrafagotts. Aus diesem wird in Takt 2 bereits ein motivischer Zweiklang der Trompeten mit von der Sexte zur Quinte abfallender Seufzersekunde. Beim dritten Einsatz erscheinen Violoncelli, Bratschen und zweite Violinen auf den Zählzeiten eins und eins-und rhythmisch versetzt. Im weiteren Verlauf erfährt das Seufzermotiv der Bläser akkordische Ausweitungen und verlängert sich das NachschlagsMotiv der Streicher zu hoquetusartigen Skalengängen. Als drittes Element kommt schließlich in Takt 9 eine abrupt fff abfallende 16tel-Intervallfolge hinzu, die sich am Ende des Stücks mit dem Hoquetus-Skalengang der Streicher zum Anfangsthema von Verdis Falstaff verdichtet. Der zunehmenden Verdichtung des anfangs total fragmentierten Materials entspricht eine eindeutig gerichtete Bewegungsdramaturgie der Orchestermusiker. Während Pikkoloflöten, Streicher und Schlagzeuger bereits auf dem Podium Platz genommen haben, befinden sich die übrigen Musiker zu Beginn des Stücks noch im Saal hinter dem Publikum. Von dort gehen sie während des Stücks je einen Schritt pro Viertelschlag über die Mittel- und Seitengänge des Saals nach vorne zum Podium, wo sie bis Takt 16 angekommen sein müssen, um in den letzten beiden Takten 17/18 das Verdi-Zitat tutti „Aus aller Kraft“ spielen zu können. Sollten die Musiker für diesen Gang mehr Zeit benötigen, können an vier Stellen Fermaten-Pausen gemacht werden, was den doppelten Effekt hat, dass sich die Spielzeit des Stücks von 40 Sekunden auf bis zu zwei Minuten verlängert und die isolierten Einsätze des Anfangs zwischen den Momenten der Stille nur noch vereinzelter erscheinen. Dagegen dürfen nach Takt 11 keine weiteren Fermaten-Pausen mehr gemacht werden, weshalb sich das Geschehen dann ab hier umso rascher zum Kulminationsund Endpunkt des Stücks verdichtet. Verdis fulminanter Opernbeginn wird so einerseits zum Ziel- und Schlusspunkt von Schnebels Verdi-Moment und gibt

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Notenbeispiel 12: Dieter Schnebel, Verdi-Moment für Orchester (1989), aus: Re-Visionen II für verschiedene Ensembles, Mainz 1989 (Schott), T. 14–18.

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andererseits zugleich den ebenso fulminanten Auftakt zu den nachfolgenden „Momenten“ zu Mahler, Mozart, Schumann und Janáček. Versuchte Schnebel die Musik Verdis zu aktualisieren, indem er aus total dissoziiertem Klangmaterial wie aus historischer Ferne zu ihr hinleitete, benutzte dagegen Giselher Klebe (1925–2009) Zitate aus Verdi-Opern weitgehend distanzlos als vermeintlich nach wie vor aktuelle Ausdrucksmittel. Klebe hatte bei Josef Rufer und Boris Blacher in Berlin studiert und seit 1957 selber Komposition an der Nordwestdeutschen Musikakademie in Detmold unterrichtet, wo unter anderem Theo Brandmüller, Peter Michael Braun, Martin Christoph Redel und Matthias Pintscher zu seinen Schülern gehörten. Klebe komponierte allein sieben Symphonien, 15 Solokonzerte und 14 Opern, für die er regelmäßig mit seiner Frau Lore Klebe als Librettistin zusammenarbeitete. Andere Werke stellte er bewusst in teils barocke, teils klassisch-romantische Form-, Besetzungs- und Gattungstraditionen wie Oratorium, Klavierlied, Lamento, Capriccio, Sonate oder Fantasie. Seit seiner ersten Oper Die Räuber (1957) nach Friedrich Schiller entstanden weitere Literaturopern nach Theaterstücken und Erzählungen bedeutender Schriftsteller wie Franz Werfel, Carl Zuckmayer und Nikolai Gogol. Im Laufe seines etwa 150 Werke umfassenden Schaffens vollzog Klebe eine bemerkenswerte Wandlung vom Wagnerianer zum Verdianer. Gemäß seiner eigenen Auskunft sah er sein appollinisch nach Helligkeit, Klarheit und Proportioniertheit strebendes Musikideal am reinsten in den Werken von Mozart und Verdi verwirklicht. Ebenso sahen andere sein Opernschaffen „in tiefer innerer geistiger und struktureller Verbindung zur italienischen Oper Verdischer Prägung.“61 Anhaltspunkte dafür geben Klebes Verwendung des Modells der Nummernoper mit klarem Primat der Gesangsstimmen, während sich der auf Textverständlichkeit zielende syllabische Deklamationsstil der Vokalpartien sowie der Einsatz durchkomponierter Passagen und der Leitmotivtechnik eher Wagners Musikdramen verdanken. In ähnlicher Weise bezogen sich – zuweilen über den Umweg der Opern von Richard Strauss und Alban Berg – auf das von Verdi exemplarisch formulierte Modell der Nummern- und Literaturoper auch Wolfgang Fortner (1907–1987), Heinrich Sutermeister (1910–1995), Aribert Reimann (*1936) und Manfred Trojahn (*1949).62 Letzterer begreift Oper ausdrücklich „in konsequenter Fortsetzung der (italienischen) Oper des 19. Jahrhunderts und des Musiktheaters insbesondere von Richard Strauss als textbasiertes szenisches Ereignis, das einer logisch sich aufbauenden, erzählbaren Fabel bedarf und auf den Primat der Figur bzw. des Charakters und damit auf die menschliche Stimme baut.“63 Im Programmheft zum Parsifal der Bayreuther Festspiele 1982 gestand Klebe: „Seit Jahren ist mir das Werk Richard Wagners immer ferner gerückt. Meine einstige Begeisterung und Liebe hat sich in eine distanzierte Bewunde-

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rung gewandelt. [...] Allein in der Musik sind die von Richard Wagner gewiesenen Wege groß und unübersehbar. Doch der Geist, der hinter all seinen Werken steht, ist mir fremd geworden. Die Vorstellung einer Welt des musikalischen Dramas ist für mich nicht mehr mit dem Werk Richard Wagners verbunden.“64 Wie andere vor ihm sah Klebe in Verdi eine Alternative. Mit den Worten „Rendo omaggio a Giuseppe Verdi, l’astro della vita mia“ widmete der 74-Jährige dem neuen „Stern seines Lebens“ sein Poema drammatico – Konzert für zwei Klaviere und großes Orchester mit Zitaten aus Opern von Giuseppe Verdi op. 130 (1999). Obwohl eine reine Instrumentalkomposition schafft Klebe gleich zu Beginn eine imaginäre musikdramatische Szenerie. Die Pauke schlägt mehr als dreißig Takte lang eindringlich ein obligates Es, zu dem einzelne Instrumente und beide Soloklaviere mit scharf gegenpunktierten Signalmotiven der Moll-Terz c-es einsetzen. Erst rückwirkend wird sich herausstellen, dass es sich bei diesen synkopischen Einwürfen um Vorwegnahmen des synkopisch wiederholten Anfangsakkords von Verdis Otello handelt. Während die Klaviereinsätze immer extensiver zu virtuosen Oktavgängen werden, bricht das Orchester aus dieser fortwährend pochenden, aber zurückgehaltenen Spannung schließlich unvermutet „Allegro agitato“ (Takt 43) mit dem Beginn dieser vorletzten Oper Verdis heraus, wie dort mit einem auffahrenden und dann synkopisch wiederholten g-Moll-Septakkord über dem zum Kleincluster c-cis-d erweiterten Orgelpunkt C. Als Ausdruck der von Eifersucht zerquälten Hauptfigur seiner Oper bewegt sich Verdi hier 1887 an der Grenze der Tonalität. Im Verlauf des Poema drammatico zitiert Klebe weitere Stellen aus VerdiOpern: In den Takten 111f. ist es ein Bassgang aus dem Finale des ersten Akts Simon Boccanegra, der anschließend melodisch und rhythmisch variiert wird; in den Takten 130ff. ist es die Anfangsmelodie von Macbeth; in den Takten 195ff. verdichten sich synkopierte Paukenschläge zum markanten Marschgestus des „Miserere“ aus Il trovatore mit der Melodiestimme in der Solo­ posaune; vorbereitet durch die Soloklaviere fällt in den Takten 258ff. das Tutti „tutta forza“ mit dem Orchesterfinale des ersten Akts Simon Boccanegra ein; und in Takt 333 setzt schließlich das Englischhorn mit dem Solo vom Beginn des vierten Akts Otello ein, womit sich der Kreis des Eifersuchtsdramas in der Kammer der Desdemona schließt. Dank all dieser Ausdruckscharaktere Verdis schafft Klebe selbst mit rein instrumentalen Mitteln so etwas wie ein „Dramatisches Gedicht“. Zusammenhang stiften dabei sowohl die meist parallel geführten Soloklaviere – die sich auch in zwei Kadenzen ausbreiten  – als auch die mehrmals wiederkehrenden Es-Pulsationen der Pauke sowie die sukzessive Auflösung aller Verdi-Zitate zu anonymem Tonmaterial mit anschließend einsetzender Windmaschine: Verdi vom Winde verweht.

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Anmerkungen   1 Eckhard Henscheid/Chlodwig Poth, ... über Oper. Verdi ist der Mozart Wagners – Ein Opernführer für Versierte und Versehrte, Luzern/Frankfurt am Main 1979.   2 Italienische Wagnerianer wie Arrigo Boito und Anhänger des Verismo warfen Verdi regelrecht Traditionalismus vor, während Neoklassizisten wie Fausto Torrefranca und Alfredo Casella sich in bewusster Abgrenzung von Verdi und dem 19. Jahrhundert eine musikalische Erneuerung von der italienischen Instrumentalmusik des 17. und 18. Jahrhunderts versprachen.   3 „Die antiwagnersche Bewegung war das erste Ressentimentphänomen großen Stils gegen die moderne Kunst in Deutschland.“ Theodor W. Adorno, Wagners Aktualität (1965), in: Ders., Musikalische Schriften III (Gesammelte Schriften Bd. 16), hrsg. von Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt am Main 2003, S. 547.   4 Hans-Joachim Wagner, Paradigmen der Verdi-Rezeption, in: Verdi Handbuch, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Kassel/Stuttgart 2001, S. 531.   5 Fiamma Nicolodi verglich das Wort-Ton-Verhältnis der damaligen Opern von Hindemith, Krenek und Milhaud ausdrücklich mit Verdis La traviata und Il trovatore. Fiamma Nicolodi, Musica e musicisti nel ventennio fascista, Fiesole 1984, S. 255.   6 Vgl. Giselher Schubert, Kompositorische Wagner-Rezeption im 20. Jahrhundert, in: Wagner-Handbuch, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel/Stuttgart 2012, S. 479–492. Die dort besprochenen Kompositionen reichen allerdings nur bis Hans Werner Henzes Klavierkonzert Tristan (1973).   7 Schon Siegfried Mauser stellte fest, dass das Thema letztlich nur innerhalb eines umfangreicheren Forschungsprojekts verhandelt werden könne. Vgl. Siegfried Mauser, Wagner und die Neue Musik, in: wagnerspectrum, 6. Jg. 2000, Heft 2, S. 16. Im selben Band äußerten sich unter dem Titel Mein Verhältnis zu Wagner auch die zeitgenössischen Komponisten Pascal Dusapin, Moritz Eggert, Christóbal Halffter, Peter Michael Hamel, Jonathan Harvey, Helmut Lachenmann, Siegfried Matthus, Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn und Hans Zender. Ebd., S. 241–256.  8 Im Sinne solcher Rückwirkung der neuen Musik auf eine veränderte Sicht Wagners schrieb Paul Bekker im Vorwort seiner Wagner-Monographie: „Die Entstehung dieses Buches verdanke ich der heutigen zeitgenössischen Musik.“ Paul Bekker, Wagner. Das Leben im Werke, Stuttgart u.a. 1924, S. IX.   9 Neben dem Musiktheater finden sich Aus- und Nachwirkungen der Idee des Gesamtkunstwerks auch in Film, Theater, Bildender Kunst und Happening. Vgl. den Sammelband Unsere Wagner. Joseph Beuys, Heiner Müller, Karlheinz Stockhausen, Hans-Jürgen Syberberg, hrsg. von Gebriele Förg, Frankfurt am Main 1984. Der Name Wagners wird hier im Titel Unsere Wagner gleichsam mit einer eigenen ­Kategorie unbedingter, höchster ästhetischer Ansprüche gleichgesetzt. Vgl. ferner Johanna Dombois/Richard Klein, Richard Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis des Musiktheaters, Stuttgart 2012, darin vor allem das Kapitel von Dombois, Wagner und die Neuen Medien – Zehn Thesen, S. 424–447. 10 Vgl. Schubert, Kompositorische Wagner-Rezeption, a.a.O., S. 490. 11 Richard Wagner, An die geehrten Vorstände der Richard Wagner-Vereine (1877), in: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe Bd. 10, Leipzig o.J. , S. 13ff.

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12 Claus-Steffen Mahnkopf (Hrsg.): Richard Wagner  – Konstrukteur der Moderne (Musik und Ästhetik Sonderband), Stuttgart 1999. 13 Nach der Katastrophe von Nazismus, Shoa und Weltkrieg war es bezeichnenderweise der 1938 von den Nazis – nicht zuletzt weil sich Hitler und Goebbels über die Frivolität von Neues vom Tage echauffiert hatten – ins Exil vertriebene Hindemith, der zum Zweck demonstrativer Distanzierung von der Wagner-Rezeption des Dritten Reichs Beethovens 9. Symphonie zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele 1953 dirigierte. Vgl. Schubert, Kompositorische Wagner-Rezeption, a.a.O., S. 490. 14 Ernst Bloch, Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage (1929), in: ders., Erbschaft dieser Zeit (1935) (Gesamtausgabe Bd. 4), Frankfurt am Main 1985, S. 379. 15 Ebd., S. 379. 16 Vgl. Susanne Vill, „Ring“-Modulationen – Wagners „Ring des Nibelungen“ in transmedialen Transformationen, in: wagnerspectrum, 6. Jg. 2000, Heft 2, S. 143–183. 17 Im Programmbuch zur Bayreuther Inszenierung des Parsifal durch Götz Friedrich unter Leitung von James Levine 1982 – 100 Jahre nach der Uraufführung des Werks – äußerten sich zahlreiche zeitgenössische Komponisten über Parsifal, darunter Günther Bialas, Sylvano Bussotti, Werner Egk, Gottfried von Einem, ­Michael Finnessy, Christóbal Halffter, Peter Michael Hamel, Mauricio Kagel, Volker David Kirchner, Giselher Klebe, Ernst Krenek, Witolt Lutosławski, Siegfried Matthus, Wolfgang Rihm, Josef Tal und Udo Zimmermann. 18 Gerhard J. Winkler, Wagners Wiederkehr, in: Entgrenzungen in der Musik (Studien zur Wertungsforschung Bd. 18), hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien 1978, S. 155. 19 Hans Werner Henze, Tradition und Kulturerbe: Aus einem Gespräch mit Klaus Geitel (1966), in: Ders., Musik und Politik: Schriften und Gespräche 1955–1984, hrsg. von Jens Brockmeier, erweiterte Neuausgabe, München 1984, S. 116. 20 Ebd., S. 115. 21 Hans Werner Henze, Tristan (1975), in: Ders., Musik und Politik, a.a.O., S. 231. Vgl. auch die Monographie von Marion Fürst, Hans Werner Henzes „Tristan“. Eine Werkmonographie, Neckargmünd 2000. 22 Henze, Tristan, a.a.O., S. 231. 23 Hans Werner Henze, Tristan, Partitur, Mainz 1973 (Schott), S. 154. 24 Henze, Tristan (1975), a.a.O., S. 232f. Aus denselben Gründen ließ Henze – eigener Auskunft zufolge – den Schluss des vierten Satzes „Tristan’s Folly“ (Tristans Wahnsinn) „in einen schrecklichen Schrei des ganzen Orchesters münden“. Vgl. Hans Werner Henze, Reiselieder mit Böhmischen Quinten: Autobiographische Mitteilungen 1926–1995, Frankfurt am Main 1996, S. 398. 25 Vgl. Arnold Jacobshagen, Vergangenheit am Schlachtensee  – Hans Werner Henze zwischen Oper und „imaginärem Theater“, in: Frieder Reininghaus/Katja Schneider (Hrsg.), Experimentelles Musik- und Tanztheater (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert Bd. 7), Laaber 2004, S. 138. 26 Hans Werner Henze, zit. nach schott aktuell – the journal, Heft 1 Januar/Februar 2012, Mainz 2012, S. 10. 27 Hans Werner Henze, zit. nach schott aktuell – the journal, Heft 3 Mai/Juni 2013, Mainz 2013, S. 24.

Tabu und Faszinosum  |

28 „Genie in einem Werk ist das noch Weiterarbeitende in ihm, das uns weiter Betreffende, der Beitrag einer Zeit zur Zukunft und dem noch ungewordenen Überhaupt.“ Bloch, Rettung Wagners, a.a.O., S. 378. 29 Dieter Schnebel, Dynamik in der Neuen Musik seit Schönberg, in: ders., Denkbare Musik. Schriften 1952–72, hrsg. von Hans Rudolf Zeller, Köln 1972, S. 32. 30 Auch als Musikwissenschaftler hat sich Schnebel mehrfach theoretisch mit der Aktualität der „Klassiker“ befasst, insbesondere in Essays zu Beethoven, Schubert, Schumann, Mahler, Debussy und Wagner. Siehe vor allem Dieter Schnebel, Aktualität Wagners (1971), in: ders., Denkbare Musik. Schriften 1952–1972, hrsg. von Hans Rudolf Zeller, Köln 1972, S. 85–101. 31 Dieter Schnebel, Vorbemerkungen zu Wagner-Idyll, Mainz 1980 (Schott), Partitur, o. S. 32 Ebd. 33 Valentin Silvestrov, Zwei Dialoge mit Nachwort für Streichorchester und Klavier (2001/02), Frankfurt am Main 2003, S. 6. 34 Vgl. hierzu Rainer Nonnenmann, Artikel Höller, York, in: Komponisten der Gegenwart, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer, 30. Nachlieferung, München 2005, S. 15f. 35 York Höller, Werkkommentar zu Mythos, in: Ders., Klanggestalt – Zeitgestalt: Texte und Kommentare 1964–2003, hrsg. von Reinhold Dusella, Berlin 2004, S. 205. 36 Ebd., S. 206. 37 Ebd. 38 Vgl. Rainer Nonnenmann, Sich in Musik finden: Ein Porträt des Komponisten Markus Hechtle, in: MusikTexte 134, Köln August 2012, S. 45ff. 39 Stephanie Schwarz, „Zum Raum wird hier die Zeit“: Georg Nussbaumers WagnerInstallationen, in: NZfM, 174. Jg. 2012, Heft 1, S. 24. 40 parsifalsurvivaltrail – Eine Operninstallation, Katalog zur Ausstellung im O.K. – Centrum für Gegenwartskunst vom 15. März bis 15. April 2002 (Schriftenreihe des O.K. Bd. 44), hrsg. von Martin Sturm, Linz 2002. 41 Georg Nussbaumer, zit. nach http://oe1.orf.at/artikel/219696, abgerufen am 24. April 2013. 42 Liza Lim, Patterns of Ecstasy, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik Bd. 21, hrsg. von Michael Rebhahn und Thomas Schäfer, Mainz 2012, S. 27. 43 Vgl. Gundula Kreuzer, Nationalheld, Bauer, Genie: Aspekte der deutschen „VerdiRenaissance“, in: Verdi und seine Zeit, hrsg. von Markus Engelhardt, Laaber 2001 (Laber), S. 339–349. In ähnlicher Zuspitzung formulierte später Eckhard Henscheid unter Zuhilfenahme des „Götterlieblings“ Amadeus ebenso pointiert wie absurd: „Verdi ist der Mozart Wagners“. Henscheid/Poth, ... über Oper, a.a.O. 44 Wagner, Paradigmen der Verdi-Rezeption, a.a.O., S. 538. 45 Jürg Stenzl, Von Giacomo Puccini zu Luigi Nono. Italienische Musik 1922–1952. Faschismus – Resistenza – Republik, Buren 1990, S. 80f. 46 Vgl. Dietrich Kämper, Gefangenschaft und Freiheit. Leben und Werk des Komponisten Luigi Dallapiccola, Köln 1984. 47 Vgl. Wagner, Paradigmen der Verdi-Rezeption, a.a.O., S. 535. 48 Luigi Nono, Der Musiker in der Fabrik (1967), in: ders., Texte. Studien zu seiner Musik, hrsg. von Jürg Stenzl, Zürich 1975, S. 104. Auch bei anderen Gelegenheiten verwies Nono auf den Zusammenhang zwischen „der zivilen Passion des Risorgimento und Verdi“. Vgl. Nono, Texte, a.a.O., S. 187. Indes nannte er zur selben Zeit

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(1962) auf die Frage, welche Musiker ihn am meisten beeinflusst hätten, „Wagner“. Vgl. Nono, Tex­te, a.a.O., S. 180. 49 Vgl. Nono, Texte, a.a.O., S. 174. 50 Vergleiche hierzu den entsprechenden Beitrag im vorliegenden Band. 51 Nono, Texte, a.a.O., S. 190. 52 Luigi Nono, Werkkommentar zu Canti di vita e d’amore – Sul Ponte di Hiroshima (1962), in: ders., Texte. a.a.O., S. 128. 53 Carla Henius, Arbeitsnotizen und Berichte von zwei Vokalwerken Luigi Nonos: „Intolleranza“ und „La fabbrica illuminata“, in: Nono, Texte, a.a.O., S. 330. Und wie Nono selbst mehrfach die Verbindung Verdis mit dem Risorgimento als Beispiel für einen in gesellschaftliche Prozesse aktiv eingreifenden Komponisten nennt, unterstreicht die Sängerin im Zusammenhang mit Nonos Mitgliedschaft in der PCI: „Verdi war doch auch kein realitätsferner Nur-Musiker. Eine auffällige Temperamentsverwandtschaft mit Nono.“ Ebd., S. 334. 54 Vgl. Incontri – Luigi Nono im Gespräch mit Enzo Restagno Berlin, März 1987, hrsg. von Matteo Nanni und Rainer Schmusch, Hofheim 2004, Fußnote 1.11, S. 121. 55 In ähnlicher Weise nutzte Friedrich Goldmann (1941–2009) in R. Hot bzw. Die Hitze – Opernphantasie in über hundert Posen auf ein Libretto von Thomas Körner nach „Der Engländer“ von Jakob Michael Reinhold Lenz (1972–74) „für die Figurenkonstellation wie die vokale Haltung der Figuren Verdis La traviata als Ausgangspunkt“. Wagner, Paradigmen der Verdi-Rezeption, a.a.O., S. 540. 56 Luciano Berio, Werkkommentar zu 8 romanze per tenore e orchestra (1991), http:// www.universaledition.com/Luciano-Berio/composers-and-works/composer/54/ work/945/work_introduction, abgerufen am 7. Juni 2013. 57 Ebd. 58 „Wer hat das geschrieben? Ich?“ – Salvatore Sciarrino im Gespräch mit dem Bariton Otto Katzameier, in: Beiheft zur CD Salvatore Sciarrino, Macbeth, Mitschnitt der Salzburger Festspiele 2011, CD 2012 (col legno WWE 20404), S. 12. 59 Eine Wiederaufführung durch die Sopranistin Lía Ferenese und das ensemble recherche fand Sciarrinos Lohengrin aus gegebenem Anlass beim Kunstfest Weimar „Pèlerinages“ 2013. 60 Max Nyffeler, Der Geruch von Blut – Salvatore Sciarrinos „Macbeth“, in: Programmbuch „Der Fünfte Kontinent“, Salzburger Festspiele 2011 und http://www.beckmesser.de/komponisten/sciarrino/macbeth.html, abgerufen am 12. Juni 2013, o.S. 61 Brigitte Schäfer, Giselher Klebe zum 80. Geburtstag (2005), in: http://www.matthieskoehn.de/german/html/klebe.html, abgerufen am 12. Juni 2013. 62 Hans-Joachim Wagner, Paradigmen der Verdi-Rezeption, a.a.O., S. 537. 63 Hans-Joachim Wagner, Grundblatt Manfred Trojahn, in: Komponisten der Gegenwart, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer, München, 35. Nachlieferung 11/2007, S. 2. 64 Programmheft der Bayreuther Festspiele 1982, Parsifal, hrsg. von Wolfgang Wagner, S. 61.

Jürgen Maehder

Wagner-Forschung versus Verdi-Forschung Anmerkungen zum unterschiedlichen Entwicklungsstand zweier musikwissenschaftlicher Teildisziplinen alla memoria di Julian Budden e Pierluigi Petrobelli

Die Formulierung „Wagner und Verdi“, die in nicht wenigen Veranstaltungen des doppelten Gedenkjahres 2013 anzutreffen war, mag vielen Lesern als harmlose Aufzählung erscheinen, sie entwickelt jedoch ihre volle Tücke erst bei näherer Betrachtung. Diese lässt erst auf den zweiten Blick erkennen, dass diese beiden Forschungsrichtungen, die Wagner-Forschung und die Verdi-Forschung, obwohl im Kontext der Opernforschung des 19. Jahrhunderts miteinander verbunden und sozu­sagen verschwistert, nicht nur ihrem Umfang nach kaum miteinander zu vergleichen sind, sondern auch über durchaus unter­schiedliche historische Wurzeln ver­fügen. Während die Entstehungsprozesse von Wagners frühesten romantischen Opern etwa gleichzeitig mit den Anfängen einer historischen Musikgeschichts­schreibung in Deutschland abliefen, existierte südlich der Alpen noch keine wie auch immer geartete Tradition wissenschaftlicher Auseinander­setzung mit der Musik der Vergangenheit. Man kann in diesem Zusammenhang an den Satz erinnern, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Abenddämmerung beginnt; das italienische Musik­theater des 19. Jahrhunderts florierte in der Praxis eines Produktionssystems, das die gesamte zivilisierte Welt umspannte1 – ganz im Gegensatz zu der von wenigen deutschen Intellektuellen propagierten Vision einer erst zu schaffenden deutschen Nationaloper,2 und ganz im Gegensatz auch zu der – aus der Biographie E.T.A. Hoffmanns wie Richard Wagners bekannten – traurigen Realität des musikalischen Lebens in den Stadttheatern der deutschen Provinz.3 Wenn wir nun noch bedenken, dass die Sekundärliteratur über Wagner ihrem Umfang nach nur noch mit derjenigen über Jesus, Napoleon und eventuell Shakespeare vergleichbar ist, während eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk Verdis erst vergleichs­weise spät einsetzte, dann beginnen wir die Komplikationen zu erahnen, die sich einer Behandlung dieses Themas im Rahmen dieses Beitrags entgegenstellen. Obwohl die Idee reizvoll gewesen wäre, einzelne Themenkreise herauszugreifen und ihrer Anwendung auf diese beiden Komponisten nachzugehen, erweist sich bei näherer Betrachtung ein solcher Ansatz als wenig gangbar. Richard Wagner stellte in seinem nach den Zürcher

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Kunstschriften entstandenen Werk das Operntheater seiner Zeit insgesamt in Frage; die in den letzten Jahrzehnten um sich greifende Proliferation von so­genannten „Festspielen“ auch in den „abgelegensten Nestern“ (Hugo von Hofmanns­thal4) lässt heute leicht vergessen, dass die Idee des Festspieles selbst Wagners ureigenste Erfindung war.5 Eine kompetente Erforschung seines Œuvres beschränkt sich also nicht nur auf den Bereich der im engeren Sinne musikalischen Wissenschaft, sondern umfasst auch derart heterogene Disziplinen wie die Geschichte der Theater­architektur und der Bühnentechnik, die Geschichte des deutschen Opernlibrettos und der nordischen Stabreimdichtung, die Geschichte von Ästhetik und Kunst­philosophie, die Organologie wie die Instrumentationsgeschichte, um Wagners Inno­vationen im Bereich des Instrumen­ tenbaues und der Orchester­behandlung würdigen zu können – ganz zu schweigen von der Bedeutung einer im Laufe der beiden vergan­genen Jahr­hunderte ausufernden Biographik, die von dem Meister der Selbst­darstellung sicher nicht nur mit Spott bedacht worden wäre.6 Auf der anderen Seite begegnet in Verdi ein Künstler, der sich nicht nur Zeit seines Lebens theoretischer Äußerungen enthielt, sondern auch jedes öffentliche Interesse an der eigenen Biographie als Künstler verabscheute; ein Komponist, der die altbewährten Genres des italienischen Operntheaters niemals in Frage stellte, sondern der mit seinen Bühnenwerken über Jahrzehnte derart erfolgreich war, dass er die Gattung der italienischen Oper von innen heraus zu verwandeln vermochte. Nicht verschwiegen werden sollte freilich bei dieser Gegenüberstellung, dass beide Komponisten mit außerordentlicher Willenskraft gesegnet waren, wenn es darum ging, eine werkgerechte Aufführung ihrer Partituren durchzusetzen;7 Verdis lebenslange Abneigung gegen stückweise Aufführungen und gegen Bearbeitungen seiner Werke sollte wesentlich dazu beitragen, dass sich auch im italienischen Sprachraum der Werkcharakter der Opern­partituren verfestigte.8 Das Produktionssystem der italienischen Oper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, über dessen ökonomische Implikationen wir dank der Forschungen John Rossellis gut unterrichtet sind,9 maß der Partitur einer Oper nicht denselben Stellenwert zu, wie ihn die europäische Musikwissenschaft unter dem Vorbild der symphonischen Tradition der Wiener Klassik auch in Italien zu finden wünschte. Es kann daher nicht überraschen, dass die Arbeiten an einer Verdi-Gesamtausgabe sehr spät begonnen wurden, und dass es nicht primär italienische Wissenschaftler waren, die sich mit dieser Aufgabe befassten. Überdies stellte die Partitur aus Gründen des Urheberrechts im Geltungsbereich der italienischen Oper nicht die primäre Publika­tions­form dar; wenn es der staatlichen Autorität mangels Präsenz – oder mangels eines definierten Urheberrechts, das sich in Italien unter dem Modell Frankreichs erst allmählich durchzusetzen vermochte10 – nicht möglich war, die legitimen Ansprüche der Komponisten durch-

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zusetzen, dann wehrten sich die Komponisten durch den Trick, der musikalischen Öffentlichkeit die volle musikalische Information der Partitur vorzuenthalten. Da sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Publikationsform des Klavierauszugs durchgesetzt hatte – zuerst in Form eines nach Nummern aufgeteilten Konvoluts einzelner Szene und Arien, erst später in Form ganzer Opern –, bedeutete diese Publikationsform nicht nur ein Vehikel für die Einstudierung einer Oper in der Konstellation von Sänger und Korrepetitor, sondern bewahrte auch den Komponisten vor allen Versuchen, die Oper ohne angemessene Tantiemenzahlung zur Aufführung zu bringen. Der folgende Blick auf die aktuelle Verdi-Forschung muss notwendigerweise kursorisch bleiben; trotzdem erscheint es an dieser Stelle unumgänglich, einige Verdi-spezifische Faktoren zu benennen, die die Erforschung seines Œuvres in den etwa 100 Jahren zwischen dem Tode des Komponisten und dem Beginn unseres Jahrhunderts wesentlich behindert haben. Die betrübliche Tatsache, dass nicht nur die Publika­tionsgeschichte der Primärquellen zu beinahe allen VerdiOpern bisher wesentliche Lücken aufweist, sondern dass die Erschließung dieser Quellen in den vergangenen Jahrzehnten mit Hürden verbunden war, die jeden wohlmeinenden Forscher davon hätten abhalten müssen, sich mit diesem Komponisten weiter zu beschäftigen, beruhte auf der un­seligen Konstellation zwischen einem Verlag mit Verdi-Monopol und einer Familie, die das autographe Material in ihrem Besitz gleichsam als Privatvermögen betrachtete.11 Vor allem im Vergleich zu den zügigen Partiturpublikationen von Wagners Spätwerk muss die Tatsache überraschen, dass vor der Otello-Partitur von 1887 nur eine einzige Verdi-Partitur erschienen war; die Publikation der Partiturausgabe von La traviata, die ihre Aufteilung in einzelne Nummern aus dem Klavierauszug übernahm, wurde von Robert Didion etwa auf das Jahr 1860 datiert.12 Erst 1893, nach der Urauf­führung von Falstaff, begann der Ricordi-Verlag, ausgewählte Opern Verdis in Partitur zu publizieren. Sowohl für Verdi selbst als auch für Verdis Verleger und Freund Giulio Ricordi bildete Falstaff offensichtlich den Schlussstein im Werk des Komponisten; offenbar sollte Verdis kompositorisches Vermächtnis noch zu Lebzeiten des Komponisten dokumen­tiert werden. Zwischen 1892 und 1896 publizierte der Ricordi-Verlag daher sieben Partituren im Folio-Format als Lithographien: Ernani, Falstaff, Aida, Rigoletto, La forza del destino, Un ballo in maschera sowie Les Vêpres siciliennes. Erst nach Verdis Tod wurde eine Serie von Studienpartituren in Angriff genommen, die von 1912 bis 1915 als gestochene Partituren erschienen. Diesmal wurden acht Partituren verlegt: Falstaff, Aida, Otello, Il trovatore, La traviata, Un ballo in maschera, Rigoletto und das Requiem. Zwanzig Jahre nach den großen Dirigierpartituren erschienen also zum ersten Male Studien­partituren in kleinerem Format; diese dunkelgrün gebundenen Partituren waren nicht primär für Aufführungen bestimmt, sondern bewusst als Kaufausgabe konzipiert. In denselben Jahren also, in denen unter der

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Federführung Michael Ballings die erste, Fragment gebliebene kritische Gesamtausgabe der Werke Wagners begonnen wurde (Leipzig 1912–1929), war noch nicht einmal die Hälfte von Verdis Opern in Partitur erschienen; es fehlten so bedeutende Werke wie Nabucco, I masnadieri, Luisa Miller, Macbeth, Don Carlos und Simon Boccanegra. Hinzu kommt, dass einer in Italien allgemein üblichen Revisions­praxis durch Musiker entsprechend der Notentext der Dirigierpartituren nicht unver­ändert übernommen wurde, sondern dass dieser Notentext ausgedehnten Revisionen unterzogen wurde, die leider niemals dokumentiert wurden. Die grüne Vorkriegs­ausgabe von Studienpartituren wurde zwischen 1955 und 1959 erneut aufgelegt und bei dieser Gelegenheit ergänzt um die Partituren von La forza del destino und Simon Boccanegra. Alle Partituren tragen den Vermerk „Nuova edizione, riveduta e corretta“ auf dem Titelblatt, doch wer hier revidiert hat, was er revidierte und warum, blieb auch dieses Mal ein Geheimnis des Ricordi-Verlags. Zu Beginn der 1970er Jahre war die Situation der Verdi-Ausgaben und Auf­ führungsmaterialien immer unübersichtlicher geworden, da der Ricordi-Verlag als Alleininhaber der Rechte wie der Autographen es versäumt hatte, textkritische Ausgaben vorzulegen – eine Praxis, die für die Komponisten anderer Länder längst zur Selbst­ver­ständlichkeit geworden war. Die Frage, warum auf die italienische Oper des 19. Jahrhunderts nicht die gleiche philologische Sorgfalt verwendet werden solle, wie sie für die Musik der Generalbasszeit wie für die Werke der Wiener Klassik und die symphonische Musik des 19. Jahrhunderts längst praktiziert wurde, führte schließlich zu einer Forderung nach kritischen Ausgaben, die vom Ricordi-Verlag nicht länger ignoriert werden konnte. Der erste Schritt in diese Richtung galt demjenigen Werk, dessen Vernach­ lässigung bei den bisherigen Partiturpublikationen wohl nur mit den philologischen Komplikationen der verschiedenen Fassungen erklärt werden kann. 1974 erschien die „edizione integrale“ des Don Carlos, herausgegeben von Ursula Günther und Luciano Petazzoni. In den Handel kam nur der Klavierauszug, Partitur und Orchestermaterial lagen allein als Leihmaterial vor. Für die Verdi-Philologie bildet Don Carlos die wohl schwierigste aller Opern Verdis; divergierende Fassungen in der französischen Originalsprache wie der italienischen Übersetzung, welche nicht alle genau definiert werden können, belegen die Auseinandersetzung des Komponisten mit seinem Werk über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Ursula Günther und Luciano Petazzoni legten die Gesamtheit der überlieferten Musik des Don Carlos in einer einzigen Ausgabe vor. Unterschiedliche Fassungen und Varianten innerhalb dieser Fassungen wurden im Ablauf des Stückes als fortlaufender Notentext wiedergegeben; die Varianten folgen aufeinander in der chronologischen Folge ihres Entstehens.13 Keine ernsthafte Ausein­ ander­setzung mit Verdis Don Carlos war fortan möglich, ohne die Ausgabe von Günther/Petazzoni zu konsultieren, doch bildete diese Publikation mitnichten

Wagner-Forschung versus Verdi-Forschung  |

den Beginn der von allen Seiten erwarteten kritischen Gesamtausgabe aller Verdi-Opern. Diese folgte schließlich als gemeinsame Unternehmung der Chicago University Press und des Ricordi-Verlags unter Federführung des Rossini-Forschers Philip Gossett; seit dem Beginn im Jahre 1983 mit der Partitur von Rigoletto sind bislang zwölf Opern und das Requiem in kritischen Ausgaben erschienen, dazu je ein Band mit kleineren geistlichen Werken und ein Band Kammermusik. Wie jede Gesamtausgabe bildet auch die Verdi-Ausgabe ein Projekt für mehrere Forschergenerationen; ja, es sollte daran erinnert werden, dass, als sich vor einigen Jahren alle Herausgeber der kritischen Berlioz-Gesamtausgabe in einem Pariser Restaurant trafen, um den erfolgreichen Abschluss ihrer Ausgabe zu feiern, das wahrscheinlich erste Herausgebertreffen einer musikwissenschaftlichen Gesamtausgabe stattfand, bei dem alle Beteiligten noch unter den Lebenden weilten. Forschung – nicht nur die musikwissenschaftliche! – wird von Individuen betrieben, und ihr Fort­schritt hängt von deren individueller Disposition ursächlich ab. Wenn im Folgenden an die Protagonisten dieser ersten Generation erinnert werden soll, die Verdi-Forschung nach streng wissenschaftlichen Kriterien betrieb, dann bedingt die zeitliche Verschiebung im Stand der Erforschung der Werke Verdis und Wagners, dass der Autor die wesentlichen Exponenten der Verdi-Forschung noch persönlich kennen­lernen durfte, während der Aufschwung einer wissenschaftlichen Erforschung der Werke Wagners nach dem Zweiten Weltkrieg in die Jahre seiner Schulzeit fiel. Julian Budden (1924–2007), „chief producer of opera“ der BBC und Autor der monumentalen Mono­gra­phie The Operas of Verdi, die von 1973 bis 1981 erschien,14 verband eine Karriere in der Administration der britischen Rundfunkgesellschaft mit seinem bedeutendsten Hobby: der Verdi-Forschung. Ausgestattet mit wissenschaftlicher Präzision und künstlerischem Elan, verwendete er die Ressourcen der BBC in kulturell sinn­ voller Weise (im Gegensatz zu vielen Rundfunkanstalten der Gegenwart!), um diejenigen Werke Verdis, die von der gängigen Aufführungs­praxis vernachlässigt worden waren, in Musteraufführungen und in ihrer Original­sprache  – was damals im Vereinigten Königreich keine Selbstverständlichkeit war! – dem gebildeten Publikum wieder verfügbar zu machen. Die französischen Originalfassungen von Les Vêpres siciliennes (1969) und Don Carlos (1973) sowie die Erstfassungen von Simone Boccanegra (1975), La forza del destino (1977) und Macbeth (1978) erklangen daher in London, bevor irgendein italienisches oder deutsches Theater auch nur daran gedacht hätte, sich ihrer anzunehmen.15 Den italienischen Widerpart Julian Buddens bildete Pierluigi Petrobelli (1932–2012), Ordinarius für Musikwissenschaft an der Università La Sapienza in Rom und jahr­zehntelang Direktor des Istituto di Studi Verdiani in Parma; ihm verdankt die Verdi-Forschung nicht nur die Etablierung einer funktionierenden Forschungsinstitution auf italienischem Boden, sondern auch die allmäh-

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liche Professionalisierung mehrerer Generationen von Wissenschaftlern. Sein diplomatisches Geschick, Erbteil einer Jahr­hunderte alten Familientradition, erlaubte ihm, die problematischen Beziehungen zur Familie Carrara-Verdi, die unter seinem Vorgänger beinahe abgebrochen worden waren, in einen für beide Seiten akzeptablen modus vivendi zu überführen. In stetem, aber nicht immer konfliktfreien Gedankenaustausch mit dem American Verdi Institute an der New York University wurde in Parma wie New York eine Datenbank aller VerdiBriefe erstellt, die es allmählich erlaubte, die großen Briefwechsel in mustergültig kommentierten Ausgaben zu publizieren.16 Petrobellis Kollege und Mitstreiter Marcello Conati, nach Jahrzehnten als Korrepetitor am Zürcher Opernhaus Professor für „azione drammatica“ am Konservatorium Parma und Leiter der  – ebenfalls in Parma angesiedelten – europäischen Niederlassung des „Répertoire International de la Presse Musicale“, zeichnete für einige der wichtigsten Editionen verantwortlich und trug wesentlich zum wissenschaftlichen Profil des Instituts in Parma bei.17 Wie ein Blick auf aktuelle Bibliographien des Verdi-Schrifttums lehrt, bildete die Verdi-Forschung spätestens seit den 1970er Jahren ein bevorzugtes Betätigungsfeld der amerikanischen Musikwissenschaft. Von besonderer Bedeutung war die Präsenz herausragender Kollegen in Princeton (Harold S. Powers, 1928– 2007), an der Cornell University (David Rosen und Roger Parker) sowie in späteren Jahrzehnten an der Yale University ( James Hepokoski); einen organisato­ rischen Rückhalt bot das American Verdi Institute an der New York University. Als Philip Gossett (Chicago University), weltweit berühmt als Rossini-Spezialist und Initiator der Rossini-Gesamtausgabe, zusammen mit Julian Budden in den späten 1970er Jahren die Verdi-Gesamtausgabe begründete, ergab sich für eine jüngere Generation amerikanischer Kollegen die Möglichkeit, die Speziali­sierung in italienischer Oper des Ottocento mit der Herausgabe eines Bandes der VerdiGesamtausgabe zu verbinden. Freilich sollte angesichts der Dominanz amerikanischer Publikationen in der Verdi-Forschung der letzten Jahrzehnte auch nicht verschwiegen werden, dass einige systemtypische Fehlentwicklungen die Forschungsliteratur tangierten, von denen zwar die Publikationen der prominenten Forscher, nicht aber die Beiträge ihrer Epigonen verschont blieben: die Konzen­ tration auf einen dominierenden Komponisten ohne ausreichende Kenntnis des musikalischen wie kulturellen Umfelds, mangelnde Kenntnisse der Sprachen der europäischen Opern­kultur sowie eine übermäßige Empfänglichkeit für die jüng­ sten intellektuellen Moden und kollektiven Wahnvorstellungen.18 Die Entwicklung einer „neuen Opernforschung“, die sich seit etwa 1980 dank einer internationalen Kollaboration zwischen Forschern aus Deutschland, den USA, Italien und England vollzog, hat die Methodologie der Beschäftigung mit Partituren der Operngeschichte wesentlich verändert; aufgrund der Verwurzelung von Verdis Opern­theater in der Geschichte des italienischen Melo-

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dramma mussten die Auswirkungen der „neuen Opernforschung“ auf die VerdiForschung grundlegender ausfallen als die entsprechenden Konsequenzen für die Wagner-Forschung. Während das Endziel einer historisch-kritischen Ausgabe der Partituren unverändert Gültigkeit behalten sollte,19 rückten andere konstitutive Elemente der Oper „als Theater-Werk“ vermehrt in das Blickfeld der Forschung. Zuallererst führte der neue Blick auf die konstitutiven Elemente des musikalischen Theaters zu einer Professionalisierung der Beschäftigung mit dem Opernlibretto als literarischer Kunstform, eine Aufgabe, der die universitäre Italianistik – mit ganz wenigen Ausnahmen20 – beharrlicher ausgewichen war, als die germanistische Forschung dies im Falle Richard Wagners getan hatte. Zu dieser grundlegenden Neubewertung der Rolle des Opernlibrettos traten Studien zur Theater­architektur,21 Theatertechnik22 und Beleuchtungstechnik,23 zur Geschichte des Bühnen­bildes24 und der Kostüme,25 zur Aufzeichnung von Opernregie26 und deren Kodifi­zierung im Laufe des 19. Jahrhunderts27 sowie zur Rezeptionsgeschichte. Von besonderer Bedeutung für die Erkenntnis der inneren Struktur des italienischen Melodramma bei Verdi, seinen Vorgängern und Zeitgenossen war die Rückbesinnung auf die Kategorie der „solita forma“, wie sie bereits 1859 von Abramo Basevi formuliert worden war.28 Philip Gossett und Harold S. Powers gelang es, die historische Kategorie fruchtbar zu machen für eine Analyse der „Szene und Arien“ sowie der Ensembles, die bis zu Verdis Spätwerk noch die Signatur eines seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts überraschend stabilen Formenkanons tragen.29 Die zweite große Innovation der Verdi-Forschung während der 1980er Jahre, die allmäh­liche Erschließung der Bedeutung der italienischen Versmetrik für den Kompositions­prozess, ereignete sich in zwei Dissertationen, die unabhängig voneinander in Princeton und Bern geschrieben wurden; auf der Basis der Vorarbeiten von Friedrich Lippmann gelang es Peter Ross und Robert A. Moreen, die fundamentale Bedeutung der italieni­schen Metrik für die rhythmisch-metrische Struktur von Verdis Sprachvertonung zu beschreiben.30 Während die Aufsätze Friedrich Lippmanns vor allem die Differenzen der Häufigkeitsverteilung für die einzelnen Versmetren zwischen dem Settecento und der ersten Hälfte des Ottocento untersuchten, erlaubte die Formulierung einer Theorie der musikalischen Versvertonung durch Peter Ross die Beschreibung kompositorischer Modelle von Versvertonung,31 deren Fortwirken auch im Spätwerk Verdis und dar­über hinaus die Mög­lichkeit eröffnete, auch die Versvertonung Giacomo Puccinis und seiner Zeitgenossen einer stringenten Interpretation zuzuführen.32 Das Zusammentreffen von Verdi-Forschung und neuerer Opernforschung im Kontext der amerikanischen Forschungstradition führte dazu, dass eine Renaissance der theater­wissenschaftlichen Forschung zur Inszenierungsgeschichte der Opern Verdis sich überlagerte mit der Aufarbeitung der Inszenie-

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rungsgeschichte der Pariser Grand Opéra. Die Resultate der gegenseitigen Kenntnisnahme von Italien-Forschung und speziali­sierter Pariser Lokalgeschichte erwiesen sich als außerordentlich fruchtbar für das Verständnis der Inszenierungsgeschichte der italienischen Oper des 19. Jahr­hunderts.33 Wie so viele Projekte des Ricordi-Verlags aus der Periode vor der Über­nahme durch den Bertelsmann-Verlag blieb auch die Edition aller „disposizioni sceniche“ der Opern Verdis Fragment;34 im Gegensatz zu den durch Forschungs­projekte abge­ sicherten Editionen der französischen Tradition – und in noch stärkerem Gegensatz zu der in den letzten Jahren begonnenen Erschließung der entsprechenden Quellen für die Opern Puccinis und seiner Zeitgenossen35 – verhinderte die Fixierung der Verdi-Forschung auf einen einzigen Verlag die Weiterführung dieses bedeutenden Publikationsprojekts. Dieser Rückblick auf die geleistete wissenschaftliche Arbeit wäre unvollständig ohne eine Liste der Desiderate einer künftigen Verdi-Forschung; schon die Tatsache, dass es sich vor allem bei den englischsprachigen Forschungen zumeist um eine „reine“ Verdi-Forschung handelte, d.h. dass die Zeitgenossen des Komponisten – mit Ausnahme Arrigo Boitos36 – beinahe vollständig ausgeblendet wurden, verweist auf eine ent­scheidende Schwäche des Forschungsansatzes. Hatte noch in Julian Buddens Mono­graphie eine umfassende Repertoirekenntnis es dem Autor erlaubt, die vielfältigen Querverbindungen zu Komponisten wie Cagnoni, Gomes, Faccio und anderen aufzu­zeigen, so erscheint die Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte von einer zunehmend einsamen VerdiGestalt beherrscht, der die vielfältigen Verankerungen im Musikleben seiner Zeit allmählich abhanden kamen. Ausnahmen von dieser Regel sind rar,37 und ein Buchtitel wie I dimenticati erscheint auch kaum geeignet, das Interesse an Verdis Zeitgenossen zu intensivieren.38 Zwei deutschsprachige Verdi-Darstellungen, die in direkter Konkurrenz im Jubiläumsjahr 2001 erschienen,39 mögen dazu dienen, die auch im Jahr des 200. Geburts­tages weiterhin bestehenden Defizite der Verdi-Forschung zu beleuchten. Während die von Markus Engelhardt betreute Publikation sich auf eine Auswahl inter­national renommierter Verdi-Spezialisten stützt, versuchte das von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert herausgebene Verdi-Handbuch einen vorwiegend deutsch­sprachi­gen Kreis von Autoren als Mitarbeiter zu gewinnen. Bei der vergleichenden Lektüre der beiden Bücher wird schmerzhaft deutlich, dass nach dem Tode von Wolfgang Osthoff (1928–2011), dessen vielfältige Beiträge zur Verdi-Forschung ebenso prägend wirkten wie seine Würzburger Tätigkeit als Hochschullehrer,40 derzeit keine Professur in der musikwissenschaftlichen Hochschullandschaft der Bundesrepublik mit einem Verdi-Spezialisten besetzt ist. Entsprechend zwiespältig erscheint das Resultat der Be­mühungen um repräsentative deutschsprachige Verdi-Publikationen im Jubiläumsjahr 2001: Während die Erforschung des Produktions­systems der italienischen wie franzö­sischen Oper,

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der Stoffgeschichte wie der Dichtungsgeschichte der Libretti, des musikalischen Entstehungsprozesses wie der philologischen Aspekte von Verdis Schaffen gut dokumentiert erscheinen, herrscht noch allgemeine Ratlosigkeit bei Fragen der Orchesterbehandlung und Instrumentation,41 obwohl im Bereich der Organologie und Besetzungsgeschichte wesentliche Fortschritte zu verzeichnen waren.42 Auch die Tatsache, dass es gerade nicht die Opern Verdis waren, die den Anstoß zur Entstehung einer autonomen Funktion von Opernregie im Musiktheater des 20. Jahrhunderts gaben, sondern Wagners Musik­dramen,43 schlägt sich in einer bisher eher journalistischen als wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Errungenschaften wie Auswüchsen der zeitgenössischen Verdi-Regie nieder.44 Da die Probleme, die sich einer unvoreingenommenen Erkenntnis von Verdis Orchesterbehandlung entgegenstellen, den Komponisten des italienischen „melodramma dell’Ottocento“ gemeinsam sind, sei hier auf einen möglichen Lösungsweg verwiesen, der sich sowohl für die Partituren Verdis als auch für die Partituren Rossinis, Donizettis, Bellinis und Mercadantes anbietet: die Rückführung konventioneller Instru­mentenverwendung auf den Entstehungsprozess der Partituren als visuell wahrgenom­mene Konfiguration musikalischer Strukturen in der Notationsform ihrer Zeit. Der musi­kalische Schaffensprozess in der Epoche des italienischen „melodramma roman­tico“ ist vor allem für die Partituren Gaetano Donizettis weit­gehend er­forscht;45 die bisher zugänglichen Skizzen Verdis scheinen zu belegen, dass auch Verdi – mit Aus­nahme des Spätwerks – prinzipiell den Konventionen des musikali­schen Schaffens­prozesses im italienischen Ottocento folgte.46 Auf die „selva“, eine vom Librettisten erstellte Prosaskizze der Handlungsführung, folgten Einzelskizzen zu musikalischen Nummern sowie eine aus verbaler und musikalischer Notation gemischte Verlaufs­skizze eines ganzen Aktes; von diesem Skizzentyp besitzen wir bisher nur den I. Akt von La traviata, der von Fabrizio della Seta publiziert wurde.47 Darauf erstellte Verdi einen „abbozzo“, d.h. eine musikalische Verlaufsskizze der ganzen Oper – gelegentlich mit Ausnahme derjenigen Abschnitte, die er erst nach Kenntnis der individuellen Sängerpersönlichkeiten komponieren wollte, etwa der Cabaletten.48 Der „abbozzo“ des Rigoletto, zu dem erst in jüngster Zeit auch Material für Stiffelio und La traviata hinzugefügt werden konnte, ist auf zwei Systemen als Konstellation von Melodielinie des Sängers und Instrumentalbass notiert;49 Instrumentationsangaben fehlen im Falle des Rigoletto beinahe gänzlich.50 Aus diesem Abbozzo übertrug Verdi die Sing­stimmen und die Basslinie in eine Skelettpartitur in italienischer Partitur­anordnung, in der 1. Violine und Basso die Außenstimmen bilden. Falls im Laufe der Probenarbeit noch Transpositionen notwendig wurden, musste Verdi nicht die ganze Partitur ändern, sondern nur die beiden Außenstimmen;51 im Falle der Proben zu La traviata änderte er nur die Tonartvorzeichnung. Diese Skelettpartitur wurde auch vom Kopisten als Grundlage für die Rollenbücher der Sänger benützt, die mithin dem Sänger kein vollständiges

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Bild des harmonischen Zusammenhangs vermittelten. Die Notations­form des modernen Klavierauszugs entwickelte sich in Italien erst um die Jahrhundertmitte zur Norm für die Sänger. Vergegenwärtigen wir uns, dass die italienische Partituranordnung für die Opern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine adäquatere Notationsform darstellt als das uns aus der französischen Tradition vertraute Partiturbild mit den Bläsern über den Streichern, das erst durch Beethovens Druckausgaben zum Standard musikalischer Notation wurde.52 Die Außenstimmen des Streichersatzes befanden sich am oberen und unteren Rand der Seite und konnten in der Art eines Klavierauszuges gespielt werden; bei einem vor allem auf der Streichergruppe basierenden Orchestersatz ging dadurch auch kaum Information verloren. Nach Fixierung von I. Violine und Basso konnte der Komponist die leeren Systeme der Partiturseite gemäß seiner Klang­vor­stellung auffüllen, d.h. die mittleren Streicherstimmen und die Bläser einfügen. Im Regelfall wurde eine Melodielinie von mehreren Instrumenten ausgeführt, aber nur in einem System notiert, während die anderen Systeme durch ein entsprechendes Zeichen auf das primäre System verwiesen. Wie Marcello Conatis Forschungen zu den Orche­ sterbesetzungen in den Theatern Norditaliens belegen, korrespondierte mit der „colla-parte-Struktur“ einer frühen Verdi-Oper auch ein vollständig ungewohntes, für uns nur mehr schwer nachvollziehbares Klangbild.53 Am stärksten und am kompeten­testen waren die I. Violinen und Kontrabässe besetzt, während weniger tüchtige Musiker mit den Stimmen von II. Violine, Viola und Violoncello betraut wurden. Die Trennung der Violenstimme von der Stimme des Basso fand ebenso wie die Trennung der Parte von Cello und Kontrabass erst während Verdis Schaffensperiode statt.54 Die allmähliche Auflösung der Konventionen der italienischen Partiturstruktur zwischen Verdis ersten Partituren und seinem Spätwerk darf nicht darüber hinweg­täuschen, dass der Komponist – wie alle Musiker, die ihre Werke innerhalb einer verfestigten Tradition von musikalischer Notation schufen – der Suggestion des Partiturbildes in Gestalt der italienischen Partituranordnung ausgesetzt war. Während die Bedeutung der ursprünglichen graphischen Anordnung in den Librettodrucken des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts erst in den vergangenen Jahrzehnten erkannt und für die Editionspraxis fruchtbar gemacht werden konnte, verbietet die Notwen­digkeit einer standardisierten Partituranordnung für kritische Ausgaben eine Rekon­struktion der ursprünglichen Partituranordnung für Gesamtausgaben; trotzdem bildet eine Kenntnis der ursprünglichen Notationsform und ihrer historischen Implikationen einen unver­zichtbaren Ausgangspunkt für jede kompetente Geschichte der Orchester­verwendung und Instrumentation.55 Während es noch einigermaßen sinnvoll erscheinen mag, die letzten Jahrzehnte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Œuvre Giuseppe Verdis

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in einer Über­sicht zusammenzufassen, erscheint ein ähnliches Unterfangen im Falle Richard Wagners aussichtslos; zu groß ist die Masse des Geschriebenen, und zu heterogen sind auch die Standpunkte, die von den Autoren aus aller Welt eingenommen wurden. Eine rigorose Beschränkung auf diejenige Literatur, die nach Meinung des Autors die Erkenntnis des Wagnerschen Werkes wesentlich befördert hat, ist daher unverzichtbar. Bereits bei einem ersten Vergleich zwischen der philologischen Ausgangslage für das Œuvre Wagners und dasjenige Verdis fällt die Tatsache ins Auge, dass die Differenzen der Materialbasis für beide Komponisten auch durchaus unter­ schiedliche Vorgehensweisen der Erschließung bedingten.56 Während Wagners Korrespondenz all­mählich in einer chronologisch aufgebauten, kritischen Gesamtausgabe zugänglich wird  – die freilich immer noch unvermeidbare Lücken aufweist57 –, hält auch die gegenwärtige Publikationspolitik des Istituto di Studi Verdiani an der Publikation einzelner Briefwechsel („Carteggi“) fest.58 Während sich für Verdi das Problem einer Gesamtausgabe der theoretischen Schriften schlicht nicht stellt, bildet ebendiese Gesamtausgabe für Wagner eines der wesentlichsten Desiderate der Forschung.59 Der Tatsache, dass die philologische Erschließung von Wagners Gesamtwerk trotz einer ersten, Fragment gebliebenen Gesamtausgabe (Michael Balling, Leipzig 1912–1929) hinter dem Stand der großen Gesamtausgaben des 19. Jahrhunderts zurückgeblieben war, da das Qualitätsgefälle zwischen den Opern und den „Neben­werken“ wohl bei kaum einem Komponisten derart ausgeprägt ist wie bei Wagner, wurde durch das große Unternehmen der Richard-Wagner-Gesamtausgabe Rechnung getragen, die seit 1970 die Mehrzahl der Werke in exemplarischen Ausgaben vorlegen konnte und sich nun­mehr ihrem Ende nähert. Parallel zur Wagner-Gesamtausgabe entstand das Wagner-Werk-Verzeichnis60 sowie wesentliche Studien zur Philologie einzelner Werke, die zum Teil der Konzentration einer ganzen Gruppe von Wissenschaftlern am Groß­projekt der Gesamtausgabe zu verdanken waren.61 Hatte sich die musikwissenschaftliche Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Klassifizierung immanent-musikalischer Strukturen im Werk Wagners konzentriert, um dieses vor dem Anspruch der symphonischen Tradition des 19. Jahrhunderts legitimieren zu können, so überwog in der jüngeren Forschung eine mehr interdisziplinäre Ausrichtung, die auch die Beziehung des Wagnerschen Œuvres zu den Schwesterkünsten einschloss. Es war vor allem dem dominierenden Einfluss von Theodor W. Adornos Versuch über Wagner (Frankfurt 1952) zu danken, dass das intellektuelle Niveau der Wagner-Forschung nach dem II. Weltkrieg eine wesentliche Hebung erfuhr.62 Als Forum einer neuen Beschäftigung mit dem Werk Wagners und dessen geistesgeschichtlichen Hintergründen etablierten sich die Programmhefte der Bayreuther Festspiele, die von 1951 bis zu ihrem vorläufigen Ende im Jahre 1993 einen Kreis

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illustrer Mitarbeiter versammeln konnten. Auswahl­publika­tionen aus den Bayreuther Programmheften in Buchform geben eine Vorstellung von der Intensität der geisteswissenschaftlichen Neugewinnung Wagners nach dem Zweiten Weltkrieg.63 Eine erstaunliche intellektuelle Bereicherung wurde der Wagner-Forschung vor allem im deutschsprachigen Raum durch die Forschungen prominenter Altund Neu­germanisten zuteil, die – ganz im Gegensatz zu der Distanzhaltung, die die pro­fessionelle Italianistik gegenüber der Librettoforschung einnahm! – einen wesentlichen Beitrag zur text-philologischen Professionalisierung der WagnerForschung leisteten. Nur wenige Jahre nach den bahnbrechenden Studien von Peter Wapnewski64 folgten die Publikationen der Altgermanisten Ulrich Müller,65 Volker Mertens66 und Ar­thur Groos.67 Dieter Borchmeyer, oszillierend zwischen Profes­suren für Theater­wissen­schaft und Neugermanistik, trug nicht nur durch seine Publika­tionen, sondern auch durch seine Lehrtätigkeit wesentlich zur Entwicklung einer literarisch orientierten Wagnerforschung bei.68 Eine erneute, philosophiehistorisch reflektierte Beschäftigung mit Wagners kunsttheoretischen Schriften führte in vielen Fällen zu neuen Erkenntnissen.69 Im Bereich musikalischer Analyse wurde einerseits die Abhängigkeit des Wagnerschen Frühwerks von diversen französischen wie italienischen Modellen einer genauen Analyse zugeführt,70 andererseits die traditionell rückwärtsgewandte Blickrichtung der Musikwissenschaft durch eine Perspektive erweitert, die sich dem Œuvre Wagners auf der Basis eigener Erfahrung mit der zeitgenössischen Musik näherte; prominen­tester Vertreter dieser Haltung ist der Komponist und Dirigent Pierre Boulez.71 Die allmähliche Verfeinerung des analytischen Instrumentariums und ein gegenüber der Vorkriegszeit gewandeltes Verhältnis zur Musik des 20. Jahrhunderts haben die Musik­wissenschaft darüber hinaus befähigt, sich dem Werk Wagners mit neuen Kategorien der musikalischen Analyse zu nähern,72 Dabei wurden einerseits die Rückbezüge zur Tradition deutlicher als bisher erkennbar,73 andererseits ermöglichte das Abrücken von einer ausschließlich auf Tonhöhen fixierten musikalischen Analyse auch zum ersten Mal, die Werke Wagners als Klangfarben­konstellationen zu inter­pretieren.74 Untersuchungen zur Bedeutung des Mythos auf der Grundlage der Mythen­ forschung des 20. Jahrhunderts,75 zur Beziehung von Wagners Theatervision zu den Theaterformen der Vergangenheit76 sowie über die beeindruckende Kompetenz des Dichter­komponisten im Bereich der Literatur des deutschen Mittelalters77 haben die Kenntnis der Stoffgrundlagen wesentlich vertieft. Der Sprachvertonung Wagners, die für die musikalische Deklamation des Deutschen wohl wichtiger war als diejenige irgendeines anderen Komponisten, wurden mehrere Spezialstudien gewidmet.78 Der bedeutendste Fortschritt einer interdisziplinären Betrachtungsweise bestand wohl darin, dass die musikalische Analyse erstmals dem szenischen Charakter des Wagnerschen Musikdramas volle Gerechtigkeit

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widerfahren ließ. Die eminent szenisch determinierten Bestand­teile des Wagnerschen Dramas – die Gestik der Handelnden auf der Bühne79 sowie die vor allem in Nibelungenring und Parsifal bedeutsamen „Soli“ des unbelebten Bühnenraumes80 – konnten erstmals in ihrer nicht nur theatralischen, sondern auch dramatisch-musikalischen Eigenwertigkeit erkannt werden, als die musikalische Analyse davon Abstand nahm, um jeden Preis nach autonom-musikalischen Strukturen in Wagners Werk suchen zu wollen. Eine durch analoge Tendenzen in der Literatur­wissenschaft angeregte Beschäftigung mit Wagners Erzähltechnik,81 mit der prosa­ähnlichen Struktur seines Komponierens82 sowie mit den Zeitstrukturen des Nibe­lungenringes83 trug zusätzlich dazu bei, die Verzahnung von dramaturgischer Intention und deren musikalischer Realisierung transparent zu machen. Die formbildenden Kräfte im Musikdrama Richard Wagners, die von Alfred Lo­renz durch sein Postulat eines universalen Formprinzips, der sogenannten „Barform“, einer radikal monistischen Interpretation zugeführt worden waren, erscheinen nach der Kritik der Lorenz’schen Formkonstruktionen erneut und mit größerer Dringlichkeit als zu Beginn des 20. Jahrhunderts als terra incognita. Das aus den kunsttheoretischen Ausführungen des Hans Sachs in Wagners Meistersingern abgeleitete Formschema der dreiteiligen Barform war von Lorenz seiner historischen Funktion als dem Meistersang zugehörige Liedform entkleidet und auf das abstrakte Prinzip der Abfolge von Identischem und Nichtidentischem (A-A-B) reduziert worden.84 Da Alfred Lorenz seine Formkonstruktionen als Ergänzung zum durch die Leitfadenliteratur festge­ schriebenen Motivbestand der Wagner’schen Musikdramen verstand, setzten sie sich zugleich dem Vorwurf aus, eine Dichotomie von „Form“ und „Gehalt“ zu postulieren, die erkenntnistheoretisch hinter den meisten Ästhetiken des 19. Jahrhunderts zurück­blieb. Das Unfassbare, die Prozesse steter Veränderung, das beständige Ineinander-Verfließen der Motivtransformationen wie der Wagnerschen Formgenese wurden durch eine solche Interpretation „auf den Begriff gebracht“ und ihres wesentlichen Charakter­zuges, der kontinuierlichen Vermittlung von Identischem und Nicht-Identischem, beraubt. In den reduktionistischen Schemata Wagnerscher Großformen wie in den Leitmotiv-Tafeln können Versuche gesehen werden, die Strukturen des Wagnerschen Werkes den vertrauten Strukturen des musikalischen Denkens und Erkennens anzu­nähern. Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan haben in ihren grundlegenden Aufsätzen Wagners Begriff der „dichterisch-musikalischen Periode“ (Dahlhaus85), Form­prin­zipien in Wagners Ring des Nibelungen (Dahlhaus86) und Gibt es ein Geheimnis der Form bei Richard ­Wagner? (Stephan87) nachgewiesen, dass die Dehn­barkeit der Lorenz’schen Formkategorien auf beliebige Längen – im Extremfalle von 16 bis 824 Takten – zur Aushöhlung ihres Sinngehaltes und zur Erstarrung der musikalischen Analyse in leerem Schematismus führte.

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In Wagners häufig zitiertem Wort von der „Kunst des Übergangs“ schwingt nicht nur Stolz auf die Errungenschaft einer allseitigen Vermittlung des thematisch-motivischen Materials mit, sondern stärker noch eine Idee von Handlungs­ darstellung, die den dauernd gegenwärtigen, psychologische Identifikation mit den Handelnden auf der Bühne erlaubenden Orchesterkommentar als Aufgabe der kompositorischen Tech­nik und als Herausforderung an die Zusammenhang stiftende Kraft des Orchestersatzes be­greift.88 Wie der Orchesterkommentar des „wissenden Orchesters“ sich dem Gang der Handlung und dem Argumentationsgang der Sprechenden anpassen musste – man denke nur an das große Streitgespräch zwischen Wotan und Fricka im II. Akt der Walküre –, so erforderte die psychologisch glaubhafte Nachzeichnung der Vorgänge auf der Bühne von der Musik eine Wandelbarkeit, die den Rahmen des durch thema­tisch-logische Motiventwicklung Realisierbaren in vielen Fällen nicht unwesent­lich überstieg. Wesentliche Informationen werden dem Zuschauer in solchen Fällen durch die Klangtotale des Orchesters vermittelt, ohne dass diesem in jedem Moment bewusst wäre, dass nicht das thematisch-motivische Material, sondern die Präsenz bestimmter Klangfarben im Vordergrund der musikalischen Konstruktion steht.89 Fälle veritabler „Klang­farbenlogik“ sind innerhalb des Nibelungenringes derart häufig, dass es schwer fällt, besonders markante Beispiele auszusondern.90 Neben offensichtlichen Fällen orchestraler Erzähltechnik, in denen das Orche­ ster dem Zuhörer die Pointe einer Erzählung auf der Bühne als KlangfarbenInformation vermittelt, enthalten bereits Rheingold und Walküre hochkomplexe Strukturen von bestürzender Ambivalenz. Am Ende von Siegmunds Erzählung im I. Akt der Walküre etwa, nach den Textworten „Doch war ich vom Vater versprengt; seine Spur verlor ich, je länger ich forschte: eines Wolfes Fell nur traf ich im Forst; leer lag das vor mir, den Vater fand ich nicht.“ dient nicht so sehr das Walhall-Motiv als vielmehr der unverwechselbare Posaunen­klang der WalhallWelt dem Zweck, den Zuschauer über die wahre Identität von Sieg­munds Vater aufzuklären.91 Wenn andererseits Wotan in seinem Zwiegespräch mit Brünnhilde die eigene Macht verflucht („So nimm meinen Segen, Niblungen-Sohn! Was tief mich ekelt, dir geb’ ich’s zum Erbe: der Gottheit nichtigen Glanz: zernage ihn gierig der Neid!“), so gewinnt die intrikate Übereinanderschichtung mehrerer Motiv­komplexe mit dazu inkongruenten Klangfarben eine besonderer Intensität der Expres­sion. Klangfarben und Motivbruchstücke stehen in diesem Moment in einem Span­nungs­verhältnis zueinander, das die destruktiven Tendenzen von Wotans Fluch besser vergegenwärtigt, als große auskomponierte Gesten es vermöchten.92 Die traditionelle Definition des Wagnerschen Leitmotivs als Kombination von motivischer Substanz und semantischer Denotation – zu denen häufig noch eine präzise textuelle Referenz tritt, da ja viele Leitmotive zuerst in einer Singstimme auftreten, also ursprünglich mit Text verbunden waren – verhält sich

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eigenartig ambivalent gegenüber der Notwendigkeit, Tonalitätsstrukturen definieren zu müssen. Wie an einem Urbild der Wagnerschen Leitmotivtechnik, dem verminderten Septakkord der Samiel-Klangchiffre in Carl Maria v. Webers Freischütz, unschwer aufgezeigt werden kann, enthielt der von Weber der Gestalt Samiels, d.h. der Inkarnation des Bösen zugeordnete Klang in nuce die vier Tonarten der Wolfsschlucht-Musik.93 Das Leitmotiv repräsentiert in diesem Falle also nicht eine „eigene“ Tonart und prägt dadurch den musikalischen Verlauf, sondern es stellt ein additives Substrat vergangener oder zukünftiger musikalischer Verläufe dar. Wichtige Leitmotive der romantischen Opern Wagners erscheinen ande­rer­seits derart eng mit einer spezifischen Tonartvorstellung verbunden, dass sie sich gleichsam in der Ausfaltung der ihnen eigenen Grundtonart erschöpfen; das A-Dur des Lohengrin-Motivs mag als Beispiel für viele andere stehen.94 Der Dichotomie von variierender Verarbeitung – d.h. wandelbarer Gestalt des Leitmotivs – und Notwendigkeit des Wiedererkennens als semantischem Bedeutungs­träger – d.h. Forderung nach Identität des Leitmotivs in allen seinen Erscheinungs­formen – entspricht in Wagners Spätwerk eine zunehmende Tendenz zur Trennung von diastematischer Gestalt in der Horizontalen, d.h. gleichsam der „Melodielinie“, und diastematischer Struktur in der Vertikalen, d.h. der vom Leitmotiv implizierten harmonischen Basis. Während die Innovationen der Wagnerschen Harmonik von der Harmonielehre des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend unter dem Gesichtspunkt der chromatischen und enharmonischen Akkordbildungen untersucht wurden, d.h. unter einem Gesichtspunkt, der potentiell auf die durchgängige Vermittlung aller Tonarten mit­einander abzielte,95 erweisen sich die reifen Partituren Wagners als überraschend reich an Akkordbildungen, die sich gegen eine Transposition geradezu sperren. Dies ist besonders deutlich an Akkorden mit der Funktion eines Leitmotivs zu beobachten, die während eines ganzen Werkes ausschließlich oder vorwiegend auf derselben abso­luten Tonhöhe auftreten. Ein besonders interessantes Beispiel für einen leitmotivischen Akkord mit ausgeprägter Eigenschaft der Nicht-Transponierbarkeit bildet der Tristan-Akkord.96 Die von Eduard Hanslick an Wagners Musik kritisierte Qualität des „Nebel­haften“ harmoniert nicht schlecht mit der zitierten Interpretation;97 doch bildet sie nur die Außenseite eines kompositions­technischen Phänomens, dessen wahrer Grund in der gesteigerten Transformierbarkeit des musikalischen Materiales zu suchen ist. Transformation ohne identische Elemente freilich bedingt in letzter Konsequenz die Idee einer entwickelnden Variation ohne Motiv. Die Vorstellung einer kontinuierlichen Genese prosaähnlicher musikalischer Strukturen ist zwar sehr wohl mit dem Komposi­tionsideal eines beständigen Handlungskommentars vereinbar, wie die Partitur von Schönbergs Erwartung beweist,98 doch sie widerspricht der Grundidee von Leit­

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motivtechnik, die sich ja gerade auf die Wiedererkennbarkeit musikalischer Bau­elemente mit semantischer Funktion gründet. Die glückliche Formulierung „Variations­verfahren ohne Thema“, mit der Stefan Kunze die Allgegenwart von thematisch-motivischer Vermittlung bezeichnete,99 verweist zugleich auf die Notwendigkeit weiterer, über den Bereich diastematischer Strukturen hinausgreifender Ordnungs­kategorien im Spätwerk Wagners. Da in den letzten Jahrzehnten die Werke Wagners immer wieder als Kristallisa­tions- und Kulminationspunkte der avantgardistischen Opernregie fungierten, wandte sich die Aufmerksamkeit vermehrt den Zusammenhängen des Wagnerschen Gesamt­kunst­werks mit dem Musiktheater des 20. Jahrhunderts zu.100 Nach zögernden An­fängen in den sechziger Jahren brachte die Auseinandersetzung um die Inszenierungen Wieland Wagners und den Stil „Neu-Bayreuths“ auch eine wissenschaftliche Beschäf­tigung mit der Inszenierungsgeschichte von Wagners Werk hervor,101 die umso notwendiger scheint, als die großen Theaterreformer der Jahrhundertwende, Adolphe Appia und Edward Gordon Craig, beide vom Musiktheater ausgingen, um die Notwen­ digkeit einer anti-naturalistischen Inszenierungskunst für das 20. Jahrhundert zu begründen; bei Appia bildete Wagners Werk sogar den einzigen Stimulus für die Entwicklung einer allein auf abstrakten Bühnenbildern und komplexer Lichtregie basierenden Theatervision.102 Die Auswirkungen von Wagners Œuvre, der von ihm ersonnenen Organisations­form des Festspiels und seiner Kunsttheorie auf die europäischen Kulturen des Fin de siècle bildeten den Gegenstand intensiver Forschungen zum literarischen, musikalischen und geistesgeschichtlichen Wagnerismus, die sich freilich zumeist auf den Bereich der deutschen103 und französischen Kultur konzentrierten.104 Erst in den letzten Jahr­zehnten entstanden Unter­ suchungen zum italienischen Wagnerismus, dessen vielfältige Ausprägungen im Bereich der Literatur, der Librettistik wie der Kompositionstechnik erst ­allmählich hervortreten.105 Forschungen über den Wagnerismus in den Musik­ kulturen der slawischen Länder – ein besonderes Desiderat bildet die Opernkultur des russischen Fin de siècle  – haben nach dem Ende der kommu­ nistischen Diktaturen gerade erst begonnen.106 Einen wesentlichen Bereich der Rezeptionsforschung zu Wagner bildet die reiche Literatur über den Wagnerismus in der Dichtung, vor allem über die Verwendung von Leitmotivtechniken unter dem Vorbild Wagners im Roman des 20. Jahrhunderts.107 Daneben hat es nicht an Versuchen gefehlt, die durch Hitlers Wagner-Begeisterung belastete Rezeptionsgeschichte von Wagners Werk während der national­ sozialistischen Diktatur zurückzuprojizieren auf das Werk selbst.108 Die methodologische Absurdität dieses Ansatzes, der sich aus chrono­logischen Gründen ja nicht einmal auf eine greifbare Beziehung der Person Wagners zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts stützen kann, ist jedoch offenbar; histori-

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sche Forschung am konkreten Objekt bildet daher die einzig mögliche Antwort auf demagogische Schuld­zuwei­sungen, die letztlich immer auf ungenügender Sachkenntnis beruhen.109 Eine Bestandsaufnahme der – aus historischen Gründen avancierteren – Wagner-Forschung wie der gerade sich entfaltenden Verdi-Forschung im 200. Geburtsjahr der beiden Komponisten legt den Schluss nahe, dass die methodologische Vielfalt inter­disziplinärer Forschung, trotz ihrer unbestreitbaren Vorzüge und Errungenschaften, aufgrund ihrer im Kontext wissenschaftlicher Forschung zur Mode gewordenen Dominanz den unerwünschten Nebeneffekt zeitigte, dass die eigentliche Kernaufgabe musikwissen­schaftlicher Forschung, die Erhellung der musikalischen Struktur der in den Partituren für die Ewigkeit kodifizierten Meisterwerke der Musikgeschichte, durch allerlei zentrifugale Forschungsaktivitäten abgelöst wurde. Wie Claus-Steffen Mahnkopf in seiner kritischen Bestandsaufnahme der Wagner-Forschung polemisch formulierte: „Die Forschung tritt nicht etwa auf der Stelle, für das musikalische Werk blieb sie aus.“110 Die Aufgabe verantwortungsvoller musikwissenschaftlicher Forschung für die Zukunft wird es daher sein müssen, jenseits aller ideologischen Verein­nahmungsversuche dem Werk Giuseppe Verdis und Richard Wagners, wie es in den Partituren der Nachwelt über­liefert ist, durch Analyse und Interpretation auf dem Reflexionsniveau zeitgenössischen Denkens neue Horizonte des Verstehens zu gewinnen.

Anmerkungen 1 Lorenzo Bianconi/Giorgio Pestelli (Hrsg.), Storia dell’Opera Italiana, Bd. 4–6, Torino 1987/1988; John Rosselli, The opera business and the Italian immigrant community in Latin America 1820–1930: the example of Buenos Aires, in: Past & Present 127/1990, S. 155–182; die Reiserouten der Opernensembles in Lateinamerika (und Ozeanien) auf S. 162–167. 2 Sieghart Döhring/Sabine Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, „Handbuch der musikalischen Gattungen“, Bd. 13, Laaber 1997. 3 Michael Walter, „Die Oper ist ein Irrenhaus“. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1997; Jürgen Maehder, Hector Berlioz als Chronist der Orche­ sterpraxis in Deutschland, in: Sieghart Döhring/Arnold Jacobshagen/Gunther Braam (Hrsg.), Berlioz, Wagner und die Deutschen, Köln 2003, S. 193–210. 4 Michael Strobel, Das abgelegenste Nest auf Gottes Erdboden. Richard Strauss und die Rezeption seiner Bühnenwerke in Stuttgart 1906–1972, in: Julia Liebscher (Hrsg.), Richard Strauss und das Musiktheater. Bericht über die Inter­nationale Fachkonferenz Bochum, 14.–17. November 2001, Berlin 2005, S. 323–335. 5 Carl Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, Regensburg 1971; Stefan Kunze, Richard Wagners Idee des „Gesamtkunstwerks“, in: Helmut Koopmann/ Johann Adolf Schmoll gen. Eisenwerth (Hrsg.), Beiträge zur Theorie der Künste im

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19. Jahrhundert, Bd. 2, Frankfurt 1972, S. 196–229; Stefan Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, Regensburg 1983; Peter Machauer, Die Genealogie der synthetischen Werkidee. Zur Kulturgeschichte des Gesamtkunstwerks von der Renaissance bis zur Romantik, Diss. Ruhr-Universität Bochum 2009.   6 Martin Geck, Die Bildnisse Richard Wagners, München 1970; Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner: Sein Leben, Sein Werk, Sein Jahrhundert, München 1980; Hans-Joachim Bauer, Richard Wagner. Sein Leben und Wirken oder die Gefühlwerdung der Vernunft, Frank­furt/Ber­lin 1995; Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt 2002; Martin Geck, Richard Wagner. Biographie, München 2013.   7 James A. Hepokoski, Under the Eye of the Verdian Bear. Notes on the Rehearsals and Pre­ miè­re of „Falstaff“, in: Musical Quarterly 71/1985, S. 135–156; Dieter Borchmeyer, „El Maestro vol cussì, e basta!“: Verdi und die Struktur des Opernlibrettos, in: Udo Bermbach (Hrsg.), Verdi-Theater, Stuttgart/Weimar 1997, S. 117–140.   8 Luke Jensen, Giuseppe Verdi & Giovanni Ricordi with Notes on Francesco Lucca: From „Oberto“ to „La Traviata“, New York/London 1989.   9 John Rosselli, The Opera Industry in Italy from Cimarosa to Verdi. The Role of the Impresario, Cambridge 1984; italienische Fassung: John Rosselli, L’impresario d’opera, Torino 1985; John Rosselli, Singers of Italian Opera. The History of a Profession, Cambridge 1992; John Rosselli, The Life of Verdi, Cambridge 2000. 10 Christian Sprang, Grand Opéra vor Gericht, Baden-Baden 1993. 11 Die Tatsache, dass noch 112 Jahre nach dem Tode des Komponisten die Wissenschaftler den Erben untertänig danken müssen, wenn ihnen wieder ein Brosamen aus dem Archiv von S. Àgata überlassen wird, dürfte in der Musikgeschichte einzigartig sein. 12 Robert Didion, Partituren und Aufführungsmaterialien der Opern Verdis, Vortrag auf dem Internationalen Verdi-Kongress Berlin 2001, unpubliziert. Die vorliegende Darstellung der Publikations­geschichte von Verdis Partituren verdankt diesem Kongressreferat wesentliche Anregungen. 13 Die Bestimmung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe für die Wissenschaft wie für die Praxis hat sich in den letzten Jahrzehnten als Quadratur des Kreises entpuppt; die kritische Ausgabe von Berlioz’ Benvenuto Cellini durch Hugh Macdonald hat daher wegen ihrer vermeintlich benutzerunfreundlichen Anlage Kritik erfahren. Es ist dies der Ort, all’ die Verfechter der Praxisorientierung von Gesamtausgaben daran zu erinnern, dass sie noch „auf Bäumen leben“ würden, wenn es den primären Impuls wissenschaftlichen Arbeitens nicht zuerst gegeben hätte. 14 Julian Budden, The Operas of Verdi, 3 Bde., London 1973–1981; 2London 1985. 15 Um das Portrait Julian Buddens zu vervollständigen, muss daran erinnert werden, dass er auch zu den bedeutendsten Pionieren der Puccini-Forschung gehörte; von 2001 bis zu seinem Tode im Jahre 2007 leitete er als Präsident das Centro Studi Giacomo Puccini in Lucca. Vgl. Julian Budden, Puccini. His Life and Works, Oxford 2002. 16 Pierluigi Petrobelli/Marisa Di Gregorio Casati/Carlo Maria Mossa (Hrsg.), Carteggio Verdi-Ricordi 1880–1881, Parma 1988; Franca Cella/Mario Ricordi/Marisa Di Gregorio Casati (Hrsg.), Carteggio Verdi-Ricordi 1882–1885, Parma 1994. 17 Marcello Conati/Mario Medici (Hrsg.), Carteggio Verdi-Boito, Parma 1978; Marcello Conati, La bottega della musica. Verdi e la Fenice, Milano 1983; Marcello Conati, Rigoletto. Un’analisi drammatico-musicale, 2Venezia 1992; Marcello Conati/Natalia Grilli

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(Hrsg.), „Simon Boccanegra“ di Giuseppe Verdi, Milano 1993; Marco Capra (Hrsg.), Una piacente estate di San Martino. Studi e ricerche per Marcello Conati, Lucca 2000. 18 In einem brillanten „Hauptvortrag“ auf dem Internationalen Kongress für Musikwissenschaft Musik als Text 1993 in Freiburg/Breisgau unternahm Harold S. Powers den Versuch, die Schrumpfung des kulturellen Horizonts durch die feministische Musikwissenschaft am Beispiel einer damals modi­schen Mozart-Analyse zu entlarven: Harold S. Powers, Reading Mozart’s Music: Text and Topic, Syntax and Sense, in: Current Musicology 55/1995, S. 5–44. 19 Der prekäre Status der Partitur und damit der musikalischen Werkhaftigkeit im Operntheater wurde immer wieder als Gegenargument gegen das in der Idee einer historisch-kritischen Ausgabe implizierte Ziel einer definitiven Werkgestalt angeführt. Wie die jüngsten Projekte von Operneditionen zeigen, führt das Postulat multipler Originalfassungen nicht nur zu einer Komplizierung der Editions­richtlinien, sondern es übersieht auch die historische Tatsache, dass historisch-kritische Ausgaben erst vor dem epistemologischen Horizont der Werkhaftigkeit europäischer Kunstmusik möglich wurden. 20 Max Fehr, Apostolo Zeno und seine Reform des Operntextes, Zürich 1912; Giovanni Macchia, Vita, avventure e morte di Don Giovanni, Bari 1966; Piero Weiss, Carlo Goldoni, librettist: The early years, Diss. Columbia University 1970; Luigi Baldacci, Libretti d’opera e altri saggi, Firenze 1974; Jacques Joly, Les Fêtes théâtrales de Métastase à la Cour de Vienne (1731–1767), Clermont-Ferrand 1975; Gianfranco Folena, L’italiano in Europa. Esperienze linguistiche del Settecento, Torino 1983; Elena Sala di Felice, Metastasio. Ideologia, drammaturgia, spettacolo, Milano 1983; Daniela Goldin, La vera fenice. Librettisti e libretti tra Sette e Ottocento, Torino 1985; Jacques Joly, Dagli Elisi all’inferno. Il melodramma tra Italia e Francia dal 1730 al 1850, Scandicci/Firenze 1990; Gilles de Van, Verdi. Un théâtre en musique, Paris 1992; Costantino M. Maeder, Metastasio, „L’Olimpiade“ e l’opera del Settecento, Bologna 1993; Albert Gier, Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischeu Gattung, Darmstadt 1998, 2Frankfurt 2000. 21 Michael Petzet/Detta Petzet, Die Richard-Wagner-Bühne König Ludwigs II., München 1970; Nicola Mangini, I teatri di Venezia, Milano 1974; Heinrich Habel, Festspielhaus und Wahnfried. Geplante und ausgeführte Bauten Richard Wagners, München 1985; Nicole Wild, Dictionnaire des Théâtres Parisiens au XIXe siècle, Paris 1989; Giuseppe Radicchio/Michèle Sajous d‘Oria (Hrsg.), Les Théâtres de Paris pendant la Révolution, Bari/Paris 1990; Franco Mancini/Maria Teresa Muraro/Elena Povoledo, I teatri del Veneto, 4 Bde., Venezia 1994. 22 Orville Kurth Larson, Italian Stage Machinery, 1500–1700, Diss. Univ. of Illinois/Urbana, 1956; Franklin C. Mohler, Spectacular Effects on the Seventeenth-Century Continental Stage, Diss. Ohio State Univ. 1976; Carl Friedrich Baumann, Bühnentechnik im Festspielhaus Bayreuth, München 1980; Cecil Thomas Ault, Design, Operation and Organization of Stage Machinery at the Paris Opéra, 1770–1873, Diss. Univ. of Michigan 1983; Rebecca Susan Wilberg, The mise en scène at the Paris Opéra (1821–1873): The Staging of the Spectacular Effects in the Four grands opéras of Giacomo Meyerbeer, Diss. Brigham Young University, Provo/UT 1991. 23 Gösta M. Bergman, Lighting in the Theatre, Stockholm 1977; Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1986; Carl Friedrich Baumann, Licht im Theater. Von der Argand-Lampe bis zum Glüh­lampen-

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Scheinwerfer, Stuttgart 1988; Marco Capra, L‘illuminazione sulla scena verdiana ovvero L‘arco voltaico non acceca la luce?, in: Pierluigi Petrobelli/Fabrizio della Seta (Hrsg.), La realizzazione scenica dello spettacolo verdiano, Parma 1996, S. 230–264. 24 Maria Teresa Muraro/Elena Povoledo (Hrsg.), Disegni teatrali dei Bibbiena, Venezia 1970; Franco Mancini/Maria Teresa Muraro/Elena Povoledo (Hrsg.), Illusione e pratica teatrale, Venezia 1975; Ludovico Zorzi, Il teatro e la città, Torino 1977; Mercedes Viale Ferrero, La scenografia della Scala nell’età neoclassica, Milano 1983; Cathérine Join-Diéterle, Les Décors de scène de l’Opéra de Paris à l’époque romantique, Paris 1988; Mercedes Viale Ferrero, Luogo teatrale e spazio scenico, in: Lorenzo Bianconi/Giorgio Pestelli (Hrsg.), Storia dell’opera italiana, Bd. 5, Torino 1988, S. 1–122; Evan Baker, Verdi’s Operas and Giuseppe Bertoja’s Designs at the Gran Teatro La Fenice, in: Mark A. Radice (Hrsg.), Opera in Context. Essays on Historical Staging from the Late Renaissance to the Time of Puccini, Portland 1998, S. 209–240. 25 Nicole Wild, Décors et costumes du XIXe siècle, 2 Bde., Paris 1987 und 1993. 26 H. Robert Cohen/Marie-Odile Gigou, Cent ans de mise lyrique en France (environ 1830–1930), New York 1986; H. Robert Cohen/Marie-Odile Gigou (Hrsg.), The Original Staging Manuals for twelve Parisian Operatic Premières, Stuyvesant/NY 1990; Arne Langer, Der Regisseur und die Aufzeichnungspraxis der Opernregie im 19. Jahrhundert, Bern/Frankfurt/New York 1997. 27 Franco Piperno, Il sistema produttivo, fino al 1780, in: Lorenzo Bianconi/Giorgio Pestelli (Hrsg.), Storia dell’Opera Italiana, Bd. 4, Torino 1987, S. 1–75; Evan Baker, From the Score to the Stage: An Illustrated History of Opera Production and Staging in Continental Europe, Chicago 2013. 28 Abramo Basevi, Studio sulle opere di Giuseppe Verdi, Firenze 1859, Reprint in: Studi e testi verdiani 3, Bologna 1978. 29 Philip Gossett, Verdi, Ghislanzoni, and „Aida“. The Uses of Convention, in: Critical Inquiry 1/1974, S. 291–334; Harold S. Powers, La „solita forma“ and the uses of convention, in: Acta Musicologica 59/1987, S. 65–90; Harold S. Powers, Basevi, Conati and „La traviata“: The Uses of Convention, in: Marco Capra (Hrsg.), Una piacente estate di San Martino. Studi e ricerche per Marcello Conati, Lucca 2000, S. 215–236. 30 Friedrich Lippmann, Der italienische Vers und der musikalische Rhythmus, in: Analecta Musicologica 12/1973, S. 253–369; 14/1974, S. 324–410; 15/1975, S. 298–333; Robert A. Moreen, Integration of Text Forms and Musical Forms in Verdis Early Operas, Diss. Princeton 1975; Peter Ross, Studien zum Verhältnis von Libretto und Komposition in den Opern Verdis, Bern 1979; Rita Garlato, Repertorio metrico verdiano, Venezia 1998. 31 Peter Ross, Amelias Auftrittsarie im „Maskenball“. Verdis Vertonung im drama­tur­gischtextlichen Zusammenhang, in: Archiv für Musikwissenschaft 40/1983, S. 126–145; Peter Ross, „Luisa Miller“ – Ein „kantiger Schiller-Verschnitt“? Sozialkontext und ästhetische Autonomie der Opernkomposition im Ottocento, in: Jürgen Maehder/Jürg Stenzl (Hrsg.), Zwischen Opera buffa und Melodramma. Italienische Oper im 18. und 19. Jahrhundert, Frank­furt/Bern/New York 1994, S. 159–178; Peter Ross, Mehrdimensionalität als Stil­ prinzip in Verdis Spätwerk, in: Pierluigi Petro­belli/Fabrizio della Seta (Hrsg.), La realizzazione scenica dello spettacolo verdiano, Parma 1996, S. 46–57. 32 Peter Ross, „E l‘ideal fu sogno“. Arrigo Boito und seine Reformoper „Mefistofele“, in: Michael Arndt/Michael Walter (Hrsg.), Jahrbuch für Opern­for­schung 3/1990, Frankfurt/ Bern 1991, S. 69–86; Peter Ross, Der Librettovers im Übergang vom späten Ottocento

Wagner-Forschung versus Verdi-Forschung  |

zum frühen Novecento, in: Lorenza Guiot/Jürgen Maehder (Hrsg.), Tendenze della musica teatrale italiana all‘inizio del Novecento. Atti del IVo Convegno Internazionale di Studi su Leoncavallo a Locarno 1998, Milano 2005, S. 19–54. 33 Anselm Gerhard, Die Verstädterung der Oper, Stuttgart/Weimar 1992; Pierluigi Petrobelli/Marisa Di Gregorio Casati/Olga Jesurum (Hrsg.), „Sorgete! Ombre sere­ne!“. L‘aspetto visivo dello spettacolo verdiano, Parma 1994; Knud Arne Jürgensen, The Verdi Ballets, Parma 1995; Pierluigi Petrobelli/Fabrizio della Seta (Hrsg.), La realizzazione scenica dello spettacolo verdiano, Parma 1996; Baker, From the Score to the Stage. 34 James A. Hepokoski/Mercedes Viale Ferrero, „Otello“ di Giuseppe Verdi, Milano 1990; Marcello Conati/Natalia Grilli (Hrsg.), „Simon Boccanegra“ di Giuseppe Verdi, Milano 1993; David Rosen/Marinella Pigozzi (Hrsg.), „Un Ballo in maschera“ di Giuseppe Verdi, Milano 2002. 35 Michele Girardi, Giacomo Puccini, „Madama Butterfly“. Mise en scène di Albert Carré, „Edizione Nazionale delle Opere di Giacomo Puccini“, Torino 2012; Michela Niccolai, Giacomo Puccini et Albert Carré: „Madame Butterfly“ à Paris, Turnhout 2012. 36 Jay R. Nicolaisen, Italian Opera in Transition, 1871–1893, Ann Arbor 1980; Giampiero Tintori (Hrsg.), Arrigo Boito. Musicista e letterato, Milano 1986; William Ashbrook, Boito and the 1868 „Mefistofele“ Libretto as a Reform Text, in: Arthur Groos/ Ro­ger Parker (Hrsg.), Reading Opera, Princeton 1988, S. 268–287; Giovanni Morelli (Hrsg.), Arrigo Boito, „Linea Veneta“, Bd. 11, Firenze 1994; William Ashbrook/ Gerardo Guccini, „Mefistofele“ di Arrigo Boito, Milano 1998 („Mu­sica e Spettacolo“); Adriana Guarnieri Corazzol, Musica e letteratura in Italia tra Ottocento e Novecento, Milano (Sansoni) 2000; Costantino Maeder, „Il real fu dolore e l’ideal fu sogno“. Arrigo Boito e i limiti dell’arte, Firenze (Cesati) 2002; Emanuele d’Angelo, Arrigo Boito drammaturgo per musica, Venezia 2010; Arrigo Boito, Il primo Mefistofele, hrsg. von Emanuele d’Angelo, Venezia 2013. 37 Markus Engelhardt, Verdi und andere. „Un giorno di regno“, „Ernani“, „Attila“, „Il corsaro“ in Mehrfachvertonungen, Parma 1992. 38 Carol Traupmann, I dimenticati: Italian Comic Opera in the Mid-Nineteenth Century, Diss. Cornell University, Ithaca/NY 1996. 39 Markus Engelhardt (Hrsg.), Giuseppe Verdi und seine Zeit, Laaber 2001; Anselm Gerhard/Uwe Schweikert (Hrsg.), Verdi Handbuch, Kassel/Stuttgart/Weimar 2001. 40 Vgl. Wolfgang Osthoff, Die beiden „Boccanegra“-Fassungen und der Beginn von Verdis Spätwerk, in: Analecta musicologica 1/1963, S. 70–89; ders., Die beiden Fassungen von Verdis „Macbeth“, in: Archiv für Musikwissenschaft 29/1972, S. 17–44; ders., Il sonetto nel „Falstaff“ di Verdi, in: AA.VV. (Hrsg.), Il melodramma italiano dell‘Ottocento. Studi e ricerche per M. Mila, Torino 1977, S. 157–183; ders., Musica e versificazione: Funzioni del verso poetico nell’opera italiana, in: Lorenzo Bianconi (Hrsg.), La drammaturgia musicale, Bologna 1986, S. 125–141; ders., Verdis musikalische Vorstellung in der Szene III,4 des „Rigoletto“, in: Pierluigi Petrobelli (Hrsg.), Nuove prospettive nella ricerca verdiana. Atti del convegno inter­nazio­nale in occa­sione della prima del „Rigoletto“ in edizione critica, Parma (Istituto di Studi Verdiani/Ricordi) 1987, S. 57–73; ders., Dante beim späten Verdi, in: Studi verdiani 5/1988/89, S. 35–64; ders., Aspetti strutturali e psicologici della drammaturgia verdiana nei ritocchi del­la „Traviata“, in: Opera e libretto, Bd. 1, Firenze 1990, S. 315–360; Daniela Goldin Folena/Wolfgang Osthoff (Hrsg.), Verdi und die deutsche Literatur/Verdi e la letteratura tedesca, Laaber 2002.

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41 Paul Berl, Die Opern Giuseppe Verdis in ihrer Instrumentation, Diss. Wien 1931, masch; Francis Irving Travis, Verdi’s Orchestration, Zürich 1956; Wolfgang Witzenmann, Grundzüge der Instrumentation in den Opern Verdis und Wagners, in: Colloquium VerdiWagner (Rom 1969), Analecta Musicologica 11/1972, S. 304–326; René Leibowitz, L’Orchestration de Rigoletto, in: Bollettino dell’Istituto di Studi Verdiani, Bd. 3/8, Parma 1973, S. 912–930; Ursula Kramer, „... richtiges Licht und gehörige Perspektive ...“ Studien zur Funktion des Orchesters in der Oper des 19. Jahrhunderts, Tutzing 1992; Teresa Klier, Der Verdi-Klang. Die Orchesterkonzeption in den Opern von Giuseppe Verdi, Tutzing 1998. 42 Marcello Conati/Marcello Pavarani (Hrsg.), Orchestre in Emilia-Romagna nell’Ottocento e Novecento, Parma (Orchestra Sinfonica dell’Emilia-Romagna) 1982; Marcello Conati, Teatri e orchestre al tempo di Verdi, in: AAVV, Giuseppe Verdi. Vicende, problemi e mito di un artista e del suo tempo. Palazzo Ducale di Colorno, 31 agosto – 8 dicembre 1985, Colorno/Parma 1985, S. 47–78; Jürgen Maehder, „Banda sul palco“ – Variable Besetzungen in der Bühnenmusik der ita­lie­ni­schen Oper des 19. Jahrhunderts als Relikte alter Besetzungs­tra­di­tio­nen?, in: Dietrich Berke/Dorothea Hanemann (Hrsg.), Alte Musik als ästhetische Gegenwart. Kongreßbericht Stuttgart 1985, Kassel 1987, Bd. 2, S. 293–310; Renato Meucci, Il Cimbasso e gli strumenti affini nell’Ottocento italiano, in: Studi Verdiani 5/1989, S. 109–162; Marcello Conati, Cenni su orchestre, teatri, strumenti e diapason in Italia nell’Ottocento, in: Musica/Realtà 14/1993, S. 111–127. 43 Vgl. Dietrich Steinbeck, Inszenierungsformen des „Tannhäuser“ (1845–1904). Unter­ suchungen zur Systematik der Opernregie, Regensburg 1964; Viola Schmid, Studien zu Wieland Wagners Regiekonzeption und zu seiner Regiepraxis, Diss. München 1973; Dietrich Mack (Hrsg.), Theaterarbeit an Wagners Ring, München 1978; Jürgen Maehder, Intellektualisierung des Musiktheaters – Selbstreflexion der Oper, in: Neue Zeitschrift für Musik 140/1979, S. 342–349; Evan Baker, Richard Wagner and His Search for the Ideal Theatrical Space, in: Mark A. Radice (Hrsg.), Opera in Context. Essays on Historical Staging from the Late Renaissance to the Time of Puccini, Portland 1998, S. 241–278; ders., From the Score to the Stage. 44 Hans Neuenfels, Zwischen dramaturgischer Innovation und Werktreue. Zur Aktualität und Aktualisierbarkeit der „Aida“, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.), Oper heute. Formen der Wirklichkeit im zeitgenössischen Musiktheater, „Studien zur Wertungsforschung 16“, Graz/Wien 1985, S. 34–47; Christopher Balme/Jürgen Schläder (Hrsg.), Inszenierungen. Theater – Ästhetik – Medialität, Stuttgart/Weimar 2002. 45 William Ashbrook, Donizetti and his Operas, Cambridge 1982; Michael Walter, Die Oper ist ein Irrenhaus. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1997. 46 Pierluigi Petrobelli, Osservazioni sul processo compositivo in Verdi, in: Acta Musicologica 43/1971, S. 125–142; ders., Remarks on Verdi’s Composing Process, in: Pierluigi Petrobelli, Music in the Theatre: Essays on Verdi and other Composers, hrsg. von Roger Parker, Princeton 1994, S. 48–74; Philipp Gossett, Der kompositorische Prozeß: Verdis Opernskizzen, in: Markus Engelhardt (Hrsg.), Giuseppe Verdi und seine Zeit, Laaber 2001, S. 169–190; Luca Zoppelli, Die Genese der Opern II: Kompositionsprozeß und Editionsgeschichte, in: Anselm Gerhard/Uwe Schweikert (Hrsg.), Verdi Handbuch, Kassel/ Stuttgart/Weimar 2001, S. 234–248. 47 Fabrizio Della Seta (Hrsg.), Giuseppe Verdi, „La traviata“: Schizzi e abbozzi autografi, Parma 2000; Zoppelli, Die Genese der Opern II, besonders S. 238ff.

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48 Ebd. 49 Carlo Gatti (Hrsg.), L’abbozzo del „Rigoletto“ di Giuseppe Verdi, Milano 1941; Claudio Danuser, Studien zu den Skizzen von Verdis „Rigoletto“, Lizentiatsarbeit Universität Bern 1985. 50 Wolfgang Osthoff, Verdis musikalische Vorstellung in der Szene III,4 des „Rigoletto“, in: Pierluigi Petrobelli (Hrsg.), Nuove prospettive nella ricerca verdiana. Atti del convegno inter­nazio­nale in occa­sione della prima del „Rigoletto“ in edizione critica, Parma 1987, S. 57–73. 51 James Hepokoski, Compositional emendations in Verdi’s autograph scores. „Il trovatore“, „Un ballo in maschera“ and „Aida“, in: Studi verdiani 4/1986–87, S. 87–109. 52 Klaus Haller, Partituranordnung und musikalischer Satz, Tutzing 1970; Wolfgang Witzenmann, Grundzüge der Instrumentation in italienischen Opern von 1770 bis 1830, in: Analecta Musicologica 21/1982, S. 276–332. 53 Marcello Conati, Teatri e orchestre al tempo di Verdi, in: AAVV, Giuseppe Verdi. Vicende, problemi e mito di un artista e del suo tempo. Palazzo Ducale di Colorno, 31 agosto – 8 dicembre 1985, Colorno/Parma („Una città construisce una mostra“) 1985, S. 47–78. 54 Marcello Conati/Marcello Pavarani (Hrsg.), Orchestre in Emilia-Romagna nell’Ottocento e Novecento, Parma 1982; Marcello Conati, Teatri e orchestre al tempo di Verdi, in: Giuseppe Verdi. Vicende, problemi e mito di un artista e del suo tempo, Colorno/ Parma 1985, S. 47–78. 55 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977. 56 Einen ausgezeichneten Überblick über die Grundlinien der Wagnerforschung während der letzten Jahrzehnte gab Egon Voss, Von Notwendigkeit und Nutzen der Wagnerforschung. Ein Abriß über das Wagner-Werk-Verzeichnis und die Wagner-Gesamtausgaben, in: Ders., Wagner und kein Ende, Zürich/Mainz 1996, S. 237–257. 57 Richard Wagner, Sämtliche Briefe, 22 Bde. (bisher erschienen: 1830–1870), hrsg. von Gertrud Strobel/Werner Wolf (Bd. 1–5), Hans Joachim Bauer/Johannes Forner (Bd. 6–8), Andreas Mielke (ab Bd. 10), Martin Dürrer (ab Bd. 11), Leipzig 1967– 2012. Vgl. Egon Voss, „Sämtliche Briefe“?, in: ders., Wagner und kein Ende, Zürich/ Mainz 1996, S. 258–263. 58 Zuletzt erschienen ist: Pietro Montorfani (Hrsg.), Carteggio Verdi-Morosini 1842– 1901, Parma 2013. 59 Carl Dahlhaus/Egon Voss (Hrsg.), Wagnerliteratur – Wagnerforschung, Mainz 1985, vor allem das Kapitel „Probleme einer historisch-kritischen Ausgabe von Wagners Briefen und Schriften“, S. 116–147; Voss, Von Notwendigkeit und Nutzen der Wagnerforschung. 60 John Deathridge/Martin Geck/Egon Voss, Wagner-Werk-Verzeichnis, Mainz 1986. 61 Robert Bailey, The Genesis of „Tristan und Isolde“ and a Study of Wagner’s Sketches and Drafts for the First Act, Diss. Princeton University 1969; John Deathridge, Wagner’s „Rienzi“. A reappraisal based on a study of the sketches and drafts, Oxford 1977; Carolyn Abbate, The „Parisian“ Tannhäuser, Diss. Princeton 1984; Ulrich Bartels, Analytischentstehungsgeschichtliche Studien zu Wagners „Tristan und Isolde“ anhand der Kompositionsskizze des zweiten und dritten Aktes, Köln (Studio) 1995; Jörg Linnenbrügger, Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“. Studien und Materialien zur Entstehungsgeschichte des ersten Aufzugs (1861–1866), Göttingen 2001.

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62 Richard Klein, Solidarität mit Metaphysik? Ein Versuch über die musikphilosophische Problematik der Wagner-Kritik Theodor W. Adornos, Würzburg 1991; Max Paddison, Adorno’s aesthetics of music, Cambridge 1993; Richard Klein/Claus-Steffen Mahnkopf (Hrsg.), Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik, Frankfurt 1998. 63 Wieland Wagner (Hrsg.), Richard Wagner und das Neue Bayreuth, München 1962; Herbert Barth (Hrsg.), Bayreuther Dramaturgie. Der Ring des Nibelungen, Stuttgart/ Zürich 1980. 64 Peter Wapnewski, Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden, München (Beck) 1978; Peter Wapnewski, Richard Wagner. Die Szene und ihr Meister, München (Beck) 1978; Peter Wap­newski, Tristan der Held Richard Wagners, Berlin 1981. 65 Ulrich Müller/Peter Wapnewski (Hrsg.), Wagner Handbuch, Stuttgart 1986; Ulrich Müller/Ursula Müller (Hrsg.), Richard Wagner und sein Mittelalter, Anif/Salzburg 1989; Ulrich Müller/Oswald Panagl, Ring und Graal. Texte, Kommentare und Interpretationen zu Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, „Tristan und Isolde“, „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Parsifal“, Würzburg 2002. 66 Volker Mertens/Ulrich Müller (Hrsg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984; Volker Mertens, Richard Wagner und das Mittelalter, in: Ulrich Müller/Ursula Müller (Hrsg.), Richard Wagner und sein Mittelalter, Anif/Salzburg 1989, S. 9–84; Volker Mertens, Das „Nibelungen­lied“, Richard Wagner und kein Ende, in: Joachim Heinzle/ Klaus Klein/Ute Obhof (Hrsg.), Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythe, Wiesbaden (Reichert) 2003, S. 459–496. 67 Arthur Groos, Wagner’s „Tristan“: In Defence of the Libretto, in: Music and Letters 69/1988, S. 465–481; Arthur Groos, Appropriation in Wagner’s „Tristan“ libretto, in: Arthur Groos/ Ro­ger Parker (Hrsg.), Reading Opera, Princeton 1988, S. 12–33; Arthur Groos, Con­ structing Nuremberg: Typological and Proleptic Communities in „Die Meistersinger“, in: 19th-Century Music 16/1992, S. 18–34; Arthur Groos, Back to the Future: Hermeneutic Fantasies in „Der fliegende Holländer“, in: 19th-Century Music 19/1995, S. 191–211; Arthur Groos (Hrsg.), Richard Wagner, „Tristan und Isolde“, Cambridge 2011. 68 Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, Stuttgart 1982; Dieter Borchmeyer (Hrsg.), Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, München 1987; Dieter Borchmeyer/Jörg Salaquarda (Hrsg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, 2 Bde., Frankfurt 1994; Udo Bermbach/Dieter Borchmeyer (Hrsg.), Richard Wagner – „Der Ring des Nibelungen“. Ansichten des Mythos, Stuttgart/Weimar 1995; Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt/Leipzig 2002. 69 Rainer Franke, Richard Wagners Zürcher Kunstschriften, Hamburg 1983; Stefan Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, Regensburg 1983; Manfred Kreckel, Richard Wagner und die französischen Frühsozialisten, Bern/Frankfurt 1986; Udo Bermbach (Hrsg.), In den Trümmern der eignen Welt. Richard Wagners „Der Ring des Nibe­lungen“, Berlin 1989; Jean-Jacques Nattiez, Wagner androgyne, Paris 1990; Ulrike Kienzle, Das Weltüberwindungswerk. Wagners „Parsifal“ – ein szenisch-musikalisches Gleichnis der Philosophie Arthur Schopenhauers, Laaber 1992; Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamt­kunst­ werks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt 1994; Thomas S. Grey, Wagner’s musical prose. Texts and contents, Cambridge 1995; Reinhard Meyer-Kalkus, Richard Wagners Theorie der Wort-Ton-Sprache in „Oper und Drama“ und „Der Ring des Nibelungen“, in: Athenäum 6/1996, S. 153–195.

Wagner-Forschung versus Verdi-Forschung  |

70 Friedrich Lippmann, Wagner und Italien, in: ders. (Hrsg.), Colloquium „Verdi-Wagner“, Rom 1969, Analecta Musicologica, Bd. 11, Köln/Wien 1972, S. 200–247; Ludwig Finscher, Wagner der Opernkomponist. Von den „Feen“ zum „Rienzi“, in: Stefan Kunze (Hrsg.), Richard Wagner. Von der Oper zum Musikdrama. Fünf Vorträge, Bern/München 1978, S. 25–46; Friedrich Lippmann, „Die Feen“ und „Das Liebesverbot“, oder die Wagnerisierung diverser Vorbilder, in: Carl Dahlhaus/Egon Voss (Hrsg.), Wagnerliteratur – Wagnerforschung, Mainz 1985, S. 14–46. 71 Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Herausgeber der Gesamtausgabe der theoretischen Schriften von Pierre Boulez, Jean-Jacques Nattiez, auch einer der prominentesten Wagner-Forscher im französi­schen Sprachraum ist: vgl. Nattiez, Tétralogies. Wagner, Boulez, Chéreau, Paris 1983; ders., Wagner androgyne, Paris 1990; ders., Le Combat de Chronos et d’Orphée, Paris 1993; ders., Les Esquisses de Richard Wagner pour „Siegfrieds Tod“, Paris 2004. 72 Zur Übertragung von Kategorien der Musik des 20. Jahrhunderts wie etwa „Klangflächenkomposition“ auf die Wagner-Analyse vgl. Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes. 73 Klaus Kropfinger, Wagner und Beethoven: Studien zur Beethoven-Rezeption Richard Wagners, Regensburg 1974; Winfried Kirsch, Richard Wagners biblische Scene „Das Liebesmahl der Apostel“, in: Constantin Floros u.a. (Hrsg.), Geistliche Musik. Studien zu ihrer Geschichte und Funktion im 18. und 19. Jahrhundert, Laaber 1985, S. 157–184; Michael C. Tusa, Richard Wagner and Weber’s „Euryanthe“, in: 19th-Century Music 9/1986, S. 206–221; Christoph-Hellmut Mahling/Kristina Pfarr (Hrsg.), Richard Wagner und seine „Lehrmeister“, Mainz 1999; Jürgen Maehder, Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner – Zur Europäisierung der Opernkomposition um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Thomas Betz­wieser u.a. (Hrsg.), Bühnenklänge. Festschrift für Sieghart Döhring zum 65. Geburtstag, München 2005, S. 205–225. 74 Vgl. Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes; ders.,, Orchestrationstechnik und Klang­farben­dramaturgie in Richard Wagners „Tristan und Isolde“, in: Wolfgang Storch (Hrsg.), Ein deutscher Traum, Bochum 1990, S. 181–202; ders., A Mantle of Sound for the Night – Timbre in Wagner’s Tristan and Isolde, in: Arthur Groos (Hrsg.), Richard Wagner, „Tristan und Isolde“, Cambridge 2011, S. 95–119 and 180–185; Richard Klein, Farbe versus Faktur. Kritische Anmerkungen zu einer These Adornos über die Kompositionstechnik Richard Wagners, AfMw 48/1991, S. 87–109; Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkompositon in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, Würzburg 2006. 75 Claude Lévi-Strauss, Wagner – Vater der strukturalen Analyse der Mythen; Lynn Snook, Richard Wagners mythische Modelle; Lynn Snook, Weltgeschichte aus dem Mythos; die drei Aufsätze in: Herbert Barth (Hrsg.), Bayreuther Dramaturgie. Der Ring des Nibelungen, Stuttgart/Zürich 1980, S. 289–298; S. 327–350; S. 363–372; Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985; Dieter Borchmeyer (Hrsg.), Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, München 1987; Petra-Hildegard Wilberg, Richard Wagners mythische Welt. Versuche wider den Historismus, Freiburg 1996; Wolf-Daniel Hartwich, „Deutsche Mythologie“. Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion, Berlin 2000. 76 Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart 1982; Evan Baker, Richard Wagner and His Search for the Ideal Theatrical Space; ders., From the Score to the Stage.

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|  Jürgen Maehder

77 Peter Wapnewski, Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden, München 1978; ders., Tristan der Held Richard Wagners, Berlin 1981; Arthur Groos, Wagner’s „Tristan“: In Defence of the Libretto, in: Music and Letters 69/1988, S. 465–481; Ulrich Müller (Hrsg.), Richard Wagner und sein Mittelalter, Anif/Salzburg 1989; Arthur Groos, ­Constructing Nuremberg: Typological and Proleptic Communities in „Die Meister­singer“, 19th-Century Music 16/1992, S. 18–34; Ulrich Müller/Oswald Panagl, Ring und Graal. Texte, Kommentare und Inter­pretationen zu Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, „Tristan und Isolde“, „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Parsifal“, Würzburg 2002. 78 Irmtraud Flechsig, Beziehungen zwischen textlicher und musikalischer Struktur in Richard Wagners „Tristan und Isolde“, in: Carl Dahlhaus (Hrsg.), Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regensburg 1970, S. 239–257; Klaus Günter Just, Richard Wagner – ein Dichter? Marginalien zum Opernlibretto des 19. Jahrhunderts, in: Stefan Kunze (Hrsg.), Richard Wagner. Von der Oper zum Musikdrama, Bern/ München 1978, S. 79–94; Jürgen Maehder, Studien zur Sprachvertonung in Wagners „Ring des Nibelungen“, Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1983, Programmheft „Walküre“ (S. 1–26) und „Siegfried“ (S. 1–27); italienische Fassung: Studi sul rapporto testo‑musica nell’„Anello del Nibelungo“ di Richard Wagner, in: Nuova Rivista Musicale Italiana 21/1987, S. 43–66; 255–282; Helga-Maria Palm, Richard Wagners „Lohengrin“. Studien zur Sprachbehandlung, München 1987. 79 Carl Dahlhaus, Die Bedeutung des Gestischen im Musikdrama Richard Wagners, München 1970; Martin Knust, Gestik und Sprachvertonung im Werk Richard Wagners. Einflüsse zeitgenössischer Rezitations- und Deklamationspraxis, Berlin 2007. 80 Stefan Kunze, Naturszenen in Wagner Musikdrama, in: Herbert Barth (Hrsg.), Bayreuther Dramaturgie. Der Ring des Nibelungen, Stuttgart/Zürich 1980, S. 299–308; ders., Der Kunstbegriff Richard Wagners, Regensburg 1983, vor allem das Kapitel „Natur und Naturszene“, S. 197–208; Jürgen Maehder, Form- und Intervallstrukturen in der Partitur des „Parsifal“, Programmheft der Bayreuther Festspiele 1991, S. 1–24; Stefan Kunze, Szenische Vision und musikalische Struktur in Wagners Musikdrama, in: ders., De Musica, Tutzing 1998, S. 441–452. 81 Carolyn Abbate, Erik’s Dream and Tannhäuser’s Journey, in: Arthur Groos/Roger Parker (Hrsg.), Reading Opera, Princeton 1988, S. 129–167; dies., Unsung Voices. Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton 1991; Sebastian Urmoneit, „Tristan und Isolde“ – Eros und Thanatos. Zur „dichterischen Deutung“ der Harmonik von Richard Wagners ,Handlung‘ „Tristan und Isolde“, Sinzig 2005. 82 Carl Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, Regensburg 1971, 2 Mün­chen/Kassel 1990, vor allem das Kapitel „Musikalische Prosa“, S. 60–87; Hermann Danuser, Musikalische Prosa, Regensburg 1975; Thomas S. Grey, Wagner’s musical prose. Texts and contents, Cambridge 1995. 83 Richard Benz, Zeitstrukturen in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, Frankfurt/ Bern 1994. 84 Alfred Lorenz, Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner, 4 Bde., Berlin 1924–1933, Reprint Tutzing 1966. 85 Carl Dahlhaus, Wagners Begriff der dichterisch-musikalischen Periode, in: Walter Salmen (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Regensburg 1965, S. 179–194.

Wagner-Forschung versus Verdi-Forschung  |

86 Carl Dahlhaus, Formprinzipien in Wagners Ring des Nibelungen, in: Heinz Becker (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Oper, Regensburg 1969, S. 95–130. 87 Rudolf Stephan, Gibt es ein Geheimnis der Form bei Richard Wagner?, in: Carl Dahlhaus (Hrsg.), Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regenburg 1970, S. 9–16. 88 Carl Dahlhaus, Wagners Kunst des Übergangs: Der Zwiegesang in „Tristan und Isolde“, in: G. Schuhmacher, Zur musikalischen Analyse, Darmstadt 1974, S. 475–86; Manfred Hermann Schmid, Musik als Abbild. Studien zum Werk von Weber, Schumann und Wagner, Tutzing 1981; Klaus Ebbeke, Richard Wagners „Kunst des Übergangs“. Zur zweiten Szene des zweiten Aktes von „Tristan und Isolde“, insbesondere zu den Takten 634–1116, in: Josef Kuckertz/Helga de la Motte-Haber/Christian Martin Schmidt/Wilhelm Seidel (Hrsg.), Neue Musik und Tradition. Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag, Laaber 1990, S. 259–270; Christian Thorau, Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners, Stuttgart 2003. 89 Jürgen Maehder, Form- und Intervallstrukturen in der Partitur des „Parsifal“, Pro­ gramm­heft der Bayreuther Festspiele 1991, S. 1–24; ders., A Mantle of Sound for the Night. 90 Vgl. Maehder, Studien zur Sprachvertonung in Wagners „Ring des Nibelungen“; ders., Studi sul rapporto testo‑musica nell’„Anello del Nibelungo“ di Richard Wagner. 91 Vgl. Maehder, Struttura linguistica e struttura musicale nella „Walkiria“ di Richard Wagner, Programmheft des Teatro alla Scala, Milano 1994, S. 90–112. 92 Stefan Kunze, Über Melodiebegriff und musikalischen Bau in Wagners Musikdrama, dargestellt an Beispielen aus „Holländer“ und „Ring“, in: Carl Dahlhaus (Hrsg.), Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regensburg 1970, S. 111–144. 93 Vgl. Maehder, Klangzauber und Satztechnik. Zur Klangfarbendisposition in den Opern Carl Maria v. Webers, in: Friedhelm Krummacher/Heinrich W. Schwab (Hrsg.), Weber – Jenseits des „Frei­schütz“, Kassel 1989, S. 14–40. 94 Vgl. Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes; ders., „Lohengrin“ di Richard Wagner – Dall’opera romantica a soggetto fiabesco alla fantasmagoria dei timbri, Programmheft Teatro Regio, Torino 2001, S. 9–37. 95 Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Berlin 1923, Reprint Hildesheim 1968; zusammenfassend: Hermann Danuser, Tristanakkord, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, „Sachteil“, Bd. 9, Kassel/Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 832–844. 96 Vgl. Maehder, Harmonische Ambivalenz und Klangfarbenkontinuum – Anmerkungen zur „Tristan“-Partitur, Programmheft der Bayerischen Staatsoper München 1980, S. 70–79; Heinrich Poos, Die „Tristan“-Hieroglyphe. Ein allegoretischer Versuch, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hrsg.), Richard Wagners „Tristan und Isolde“, München 1987, S. 46–103; Sebastian Urmoneit, „Tristan und Isolde“ – Eros und Thanatos. Zur „dichterischen Deutung“ der Harmonik von Richard Wagners ,Handlung‘ „Tristan und Isolde“, Sinzig 2005. 97 Eduard Hanslick, Musikkritiken, Leipzig 1972, S. 200. 98 Carl Dahlhaus, Ausdrucksprinzip und Orchesterpolyphonie in Schönbergs „Erwartung“, in: ders., Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik, Mainz 1978, S. 189–194; Elmar Budde, Arnold Schönbergs Monodram „Erwartung“ – Versuch einer Analyse der ersten Szene, AfMW 36/1979, S. 1–20.

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|  Jürgen Maehder

  99 Diskussionsbemerkung zum Aufsatz: Zur Geschichte der Leitmotivtechnik bei Wagner von Carl Dahlhaus, in: Carl Dahlhaus (Hrsg.), Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regens­burg 1970, S. 40. 100 Vgl. Maehder, Intellektualisierung des Musiktheaters – Selbstreflexion der Oper, in: Neue Zeitschrift für Musik 140/1979, S. 342–349; Harald Szeemann, Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau/Frankfurt 1983; Sven Friedrich, Das auratische Kunstwerk. Zur Ästhetik von Richard Wagners Musiktheater-Utopie, Tübingen 1996; Richard Klein, Wagners plurale Moderne. Eine Konstruktion von Unvereinbarkeiten, in: Claus-Steffen Mahnkopf (Hrsg.), Richard Wagner. Konstrukteur der Moderne, Stuttgart 1999, S. 185–225; Peter Machauer, Die Genealogie der synthetischen Werkidee. Zur Kulturgeschichte des Gesamtkunstwerks von der Renaissance bis zur Romantik, Diss. Ruhr-Universität Bochum 2009. 101 Dietrich Steinbeck, Inszenierungsformen des „Tannhäuser“ (1845–1904). Untersuchungen zur Systematik der Opernregie, Regensburg 1964; Michael Petzet/Detta Petzet, Die Richard-Wagner-Bühne König Ludwigs II., München 1970; Viola Schmid, Studien zu Wieland Wagners Regiekonzeption und zu seiner Regiepraxis, Diss. München 1973; Dietrich Mack, Der Bayreuther Inszenierungsstil, München 1976; Dietrich Mack (Hrsg.), Theaterarbeit an Wagners „Ring“, München/Zürich 1978; Carl Friedrich Baumann, Bühnentechnik im Festspielhaus Bayreuth, München 1980; Jean-Jacques Nattiez, Tétralogies. Wagner, Boulez, Chéreau, Paris 1983; Martina Srocke, Richard Wagner als Regisseur, München/Salzburg 1988; Brigitte Heldt, Richard Wagner, „Tristan und Isolde“. Das Werk und seine Inszenierung, Laaber 1994; Evan Baker, Richard Wagner and His Search for the Ideal Theatrical Space; Stephan Mösch, Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit. „Parsifal“ in Bayreuth 1882–1933, Kassel/Stutt­gart/Weimar 2009. 102 Adolphe Appia, Die Musik und die Inscenierung, München 1899; eine Gesamtausgabe der Werke Adolphe Appias erscheint seit 1983: Adolphe Appia, Œuvres com­ plètes, hrsg. von Marie Louise Bablet-Hahn, Lausanne 1983ff. 103 Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus, Berlin/New York 1973; David C. Large/ Wil­liam Weber (Hrsg.), Wagnerism in European Culture and Politics, Ithaca/London 1984; Erwin Koppen, Wagner und die Folgen. Der Wagnerismus – Begriff und Phänomen, in: Ulrich Müller/Peter Wapnewski (Hrsg.), Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S. 609–624; Heinz Gockel u.a. (Hrsg.), Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, Frankfurt 1993. 104 Léon Guichard, La Musique et les lettres en France au temps du Wagnérisme, Paris 1963; Carolyn Abbate, „Tristan“ in the composition of „Pelléas“, 19th-Century Music 5/1981, S. 117–141; Martine Kahane/Nicole Wild (Hrsg.), Wagner et la France, Paris 1983; Wolfgang Storch (Hrsg.), Die Symbolisten und Richard Wagner, Berlin 1991; Steven Huebner, Massenet and Wagner: Bridling the influence, in: Cambridge Opera Journal 5/1993, S. 223–238; Manuela Schwartz, Der Wagnérisme und die französische Oper des Fin de siècle. Untersuchungen zu Vincent d’Indys „Fervaal“, Köln 1998; Anne­gret Fauser/Manuela Schwartz (Hrsg.), Von Wagner zum Wag­né­ris­me. Musik – Literatur – Kunst – Politik, Leipzig 1999; Marie-Hélène Benoit-Otis, Ernest Chausson, „Le Roi Arthus“ et l‘opéra wagnérien en France, Bern/Frankfurt/New York 2012. 105 Adriana Guarnieri Corazzol, Tristano, mio Tristano. Gli scrittori italiani e il caso Wagner, Bologna 1988; Maehder, Szenische Imagination und Stoffwahl in der italienischen Oper des Fin de siècle; ders., Timbri poetici e tecniche d‘orchestrazione – Influssi formativi

Wagner-Forschung versus Verdi-Forschung  |

sul­l ’or­chestra­zione del primo Leoncavallo, in: Jürgen Maehder/Lorenza Guiot (Hrsg.), Letteratura, musica e teatro al tempo di Ruggero Leon­cavallo, Milano 1995, S. 141–165; ders., Formen des Wagnerismus in der italienischen Oper des Fin de siècle, in: Annegret Fauser/Manuela Schwartz (Hrsg.), Von Wagner zum Wag­né­ris­me. Musik – Literatur – Kunst – Politik, Leipzig 1999, S. 449–485; ders., Le strutture drammatico-musicali del dramma wagneriano e alcuni fenomeni del wagnerismo italiano, in: Maurizio Padoan (Hrsg.), Affetti musicali. Studi in onore di Sergio Martinotti, Milano 2005, S. 199–217; Adriana Guarnieri Corazzol, Musica e letteratura in Italia tra Ottocento e Novecento, Milano 2000. 106 Bernice Glatzer-Rosenthal, Wagner and Wagnerian Ideas in Russia, in: David C. Large/William Weber (Hrsg.), Wagnerism in European Culture and Politics, Ithaca/ London 1984, S. 198–245; Rosamund Bartlett, Wagner and Russia, Cambridge 1995; Lucinde Braun, Studien zur russischen Oper im späten 19. Jahrhundert, Mainz etc. 1999. 107 Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus, Berlin/New York 1973; James NorthcodeBade, Die Wagner-Mythen im Frühwerk Thomas Manns, Bonn 1975; Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann und Wagner. Zur Funktion des Leitmotivs in „Der Ring des Nibelungen“ und „Buddenbrooks“, in: Steven Paul Scher (Hrsg.), Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin 1984, S. 326–347; Hermann Fähnrich, Thomas Manns episches Musizieren im Sinne Richard Wagners. Parodie und Konkurrenz, hrsg. von Maria Hülle-Keeding, Frankfurt 1986; Timothy Martin, Joyce and Wagner. A Study of Influence, Cambridge 1991; Heinz Gockel u.a. (Hrsg.), Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, Frankfurt 1993; Thomas Klugkist, Glühende Konstruktion. Thomas Manns „Tristan“ und das „Dreigestirn“: Schopenhauer, Nietzsche und Wagner, Würzburg 1995. 108 Hartmut Zelinsky, Richard Wagner – ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungs­ge­schichte Richard Wagners 1876–1976, Berlin/Wien 1983; Barry Millington, Nuremberg Trial: Is there Anti-Semitism in „Die Meistersinger“?, in: Cambridge Opera Journal 3/1991, S. 247–260; Paul Lawrence Rose, Wagner: Race and Revolution, New Haven/London 1992; vgl. dazu: Hans Rudolf Vaget, Wagner, Anti-Semitism and Mr. Rose: „Merkwürd’ger Fall!“, in: The German Quaterly 66/1993, S. 222–236; Marc A. Weiner, Wagner and the Anti-Semitic Imagination, Lincoln 1995. 109 Hans Rudolf Vaget, Musik in München. Kontext und Vorgeschichte des „Protests der Richard-Wagner-Stadt München“ gegen Thomas Mann, in: Eckhard Heftrich/Thomas Sprecher (Hrsg.), Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 7, Frankfurt 1993, S. 41–69; ders., Sixtus Beckmesser – A „Jew in the Brambles“?, in: Opera Quarterly 12/1995, S. 35–45; Lydia Goehr, The Quest for Voice. On Music, Politics and the Limits of Philosophy, Berkeley 1998; dies., Wehvolles Erbe. Zur „Metapolitik“ der „Meistersinger von Nürnberg“, in: Musik & Ästhetik 6/2002, S. 23–39. 110 Claus-Steffen Mahnkopf, Wagners Kompositionstechnik, in: ders. (Hrsg.), Richard Wagner. Konstrukteur der Moderne, Stuttgart 1999, S. 159–182, das Zitat auf S. 159. Es scheint nicht überflüssig zu erwähnen, dass der genannte Sammelband seinem selbstgesetzten Anspruch, diesem Übelstand abzuhelfen, keineswegs gewachsen ist!

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Thomas Seedorf

Heldentenor und Tenore di forza Zu den prägenden Erfahrungen des jungen Richard Wagner gehörte die Begegnung mit Filippo Sassaroli. Wie Girolamo Crescentini und Giovanni Battista Velluti zählte Sassaroli zu den letzten Sängerkastraten, denen es noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelang, ein großes Publikum für sich einzunehmen, obwohl die Zeichen für das Ende der Kastratenära und einen fundamentalen Wandel der Opernästhetik nicht zu übersehen waren. Dieser Wandel vollzog sich allerdings langsam und ohne eklatante Brüche.1 Die Partien der Helden  – mythologische oder historische Figuren der Antike, aber auch Gestalten aus Werken der jüngeren Literaturgeschichte wie Tassos Gerusalemme liberata oder Ariostos Orlando furioso – waren seit dem 17. Jahrhundert Domäne der Kastraten, wurden aber seit dem Übergang ins 19. Jahrhundert zunehmend von anderen Sängertypen übernommen. Gleichsam im „Schatten der Kastraten“2 etablierte sich zum einen der contralto musico, repräsentiert durch Sängerinnen wie die Altistinnen Adelaide Malanotte oder Rosmunda Pisaroni, die sich in ihrem Gesang hinsichtlich Lage und Timbre unverkennbar am Vorbild der Kastraten orientierten und in Rossini-Partien wie Tancredi oder Arsace (in Semiramide) Triumphe feierten.3 Neben den Vertreterinnen des contralto musico übernahmen zum anderen Tenöre wie Andrea Nozzari oder Giovanni David heroische Rollen wie Pirro oder Oreste (in Rossinis Ermione), Sänger, die ihre Stimmen durch die perfekte Anbindung des Falsetts an ihre tenorale Bruststimme in extreme Höhen führen konnten, sich damit klanglich in die Nähe zu den weiblichen Altstimmen begaben und ihrerseits, zumindest mit einem Teil ihrer Stimme, dem Klangideal der Kastraten nacheiferten.4 Sassaroli war seit 1802 in Dresden engagiert und hatte u.a. als Tancredi die Gunst des dortigen Publikums erobert. Neben seinen Auftritten in der Oper und noch viele Jahre nach seinem Abschied von der Bühne wirkte er als Solist der katholischen Hofkirchenmusik. In diesem Rahmen kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem seit 1817 in Dresden wirkenden Carl Maria von Weber, der für Sassaroli die anspruchsvollen Sopransoli in seinen beiden Messen samt zugehörigen Offertorien komponierte und den Sänger als Menschen und Künstler „hochschätzte, liebte und beklagte“, obwohl er dem „feindlichen Heerlager“5 – der Partei der italienischen Musiker am Dresdner Hoftheater – zugehörte. Im krassen Widerspruch zur vielfach dokumentierten Wertschätzung, die Sassaroli als Sänger und Privatperson in der Dresdner Gesellschaft entgegengebracht wurde, steht Wagners Darstellung des Kastraten, den er in seinen

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|  Thomas Seedorf

Lebenserinnerungen als eine Angst und Schrecken verbreitende Erscheinung schildert: „Der italienische Sopransänger, ein ungeheurer, rundbäuchiger Koloß, entsetzte mich durch seine hohe Weiberstimme, seine erstaunliche Volubilität im Sprechen und sein kreischendes stets bereites Lachen. Trotz seiner großen Gutmütigkeit und Beliebtheit namentlich auch in meiner Familie, war dieser Mensch mir gespenstisch widerwärtig; italienisch sprechen und singen hören, erschien mir als das Teufelswerk dieser Spukmaschine [...].“6 Die Verachtung der Kastraten und der durch sie repräsentierten Gesangsund Opernästhetik, die, wenn man dieser Darstellung traut, ihren biographischen Ursprung in der Kindheitsbegegnung mit Sassaroli hat, begegnet auch in etlichen anderen Äußerungen Wagners. Sie hinderte ihn allerdings nicht, Wilhelmine Schröder-Devrients Darstellung des Romeo in Vincenzo Bellinis I Capuleti e i Montecchi, einer der bekanntesten contralto musico-Partien überhaupt, überschwänglich zu preisen.7 Die Partie des Adriano, die die SchröderDevrient in der Dresdner Uraufführung des Rienzi verkörperte und deren Konzeption von ihrer gesanglichen Darstellungskunst offenkundig mitgeprägt wurde,8 steht noch in dieser für die italienische Oper so typischen Tradition, von der sich Wagner allerdings ab dem Fliegenden Holländer ebenso nachdrücklich distanzierte wie von der hinter ihr stehenden Opernästhetik insgesamt. Als Verdi Ende der 1830er Jahre die Welt der italienischen Oper betrat, gab es zwar keine Sängerkastraten auf der Bühne mehr, die Tradition des contralto musico aber war noch lebendig. Im Vorfeld der Komposition des Ernani wurde Verdi von der Direktion des Teatro La Fenice die beim venezianischen Publikum überaus beliebte Altistin Carolina Vietti als Darstellerin der Titelpartie nahegelegt.9 Obwohl er sich als „nemico giurato di far cantare una donna vestita da uomo“10 zunächst vehement dagegen verwahrte, ließ Verdi sich kurzfristig doch auf diesen Vorschlag ein, um die Realisierung des Opernprojekts nicht zu gefährden. Schließlich fand sich in Carlo Guasco aber ein renommierter (und von Verdi als Oronte in I Lombardi alla prima crociata erprobter) Tenor, der bereit war, die Partie zu übernehmen. Eine „donna vestita da uomo“ akzeptierte Verdi nur in Sonderfällen. Den Narren in seiner nie vollendeten Shakespeare-Oper Il re Lear, eine Rolle, für die es in der italienischen Oper keine Besetzungskonvention gab, konnte er sich im Zusammenhang mit Überlegungen zur Konzeption des Werks durchaus als Alt-Partie vorstellen;11 Oscar in Un ballo in maschera, die einzige Hosenrolle in den Opern Verdis, steht im Kontext einer jüngeren Tradition, der Besetzung von Pagen- und Dienerfiguren mit Sängerinnen, die in den 1830er Jahren einen „neuen Aufschwung“ erlebte und ganz andere historische Wurzeln hat als der contralto musico.12 Vor dem Hintergrund einer von den Idealen des romantischen Realismus Victor Hugos geprägten Opernästhetik,

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der nicht nur Ernani verpflichtet ist, war es für Verdi aber undenkbar geworden, eine tragische Heldenfigur von einer „als Mann verkleideten Frau“ darstellen zu lassen. Anspruchsvolle Tenorpartien hatte Verdi zwar bereits in seinen vorangegangenen Opern komponiert  – Riccardo in Oberto, conte di San Bonifacio, Ismaele in Nabucco, Oronte in den Lombardi sowie Edoardo di Sanval im Melodramma giocoso Un giorno di regno –, doch stand der Tenor in keinem Werk so im Mittelpunkt der Handlung wie in Ernani, keine seiner bisherigen Opern forderte den Tenorprotagonisten stimmdarstellerisch so sehr wie die Titelrolle dieser Oper, „the very first truly Verdian tenor“.13 Und obwohl Guasco, ein Sänger, der vor allem als Protagonist der Opern Bellinis und Donizettis große Erfolge erzielt hatte,14 sich letztlich von den Anforderungen der Partie überfordert fühlte und in der Uraufführung, nach einer drastisch zugespitzten Bemerkung Verdis, „senza voce“15 agierte, wurde Ernani zu einem durchschlagenden Erfolg. Erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der die zunehmende Spezialisierung der Stimmfächer eine terminologische Differenzierung notwendig werden ließ, bildete sich die bis heute übliche Unterscheidung ­zwischen lyrischen und dramatischen Stimmen heraus.16 In der italienischen Tradition stand der tenore di grazia (auch tenore lirico oder leggiero) dem tenore di forza (auch tenore robusto oder eroico) gegenüber, im deutschen Sprachraum der lyrische Tenor dem Heldentenor.17 Für Wagner wie für Verdi war es seit den frühen 1840er Jahren klar, dass für die Besetzung der von ihnen konzipierten romantischen Heldenpartien nur Tenöre eines neueren Typus in Betracht kämen, Sänger, die sich in mehrfacher Hinsicht signifikant vom älteren Tenortypus unterschieden. Den lyrischen Tenor, wie er auf deutschen Opernbühnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschte, charakterisierte Wagner im Rückblick – wie stets bei ihm aus einer radikal subjektiven Perspektive – als ein durch den schädlichen Einfluss der italienischen Gesangstradition geprägtes defizitäres Wesen: „Der italienische Gesang war aber vom ganzen Geiste der italienischen Musik eingegeben; diesem entsprachen zur Zeit ihrer Blüte am vollkommensten die Kastraten, weil der Geist dieser Musik nur auf sinnliches Wohlgefühl, ohne alle eigentliche Seelenleidenschaft, gerichtet war,  – wie denn auch die männliche Jünglingsstimme, der Tenor, zu jener Zeit fast gar nicht, oder wie es später der Fall war, im falsettierenden kastratenhaften Sinne verwendet wurde.“18 Bei aller polemischen Zuspitzung und Verzerrung trifft Wagner den historischen Sachverhalt im Kern recht genau. Der ältere Tenortypus, der nur allmählich aus dem Schatten der Kastraten heraustrat, teilte mit diesen Sängern

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eine wesentliche Klangeigenschaft: Aus der bruchlosen Verbindung des Brustregisters mit dem Falsett ergab sich ein weicher Grundklang, der insbesondere in der hohen Lage zur Geltung kam, jenem Bereich, in dem der Tenor sich in der Tonlage einer Altstimme bewegt.19 Das effeminierte Timbre der Tenöre als Relikt einer Gesangsästhetik, die durch die von ihm verabscheuten Kastraten geprägt war, stand für Wagner im krassen Widerspruch zu seinem Ideal einer Heldenstimme. Der deutsche Durchschnittstenor um die Jahrhundertmitte erschien ihm „nicht anders als unmännlich, weichlich und vollkommen energielos“20 und damit vollkommen ungeeignet für die Darstellung von Heldenpartien, wie er sie imaginierte. Wagners Urteil fiel wohl auch deshalb so scharf aus, weil er einen Sänger kennengelernt hatte, der die Ausnahme von der Regel bildete und seine Vorstellungen von einer idealen Heldenstimme maßgeblich prägte: Joseph Tichatschek.21 Wagner begegnete dem Sänger im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zur Uraufführung des Rienzi in Dresden. Tichatschek war seit 1838 am dortigen Hoftheater engagiert und hatte sich binnen kurzer Zeit ein weit über Dresden hinausreichendes Renommee als außergewöhnlich vielseitiger Sänger erworben. Zeitgenössische Berichte über Tichatscheks Gesang stimmen in einigen zentralen Aussagen überein: Seine Stimme sei „von echtem männlichem Tenorklange“22 gewesen, außerdem habe der Sänger über „Ausdauer und Kraft“23 verfügt – Eigenschaften, die für die Titelpartie des Rienzi unabdingbar sind. Es war vor allem Tichatscheks Verdienst, dass diese Oper zu jenem Sensationserfolg wurde, der die entscheidende Wende in Wagners Leben brachte. Die Titelpartie des Tannhäuser entwarf Wagner gleichsam mit Tichatscheks Stimme im inneren Ohr. Einige für Rienzi typische Züge wie vehement deklamatorische Partien in hoher Lage, die der Sänger bravourös meisterte, finden sich auch im Tannhäuser (insbesondere in der „Romerzählung“ des 3. Aufzugs), auch die Gesamttessitura der Titelpartie entspricht jener im Rienzi, so dass es kaum verwundert, dass Wagner die Leistung des Tenors „als absolut musikalischer Sänger“24 ausdrücklich lobte. Mit den avantgardistischen Seiten der Partie – Tannhäusers innere Zerrissenheit und sein Pendeln zwischen ekstatischer Sinnlichkeit und tiefer Zerknirschung – hatte Tischatschek allerdings als Darsteller erhebliche Probleme, und sängerisch kapitulierte er vor den – von Tenören bis heute gefürchteten – „Erbarm dich mein“-Ausbrüchen im Finale des 2. Aufzugs. Wagner war Opernpragmatiker genug, um die Partie durch einige Veränderungen zu vereinfachen,25 zugleich aber hat er in privaten Zeugnissen, insbesondere aber in seiner an die Öffentlichkeit gerichteten Schrift Über die Aufführung des „Tannhäuser“ Tichatscheks vermeintliches Versagen beklagt.26 Allen Vorbehalten zum Trotz hat Wagner den Ausnahmerang des Sängers stets anerkannt und seine stimmlich-künstlerische Physiognomie auch bei der Konzeption der Titelpartie des Lohengrin mitgedacht.27 Wagners Flucht nach

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der gescheiterten Revolution von 1849 und die Distanz, auf die das Dresdner Hoftheater für einige Jahre zu den Werken seines steckbrieflich gesuchten ehemaligen Hofkapellmeisters ging, verhinderten, dass Tichatschek nach Rienzi und Tannhäuser auch den Lohengrin aus der Taufe hob. Er hat die Rolle aber später in sein Repertoire aufgenommen und Wagner, der ihn 1867 darin hörte, zu dem öffentlichen Bekenntnis veranlasst, Tichatschek habe die Partie in jenem „Stimmtone vorgetragen [...], den man, sobald man eben Dich gehört, als einzig meiner musikalischen Intention entsprechend erkennen müsse.“28 Verdi hatte sich bei der Komposition des Ernani zwar bemüht, die stimmdarstellerischen Möglichkeiten Carlo Guascos zu berücksichtigen, die zeitgenössischen Rezensionen zeigen jedoch, dass Guasco den dramatischen Zügen seiner Partie manches schuldig geblieben ist. Während ihm die lyrischen Momente sehr eindrucksvoll gelangen, fehlten ihm für die „con forza“ zu singenden Stellen die notwendige Klangenergie und Durchschlagskraft.29 Nach den Kategorien seiner Zeit war Guasco ein tenore di grazia und vertrat damit einen Tenortypus, für den Verdi in den Anfangsjahren seiner Karriere überwiegend komponierte.30 Erst bei der Arbeit an Alzira, seiner achten Oper, die Verdi 1845 für Neapel schrieb, kam es zur Zusammenarbeit mit einem tenore di forza modernen Typs: Gaetano Fraschini.31 Geboren 1816 in Pavia und ausgebildet in seiner Vaterstadt, war Fraschini seit 1840 am Teatro San Carlo in Neapel engagiert, sang aber mit großem Erfolg auch an anderen großen Opernhäusern Italiens und Europas. Fraschini wurde zu Verdis bevorzugtem Tenor, für keinen anderen Vertreter dieses Fachs schrieb der Komponist mehr Partien: Zamoro in Alzira (1845), Corrado in Il corsaro (1848), Arrigo in La battaglia di Legnano (1849), die Titelpartie in Stiffelio (1850) sowie Riccardo in Un ballo in maschera (1859). Vor der ersten Zusammenarbeit mit dem Komponisten hatte Fraschini bereits den Ernani gesungen – 1844 in Venedig am Teatro San Benedetto – und begeisterte Zustimmung für seine Darstellung dieser Figur gefunden.32 Fraschinis Stimme verfügte über ein dramatisches Potential, das auch jene eruptiven Seiten der Partie zur Geltung brachte, die der Uraufführungsinterpret Guasco mehr angedeutet als ausgefüllt hatte. Auch in etlichen anderen Tenorpartien Verdis – darunter der Duca in Rigoletto, Manrico in Il trovatore, Arrigo in I vespri siciliani und Alvaro in der Erstfassung von La forza del destino – galt Fraschini bis zu seinem Abschied von der Bühne im Jahr 1873 als Besetzung ersten Ranges.33 Berühmt wurde Fraschini aber zunächst als Edgardo in Donizettis Lucia di Lammermoor. Die Verfluchung Lucias im Finale des 2. Akts („Maledetto sia l’instante / che di te mi rese amante“ etc.) mit dem immer wieder exponierten und „con forza“ zu singenden hohen a wusste Fraschini stimmlich und darstellerisch so überzeugend zu gestalten, dass er den Beinamen „tenore della male-

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dizione“ erhielt.34 Eine der präzisesten Beschreibungen seines Singens findet sich in einem Artikel über seinen Auftritt in dieser Rolle in London, der 1847 zunächst in Musical World erschien und dann in italienischer Übersetzung von der einflussreichen Gazetta musicale di Milano nachgedruckt wurde: „La sua voce è quella d’un tenore di forza, di grande potenza nelle corde alte, di grande sensibilità, e in generale di qualità notabile. Ei canta sempre di petto, e sale fine al si bemolle con prodigiosa facilità. È perfettamente padrone della sua voce; mai non lascia apparire lo sforzo, e i passi energici sono da lui resi con sorprendente effetto. La stile suo ha alcun che d’essenzialmente maschio, talvolto guasto dall’esagerizione, quasi sempre puro e semplice. [...] Fraseggia bene, pronuncia distintemente e non manca mai di rigore nel pezzi d’assieme, vantaggio che i nostri grandi tenori troppo rado possedono.“35 Alle wesentlichen Stichworte sind hier auf engem Raum versammelt: Fraschini wird als „tenore di forza“ charakterisiert, der seine Bruststimme bis in die hohe Lage zu führen und dabei eine hohe Klangenergie zu entfalten vermag. Hinzu kommt eine stimmliche Ausdauer, die es Fraschini ermöglicht, auch in Ensemblesätzen mit voller Kraft zu singen. Kraft, Ausdauer und Timbre verdichten sich in den zeitgenössischen Darstellungen sowohl Fraschinis wie Tichatscheks zu Charakteristika eines Singens, das als dezidiert männlich („maschio“) verstanden wurde. Dieser „new sound of masculinity“36 war Teil eines zumal in den vorrevolutionären 1840er Jahren aufblühenden vielschichtigen Diskurses über ein neues Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit.37 Mit Rienzi trat Wagner der tradierten „Meinung, als ob die Tenorstimme ausschließlich nur dem Charakter der Liebhaber entspreche“, mit Nachdruck entgegen, seine Titelfigur „sollte im vollem Sinne des Wortes ein Held sein“,38 ein Mann, dessen Heldentum sich in heroischem Handeln offenbart. Wie Masaniello in Aubers La Muette di Portici, einer Oper, die eines der Modellwerke für Wagner gewesen sein dürfte, vollbringt Rienzi seine Taten nicht aus Liebe zu einer Frau, sondern aus einem politisch begründeten Impuls heraus. Doch während der Aufstand, den Masaniello anführt, eine Reaktion auf die Ent- und Verführung seiner Schwester Fenella darstellt, im Kern also einer privaten Kränkung entspringt, lässt Wagner seinen Rienzi als „hochbegeisterter Schwärmer“39 auftreten, der den Kampf gegen die Nobili aus idealistischen Motiven führt. Wagners Rienzi ist ein „messianischer Held“,40 in dessen Leben sich kein Platz für eine Liebesbeziehung findet, da er sich ausschließlich seinem Auftrag verpflichtet fühlt. Eine Oper ohne zentrales Liebespaar aus Sopran und Tenor war innerhalb der Konventionen der italienischen Oper um die Mitte des 19. Jahrhunderts kaum vorstellbar. Verdis einzige „opera senza amore“, das Melodramma Macbeth, blieb ein singuläres Experiment. In zeitlicher Nähe zu Wagner, doch voll-

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kommen unabhängig von ihm, interessierte sich auch Verdi im Vorfeld des Ernani für die Geschichte des römischen Volkstribunen Cola da Rienzo, die er, wie sein deutscher Zeitgenosse, über Edward Bulwer Lyttons Roman Rienzi, the last of the Roman tribunes kennengelernt hatte. 1848, in der Hochphase der weite Teile Europas erfassenden revolutionären Stimmung, kam er noch auf einmal auf dieses Sujet zurück, konnte aber den Librettisten Salvadore Cammarano nicht dafür gewinnen. Stattdessen entschieden sich Komponist und Textdichter für einen anderen Stoff aus dem italienischen Mythenarsenal, die Geschichte des Siegs der Lombardischen Liga über Friedrich Barbarossa in der Schlacht bei Legnano im Jahr 1176. Zwar beruht auch La battaglia di Legnano dramaturgisch auf der üblichen spannungsvollen Beziehung zwischen Sopran, Tenor und Bariton, dem „ewigen Dreieck“,41 doch ist die Liebesbeziehung zwischen Lida und Arrigo mit Beginn der Handlung eine bereits gescheiterte und vergangene. Durch eine Intrige geschürte Eifersucht treibt Lidas Gatten Rolando dazu, den vermeintlichen Nebenbuhler einzusperren, um seine Teilnahme an der alles entscheidenden Schlacht gegen Barbarossa zu verhindern und ihn, Mitglied der einem rigiden Ehrbegriff verpflichteten Cavalieri della morte, der Schande auszusetzen, als Feigling und Vaterlandsverräter zu gelten. Rolandos Wüten gegen seinen alten Freund ist allerdings unbegründet, da Lida und Arrigo ihrer alten Liebe abgeschworen haben. Arrigo springt vom hohen Balkon seines Gefängnisses und es gelingt ihm, sich zu den Truppen durchzuschlagen und maßgeblich zum triumphalen Sieg über den Feind beizutragen. Preis für sein heroisches Verhalten ist eine tödliche Wunde. Arrigo stirbt, von seinen Landsleuten als Held des Vaterlands bewundert und beklagt. Arrigos Sprung vom Balkon ist szenische Manifestation seiner heldenhaftpatriotischen Haltung, die Verdi musikalisch durch den emphatischen Ausruf „Viva Italia!“ auf einem lang gehaltenen hohen a herausstellt. Dieser Ton klang bei Fraschini „wie ein mit einem Hammer aus purem Silber angeschlagenes großes Silberbecken“42 – im dramatischen Kontext der Battaglia di Legnano ist er prägnanter stimmlicher Ausdruck eines Helden, der sich für den Kampf und gegen private Interessen entscheidet. Rienzi blieb die einzige Heldenfigur bei Wagner, deren heroische Taten nicht in Konflikt mit der Beziehung zu einer Frau geraten; keiner der anderen Tenorhelden Verdis stellt die Pflicht so nachdrücklich über die Liebe wie Arrigo. Tannhäuser ist geradezu das Gegenteil von Rienzi, ein Mann, der zwischen zwei Extremen des Weiblichen, der Hure und der Heiligen, hin und her gerissen ist; Lohengrins Liebe zu Elsa scheitert an mangelndem Vertrauen; Siegmund, Inbegriff eines kämpfenden Helden, der zugleich leidenschaftlich Liebender ist, muss sterben, weil Wotan, sein Vater, im Machtkampf mit Fricka,

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der Hüterin der Ehe, unterliegt; Siegfried, der sich, gefangen in einer Intrige, mit gleich zwei Frauen verbindet, geht unter, weil er durch den Besitz des Rings Alberichs Fluch verfallen ist; Tristan, dessen Heldentaten mit Aufgehen des Vorhangs Vergangenheit sind, erlebt mit und in Isolde die Identität von Liebe und Tod; Parsifal schließlich wird erst durch den Kuss Kundrys „welthellsichtig“. Viele der Helden Verdis gehen unter, weil die Liebe zu einer Frau sie in einen tödlichen Zwiespalt treibt. Manrico ist zwar auch politischer Gegner des Conte di Luna, vor allem aber ist er der Geliebte Leonoras und damit Rivale des Grafen. Riccardo betrügt seinen besten Freund Renato, sein Entschluss, die Liebesbeziehung zu Amelia zu beenden, kommt zu spät; Don Alvaro wird durch die „Macht des Schicksals“ von seiner Geliebten Leonora getrennt und sucht den Untergang im Krieg; Radames und Aida sterben gemeinsam, da ihre Liebesbeziehung im Leben nicht zu verwirklichen ist; Otello schließlich erlebt den größten Fall aller Helden Verdis, den Absturz vom strahlenden Feldherrn, der seine Frau innigst liebt, zum seelischen Krüppel, der aus Eifersucht mordet. Nach Meinung seines Biographen Moritz Fürstenau glänzte Tichatschek „überall, wo er in kräftigen Grundstrichen den wuthentbrannten Helden oder in ätherischem Duft den zartesten Liebeszauber vorführt.“43 Der Sänger verfügte über die stimmlichen Mittel, beide Extreme überzeugend darzustellen, er war Held „im vollen Sinne des Wortes“ und Liebhaber zugleich. Wagners Tenorhelden von Tannhäuser bis Parsifal bewegen sich zwischen diesen Polen und es war der „besondere Tenorklang Tichatscheks“, der Wagner „für alle Zeiten maßgebend“ blieb.44 Auch Fraschini war ein Sänger, der die Extreme darzustellen vermochte. Als Rodolfo in Verdis Luisa Miller habe er bei einer Aufführung in Triest einerseits mit seinen lauten Tönen die Wände des Zuschauerraums vibrieren lassen, die Zuhörer andererseits durch feinste Schattierungen seines Gesangs gerührt.45 Es ist kein Zufall, dass Verdi dem Sänger mehr Ur- und Erstaufführungen seiner Werke anvertraut hat als jedem anderen Tenor.

Anmerkungen 1 Vgl. Anke Charton, Prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme: Geschlechterbilder in der Oper, Leipzig 2012 (Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung 4), S. 206ff. („Das Ende der opera seria“). 2 Ebd., S. 213. 3 Vgl. Marco Beghelli, Il ruolo del musico, in: Donizetti, Napoli, l’Europa. Atti del Convegno [...] Napoli, 11–13 dicembre 1997, hrsg. von Franco C. Greco und Renato de Benedetto, Napoli 2000, S. 323–335; Naomi André, Voicing gender. Castrati, travesti, and the second woman in early-nineteenth-century Italian opera, Bloomington/Indianapolis (IND) 2006.

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  4 Vgl. Arnold Jacobshagen, Tenor oder Musico? Rollenbesetzung und Geschlechtsidentität in der Neapolitanischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts, in: Bühnenklänge. Festschrift für Sieghart Döhring zum 65. Geburtstag, hrsg. von Thomas Betzwieser u.a., München 2005, S. 47–57; Thomas Seedorf, Das Falsett der Tenöre. Zu Klangästhetik und Gesangstechnik von Tenören des frühen 19. Jahrhunderts, in: Der Countertenor. Die männliche Falsettstimme vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. von Corinna Herr, Arnold Jacobshagen und Kai Wessel, Mainz u.a. 2012, S. 155–166.   5 Max Maria von Weber, Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild, Bd. 2, Leipzig 1866, S. 171. Der Autor nennt den Sänger versehentlich Giovanni Sassaroli, wahrscheinlich eine Verwechslung mit dessen Bruder Germano, der als Bassist in Dresden angestellt war.   6 Richard Wagner, Mein Leben. Vollständige, kommentierte Ausgabe, hrsg. von Martin Gregor-Dellin, München 1963, S. 35.   7 Vgl. ebd., S. 89. Zur Partie des Romeo vgl. Heather Hadlock, On the cusp between past and future. The mezzo-soprano Romeo of Bellini’s “I Capuleti”, in: The Opera Quarterly 17/3 (2001), S. 399–342.   8 Vgl. Anno Mungen, „In einer selbstgeschaffenen Manier“. Die Stimme der Wagnersängerin Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860) am Beispiel Adriano in Rienzi, in: Richard Wagner. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, hrsg. von Helmut Loos. Redaktion Katrin Stöck, Beucha-Markkleeberg 2013 (Leipziger Beiträge zur WagnerForschung, Sonderband), S. 323–329, insbesondere S. 328f.   9 Vgl. Julian Budden, The operas of Verdi. I. From Oberto to Rigoletto, New York 1973, S. 143ff. Zur Konzeption der Titelrolle in Ernani als Tenorpartie vgl. Rosa Solinas, Ernani: the tenor in crisis, in: The Cambridge Companion to Verdi, hrsg. von Scott L. Balthazar, Cambridge 2004, S. 185–196, 299f. 10 Brief von Antonio de Val an Guglielmo Brenna vom 24. August 1843, zit. nach: Marcello Conati, La bottega di musica. Verdi e La Fenice, Milano 1983, S. 70. 11 Vgl. Verdis Brief an Antonio Somma vom 22. Mai 1853: „[...] il pazzo, che farei forse contralto [...]“; zit. nach: Re Lear e Ballo in maschera. Lettere di Giuseppe Verdi ad Antonio Somma, hrsg. von Alessandro Pascolato, Città di Castello 1913, S. 49. 12 Kordula Knaus, Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender Casting in der Oper 1600–1800, Stuttgart 2011 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 69), S. 230. 13 Solinas, Ernani, S. 195. 14 Vgl. Giorgio Appolonia, Carlo Guasco. Un tenore per Verdi, Torino 2001. 15 Brief Verdis an Giuseppina Appiani vom 10. März 1844, in: I copialettere di Giuseppe Verdi, hrsg. von Gaetano Cesari und Alessandro Luzio, Milano 1913, S. 425. 16 Vgl. Thomas Seedorf, Art. Stimmengattungen. V. Stimmtypen und Rollenfächer, in: Gesang, hrsg. von dems., Kassel u.a. 2001 (MGG Prisma), S. 101ff. 17 Vgl. Thomas Seedorf, Vom Tenorhelden zum Heldentenor – Wagners Ideal eines neuen Sängertypus’, in: Bericht über den XIII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung vom 16. bis 21. September 2004 am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, hrsg. von Detlef Altenburg unter Mitarbeit von Rainer Bayreuther, Kassel u.a. 2012, Bd. 1, S. 463–472. 18 Richard Wagner, Meine Erinnerungen an Ludwig Schnorr von Carolsfeld († 1865), in: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 8, Leipzig o.J. [1911], S. 188.

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19 Vgl. John Potter, The tenor-castrato connection, 1760–1860, in: Early Music 35 (2006), S. 97–111; ders., Tenor. History of a voice, New Haven/London 2009, Kap. 2: Handel, Mozart and the tenor castrato connection. 20 Richard Wagner, Über die Aufführung des „Tannhäuser“. Eine Mittheilung an die Dirigenten und Darsteller dieser Oper, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 5, Leipzig o.J. [1911], S. 156. 21 Vgl. Einhard Luther, So singe, Held! Biographie eines Stimmfaches. Teil 1: Wagnertenöre der Wagnerzeit 1842–1883, Trossingen/Berlin 1998, S. 21ff. („Urbild des Heldentenors“); Thomas Seedorf, Art. Tichatschek, Joseph (Aloys), in: MGG2 Personenteil, Bd. 16, Kassel u.a. 2006, Sp. 810. Den Ausnahmerang Tichatscheks bestätigt der englische Musikkritiker Henry F. Chorley: „I can recall not one German tenor whom I have heard on stage with much pleasure save Herr Tichatschek, at Dresden [...].“ Thirty years’ musical recollections, hrsg. von Ernest Newman, New York 1972, S. 123. 22 Al. Sincerus, Das Dresdner Hoftheater und seine gegenwärtigen Mitglieder. Historischkritische Aphorismen für Kunstfreunde und Künstler, Zerbst 1852, S. 200f. 23 [Moritz Fürstenau,] Joseph Tichatscheck [!]. Eine biographische Skizze nach handschriftlichen und gedruckten Quellen, Leipzig 1868, S. 37. 24 Brief Wagners an Anton Mitterwurzer vom 28. Februar 1853, in: Richard Wagner. Sämtliche Briefe, hrsg. im Auftrage des Richard-Wagner-Familien-Archivs Bayreuth von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Bd. 5: September 1852–Januar 1854, Leipzig 1993, S. 207. 25 Vgl. Thomas Seedorf, Punktierungen – Transpositionen – Retuschen – Striche. Richard Wagners aufführungspraktischer Pragmatismus, in: Macht Ohnmacht Zufall. Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart, hrsg. von Christa Brüstle, Clemens Risi und Stephanie Schwarz, Berlin 2011 (Recherchen 87), S. 94–107. 26 Vgl. Thomas Seedorf, „Deklamation“ und „Gesangswohllaut“  – Richard Wagner und der „deutsche Bel Canto“, in: „Mit mehr Bewußtsein zu spielen“. Vierzehn Beiträge (nicht nur) über Richard Wagner, hrsg. von Christa Jost, Tutzing 2006 (Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München, 4), S. 181–206. 27 Vgl. Wagners Brief an Tichatschek vom 15. Juni 1867: „Gewiß! Vor zwanzig Jahren hatte ich gerade für Deine mir so vertraut gewordene Stimme diese Partie entworfen und ausgeführt.“ Richard Wagner. Sämtliche Briefe, Bd. 19: Briefe des Jahres 1867, hrsg. von Margret Jestremski, Wiesbaden/Leipzig/Paris 2011, S. 159. 28 Ebd. Das im privaten Ton verfasste Dokument erschien als offener Brief an Tichatschek in mehreren Zeitungen. 29 „Quando Guasco canta a fior di labbra è un vero diletto l’ascoltarlo; ma se dalla mezza voce passa al canto di forza, addio piacere, addio illusione!“ Rezension in der Zeitschrift Figaro vom 4. September 1844, zit. nach Appolonia, Carlo Guasco, S. 172. 30 Weitere Tenöre dieses Typs waren Lorenzo Salvi (Riccardo und Edoardo di Sanval), Nicola Ivanoff (Ernani und Foresto in Attila), Antonio Poggi (Carlo in Giovanna d’Arco), Giacomo Roppa ( Jacopo Foscari in I due Foscari) und Napoleone Moriani (Ernani); vgl. Christian Springer, Verdi und die Interpreten seiner Zeit, Wien 2000.

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31 Vgl. Monica Carletti, Art. Fraschini, Gaetano, in: Dizionario biografico degli Ita­liani, Bd. 50, Roma 1998, S. 307–309; Giorgio Migliavacca, Gaetano Fraschini: il tenore della transizione da Donizetti a Verdi, in: Moderne Sprachen. Organ des Verbandes der Österreichischen Neuphilologen für Moderne Sprachen, Literatur und Pädagogik 44 (2000), S. 207–232. 32 Vgl. Migliavacca, Gaetano Fraschini, S. 215. 33 Vgl. Art. Fraschini, Gaetano, in: Eduardo Rescigno, Dizionario verdiano, Milano 2001, S. 245. 34 Enrico Panofka, Voci e cantanti. Ventotto capitoli di considerazioni generali sulla voce e sull’altare del canto, Florenz 1871 (Reprint ebd. 1984), S. 101. „La forza e la resistenza polmonare del Fraschini erano tali ch’egli poteva nella ‚Maledizione’ della Lucia far precedere il famoso la di petto da una specie di mugolio inarticolato che metteva brividi ad udirlo e che, seguito da quella formidabile nota, produceva un effetto portentoso.“ Gino Monaldi, Cantanti celebri del secolo XIX, Roma 1929 ­(Biblioteca della Nuova Antologia 12), S. 120f. 35 Gazetta musicale di Milano, Domenica 4 Aprile 1847, Anno VI, N. 14, S. 111. 36 Susan Rutherford, „Il grido dell’anima“, or „un modo di sentire“: Verdi, masculinity and the Risorgimento, in: Studi verdiani 19 (2005), S. 107–121: 109. 37 Dieses bislang nur in ersten Ansätzen erforschte Themenfeld gehört zu den Untersuchungsgegenständen des Teilprojekts „Die Stimme des Helden. Vokale Präsentation des Heroischen in der Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, das seit 2012 im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau läuft. 38 Brief Wagners an Joseph Tichatschek vom 6. oder 7. September 1841, in: Richard Wagner. Sämtliche Briefe, hrsg. im Auftrage des Richard-Wagner-Familien-Archivs Bayreuth von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Bd. 1: Briefe der Jahre 1830–1842, Leipzig 1967, S. 507. 39 Ebd. 40 Vgl. Simon Williams, Wagner and the romantic hero, Cambridge 2004, S. 16ff. (zum Typus des „messianic hero“). 41 Uwe Schweikert, ‚Das ewige Dreieck‘ – Sängerhierarchie, Werkbegriff, Gesangs­ästhetik, Stimmtypologie, Personenkonstellation und Rollencharaktere, in: Verdi Handbuch, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, hrsg. von Anselm Gerhard und dems., Stuttgart 2013, S. 140ff. 42 „Il suono della sua gola sembrava quello dato da un gran piatto d’argento percosso da un martello pure di argento“. Monaldi, Cantanti celebri, S. 120. 43 [Fürstenau,] Tichatscheck, S. 38. 44 Richard Wagner als Vortragsmeister 1864–1876. Erinnerungen von Julius Hey, hrsg. von Hans Hey, Leipzig 1911, S. 136. 45 „[Fraschini] strappa applausi sinceri ogni qual volta estrae dal suo petto or le ­robuste note che fan vibrare le pareti della sala, ora i più delicati accenti, che con tanta ­dolcezza ti penetran nell’anima.“ Osservatore triestino, Nr. 232, lunedì 7­ ottobre 1850, S. 946, zit. nach: Giuseppe Verdi. Stiffelio, hrsg. von Kathleen Kuzmick Hansell, Chicago/London/Milano 2003 (The Works of Giuseppe Verdi I/16), S. LVII.

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Wie Verdisänger Wagner und Wagnersänger Verdi singen Mit Wagner in Italien war und ist es nicht so einfach. Als im Dezember 2012 die traditionelle Spielzeiteröffnung an der Mailänder Scala in Szene und Musik gesetzt wurde, gab es deutlichen Protest. Die Leitung des Hauses, vor allem der Musikdirektor Daniel Barenboim, hatte für jene Spielzeit 2012/13, die in ihrem überwiegenden Teil in das Jubiläumsjahr für Verdis und Wagners 200. Geburtstag reicht, nicht Giuseppe Verdi, sondern Richard Wagner mit seinem Lohengrin angesetzt. Dass alle vier Hauptrollen von deutschen Sängern gesungen wurden, spielte vornehmerweise in den Diskussionen offensichtlich keine Rolle, wird aber bemerkt worden sein. Nun wird man sagen können: Wo sollen denn italienische Sänger herzunehmen sein, die man in Lohengrin besetzen kann? Damit sind wir bereits nahe am Kern des Problems, dem sich dieser Essay widmet: Gegenwärtig gibt es keinen italienischen Sänger, keine Sängerin, der oder die sich als Wagnerinterpret(in) international auf dem Markt behaupten kann. Der „letzte Mohikaner“ war Plácido Domingo, kein Italiener, aber so national wollen wir nicht denken, dennoch sicher einer der berühmtesten Verdi-Tenöre aller Zeiten. Domingo sang in aller Welt den Lohengrin, den Parsifal, den Siegmund auf der Bühne (auch in Bayreuth), im Plattenstudio kamen Tannhäuser, Stolzing und Tristan hinzu. Abgesehen davon, dass die sprachliche Behandlung seiner Partien immer mehr oder weniger deutlich kritisiert wurde, gab es ansonsten großes Lob für die „belcantistische“ Prägung seiner Interpretationen. Inzwischen hat sich Domingo jedoch in vorgerücktem Alter Baritonpartien zugewandt wie dem Simon Boccanegra, jedoch keine Wagner-Bariton-Partie (bisher?) gesungen. Nun war es gerade der Lohengrin, mit dem es in Italien mit Wagner so eigentlich begann. Man kann diesen Prozess an seinem Anfang auch exakt datieren: am 1. November 1871 hob sich am Teatro Comunale di Bologna der Vorhang für die erste Wagneraufführung in Italien überhaupt, eben Lohengrin.1 Insofern war die Entscheidung der Scala, 2012 dieses Werk anzusetzen, durchaus mit Geschichtsbewusstsein gepanzert. Der Regisseur namens Ernst Frank war 1871 aus Deutschland importiert, ebenso die Sängerinnen der Elsa und der Ortrud, Bianka Blume und Marie Löwe-Destinn (die spätere Emmy Destinn, um 1900 eine weltberühmte Sopranistin, hatte den Namen ihrer Lehrerin als Künstlernamen angenommen). Der Dirigent war Angelo Mariani, einer der großen Verdi-Dirigenten des Landes, der sich aber auch sehr für

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Wagner interessierte. Die Wagner-Rezeptionsgeschichte in Italien kann hier nicht ausgebreitet werden. In unserem Zusammenhang geht es um die Sänger. Und da ist vor allem der Interpret der Titelrolle von Interesse: Er hieß Italo Campanini, stammte aus Parma und hatte erhebliche Erfolge, später auch in London und New York, etwa als Radames und als Gounods Faust, als Mozarts Don Ottavio und Meyerbeers Raoul (in den Hugenotten). Der Lohengrin war seine erste Wagnerrolle und blieb seine einzige, die er dann auch an der Mailänder Scala 1873 wiederholte, ebenfalls mit durchschlagendem Erfolg. Es sind von Campanini keine Schallplattenaufnahmen erhalten; als dies technisch möglich gewesen wäre, hatte er seine Karriere bereits beendet. Aber wir haben ein gewichtiges Zeugnis, wie gut dieser italienische Tenor gesungen hat (natürlich wurde die Oper in der Landessprache gegeben, wie es bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich war, wie auch umgekehrt Verdi und andere Komponisten in Deutschland lange auf Deutsch gesungen wurden). Hans von Bülow war bei dieser Premiere dabei. Bülow war einer der besten Pianisten seiner Epoche, auf jeden Fall der beste Wagner-Dirigent seiner Zeit, der die Uraufführung von Tristan und Isolde dirigiert hatte, dann aber, aus bekannten, auch privaten Gründen, zu Wagner ein distanzierteres Verhältnis einnahm. 1871 lebte er vorübergehend in Florenz und betätigte sich auch als Musikjournalist. In dieser Funktion war er bei der Bologneser Lohengrin-Premiere dabei und schrieb einen ebenso umfangreichen wie begeisterten Bericht über diese Aufführung (in Form eines fiktiven Gesprächs) für die Zeitschrift Signale für die Musikalische Welt. Nicht genug preisen kann er Campanini (der damals immerhin erst 26 Jahre alt war!): „Am Darsteller des Lohengrin, Herrn Campanini, einem ziemlich grünen Anfänger, wollten die Übrigen anfangs verzweifeln. ‚Lasst mich nur machen‘ entgegnete Mariani, ‚ich bürge dafür, ihn zurecht zu drillen‘. Und der Maestro hat sein Wort gehalten. Campanini singt (‚singt‘ meint nicht etwa nur in Tönen) den ganzen letzten Act in hinreißender Weise. Seine Erzählung vom Gral habe ich nie in annähernder Weise von deutschen Sängern reproduciert gehört, ebenso wenig den Gruß an den rückkehrenden Schwan, den Abschied von Elsa.“2 Und Bülow musste es wissen, denn er war schon bei der Weimarer Uraufführung des Werks dabei und hatte alle wesentlichen Aufführungen seither mitbekommen. Wenn er also behauptete, dass Campanini allen deutschen Kollegen in dieser Rolle überlegen war (wobei ihn die Sprache offensichtlich nicht störte), dann hieß das schon etwas. Wir wissen nicht exakt, was Bülow an Campanini so begeisterte, wir haben aber guten Grund anzunehmen, dass es die Übertragung der italienischen Belcanto-Qualitäten auf diese Rolle war, also vor allem das Legato, auf einer eminenten Atemtechnik basierend, wie sie Grundlage der italienischen Schule ist, das Messa di Voce, also das An- und Abschwellen der Stimme, die Kunst des

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Mezza Voce, also das mit der Halbstimme Singen, und der Einsatz der Voix mixte, also der Mischung aus Kopf- und Brustregister. Seit dieser Zeit gilt der Lohengrin als die italienischste Oper Wagners und ist auch die beliebteste in Italien geblieben, was man allein daran sehen kann, dass die häufigsten italienischen historischen Wagneraufnahmen Ausschnitte aus eben dieser Oper sind, meistens solche der Titelrolle selbst. An zweiter Stelle steht dann der Wolfram des Tannhäuser mit seinem „Abendstern“. Und der Lohengrin der genannten Mailänder Aufführung vom November 2012, der deutsche Tenor Jonas Kaufmann, sagt in einem Interview völlig richtig: „Von der musikalischen Lesart her wird er zu Recht als die italienischste Oper Wagners bezeichnet, selbst Verdi hat das gesagt. Da stecken schon viel Italianitá und Belcanto drin, die durch eine zu starke Heroisierung verloren gehen können.“3 Von Campanini, wie gesagt, gibt es keine Lohengrin-Aufnahmen. Aber wenn wir den berühmtesten Verdi- und Puccini-Tenor der 20er und 30er Jahre, Aureliano Pertile, als Lohengrin hören, dann bekommen wir eine starke Ahnung, wie Campanini zur Freude Bülows geklungen haben muss. Es mag sogar sein, dass Campanini das schönere Timbre hatte (und Wagner war gerade bei dieser Rolle Stimmschönheit eminent wichtig). Pertile besaß nun mal, das ist bekannt, keine besonders klangschöne Stimme, aber was er mit seiner brillanten Technik, seiner Musikalität und seiner Beherrschung aller Kunstmittel der Belcantoschule wie des Mezza Voce und des Legato aus der Gralserzählung macht, das ist in der Tat großartig und durchaus nachahmenswert (auffallend ist das recht schnelle Tempo in seiner Aufnahme aus dem Jahr 1927, weitere Ausschnitte aus dem 3. Akt mit Pertile sind erhalten und sind auf dem gleichen Niveau). Aureliano Pertile galt als der Lieblingstenor Arturo Toscaninis, für den bei seinen Sängern die Musikalität an erster Stelle seiner Forderungen stand. Und dieser italienischste aller Dirigenten ist merkwürdigerweise auch der Dirigent, der in Italien, dann aber auch für gewisse Zeit an der New Yorker Metropolitan Opera, am meisten für Wagner getan hat. Bekannt ist, dass er in Bayreuth Anfang der 30er Jahre herausragende Aufführungen von Tannhäuser, Tristan und Isolde und Parsifal geleitet hat, dann aber wegen der Naziherrschaft in Deutschland und vor allem in Bayreuth nicht wiederkam. Weniger bekannt ist, dass der junge Toscanini 1895 in Turin die erste Götterdämmerung in Italien dirigiert hat, 1897 dann dort den ersten Tristan, dann bereits 1898 die ersten Meistersinger an der Mailänder Scala, und so ging es kontinuierlich weiter. Ein gewisser Abschluss und seine letzte Wagneraufführung auf der Bühne waren die Meistersinger bei den Salzburger Festspielen 1936. Letztere Aufführung ist akustisch arg mangelhaft als Tondokument erhalten, immerhin die einzige komplette Wagneraufführung Toscaninis, die aufgezeichnet wurde. In den USA hat er später nur noch Orchesterstücke und einige konzertante Passagen aufgeführt und aufgenommen.

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Aber nicht um die Dirigenten geht es hier, sondern um die Sänger. Mustert man die verdienstvolle Chronik der Wagneraufführungen an der Scala durch, so kann man sehen, dass die erste Garde der italienischen Sänger immer wieder auch Wagner gesungen hat.4 Es können nur einige Namen genannt werden: Giuseppe Borgatti, um 1900 der führende Siegfried und Tristan Italiens, Antonio Scotti als Hans Sachs, Mafalda Favero als Eva, Aureliano Pertile als Stolzing, Nazzareno de Angelis als Wotan, Amelia Pinto als Brünnhilde, Antonio Melandri als Tannhäuser. Daneben finden sich aber auch noch unbekanntere Namen. Zu den bekannteren gehört auf jeden Fall der Bariton Apollo Granforte, der eine Stimme hatte, die seinem Namen alle Ehre machte, als Scarpia und Jago in- und außerhalb Italiens große Erfolge feierte und von dem wir eine Aufnahme des „Lied an den Abendstern“ aus Tannhäuser haben aus dem Jahr 1928, ein Jahr später also als Pertiles Lohengrin. Wir hören, dass Granforte das Piano und das Mezza Voce genauso beherrscht wie Pertile. Es fällt aber in der Scalastatistik natürlich auch auf, dass immer wieder prominente Wagnersänger aus dem deutschen Sprachraum gastierten, und ganz sicher, wie es damals üblich war, ihre Rollen auf Deutsch in einem ansonsten italienisch singenden Ensemble interpretierten. Das würde heute nicht mehr akzeptiert werden, wurde aber damals durchaus toleriert. Ein sich lange hinziehender Umschwung hin zu deutsch gesungenen Wagner-Aufführungen macht sich erst in den fünfziger Jahren bemerkbar. Die Initialzündung dafür dürfte der prägende Eindruck der zwei Aufführungen des Ring des Nibelungen gewesen sein, die Wilhelm Furtwängler zunächst 1950 an der Scala dirigierte, dann noch einmal 1953 konzertant mit dem Orchester des Italienischen Rundfunks (RAI). In beiden Aufführungen taucht nur einmal in einer Nebenrolle ein italienischer Sänger auf, ansonsten sind es die bewährten Wagnerkämpen des deutschen Sprachraums sowie aus Skandinavien. Die nächste große Sängerpersönlichkeit in der italienischen Wagnerpflege nach Campanini und Pertile ist, das mag überraschen, Maria Callas, die allerdings keine solche Spuren hinterlassen hat wie ihre Tenorkollegen, weil ihre Wagnerphase eine sehr kurze war in einer sowieso leider kurzen Karriere. Es ist eigentlich nur Callas-Fans bekannt, dass sie immerhin drei große Wagnerrollen (auf Italienisch natürlich) auf der Bühne gesungen hat, am Anfang ihrer gewaltigen Laufbahn: vier Vorstellungen von Tristan und Isolde um die Jahreswende 1947/48 am Teatro La Fenice in Venedig, die gleiche Rolle dreimal in Genua im Mai 1948, dann die Brünnhilde in der Walküre wieder in Venedig im Januar 1949, die Kundry im Parsifal Februar/März 1949 an der römischen Oper, ebendort auch fünf Vorstellungen des Tristan im Februar 1950. Es kommen also immerhin zwölf Vorstellungen als Isolde zusammen! Erhalten davon ist leider wenig: der sogenannte „Liebestod“ der Isolde in einer Konzertaufnahme (sie sang ihn in dieser Zeit manchmal bei konzertanten Auftritten als „Arie“) und

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glücklicherweise ein kompletter Parsifal in einer Rundfunkproduktion des Jahres 1950 aus Rom (was gäben wir für eine komplette Isolde oder auch Brünnhilde der Callas ...). Hören wir uns einen Ausschnitt aus der zentralen Szene der Kundry im zweiten Akt an, nachdem Parsifal ihre Annäherung zurückgewiesen hat: „Grausamer. Fühlst Du im Herzen nur Andrer Schmerzen ...“. Und wie nicht anders zu erwarten: Maria Callas verleiht dieser extrem expressionistischen Emphase alle sattsam bekannten Vorzüge ihrer lodernden Ausdruckskunst. Ob es richtig war, dass eine 24-jährige Sopranistin auf die Isolde, Brünnhilde und Kundry losgelassen wurde (wenn auch mit kräftigen Strichen, wie damals üblich) – diese Frage muss unbeantwortet bleiben. Ein letztes Beispiel: Cesare Siepi als Gurnemanz. Siepi war der berühmteste Don Giovanni und König Philipp der fünfziger und sechziger Jahre. In meinen Ohren besaß er die am schönsten timbrierte Bassstimme überhaupt, ein gleichmäßig fließender Wohlklang, der dennoch nie gleichförmig war, der sich einem wie Honigseim in die Ohren träufelt. Das ist für den Gurnemanz von hohem Vorteil. Er hat erst relativ spät sich dieser Rolle genähert, sie nur wenige Male und vor allem sogleich auf Deutsch gesungen. Ein Mitschnitt der Met von 1971 hat sich erhalten. Siepi war damals mit Ende 40 auf dem Höhepunkt seines Könnens, sein Deutsch ist erstaunlich gut (er hat sonst keine Opernrolle in dieser Sprache gesungen), und ich wage zu behaupten, dass dies neben dem deutschen Bassisten Franz Crass der beste Gurnemanz ist, den man je zu hören bekam. Halten wir fest: Verdisänger waren und sind durchaus in der Lage, Wagner kompetent, stimmschön, technisch perfekt zu singen. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Beispiele, die das belegen. Die Fähigkeiten im Legato, im Mezza voce, im Messa di voce, in der Voix mixte liegen oft über denen der entsprechenden deutsch geschulten Sänger. Richard Wagner selbst, der der Meinung war (obwohl der italienischen Oper gegenüber eher negativ eingestellt), dass der Gesangswohlklang der italienischen Schule bei der Ausbildung deutscher Sänger nicht aufgeopfert werden dürfe (dazu später noch etwas Näheres), wäre erfreut gewesen, hätte er diese Beispiele hören können. Natürlich wäre er mit italienisch gesungenen Aufführungen verständlicherweise nicht einverstanden gewesen. Und hier liegt auch der Grund für die Unbekanntheit der italienischen Wagnerinterpreten der Vergangenheit heute: Sie sangen mit der Ausnahme von Siepi und Domingo (bei Letzterem mit sprachlich zweifelhaftem Ergebnis) Wagner auf Italienisch und begrenzten damit die Wirkung ihrer Leistungen ganz entscheidend. Dennoch sollte sich jeder, der sich für das Thema Wagnergesang interessiert, solche Trouvaillen nicht entgehen lassen – manchmal kommt man doch ins Staunen und Grübeln. Können Wagnersänger Verdi singen? Die Frage will ich zunächst einmal mit „Ja“ beantworten, und dieses „Ja“ ist nicht nur ein Wunschtraum ohne Bezie-

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hung zur Realität. Der historische Abriss wird aber auch zeigen, dass diese Möglichkeit zur Bejahung gegen manche Widerstände entstanden ist, dass die Bedingungen dafür, dass deutsche oder in der deutschen Gesangsschulung aufgewachsene Sänger und Sängerinnen, deren Schwerpunkt im Wagnergesang lag und liegt, Verdi adäquat singen konnten, immer wieder hinderlich und hemmend waren, und wenn wir eindrucksvolle Beispiele für den deutschen Verdi-Gesang haben, dann haben wir sie oft eher gegen die Rahmenbedingungen als mit ihnen. Zunächst muss ganz fragmentarisch und stichwortartig geklärt werden, was ein guter Verdisänger ist und welche Forderungen Verdi selbst an seine Sänger stellte. Da dies nicht mein eigentliches Thema ist, muss diese Erörterung in eigentlich unzulässiger Verknappung erfolgen. Folgt man heutigen marktschreierischen Bekundungen der Musikindustrie, aber auch manchen Missverständnissen beim Publikum, dann hat man den Eindruck, dass ein Verdisänger vor allem Folgendes können muss: Er muss eine (ob Sopran oder Tenor) metallische Stimme von enormer Durchschlagskraft haben, als Bassist und Altistin muss er eine entsprechend voluminöses Organ haben, eine „Röhre“, wie man so sagt, er muss Chor, Orchester und auch Mitsänger an den dramatischen Höhepunkten an die Wand singen können und er muss genug Atem haben, um hohe Töne möglichst lange aushalten zu können. Ich übertreibe etwas, gewiss, aber nur leicht. Jeder weiß oder sollte wissen, dass dies mit der Realität angemessenen Verdi-Gesangs wenig zu tun hat. In einem bekannten Brief an den römischen Senator Giuseppe Piroli vom Februar 1871 präzisierte Verdi seine Vorschläge für die Gesangsausbildung an den italienischen Konservatorien: „Für einen Sänger ist unbedingt nötig: ausgebreitete Kenntnis der Musik; Übungen zur Stimmemission; sehr ausgedehnte Gesangsübungen, wie es früher üblich war; Stimm- und Sprachübungen mit klarer und perfekter Aussprache. Dann, ohne dass ein Lehrer irgendwelche Gekünsteltheiten des Gesangs ihm beibringt, ist es notwendig, dass ein junger Gesangsschüler, musikalisch gut ausgebildet und mit einer zugleich geübten und biegsamen Stimme, nur von seinem eigenen Gefühl geleitet singt. Das wäre dann vielleicht kein schulmäßiger Gesang, aber ein inspirierter. Der Künstler wäre eine Individualität, er wäre er selbst, oder noch besser: er wäre in der Oper jene Person, die er zu verkörpern hat.“5 Aus allem, was Verdi zum Thema Sänger schreibt, geht hervor, dass ihm ein auf bloße glanzvolle Wirkung hin getrimmter Schönklang nicht genügte. So sehr er, wie wir hörten, die Tugenden der alten Schule in der Ausbildung gewahrt sehen wollte, so sehr plädierte er doch auch für den individuellen, inspirierten und das hieß bei ihm immer auf die Realisierung der „parola scenica“, des zum Wort-Ton-Ausdruck geronnenen Dramas geeigneten Gesangsstils. Als Verdi 1875 Wien besuchte und dort auch eigene Werke dirigierte, wurde er in der Neuen Freien Presse interviewt. Seine

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Äußerungen über die deutschen Sänger zeigen, dass er in ihnen Fehler noch verstärkt sah, die er schon an vielen italienischen Sängern rügte: „An Stimmen fehlt es gewiss nicht in Deutschland, sie sind beinahe klangvoller als die italienischen, die Sänger aber betrachten den Gesang als eine Gymnastik, befassen sich wenig mit der Ausbildung der Stimme und trachten nur, in der kürzesten Zeit ein großes Repertoire zu erhalten. Sie geben sich keine Mühe, eine schöne Schattierung in den Gesang zu bringen, ihr ganzes Bestreben ist dahin gerichtet, diese oder jene Note mit großer Kraft hervorzustoßen. Daher ist ihr Gesang kein poetischer Ausdruck der Seele, sondern ein physischer Kampf ihres Körpers.“6 Gänzlich unaktuell kommt uns diese Diagnose nicht vor. Natürlich tadelte Verdi hier etwas, was er auch in Italien tadelte, aber er war nicht nach den italienischen Sängern gefragt worden, sondern nach den deutschen, und hier fielen ihm Schwächen und Probleme auf, die eine verstärkte und verschlimmerte Version dessen darstellte, was ihm schon in Italien missfiel, auch wenn er in seiner Heimat doch immer wieder Sänger fand (für seine strenge Beurteilung zu selten), die seinen Idealvorstellungen nahekamen. Dass dies in Deutschland und Österreich nicht so war, lag unter anderem an dem Antipoden Verdis, an Richard Wagner. Schon die von Verdi gerügte Dominanz der Klangstärke bei den deutschen Sängern, anders gesagt, die Tendenz zum lauten Singen (vom amerikanischen Verdi-Bariton Robert Merrill einmal in die satirische Formulierung gefasst: „If in doubt, sing loud“), deutet auf eine unheilvolle Entwicklung des deutschen Operngesangs von Weber über Marschner zu Wagner. Nun ist es keineswegs so, dass man Wagner in den Fragen der Gesangskunst und Technik zum absoluten Widersacher Verdis stempeln kann. Es ist bei genauer Betrachtung festzustellen, dass sein Verhältnis zur Gesangskunst insgesamt von mangelnder Einsicht in technische Voraussetzungen geprägt war, sein Verhältnis zur italienischen Schule von schwankenden Beurteilungen. Es ist eine bedenkenswerte Koinzidenz, dass Wagner nur wenige Jahre vor Verdi ebenfalls Vorstellungen zur Reform der musikalischen Ausbildung entwickelt. 1865 legt er dem bayerischen König ein Memorandum zur Errichtung einer deutschen Musikschule in München vor. Unter anderem stellt er dort die Schwierigkeiten einer deutschen Gesangsschule dar, die vor allem in den Eigenheiten der deutschen Sprache begründet seien. Die direkte Übernahme der italienischen Belcanto-Schulung für den deutschen Gesang sei daher nicht möglich. Im Unterschied zum italienischen Vokalismus sei für die deutsche Oper der energisch sprechende Akzent besonders wichtig, der vor allem für den dramatischen Vortrag sich anbiete. Allerdings würde das nur zu einem guten Ergebnis führen, wenn, so Wagner wörtlich, „der Gesangswohlklang der italienischen Schule in seiner Bildung nicht aufgeopfert wird.“7 Und er legt folgerichtig großen Wert darauf, dass im Lehrplan der deutschen Musikschule, die natürlich vor allem der Ausbildung für die Interpretation sei-

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ner eigenen Werke dienen sollte, die Beschäftigung mit dem Belcanto eine wichtige Rolle spielt. Man wird feststellen können, dass diese Vorstellung von der Vereinigung des italienischen Belcanto mit dem deutschen „Sprachgesang“, wie ihn Wagner zunächst nannte (der Terminus „Sprechgesang“ stammt nicht von Wagner), leider ein kaum erreichtes Idealbild blieb, und dass vor allem in der deutschen Wagner-Tradition, die durch Bayreuth geprägt wurde, eine fatale einseitige Bevorzugung des Sprachgesangs unter Vernachlässigung der Belcanto-Prinzipien vorherrschend wurde.8 Da half es auch nichts, dass der bedeutendste Gesanglehrer, den Deutschland im 19. Jahrhundert hatte, Julius Hey, in seinem einflussreichen dreibändigen Werk Deutscher GesangsUnterricht (1884) ausdrücklich betonte: „Es gibt eben, wie wir gesehen haben, keine der italienischen Schule zugehörige Gesangsdisciplin, kein Gebiet der stimm-technischen Virtuosität, welche der „deutsche Gesangsunterricht“ nicht ebenso erschöpfend durchzuführen hätte.“9 Es fällt bei den wenigen deutschen Verdi-Aufnahmen vor 1914 jedenfalls auf, dass diejenigen dramatischen Stimmen, die im deutschen Wagnergesang erfolgreich waren, dann, wenn sie Verdi sangen, eben jenen negativen deutschen Stil pflegten, den Verdi 1875 in Wien getadelt hatte: ein muskulöses Singen mit großem Kraftaufwand, starke Betonung der Konsonanten unter Vernachlässigung des Vokalismus, die zu jenem berüchtigten „Bell-Canto“ führt, der im englischsprachigen Raum auch „The Bayreuth Bark“ genannt wird, und daraus entstehend eine stark auffallende Unfähigkeit, Legato und Linie im sängerischen Ablauf zu gestalten. Nimmt man sich hingegen jene deutschen Sänger vor, die nicht in Bayreuth sangen, sondern in Wien oder New York ihre Erfolge feierten und neben Verdi eher für Meyerbeer- als für Wagner-Interpretation standen, dann hört man durchaus positive und auch heute noch beeindruckende Beispiele. Zu nennen sind hier die Tenöre Leo Slezak und der Münchner Tenor Heinrich Knote. Slezak war einer der be­­ rühmtesten Otello-Sänger nach Francesco Tamagno, dem Otello der Uraufführung, und von Knote hieß es, dass er auf Grund seiner Stimmkraft und seines Stilgefühls etwa als Manrico es durchaus mit Caruso aufnehmen könne. Insgesamt wird man feststellen können, dass der deutsche Verdi-Gesang der Jahrhundertwende mit wenigen Ausnahmen dem negativen Bild entsprach, das Verdi 1875 in Wien gewonnen hatte. Die Werke Verdis waren im deutschen Repertoire nur partiell verankert, am leichtesten hatten es die Werke der mittleren Erfolgsperiode, die aber gleichzeitig auch als Beispiel für die typisch italienische „Leierkasten-Musik“, geschrieben von einem „Unterhaltungskomponisten“ und „Dudelmusikanten“ abgewertet wurden. Dem deutschen Publikum gefielen Rigoletto, Trovatore und Traviata durchaus, aber die Kritiker impften ihm dabei ein schlechtes Gewissen ein. Eduard Hanslick in Wien, der scharfzüngige und intelligente Wagner-Gegner, gehörte zu jenen

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kritischen Geistern, die zunächst an Verdi nicht viel Gutes fanden. Es ist allerdings geradezu rührend zu sehen, dass der alte Hanslick die späteren Werke Verdis mit immer größerer Hochachtung betrachtete, ohne zu einem wirklichen tiefen Verständnis vorzustoßen. Wenn es hochrangige Verdi-Aufführungen in Wien, München, Berlin gab, dann waren es oft Aufführungen, die mit italienischen Gästen stattfanden. Vergessen wir nicht, dass ja auch Enrico Caruso vor 1914 mehrfach in Deutschland gastierte und dem deutschen Publikum eine Ahnung vermittelte, was dramatischer Verdi-Gesang bedeuten konnte. Verdi war in Deutschland bis 1914 ein weitgehend missverstandener und vernachlässigter, wenn auch keineswegs unbekannter Komponist, den man von deutschtümelnder, chauvinistischer Seite auch verantwortlich machte für die „Spottgeburt“ des Verismo, den man als geschmacklos und vulgär ­verdammte: Verdi als Papa der Veristen mit ihren Ehebruchs- und Mord­ geschichten unter sizilianischer Sonne, wie es hieß (was in Wagners Ring so vorging, hatte offensichtlich mit Ehebruch und Mord nichts zu tun). Es ist wichtig zu betonen, dass der niedrige Stand der deutschen Verdi-Interpretation auch mit solchen atmosphärischen und auch politischen Umständen zu tun hat. Der Erste Weltkrieg mit seinem italienischen „Treubruch“ war nicht geeignet, hier eine Wandlung herbeizuführen. In den zwanziger Jahren jedoch änderte sich das Bild durch jenen Prozess, der sich Verdi-Renaissance nannte und in dessen Folge sich auch die Qualität des deutschen Verdi-Gesangs entscheidend änderte, sicher nicht überall und auf allen Ebenen, aber es ist doch auffallend, dass die zwanziger und dreißiger Jahre eine Fülle hervorragender Aufnahmen hinterlassen haben, die ein Niveau zeigen, dass heutzutage nicht immer erreicht wird. Diese deutsche Verdi-Renaissance ist vor allem mit den Namen des Schriftstellers Franz Werfel und mit dem des Dirigenten Fritz Busch verbunden. Franz Werfel hatte einen „Roman der Oper“ Verdi verfasst, der 1924 erschien und ein großer Erfolg wurde, dem er zwei Jahre später eine deutsche Ausgabe der Briefe Verdis zur Seite stellte, die erste Ausgabe von Verdi-Briefen überhaupt in deutscher Sprache. Werfel war ein Melomane reinsten Wassers. Es ist oft beschrieben worden, dass er, mit einer hübschen Tenorstimme gesegnet, in Lokalen zu vorgerückter Stunde die Menschen mit Verdi-Arien unterhielt, von denen er ein großes Repertoire hatte. Werfel schien auch der geeignete Mann dafür, das Problem der deutschen VerdiÜbersetzungen einigermaßen zu lindern. Natürlich wurde Verdi, wie schon erwähnt und wie umgekehrt Wagner in Italien, an den großen deutschen Bühnen auf Deutsch gesungen, bis weit in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein, und wir müssen uns nicht über das erhebliche Handicap unterhalten, das diese Tatsache für einen deutschen Verdi-Gesangsstil bildete. Wenn ich sagte, dass es in den zwanziger und dreißiger Jahren ganz hervorragende deutsche Verdi-Aufnahmen gibt, dann sind diese Aufnahmen umso höher zu

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bewerten, als sie trotz dieses Handicaps zu solcher Qualitätshöhe emporgestiegen sind. Werfel erarbeitete zwischen 1925 und 1932 in freier Nachdichtung drei Verdi-Übersetzungen neu: La forza del destino, Simon Boccanegra und Don Carlos. Werfels Version von La forza del destino – Die Macht des Schicksals hatte an der Dresdener Staatsoper im März 1926 Premiere. Die Beteiligten waren der musikalische Kern der deutschen Verdi-Renaissance, die von diesem Datum ihren Ausgang nahm. Der Dirigent war der Dresdener Generalmusikdirektor Fritz Busch, in den Hauptrollen sangen der Tenor Tino Pattiera, die Sopranistin Meta Seinemeyer und der Bariton Robert Burg. Fritz Busch erzählt in seinen Erinnerungen, dass Arturo Toscanini zu einer Aufführung nach Dresden kam und dem Kollegen beglückwünschend sagte, dass diese Oper in Italien immer ein Misserfolg gewesen sei, und auf ihr das „malocchio“ (der böse Blick als Fluch) liege. Busch behauptet, dass in diesem Moment der Theaterdiener hereingekommen sei, um mitzuteilen, dass die Aufführung nicht stattfinden könne, weil Meta Seinemeyer krank sei und deshalb eine Oper von Richard Strauss gespielt werden müsse  – malocchio! Jedenfalls wurde Die Macht des Schicksals, bis dahin in Deutschland nahezu unbekannt, ein Renner auf deutschen Opernbühnen. In der Spielzeit 1926/27 wurde sie an 22 Bühnen in der Fassung Werfels gespielt. Der Dresdener Verdi-Stil wurde zur Ikone der deutschen Verdi-Pflege und Fritz Busch zum führenden deutschen Verdi-Dirigenten, bis ihn die Nazis von seinem Posten vertrieben. Busch dirigierte in den vierziger Jahren öfter an der Metropolitan Opera. Es gibt einige erhaltene Mitschnitte von Verdi-Aufführungen, etwa ein Otello von 1948 mit Ramon Vinay und Leonard Warren, die zeigen, dass Fritz Busch in der Tat einer der ganz großen Verdi-Dirigenten dieses Jahrhunderts war. Im Gefolge der Forza wurden auch andere bis dahin unbekannte Verdi-Opern in Deutschland entdeckt: Luisa Miller, I masnadieri, Macbeth. Regisseure wie Carl Ebert, Dirigenten wie neben Busch auch Clemens Krauss und Karl Böhm und vor allem Sänger wie Helge Rosvaenge, Heinrich Schlusnus, Richard Tauber, Tino Pattiera, Elisabeth Rethberg, Meta Seinemeyer, Ivar Andresen, Margarete Teschemacher und Marcel Wittrisch trugen diese Verdi-Renaissance, die allerdings nach der Installierung des Nazi-Regimes 1933 bzw. 1938 in Österreich nur noch eingeschränkt weiterlaufen konnte, weil Franz Werfel (als „Jude“ stigmatisiert) auf der schwarzen Liste stand, und Fritz Busch ebenfalls Deutschland bald verließ. In der Zeit, als Clemens Krauss musikalischer Chef der Wiener Oper war, gab es jedoch auch dort noch glänzende Verdi-Aufführungen, wie Live-Mitschnitte noch heute beweisen. Allerdings ist auch eine starke Auseinanderentwicklung zwischen den verschiedenen Zweigen des dramatischen Gesangs festzustellen. Waren um die Jahrhundertwende die berühmten Wagnersänger auch noch Verdisänger gewesen (so war der erste Siegmund in Bayreuth, Albert Niemann, auch ein renommierter Radames), so

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entwickelte sich jetzt eine zunehmende Spezialisierung: hie Wagner – dort Verdi, die aber immer wieder von großen Persönlichkeiten durchbrochen wurde. Frida Leider, die berühmteste Isolde und Brünnhilde der dreißiger Jahre, hat in ihren Memoiren ausdrücklich darauf bestanden, den italienischen Belcanto auf ihre Wagner-Interpretationen anzuwenden (und ihre wunderbaren Aufnahmen zeigen, dass ihr das gelungen ist): „Es war mein höchstes Streben, diesen Gesangsstil auf die Interpretation meiner Wagner-Partien zu übertragen, ein Ziel, das mich nach Jahren härtester Arbeit zum Welterfolg führen sollte.“10 Es ist leider zu konstatieren, dass der deutsche Verdi-Gesang, die deutsche Verdi-Pflege überhaupt, diese Höhe, die er in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren hatte, kaum noch erreicht hat. Das ist zunächst, wie manches andere, eine Folge der zunehmenden Einschnürung durch das „Dritte Reich“. Der bedeutendste Verdi-Dirigent seiner Zeit, Fritz Busch, wurde, wie erwähnt, aus Deutschland hinausgeekelt, obwohl er weder aus sogenannten rassischen Gründen hätte gehen müssen, wie Bruno Walter, noch ein angeblicher Vertreter der „entarteten“ Moderne war, wie Otto Klemperer (der dazu noch „rassisch“ untragbar war). Der einzige Dirigent, der ihm in dieser Qualität wohl hätte gleichkommen können, Clemens Krauss, wollte seine Erfolge lieber mit Wagner und Strauss feiern. Unter den Sängern der Verdi-Renaissance sah es nicht besser aus. Meta Seinemeyer starb in jungen Jahren, Tino Pattiera war seinem Erfolg nicht gewachsen und verlor früh seine stimmlichen Qualitäten, Richard Tauber und der Bassist Alexander Kipnis durften, weil von jüdischer Abstammung, nicht mehr in Deutschland auftreten, Elisabeth Rethberg war schon seit Mitte der zwanziger Jahre mehr an der Met als in ihrem Heimathafen, dem Dresdener Opernhaus, tätig gewesen. Natürlich blieb auch nach 1933 das italienische Repertoire in Deutschland lebendig und wurde durch die faschistische Achse durchaus gestärkt. Für die deutschen Sänger an den großen Bühnen wirkte sich aber die verstärkte kulturelle Zusammenarbeit zwischen Italien und Deutschland eher negativ aus, denn es wurde zum Usus, aus repräsentativem Anlass italienische Operngastspiele an den großen deutschen Bühnen abzuhalten, die natürlich mit den italienischen Starsängern der Zeit bestückt waren. Dirigenten wie Victor de Sabata und Gino Marinuzzi, Sänger wie Aureliano Pertile, Beniamino Gigli und Dusolina Giannini wurden so in Deutschland bekannt, Gigli durch einige Kinofilme sogar sehr populär, aber die deutschen Kollegen mussten dabei in die zweite Reihe treten und hatten nach Kriegsbeginn erst recht keine Möglichkeit, sich international zu präsentieren oder vom internationalen Verdi-Standard zu profitieren. So ist auf den deutschen Verdi-Aufnahmen der vierziger Jahre wiederum eine Verengung deutlich zu spüren. Der deutsche Verdi-Gesang wird wieder teutonischer, tendiert wieder stärker zum wagnerianisch gefärbten Sprachgesang mit knallen-

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den Konsonanten, die zwar eine erstaunliche Wortdeutlichkeit des Textes mit sich bringen (die auch durch eine sehr sängerfreundliche Aufnahmetechnik befördert wird), aber wiederum einen starken Verlust des Legatos und der Belcanto-Prinzipien mit sich bringen. Es ist hier nicht möglich, dies im Einzelnen nachzuweisen, aber es ist ganz eindeutig: Der Verdi-Stil des „Dritten Reiches“ trägt die Brandmale seiner Entstehungszeit, zumindest was die Sänger betrifft. Man kann sogar an Sängern, die vor 1933 beachtenswerte Beispiele aufnahmen, beobachten, dass sie später in die alten Untugenden des deutschen Verdi-Stils der Jahrhundertwende zurückfallen. Dieses negative Bild setzt sich im Großen und Ganzen (durchaus mit bemerkenswerten Ausnahmen) noch lange nach Kriegsende fort, was ganz natürlich ist, denn es dauerte lange, bis die deutschen Opernbühnen sich den internationalen Standards wieder öffneten. Im Wagner-Gesang hatte es im „Dritten Reich“ unbestreitbar hervorragende Leistungen gegeben; das war ja auch eine Haupt- und Staatsaufgabe gewesen, und bedeutende Wagner-Sänger wurden auf Händen getragen. Das Verdi-Repertoire stand demgegenüber deutlich in der zweiten, wenn nicht dritten Reihe, und nun sang man um und nach 1950 eben Verdi so weiter, wie man es im „Dritten Reich“ gelernt und getan hatte. Wenn ich behaupte, dass sich an dieser Feststellung, dass nämlich der deutsche Verdi-Gesang bis heute nicht mehr an das Niveau der zwanziger Jahre anknüpfen konnte, nicht wirklich Entscheidendes geändert hat, dann heißt das nicht, dass an deutschen Bühnen Verdi noch immer gesungen wird, wie 1939 oder 1951, keineswegs. Spitzen wir das auf Wagnersänger zu, soweit sie auch Verdi singen (und das sind nicht sehr viele, auch international gesehen), dann stellen wir allerdings seit einiger Zeit eine deutliche Verbesserung fest. Inzwischen sind in bestimmten Rollen sowohl bei Verdi wie bei Wagner Interpreten auf den Plan getreten, die den Hiatus zwischen den beiden angeblich so unterschiedlichen Gesangskulturen zu überbrücken in der Lage sind. Jonas Kaufmann ist als Lohengrin und Parsifal und Siegmund doch ebenso überzeugend wie als Don Carlos und demnächst Manrico (daneben auch als Don José und als Werther), Anja Harteros brilliert als Elsa wie als Verdis Elisabetta und René Pape als König Philipp wie als Marke, König Heinrich und Wotan (im Detail wäre dies und jenes zu diskutieren), und andere sind hinzugekommen. In der vorhergehenden Generation hatten es deutsche Sänger im Verdifach noch erheblich schwerer: der Bariton Franz Grundheber konnte beispielsweise als Simon Boccanegra es mit allen italienischen Rollenvertretern aufnehmen, hatte aber kaum Gelegenheit, dies auf den großen Bühnen der Welt unter Beweis zu stellen. Aber nehmen wir als Beispiele klingende Zeugnisse, die nicht so aktuell und so bekannt sind. Da wäre zunächst der aus Hermühlheim bei Köln gebür-

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tige Josef Metternich, von seinen Fans auch „Schmetternich“ genannt, ein Mann von auffallend kleiner Statur, aber mit einer enorm kraftvollen Stimme. Er ist bis heute der einzige deutsche Bariton, der es geschafft hat, an der Met für einige Saisons in den fünfziger Jahren auch als Verdi-Bariton zu reüssieren. Dies tat er auch in Deutschland, dort auf Deutsch, während er in New York natürlich damals schon Italienisch singen musste. Ansonsten war er ein berühmter Holländer, Mandryka. Zur gleichen Zeit bewies in den USA eine amerikanische Sopranistin, dass man, wenn man es denn konnte, Wagner mit der gleichen Überzeugungskraft singen konnte wie Verdi. Dies war Eileen Farrell, ein Unikum unter den hochdramatischen Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts, da sie selten auf der Bühne stand. Sie hielt ihre äußere Erscheinung für nicht sehr „bühnogen“, hatte auch keine Lust auf wochenlange Bühnenproben, war aber im Studio und konzertant sehr erfolgreich. Sie besaß nicht nur eine der voluminösesten Sopranstimmen, die aufgezeichnet wurden, sondern damit verbunden auch eine enorm schön timbrierte Stimme und eine unschlagbare Technik. Man höre sie zunächst als Wagnersängerin, als Brünnhilde im letzten Siegfried-Akt mit ihrem Erwachen „Heil dir, Sonne“, und sodann als großartige Verdi-Interpretin in der Rolle der Amelia in Simon Boccanegra. Es wäre albern und chauvinistisch, eine „Vorherrschaft“ deutscher oder deutsch geschulter oder auch vor allem Wagnersänger bei Verdi zu fordern. Die hat es nie gegeben und wird es wohl auch nicht geben. Man kann feststellen, dass die Mehrzahl der Sänger und Sängerinnen, die gegenwärtig den „stark nachgefragten“ Wagner-Markt unter sich aufteilen, selten oder nie Verdi singen. Die genannten Namen sind die Ausnahmen. Dennoch darf man wünschen, dass noch mehr Sänger, als es jetzt der Fall ist, an die großen Beispiele der Vergangenheit anknüpfen. Man wird bedauernd feststellen können, dass sich der Verdi-Gesang zwar auf einem ordentlichen Niveau eingependelt hat, aber auch auf eine bedenkliche Weise standardisiert und normiert wirkt, und vor allem: Die wirklich überragenden Interpreten sind selten – aber das trifft, cum grano salis, auch auf den Wagnergesang zu. Man hört heute die großen Verdi-Partien überall auf der Welt annähernd gleich, soweit die stimmlichen und technischen Mittel annähend vergleichbar sind. Der Verdi-Gesang ist heute keineswegs so problematisch wie der Wagner-Gesang (gibt es zur Zeit einen Tristan-Interpreten, der diese Rolle auch nur annähernd auf dem Niveau von Melchior, Suthaus oder Vickers realisiert?), aber er ist „streamlined“, er ist stromlinienförmig auf eine Weise, die zur mittleren Einebnung führen kann (und daran sind auch die Ganz-Großverdiener keineswegs unschuldig). Wo ist beispielsweise ein Otello von der Statur eines Ramon Vinay, eines Mario del Monaco (an beiden kann man dies und jenes kritisieren), geschweige denn von der des größten Otello überhaupt, von Jon Vickers?

Wie Verdisänger Wagner und Wagnersänger Verdi singen  |

Vickers war nicht nur Wagnersänger, aber er war viele Jahre als Siegmund und vor allem als Tristan das Maß aller Dinge, in zweiter Linie als Parsifal, während er andere Wagnerrollen nie gesungen hat (Stolzing, Tannhäuser, Lohengrin, Siegfried). Außerdem ist das Schubladendenken nach wie vor stark ausgeprägt, was dann doch angesichts der vielbeschworenen Globalisierung verwundert. Wir sahen, dass deutsche Dirigenten wie Fritz Busch und Clemens Krauss auch international mit Verdi reüssieren konnten, auch Bruno Walter hat viel Verdi dirigiert und dies sehr überzeugend. Gibt es heute einen deutschen Dirigenten, der international mit Verdi reüssieren kann? Nein. Und das kann nicht an den Fähigkeiten liegen, sondern an den Schubladen, denen sich aber auch Interpreten gelegentlich selbst bereitwillig zuordnen, weil sie für sich wenig Chancen sehen, aus diesen Rastern auszubrechen. Genauso ist es mit den deutschen Sängern. Einige können mit den internationalen Stars in nicht-deutschen Opern durchaus konkurrieren, haben aber immer noch zu wenig Gelegenheit, dies auch zu beweisen. Andere behaupten, sie könnten konkurrieren, und beklagen, dass sie nicht mit den entsprechenden Rollen beauftragt werden. Fritz Wunderlich, eine Jahrhundertbegabung im deutschen lyrischen Fach, näherte sich am Ende seines kurzen Lebens auch dem Verdi-Bereich. Ein Mitschnitt einer Münchner La traviata aus dem Jahr 1965, ein Jahr vor seinem Tod, beweist, dass er auch darin eine ganz große Karriere vor sich gehabt hätte. Wunderlich war (noch) kein genuiner Wagnersänger, wie er (noch) kein genuiner Verdisänger war, aber er hätte ohne Zweifel nur wenige Jahre später als Lohengrin und als Stolzing alles übertroffen, was wir in diesen Rollen kennen, so wie er auch ein überragender Herzog im Rigoletto und Don Carlos geworden wäre. Wieland Wagner sah das damals ebenfalls vor sich und versuchte, Wunderlich nach Bayreuth zu locken, allerdings zunächst mit der Rolle des David in den Meistersingern, auf die Wunderlich keine Lust hatte. Natürlich ist dies in Wunderlichs einziger auf der Bühne gesungenen Verdirolle, ein eher deutscher Alfredo, ein klarer, kerniger Ton, eine eher deutsche Aussprache des Italienischen, und der Stimme und dem Singen fehlen noch ein wenig jene Licht- und Schatten-Verteilung, das Sfumato, das Smorzando, das Mezza voce und Messa di voce der großen italienischen Tenöre, der weiche Schmelz eines Gigli, die ungeheure dynamische Breite eines Pertile, aber diese Aufnahme zeigt ja einen Sänger bei der ersten Erkundung eines fremden Bereichs, und all das hätte sich bald zur Vollendung weiterentwickelt. Als schlagende Illustration kann das berühmte Tenorsolo aus Verdis Requiem in einer Stuttgarter Aufführung des Jahres 1960 gelten. Der gerade 30-jährige Wunderlich singt das in einer Schönheit und Vollendung (inmitten einer eher durchschnittlichen Aufführung), wie sie kein italienischer Tenor je erreicht hat, höchstens noch der schwedische Tenor Jussi Björling, der eine ähnliche Jahrhundertbegabung hatte, wie sie Fritz Wunderlich besaß.

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Anmerkungen   1 Vgl. dazu Oswald Georg Bauer, Richard Wagner. Die Bühnenwerke von der Uraufführung bis heute, Fribourg/Frankfurt a.M. 1982, S. 111f.   2 Hans von Bülow, Lohengrin in Bologna, in: ders., Ausgewählte Schriften. 1850–1892, 2. Aufl. Leipzig 1911, 2. Abteilung, S. 118ff., hier S. 122.   3 Interview mit Jonas Kaufmann, in: Fono Forum 5/2013, S. 16.   4 Die Chronik findet sich in der Spezialausgabe Götterdämmerung des Opernjournals der Scala vom Dezember 1998. Dort die Chronik von Carlo Marinelli Rosc­ioni, S. 20–24.   5 Giuseppe Verdi, Autobiografia dalle lettere, hrsg. v. Aldo Oberdorfer, Milano 1981, S. 416. Übersetzung vom Verf.   6 Interview mit Verdi in der Neuen Freien Presse, Wien, 9. Juni 1875 (Abendblatt), S. 1, „Kleine Chronik“.   7 Richard Wagner, Bericht an Seine Majestät den König Ludwig II. von Bayern über eine in München zu errichtende deutsche Musikschule, in: Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volksausgabe, Leipzig o.J., Bd. 8, S. 125–176, Zitat S. 136.   8 Vgl. dazu meine Darstellung in: Jens Malte Fischer, Große Stimmen, Stuttgart 1993, S. 229–291 („Sprachgesang oder Belcanto? Wagners Sänger, die Bayreuther Schule und die Entwicklung des Wagner-Gesangs“). Außerdem jetzt in meinem Buch Richard Wagner und seine Wirkung, Wien 2013, das Kapitel „Die Meistersänger – Zur Geschichte des Wagner-Gesangs“, S. 68–112.   9 Julius Hey, Deutscher Gesangs-Unterricht, 3 Bde., Mainz 1884, hier Bd. 3, S. 6. 10 Frida Leider, Das war mein Teil, Berlin 1959, S. 57f.

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Verdi und Wagner auf dem Theater „Io son’ un uomo di teatro!“ sagte Giuseppe Verdi einmal über sich selbst. Und sein deutscher Antipode fühlte sich nicht minder als ein solcher Mann des Theaters. Legendär sind etwa die von Richard Wagner für die erste zyklische Aufführung des Ring des Nibelungen anlässlich der ersten Bayreuther Festspiele in Bayreuth angesetzten Probenzeiten. Bereits im Sommer 1874 – also zwei Jahre vor der Uraufführung – begann Wagner mit den Vorproben in Haus Wahnfried in Bayreuth.1 In Wagners eigenen Worten, übermittelt von seinem ersten Biographen Carl Friedrich Glasenapp: „Alles wird gelingen und zum Guten führen, wenn wir dieses erste Mal das ungeheure Werk nur im richtigen Sinne zutage fördern: dies erreichen wir sicher durch pünktlichste Durchführung meines Planes für die Proben.“2 Von diesen szenischen Proben zum Ring 1876 in Bayreuth besitzen wir ein wunderbares Protokoll von dem als Ballettmeister und Hilfsregisseur engagierten Richard Fricke aus Dessau. Fricke, der morgens in den privaten Tanzstunden mit Cosima und den Kindern Wagners zu tun hatte, ansonsten in erster Linie mit den ortsansässigen Turnern, die nicht nur das Begrüßungskomitee für die anreisenden Sänger und Orchestermitglieder am Bahnhof bildeten, sondern auch die Bewegungen der von Alberich kommandierten Nibelungentruppe im Rheingold zu erlernen hatten, berichtete etwa am 8. Juni 1876: „Bei all diesen Arrangierproben wird mir allerdings Angst um Wagners Gesundheit. Er springt zwischen die Singenden, stellt sich neben sie und macht die Gesten vor. Sein lebhaftes Temperament läßt ihn vergessen, was er gestern bezüglich der Scenen, der Stellung, des Wechsels in der Stellung gesagt und angeordnet hat. Und kommt nun der eine oder andere und sagt: ‚Lieber Meister, gestern bestimmten Sie so und so‘, so kommt er dann gleich mit heftigen Worten: ‚Nein, nein, ich will es heute aber so haben.‘ [...].“3 Obwohl Giuseppe Verdi und Richard Wagner versucht haben, mit Hilfe aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel (insbesondere über eine immense Fülle detaillierter Anweisungen für die Regie) nachhaltigen Einfluss auf die szenische Gestalt ihrer Opern auszuüben, man könnte sagen, gar Verfechter der Idee einer festen Werkgestalt auch im Szenischen waren, so waren es gerade ihre Opern, die Anlass zu einer Neuorientierung der Aufführungspraxis und Opernregie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gaben – eine Tendenz, die in Deutschland unter dem Begriff des Regietheaters gefasst wird. Und so sind es neben den Opern Mozarts insbesondere die Werke Giuseppe

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Verdis und Richard Wagners, die immer wieder im Fokus der Diskussion stehen, wenn über die Inszenierungspraxis von Musiktheater debattiert wird, über die Möglichkeiten, Grenzen und Notwendigkeiten von Regie in der Oper, insbesondere im deutschsprachigen Raum. Was meine ich, wenn ich von Aufführungspraxis und Opernregie und von Regietheater spreche? Die Aufführungspraxis von Oper scheint sich gegenwärtig in drei Richtungen zu bewegen: Zum einen sind erste vorsichtige Versuche zu erkennen, die Texte zu dekonstruieren, neu zu kombinieren, durch die Zusammenstellung mit eigentlich nicht zusammengehörigem Material neuen Reibungen auszusetzen – eine Tendenz, die im Schauspiel seit längerem bereits praktiziert wird, aber auch in der Oper selbst eine Tradition hat (man denke an die Pasticcio-Praxis des 18. und 19. Jahrhunderts, Einlegearien, Kürzungen, Umstellungen etc.). Bislang ist das ein Ansatz, der meines Wissens nur äußerst selten mit den Opern Verdis oder dem Musiktheater Wagners praktiziert wird, allenfalls in experimentellen kleineren Produktionen wie dem „Ring an einem Abend“ oder Ähnlichem. Zum Zweiten halten sich eigentlich überwunden geglaubte Forderungen nach Werk- und Texttreue hartnäckig, sowohl auf Rezipienten- wie auch auf Produzentenseite. Dazwischen bewegt sich die vor allem in Deutschland weit verbreitete Aufführungspraxis, die man unter dem grob pauschalisierenden Schlagwort „Regietheater in der Oper“ subsumieren könnte. Gemeint ist damit die Beibehaltung der musikalischen Dramaturgie bei gleichzeitig radikaler Infragestellung, Neubefragung und Neukontextualisierung der in den verfügbaren Texten (Libretto, Partitur, Diskurs der Aufführungsgeschichte) vermittelten und ermittelbaren Bedeutungsschichten einer Oper. Gerade diese in erster Linie intellektuelle Auseinandersetzung mit Lesarten und neuen Bedeutungen hat auch die „andere“ Seite der Wahrnehmung von Opernaufführungen wieder verstärkt zum Vorschein gebracht: die Wahrnehmung von Momenten, die sich nicht als Darstellung (Verkörperung, Repräsentation) von etwas – also als Repräsentation – beschreiben lassen, sondern in erster Linie intensive Erfahrungen und körperliche Reaktionen auf das Erlebte auslösen; Momente, die sich häufig durch Irritation, Aussetzen des Verstehens, Intensität, Bewusstwerdung der Wahrnehmung oder bewusste Zeiterfahrung auszeichnen und den Eindruck von Präsenz im Sinne von leibhaftiger Partizipation vermitteln – das, was in Hans Ulrich Gumbrechts Worten „meaning cannot convey“.4 Die beiden Konzepte oder Wahrnehmungseinstellungen, die ich hier angesprochen habe, lassen sich also als „Repräsentation“ und „Präsenz“ bezeichnen. Mit Repräsentation ist diejenige Dimension gemeint, in der eine Inszenierung Bedeutungen produziert, Sinnebenen und Sinnschichten freilegt bzw. solche im Zuschauer evoziert. Mit Präsenz ist dagegen die Wahrnehmungs-Einstel-

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lung angesprochen, bei der es um intensive Erfahrungen und körperliche Reaktionen, um das Sinnliche geht. Diese Oszillation zwischen Repräsentation und Präsenz zählt, wie ich behaupten würde, zu den Grundzügen und Hauptanziehungskräften einer jeden Opernaufführung. Dabei schließen sich Repräsentation und Präsenz keineswegs aus. Im Gegenteil, Sinn und Sinnlichkeit, Repräsentation und Präsenz bedingen sich gegenseitig. Momente der Präsenz sind ebenso für die spezifische Bedeutungsbeilegung in einer Szene verantwortlich, wie auch umgekehrt dem Aussetzen des Verstehens ein Verstehensprozess vorausgegangen sein muss. In jeder Opernaufführung sind verschiedene Verhältnisse von Repräsentation und Präsenz, von Sinn und Sinnlichkeit am Werk, die für die charakteristischen Wahrnehmungsprozesse bestimmend sind. Sie sind in jeder Opernaufführung von zentraler Wichtigkeit, insbesondere aber in Aufführungen von Operninszenierungen des sogenannten Regietheaters. Die Premieren solcher Regietheater-Inszenierungen gehen häufig (nicht immer) einher mit lautstarken Publikumsreaktionen von gleichzeitig Zustimmung und Ablehnung bis hin zu Protesten, Skandalen und Ausschreitungen. Eine besondere Aufmerksamkeit in der Produktion der Inszenierungen und der Wahrnehmung der Aufführungen wird dem Verhältnis von auditiven und visuellen Elementen zuteil, also der Frage, wie die musikalische mit der szenischen Ebene interagiert. Diese Aufmerksamkeit für das Zusammenspiel von Hören und Sehen gilt insbesondere den Darstellerinnen und Darstellern, den Sängerinnen und Sängern, indem sowohl in der Produktion als auch in der Wahrnehmung durch das Publikum die Körperlichkeit ein ebensolches Gewicht wie die Stimmlichkeit erhält. Die Abweichungen des Erlebten von dem, was viele als Erwartung an die Realisierung eines bekannten Werkes des Repertoirekanons mit in die Aufführung gebracht haben, kulminiert nicht selten in der Irritation darüber, ob die erlebte Inszenierung denn überhaupt noch als Interpretation eines bekannten Werks zu bezeichnen ist oder ob es sich nicht vielmehr um etwas ganz anderes handelt. Wenn man über Giuseppe Verdi und das Regietheater spricht, wäre es geradezu unmöglich, nicht von Hans Neuenfels zu sprechen, vor allem deshalb, weil mit seiner berühmt-berüchtigten Frankfurter Aida-Inszenierung von 1981 einer der Gründungsakte des Regietheaters in der Oper vorliegt. Schon ein paar Jahre zuvor hatte Neuenfels 1974 mit einer Troubadour-Inszenierung in Nürnberg und 1976 mit seinem Frankfurter Macbeth von sich Reden gemacht. Über diesen Frankfurter Macbeth gibt es einen Aufsatz von Leo Karl Gerhartz mit dem so bezeichnenden Titel „Auch das hm-ta-ta beim Wort genommen“.5 Genau um dieses Ernstnehmen des „hm-ta-ta“ soll es mir nun gehen und damit um ein Element in Neuenfels’ Ästhetik, das sich in seinen Verdi-Inszenierungen besonders in der Behandlung des Chores zeigt. Ger-

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hartz beschreibt prägnant die Nähe des Verdi’schen Musiktheaters zum französischen Melodram und bemerkt, „daß das vielen in der Musik Verdis so lästige bis peinliche Nebeneinander von Unterhaltung und Ernst, Pathos und ‚hm-ta-a‘ erst aus der Sicht eines populären Theaters etwa in der Art des französischen Melodrams zu seiner künstlerischen Wahrheit findet“.6 Für dieses „Beieinander von balladeskem ‚hm-ta-ta‘ und großem melodischen Pathos, Amüsement und Ernst in der Musik Verdis“ habe Neuenfels – so Gerhartz – „ebenso überzeugende wie sinnhafte Formeln gefunden“,7 so etwa wenn „fast nackte Tänzer mit obszönen Bewegungen den Auftakt des Lady-Trinkspruches in der Krönungsfeier des II. Aktes buchstäblich und sichtbar als den Beginn einer brutalen und aufreizenden Macht-Orgie“ feiern oder wenn „die Königsboten, die die Wahl von Macbeth zum Than von Cawdor verkünden, vergnügt zu Verdis Marsch- und Dreier-Rhythmen auf die Bühne“ tanzen.8 Ganz Ähnliches nun war auch in einer Szene seiner Nabucco-Inszenierung (Bühne und Kostüme: Reinhard von der Thannen, Dirigent: Marcello Viotti) aus dem Jahr 2000 an der Deutschen Oper Berlin zu erleben, in einer der am heftigsten umstrittenen Szenen, die beinahe zum Abbruch der Premiere geführt hätte. Nach dem langsamen Teil der Arie der Abigaille9 (in der Premiere gesungen und verkörpert von Susan Neves) treten die babylonischen Priester – die Herren des Opernchors – in Ganzkörper-Bienen-Kostümen auf und bewegen – zum schnellen 2. Teil der Arie, der Cabaletta – ihr Bienen-Hinterteil in rhythmischer Gleichmäßigkeit.10 Im Verlauf dieser Cabaletta hat Abigaille mehrere Trillerketten und Koloraturläufe zu bewältigen.11 Die von Neuenfels den dramatis personae hinzugefügte Figur Frank Frühkirch (Alexander Heidenreich) trägt einen Staubwedel und kitzelt Abigaille damit mehrfach anlässlich ihrer virtuosen Passagen. Auch in diesen beiden Fällen verweisen Bilder und Bewegungen auf keine außerhalb der klanglichen Ereignisse liegenden Zusammenhänge wie Handlungen oder plots. Es ist die reine Freude am inhaltsleeren Verdoppeln bzw. Visualisieren der eigentlich inhaltsleeren Floskel Koloratur, die damit als bloßes Ornament desavouiert wird, aber auch durch die visuelle Verdopplung als musikalisches Element besonders betont und damit als etwas Besonderes wahrnehmbar wird. Ein Triller würde sonst vielleicht unbemerkt vorüberrauschen; so wird er gewichtig, wenn auch nicht bedeutsam. Es handelt sich hierbei um eine szenische Realisierung, die nur den Vollzug des musikalischen Rhythmus bedeutet. In Bildern und Bewegungen wird auf die spezifische Materialität der Musik (z.B. den Rhythmus) besonders hingewiesen, wird dieser Aspekt der Materialität von Musik als solcher gar erst wahrgenommen. Negativ würde man dazu Verdopplung oder Redundanz sagen,12 positiv gewendet: Selbstbezüglichkeit der musiktheatralen Mittel, Visualisierung und Erfahrbarkeit musikalischer Strukturen. Die Bewegungen ermöglichen eine quasi-taktile Wahrnehmung von Musik. Ich kann

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über das Mitvollziehen der rhythmischen Bewegung den musikalischen Rhythmus quasi berühren, leiblich erfassen. Neben dieser Selbstbezüglichkeit der musikalischen Mittel lassen sich jedoch gerade aus dieser Betonung der musikalischen Charakteristika auch semantische Schlüsse ziehen. Es besteht natürlich die Möglichkeit, das Lächerliche der Verdopplungen von musikalischem Rhythmus und Bewegungsrhythmus auf die Charakterzeichnung, konkret also die Desavouierung einer Figur zu beziehen. So wird durch das rhythmisch gleichmäßige Hinund Herbewegen des hinteren Kostümteils der Bienen das eigentlich Martialische der Cabaletta der Lächerlichkeit preisgegeben und damit gleichzeitig auch die Babylonier in ihrer dramatischen Funktion auf der Ebene der Rollenfiguren. Ich meine jetzt erst einmal nur die rhythmischen Bewegungen der Chorherren, die an sich schon lächerlich wirken. Verstärkt wird dieser Effekt natürlich noch durch das Bienen-Kostüm, das seinerseits noch einmal ein ganz eigenes Assoziationsfeld eröffnet, zum Beispiel das der Drohne, die nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen oder eigene Entscheidungen zu treffen, die nur dazu da sind, junge Königinnen zu begatten und ihr willenlos ergeben zu sein. Auf YouTube findet sich eine Aufzeichnung der Cabaletta der Abigaille in dieser Neuenfels-Inszenierung, allerdings aus einer sehr viel späteren Aufführungsserie, vom Februar 2008, also acht Jahre nach der Premiere, dirigiert von Pietro Rizzo.13 Merklich hat der Herrenchor sowohl an Präzision im rhythmischen Mit-Tanzen verloren als auch am Spaß an dieser Aktion. Abigaille wurde in dieser Serie nun nicht mehr von Susan Neves, sondern von Sylvie Valayre verkörpert, und offenbar wollte sie sich nicht mehr so häufig bzw. überhaupt nicht mehr so richtig von Alexander Heidenreich mit dem Staubwedel kitzeln lassen, oder in den Wiederaufnahmeproben wurden diese Elemente einfach anders geprobt als in der Premierenserie. Bei solchen Aktionen wie dem Kitzeln während anspruchsvoller Passagen besteht natürlich immer die Gefahr eines Scheiterns der sängerischen Virtuosität. Diese Sorge verstärkt wie bei jedem Hochseilakt den Reiz des Moments, verstärkt also die Intensität der Wahrnehmung dieser Passagen, den Kitzel beim Anhören der Stimme der Sängerin der Abigaille. Die Sorge und damit der erhöhte Kitzel entstehen durch das Wissen um die notwendige, aber gefährdete Balance von Körper und Stimme. Nicht von ungefähr meinte Neuenfels einmal: „Es ist [...] ganz wichtig, finde ich, daß man eine Stimme in der Oper sieht, nicht nur hört.“14 In Neuenfels-Inszenierungen überhaupt scheint die körperliche Disposition der Sängerdarsteller von großer Relevanz zu sein. So werde ich im Fall der Abigaille seiner Nabucco-Inszenierung aufgrund der für die Premierensängerin Susan Neves extrem unvorteilhaften Kostümierung auf ihre Körperlichkeit geradezu gestoßen. Wenn ich diese Sängerdarstellerin in ihrem weißen Kleid,

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das an eine Zirkusprinzessin erinnern lässt, durch einen brennenden Zirkusring auftreten sehe, kann ich dies auf der Repräsentations-Ebene, also der Bedeutungs-Ebene, als eine dezidierte Aussage über die Figur der Abigaille lesen. Abigaille erscheint in diesem Bild als eine starke und unerschrockene Frau  – sie geht durch einen brennenden Zirkusreif; der Gang durch einen brennenden Zirkusreif evoziert gleichzeitig die Assoziation an ein Tier, das sich manipulieren lässt – auch dies trägt dazu bei, wie ich die Figur der Abigaille in dieser Szene auf der Bedeutungsebene lese. Doch auf der sinnlichen Ebene, also der Ebene, die ich zu Anfang als Präsenz bezeichnet habe, rezipiere ich in erster Linie den Körper der Sängerin in seiner ganz eigenen Materialität – einen dicken Körper, eingepresst in ein zu enges und unvorteilhaftes Zirkusprinzessinnen-Kostüm. Meine Wahrnehmung könnte ich vielleicht mit dem Begriff der Scham benennen (ich schäme mich für den in seiner Unvorteilhaftigkeit ausgestellten Körper, weil ich mir vorstelle, dass ich mich selbst in einer unvorteilhaften Situation präsentieren müsste).15 Welche der beiden Haltungen ich einnehme, bleibt mir überlassen, der Einstellung meiner Sinne. Den ersten Teil ihrer großen Arie, also den Teil vor der Cabaletta mit den Herren des Chores im Bienenkostüm, singt Abigaille in einem Schaukelstuhl. Direkt vor Beginn der Arie setzt die bereits erwähnte zusätzliche Figur Frank Frühkirch den Schaukelstuhl in Bewegung. Es ereignet sich hier ein fast unbeschreiblicher Moment der Zartheit  – verursacht durch den momentanen Schwebezustand des Schaukelstuhls, der auch den schweren Körper in die Schwebe setzt und leicht macht. Der Schwebezustand fällt mit dem Übergang von der Scena zum Cantabile zusammen  – einem auch musikalisch in der Schwebe sich ereignenden Moment, einer Pause.16 Nur durch das Zusammenwirken einer spezifischen Körperlichkeit mit einer bestimmten Bewegung und der Musik tritt der Schwebezustand ein, geschieht die Verwandlung des Körpers und erlebe ich den Körper der Sängerin in einer besonderen Intensität – einen Moment gesteigerter Präsenz, unabhängig von jeder Bedeutungskomponente, unabhängig von allen möglichen intelligenten Lesarten und Lektüren dieser Szene.17 Zu einer gelungenen Operninszenierung gehört für mich immer beides, intelligenter Repräsentationsgestus und intensive Einmaligkeit der Kombination von Bild und Musik – besondere Freude haben an diesem Wechselspiel in Neuenfels-Inszenierungen neben weiten Teilen des Publikums in aller Regel auch die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne. Auch in den beiden folgenden Wagner-Beispielen wird dieses Wechselspiel von Repräsentation und Präsenz der entscheidende Fokus der Aufmerksamkeit sein. Ich möchte mich zwei Inszenierungen der Bayreuther Festspiele der jüngeren Vergangenheit zuwenden: Katharina Wagners Inszenierung von Die Meistersinger von Nürnberg (2007) und Sebastian Baumgartens Tannhäuser-Inszenierung (2011). Beide Inszenierungen könnte man der zu Anfang

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definierten Kategorie „Regietheater in der Oper“ zurechnen. Gleichzeitig lässt sich in diesen auch ein Schritt in eine neue Richtung erkennen, der über das hinausgeht, was üblicherweise als Inszenierung im Sinne der Interpretation eines Werkes verstanden wird. Zum einen haben die Bayreuther Festspiele begonnen, sich mit ihrer Aufführungsgeschichte sowie ganz grundsätzlich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen, was sich in den Inszenierungen niederschlägt. Und zum anderen zeigt sich in diesen beiden Inszenierungen ein neues Verständnis von Inszenierung: nicht mehr im Sinne der Interpretation oder Entwicklung einer Lesart eines Werks, sondern als Praxis, die von einer etwas anderen Perspektive ihren Ausgang nimmt, indem das Werk als Material einer Experimentalsituation ausgesetzt wird, mit der „Forschungsfrage“, wie sich ein wohlbekanntes Werk unter den Bedingungen einer Laborsituation verhält, wie es reagiert. Katharina Wagners Inszenierung von Die Meistersinger von Nürnberg (Dirigent: Sebastian Weigle, Bühnenbild: Tilo Steffens, Kostüme: Michaela Barth, Dramaturgie: Robert Sollich) inaugurierte eine neue Phase der Wagner-Inszenierungspraxis, zumindest derjenigen bei den Bayreuther Festspielen, indem sie ein Bewusstsein für die Aufführungsgeschichte der Festspiele sowie deren mehr als komplizierter Geschichte der Institution offenbarte und dies zum Thema machte. Die Inszenierung, die im Jahr 2007 ihre Premiere hatte (also im Jahr, bevor Katharina Wagner zusammen mit ihrer Halb-Schwester Eva Wagner-Pasquier zum neuen Leitungsduo gewählt wurde), war eine der umstrittensten Inszenierungen der jüngeren Festspielgeschichte. Sie evozierte bis zur letzten Aufführungsserie regelmäßig gespaltene Publikumsreaktionen, zwischen erbitterter Ablehnung und enthusiastischem Beifall. Was die Inszenierung so faszinierend wie provokant machte, war aus meiner Sicht insbesondere das ständige Wechselspiel zwischen Repräsentation und Präsenz. Diese Oszillation produzierte in der Meistersinger-Inszenierung insofern einen Skandal, als die Inszenierung damit eine historische und politische Dimension berührte, die die Aufführungsgeschichte von Wagners Werken, insbesondere diejenige der Meistersinger, so unerträglich macht. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich auf den Beginn der Festwiesen-Szene im dritten Aufzug etwas näher eingehen. Die Szene präsentierte nicht wie üblich den Aufzug der Zünfte, sondern die zum Leben erweckten Statuen von Deutschlands intellektuellen und künstlerischen Geistesgrößen, den sogenannten deutschen Meistern (unter ihnen Bach, Dürer, Goethe, Schiller, Beethoven und Wagner), mit zu beängstigender Größe angeschwollenen Köpfen. Diese Figuren erstürmen zu Beginn der Festwiese die Werkstatt des Hans Sachs wie in einem Albtraum; sie fesseln ihn und zwingen ihn dadurch, ihrem grotesken Tanz beizuwohnen, innerhalb dessen sie sich gegenseitig verstümmeln und Körperteile vertilgen, immer in Einklang mit den Märschen und Melodien,

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die für den Auftritt der jeweiligen Zünfte vorgesehen sind, zum Beispiel der Bäcker, die ihre Zunft als Bekämpfer von Hungersnöten preisen. Diese Schwellköpfe riefen sofort die Assoziation an Karneval mit seinen Bräuchen auf, wie sie heute noch in den rheinischen Metropolen praktiziert werden, mit seiner Atmosphäre des in der Gleichzeitigkeit von Komik und Bedrohung Grotesken. Diese Atmosphäre bestimmte, „färbte“ die gesamte Aufführung von da an. Und plötzlich klang auch die Musik verändert, als habe sie sich dieser Atmosphäre anverwandelt oder als habe der Karneval diese Farbe erst hervorgekitzelt. Nach dieser durchaus auch Grauen-erregenden Performance verbeugen sich die Schwellköpfe wie nach einer Aufführung und holen ein „Regieteam“ mit „Dirigent“ zum Applaus dazu. Ein Meister nach dem anderen verschwindet (zuletzt Beethoven, Kleist, Schiller und Wagner selbst). Übrig bleiben das „Regieteam“ und der „Dirigent“, die schließlich von grau beanzugten Reinigungskräften in eine graue Tonne gesteckt werden. Dies ist natürlich zum einen eine selbstironische Pointe: Was viele Traditionalisten als Zerstörung der Kunst empfinden (Regietheater), gehört in die Mülltonne. Und in der Premiere gab es auch spontanen Applaus vom Bayreuther Publikum. Wenn aber einen Moment später Sachs dazu tritt, mit seinen vor dem Unterleib gefalteten Händen, wie dies von Aufzeichnungen von HitlerAnsprachen im kulturellen Bildgedächtnis verankert ist, und die Tonne anzündet, ändern sich die Szene und ihr Effekt schlagartig. Erinnerungen an Bilder von NS-Bücherverbrennungen stehen sofort im Raum.18 Die Inszenierung inszeniert sich nun offenbar selbst als gefährdetes Kulturgut, das faschistischen Nachstellungen ausgesetzt ist. Nochmals ironisch gewendet erscheint das Ganze, wenn Sachs aus dem Feuer schließlich eine goldene Statuette als Preis herausholt, die – je nachdem, welches Tier man in der Statuette zu sehen meint – ein röhrender Hirsch und damit Zeichen für deutsches Spießertum sein könnte oder ein goldenes Bambi und damit als Zitat eines deutschen Medienpreises auf die Wandlung Stolzings zum massentauglichen, kulturindustriellen Schlager- und Unterhaltungsstar19 vorausweisen würde, der dann auch prompt auf der Festwiese ebendiesen Preis verliehen bekommt. Hier operiert die Inszenierung mit Mitteln, die ganz deutlich auf eine Bildsprache und Ästhetik des Nationalsozialismus verweisen, wie etwa in der eben erwähnten Szene, die an die Bücherverbrennungen erinnerte, noch deutlicher aber in der Schlussansprache des Sachs, in der Sachs von unten beleuchtet auftritt, als entspringe er einer filmischen Inszenierung von Leni Riefenstahl, und mit einer Gestikulation, Artikulation und Deklamation agiert, die wiederum die Posen und selbst den Sprachklang der Hitler-Ansprachen evoziert. Zudem werden während der Ansprache zwei riesige Goetheund Schiller-Statuen aus dem Bühnenboden hochgefahren, deren Körper sich während des „Auftauchens“ als von Arno Breker inspirierte entpuppen.

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Was hier geschah, war nicht nur ein Verweis auf die Bildsprache und Ästhetik des Nationalsozialismus, keine Repräsentation davon. Vielmehr bediente die Inszenierung sich selbst dieser Mittel, das heißt, sie machte die Mittel präsent und erzielte damit eine ästhetische, eine sinnliche Wirkung – eine Wirkung, die überwältigte. Auch wenn man sich von diesen Mitteln nicht beeindrucken lassen mochte, weil man weiß, dass sie „vergiftet“ sind, bemerkte ich auf der anderen Seite unwillkürlich, wie empfänglich ich für ihre Wirkung bin. Dies war eine sehr schmerzhafte Erfahrung, auf die viele im Publikum nicht anders als mit Protest zu reagieren imstande waren – ein Protest, der sich gleichermaßen gegen die Protestierenden selbst gerichtet hat wie gegen die eigene Anfälligkeit. Katharina Wagners Meistersinger-Inszenierung ist eine produktive Provokation des Publikums, eine Herausforderung zur Einnahme einer Position. Niemand im Zuschauerraum kann sich unbeteiligt zurücklehnen. Jede/r ist zur Stellungnahme aufgerufen. Die Inszenierung hat polarisiert, indem sie durch die Ambivalenz, mit der die szenischen Vorgänge präsentiert wurden, die Sinne der Zuschauer produktiv überfordert hat. Indem die Inszenierung Bezug genommen hat auf das dunkelste Kapitel der Geschichte der Bayreuther Festspiele wie auf die Rezeptionsgeschichte von Wagners Werk im Allgemeinen, kann sie als ein Experiment betrachtet werden, bei dem ein weithin als bekannt erachtetes Werk unter die Bedingung einer neuen Situation – das Bewusstsein der Geschichte der Festspiele und der Aufführungsgeschichte der Meister­ singer – gestellt wird. Der geschilderte Ansatz, eine neue Situation zu kreieren und zu erforschen, wie ein wohlbekanntes Werk unter diesen neuen Bedingungen reagiert – wie in einer Laborsituation –, wurde in einer der nachfolgenden Inszenierungen noch eine Stufe weiter getrieben: in der Tannhäuser-Inszenierung aus dem Jahr 2011, dirigiert von Thomas Hengelbrock (Regie: Sebastian Baumgarten, Bühnenbild: Joep van Lieshout, Kostüme: Nina von Mechow, Dramaturgie: Carl Hegemann). Eine der zentralen Ideen der Inszenierung  – das Bühnenbild betreffend – war, die gesamte Inszenierung in einer Art Installation spielen zu lassen. Es handelte sich um eine Installation des Künstlers Joep van Lieshout, eine abgeriegelte Welt wie eine Fabrik, in der die Arbeiter auch leben und schlafen, wo sowohl die Venusberg-Szenen als auch die Wartburg-Szenen stattfinden. Unter der Plattform liegt der Venusberg, eine Art Käfig für wilde Tiere und andere Wilde sowie für Venus. Natürlich ist es bereits eine bekannte Idee, Elisabeth und Venus, Wartburg und Venusberg als zwei Seiten der gleichen Medaille zu denken. Doch in dieser Inszenierung wurde diese Idee beim Wort genommen und so realisiert, dass sie beim Publikum größtenteils auf Unverständnis und Missfallen gestoßen ist. Es ist nicht mein Anliegen, die vielfach geübte Kritik am Konzept oder der Realisierung hier noch einmal zu

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wiederholen. Stattdessen möchte ich das Konzept als gegeben voraussetzen und danach fragen, was mit dem wohlbekannten Werk Tannhäuser und seinen Bewohnern in diesem neuen Setting passierte, wenn man die Installation als ein Labor betrachtet. Was sind die Konsequenzen oder die Ergebnisse dieses Experiments, Tannhäuser in einem geschlossenen System spielen zu lassen, Regeln folgend, die meistenteils opak blieben? Als Erstes fällt auf, dass die Inszenierung ein ganz neues Licht auf die Musik geworfen hat. Die Wahrnehmung der wohlbekannten TannhäuserMusik war völlig verändert. Dies lag natürlich zu einem großen Teil am Dirigat von Thomas Hengelbrock und seiner Interpretation der Partitur. Er konzipierte sein Dirigat aus der Perspektive von Wagners Vorgängern heraus, aus der Perspektive der deutschen romantischen Oper, etwa eines Carl Maria von Weber. Zu hören war ein sehr leichter, transparenter, zuweilen sehr schneller Wagner mit vielen unerwarteten Tempowechseln. Aber es war nicht nur, vielleicht nicht einmal an erster Stelle Hengelbrocks Dirigat, das mich die Musik anders wahrnehmen ließ. Die Musik zu hören, während ich schon die Installation auf der Bühne zu Gesicht bekam – diese riesige Fabrik mit ihren Maschinen und ihren Arbeitern –, änderte meine Wahrnehmung der Musik grundlegend. Es ist die Wahrnehmung des Gesehenen, die die akustische Wahrnehmung prägt und umgekehrt. Ich habe diese Venusbergmusik selten so technisch, im besten Sinne so wenig schwülstig gehört, so klar und virtuos. Ich finde, das ist der schlagendste und beste Beweis dafür, wie eine Inszenierung, wie ein visuelles szenisches Angebot die Wahrnehmung von Musik prägen kann. Die Inszenierung machte auch noch etwas anderes sehr deutlich: Die Bewohner dieser Installation halten sich schon sehr lange in dieser sehr eigenen Welt, diesem geschlossenen System, auf. Und es scheint, als würden sie Wagners Tannhäuser immer und immer wieder für sich selbst aufführen, als ihr Gründungsritual. Jeder auf der Bühne scheint bereits zu wissen, was als Nächstes passieren wird. Ebenso kennen alle bereits die Musik und freuen sich häufig ganz explizit über einzelne musikalische Momente, wie etwa an den Stellen, an denen die Ritter der Wartburg anfangen, zur Musik des Finales des ersten Aufzugs zu schunkeln, oder ebenso der Chor im zweiten Akt, wenn Biterolf seine bezwingende Melodie vorträgt. Diese wiederholte Laborsituation, in der ein wohlbekanntes Set von Ingredienzen immer wieder wiederholt wird, verdeutlicht auch noch einen Aspekt der gängigen Opern-Aufführungspraxis unserer Kultur, bei der immer und immer wieder dieselben wohlbekannten Stücke zur Aufführung kommen: Bei Inszenierungen sogenannter Repertoire-Klassiker weiß fast jeder im Zuschauerraum, wie die Geschichte weiter- und ausgeht; und auf der Bühne wird so getan, als ob die Figuren die Geschichte zum ersten Mal erleben. Hier nun haben die Figuren auf der Bühne alles schon einmal

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erlebt und spielen alles noch einmal durch – Figuren, die laut Vorlage noch gar nicht auf der Szene sein dürften, sind anwesend und beobachten, was passiert. Wir im Zuschauerraum dagegen sehen uns mit so vielen neuen und unverständlichen Ereignissen konfrontiert, die wir nicht mit unserer Vor-Kenntnis des Wagner’schen Tannhäuser in Beziehung bringen können, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, wie es hier weiter- und ausgehen wird, während auf der Bühne alle alles sehen und alles wissen. Ist das nicht in der Umkehrung eine perfekte Metapher für jede Wahrnehmung einer Klassiker-Inszenierung? Der Reiz der Wahrnehmung einer avancierten Operninszenierung besteht meines Erachtens immer in der Differenzerfahrung – in der Spannung, die sich zwischen der als bekannt geglaubten Vorlage und der erfahrbaren Aufführungswirklichkeit einstellt. Nach Hans Ulrich Gumbrecht ist „in einer Sinnkultur [...] der Begriff des Ereignisses unabtrennbar mit dem Wert von Innovationen und infolgedessen auch mit dem Effekt von Überraschungen verbunden. [...] die Vorstellung von einer Präsenzkultur [impliziert hingegen] die Herausforderung, einen von Innovation und Überraschung losgelösten Ereignisbegriff zu denken. Ein solcher Begriff würde uns daran erinnern, daß sogar jene regelmäßigen Veränderungen und Transformationen, die wir tatsächlich prognostizieren und erwarten können, einen Augenblick der Diskontinuität beinhalten. Wir wissen zwar, daß das Orchester am Abend, kurz nach acht Uhr, eine Ouvertüre zu spielen beginnt, die wir schon oft gehört haben, und dennoch wird uns die den Augenblick der ersten erklingenden Töne kennzeichnende Diskontinuität ‚treffen‘ und einen Ereigniseffekt hervorrufen, der weder Überraschung noch Innovation beinhaltet.“20 Mit diesem Ereignisbegriff ist genau das angesprochen, was ich in einer Aufführung einer Oper aus dem Repertoirekanon als die Spannung zwischen dem Bekannten und der Abweichung davon bezeichnen würde, die ereignishafte Präsenz-Momente evoziert. Heiner Goebbels hat einmal eine provozierend verallgemeinernde, aber gleichzeitig sehr hilfreiche Unterscheidung zwischen „Theater als Museum“ und „Theater als Labor“ gemacht, bei der er die großen Opernbetriebe und die Repertoire-Bühnen auf die Seite „Theater als Museum“ positioniert und die unabhängigen, kleiner dimensionierten, freien, experimentellen und innovativen Performance-Kollektive auf die Seite „Theater als Labor“. 21 Was ich hier zeigen wollte, ist, dass es durchaus erhellend sein kann, diesen Graben zu überbrücken und nach dem experimentellen, laborhaften Potential einer innovativen Inszenierung innerhalb der „Theater-als-Museum“-Abteilung zu fragen. Die Aufführung eines Textes oder einer Partitur – egal, wie „treu“ die Inszenierung einem „Original“ zu sein versucht oder behauptet – beeinflusst und verändert immer das Wissen um das zugrunde liegende Werk. Wenn also eine Aufführung das Wissen um ein Werk ohnehin immer verändert, so ist es aus meiner Sicht nur folgerichtig, daraus die Konsequenz zu

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ziehen, eine Partitur oder einen Text stets als Material zu betrachten, das einer immer wieder neu kreierten und zu kreierenden Experimentalsituation ausgesetzt wird. In jeder Aufführung – und dies gilt insbesondere für die hier zur Sprache gekommenen Aufführungen – entsteht ein spezifisches Verhältnis von Vor-Erwartung und momentaner Erfahrung. Es ist dieses Verhältnis, das immer wieder neu die Wahrnehmung einer Opernaufführung determiniert, sei es eine starke Attraktion oder eine noch stärkere Repulsion. Meines Erachtens ist es ganz besonders die „Theater-als-Museum“-Abteilung mit ihren so klaren Rahmungen und durch die immer wieder aufgeführten Repertoire-Klassiker so engen Begrenzungen, die es ermöglicht, dass Innovationen so heftige und emotionale, in jedem Fall aktive Reaktion und Partizipation des Publikums evozieren.

Anmerkungen   1 Vgl. Martina Srocke, Richard Wagner als Regisseur (Berliner musikwissenschaftliche Arbeiten, 35.), München/Salzburg 1988. S. 30.  2 Richard Wagner, zitiert nach: Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben Richard­ Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig 1905, S. 251.   3 Richard Fricke, 1876. Richard Wagner auf der Probe. Das Bayreuther Tagebuch des Ballettmeisters und Hilfsregisseurs. Stuttgart 1983, S. 93f.   4 Hans Ulrich Gumbrecht, Production of Presence: What Meaning Cannot Convey, Stanford/CA 2004.   5 Leo Karl Gerhartz, „Auch das hm-ta-ta beim Wort genommen“, in: Werk und Wiedergabe, hrsg. von Sigrid Wiesmann, Bayreuth 1980, S. 311–319.   6 Ebd., S. 314.   7 Ebd., S. 317.   8 Ebd., S. 315.   9 Giuseppe Verdi, Nabucodonosor [Nabucco], hrsg. von Roger Parker (= The works of Giuseppe Verdi. Series I. Operas; vol. 3), Chicago/London/Milano 1987, S. 226. 10 Ebd., S. 230–249. 11 Ebd., S. 238–239, 243–245. 12 Vgl. Horst Weber über das Phänomen des „Mickey Mousing“; Horst Weber: „Vom ‚treulos treuesten Freund‘. Eine Einführung in das produktive Dilemma des Regietheaters“, in: Ders. (Hrsg.): Oper und Werktreue, Stuttgart/Weimar 1994, S. 10. 13 https://www.youtube.com/watch?v=LCFNcEFZn38 (zuletzt aufgerufen: 3. Februar 2014). 14 Hans Neuenfels, Zwischen dramaturgischer Innovation und Werktreue. Zur A ­ ktualität und Aktualisierbarkeit der Aida, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.), Oper heute. Formen der Wirklichkeit im zeitgenössischen Musiktheater (= Studien zur Wertungsforschung 16), Wien/Graz 1985, S. 38. 15 Vgl. hierzu Jens Roselt, „Die Würde des Menschen ist antastbar. Der kreative Umgang mit der Scham“, in: Carl Hegemann (Hrsg.), Erniedrigung genießen (= Kapitalismus und Depression 3), Berlin 2001, S. 47–59.

Verdi und Wagner auf dem Theater  |

16 Verdi, S. 222, T. 86. 17 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=i9AM7kskqZQ (zuletzt aufgerufen: 3. Februar 2014), allerdings hier im Video wieder nicht Susan Neves, sondern Sylvie Valayre; der beschriebene Moment einer gesteigerten Präsenzerfahrung durch das Leichtwerden und Schweben eines schweren Körpers ereignet sich durch die Umbesetzung gerade nicht. 18 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=YWRegXpfc4g (zuletzt aufgerufen: 3. Februar 2014). 19 David J. Levin, „Die Meistersinger von Nürnberg“: drastisch oder gnostisch?, in: Angst vor der Zerstörung – Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung (= Recherchen 52), hrsg. von Robert Sollich, Clemens Risi, Sebastian Reus und Stephan Jöris, Berlin 2008, S. 263. 20 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2004, S. 104. 21 Heiner Goebbels, Theater als Museum oder Labor. Eine Rede anlässlich des Symposiums „Neue Theaterrealitäten“ beim Körber Studio Junge Regie 2008 in Hamburg, http://www.heinergoebbels.com/en/archive/texts/texts_by_heiner_goebbels/ read/546 (zuletzt aufgerufen: 3. Februar 2014).

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Uraufführungschronik der Opern Verdis und Wagners 1836 Das Liebesverbot – Magdeburg, Stadttheater, 29. März 1839 Oberto, conte di San Bonifacio – Mailand, Teatro alla Scala, 17. November 1840 Un giorno di regno – Mailand, Teatro alla Scala, 5. September 1842 Nabucodonosor – Mailand, Teatro alla Scala, 9. März Rienzi, der Letzte der Tribunen – Dresden, Königliches Hoftheater, 20. Oktober 1843 Der fliegende Holländer – Dresden, Königliches Hoftheater, 2. Januar I Lombardi alla prima crociata – Mailand, Teatro alla Scala, 11. Februar 1844 Ernani – Venedig, Teatro La Fenice, 9. März I due Foscari – Rom, Teatro Argentina, 3. November 1845 Giovanna d’Arco – Mailand, Teatro alla Scala, 15. Februar Alzira – Neapel, Teatro San Carlo, 12. August Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg – Dresden, Königliches Hoftheater, 19. Oktober 1846 Attila – Venedig, Teatro La Fenice, 17. März 1847 Macbeth – Florenz, Teatro alla Pergola, 14. März I masnadieri – London, Her Majesty’s Theatre, 22. Juli Jérusalem – Paris, Opéra, 26. November 1848 Il corsaro – Triest, Teatro Grande, 25. Oktober 1849 La battaglia di Legnano – Rom, Teatro Argentina, 27. Januar Luisa Miller – Neapel, Teatro San Carlo, 8. Dezember 1850 Lohengrin – Weimar, Großherzogliches Hoftheater, 28. August Stiffelio – Triest, Teatro Grande, 16. November 1851 Rigoletto – Venedig, Teatro La Fenice, 11. März 1853 Il trovatore – Rom, Teatro Apollo, 19. Januar La traviata – Venedig, Teatro La Fenice, 6. März 1855 Les Vêpres siciliennes – Paris, Opéra, 13. Juni 1857 Simon Boccanegra – Venedig, Teatro La Fenice, 12. März Aroldo – Rimini, Teatro Nuovo, 16. August 1859 Un ballo in maschera – Rom, Teatro Apollo, 17. Februar 1861 Tannhäuser, „Pariser Fassung“ – Paris, Opéra, 13. März 1862 La forza del destino – St. Petersburg, Kaiserliches Theater, 10. November 1865 Macbeth, revidierte Fassung – Paris, Théâtre Lyrique, 21. April Tristan und Isolde – München, Königliches Hof- und Nationaltheater, 10. Juni 1867 Don Carlos – Paris, Opéra, 11. März 1868 Die Meistersinger von Nürnberg – München, Königliches Hof- und Nationaltheater, 21. Juni

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|  Uraufführungschronik der Opern Verdis und Wagners

1869 La forza del destino, revidierte Fassung – Mailand, Teatro alla Scala, 27. Februar Das Rheingold – München, Königliches Hof- und Nationaltheater, 22. September 1870 Die Walküre – München, Königliches Hof- und Nationaltheater, 26. Juni 1871 Aida – Kairo, Khedival Opera, 24. Dezember 1876 Der Ring des Nibelungen – Bayreuth, Festspielhaus, 13., 14., 16., 17. August Siegfried – Bayreuth, Festspielhaus, 16. August Götterdämmerung – Bayreuth, Festspielhaus, 17. August 1881 Simon Boccanegra, revidierte Fassung – Mailand, Teatro alla Scala, 24. März 1882 Parsifal – Bayreuth, Festspielhaus, 26. Juli 1884 Don Carlo, revidierte italienische Fassung – Mailand, Teatro alla Scala, 10. Januar 1887 Otello – Mailand, Teatro alla Scala, 5. Februar 1888 Die Feen – München, Königliches Hof- und Nationaltheater, 29. Juni 1893 Falstaff – Mailand, Teatro alla Scala, 9. Februar

Über die Autoren Wolfram Breuer, geboren 1956 in Düren/Rheinland, studierte an der Hochschule für Musik Köln die Fächer Klavier, Posaune, Tonsatz und Hörerziehung und schloss diese Fächer jeweils mit Staatsexamen ab. Von 1988 bis 1989 unterrichtete er als hauptamtliche Lehrkraft für Tonsatz und Klavier an der Berufsfachschule für Musik Bad Königshofen und wechselte 1990 als Lehrer für Tonsatz und Musikgeschichte an das Richard-Strauss-Konservatorium München. 1995 kehrte er als Professor für Tonsatz und Hörerziehung an die Kölner Musikhochschule zurück. Im Metzler-Verlag erschien seine Buchveröffentlichung Gehörbildung für Unterricht und Selbststudium (1990). Jean-François Candoni, geboren 1964 in Paris, studierte Literaturwissenschaft und Germanistik an der École Normale Supérieure de Saint-Cloud und an der Université Paris IV (Sorbonne). 1996 Promotion über Richard Wagner in Paris, sodann Maître de Conférence an der Université de Picardie sowie der Université Paris IV, dort 2006 Habilitation. Seit 2011 Professor für Germanistik an der Université de Rennes 2 Haute-Bretagne. Zu seinen Forschungsgebieten zählen neben der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts vor allem Richard Wagner sowie Oper und Musiktheater. Buchveröffentlichungen u.a. La genèse du drame musical wagnérien (1998), Richard Wagner: Points de départ et aboutissements (2002), Le Monde germanique et l’opéra. Le livret en question (2005, Mitherausgeber), Penser la musique au siècle du romantisme. Discours esthétiques dans l’Allemagne et l’Autriche du XIXe siècle (2012). Jens Malte Fischer, geboren 1943 in Salzburg, studierte Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft sowie Gesang in Saarbrücken, Frankfurt und München. 1982 bis 1989 Professor für Neuere Deutsche, Vergleichende und Allgemeine Literaturwissenschaft in Siegen, von 1989 bis 2009 Professor für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Forschungsschwerpunkte sind die Kultur um 1900, die Geschichte der deutsch-jüdischen Kultur und des Antisemitismus und der Geschichte der Oper, des Films und des Sprechtheaters. Buchveröffentlichungen u.a. Oper – das mögliche Kunstwerk (1991), Große Stimmen. Von Enrico Caruso bis Jessye Norman (1993), Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“ (2000), Jahrhundertdämmerung. Ansichten eines anderen Fin de siècle (2000), Gustav Mahler. Der fremde Vertraute (2003), Vom Wunderwerk der Oper (2007), Richard Wagner und seine Wirkung (2013).

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|  Über die Autoren

Martin Fischer-Dieskau, geboren 1955 in Berlin, studierte an der Hochschule der Künste Berlin Dirigieren, Klavier und Violine und sowie Italienische Literatur und Musikwissenschaft an der Freien Universität (Magister artium). 1978 bis 1980 Assistant Conductor beim Detroit Symphony Orchestra, sodann Kapellmeister in Augsburg, Aachen, Hagen und am Württembergischen Staatstheater Stuttgart. 1990 bis 1994 Erster Dirigent am Theater Bern, 2001 bis 2004 Chefdirigent des Kitchener-Waterloo Symphony Orchestra in Kanada, 2008 bis 2010 des Taipei Symphony Orchestra. 1994 bis 2006 Professor für Dirigieren und Orchesterleitung an der Musikhochschule in Bremen. Er war Gastdirigent u.a. des London Philharmonic Orchestra, des Royal Philharmonic Orchestra, des NHK Orchesters Tokio und der Berliner Philharmoniker. Albert Gier, geboren 1953, studierte Romanistik, Germanistik und Mittellatein in Bonn und Montpellier. Promotion 1976, Habilitation in Heidelberg 1983. Lehrte als Professor für Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) in Heidelberg und Frankfurt. Seit 1988 Professor für Romanische Literaturwissenschaft in Bamberg, wo er 1994 das Dokumentationszentrum für Li­brettoforschung gründete. Arbeitsschwerpunkte: romanische Literaturen des Mittelalters, italienische Literatur der Renaissance, französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, das Opernlibretto, Beziehung zwischen Literatur und Musik. Buchveröffentlichungen u.a. Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung (1986), Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung (1998) Orientierung Romanistik. Was sie kann, was sie will (2000). Arnold Jacobshagen, geboren 1965 in Marburg, studierte Musikwissenschaft, Geschichte und Philosophie sowie Kultur- und Medienmanagement in Berlin, Wien, Paris und Tours. 1996 Promotion an der Freien Universität Berlin, danach Musikdramaturg am Staatstheater Mainz, Wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent an der Universität Bayreuth, dort 2003 Habilitation. Seit 2006 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Die Musikforschung sowie der Buchreihe Musik – Kultur – Geschichte. Buchveröffentlichungen u.a. Der Chor in der französischen Oper des späten Ancien Régime (1997), Strukturwandel der Orchesterlandschaft (2000), Opera semiseria. Gattungskonvergenz und Kulturtransfer im Musiktheater (2005), Händels Opern – Das Handbuch (2009, Mitherausgeber), Händel im Pantheon. Der Komponist und seine Inszenierung (2009), Gustav Mahler und die musikalische Moderne (2011). Jürgen Maehder, geboren 1950 in Duisburg, studierte Musikwissenschaft, Komposition, Philosophie, Theaterwissenschaft und Opernregie in München und Bern, dort Promotion 1977 (Klangfarbe als Bauelement des musikalischen

Über die Autoren  |

Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffes). Anschließend wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Historischen Institut in Rom sowie an der Universität Bern. Nach Professuren für Musikwissenschaft an der University of North Texas und an der Cornell University ist er seit 1989 Professor für Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitherausgeber der Reihe Perspektiven der Opernforschung. Buchveröffentlichungen u.a. Esotismo e colore locale nell’opera di Puccini (1985), Ruggero Leoncavallo nel suo tempo (1993), Zwischen Opera buffa und Melodramma. Italienische Oper im 18. und 19. Jahrhundert (1994, Mitherausgeber), Puccini’s Turandot (1998, gemeinsam mit KiiMing Lo), Tendenze della musica teatrale italiana all’inizio del Novecento (2005, Mitherausgeber). Rainer Nonnenmann, geb. 1968 in Ludwigsburg, studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Deutsche Philologie an den Universitäten Tübingen, Wien und Köln, dort Promotion 1999. Mitarbeiter der Universal Edition Wien 1994/95 und Vorstand der Kölner Gesellschaft für Neue Musik 2002– 2006. Lehraufträge an der Universität zu Köln, der Musikhochschule Freiburg/Breisgau, der Hochschule für Musik und Tanz Köln und der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. 2012 Ernennung zum Honorarprofessor der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Buchveröffentlichungen u.a. ­Angebot durch Verweigerung. Die Ästhetik des instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns frühen Orchesterwerken (2000), „Arbeit am Mythos“ – Studien zur Musik von Nicolaus A. Huber (2002), Winterreisen – Komponierte Wege von und zu Franz Schuberts Liederzyklus aus zwei Jahrhunderten (2006), Mit Nachdruck – Texte der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik (2010). Clemens Risi, geb. 1970 in Frankfurt am Main, Studium der Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre in Mainz und München, 2001 Promotion in Mainz. 2000 bis 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin, Gastprofessuren an der Brown University, Providence (RI) und an der  University of Chicago. 2007 bis 2013 Juniorprofessor für Musiktheater an der FU Berlin, seit 2012 vertritt er den Lehrstuhl für Theater- und Medienwissenschaft in Erlangen. Buchveröffentlichungen u.a.­ Auf dem Weg zu einem italienischen Musikdrama. Konzeption, Inszenierung und Rezeption des melodramma vor 1850 bei Saverio Mercadante und Giovanni Pacini (2004), Theater als Fest – Fest als Theater. Bayreuth und die moderne Festspielidee (2010, Mitherausgeber), Wann geht der nächste Schwan? Aspekte einer Kulturgeschichte des Wunders (2011, Mitherausgeber),  Opera in Transition (Sondernummer der Zeitschrift The Opera Quarterly, Mitherausgeber, 2011).

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|  Über die Autoren

Johannes Schild, geboren 1960 in Rüdesheim, studierte Komposition, Musiktheorie und Dirigieren an den Musikhochschulen Detmold und Würzburg. Anschließend lehrte er an der Fachakademie für Kirchenmusik Bayreuth (1987 bis 1990) und an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (1990 bis 1994). Seit 1994 Professor für Tonsatz, Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Zu seinen jüngsten Kompositionen zählen die Oper Sternherz (2013, Libretto: Regula Bänziger) sowie die Filmmusik zur TVDokumentation Die Germanen – Meilensteine der Frühgeschichte Europas (gemeinsam mit Paul Rabiger), darüber hinaus zahlreiche Werke für Klavier, Orgel, Gesang, Orchester, Film und Bühne. Als Dirigent arbeitete er u.a. mit den Hamburger Symphonikern, dem Shanghai Opera Orchestra und dem Staatsorchester Rheinische Philharmonie Koblenz. Musikwissenschaftliche Veröffentlichungen u.a. zu Bach, Brahms, Wagner, Mahler und Schostakowitsch. Thomas Seedorf, geboren 1960 in Bremerhaven, studierte Schulmusik, Germanistik, Musikwissenschaft und Musikpädagogik in Hannover, 1988 Promotion. 1988 bis 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg, seit 2006 Professor für Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Musikinformatik an der Karlsruher Hochschule für Musik. Er ist Vorsitzender des Kuratoriums des Max-Reger-Instituts, Sprecher der Fachgruppe „Aufführungspraxis und Interpretationsforschung“ in der Gesellschaft für Musikforschung und Vorsitzender der Internationalen Schubert-Gesellschaft. Buchveröffentlichungen u. a. Studien zur kompositorischen Mozart-Rezeption im ­f rühen 20. Jahrhundert (1990), MGG Prisma Gesang (2001), „Per ben vestir la virtuosa“. Die Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Sänger und Komponisten (2011, Mitherausgeber), Diva – Die Inszenierung der übermenschlichen Frau (2011, Mitherausgeber). Michael Walter, geboren 1958 in Gießen, Studium der Musikwissenschaft und Geschichte in Marburg und Gießen, 1985 Promotion, sodann Lehrtätigkeiten an der Universität Gesamthochschule Siegen sowie der Universität Stuttgart, wo er sich habilitierte.1993 bis 1999 Hochschuldozent für Systematische Musikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. 2000 bis 2001 leitete er vertretungsweise die Abteilung für Musikwissenschaft der Universität Bayreuth. Seit 2001 Professor für Musikwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Leiter des Instituts für Musikwissenschaft ebendort. Buchveröffentlichungen u.a. Grundlagen der Musik des Mittelalters. Schrift – Zeit – Raum (1994), Hitler in der Oper. Deutsches Musikleben 1919–1945 (1995), „Die Oper ist ein Irrenhaus“. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert (1997), Richard Strauss und seine Zeit (2000), Haydns Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer (2007).